Burchardi, Larsen, Marx, Muhl, Schölmerich
Die Intensivmedizin 11. Auflage
H. Burchardi R. Larsen G. Marx E. Muhl J. Schölmerich (Hrsg.)
Die Intensivmedizin 11. überarbeitete und erweiterte Auflage Mit 392 Abbildungen
Prof. Dr. Elke Muhl Klinik für Chirurgie, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck Ratzeburger Allee 160 23538 Lübeck
Prof. Dr. Hilmar Burchardi Kiefernweg 2 37120 Bovenden Prof. Dr. Reinhard Larsen Fasanenweg 26 66424 Homburg Prof. Dr. Gernot Marx Operative Intensivmedizin für Erwachsene, Universitätsklinikum Aachen Pauwelsstraße 30 52074 Aachen
Prof. Dr. Jürgen Schölmerich Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender, Klinikum der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main Theodor-Stern-Kai 7 60590 Frankfurt am Main
ISBN-13 978-3-642-16928-1 11. Auflage Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York ISBN-13 978-3-540-72295-3 10. Auflage Springer Medizin-Verlag Heidelberg Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Der Springer Medizin Verlag ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. springer.de © Springer Medizin Verlag Berlin Heidelberg 1955, 1971, 1972, 1977, 1982, 1993, 1995, 2001, 2004, 2008, 2011 Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Planung: Ulrike Hartmann, Heidelberg Projektmanagement: Gisela Schmitt, Heidelberg Copy-Editing: Michaela Mallwitz, Tairnbach Photo Einband: © K-H Krauskopf, Wuppertal Layout und Einbandgestaltung: deblik Berlin Satz: medionet Publishing Services Ltd. SPIN: 12632015 Gedruckt auf säurefreiem Papier
22/2122/ULH/gs – 5 4 3 2 1 0
V
Vorwort zur 11. Auflage »
Die edle Einfalt in den Werken der Natur hat nur gar zu oft ihren Grund in der edlen Kurzsichtigkeit dessen, der sie beobachtet . (Georg Christoph Lichtenberg, 1742–1799)
«
Fürwahr! Die Natur ist so einfach nicht! Intensivmedizin braucht das breite Wissen der Experten vieler Fachdisziplinen, muss oft aus den verschiedensten Quellen schöpfen, wenn dem kritisch Kranken geholfen werden soll. Intensivmedizin ist grundsätzlich multidisziplinär. Von dieser Multidisziplinarität lebt dieses Buch nun schon in der 11. Auflage – also seit 1955. Kann ein so betagtes Buch heute noch sinnvoll sein? Nun, der Springer-Verlag ist zu loben, dass dieses Lehrbuch durch Neuauflagen in rascher Folge immer wieder aktualisiert wurde. Und dennoch muss man sich über das Grundkonzept Gedanken machen: Sind »dicke Bücher« noch zeitgemäß? Kann man sie in der täglichen Routine am Krankenbett noch sinnvoll einsetzen? Mit der jetzigen Auflage haben wir versucht, ein neues Konzept zu verwirklichen: Das Hauptwerk als umfassende Wissensbasis, jedoch begleitet von einer leichteren Taschenbuchversion, die ein aktueller Ratgeber für den Handelnden am Krankenbett sein soll. Beides zusammen bildet die Einheit des Lehrbuchs: Die Gesamtdarstellung und deren aktuelle Handlungsanweisungen. Wir hoffen, dass dieses Konzept den Intensivmedizinern ihre tägliche Arbeit vor Ort erleichtern wird –Ärzten wie Pflegenden, sowie allen anderen, die intensivmedizinische Patienten betreuen. Die moderne Intensivmedizin entwickelt sich rasant. Die aktuelle Anpassung an die neuesten Fortschritte ist daher unerlässlich. So wurde auch diese 11. Auflage wiederum grundlegend erneuert; neue Autoren wurden gewonnen, viele Kapitel wurden neu konzipiert, weitere Themen wurden mit eingebunden. Alles unter dem Konzept der Multidisziplinarität, bei der die Expertise aus unterschiedlicher Sicht zur Sprache kommt. Unser großer Dank gilt allen mitwirkenden Autoren, die sich heute noch trotz der harten Anforderungen ihrer täglichen Arbeit zum Abfassen der Beiträge haben durchringen können. Wir als Herausgeber wissen ihre Mitwirkung an dem Buch zu schätzen. Sie können ihrerseits sicher sein, dass der Leser ihre Weitergabe von Expertenwissen schätzen wird. Ein solches Werk lebt aber auch aus der Innovation durch die Herausgeber. Wir sind froh, die chirurgische Intensivmedizinerin Elke Muhl (Lübeck) und den anästhesiologischen Intensivmediziner Gernot Marx (Aachen) für die Herausgeberschaft gewonnen zu haben.
Sie haben sich mit großer Motivation für diese neue Aufgabe engagiert. Uns als Herausgeber hat diese Aufgabe mit großer Begeisterung erfüllt; doch nun soll eine aktive jüngere Generation diese Aufgabe übernehmen. Wir wünschen ihr dafür viel Glück. Unser Dank gilt nicht zuletzt auch den Mitarbeitern des Springer-Verlags, insbesondere Frau Ulrike Hartmann, die das Projekt seit vielen Jahren betreut, aber auch Frau Dr. Anna Krätz und der Lektorin, Frau Michaela Mallwitz. Wir als Herausgeber wünschen diesem Buch einen guten Erfolg – letztlich zum Nutzen der Intensivpatienten, die auf der Grundlage dieses Wissens gut betreut werden sollen. Hilmar Burchardi Reinhard Larsen Gernot Marx Elke Muhl Jürgen Schölmerich Bovenden, Homburg/Saar, Aachen, Lübeck, Frankfurt, im Januar 2011
VII
Inhaltsverzeichnis I
Organisation und Umfeld der Intensivmedizin
1
Möglichkeiten und Grenzen der Intensivmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 R. Dembinski, R. Kuhlen, M. Quintel
2
Rechtliche Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 R.-W. Bock
3
Psychosoziale Situation und psychologische Betreuung in der Intensivmedizin . . . . . . . . . . . 17 V. Köllner, K. Bernardy, P. Bialas, T. Loew
4
Intensivpflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 D. Stolecki
5
Hygiene in der Intensivmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 M. Dettenkofer, E. Meyer (unter Mitarbeit von A. Conrad)
6
Transport kritisch kranker Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 W. Wilhelm
7
Scores . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 R. Lefering, E. Neugebauer
8
Risikomanagement und Fehlerkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 A. Frutiger, J. Graf
9
Ökonomie und Qualitätsmanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 J. Martin, C. Waydhas, O. Mörer
10
Organisation und Management . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 H. Burchardi, W. Fleischer
11
Weiterbildung und Kompetenzvermittlung in der Intensivmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 A.R. Heller, M.P. Müller
12
Langzeitfolgen nach Intensivtherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 J. Langgartner
13
Akut- und Frührehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 B. Gassner, S. Kircher, G. Schönherr
14
Palliativmedizin in der Intensivmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 F. Nauck
II
Diagnostik und Überwachung
15
Hämodynamisches und respiratorisches Monitoring, intravasale Katheter . . . . . . . . . . . . . . . 147 W. Wilhelm, R. Larsen, H. Pargger, S. Ziegeler, F. Mertzlufft
16
Zerebrales Monitoring, neurophysiologisches Monitoring . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 K.L. Kiening, A.S. Sarrafzadeh
17
Bildgebende Verfahren: Röntgen, Ultraschall, CT, Nuklearmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 E. Eisenhuber-Stadler, B. Partik, P. Pokieser, C. Schaefer-Prokop
18
Labordiagnostik in der Intensivmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 C.E. Wrede, S. Froh
VIII
Inhaltsverzeichnis
III
Prinzipien der Therapie
19
Pharmakodynamik und Pharmakokinetik beim Intensivpatienten, Interaktionen . . . . . . . 251 J. Langgartner
20
Ernährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 K. Mayer
21
Hämorrhagischer Schock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 R. Larsen
22
Volumentherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 T.-P. Simon, G. Marx
23
Inotropika und Vasopressoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 S. Rex
24
Hämostase und Hämotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 M. Reng
25
Analgesie, Sedierung, und Therapie deliranter Syndrome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 S. Kleinschmidt
26
Endotracheale Intubation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 M. Quintel, F. Fiedler
27
Perkutane Tracheotomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 H.-W. Bause, A. Prause
28
Thoraxdrainage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 B. Regli, L. Mende
29
Bronchoskopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 S. Krüger
30
Kardiopulmonale Reanimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 H. Herff, V. Wenzel
IV 31
Kardiovaskuläre Störungen Akute Herzinsuffizienz und kardiogener Schock, Herzbeuteltamponade . . . . . . . . . . . . . . . . 391 R. Wachter, H.-P. Hermann, S. Vonhof, G. Hasenfuß
32
Akutes Koronarsyndrom, Myokardinfarkt, instabile Angina pectoris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 J. Weil
33
Herzrhythmusstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 H.-J. Trappe
34
Infektiöse Endokarditis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 M. Doering, D. Elsner
35
Der hypertensive Notfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 S. Seiler, D. Fliser
36
Lungenarterienembolie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 H.-D. Walmrath
V
Respiratorische Störungen
37
Respiratorische Insuffizienz – Pathophysiologie und Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 R. Dembinski, R. Kuhlen
38
Akutes Lungenversagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479 R. Dembinski, R. Kuhlen
IX Inhaltsverzeichnis
39
Pneumonien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 S. Ewig
40
COPD und Asthma bronchiale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507 B. Schönhofer, R. Bals
41
Maschinelle Beatmung und Entwöhnung von der Beatmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521 R. Dembinski, R. Kuhlen
42
Nichtinvasive Beatmung zur Therapie der akuten respiratorischen Insuffizienz . . . . . . . . . . 543 B. Schönhofer
VI
Gastrointestinale Störungen
43
Gastrointestinale Störungen bei kritisch Kranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557 T. Brünnler, J. Schölmerich
44
Hepatobiliäre Funktionsstörungen und Leberversagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 567 R.E. Stauber, P. Fickert, M. Trauner
45
Akute Pankreatitis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579 J. Schölmerich, T. Brünnler
46
Akute gastrointestinale Blutungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589 H. Messmann, F. Klebl
47
Mesenteriale Durchblutungsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601 F. Rockmann, J. Schölmerich
VII
Störungen des ZNS und neuromuskuläre Erkrankungen
48
Neurodiagnostik in der Intensivmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613 A. Dörfler, M. Forsting, W. Müllges, B. Partik, D. Prayer, B. Wildemann
49
Erhöhter intrakranieller Druck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 635 O.W. Sakowitz, A.W. Unterberg
50
Koma, metabolische Störungen und Hirntod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645 A. Bitsch (Vorauflage unter Mitarbeit von F. Weber und H. Prange)
51
Zerebrovaskuläre Notfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 655 T. Steiner, S. Schwab, W. Hacke
52
Epileptische Anfälle und Status epilepticus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 669 F. Kerling, F. Reinhardt, H. Stefan
53
Psychische und psychosomatische Störungen bei Intensivpatienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 675 T. Wetterling
54
Infektionen des ZNS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 683 B. Salzberger
55
Querschnittlähmung: Akutbehandlung und Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 691 M. Baumberger, P. Felleiter, F. Michel, H.G. Koch
56
Neuromuskuläre Erkrankungen bei Intensivpatienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 701 H.-P. Hartung, B.C. Kieseier, H.C. Lehmann
57
Neurologische und neurochirurgische Frührehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 713 J.D. Rollnik
X
Inhaltsverzeichnis
VIII
Stoffwechsel, Niere, Säure-Basen-, Wasser- und Elektrolythaushalt
58
Diabetisches Koma und perioperative Diabetestherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 727 S. Klose, H. Lehnert
59
Endokrine Störungen beim Intensivpatienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 741 R. Büttner, R. Gärtner
60
Säure-Basen Status . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 751 K. Hofmann-Kiefer, P. Conzen, M. Rehm
61
Akutes Nierenversagen (ANV), extrakorporale Eliminationsverfahren und Plasmaseparation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 763 B.K. Krämer, B. Krüger
IX
Infektionen
62
Antibiotika, Prophylaxe und Antimykotika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 781 S.W. Lemmen
63
Diagnose und Therapie der Sepsis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 789 T. Schürholz, G. Marx
64
Nosokomiale Infektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 801 H. Häfner, S. Koch, S. Lemmen
65
Spezifische Infektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 821 C. Dierkes, E. Bernasconi
66
Intensivtherapie bei HIV-Infektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 835 B. Salzberger
X 67
Trauma Polytrauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 845 M. Lehnert, I. Marzi
68
Schädel-Hirn-Trauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 859 J. Piek
69
Verletzungen der Kiefer- und Gesichtsregion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 873 S. Reinert
70
Thoraxtrauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 881 R. Stocker
71
Abdominalverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 893 C. Hierholzer, A. Woltmann
72
Brandverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 911 N. Pallua, E. Demir
73
Tauchunfälle, Ertrinken, Unterkühlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 931 C.-M. Muth
XI 74
Operative Intensivmedizin Abdominalchirurgische Eingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 947 G. Peterschulte, W.T. Knoefel
75
Herzchirurgische Eingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 965 E. Kilger, K. Nassau, F. Vogel, B. Zwißler
XI Inhaltsverzeichnis
76
Thoraxchirurgische Eingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 983 J. Geiseler, J. Fresenius, O. Karg
77
Gefäßchirurgische Eingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 993 A. Greiner, J. Grommes, M. Jacobs
78
Intensivtherapie nach neurochirurgischen Eingriffen – elektive Kraniotomie, intrakranielle Blutung, Schädel-Hirn-Trauma, Rückenmarkverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1001 S. Pilge, G. Schneider
XII
Organtransplantation
79
Behandlung von Organspendern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1025 T. Bein
80
Intensivtherapie nach Transplantation solider Organe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1035 C. Lichtenstern, M. Müller, J. Schmidt, K. Mayer, M.A. Weigand
XIII
Spezielle Notfälle
81
Die Schwangere in der Intensivmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1061 M.K. Bohlmann, K. Diedrich
82
Präeklampsie, Eklampsie und HELLP-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1067 M.C. Schneider, E. Beinder, J.-C. Fauchère, M. Siegemund
83
Anaphylaktischer Schock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1079 U. Müller-Werdan, K. Werdan
84
Rheumatologische Notfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1087 S. Pemmerl
85
Hämatologisch-onkologische Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1095 S. Froh
86
Vergiftungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1101 H. Desel
XIV
Pädiatrische Intensivmedizin
87
Intensivmedizin bei Früh- und Neugeborenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1115 P. Groneck, C.P. Speer, K. Bauer (†)
88
Kinderintensivmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1159 M. Sasse
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1181
XIII
Autorenverzeichnis PD Dr. med. Dr. rer. nat. Robert Bals Klinik f. Innere Med. - Pneumologie, Klinikum der PhilippsUniversität Marburg Baldingerstraße 1 35043 Marburg Prof. Dr. Karl Bauer (†) Dr. Michael Baumberger Schweizer Paraplegiker-Zentrum Nottwil Guido A. Zäch Strasse 1 CH-6207 Nottwil Prof. Dr. Hanswerner Bause Asklepios Klinik Altona Paul-Ehrlich-Str. 1 22763 Hamburg Prof. Dr. Thomas Bein Klinik für Anästhesiologie, Universitätsklinikum Regensburg 93042 Regensburg Prof. Dr. Ernst Beinder Klinik für Geburtshilfe, UniversitätsSpital Zürich Frauenklinikstrasse 10 CH-8091 Zürich Dr. phil. Dipl.-Psych. Kathrin Bernardy Schmerzambulanz der Klinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin und Schmerztherapie, Universitätskliniken des Saarlandes 66424 Homburg Dr. Enos Bernasconi Ospedale Civico Lugano Via Tesserete 46 CH-6903 Lugano Dr. Patrick Bialas Schmerzambulanz der Klinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin und Schmerztherapie, Universitätskliniken des Saarlandes Gebäude 57 66421 Homburg
Prof. Dr. Andreas Bitsch Neurologische Klinik, Ruppiner Kliniken GmbH Fehrbelliner Str. 38 16816 Neuruppin Rolf-Werner Bock Schlüterstraße 37 10629 Berlin PD Dr. Michael Bohlmann Klinik für Frauenheilkunde u. Geburtshilfe, Universitätsklinikum Schleswig-Hostein Campus Lübeck Ratzeburger Allee 160 23538 Lübeck Dr. Tanja Brünnler Klinik u. Poliklinik für Innere Medizin I, Universitätsklinikum Regensburg 93042 Regensburg Prof. Dr. Hilmar Burchardi Kiefernweg 2 37120 Bovenden PD Dr. Roland Büttner Klinik u. Poliklinik für Innere Medizin I, Universitätsklinikum Regensburg 93042 Regensburg Dr. Andreas Conrad Institut für Umweltmedizin und Krankenhaushygiene, Universitätsklinikum Freiburg Breisacher Str. 115b 79106 Freiburg Prof. Dr. Peter Conzen Klinik für Anästhesiologie, LMU München Marchioninistraße 15 81377 München PD Dr. Rolf Dembinski Klinik für operative Intensivmedizin, Universitätsklinikum Aachen Pauwelsstraße 30 52074 Aachen
Dr. Erhan Demir Klinik für Plastische Chirurgie, Hand- u. Verbrennungschirurgie, Universitätsklinikum Aachen Pauwelsstraße 30 52074 Aachen Dr. Herbert Desel Giftinformationszentrum-Nord der Länder Bremen, Hamburg, Niedersachsen und SchleswigHolstein (GIZ-Nord) und Toxikologisches Labor, Universitätsmedizin Göttingen 37099 Göttingen Prof. Dr. Markus Dettenkofer Sektion Krankenhaushygiene, Universitätsklinikum Freiburg Leitender Oberarzt Institut für Umweltmedizin u. Krankenhaushygiene Breisacher Str. 115b 79106 Freiburg Prof. Dr. Klaus Diedrich Klinik für Frauenheilkunde u. Geburtshilfe, Universitätsklinikum Schleswig-Hostein Campus Lübeck Ratzeburger Allee 160 23538 Lübeck Dr. Christine Dierkes Klinik u. Poliklinik für Innere Medizin I, Universitätsklinikum Regensburg 93042 Regensburg Prof. Dr. Arnd Dörfler Abteilung Neuroradiologie, Universitätsklinikum Erlangen Schwabachanlage 6 91054 Erlangen Dr. Matthias Döring III. Medizinische Klinik, Klinikum Passau Innstraße 76 94032 Passau
XIV
Autorenverzeichnis
Dr. Edith Eisenhuber-Stadler Abt. für Radiologie u. Bildgebende Diagnostik, Krankenhaus Göttlicher Heiland Dornbacher Str. 20-28 A-1070 Wien
Univ.-Prof. Dr. Danilo Fliser Klinik für Innere Medizin IV, Nieren- u. Hochdruckkrankheiten Universitätsklinikum des Saarlandes Kirrberger Straße 66421 Homburg
Prof. Dr. Dietmar Elsner III. Medizinische Klinik, Klinikum Passau Innstraße 76 94032 Passau
Prof. Dr. Michael Forsting Institut für diagnostische u. interventionelle Radiologie und Neuroradiologie, Universitätsklinikum Essen Hufelandstsr. 55 45122 Essen
Prof. Dr. Santiago Ewig Evangelisches Krankenhaus Herne u. Augusta-Kranken-Anstalt Bochum, Thoraxzentrum Ruhrgebiet Kliniken für Pneumologie u. Infektiologie Bergstraße 26 44791 Bochum PD Dr. Jean-Claude Fauchère Klinik für Neonatologie, UniversitätsSpital Zürich Frauenklinikstrasse 10 CH-8091 Zürich
Dr. Julia Fresenius Klinik für Intensivmedizin u. Langzeitbeatmung, Asklepios Fachkliniken München-Gauting Robert-Koch-Allee 2 82131 Gauting Dr. Stefanie Froh Dreilindenstr. 44 6006 Luzern, Schweiz
Dr. Peter Felleiter Schweizer Paraplegiker-Zentrum Nottwil Guido A. Zäch Strasse 1 CH-6207 Nottwil
PD Dr. Adrian Frutiger Interdisziplinäre Intensivstation Spitäler Chur AG Rätisches Kantons- und Regionalspital Loestrasse 170 CH-7000 Chur
Dr. Peter Fickert Medizinische Universitätsklinik Klinische Abt. für Gastroenterologie u. Hepatologie, Universität Graz Auenbruggerplatz 2/4 A-8036 Graz
Prof. Dr. Roland Gärtner Medizinische Klinik, Klinikum der Universität München Innenstadt Ziemssenstraße 1 80366 München
Prof. Fritz Fiedler Klinik für Anästhesie und Operative Intensivmedizin, St.-Elisabeth Krankenhaus Köln-Hohenlind GmbH Werthmannstraße 1 50935 Köln Werner Fleischer Beratung-Coaching-Moderation Schulstraße 5e 21220 Seevetal
Beatrix Gassner Universitätsklinik für Neurologie, Neurorehabilitation Anichstraße 35 A-6020 Innsbruck Dr. Jens Geiseler Klinik für Intensivmedizin u. Langzeitbeatmung, Asklepios Fachkliniken München-Gauting Robert-Koch-Allee 2 82131 Gauting
PD Dr. Jürgen Graf Medizinischer Dienst FRA PM/C, Deutsche Lufthansa AG Lufthansa Basis, Tor 21 60546 Frankfurt PD Dr. Andreas Greiner Klinik für Gefäßchirurgie, Universitätsklinikum Aachen Pauwelstraße 30 52074 Aachen Dr. Jochen Grommes Klinik für Gefäßchirurgie, Universitätsklinikum Aachen Pauwelsstraße 30 52074 Aachen Prof. Dr. Heinz-Peter Groneck Klinik für Kinder u. Jugendliche, Klinikum Leverkusen gGmbH Am Gesundheitspark 11 51375 Leverkusen Prof. Dr. Werner Hacke Neurologische Klinik, Universitätsklinikum Heidelberg Im Neuenheimer Feld 400 69120 Heidelberg Dr. Helga Häfner Zentralbereich für Krankenhaushygiene u. Infektiologie, Universitätsklinikum Aachen Pauwelsstraße 30 52057 Aachen Prof. Dr. Hans-Peter Hartung Neurologische Klinik, Universitätsklinikum Düsseldorf Moorenstraße 5 40225 Düsseldorf Prof. Dr. Gerd Hasenfuß Herzzentrum Göttingen, Abt. für Kardiologie und Pneumologie, Universität Göttingen Robert-Koch-Str. 40 37099 Göttingen Prof. Dr. Axel R. Heller Klinik u. Poliklinik für Anaesthesiologie u. Intensivmedizin, Uniklinikum Dresden Fetscherstraße 74 01307 Dresden
XV Autorenverzeichnis
Dr. Holger Herff Klinik für Anaesthesie und Allg. Intensivmedizin, Medizinische Universität Innsbruck Anichstraße 35 A-6020 Innsbruck
PD Dr. Erich Kilger Klinik für Anaesthesiologie, Herzklinik am Augustinum, Klinikum der Universität München Wolkerweg 16 81375 München
Dr. Hans-Peter Hermann Medizinische Klinik u. Kardiologie, Evangelisches Krankenhaus Bergisch Gladbach gGmbH u. Augusta-Krankenanstalt Bochum Ferrenbergstraße 24 51465 Bergisch-Gladbach
Simone Kircher Neurorehabilitation, Universitätsklinik für Neurologie, Universität Innsbruck Anichstraße 35 A-6020 Innsbruck
Prof. Dr. Christian Hierholzer Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik Murnau Professor-Küntscher-Str. 8 82418 Murnau/Staffelsee Dr. Klaus Hofmann-Kiefer Klinik für Anästhesiologie, LMU München Marchioninistraße 15 81377 München Prof. Dr. Michael Jacobs Klinik für Gefäßchirurgie, Universitätsklinikum Aachen Pauwelsstraße 30 52074 Aachen Dr. Ortrud Karg Klinik für Intensivmedizin u. Langzeitbeatmung, Asklepios Fachkliniken München-Gauting Robert-Koch-Allee 2 82131 Gauting Dr. Frank Kerling Neurologische Klinik, Universitätsklinikum Ulm Oberer Eselsberg 45 89081 Ulm PD Dr. Karl L. Kiening Neurochirurgische Universitätsklinik Im Neuenheimer Feld 400 69120 Heidelberg Prof. Dr. Bernd C. Kieseier Neurologische Universitätsklinik, Universität Düsseldorf Moorenstraße 5 40225 Düsseldorf
PD Dr. Frank Klebl Klinik und Poliklinik für Innere Medizin I, Universitätsklinikum Regensburg 93042 Regensburg Prof. Dr. Stefan Kleinschmidt Abt. für Anästhesie, Intensivmedizin u. Schmerztherapie, BG Unfallklinik Ludwigshafen Ludwig-Guttmann-Str. 13 67071 Ludwigshafen Dr. Silke Klose Klinik für Endokrinologie/ Stoffwechselkrankheiten, Zentrum für Innere Medizin, Otto-von-Guericke-Universität Leipziger Str. 44 39120 Magdeburg Prof. Dr. Dr. Wolfram T. Knoefel Abt. für Allgemeine und Unfallchirurgie, Universitätsklinikum Düsseldorf Moorenstraße 5 40225 Düsseldorf Dr. Susanne Koch Zentralbereich für Krankenhaushygiene u. Infektiologie, Universitätsklinikum Aachen Pauwelsstraße 30 52057 Aachen Dr. Hans Georg Koch Schweizer Paraplegiker-Zentrum Nottwil CH-6207 Nottwil
Prof. Dr. Volker Köllner Fachklinik für Psychosomatische Medizin, Bliestal Kliniken 66440 Blieskastel Prof. Dr. Bernhard K. Krämer V. Medizinische Klinik, Universitätsklinikum Mannheim, Medizinische Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg Theodor-Kutzer-Ufer 1–3 68167 Mannheim Dr. Bernd Krüger Stiftung Katholisches Krankenhaus, Kliniken der Ruhr-Universität Bochum Marienhospital Herne Hölkeskampring 40 44625 Herne PD Dr. Stefan Krüger Medizinische Klinik I, Sektion Pneumologie, Universitätsklinikum Aachen Pauwelsstraße 30 52057 Aachen Prof. Dr. Ralf Kuhlen Geschäftsführung Helios KlinikenGmbH Friedrichstr. 136 10117 Berlin Dr. Julia Langgartner Klinik u. Poliklinik für Innere Medizin I, Universitätsklinikum Regensburg 93042 Regensburg Prof. Dr. Reinhard Larsen Fasanenweg 26 66424 Homburg Dr. rer. medic. Rolf Lefering IFOM – Institut für Forschung in der Operativen Medizin, Private Universität Witten/ Herdecke gGmbh Ostmerheimerstraße 200 51109 Köln Dr. Helmar C. Lehmann Neurologische Klinik, Universitätsklinikum Düsseldorf Moorenstraße 5 40225 Düsseldorf
XVI
Autorenverzeichnis
Dr. Mark Lehnert Klinik für Unfall-, Handund Wiederherstellungschirurgie, Johann-Wolfgang-GoetheUniversität Theodor-Stern-Kai 7 60590 Frankfurt am Main Prof. Dr. Sebastian Lemmen Leiter des Zentralbereichs für Krankenhaushygiene und Infektiologie Zentrum für Infektiologie (DGI) Universitätsklinikum Aachen Pauwelsstraße 30 52074 Aachen Dr. Christoph Lichtenstern Klinik für Anaesthesiologie und Operative Intensivmedizin, Universitätsklinikum Gießen und Marburg, Standort Gießen Rudolf-Buchheim Straße 7 35392 Gießen Prof. Dr. Thomas Loew Schwerpunkt Psychosomatik, Universitätsklinikum Regensburg 93042 Regensburg Dr. Jörg Martin Anästhesie-Abteilung, Kreiskrankenhaus Klinik am Eichert Eichertstraße 3 73035 Göppingen Prof. Dr. Dr. Gernot Marx Operative Intensivmedizin für Erwachsene, Universitätsklinikum Aachen Pauwelsstraße 30 52074 Aachen Prof. Dr. Ingo Marzi Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie, Universitätsklinikum Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Theodor-Stern-Kai 7 60590 Frankfurt
Prof. Dr. Konstantin Mayer Zentrum Innere Medizin, Universitätsklinikum Gießen und Marburg GmbH, Standort Gießen Klinikstraße 36 35392 Gießen Dr. Ludger Mende Dep. für Innere Medizin, Neurologie und Dermatologie, internistische Intensiv- u. Notfallmedizin, Universitätsklinikum Leipzig AöR Liebig-Str. 20 04103 Leipzig Prof. Dr. Fritz Mertzlufft Klinik für Anästhesiologie u. operative Intensivmedizin, Gilead I Burgsteig 13 33617 Bielefeld Prof. Dr. Helmut Messmann III. Medizinische Klinik, Klinikum Augsburg Stenglinstraße 2 86156 Augsburg PD Dr. Elisabeth Meyer Institut für Hygiene u. Umweltmedizin, Charité - Universitätsmedizin Berlin Hindenburgdamm 27 12203 Berlin Dr. Franz Michel Schweizer Paraplegiker-Zentrum Nottwil Guido A. Zäch Strasse 1 CH-6207 Nottwil Dr. Onnen Mörer Zentrum Anästhesiologie, Rettungs- u. Intensivmedizin, Universität Göttingen Robert-Koch-Str. 40 37070 Göttingen PD Dr. Michael P. Müller Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie u. Intensivmedizin, Uniklinikum Dresden Fetscherstraße 74 01307 Dresden
PD Dr. Matthias Müller Klinik für Anaesthesiologie und Operative Intensivmedizin, Universitätsklinikum Gießen und Marburg, Standort Gießen Rudolf-Buchheim Straße 7 35392 Gießen Prof. Dr. Ursula Müller-Werdan Klinikum Kröllwitz der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg, Universitätsklinik und Poliklinik für Innere Medizin III Ernst-Grube-Straße 40 06097 Halle/Saale PD Dr. Wolfgang Müllges Neurologische Klinik, Klinikum der Universität Würzburg Josef-Schneider-Str. 11 97080 Würzburg Dr. Claus-Martin Muth Universitätsklinik für Anästhesiologie, Sektion Spezielle Anästhesie, Universitätsklinikum Ulm Prittwitzstraße 43 89075 Ulm Dr. Kirsten Nassau Klinik für Anästhesiologie, Herzklinik am Augustinum, Klinikum der Universität München Wolkenweg 16 81375 München Prof. Dr. Friedemann Nauck Abt. Palliativmedizin, Zentrum Anaesthesiologie, Rettungsund Intensivmedizin, Universität Göttingen Robert-Koch-Str. 40 37070 Göttingen Prof. Dr. Prof. h.c. Edmund Neugebauer IFOM – Institut für Forschung in der Operativen Medizin, Lehrstuhl für Chirurgische Forschung, Fakultät für Medizin, Private Universität Witten/Herdecke gGmbh Ostmerheimer Str. 200 , Haus 38 51109 Köln
XVII Autorenverzeichnis
Prof. Dr. Dr. Prof. h.c. mult. Norbert Pallua Direktor der Klinik für Plastische-, Hand- u. Verbrennungschirurgie, Universitätsklinikum Aachen Pauwelsstraße 30 52074 Aachen Dr. Hans Pargger Departement Anästhesie, Kantonsspital Basel Spitalstrasse 21 CH-4031 Basel Doz. Dr. Dr. Bernhard Partik Diagnosezentrum Brigittenau Pasettistraße 71-75 A-1200 Wien PD Dr. Sylvia Pemmerl Klinik u. Poliklinik für Innere Medizin I, Universitätsklinikum Regensburg 93042 Regensburg Dr. Dipl. phys. Guido Peterschulte Abt. für Allgemeine und Unfallchirurgie, Universitätsklinikum Düsseldorf Moorenstraße 5 40225 Düsseldorf Prof. Dr. Jürgen Piek Abteilung für Neurochirurgie, Chirurgische Universitätsklinik Rostock Schillingallee 35 18057 Rostock Dr. Stefanie Pilge Zentrum für Anästhesie, Notfallmedizin und Schmerztherapie, Helois Klinikum Wuppertal, Lehrstuhl Anästhesie I , Universität Witten/Herdecke Heusnerstraße 40 42283 Wuppertal Prof. Dr. Peter Pokieser Allgemeines Krankenhaus Altona, Universitätsklinik für Radiodiagnostik Währinger Gürtel 18-20 A-1090 Wien
Prof. Dr. Hillmar Prange Abteilung Neurologie, Universitätsklinikum Göttingen Robert-Koch-Str. 40 37075 Göttingen
PD Dr. Steffen Rex Klinik für Anästhesiologie, Universitätsklinikum Aachen Pauwelsstraße 30 52074 Aachen
Dr. Axel Prause Abt. für Anästhesiologie u. operative Intensivmedizin, Allgemeines Krankenhaus Altona Paul-Ehrlich-Str. 1 22763 Hamburg
Dr. Felix Rockmann Notfallzentrum, Krankenhaus Barmherzige Brüder Prüfeningerstraße 86 93049 Regensburg
Prof. Dr. Daniela Prayer Klinik für Radiodiagnostik, Universität Wien Währinger Gürtel 18-20 A-1090 Wien Prof. Dr. Michael Quintel Anästhesiologie II Operative Intensivmedizin, Universität Göttingen Robert-Koch-Str. 40 37075 Göttingen Dr. Bruno Regli Universitätsklinik für Intensivmedizin, Inselspital Bern CH-3010 Bern Dr. Markus Rehm Klinik für Anästhesiologie, Ludwig-Maximilians-Universität München Marchioninistraße 15 81377 München Prof. Dr. Dr. Siegmar Reinert Klinik u. Poliklinik für Mund-, Kiefer- u. Gesichtschirurgie, Universitätsklinikum Tübingen Osianderstraße 2 72076 Tübingen PD Dr. Frank Reinhardt Klinik für Neurologie u. Neurolog. Rehabilitation, Klinikum am Europakanal Am Europakanal 71 91056 Erlangen Dr. Michael Reng Gastroenterologie, Intensivmedizin, Notfallmedizin, Innere Medizin 2, Traubenweg 3 93309 Kelheim
Prof. Dr. Jens D. Rollnik Neurologische Klinik Hessisch Oldendorf Greitstraße 18-28 31840 Hessisch Oldendorf PD Dr. Oliver W. Sakowitz Neurochirurgische Klinik, Universitätsklinikum Heidelberg Im Neuenheimer Feld 400 69120 Heidelberg Prof. Dr. Bernd Salzberger Klinik u. Poliklinik für Innere Medizin I, Universitätsklinikum Regensburg 93042 Regensburg PD Dr. Asita Simone Sarrafzadeh-Khorassani Klinik für Neurochirurgie, Charité - Universitätsmedizin Berlin, Campus Virchow Klinikum Augustenburger Platz 1 13353 Berlin Dr. Michael Sasse Kinderklinik Interdisziplinäre Intensivstation, Medizinische Hochschule Hannover Carl-Neuberg-Straße 1 30625 Hannover Prof. Dr. Cornelia Schaefer-Prokop Radiologie, Academic Medical Center Meibergdreef 9 NL-1105 AZ Amsterdam
XVIII
Autorenverzeichnis
Prof. Dr. Jan Schmidt Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie, Chirurgische Universitätsklinik Heidelberg Im Neuenheimer Feld 110 69120 Heidelberg Prof. Dr. Gerhard Schneider Lehrstuhl Anästhesie I der Universität Witten/Herdecke Helios Klinikum Wuppertal Heusnerstraße 40 42283 Wuppertal Prof. Dr. Markus C. Schneider Departement Anästhesie, Universitätsfrauenklinik Universitätsspital Basel Spitalstrasse 21 CH-4031 Basel Prof. Dr. Jürgen Schölmerich Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender, Klinikum der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main Theodor-Stern-Kai 7 60590 Frankfurt am Main Gudrun Sylvest Schönherr Universitätsklinik für Neurologie, Neuro-Rehabilitation, Universität Innsbruck Anichstraße 35 A-6020 Innsbruck Prof. Dr. Bernd Schönhofer Abtg für Pneumologie u. Internist. Intensivmedizin, Klinikum Region Hannover Krankenhaus OststadtHeidehaus Podbielskistraße 380 30659 Hannover PD Dr. Tobias Schürholz Fachübergreifende Klinik Operative Intensivmedizin für Erwachsene, Universitätsklinikum Aachen Pauwelsstraße 30 52074 Aachen Prof. Dr. Stefan Schwab Neurologie, Universitätsklinik Erlangen Schwabachanlage 6 91054 Erlangen
Dr. Sarah Seiler Klinik für Innere Medizin IV, Nieren- u. Hochdruckkrankheiten, Univeritätsklinikum des Saarlandes Kirrberger Straße 66421 Homburg/Saar Dr. Martin Siegemund Surgical ICU / Operative Intensivbehandlung, Universitätsspital Basel Spitalstrasse 21 CH-4031 Basel Dr. Tim-Philipp Simon Fachübergreifende Klinik Operative Intensivmedizin für Erwachsene, Universitätsklinikum Aachen Pauwelsstraße 30 52074 Aachen Prof. Dr. Christian P. Speer Universitäts-Kinderklinik Josef-Schneider-Str. 2 97080 Würzburg Prof. Dr. Rudolf E. Stauber Klin. Abt. für Gastroenterologie u. Hepatologie, Medizinische Universitätsklinik der Universität Graz Auenbruggerplatz 2/4 A-8036 Graz Prof. Dr. Hermann Stefan Epilepsiezentrum, Universitätsklinikum Erlangen Schwabachanlage 6 91054 Erlangen Prof. Dr. Thorsten Steiner Neurologische Klinik, Universitätsklinikum Heidelberg Im Neuenheimer Feld 400 69120 Heidelberg Prof. Dr. Reto Stocker Klinik Hirslanden, Institut für Anästhesiologie u. Intensivmedizin (IFAI) Witellikerstrasse 40 CH-8032 Zürich
Dietmar Stolecki Referat Fort- u. Weiterbildung, Kath. St.-Johannes-Gesellschaft Dortmund gGmbH, Deutsche Gesellschaft für Fachkrankenpflege Johannesstraße 9-17 44137 Dortmund Prof. Dr. Hans-Joachim Trappe Medizinisch Univ.-Klinik II, Universitätsklinik Marienhospital Herne, Ruhr-Universität Bochum Hölkeskampring 40 44625 Herne Prof. Dr. Michael Trauner Klinische Abt. für Gastroenterologie und Hepatologie, Universitätsklinik für Innere Medizin III, AKH Universitätscampus Wien Währinger Gürtel 18–20 A-1090 Wien Prof. Dr. Andreas W. Unterberg Neurochirurgische Klinik, Universitätsklinikum Heidelberg Im Neuenheimer Feld 400 69120 Heidelberg Dr. Frank Vogel Klinik für Anaesthesiologie, Herzklinik am Augustinum, Klinikum der Universität München Wolkerweg 16 81375 München PD Dr. Stefan Vonhof Herzzentrum Göttingen, Abt. Kardiologie u. Pneumologie, Universität Göttingen Robert-Koch-Str. 40 37099 Göttingen Dr. Rolf Wachter Herzzentrum Göttingen, Abt. Kardiologie u. Pneumologie, Universität Göttingen Robert-Koch-Str. 40 37099 Göttingen Prof. Dr. Hans-Dieter Walmrath Medizinische Klinik und Poliklinik II, Universitätsklinikum Gießen und Marburg GmbH, Standort Gießen Klinikstraße 36 35392 Gießen
XIX Autorenverzeichnis
Prof. Dr. Christian Waydhas Klinik u. Poliklinik für Unfallchirurgie, Universitätsklinikum Essen Hufelandstraße 55 45147 Essen Prof. Dr. Frank Weber Ambulanz für entzündliche ZNS-Erkrankungen, Max-Planck-Institut für Psychiatrie Kraepelinstraße 2-10 80804 München Prof. Dr. Dr. Markus A. Weigand Klinik für Anaesthesiologie und Operative Intensivmedizin, Universitätsklinikum Gießen und Marburg, Standort Gießen Rudolf-Buchheim-Str. 7 35392 Gießen Prof. Dr. Joachim Weil Medizinische Klinik II, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein Campus Lübeck Ratzeburger Allee 160 23538 Lübeck Prof. Dr. Volker Wenzel Klinik für Anaesthesie u. Allg. Intensivmedizin, Medizinische Universität Innsbruck Anichstraße 35 A-6020 Innsbruck Prof. Dr. Karl Werdan Universitätsklinik und Poliklinik für Innere Medizin III, Klinikum Kröllwitz der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg Ernst-Grube-Straße 40 06097 Halle/Saale Prof. Dr. Tilmar Wetterling Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Vivantes Klinikum Hellersdorf Myslowitzer Str. 45 12621 Berlin Dr. Brigitte Wildemann Neurochirurgische Klinik, Universitätsklinikum Heidelberg Im Neuenheimer Feld 400 69120 Heidelberg
Prof. Dr. Wolfram Wilhelm, DEAA Klinik für Anästhesiologie u. operative Intensivmedizin, Klinikum Lünen RTH Christoph 8 St.-Marien-Hospital Altstadtstraße 23 44534 Lünen Prof. Dr. Alexander Woltmann Traumachirurgie, Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik Murnau Professor-Küntscher-Str. 8 82418 Murnau/Staffelsee PD Dr. Christian Wrede Interdisziplinäres Notfallzentrum mit Rettungsstelle , Helios Klinikum Berlin Buch Schwanebecker Chaussee 50 13125 Berlin Dr. Stephan Ziegeler Klinik für Anästhesie – Operative Intensivmedizin – Schmerztherapie – Notfallmedizin, Klinikum Ibbenbüren GmbH, Mathias Stiftung Große Straße 41 49477 Ibbenbüren Prof. Dr. Bernhard Zwißler Klinik für Anästhesiologie, Ludwig-Maximilians-Universität München Marchioninistraße 15 81377 München
1
Organisation und Umfeld der Intensivmedizin Kapitel 1
Möglichkeiten und Grenzen der Intensivmedizin
Kapitel 2
Rechtliche Probleme
Kapitel 3
Psychosoziale Situation und psychologische Betreuung des Intensivpatienten und seiner Angehörigen
Kapitel 4
Pflege des Intensivpatienten
Kapitel 5
Hygiene in der Intensivmedizin
Kapitel 6
Transport kritisch kranker Patienten
Kapitel 7
Scores
Kapitel 8
Risiko- und Fehlermanagement (neu formuliert)
Kapitel 9
Ökonomie und Qualitätsmanagement
Kapitel 10
Organisation & Management (u.a. Personalführung, Personalentwicklung, Intensivmediz. Kompetenz, Führungskompetenz, Konfliktstrategie ((incl. Die Intensivmedizin in der Versorgungskette (Nachsorge?), IMC, Notfallteam))
Kapitel 11
Weiterbildung und Kompetenzvermittlung
Kapitel 12
Langzeitfolgen nach Intensivbehandlung
Kapitel 13
Akut- und Frührehabilitation
Kapitel 14
Palliative Intensivmedizin
I
3
Möglichkeiten und Grenzen der Intensivmedizin R. Dembinski, R. Kuhlen, M. Quintel
1.1
Einleitung – 4
1.2
Das Spannungsfeld zwischen technisch Machbarem und medizinisch Sinnvollem – 4
1.2.1 1.2.2 1.2.3
Verlust der Arzt-Patient-Beziehung – 4 Abwägung von Risiko und Nutzen – 4 Lebenserhalt und Lebensverlängerung um jeden Preis? – 4
1.3
Grenzen der Behandlungspflicht – 5
1.3.1 1.3.2 1.3.3 1.3.4 1.3.5
Aktive Sterbehilfe – 5 Passive Sterbehilfe – 5 Indirekte Sterbehilfe – 5 Bedeutung des höheren Lebensalters – 6 Der Wille des Patienten – 6
1.4
Intensivmedizin als sorgende und menschliche Akutmedizin – 7
1.4.1
Unnötige Verlängerung des Sterbeprozesses – 7 Kompetenzerwerb in der Patienten- und Angehörigenbetreuung – 8
1.4.2
Literatur – 8
H. Burchardi et al. (Hrsg.), Die Intensivmedizin, DOI 10.1007/978-3-642-16929-8_1, © Springer Medizin Verlag Berlin Heidelberg 2011,
1
1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1
4
Kapitel 1 · Möglichkeiten und Grenzen der Intensivmedizin
1.1
Einleitung
Intensivmedizin hat ohne jeden Zweifel entscheidenden Anteil an wesentlichen Fortschritten in der modernen Medizin. Interventionen, die heute für uns zum selbstverständlichen Standard medizinischer Versorgung gehören, wären ohne die technischen Möglichkeiten einer modernen intensivmedizinischen Versorgung nicht möglich. Die Überwachung und Aufrechterhaltung von Organfunktionen mittels differenzierter medikamentöser und technischer Unterstützung bis hin zum vollständigen Organersatz stellen wesentliche Meilensteine in der Geschichte der Medizin dar. So konnte beispielsweise die Einführung der maschinellen Überdruckbeatmung in den 1950-er Jahren, während der Ausbreitung der Polioepidemie über Skandinavien und Norddeutschland, entscheidend zur drastischen Abnahme der hohen Sterblichkeit der Kinderlähmung beitragen. Beim Nierenversagen konnten durch die Einführung der Nierenersatztherapie, beim akuten Herzinfarkt und beim lebensbedrohlich traumatisierten Patienten durch eine immer differenziertere Versorgung entscheidende Therapieerfolge erzielt werden, die zu einer deutlichen Verbesserung des Outcome der betroffenen Patienten geführt haben. In der postchirurgischen Intensivmedizin sind enorme Fortschritte zu verzeichnen, die heute die Durchführung auch komplexester chirurgischer Eingriffe bis ins hohe Alter hinein ermöglichen.
1.2
Das Spannungsfeld zwischen technisch Machbarem und medizinisch Sinnvollem
Neben diesen unstrittigen und von Patienten, medizinischem Personal und Öffentlichkeit gleichermaßen erwünschten Erfolgen der intensivmedizinischen Entwicklung besteht und wächst – analog zu anderen medizinischen Technologien – die Gefahr, dass ihre Möglichkeiten auch dann eingesetzt werden, wenn eine Wiederherstellung der Vitalfunktionen und eine Genesung des Patienten unwahrscheinlich oder gar nicht mehr möglich ist. Es entsteht das Spannungsfeld zwischen technisch möglichem und medizinisch sinnvollem Handeln. In diesem Zusammenhang wächst in der Gesellschaft und bei Patienten und deren Angehörigen die Angst vor einer Intensivmedizin als »Apparatemedizin«, die ohne Rücksicht auf etwaige Überlebenschancen und resultierende Lebensqualität die rein technischen Aspekte der Therapie in den Mittelpunkt stellt und damit immanent das Risiko in sich trägt, einen unvermeidbaren Sterbeprozess hinauszuzögern und somit bestehendes Leiden zu verlängern. Beim Anblick eines beatmeten, künstlich ernährten Intensivpatienten, der durch Sedierung und Schmerztherapie nicht zur Kommunikation mit den Angehörigen in der Lage ist und dessen »Lebenszeichen« sich auf ein Monitorbild reduzieren, ist eine solche Angst besonders beim medizinischen Laien mehr als verständlich. Neben dem Aspekt des unkritischen Einsatzes der Möglichkeiten der Intensivmedizin nehmen in der öffentlichen Diskussion inzwischen aber auch zunehmend die möglichen Konsequenzen aus Ökonomisierungszwängen und damit die Angst vor der Rationierung der Ressource Intensivtherapie Raum ein, sodass eine Beschäftigung mit diesem Themenkomplex immer spürbarer den intensivmedizinischen Alltag begleitet. In der Tat müssen sich alle an der Intensivmedizin Beteiligten die Frage stellen, wo die Grenzen einer sinnvollen Therapie – unter Einsatz aller verfügbaren und teilweise hochtechnischen Möglichkeiten – liegen und wann schließlich die technischen Möglichkeiten zum Selbstzweck werden, ohne im Sinne einer Wiederherstellung helfen zu können, ja – im schlimmsten Fall – nur Leiden zu ver-
längern und damit dem obersten Prinzip ärztlichen Handelns zu widersprechen, niemals dem Kranken zu schaden.
1.2.1
Verlust der Arzt-Patient-Beziehung
Heinrich Schipperges formulierte bereits 1985 in seinem Buch Homo patiens [14]:
»
Die Medizin von heute und morgen ist mit ihren wachsenden technischen Möglichkeiten einer immer kritischer werdenden Öffentlichkeit ausgesetzt, ohne ihr so recht gewachsen zu sein. Sie hat ihre erstaunlichen Errungenschaften erkaufen müssen mit einer immer bedrohlicher erscheinenden Anonymität, dem Verlust der so sehr persönlichen Zweierbeziehung zwischen Arzt und Kranken, einer durch und durch personalen Interaktion, die immer mehr übergeht in die Hände der Verwaltung, der Institution, der Versicherungsagenturen oder der Juristen, der Verrechnung, mit der Verrechtlichung.
«
1.2.2
Abwägung von Risiko und Nutzen
Die Risiko-Nutzen-Abwägung einer medizinischen Intervention ist grundsätzlich schwierig; in vital bedrohlichen Situationen ist sie häufig schier unmöglich, da in den entsprechenden Grenzsituationen eben nicht zu beantworten ist, welcher gesundheitliche (End)zustand aus einer an sich indizierten medizinischen Intervention resultiert. So sind sich meist alle Beteiligten einig, wenn Formulierungen Gebrauch finden wie etwa: »wenn keine Hoffnung auf Besserung des Zustands besteht…« oder aber »wenn die Therapie keinerlei Aussicht auf Erfolg verspricht…« Was damit aber im individuellen Fall gemeint ist, bleibt meist offen und unterliegt mit Sicherheit einer Vielzahl unterschiedlichster Interpretationen. Für eine aussichtslose Therapie besteht keine Indikation; sie darf damit nach den Regeln des ärztlichen Handelns und der aktuellen Rechtssprechung dem Patienten erst gar nicht angeboten werden. Diese eindeutigen Situationen sind allerdings ungleich seltener, ja die Ausnahme im Vergleich zu Situationen, in denen eine wertende Entscheidung getroffen werden muss und damit eine Entscheidung darüber, welcher Zustand um welchem Preis erreicht werden kann und ob das angestrebte Therapieziel tatsächlich dem Willen des Patienten entspricht. Letzteres sollte, ja muss das absolute Primat aller medizinischen Handlungen sein.
1.2.3
Lebenserhalt und Lebensverlängerung um jeden Preis?
In diesem Spannungsfeld wächst auch die Erkenntnis, dass Lebenserhalt und Lebensverlängerung um jeden Preis in vielen Fällen kein adäquates, dem Wunsch und Auftrag des Patienten entsprechendes Ziel der Behandlung darstellt. Während der Anfänge der Intensivmedizin war es üblich, dass nahezu jeder Intensivpatient – selbst im Sterbeprozess – wenigstens einen, die meisten sogar mehrere Wiederbelebungsversuche über sich ergehen lassen musste. Oft starben diese Patienten dann schließlich unter Fortführung aller technischen und invasiven Therapiemaßnahmen ohne ihre Angehörigen im anonymen Umfeld einer Intensivstation. In den letzten Jahren hat sich jedoch eine mehr patienten- und familienbezogene Haltung durchgesetzt, die die physischen, emotionalen, spirituellen und existenziellen Bedürfnisse der direkt Betei-
5 1.3 · Grenzen der Behandlungspflicht
ligten und damit die Autonomie der individuellen Persönlichkeit zu berücksichtigen versucht [2–5]. Diese Entwicklung erklärt sich auch vor dem Hintergrund, dass medizinische Entscheidungen am Lebensende immer häufiger nicht im häuslichen Umfeld, sondern auf Intensivstationen getroffen werden, ja getroffen werden müssen. Je nach Quelle schwanken die Angaben über die Zahl der in Deutschland in Krankenhäusern und Pflegeheimen versterbenden Patienten zwischen 50 und 75 %. In Anbetracht der weitreichenden Bedeutung dieses Problemkreises für den intensivmedizinischen Alltag haben sich viele unterschiedliche Gremien der Ärzteschaft diesen Fragen mit dem Ziel gewidmet, für den vor Ort tätigen Arzt medizinethische Rahmenbedingungen für seine Entscheidung zu schaffen und ihm gleichzeitig die Angst vor möglichen rechtlichen Konsequenzen zu reduzieren bzw. zu nehmen.
1.3
Grenzen der Behandlungspflicht
Vor dem geschilderten Hintergrund entstand die Stellungnahme der Bundesärztekammer (BÄK) und der beteiligten Fachgesellschaften zu den Grenzen der intensivmedizinischen Behandlungspflicht [6, 7]. In der Stellungnahme der BÄK [6] zur ärztlichen Sterbebegleitung wird in der Präambel davon ausgegangen, dass es Aufgabe des Arztes ist,
»
…unter Beachtung des Selbstbestimmungsrechtes des Patienten Leben zu erhalten, Gesundheit zu schützen und wieder herzustellen sowie Leiden zu lindern und Sterbenden bis zum Tod beizustehen. Die ärztliche Verpflichtung zur Lebenserhaltung besteht daher nicht unter allen Umständen. So gibt es Situationen, in denen sonst angemessene Diagnostik und Therapieverfahren nicht mehr angezeigt und Begrenzungen geboten sein können. Dann tritt palliativ-medizinische Versorgung in den Vordergrund. Die Entscheidung hierzu darf nicht von wirtschaftlichen Erwägungen abhängig gemacht werden.
«
Im Text werden dann 3 möglichen Patientengruppen beschrieben: 4 Sterbende, bei denen der Sterbeprozess eingetreten und unwiderruflich ist. → Hier ist eine Basisbetreuung mit vorwiegend palliativer, begleitender und sorgender Zielsetzung erwähnt, um ein menschenwürdiges Sterben zu ermöglichen. 4 Patienten mit infauster Prognose, die sich aber noch nicht im Sterbeprozess befinden, nach allem ärztlichen Wissen aber keine Chance auf Heilung mehr haben. → Hier kann das Behandlungsziel geändert werden, wenn lebensverlängernde Maßnahmen Leiden lediglich verlängern und ein entsprechender Wille des Patienten vorliegt. Auch hier wird das Behandlungsziel zugunsten eines palliativen Ansatzes geändert. 4 Eine dritte Kategorie in dieser Stellungnahme stellen Patienten mit schwerster zerebraler Schädigung und anhaltender Bewusstlosigkeit dar. → Hier wird ein prinzipielles Behandlungsgebot für lebenserhaltende Maßnahmen gesehen, wobei wiederum eine Entscheidung in Anhängigkeit vom mutmaßlichen oder gar geäußerten Patientenwillen zu treffen ist. Insbesondere wird erwähnt, dass die Dauer der Bewusstlosigkeit allein kein ausreichendes Kriterium für eine Therapieentscheidung sein darf.
1.3.1
Aktive Sterbehilfe
Die Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin [7] hat in Erweiterung dieser Stellungnahme eine »Leitlinie« für das konkrete medizinische Vorgehen in einer solchen Situation verfasst. Hier wurde in Übereinstimmung mit allen vorliegenden Verlautbarungen ärztlicher und medizinischer Organisationen in Deutschland jedwede Form der aktiven Sterbehilfe – definiert als »Tötung eines unheilbar Kranken aufgrund seines ernstlichen Willens durch eine aktive Handlung« – eine klare Absage erteilt. > In der deutschen Medizin besteht ein breiter und tragfähiger Konsens in einer dezidierten Ablehnung der aktiven Sterbehilfe.
Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, dass in einigen europäischen Staaten, wie etwa in den Niederlanden, diesem aktiven Vorgehen keine komplette Absage erteilt wird. Hier wird die aktive Sterbehilfe in bestimmten, eng definierten Situationen als mögliche medizinische Handlung akzeptiert. In der Intensivmedizin hat sich in den Niederlanden der Begriff des »active shortening of the dying process« etabliert, was sich näherungsweise mit »aktive Verkürzung des Sterbeprozesses« übersetzen lässt. Eine Tötung auf Verlangen oder auf Wunsch des Patienten ist nach der niederländischen Rechtssprechung unter Beachtung der erforderlichen Formalitäten ebenfalls möglich. Im Gegensatz dazu weisen niederländische Kollegen darauf hin, dass die aktive, über den Entzug einer bereits etablierten Therapie hinausgehende Verkürzung des Sterbeprozesses in der Intensivmedizin, im Gegensatz zur aktiven Sterbehilfe, nicht notwendigerweise auf den explizit geäußerten authentischen Patientenwillen rekurriert, sondern durchaus den mutmaßlichen – oder von Betreuern geäußerten – Willen eines Patienten als Entscheidungsgrundlage akzeptiert. Dieser Exkurs in die internationale Sichtweise des Problemfeldes soll lediglich aufzeigen, welche enormen Unterschiede in der Frage nach der medizinischen Betreuung am Ende des Lebens bestehen können, die von den unterschiedlichen kulturellen, sozialen, religiösen, weltanschaulichen und gesellschaftlichen Sichtweisen um das Sterben und den Tod geprägt sind [4, 5].
1.3.2
Passive Sterbehilfe
Die in der Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin [7] erwähnte Möglichkeit der passiven Sterbehilfe entspricht wiederum einem breiten Konsens der deutschen Medizin und definiert sich als »Verzicht auf lebensverlängernde Behandlungsmaßnahmen, insbesondere auf die Wiederherstellung und Aufrechterhaltung vitaler Funktionen durch intensivmedizinische Verfahren, bei progredienten Erkrankungen mit infauster Prognose«.
1.3.3
Indirekte Sterbehilfe
In einer dritten Kategorie wird die indirekte Sterbehilfe definiert als »palliative Behandlung eines Schwerstkranken, insbesondere potente Schmerztherapie, unter Inkaufnahme einer möglichen Lebensverkürzung als unbeabsichtigte Nebenwirkung«. In der intensivmedizinischen Versorgungsrealität bildet sich dieser Konsens v. a. in der Entscheidung ab, typisch intensivmedizinische, dem Erhalt der Vitalfunktionen gewidmete Maßnahmen, wie etwa die maschinelle Beatmung, die hoch dosierte Gabe von Katecholaminen zur Unterstützung des Kreislaufs, die Nierener-
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Kapitel 1 · Möglichkeiten und Grenzen der Intensivmedizin
satztherapie oder andere Organersatzverfahren im gegebenen Fall nicht anzuwenden (»withholding«) oder aber, wenn sich ein derartiges Zustandsbild unter laufenden, maximalen therapeutischen Bemühungen entwickelt, nicht fortzuführen (»withdrawal«). Aus verschiedenen internationalen Untersuchungen wissen wir, dass auch in dieser an sich weitverbreitet geübten Praxis kulturell, religiös und weltanschaulich bedingte Unterschiede bestehen. Unabhängig von der konkreten Form der geübten Praxis stellen aber dennoch die subjektive ärztliche Einschätzung, das Alter und der mutmaßlichen Wille des Patienten die wesentlichen Entscheidungsgrundlagen dar [2, 3].
1.3.4
Bedeutung des höheren Lebensalters
In diesem Kontext ist die demographische Entwicklung unserer Gesellschaft einmal mehr von Bedeutung, da immer mehr ältere Menschen mit immer komplexeren Krankheitsprozessen intensivmedizinisch behandelt werden. So werden heute ca. 50 % aller Intensivbetten von Patienten über 65 Lebensjahren belegt, wobei die Tendenz zu noch höheren Altersstufen steigend ist. Wichtig in dieser Diskussion ist, dass nicht das Alter per se ein Problem für die Intensivmedizin darstellt, sondern die Tatsache, dass in höherem Alter einfach die Wahrscheinlichkeit zu erkranken steigt. In der Tat finden sich in klinischen Untersuchungen Schätzungen, dass Intensivpatienten jenseits des 65. Lebensjahrs in der Regel an mehr als 5 wesentlichen Begleiterkrankungen zusätzlich zu ihrem akuten Problem leiden. Diese Komorbidität zusammen mit der reduzierten Reserve und Regenerationsfähigkeit der verschiedenen Organfunktionen im Alter bedingt eine höhere Wahrscheinlichkeit, mit der Intensivmedizin nicht kurativ eingreifen zu können, wie es ihrer eigentlichen Intention entspricht.
1
> Somit sind die sich ergebenden Probleme der Technisierung der Intensivmedizin und ihres medizinisch und ethisch vertretbaren Einsatzes beim betagten Patienten nicht prinzipiell anders als bei jüngeren Patienten, sondern einfach nur häufiger [8].
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1.3.5
1
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Der Wille des Patienten
Aus dem bisher Gesagten wird klar, dass dem geäußerten oder mutmaßlichen Willen des Patienten die alles entscheidende Bedeutung zukommt, ausgehend von einer Medizinethik, die dem freien Willen und dem Recht auf Selbstbestimmung die höchste und damit übergeordnete Priorität einräumt. In der Intensivmedizin findet allerdings gerade dieser Aspekt häufig seine ganz praktischen Grenzen darin, dass der aktuelle Wille weder geäußert noch eruiert werden kann. Der Patient ist auf dem Boden seiner kritischen Erkrankung häufig nicht äußerungs- oder einwilligungsfähig. Ebenso häufig liegt auch keine Äußerung eines mutmaßlichen Willens aus der Phase vor Beginn der Intensivtherapie vor, oder aber der Zeitpunkt der Äußerung liegt so weit zurück, dass berechtigte Zweifel an der Aktualität bestehen. Um die verschiedenen prinzipiellen Möglichkeiten zur Erfassung des mutmaßlichen Patientenwillens bei Einwilligungsunfähigkeit darzustellen, sollen auch hier einige Begriffe erläutert und definiert werden [9].
1
Patientenverfügung
1
Eine immer häufiger anzutreffende Art der Formulierung des Patientenwillens für medizinische Fragen stellt die Patientenverfügung dar (7 Kap. 2). Sie ist eine schriftliche oder mündliche Willensäu-
ßerung eines einwilligungsfähigen Patienten zur zukünftigen Behandlung im Fall der Äußerungsunfähigkeit. Sie enthält Aussagen zu Art und Umfang medizinischer Behandlung mit der Option der vollständigen Ablehnung, aber auch dem möglichen Wunsch nach Fortführung der Behandlung oder nach Maximaltherapie. Auch wenn die Patientenverfügung bindend ist (7 unten), liegt das wesentliche Problem im Detaillierungsgrad der Formulierungen über ein konkretes Therapieausmaß für eine spezifische, zum Zeitpunkt des Verfassens in der Zukunft eintretende und damit nicht oder nur schwer konkretisierbare Situation. Die Tatsache, dass eine Patientenverfügung Anlass zu Diskussionen geben kann, entwertet sie jedoch nicht im Hinblick auf die Ernsthaftigkeit der verfassten Willensäußerung. Sie stellt schon deshalb eine gewisse Verbindlichkeit her, als sie belegt, dass sich die betroffene Person zu Zeiten von weitgehender Gesundheit und damit ohne Not mit der Thematik befasst und zumindest den Versuch unternommen hat, seine Vorstellungen und Wünsche für den Umgang mit seiner Person in einem kritischen Gesundheitszustand zu definieren. Unsere Medizinethik respektiert den Willen eines Patienten als oberstes Primat ärztlichen Handelns, auch dann, wenn der Inhalt nicht notwendigerweise unseren eigenen medizinischen oder ethischen Vorstellungen entspricht. Die einzige und eindeutige Limitierung besteht dann, wenn der Wille des Patienten direkt mit dem Tötungsverbot in Konflikt steht, wenn also ein Patient eine aktive Handlung zur Beschleunigung des Sterbeprozesses für sich fixiert hat und wünscht. In diesem Fall kommt dem Tötungsverbot die höherrangige und damit entscheidende Bedeutung zu. Bis vor Kurzem war der Status und die Verbindlichkeit von Patientenverfügungen in vielen Aspekten unklar und umstritten. Mit dem am 01.09.2009 in Kraft getretenen Dritten Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts wurde der rechtliche Rahmen der Patientenverfügung erstmals gesetzlich geregelt, sodass nun viele der strittigen Fragen verbindlicher geregelt sind [9]. Die wesentlichen Aussagen des neuen Gesetzes sind in der 7 Übersicht zusammengefasst.
Rechtlicher Rahmen der Patientenverfügung (Drittes Gesetz zur Änderung des Betreuungsrecht) 4 Die Patientenverfügung gilt unabhängig von Art und Stadium der Erkrankung, bis sie vom Patienten widerrufen wird. Ein Widerruf ist jederzeit formlos möglich. 4 Liegt keine (eindeutige) Patientenverfügung vor, kommt es auf den mutmaßlichen Willen des Patienten an. Dieser ist aufgrund konkreter Anhaltspunkte zu eruieren. Hierzu zählen insbesondere frühere mündliche oder schriftliche Äußerungen, ethische oder religiöse Überzeugungen und sonstige persönliche Wertvorstellungen des Patienten. 4 Ob eine ärztlich indizierte Maßnahme dem verfügten oder mutmaßlichen Willen des nicht mehr einwilligungsfähigen Patienten entspricht, entscheidet dessen Betreuer bzw. Bevollmächtigter im Gespräch mit dem behandelnden Arzt. Bei diesem Gespräch soll nahen Angehörigen und sonstigen Vertrauten des Patienten Gelegenheit zur Äußerung gegeben werden. Eine Genehmigung des Betreuungsgerichts ist nur im Konfliktfall erforderlich, wenn zwischen Betreuer/Bevollmächtigtem und Arzt kein Einvernehmen über den Willen des Patienten erzielt werden kann.
7 1.4 · Intensivmedizin als sorgende und menschliche Akutmedizin
Betreuungsverfügung Das nächste in diesem Zusammenhang wichtige Instrument ist die Betreuungsverfügung, mit der ein Patient den namentlichen Vorschlag zur Bestellung eines Betreuers im gegebenen Fall macht. Dieser Betreuer wird vom Vormundschaftsgericht bestätigt, sofern kein Anhalt besteht, dass sich der Betreuer dem Wohl und Willen des Patienten nicht entsprechend verhalten würde, oder aber der Betreuer nicht in der Lage ist, die Betreuung bestimmungsgemäß auszuüben. Inhaltlich ist auch dieser Betreuer an den mutmaßlichen, beispielsweise in einer Verfügung geäußerten Willen des Patienten gebunden.
Vorsorgevollmacht Das dritte Instrument, den mutmaßlichen Willen für eine eigene Einwilligungsunfähigkeit zu benennen, ist die Vorsorgevollmacht. Im Gegensatz zum Betreuer ist der Vorsorgebevollmächtigte eine vom Patienten selbst gewählte und eingesetzte Person. Die Vorsorgevollmacht ist der Betreuerbestellung vorrangig. Wenn also die zu regelnden Angelegenheiten ebenso gut durch den Bevollmächtigten geregelt werden können, so muss nach dem Grundsatz der Subsidiarität der Betreuung kein eigener Betreuer durch das Betreuungsgericht bestellt werden. Eine Ausnahme hiervon bildet lediglich die Bestellung eines Kontrollbetreuers für den Fall, dass dem Gericht die Kontrolle des Bevollmächtigten notwendig erscheint. Die Vorsorgevollmacht ist seit 1999 erstmals ausdrücklich auf den Bereich der Gesundheitsfürsorge ausgedehnt und der Bevollmächtigte im Hinblick auf seine Rechte und Pflichten dem Betreuer gleichgestellt. Sie muss schriftlich erteilt sein, bedarf jedoch keiner notariellen Beglaubigung. Mit einer Vorsorgevollmacht wird eine Vertrauensperson ermächtigt, Entscheidungen über ärztliche Eingriffe oder andere persönliche Angelegenheiten zu treffen. Erst wenn zwischen Betreuer/ Bevollmächtigtem und Arzt kein Einvernehmen über den Willen des Patienten erzielt werden kann, muss das Betreuungsgericht angerufen werden.
Entscheidung des Betreuungsgerichts Eine Genehmigung des Betreuungsgerichts ist nur im Konfliktfall erforderlich, wenn zwischen Betreuer/Bevollmächtigtem und Arzt kein Einvernehmen über den Willen des Patienten erzielt werden kann. Deshalb sollten im ärztlichen Gespräch alle Anstrengungen unternommen werden, den mutmaßlichen Willen mit Betreuern oder Bevollmächtigten, der Familie und/oder den nächsten Angehörigen eines einwilligungsunfähigen Patienten zu erfragen und zu erörtern. Zu berücksichtigen sind insbesondere frühere schriftliche oder mündliche Äußerungen, ethische, religiöse Überzeugungen oder sonstige persönliche Wertvorstellungen des Betreuten. Die konkrete intensivmedizinische Situation ist allerdings häufig gekennzeichnet durch die Unwägbarkeiten bei der Abschätzung des möglichen Erfolgs medizinischer Bemühungen sowie bei der Unvermitteltheit, mit der eine kritische Erkrankung auftreten kann, die ihrerseits wiederum rasches Handeln erfordert. Dieses Dilemma wird sich kaum gänzlich auflösen lassen, ist es doch für akute und auch zukünftige Patienten unmöglich, alle Kombinationen einer solchen Situation im Vorhinein durchzuspielen und eindeutig zu entscheiden. Insofern wird bereits die Beschäftigung mit dem Thema sowohl in der Medizin, aber auch der Gesellschaft, zu einer Haltung führen, die es uns mehr und mehr erlaubt, auch über die letzten Entscheidungen des Lebens im Vorfeld Gespräche zu führen, die die Basis für eine patientenorientierte Entscheidung liefern können.
In einer Untersuchung an der Göttinger Universität zeigte sich, dass hier ein bislang unausgeschöpftes Potenzial liegt, da ca. 80 % der befragten Patienten an den unterschiedlichen oben genannten Möglichkeiten der Äußerung des Patientenwillens für die gegebene Situation interessiert sind, bis zum Zeitpunkt der Befragung aber nur 11 % ein solches Instrument für sich genutzt hatten. Wiederum 80 % der befragten Patienten wäre aber interessiert, im Rahmen der ärztlichen Aufklärung über die bestehenden Möglichkeiten informiert zu werden [10]. Ob sich diese Situation vor dem Hintergrund der neuen Gesetzeslage ändert, bleibt abzuwarten.
1.4
Intensivmedizin als sorgende und menschliche Akutmedizin
Die Einschätzung der Möglichkeiten und Grenzen der modernen Intensivmedizin werden letztlich immer von individuellen und sehr unterschiedlichen Einflüssen zu Fragen am Ende des Lebens gekennzeichnet sein. Intensivmedizin darf aber weder dem technologischen Primat zum Opfer fallen noch sich der Patientenorientiertheit durch rigiden Aktivismus verschließen. Immer mehr Menschen werden in immer höherem Alter mit immer mehr Diagnosen und einer immer weiter reichenden Komorbidität intensivmedizinisch behandelt. In den momentanen Strukturen der Gesundheitssysteme werden damit Intensivstationen auch immer mehr zu den Orten im Krankenhaus, an denen Patienten sowohl nach kurzen und dramatischen, aber eben auch langen und teilweise qualvollen Verläufen sterben. Die Antworten der Intensivmedizin werden bestimmt von den Grundprinzipien eines von der Humanität geprägten Handelns und nicht von einem ökonomischen oder technologischen Imperativ. In diesem Sinne bieten sich der Intensivmedizin große, wenn auch nicht einfache Möglichkeiten, sich vom Image der »Gerätemedizin« hin zu einer sorgenden und menschlichen »Akutmedizin« zu entwickeln. > Moderne Intensivmedizin muss akzeptieren und lernen, dass neben der akut medizinischen Diagnostik und Therapie zur Aufrechterhaltung und Unterstützung der vitalen Körperfunktionen mit allen Möglichkeiten der modernen Technologie auch die menschliche Begleitung am Ende des Lebens zu ihren wichtigen und wesentlichen Aufgaben zählt.
1.4.1
Unnötige Verlängerung des Sterbeprozesses
Wir wissen aus der Ethicus-Studie [4], die 1999 und 2000 auf 37 Intensivstationen in 17 europäischen Ländern durchgeführt wurde, dass 99 % der Patienten, bei denen eine Therapie aktiv beendet oder entzogen wurde, sterben; demgegenüber verließen 11 % der Patienten, denen eine Therapie vorenthalten wurde, lebend die Klinik. Der Rückschluss, dass das passivere Vorgehen des Vorenthaltens damit eine geringere Rate von Fehlentscheidungen in sich trüge, berücksichtigt einseitig das Überleben dieser Patienten als Vorteil, wohingegen ein möglicherweise unnötig verlängerter Sterbeprozess bei den übrigen 89 % der Patienten billigend in Kauf genommen wird. Gleichzeitig fehlt jede Angabe zur individuellen Lebensqualität nach Entlassung aus dem Krankenhaus und zur Überlebenszeit. Es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass zumindest ein Teil dieser Patienten in einem Zustand überlebt, den er nicht mit seinem Lebensbild in Einklang bringen kann. Hier öffnet sich ein Feld, dem
1
8
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die Medizin im Allgemeinen, aber insbesondere die Intensivmedizin bislang wohl eher zu wenig Rechnung getragen hat. Der Terminus Outcome steht in der Intensivmedizin meist für Überlebenszeiten oder die Dauer der Wirksamkeit einer spezifischen therapeutischen Intervention. Das »gute« Outcome einer Intensivstation bemisst sich u. a. an ihrer Letalität. Überleben in einem ganzheitlichen Sinne erfasst aber neben dem physischen Aspekt die psychosoziale Dimension. Diesem Gedanken muss verantwortungsbewusste Intensivmedizin zukünftig verstärkt Rechnung tragen [11–14].
1 1.4.2
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Kapitel 1 · Möglichkeiten und Grenzen der Intensivmedizin
Kompetenzerwerb in der Patientenund Angehörigenbetreuung
Das Picker Institute, 1986 in Boston gegründet und seit 2000 in Europa, in England mit Zweigstellen, in Deutschland und der Schweiz etabliert, widmet sich weltweit den Entitäten Krankheit und Therapie aus der Sicht des Patienten und der Angehörigen:
Vertrauen schaffen und die mögliche Angst der uns anvertrauten Patienten vor der gefühlskalten Gerätemedizin abbauen.
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Die Einsicht in das Mögliche und Unmögliche ist es, was den Helden vom Abenteurer unterscheidet.
Literatur 1 2
3
4
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Picker works with patients, professionals and policy makers to promote understanding of the patient´s perspective at all levels of healthcare policy and practice. We undertake a unique combination of research, development and policy activities which together work to make patients´ views count.
5
«
Picker begleitete im Rahmen von Cobatrice [15], einer von der EU geförderten Initiative der europäischen Gesellschaft für Intensivmedizin zur Beschreibung und Erfassung europaweit akzeptierter intensivmedizinischer Kompetenzen das Programm im Hinblick auf zu fordernde Kompetenzen im Bereich der Patienten- und Angehörigenbetreuung und nicht zuletzt im Bereich der »end of life care«. Gleichzeitig erfasste die Organisation den derzeitigen Standard der Patienten- und Angehörigenbetreuung in 10 der an Cobatrice beteiligten Länder. Es kann sicher davon ausgegangen werden, dass das Anforderungsprofil eines zukünftigen europäischen Intensivmediziners neben dem medizinischen Wissen und den erforderlichen manuellen Fähigkeiten nachhaltige Kompetenz auf dem Gebiet der Patienten- und Angehörigenbetreuung und ganz besonders auf dem Gebiet der Betreuung am Lebensende beinhalten wird. Diese Kompetenz zu schaffen wird Aufgabe der ärztlichen Aus- und Weiterbildung sein, die nicht länger auf diesen Aspekt der ethisch-medizinischen Wissens- und Kompetenzvermittlung verzichten darf. Die eine Seite der Intensivtherapie besteht aus der schnellstmöglichen Diagnosestellung mittels aller verfügbaren Technik, der Wertung der wissenschaftlichen Evidenz einer Therapie und dem resultierenden Einsatz aller sinnvollen, auch hochtechnischen, therapeutischen Optionen. Die zweite Seite aber muss die sorgende Begleitung des Patienten und seiner Angehörigen sein, die den Übergang von der kritischen zur terminalen Erkrankung markiert und sich damit von der bis hierhin möglichen Anonymität zur unausweichlichen Individualität einer endenden Lebensgeschichte wandelt. Dieser Übergang ist oft fließend und muss zumindest die Möglichkeit des Scheiterns intensivmedizinischer Therapie von Anfang an einbeziehen. Gerade das Einbeziehen dieser Möglichkeit gibt dem Betroffenen die Gewissheit, dass auch im Falle des Scheiterns eines Therapieversuchs im besten Sinne Fürsorge für ihn getragen wird und er sich in einem Umfeld befindet, das bereit ist – nachdem alle für diesen individuellen Menschen sinnvollen Maßnahmen ausgeschöpft sind –, das individuelle Lebensende als einen natürlichen Prozess zu akzeptieren. Hierdurch kann die Intensivmedizin
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14
15
Schipperges H (2010) Homo sapiens. Piper, München Cook D, Rocker G, Marshall J, Sjokvist P, Dodek P, Griffith L, Freitag A, Varon J, Bradley C, Levy M, Finfer S, Hamielec C, McMullin J, Weaver B, Walter S, Guyatt G (2003) Withdrawal of mechanical ventilation in anticipation of death in the intensive care unit. N Engl J Med 349: 1123–1132 Esteban A, Gordo F, Solsona JF, Alia I, Caballero J, Bouza C, cala-Zamora J, Cook DJ, Sanchez JM, Abizanda R, Miro G, Fernandez Del Cabo MJ, de ME, Santos JA, Balerdi B (2001) Withdrawing and withholding life support in the intensive care unit: a Spanish prospective multi-centre observational study. Intensive Care Medicine 27: 1744–1749 Sprung CL, Cohen SL, Sjokvist P, Baras M, Bulow HH, Hovilehto S, Ledoux D, Lippert A, Maia P, Phelan D, Schobersberger W, Wennberg E, Woodcock T (2003) End-of-life practices in European intensive care units: the Ethicus Study. JAMA 290: 790–797 Sprung CL, Carmel S, Sjokvist P, Baras M, Cohen SL, Maia P, Beishuizen A, Nalos D, Novak I, Svantesson M, Benbenishty J, Henderson B (2007) Attitudes of European physicians, nurses, patients, and families regarding end-of-life decisions: the ETHICATT study. Intensive Care Medicine 33: 104–110 Bundesärztekammer (2004) Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung. Dtsch Ärztebl 101: 1298–1299 Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (1999) Leitlinie zu Grenzen der intensivmedizinischen Behandlungspflicht. Anästh Intensivmed 40: 94–96 Pronovost P, Angus DC (2001) Economics of end-of-life care in the intensive care unit. Crit Care Med 29: N46–N51 Simon A (2010) Patientenverfügung in der Intensiv- und Notfallmedizin. Intensivmedizin und Notfallmedizin 47: 43–48 Fangerau H, Burchardi H, Simon A (2010) Der Wille des Patienten: Das Dilemma der ungenutzten Möglichkeiten. Intensivmedizin und Notfallmedizin 40: 99–105 Herridge MS, Cheung AM, Tansey CM, Matte-Martyn A, az-Granados N, Al-Saidi F, Cooper AB, Guest CB, Mazer CD, Mehta S, Stewart TE, Barr A, Cook D, Slutsky AS (2003) One-year outcomes in survivors of the acute respiratory distress syndrome. N Engl J Med 348: 683–693 Hopkins RO, Brett S (2005) Chronic neurocognitive effects of critical illness. Curr Opin Crit Care 11: 369–375 Hopkins RO, Herridge MS (2006) Quality of life, emotional abnormalities, and cognitive dysfunction in survivors of acute lung injury/acute respiratory distress syndrome. Clin Chest Med 27: 679–689 Hopkins RO, Gale SD, Weaver LK (2006) Brain atrophy and cognitive impairment in survivors of Acute Respiratory Distress Syndrome. Brain Inj. 20: 263–271 Bion JF, Barrett H (2006) Development of core competencies for an international training programme in intensive care medicine. Intensive Care Medicine 32: 1371–1383
9
Rechtliche Probleme R.-W. Bock
2.1
Einleitung – 10
2.2
Forensisches Risiko – 10
2.2.1 2.2.2 2.2.3
Aktuelle Situation – 10 Verrechtlichung der Medizin – 10 Fortschritt der Medizin – 10
2.3
Rechtliche Problemstellungen – 11
2.3.1 2.3.2 2.3.3
Rechtsgrundlagen – 11 Fehlerquellen – 11 Behandlungsfehler und Verletzung der Sorgfaltspflicht – 11 Organisation der Behandlung – 13 Aufklärung des Patienten – 13 Dokumentation – 15 Grenzen ärztlicher Behandlungspflicht – 15
2.3.4 2.3.5 2.3.6 2.3.7
Literatur – 16
H. Burchardi et al. (Hrsg.), Die Intensivmedizin, DOI 10.1007/978-3-642-16929-8_2, © Springer Medizin Verlag Berlin Heidelberg 2011,
2
2 2 2 2 2 2 2 2 2
10
Kapitel 2 · Rechtliche Probleme
2.1
Einleitung
Ärztliche Berufsausübung ist schon im Allgemeinen durch Risikoaffinität in der Relation von Behandlungsausübung und Behandlungserfolg im Hinblick auf Komplikationen, Nebenfolgen oder gar einen Misserfolg aller Bemühungen charakterisiert. Dies gilt insbesondere auch für die Intensivmedizin, welche Ärzte und Pflegekräfte besonderen Herausforderungen unterwirft. Diese Behandlungsrisikoaffinität korreliert mit einem forensischen Risiko, welches sich gerade während der letzten Jahrzehnte manifestiert und zunehmend entwickelt hat. Daher gilt es auch, die forensischen Risiken zu minimieren, wozu v. a. ein adäquates Risk Management beitragen kann. Dazu gehört, die rechtlichen Anforderungen, welche an die Berufsausübung des Arztes gestellt sind, zu kennen und die Behandlungsführung demgemäß auszurichten. Unter juristischen Aspekten sind im Kern 3 Problembereiche betroffen: 4 die einzuhaltende Sorgfalt bei der Behandlung des Patienten, 4 die Erlangung von Rechtfertigung für die Vornahme von Behandlungsmaßnahmen (Einwilligung des Patienten aufgrund adäquater Aufklärung/mutmaßliche Einwilligung), 4 die Schaffung organisatorischer Gegebenheiten im Sinne adäquater Struktur- und Prozessqualität, um im Ergebnis sorgfaltspflichtgerechte Behandlung vollziehen zu können [1].
2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2
2.2
Forensisches Risiko
2.2.1
Aktuelle Situation
Forensische Risiken im Zusammenhang mit der Berufsausübung können sich für die Ärzteschaft in verschiedenen Rechtsbereichen realisieren. Neben einer stetig wachsenden Zahl von Verfahren vor Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen darf v. a. nicht vernachlässigt werden, dass in Deutschland nach Schätzungen bei pro Jahr etwa 40.000 Behandlungsfehlervorwürfen jährlich ca. 10.000–12.000 neue Zivilverfahren anhängig gemacht und rund 3.000–3.500 neue staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren eingeleitet werden [2]. Schon seit Jahren sprechen Sachverständige von einem »lawinenartigen Anstieg« der Aufträge für sog. Kunstfehlergutachten [3]. Diese Situation mit »amerikanischen Verhältnissen« beschreiben zu wollen, wäre gewiss übertrieben. Zudem haben sich die Gegebenheiten in den USA zwischenzeitlich verändert (Begrenzung von Schmerzensgeldsummen, Etablierung konsequenten Risk Managements). Das gilt umso mehr, wenn das verfügbare bzw. nachvollziehbare statistische Material in Relation zur Vielzahl tagtäglicher Behandlungsabläufe und konkreter Behandlungsmaßnahmen gesetzt wird. Doch liegt es auf der Hand, dass die Sorge, aus Behandlungsmaßnahmen könnten forensische Auseinandersetzungen resultieren, real gerechtfertigt ist. Demgemäß muss konstatiert werden, dass in der Ärzteschaft im Zusammenhang mit medikolegalen Fragestellungen eine erhebliche Verunsicherung entstanden ist. So ist auch zu veranschlagen, welche Belastung es für einen Arzt darstellt, mit dem Vorwurf eines Kunstfehlers konfrontiert zu sein. Das gilt erst recht, wenn die forensische Auseinandersetzung zur Verurteilung des Betroffenen führt. Zivilrechtlich sind der Patientenseite zwischenzeitlich erhebliche Schadensersatzleistungen zuzusprechen und scheint die deutsche Rechtsprechung ihre frühere grundsätzlich restriktive Haltung bei der Zuerkennung »hoher Schmerzensgeldsummen« aufgegeben zu haben. Umso mehr ist es geboten, Haftpflichtversicherungsverträge routinemäßig auf auch prospektiv ausreichende Deckungssummen zu überprüfen bzw. fachkundig überprüfen zu lassen.
Die Abwicklung von Zivil- und Strafverfahren stellt sich vielfach mühsam und zeitaufwändig dar. Hinzu kommt, dass sog. Kunstfehlerprozesse oftmals erhebliche Medienwirksamkeit entfalten. Jenseits dessen dürfen evtl. berufsordnungsrechtliche, approbationsrechtliche und vertragsarztrechtliche Konsequenzen nicht vernachlässigt werden.
2.2.2
Verrechtlichung der Medizin
Es ist ein Phänomen zu konstatieren, das durch das Schlagwort von der »Verrechtlichung der Medizin« charakterisiert wird [4]. Juristische Vorgaben – Gesetze, Verordnungen, Richtlinien und insbesondere auch Maßgaben der Rechtsprechung – führten zur unmittelbar wahrnehmbaren und wahrgenommenen Verquickung von Medizin und Jurisprudenz. In Reaktion darauf hat sich in vielen Zusammenhängen eine »defensive Medizin« etabliert, was Laufs bereits 1986 erkannte und vorausschauend beschrieben hat: »Die Verrechtlichung seiner Kunst lässt den Arzt neben den Risiken, die der Patient mitbringt und die diesem bei der Diagnose oder Therapie drohen, auch die eigenen forensischen Gefahren bedenken und als indizierende wie kontraindizierende Faktoren ins Kalkül ziehen. Aus der verrechtlichten droht eine defensive Medizin zu werden, die aus Scheu vor der Klage zu viel untersucht oder zu wenig an Eingriffen wagt [5] bzw. Eingriffe auch vorzeitig ausführt. Einerseits ist nachvollziehbar, dass so versucht wird, forensische Risiken zu umgehen bzw. zu minimieren. Doch muss ein solches Behandlungsverhalten kritisch hinterfragt werden, wobei letztlich auch Kostenaspekte nicht vernachlässigt werden sollten. Denn die Anwendung defensiver Medizin mit einem an sich unnötigen Mehr an Behandlungsmaßnahmen führt notwendigerweise zu vermeidbaren Kostensteigerungen. Unter Rechtsaspekten erfordert jede Behandlungssituation ein auf den Einzelfall abgestimmtes Behandlungsverhalten, wobei Maßgabe der einzuhaltende medizinische Standard ist.
2.2.3
Fortschritt der Medizin
Neben den operativen Fächern gehört die Anästhesie zu den haftungsträchtigen Fachgebieten. Das mag einerseits naheliegen, da vielfach schnellste Entschlüsse gefasst werden müssen, Erfolg und Misserfolg meist unmittelbar und für jedermann sichtbar in Erscheinung treten und ein menschliches Versagen, ein Irrtum, nur ein Zögern schwerwiegende, oft irreparable Konsequenzen haben können [6], und überrascht andererseits prima vista, wenn die heutigen anästhesiologischen Behandlungsmöglichkeiten berücksichtigt werden. Jedoch darf in diesem Zusammenhang zweierlei nicht vernachlässigt werden: Zum einen implizieren Fortschritte in der Medizin die Reduzierung oder gar Eliminierung »alter Risiken« und evozieren notwendigerweise »neue Risiken«. Das fordert die Behandlungskunst des Arztes in anderen oder neuen Zusammenhängen heraus, wobei sich andere oder neue diagnostische sowie therapeutische Grenzen zeigen. Zum anderen ruft der »Fortschritt der Medizin« immer neue und weitere Erwartungen bezüglich der Möglichkeiten der Medizin hervor, was vielfach sogar zu einem Anspruchsdenken auf Patientenseite führt und die Schicksalhaftigkeit von Krankheitsverläufen oftmals vergessen lässt. Mangelnder Erfolg von Behandlungsmaßnahmen erscheint vor diesem Hintergrund dann nicht als objektiv unvermeidbare Begrenzung medizinischer Möglichkeiten, sondern als »Versagen« der Ärzte. Damit ist ein circulus vitiosus in Gang gesetzt, der ne-
11 2.3 · Rechtliche Problemstellungen
ben zahlreichen anderen Faktoren die relativ hohe und nach wie vor steigende Zahl forensischer Auseinandersetzungen im Kern erklären mag.
2.3
Rechtliche Problemstellungen
2.3.1
Rechtsgrundlagen
Vor dem Hintergrund tradierter Rechtsprechung resultieren wesentliche rechtliche Anforderungen an den Arzt im Zusammenhang mit seiner Berufsausübung aus dem Strafgesetzbuch. Berührt sind die Tatbestände der fahrlässigen Körperverletzung (§ 229 StGB) und der fahrlässigen Tötung (§ 222 StGB). Demnach unterliegt es strafrechtlicher Sanktion, wenn (kurz gesagt) ein fehlerhaftes Verhalten im Zusammenhang mit der Behandlung eines Patienten kausal zu dessen Gesundheitsschädigung oder Tod führt. Gleiches vermag im Grundsatz zivilrechtliche Haftung aus (Behandlungs-) Vertrag und aus Delikt (§§ 823 ff. BGB) auszulösen. Stets dürfen – mit der eventuellen Folge berufsgerichtlicher Sanktion – die Regeln zur ärztlichen Berufsausübung im Berufsordnungsrecht nicht vernachlässigt werden [7]. Im Zusammenhang mit zivilrechtlicher Haftung und strafrechtlicher Verantwortlichkeit des Anästhesisten sind grundlegend also 2 Rechtsmaterien zu unterscheiden: 4 Zivilrecht: In Zivilverfahren geht es um die Wiedergutmachung etwa entstandenen Schadens bzw. den Ausgleich für »erlittene Schmerzen« und beeinträchtigte Lebensqualität durch Geldzahlung. Insoweit greift in aller Regel der Haftpflichtversicherungsschutz ein. 4 Strafrecht: Im Gegensatz dazu trifft den Verurteilten bei Durchführung eines Strafverfahrens die Strafsanktion höchstpersönlich. Dagegen gibt es keinen Versicherungsschutz. Weiterhin sind nach strafrechtlicher Verurteilung oftmals auch berufsordnungs-, approbations- und arbeitsrechtliche Konsequenzen zu erwarten. Jedenfalls dürfen die regelmäßig immensen physischen und psychischen Belastungen, die mit der bloßen Anhängigkeit und Durchführung eines Strafverfahrens verbunden sind, nicht vernachlässigt werden.
2.3.2
Fehlerquellen
Die einleitend dargestellten forensischen Risiken können sich wesentlich in 3 Sachverhaltszusammenhängen realisieren, nämlich hinsichtlich Behandlungsfehlern und Organisationsmängeln, welche sich im Kern als Verstoß gegen die einzuhaltende Sorgfalt darstellen, sowie bezüglich Aufklärungspflichtverletzungen, die im Ergebnis – mangels darauf beruhend wirksamer Einwilligung des Patienten – als verbotene Eigenmacht bei der Behandlungsdurchführung zu charakterisieren sind. Vielfach resultieren konkrete Behandlungsfehler und auch Aufklärungspflichtverletzungen gerade aus zugrundeliegenden Organisationsmängeln. Solche können z. B. auch aus unzureichender Kooperation und Kommunikation verschiedener an der Behandlung des Patienten beteiligter Ärzte des gleichen oder eines anderen Fachgebietes resultieren. Schließlich dürfen Dokumentationsmängel nicht außer Acht bleiben. Sie bilden zwar keine eigene »Anspruchsgrundlage« für Schadensersatz- sowie Schmerzensgeldansprüche [8] und stellen erst recht keinen »Strafgrund« dar.
> Nach Maßgabe der höchstrichterlichen Rechtsprechung kann lückenhafte oder gar fehlende Dokumentation in Zivilprozessen jedoch zur Beweiserleichterung zugunsten des Patienten – bis hin zur Beweislastumkehr zu Lasten des Arztes – führen [9].
Es darf nicht verkannt werden, dass hinsichtlich der rechtlichen Anforderungen im Zusammenhang mit intensivmedizinischen Behandlungsmaßnahmen nichts anderes gilt als bezüglich sonstiger ärztlicher Berufsausübung, insbesondere anästhesiologischer Behandlungstätigkeit. Es gelten die allgemeinen arzthaftungs- und arztstrafrechtlichen Grundsätze, sodass auf diese im Folgenden näher eingegangen werden soll.
2.3.3
Behandlungsfehler und Verletzung der Sorgfaltspflicht
Grundlegend gilt, dass »gerade wegen der Eigengesetzlichkeit und weitgehenden Undurchschaubarkeit des lebenden Organismus… ein Fehlschlag oder Zwischenfall (anlässlich Behandlungsmaßnahmen) nicht allgemein ein Fehlverhalten oder Verschulden des Arztes indizieren (kann)«, wie in der höchstrichterlichen Rechtsprechung anerkannt ist [10].
Verletzung der objektiven Sorgfaltspflicht Grundvoraussetzung sowohl zivilrechtlicher Haftung als auch strafrechtlicher Verantwortlichkeit des Arztes ist daher eine Verletzung der objektiven Sorgfaltspflicht. Darunter versteht man konkret einen Verstoß gegen denjenigen Behandlungsstandard, den – aus Ex-ante-Sicht – ein besonnener und gewissenhafter Arzt dem Patienten in der konkret zu beurteilenden intensivmedizinischen Situation geboten hätte. Dieser »Standard« ist abstrakt und generell als der jeweilige Stand der medizinischen Wissenschaft, konkret als das zum Behandlungszeitpunkt in der ärztlichen Praxis bewährte, nach naturwissenschaftlicher Erkenntnis gesicherte, allgemein anerkannte und für notwendig erachtete Verhalten umschrieben [11].
Facharztstandard > Hierbei ist im Ergebnis »Facharztstandard« bzw. eine Behandlung mit »Facharztqualität« zu gewährleisten [12], d. h. dass der Arzt die konkret anzuwendende Behandlung »theoretisch wie praktisch so beherrscht, wie das von einem Facharzt (des betroffenen Fachgebiets) erwartet werden muss [13]« (materielle Facharztqualität).
Die oben genannte Umschreibung impliziert, dass medizinischer Standard keine rein statische Größe darstellt, sondern eine dynamische Komponente enthält, welche von der Entwicklung und dem jeweiligen Fortschritt allgemein in der Medizin und insbesondere im Bereich der Anästhesie und Intensivmedizin abhängt, also neue Erkenntnisse und Erfahrungen in sich aufnimmt und dadurch den Standard ändert. In diesem Zusammenhang darf nicht vernachlässigt werden, dass es ausschließlich der »medizinischen Wissenschaft« und dabei insbesondere den betroffenen Fachgebieten obliegt, zu diskutieren und evtl. auch zu bestimmen, welche Behandlungsweisen als lege artis zu erachten sind und damit die gebotene Sorgfaltspflicht erfüllen. Denn das, was als »Regel der ärztlichen Kunst« bzw. »Standard« zu bezeichnen ist, bleibt »grundsätzlich der medizininternen Auseinandersetzung überlassen, die rechtliche Intervention (hingegen)
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Kapitel 2 · Rechtliche Probleme
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der Bestimmung äußerster, ›eindeutiger‹ Grenzen ›(un-)vertretbarer‹ Methodenwahl vorbehalten« [14].
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Übernahmeverschulden
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Jenseits des zu beachtenden Standards im Hinblick auf konkrete Behandlungsmaßnahmen orientiert sich die objektiv einzuhaltende Sorgfalt auch an den infrastrukturellen, insbesondere diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten, die dem Intensivmediziner zur Verfügung stehen, sowie an der konkreten Situation, in der die Behandlung des Patienten erfolgt. So unterliegt die Beherrschung einer Notfallsituation, etwa nach einem Unfallereignis, selbstverständlich anderen Regeln als die planbar zu gestaltende postoperative intensivmedizinische Nachsorge bei einem Patienten. > Andererseits vermag einen Arzt z. B. der Hinweis auf geringere fachliche Qualifikation bzw. nicht zur Verfügung stehende diagnostische Geräte nicht zu entlasten. In solchen Fällen muss der Patient rechtzeitig in eine kompetente Behandlung überwiesen bzw. in ein Krankenhaus mit der erforderlichen Ausstattung verlegt werden. Dies nicht zu erkennen wäre sorgfaltspflichtwidrig.
Anders als im Zivilrecht, wo ausschließlich der oben ausgeführte objektive Sorgfaltsmaßstab gilt, ist im Strafrecht zusätzlich eine subjektive Betrachtung anzustellen. Ein strafrechtlicher Vorwurf kann nur dann erhoben werden, wenn der Arzt nach seinen persönlichen Fähigkeiten und individuellen Kenntnissen auch imstande war, die von ihm objektiv verlangte Sorgfalt aufzubringen. Daraus darf aber nicht gefolgert werden, dass bei nur unterdurchschnittlicher Qualifikation straflos bleibt, wer unter Außerachtlassung der gebotenen Sorgfalt den Tod oder die Körperverletzung eines Menschen verursacht. > Auch der Arzt, dem etwa mangels eigener persönlicher Fähigkeiten und Sachkunde ein Behandlungsfehler unterläuft, kann objektiv pflichtwidrig und subjektiv schuldhaft im Sinne einer Übernahmefahrlässigkeit handeln. Vor der Überschätzung der eigenen Fähigkeit und der zur Verfügung stehenden Möglichkeiten kann daher nur gewarnt werden.
Grundsatz der Methodenfreiheit Gibt es im Rahmen des zu beachtenden Standards mehrere medizinisch anerkannte Vorgehensweisen oder haben sich noch keine Standardbehandlungsverfahren nach Inhalt und Umfang durchgesetzt, gilt der Grundsatz der Methodenfreiheit, wonach die »Wahl der Behandlungsmethode primär Sache des Arztes« ist [15]. Dieser Grundsatz enthebt den Arzt einer strengen Bindung an bestimmte vorgegebene diagnostische wie therapeutische Methoden oder Verfahren, wobei Sorgfaltspflichten selbstverständlich zu beachten sind [16]. Dabei gehört es zur Sorgfaltspflicht des Arztes, unter mehreren medizinisch anerkannten Vorgehensweisen diejenige zu wählen, die das geringste Risiko für den Patienten mit sich bringt. Methodenfreiheit gilt nur hinsichtlich grundsätzlich gleich wirksamer Methoden, bei denen insgesamt von einem vergleichbaren Risikoniveau auszugehen ist. Sie ist abzulehnen bei deutlichem Risikogefälle. Hier gehört es zur Behandlungspflicht des Arztes, dem Patienten die risikoärmere Behandlung zu vermitteln [17]. Der Arzt verstößt somit gegen seine Sorgfaltspflichten, wenn er sich für die gefahrenträchtigere Behandlungsweise entscheidet, obwohl unter Abwägung aller Umstände, insbesondere der konkreten
Erfolgsaussichten, der spezifischen Risiken sowie der besonderen Vor- und Nachteile der jeweiligen Maßnahmen ein weniger riskantes Vorgehen das Behandlungsziel in gleicher Weise, wenn nicht besser, erfüllt hätte.
Rechtliche Bedeutung von Leitlinien Hinsichtlich der richterlichen Beurteilung, ob der Arzt im konkreten Behandlungsfall die »berufsspezifischen Sorgfaltspflichten« eingehalten hat, stellt sich die Frage nach der Verbindlichkeit ärztlicher Leitlinien. Bei der gerichtlichen Ermittlung, welcher Standard im konkreten Behandlungsfall als sorgfaltspflichtgerecht einzuhalten war, was regelmäßig auf der Grundlage der Begutachtung durch einen Sachverständigen erfolgt, können Leitlinien zu berücksichtigen sein. Diese könnten mithin also im Zusammenhang mit der Prüfung von Haftung und Strafbarkeit eines Arztes ein »Einfallstor« zum Rückgriff auf medizinische Beurteilungskategorien darstellen. In diesem Sinne würden Leitlinien dann zumindest mittelbar rechtlich verbindliche Relevanz für den Arzt erlangen. Eine Haftung bzw. Strafbarkeit resultiert ggf. nach Maßgabe der Rechtsprechung jedoch nicht infolge »Nichteinhaltung der Leitlinie«, sondern aufgrund Nichteinhaltung des zu beachtenden Behandlungsstandards, welcher allerdings evtl. (u. a. auch) einer Leitlinie entnommen werden kann. Wie schon das OLG Naumburg in einer Entscheidung vom 19. Dezember 2001 formulierte, haben »ärztliche Leitlinien der Wissenschaftlichen Fachgesellschaften (AWMF)… unbeschadet ihrer wissenschaftlichen Fundierung derzeit lediglich Informationscharakter für die Ärzte selbst. Einer weitergehenden Bedeutung, etwa als verbindliche Handlungsanleitung für praktizierende Ärzte, steht zumindest derzeit die anhaltende Diskussion um ihre Legitimität als auch um ihre unterschiedliche Qualität und Aktualität entgegen. Forensisch betrachtet sind diese Leitlinien der AWMF wegen ihres abstrakten Regelungsgehalts grundsätzlich auch nicht geeignet, ein auf den individuellen Behandlungsfall gerichtetes Sachverständigengutachten zu ersetzen« [18]. Kurz gesagt gilt, dass Leitlinien keine »antizipierten Sachverständigengutachten« darstellen. Demgemäß hat der BGH in einer Entscheidung vom 28. März 2008 Folgendes formuliert [19]:
»
Leitlinien von ärztlichen Fachgremien oder Verbänden können (im Gegensatz zu den Richtlinien der Bundesausschüsse der Ärzte und Krankenkassen) nicht unbesehen mit dem zur Beurteilung eines Behandlungsfehlers gebotenen medizinischen Standard gleichgesetzt werden. Sie können kein Sachverständigengutachten ersetzen und nicht unbesehen als Maßstab für den Standard übernommen werden.
«
In diesem Sinne enthalten die von der AWMF im Internet publizierten Leitlinien auch regelmäßig den Hinweis, diese seien für Ärzte »rechtlich nicht bindend« und hätten »daher weder haftungsbegründende noch haftungsbefreiende Wirkung«. > Für den Arzt ist entscheidend, sein medizinisches Agieren nach Maßgabe des individuellen Behandlungsfalles zu bestimmen. Erfordert dies ein Abweichen von Leitlinien, bedarf es der nachvollziehbaren Begründung.
13 2.3 · Rechtliche Problemstellungen
2.3.4
Organisation der Behandlung
Dem zivilrechtlichen Arzthaftungsrecht ist inhärent die Kontrolle, »dass der Patient die von ihm zu beanspruchende medizinische Qualität auch erhalten hat« [20]. Ungeachtet der ratio legis gilt Entsprechendes zumindest im Effekt auch für die strafrechtliche Beurteilung konkreter ärztlicher Behandlungsmaßnahmen. Die Erreichung »zu beanspruchender medizinischer Qualität« muss selbstverständlich auch organisatorisch gewährleistet sein.
Organisationsverschulden
2.3.5
Aufklärung des Patienten
Rechtliches Erfordernis Es ist »nicht der Willkür des einzelnen Arztes überlassen, das zu tun, was er für richtig hält« [23]. Letztliche »Legitimation« zur Durchführung von Behandlungsmaßnahmen erhält jeder ärztliche Eingriff erst durch das »Einverständnis des aufgeklärten Kranken« [24]. Dem liegt wesentlich zugrunde, dass – beruhend auf einer Entscheidung des Reichsgerichts aus dem Jahre 1894 [25] – jeder ärztliche Eingriff, selbst bei gegebener Indikation und Durchführung lege artis, den Tatbestand der Körperverletzung erfüllt und grundsätzlich auch als rechtswidrig zu erachten ist. Zur Vermeidung der Rechtswidrigkeit des Eingriffs bedarf es eines Rechtfertigungsgrundes, der in diesem Fall durch die Einwilligung des Patienten in die Vornahme des Eingriffs gegeben ist. Dabei ist die Einwilligung des Patienten nur wirksam, wenn dieser die für seine Entscheidung bedeutsamen Umstände kennt, mithin weiß, »in was« er einwilligt.
Resultiert aus organisatorischen Mängeln eine Schädigung des Patienten, so ist eine Haftung und Strafbarkeit aus einem Organisationsverschulden möglich. Organisationsmängel lassen sich im Wesentlichen auf 4 Fehlerquellen zurückführen: 4 Kommunikationsmängel, 4 Koordinationsmängel, 4 Qualifikationsmängel, 4 Kompetenzabgrenzungsmängel.
> Nur der hinreichend aufgeklärte Patient kann rechtswirksam in einen Eingriff einwilligen!
Hier ist die Organisationsverantwortung von Krankenhaus- und Abteilungsleitungen gefordert. Wie bereits ausgeführt, hat der Patient Anspruch auf (im Effekt) permanente Behandlung mit (materieller) Facharztqualität. Dies ist schon stellenplan- und dienstplanmäßig zu gewährleisten. So bedarf der Einsatz von (v. a. jüngeren) Ärzten in Weiterbildung insbesondere im Nacht- und Wochenenddienst einer kritischen Planung. Kommt in einer konkreten Behandlungssituation nicht hinreichend qualifiziertes Personal zum Einsatz und resultiert daraus eine Schädigung des Patienten, stehen zum einen ein Übernahmeverschulden der tätigen Ärzte und zum anderen ein Organisationsverschulden des für die Diensteinteilung zuständigen (leitenden) Arztes sowie des Krankenhauses in Rede.
Darüber hinaus ist das aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes resultierende allgemeine Persönlichkeitsrecht eines jeden, hier in der Ausgestaltung des »Selbstbestimmungsrechts des Patienten«, zu beachten, dessen Verwirklichung im Rahmen von Aufklärungsmaßnahmen zu gewährleisten ist. Dem Aufklärungsaspekt kommt rechtspraktisch außerordentlich große Relevanz zu. Dies beruht darauf, dass sowohl eine zivilrechtliche Klage (auf Schadensersatz und Schmerzensgeld) als auch eine Strafanzeige auf eine unterlassene oder nur lückenhafte Aufklärung gestützt werden können. Vielfach wird auf Patientenseite auf eine angeblich mangelhafte Aufklärung rekurriert, weil der Nachweis eines Behandlungsfehlers schwierig ist oder scheitert.
Organisation der Intensivtherapie
> Der Arzt trägt im Zivilprozess die Beweislast, dass der Patient adäquat aufgeklärt wurde.
Gerade Intensivtherapie ist durch »Teamarbeit« gekennzeichnet. Dies betrifft das Zusammenwirken aller Beteiligten unter Einschluss des Pflegepersonals in horizontaler (interdisziplinärer) und vertikaler (hierarchisch geprägter) Arbeitsteilung. Insofern gilt das Prinzip der Einzel- und Eigenverantwortlichkeit hinsichtlich aller zu eigenständiger Erledigung übertragenen bzw. übernommenen Aufgaben und Tätigkeiten. Umso mehr ist es geboten, im Rahmen vertikaler Arbeitsteilung die generelle oder einzelfallbezogene Delegation von Aufgaben sorgfaltig vorzunehmen sowie im Weiteren zu überwachen und im Rahmen horizontaler Arbeitsteilung auf klare Kompetenzabsprachen zu achten. Kompetenzüberschneidungen und Zuständigkeitsleerräume (Schnittstellenproblematik) müssen strikt unterbunden bleiben. In diesem Zusammenhang haben auch die einschlägigen Vereinbarungen der Berufsverbände ihre besondere Bedeutung [21]. > Die Intensivtherapie erfordert mithin ein adäquates »Behandlungsmanagement«, welches auch organisatorisch abgestützt sein muss. Dazu gehört die Etablierung eines »Risk Managements«, im Sinne einer »juristischen Qualitätssicherung«, um nicht zuletzt forensische Risiken zu vermeiden [22].
Aufklärung als Arztaufgabe Die Aufklärung des Patienten ist ärztliche Aufgabe. Demgemäß verbietet sich eine Delegation von Aufklärungsmaßnahmen an nichtärztliches Personal. Grundsätzlich wird nicht beanstandet, dass gerade in der Anästhesie der aufklärende und der die Narkose durchführende Arzt vielfach nicht identisch sind. Allerdings muss dabei gewährleistet sein, dass der Arzt, dem die Aufklärung des Patienten obliegt, dafür nach seinem theoretischen und praktischen Wissens- und Erfahrungsstand und unter Berücksichtigung konkreter Gegebenheiten beim Patienten (z. B. anatomische Besonderheiten bzw. sonstige Risikofaktoren) geeignet ist. Der aufklärende Arzt muss befähigt sein, eine adäquate Aufklärung des Patienten vornehmen zu können. Der den Eingriff ausführende Arzt muss sich vergewissern, dass eine adäquate Aufklärung des Patienten erfolgt ist [26].
Risikoaufklärung Die sog. Risikoaufklärung, welche das Selbstbestimmungsrecht des Patienten gewährleisten und auch seine rechtswirksame Einwilligung in die Behandlungsmaßnahmen herbeiführen soll, bildet den Schwerpunkt forensischer Auseinandersetzungen (davon zu unterscheiden sind die sog. Diagnoseaufklärung sowie die sog. therapeutische Aufklärung). Umfang und Inhalt der Risikoaufklärung stellen die entscheidende und zugleich umstrittenste Frage dar. Dies wird unmittelbar nachvollziehbar, wenn man berücksichtigt, dass die Rechtsprechung einerseits keine Verpflichtung des Arztes kon-
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Kapitel 2 · Rechtliche Probleme
statiert, »den Kranken auf alle nachteiligen Folgen aufmerksam zu machen, die möglicherweise mit einer Operation entstehen können [27]«, im Grundsatz vielmehr fordert, der Patient müsse lediglich »im Großen und Ganzen« informiert werden. Andererseits wird dann in einer Fülle von Einzelfallentscheidungen doch festgestellt, über ein ganz bestimmtes Risiko habe in der konkreten Situation gewiss aufgeklärt werden müssen. Damit liegt das volle Risiko, nicht genügend aufgeklärt zu haben, mit allen zivil- und strafrechtlichen Konsequenzen beim Arzt. Allgemein stellen wesentliche Maßgaben zur Bestimmung von Inhalt und Umfang der Risikoaufklärung die mit dem Eingriff verbundene Gefahrenhäufigkeit, die Dringlichkeit des Eingriffs und auch die Persönlichkeit bzw. das Verhalten des Patienten dar. Dabei ist anzumerken, dass nach Maßgabe der Rechtsprechung des BGH zur ärztlichen Hinweispflicht bei dieser nicht entscheidend auf eine bestimmte statistische Komplikationsdichte und eine bestimmte Risikofrequenz abzustellen ist. > Maßgeblich ist vielmehr, »ob das infrage stehende Risiko dem Eingriff spezifisch anhaftet und bei seiner Verwirklichung die Lebensführung des Patienten besonders belastet [28]«. Das heißt zum einen, dass der Patient »über schwerwiegende Risiken grundsätzlich auch dann aufzuklären (ist), wenn sie sich nur selten verwirklichen« [29]. Zum anderen muss allerdings auch über ein noch so seltenes Risiko aufgeklärt werden, wenn es eingriffspezifisch, d. h. typischerweise mit der durchzuführenden ärztlichen Maßnahme verbunden ist (z. B. Infektionsrisiken in Zusammenhang mit einer Bluttransfusion).
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Aufklärungszeitpunkt > Die Aufklärung des Patienten muss zeitgerecht erfolgen. Dabei gilt, dass eine Aufklärung »zum richtigen Zeitpunkt« nur dann gegebenen ist, »wenn der Patient noch Gelegenheit hat, zwischen der Aufklärung und dem Eingriff das Für und Wider der Operation abzuwägen«. Es muss unbedingt vermieden werden, dass der Patient »wegen der in der Klinik bereits getroffenen Operationsvorbereitungen unter einen unzumutbaren psychischen Druck gerät«, wobei die konkreten Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen bleiben [30].
Im Gegensatz zur operativen Risikoaufklärung genügt im Normalfall bei stationärer Behandlung eine anästhesiologische Aufklärung des Patienten am Vorabend des Eingriffs. Sind schon präoperativ postoperativ erforderliche intensivmedizinische Behandlungsmaßnahmen absehbar, so muss der Patient auch hierüber aufgeklärt werden. Möglicherweise hat dieser Aspekt Einfluss auf seine Einwilligung zur Durchführung des (operativen) Eingriffs. Ist eine ärztliche Behandlung vital indiziert und rasches Handeln zur Beseitigung einer lebensbedrohlichen Situation geboten, tendiert der Aufklärungsumfang gegen Null. In Notfällen, dies liegt auf der Hand, können Aufklärungsmaßnahmen u. U. völlig entfallen, da die Lebensrettung Vorrang hat. Möglicherweise ist der Patient auch überhaupt nicht mehr ansprechbar.
Aufklärungsgespräch > Aufklärung des Patienten muss sich als »Gespräch« darstellen. Sogenannte »Aufklärungsbögen« dienen der Vorabinformation des Patienten, bilden die informative Grundlage für ein ausführliches Gespräch und dokumentieren – individuell ergänzt – den wesentlichen Inhalt dieses Gesprächs. Der Patient ist über den ärztlichen Befund, Behandlungsmöglichkeiten und dabei insbesondere Behandlungsalternativen, Art und Weise der Durchführung von Eingriffen, damit verbundene Risiken, mögliche und sichere Folgen, etwaige Nebenwirkungen, mögliche Komplikationen, die Gefahr des Fehlschlags etc. aufzuklären.
Bestellung eines Betreuers Bei volljährigen Patienten, die z. B. aufgrund von Bewusstlosigkeit, geistiger Verwirrtheit etc. nicht in der Lage sind, die Notwendigkeit und Bedeutung der Behandlung einzusehen und ihren Willen demnach zu bestimmen, gilt Folgendes: Die mangelnde Einsichtsfähigkeit hebt die Einwilligungserfordernis nicht auf. Dabei geht die Einwilligungskompetenz nicht etwa auf nahe Angehörige, z. B. Ehepartner oder Kinder des Patienten, über. Diese sind nicht ipso iure gesetzliche Vertreter. Vielmehr ist erforderlich, bei nicht einsichtsfähigen erwachsenen Patienten gemäß § 1896 BGB die Bestellung eines Betreuers herbeizuführen. Dieser Betreuer ist dann aufzuklären, damit er auf dieser Grundlage die Einwilligung zum Heileingriff erteilen kann. Besteht die begründete Gefahr, dass der (betreute) Patient aufgrund der Behandlung stirbt oder einen schweren und länger dauernden gesundheitlichen Schaden erleidet, bedarf die Einwilligung des Betreuers in den Eingriff darüber hinaus der Genehmigung durch das Betreuungsgericht. Gleiches gilt, wenn der Betreuer – bei entsprechenden Gefährdungsvoraussetzungen – die Einwilligung in die Eingriffsdurchführung versagt oder widerruft (§ 1904 Abs. 1 u. 2 BGB). Gemäß § 1904 Abs. 4 BGB sind entsprechende Genehmigungen des Betreuungsgerichts nicht erforderlich, wenn zwischen Betreuer und behandelndem Arzt Einvernehmen darüber besteht, dass die Erteilung, die Nichterteilung oder der Widerruf der Einwilligung dem Willen des Betreuten entspricht, wie er auf der Grundlage der Anordnungen von § 1901 a BGB tatsächlich festgestellt werden kann
Geschäftsführung ohne Auftrag/Mutmaßliche Einwilligung Verbleibt für eine Einschaltung des Betreuungsgerichts bzw. die Betreuerbestellung wegen vitaler Gefährdung des Patienten keine Zeit mehr, darf – und muss – der behandelnde Arzt als »Geschäftsführer ohne Auftrag« tätig werden und den gebotenen Eingriff vornehmen. Der Rechtfertigungsgrund (im Normalfall die »Einwilligung« des Patienten, 7 oben) ergibt sich in diesem Fall aus »mutmaßlicher Einwilligung« (7 § 1901 a Abs. 2 BGB; Näheres 7 unten) des Patienten und oder einem »Notstand« gemäß § 34 StGB.
Patientenverfügung Bis in die jüngere Vergangenheit war umstritten, ob und ggf. in welchem Umfang Patientenverfügungen (sog. »Patiententestamente«) Wirksamkeit entfalten können. Betroffen sind v. a. etwaige Behandlungsentscheidungen am Lebensende. Insofern wurde auch immer wieder problematisiert, »ob der in der noch willensfähigen Situation, etwa bei guter Gesundheit geäußerte Wille bis in die Situation schwerer Erkrankung und beginnenden Sterbens trägt« [31]. Am 1. September 2009 ist das Dritte Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts in Kraft getreten, womit die »Patientenverfügung«
15 2.3 · Rechtliche Problemstellungen
institutionell Regelung im BGB gefunden hat (7 § 1901a Abs. 1 BGB; 7 Kap. 1).
in Kliniken bzw. für Abteilungen – auch im Sinne eines Risk Management – einheitliche Handlungsempfehlungen publiziert werden.
Patientenverfügung Per normativer Definition handelt es sich bei einer Patientenverfügung um die schriftliche Festlegung eines einwilligungsfähigen Volljährigen für den Fall seiner Einwilligungsunfähigkeit, ob er in bestimmte, zum Zeitpunkt der Festlegung noch nicht unmittelbar bevorstehende Untersuchungen seines Gesundheitszustandes, Heilbehandlungen oder ärztliche Eingriffe einwilligt oder sie untersagt (§ 1901 a Abs. 1 Satz 1 BGB).
Ist ein entsprechendes Schriftstück vorhanden, hat ein bestellter Betreuer (bzw. ein entsprechend Bevollmächtigter) zu prüfen, ob die Festlegungen laut Patientenverfügung auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutreffen. Gegebenenfalls hat der Betreuer (bzw. Bevollmächtigte) dem Willen des Betreuten Ausdruck und Geltung zu verschaffen (§ 1901a Abs. 1 Satz 1 u. 2 BGB). Eine Patientenverfügung kann jederzeit formlos widerrufen werden (§ 1901a Abs. 1 Satz 3 BGB). § 1901 a Abs. 2 BGB regelt den Fall, dass keine Patientenverfügung vorliegt oder die Festlegungen einer Patientenverfügung nicht auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutreffen. Dann hat der Betreuer die Behandlungswünsche oder den mutmaßlichen Willen des Betreuten festzustellen und auf dieser Grundlage zu entscheiden, ob er in eine ärztliche Maßnahme der oben genannten Art einwilligt oder sie untersagt. Dabei ist der mutmaßliche Wille aufgrund konkreter Anhaltspunkte zu ermitteln (§ 1901a Abs. 2 Satz 2 BGB), wobei Gesichtspunkte, welche bei dieser Ermittlung insbesondere zu berücksichtigen sind, normativ angeordnet werden (§ 1901 Abs. 2 Satz BGB). Die genannten Gesichtspunkte gehen insbesondere auf das sog. »Kemptener Urteil« des BGH [32] zurück. Damit liegt eine explizite normative Regelung für Behandlungsentscheidungen auf der Grundlage des sog. »mutmaßlichen Patientenwillens« vor. Auch die dargestellte Gesetzesänderung wirft weitergehende Fragen auf. Beispielsweise ist nicht geregelt, wie sich die Rechtssituation konkret darstellen soll, wenn ein Betreuer nicht bestellt bzw. ein Bevollmächtigter nicht benannt ist. Gleichwohl wurde unter folgenden Aspekten Klarheit geschaffen [33]: 4 Mündliche Bekundungen des Patientenwillens werden von der Regelung auch dann nicht erfasst, wenn sie konkret und situationsbezogen formuliert sind. 4 Der Begriff der Patientenverfügung beinhaltet nicht Entscheidungen eines einwilligungsfähigen Betroffenen, welche sich auf anstehende ärztliche Maßnahmen beziehen. 4 Allgemeine Formulierungen und Maßgaben für eine künftige Behandlung finden keine Anerkennung als Patientenverfügung. Entsprechende Äußerungen bedürfen der Berücksichtigung im Rahmen von § 1901a Abs. 2 BGB (7 oben; mutmaßliche Einwilligung) und § 1901b Abs. 2 BGB (Ermöglichung der Gelegenheit zur Äußerung für nahe Angehörige und sonstige Vertrauenspersonen des Betreuten). 4 § 1901a Abs. 3 BGB normiert explizit, dass es auf Art und Stadium einer Erkrankung des Betreuten bei der Beachtung und Durchsetzung seines Willens nicht ankommt. Ärzten kann nur empfohlen werden, die aktuell geltenden Regeln nachzuvollziehen und rechtspraktische Entwicklungen insoweit zu verfolgen. Um bestehende und sich evtl. neuerlich entwickelnde Unsicherheiten bei der Rechtsanwendung zu unterbinden, sollten
2.3.6
Dokumentation
> Dokumentationsmängel als solche begründen – im Gegensatz zum Behandlungs-, Aufklärungs- oder Organisationsfehler – keine Haftung bzw. Strafbarkeit. Die zivilprozessuale Konsequenz eines Dokumentationsversäumnisses ist nach Maßgabe höchstrichterlicher Judikatur jedoch eine Beweiserleichterung zugunsten des Patienten, welche sich bis hin zur Beweislastumkehr zu Lasten des Arztes bzw. Krankenhauses auswirken kann [34].
Jenseits rechtlicher Erfordernisse darf allerdings auch nicht verkannt werden, dass eine ordnungsgemäße Dokumentation »nicht nur der Absicherung vor juristischen Nachteilen« dient, sondern auch »Kommunikation und Qualitätssicherung in der Medizin« bedeutet [35]. Eine umfassende, nachvollziehbare Dokumentation der intensivmedizinischen Behandlung dient mithin der Therapiesicherung, Beweissicherung und Rechenschaftslegung, weshalb alle wesentlichen Aspekte im Zusammenhang mit Anamnese, Diagnose und Therapie festzuhalten sind [36]. > Zivilprozessual obliegt der Behandlerseite a priori die Beweislast für eine adäquate Patientenaufklärung. Daher ist es zu Beweiszwecken juristisch essenziell, insbesondere auch den Inhalt von Aufklärungsgesprächen in ihren wesentlichen Bestandteilen sowie die Einwilligung des Patienten zu dokumentieren. Dazu sollten schon aus Gründen der Zweckmäßigkeit – medizinisch und juristisch fundierte – handelsübliche Aufklärungsformulare Verwendung finden.
2.3.7
Grenzen ärztlicher Behandlungspflicht
Die Problemstellung der Grenzen ärztlicher Behandlungspflicht bildet in der Tat ein »weites Feld«; ihre Abhandlung müsste den hier gegebenen Rahmen sprengen. So soll es grundsätzlich bei einem Verweis auf die aktuell geltenden »Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung«, welche die ergangene Rechtsprechung insoweit berücksichtigen, verbleiben. Jurisprudenz beschäftigt sich wesentlich mit dem »Sollen« der Rechtssubjekte im Zusammenhang mit bestimmten Lebenssachverhalten. So verstandenes »Sollen« impliziert auch das »Dürfen« und »Können« aufgrund entsprechender Erlaubnis und Ermächtigung [37]. Aus Sicht des Juristen stellt sich hier im Kern die Frage, wie sich rechtlich das »Sollen« des Arztes gestaltet, wenn bei der medizinischen Behandlung von Patienten objektiv Grenzen der Therapie erreicht scheinen. Dies gilt v. a. bei nicht mehr kurativ zu behandelnden Kranken. Dabei würde es bei Weitem zu kurz greifen, den Blick lediglich auf rechtliche Gegebenheiten und Anforderungen richten zu wollen, um eine schlüssige Lösung der Problemstellung zu erhoffen. Dadurch bliebe ein weit gestecktes Spannungsfeld mit erheblichem Konfliktpotenzial für die Beteiligten und Betroffenen – Arzt, Pflege, Patient, Angehörige des Patienten – unter moralischen, allgemein ethischen – insbesondere berufsethischen – und »schlicht menschlichen« Aspekten der Betrachtung entzogen. Dabei verhält es sich auch so, dass Intensivmediziner mit Fragen nach therapeutischen
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Kapitel 2 · Rechtliche Probleme
Grenzen in der Praxis oftmals konfrontiert sind, in der strafrechtlichen Rechtsprechung dazu aber nur relativ wenige Fälle – diese allerdings z. T. spektakulär – entschieden wurden [38]. Die Frage nach den Grenzen ärztlicher Behandlungspflicht impliziert die Frage nach »Inhalt und Umfang der Behandlung« von Patienten, womit sich rechtlich im Kern die Frage nach »Inhalt und Umfang der Behandlungspflicht« des Arztes stellt. Nicht notwendigerweise damit einhergehend und jedenfalls davon zu differenzieren ist die Problemstellung des – im eigentlichen Sinne – »Behandlungsabbruchs« bis hin zur »Sterbehilfe«. Im Ansatz ist auch im vorliegenden Zusammenhang stets die Frage zu stellen, welche Behandlungsindikation (noch) zu stellen ist [39], wobei diese Indikation selbstverständlich ohne Weiteres Palliativmaßnahmen implizieren muss. Hinsichtlich der Anwendung von Palliativmaßnahmen ist es jedenfalls auch unzutreffend, etwa von einer »Behandlungsreduktion« zu sprechen [40]. Jenseits fraglich gesicherter Erkenntnisse gibt es ohnehin keine fertigen Lösungen zur Bewältigung der Problematik. Insofern kann auch die Frage aufgeworfen werden, ob es überhaupt notwendig und angemessen ist, dass wir für jeglichen Lebenssachverhalt Lösungen zur Hand haben, die zur – auch noch juristisch abgesicherten – »Gewissheit richtiger Entscheidung« führen sollen. Diese Gewissheit kann es letztlich nicht geben, und warum soll nicht im Einzelfall darum »gerungen« werden müssen, eine angenommen richtige Entscheidung im Kontext von Behandlungsstandard, Methodenfreiheit des Arztes und Selbstbestimmungsrecht des Patienten zu treffen. Dies wird der Problemstellung unheilbaren menschlichen Lebens bzw. Lebens an der Grenze zum Tod vielleicht noch am ehesten gerecht. Resümee
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Intensivmedizin stellt für den Arzt eine besondere fachmedizinische Herausforderung hinsichtlich Diagnose- und Indikationsstellung sowie allgemeiner Behandlungsführung dar. Selbstverständlich muss jeder Arzt forensische Risiken berücksichtigen, doch kann dies nicht die leitende Maxime bei der Behandlungsführung sein. Im Ergebnis geht es darum, den rechtlichen und – dem zugrunde liegend – den medizinischen Anforderungen zu genügen. Allerdings ist es geboten, die einleitend beschriebenen forensischen Risiken zu minimieren. Dem dient gerade die genaueste Beachtung der rechtlichen Anforderungen hinsichtlich Aufklärung und Einwilligung sowie Behandlung des Patienten und (insgesamt) adäquater organisatorischer Gegebenheiten. Genau dort setzt ein adäquates Risk Management ein, wobei es darum gehen muss, aktiv nach Schadensursachen und Risikofeldern zu suchen, um Haftungsfälle eben präventiv zu vermeiden. Dergestalt werden Schutz und Sicherheit des Patienten weitergehend gewährleistet, und forensische Auseinandersetzungen lassen sich potenziell vermeiden.
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Vgl. dazu in Grundzügen Bock R-W (2009) Recht für Krankenhaus und Arztpraxis, MWV, Berlin, und Bock R-W (2002) Qualitätssicherung und Risikomanagement In: List W, Osswald PM et al. (Hrsg) Komplikationen und Gefahren in der Anästhesie. Springer, Berlin Heidelberg New York, S 3 Ulsenheimer K (2008) Arztstrafrecht in der Praxis. C.F. Müller, Heidelberg, 4. Auflage, RN 1ff. Eisenmenger W (1979) Unfallmedizinische Tagungen der Landesverbände der gewerblichen Berufsgenossenschaften, Heft 38, S 61 Vgl. Uhlenbruck W (2002) In: Laufs A, Uhlenbruck W (Hrsg) Handbuch des Arztrechts, München, 3. Aufl, § 39, Rdn 7 Laufs A (1986) Arzt und Recht im Wandel der Zeit. MedR, S 163 (164)
39 40
Vgl. Wachsmuth FS (1979) für Bockelmann, S 473 Vgl. dazu grundlegend die MBO-Ä BGH, NJW 1988, S 2949 Vgl. grundlegend zum Ganzen: Biermann E (1997) Medico-legale Aspekte in Anästhesie und Intensivmedizin. ains 32: 175–193; 427–452, und Ulsenheimer K (2008) Arztstrafrecht in der Praxis. a. a. O.(FN 2) BGH, NJW 1977, S 1102 (1103) Vgl. dazu auch Künschner A (1993) Wirtschaftlicher Behandlungsverzicht und Patientenauswahl. Baden-Baden, S 211 Vgl. u. a. BGH, NJW 1987, S 1479; 1992, S 1560 Steffen E (1995) Der sog. Facharztstatus aus der Sicht der Rechtsprechung des BGH, MedR S 360 Damm R (1989) Medizintechnik und Arzthaftungsrecht. NJW S 737, (738f ) BGH, NJW 1982, S 2121 (2122) Laufs A (2002). In: Laufs A, Uhlenbruck W (Hrsg) Handbuch des Arztrechts, a. a. O. (FN 4), § 3, Rdn 13 OLG Düsseldorf, AHRS Nr. 2620, S 32 OLG Naumburg, MedR 2002, S 471; vgl. dazu auch OLG Stuttgart, MedR 2002, S. 650 BGH, Beschluss vom 28.03.08, Az.: VI ZR 57/07 Steffen E (1995) Einfluss verminderter Ressourcen und von Finanzierungsgrenzen aus dem Gesundheitsstrukturgesetz auf die Arzthaftung, MedR S 190 Vgl. dazu DGAI/BDA (Hrsg), (2006) Entschließungen – Empfehlungen – Vereinbarungen – Leitlinien, Aktiv, Melsungen, 4. Auflage Bock R-W (2002) Qualitätssicherung und Risikomanagement., a. a. O. (FN 1) und grundlegend: Berg D, Ulsenheimer K (Hrsg) Patientensicherheit, Arzthaftung, Praxis- und Krankenhausorganisation (2006) Springer Berlin Heidelberg Koch K (1996) Qualitätssicherung in der Onkologie. Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 1/2, C16 (C17) mit Verweis auf Herfarth Laufs A (1993) Arztrecht, München, Rdn 42 RGSt 25, S 375 BGH, MedR 2007, 169 RGZ 78, S 432 (433) BGH, NJW 1994, S 793 BGH, NJW 1994, S 793 BGH, NJW 1992, S 2351 Schreiber H-L (2002) zur Rechtsverbindlichkeit von Patientenverfügungen, Vorsorgevollmachten und Betreuungsverfügungen. In: Hampel K (Hrsg) Die Autonomie des Patienten. Münster, S 36 BGH, NJW 1995, 202; vgl. dazu auch eingehend Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis (FN 2), § 3 Höfling W, Das neue Patientenverfügungsgesetz, NJW 2009, 2849 ff. BGH, NJW 1983, S 332 Mehrhoff F (1990) Aktuelles zum Recht der Patientendokumentation, NJW, S 1524 (1525) Vgl. dazu Uhlenbruck W (2002) In: Laufs A, Uhlenbruck, W (Hrsg) Handbuch des Arztrechts, a. a. O. (FN 4), § 59, Rdn 5f. Kelsen H (1997) Die Rechtsordnung als hierarchisches System von Zwangsnormen. In: Hoerster N (Hrsg) Recht und Moral, Texte zur Rechtsphilosophie, München, S 21ff. Vgl. zum Ganzen und insbesondere die Falldarstellungen bei Ulsenheimer K (2008) Arztstrafrecht in der Praxis, a. a. O. (FN 2), § 3 Vgl. dazu BGH, Urteil vom 17.03.2003, NJW 2003, 1588 (1593) Vgl. in diesem Zusammenhang auch Höfling W (2005) Integritätsschutz und Patientenautonomie am Lebensende. Dtsch Med Wochenschr S 898 ff.
17
Psychosoziale Situation und psychologische Betreuung in der Intensivmedizin V. Köllner, K. Bernardy, P. Bialas, T. Loew
3.1
Belastungsfaktoren, Prävention und psychologische Interventionen bei Intensivpatienten – 18
3.1.1 3.1.2 3.1.3
Belastungsfaktoren – 18 Prävention psychischer Störungen – 19 Psychotherapie auf der Intensivstation – 21
3.2
Die Situation der Angehörigen – 22
3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4
Problemsituationen – 22 Psychische Belastung und Störungsbilder bei Angehörigen von ITS-Patienten – 22 Präventive und therapeutische Ansätze – 23 Das Gespräch mit Angehörigen verstorbener Patienten – 23
3.3
Belastungsfaktoren bei Mitarbeitern der Intensivstation – 24
3.3.1 3.3.2
Belastungsfaktoren und Folgeprobleme – 24 Präventionsmöglichkeiten – 25
3.4
Psychosomatischer Konsil- und Liaisondienst – 25 Literatur –26
H. Burchardi et al. (Hrsg.), Die Intensivmedizin, DOI 10.1007/978-3-642-16929-8_31, © Springer Medizin Verlag Berlin Heidelberg 2011,
3
3
18
Kapitel 3 · Psychosoziale Situation und psychologische Betreuung in der Intensivmedizin
3.1
Belastungsfaktoren, Prävention und psychologische Interventionen bei Intensivpatienten
3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3
3.1.1
Belastungsfaktoren
Patient auf einer Intensivstation zu sein, stellt für jeden Menschen eine Situation besonderer Belastung, Bedrohung und Herausforderung dar. Die Stressforschung hat Modelle entwickelt, um zu beschreiben, wie Menschen auf Belastungssituationen reagieren. Einen zentralen Stellenwert hat hier das Coping-Modell von Lazarus und Folkman. Diese definieren Coping (1984) als »…sich ständig verändernde kognitive und verhaltensmäßige Bemühungen, spezifische externale und/oder internale Anforderungen zu handhaben, die so eingeschätzt werden, dass sie die Ressourcen einer Person beanspruchen oder überschreiten« [18]. Die Bewältigung ist demnach ein wechselseitiger Prozess, der sowohl durch die Besonderheiten der betroffenen Personen, ihrer Geschichte, Vorerfahrungen und persönlichen Bewältigungsmuster als auch durch die Besonderheiten der Problemsituation beeinflusst wird. Die Problemsituation wird im intensivmedizinischen Kontext gekennzeichnet durch die Rahmenbedingungen einer Intensivstation und den Verlauf der jeweiligen Erkrankung.
Belastungsfaktoren durch die Situation auf der Intensivstation Die Intensivstation ist für das Personal vertraut, für die dort liegenden Patienten jedoch eine fremde Welt voller unbekannter, häufig wechselnder und unvorhersehbar auftauchender Menschen, unverständlicher Apparate und ungewohnter Geräusche. Diese unvertraute Situation stellt eine erhebliche Anforderung an die Bewältigungsressourcen der Betroffenen dar und löst häufig Gefühle von Angst und Bedrohung aus. Eine Ausnahme bilden Patienten, die bereits mehrfach intensivmedizinisch betreut wurden und die die Atmosphäre der Intensivstation als ein Signal von Sicherheit erleben konnten. Um sich besser in die Wahrnehmungssituation von Patienten hineinversetzen zu können, wird die Lektüre von Patientenberichten empfohlen (z. B. [2, 4 oder 7]). Aus dem absoluten Vorrang, den die Überwachung und Erhaltung der Vitalfunktionen auf einer Intensivstation haben, ergeben sich zahlreiche Belastungsfaktoren, die im Folgenden dargestellt werden [16]. Auch wenn sie in der Regel nicht zu vermeiden sind, ist ihre Kenntnis hilfreich, um die Reaktionen von Patienten besser einschätzen und unnötigen Belastungen vorbeugen zu können. Orientierungsmangel. Die fremdartige Umgebung, das gleichförmige Aussehen des Personals (z. B. grüne oder blaue Kittel) sowie die weitgehende Aufhebung der Unterschiede zwischen Tag und Nacht beeinträchtigen die Orientierung zum Ort und insbesondere zur Zeit. Erschwerend kommt hinzu, dass die Patienten als Folge ihrer Grundkrankheit oder durch medikamentöse Sedierung ihre Orientierung häufig verlieren und neu gewinnen müssen.
Mangel an Wahrnehmung und Kommunikation. Für den Pa-
tienten ist die Situation auf der Intensivstation paradoxerweise gleichzeitig von Reizmangel und Reizüberflutung gekennzeichnet. Reizüberflutung entsteht durch die Unzahl von Geräuschen und Gesprächsfetzen, die ständig auf ihn einströmen, deren Bedeutung er jedoch kaum beurteilen kann. Für den Patienten ist häufig nicht zu erkennen, ob sich das Schrillen eines Alarms oder der Kommentar eines Pflegers auf ihn selbst oder auf den Nachbarpatienten bezieht. Gleichzeitig sind diese Reize jedoch monoton und immer wiederkehrend. So entsteht eine Verarmung an Reizen, die in ihrer Bedeutung wahrgenommen und weiterverarbeitet werden können. Dies gilt in besonderer Weise für flach liegende Patienten, deren Blickfeld überwiegend durch die Zimmerdecke ausgefüllt wird. Durch restriktive Besuchszeiten und den ständigen Zeitdruck des Personals entsteht zusätzlich ein Mangel an Kommunikation. Unvorhersagbarkeit schmerzhafter Eingriffe. Patienten mit ein-
geschränkter Bewusstseinslage werden häufig durch harmlose (z. B. Lagerung) oder unangenehme (z. B. Absaugen) Eingriffe oder invasive Maßnahmen wie das Legen eines zentralen Venenkatheters und Manipulationen überrascht. Eine besondere Belastung für intubierte und sedierte Patienten mit ARDS stellt das Rotorestbett dar. Diese Unvorhersagbarkeit unangenehmer Ereignisse kann dazu führen, dass jede Annäherung als potenzielle Bedrohung erlebt wird. Abhängigkeit von Personal und Apparaten. Mit zunehmender
Aufklarung des Bewusstseins nimmt der Patient seine Abhängigkeit vom Pflegepersonal bei der Erfüllung alltäglicher Bedürfnisse sowie das Überschreiten der Intimsphäre deutlicher wahr, ebenso die vitale Bedrohung und die Abhängigkeit von Überwachungs- und Behandlungsapparaten (z. B. Dialyse). Die Folge hiervon kann das Auftreten erheblicher Angst bei der Verlegung von der Intensivstation sein, wenn der Patient nun befürchtet, auf der Normalstation könnten Gefahrensituationen übersehen oder nicht adäquat behandelt werden.
Belastungen durch die Grunderkrankung Angst und Ungewissheit. Mit der Notaufnahme bzw. Verlegung
auf eine Intensivstation wird für die Mehrzahl der Betroffenen deutlich, dass sie sich in einer u. U. lebensbedrohlichen Situation befinden, sei es als Folge einer akut aufgetretenen oder Verschlechterung einer bereits länger bestehenden Krankheit. Sobald der Patient bei Bewusstsein ist, beschäftigen ihn Fragen wie »Werde ich hier wieder lebend herauskommen?« und »Wie wird das Leben danach weitergehen?«. Häufig haben Angst und Ungewissheit einen realen Hintergrund, und eine Antwort auf diese Fragen kann noch nicht gegeben werden. Doch selbst wenn die reale Situation weniger bedrohlich ist, fällt es dem Patienten aufgrund seiner eingeschränkten Kommunikationsfähigkeit (z. B. durch routinemäßige postoperative Beatmung) häufig schwer, die gewünschten Informationen einzuholen. Schmerzen. Das Erleiden von Schmerzen als Folge der Grund-
Gestörter Schlaf-Wach-Rhythmus. Rund um die Uhr brennendes
Licht, eine ständige Geräuschkulisse und die Notwendigkeit von Überwachungs- und Behandlungsmaßnahmen auch in der Nacht führen zu einer erheblichen Beeinträchtigung der normalen Schlafrhythmik. Eine solche Störung kann auch bei körperlich Gesunden zu depressiven Verstimmungen und psychiatrischen Symptomen bis hin zu Halluzinationen führen.
krankheit oder von Behandlungsmaßnahmen wirkt zusätzlich Depression auslösend und Angst steigernd. Eine ausreichende Analgesie sollte deshalb, wann immer möglich, angestrebt werden, zumal sie die psychische Führung des Patienten erheblich erleichtert. Hirnorganische Beeinträchtigungen. Organische Psychosyndrome (auch ICU-Syndrom oder Durchgangssysndrom) werden häufig verkannt oder als psychogen fehlgedeutet. Störungen des Leberund Nierenstoffwechsels, zerebrale Minderperfusion als Folge eines
19 3.1 · Belastungsfaktoren, Prävention und psychologische Interventionen bei Intensivpatienten
kardialen Low-output-Syndroms, Medikamentennebenwirkungen, Infektionen des ZNS und viele andere Faktoren können zu kognitiven Beeinträchtigungen, Verlangsamung, depressiven Syndromen, Halluzinationen bis zum klassischen Durchgangssyndrom sowie zu vorübergehenden Bewusstseinstrübungen bis zum Bewusstseinsverlust führen. Insbesondere, wenn diese Störungen nur diskret ausgeprägt sind, werden sie häufig als psychogen verkannt. Sie stören den Patienten sehr empfindlich dabei, die Orientierung wiederzufinden, und können bei ihm ein Gefühl tiefer Verunsicherung hinterlassen. Die Störungen können jede Altersgruppe treffen, nicht nur ältere Patienten.
Belastungsfaktoren und Ressourcen, die der Patient mitbringt Psychiatrische Vorerkrankungen. Ob sich eine vorbestehende Angststörung oder Depression während des Aufenthalts auf der Intensivstation verschlimmert oder ob der Verlauf in dieser Hinsicht unauffällig sein wird, lässt sich im Voraus nicht abschätzen. In der Situation akuter Bedrohung können Patienten mit einer psychischen Vorerkrankung völlig adäquat reagieren, während vorher unauffällige Patienten dekompensieren können. Trotzdem ist es wichtig, die Anamnese des Patienten diesbezüglich zu kennen, um evtl. auftretende Symptome bewerten zu können. Bedeutsam ist insbesondere die Medikamentenanamnese. Zur Phasenprophylaxe verordnete Neuroleptika oder Antidepressiva sollten möglichst frühzeitig wieder zugeführt werden, sofern keine Kontraindikation besteht. Ebenso sollte ein vorbestehender Medikamenten- oder Alkoholabusus bekannt sein, um Entzugserscheinungen vorbeugen zu können. Vorerfahrungen. Wenn der Patient schon einmal eine schwere Erkrankung mit Hilfe intensivmedizinischer Behandlung erfolgreich überwunden hatte, ist dies eine Ressource, auf die man zurückgreifen kann. Im Gespräch sollten Patient und Angehörige hieran erinnert und dazu ermuntert werden, die damals eingesetzten Bewältigungsstrategien jetzt wieder zu aktivieren. Umgekehrt kann es eine Belastung darstellen, wenn die Intensivstation für den Patienten mit dem Verlust eines nahen Angehörigen verknüpft ist. Die Kenntnis dieser Vorgeschichte kann helfen, dem Patienten evtl. Unterschiede zwischen seiner eigenen Situation und dem ihm bekannten ungünstigen Verlauf aufzuzeigen. Soziale Unterstützung. Menschen, die über ein funktionierendes
soziales Netzwerk verfügen, haben damit eine wertvolle Ressource zur Bewältigung kritischer Lebensereignisse. Hierbei spielt es keine Rolle, ob es sich um Verwandte oder Freunde handelt. Soziale Unterstützung ist z. B. in der Lage, den negativen Einfluss einer Depression auf die Mortalität nach einem Myokardinfarkt vollständig abzupuffern. Patienten, die auf der Intensivstation regelmäßig Besuch von nahestehenden Personen erhalten, erholen sich in der Regel schneller und zeigen weniger psychische Auffälligkeiten. Daher sollte v. a. Patienten, die ohne soziale Unterstützung länger auf der ITS verweilen müssen, professionelle oder ehrenamtliche Betreuung angeboten werden.
3.1.2
Prävention psychischer Störungen
Gestaltung der Intensivstation Günstig ist es, auch Patienten auf einer Intensivstation ein Fenster mit Aussicht oder zumindest Tageslicht zu bieten. Die Wahrnehmung der Jahres- und Tageszeit erleichtert die Orientierung, wenn der Patient das Bewusstsein zurückerlangt. Ist dies nicht möglich,
sollte zumindest bei der Intensität der künstlichen Beleuchtung ein klarer Tag-Nacht-Rhythmus eingehalten werden. Zusätzlich sollte der Patient die Möglichkeit haben, auf eine Uhr und einen Kalender zu schauen. Die Uhr muss so angebracht sein, dass sie auch für flach liegende Patienten sichtbar ist, außerdem groß genug, um auch für sehbehinderte Patienten erkennbar zu sein. Günstig ist es, wenn Telefonanschluss und Fernsehen für bewusstseinsklare Patienten zur Verfügung stehen. Langeweile stellt einen häufig unterschätzten Auslösefaktor für Depressionen dar. Das Angebot sinnvoller Beschäftigung und Ablenkung ist jedoch nicht nur gegen depressive Störungen präventiv wirksam, sondern hilft auch Patienten nach einem Durchgangssyndrom, in die Realität zurückzufinden. Hierfür eignen sich: 4 Bilder in den Patientenzimmern (wobei für intubierte Patienten auch eine künstlerische Ausgestaltung insbesondere der Zimmerdecke sinnvoll sein kann), 4 Bilder von Angehörigen, die für den jeweiligen Patienten mitgebracht werden, 4 Fernsehen, 4 Zeitungen und Zeitschriften, 4 Radio über Kopfhörer, 4 CDs oder Kassetten mit Musik, die der Patient auswählen kann, 4 ggf. Unterstützung durch Ergotherapie. Da die Mehrzahl der Patienten nicht von sich aus nach diesen Möglichkeiten fragen wird, ist es sinnvoll, sie wiederholt anzubieten. Dies entspricht dem Vorgehen in der kognitiven Therapie der Depression, bei der Patienten dazu aufgefordert werden, positive Aktivitäten zunächst sozusagen als Training wieder aufzunehmen, auch wenn der eigene Antrieb hierfür noch gering ist. Wenn die Behandlungseinheiten auf der Station zu groß sind, nimmt die Störung durch Behandlungsmaßnahmen bei Mitpatienten proportional zu, deshalb sollte auf eine räumliche Unterteilung der Station geachtet werden.
Kommunikation und Patientenführung Die Bedeutung einer tragfähigen therapeutischen Beziehung für die Prophylaxe psychischer Störungen kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Grundlage hierfür ist, dass auch der Patient auf der Intensivstation mit allen relevanten Informationen versorgt wird, sobald er von der Bewusstseinslage her zu deren Aufnahme fähig ist. Diese sollte an seinen Bildungsstand angepasst sein, medizinische Fachbegriffe sollten vermieden werden. Weiterhin sollte frühzeitig der Versuch unternommen werden, Behandlungsmaßnahmen mit dem Patienten abzusprechen und sein Einverständnis einzuholen. Behandlungsmaßnahmen, deren Notwendigkeit der Patient einsieht, weil er zuvor darüber informiert worden ist, werden in der Regel besser toleriert. In die Behandlungsplanung einbezogen zu werden, verringert für den Patienten das Gefühl, hilflos ausgeliefert zu sein. Einschätzung der Bewusstseinslage. Gelegentlich wird die Bewusstseinslage des Patienten falsch eingeschätzt, sodass er als
Kommunikationspartner nicht in Betracht gezogen wird. Dies kann dazu führen, dass unangenehme oder gar schmerzhafte Behandlungsmaßnahmen nicht angekündigt werden, was den Patienten unnötig erschreckt. Ebenso unangebracht ist es, wenn in seiner Anwesenheit über ihn gesprochen wird und ängstigende Gesprächsinhalte in sein Bewusstsein dringen.
3
20
3 3
Kapitel 3 · Psychosoziale Situation und psychologische Betreuung in der Intensivmedizin
! Cave Im Zweifelsfall sollte immer davon ausgegangen werden, dass der Patient bei Bewusstsein ist.
3
Dies bedeutet auch, dass jeder erwachsene Patient mit seinem Nachnamen und mit »Sie« angesprochen wird. Ein höflicher und respektvoller Umgang auch mit bewusstlosen Patienten ist für die Psychohygiene des Stationsteams selbst von großer Bedeutung. Auch in der Umgebung des Patienten sollte nicht von »der Amputierte in Bett 3« gesprochen werden.
3
Kommunikation mit dem Patienten. Die Kommunikation zwi-
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schen Stationsteam und Patient wird durch den unterschiedlichen Erfahrungshorizont erschwert. Viele Handlungsabläufe, Geräusche etc. stellen für das Stationspersonal vertraute Routine dar, sodass es müßig erscheint, darauf jedes Mal hinzuweisen. Für den Patienten sind diese Phänomene jedoch unvertraut und teilweise bedrohlich, sodass eine Erklärung für ihn angstlösend wirkt. Da die Bewusstseinslage der Patienten nicht konstant ist, müssen häufig die gleichen Sachverhalte immer wieder erklärt werden, zumal man sich nicht darauf verlassen kann, dass der Patient bereits wieder über eine normale Merkfähigkeit verfügt. Erklärungen sollten vom subjektiven Erleben des Patienten ausgehen und mögliche unangenehme Wahrnehmungen vorwegnehmen. Nach Möglichkeit sollte auch der Sinn der Behandlungsmaßnahmen verdeutlicht werden.
»
Ich werde Sie gleich absaugen, um Sie von Schleim zu befreien, der sich in Ihren Luftwegen angesammelt hat. Hinterher bekommen Sie wieder besser Luft, und es schützt Sie vor einer Lungenentzündung. Ich werde Sie hierfür kurz vom Beatmungsgerät abnehmen, das ist jedoch nicht gefährlich. Durch die Spülflüssigkeit und die Sonde werden Sie einen starken Hustenreiz verspüren, das kann zwar unangenehm sein, hilft aber ebenfalls, Ihre Luftwege wieder zu reinigen. Das Ganze dauert höchstens eine halbe Minute; wenn Sie nicht mehr können, geben Sie mir aber ein Handzeichen.
« Kommunikation erfordert für den Patienten erkennbare Ansprechpartner. Deshalb sollten alle Mitarbeiter der Intensivstation Namensschilder tragen, die auch für sehbehinderte Patienten erkennbar sind. Die Visite kann für den Patienten frustrierend sein, wenn er erleben muss, wie die behandelnden Ärzte vorbeiziehen, ohne dass er Gelegenheit hatte, Fragen zu stellen. Häufig kommt es auch zu Fehlinterpretationen durch mitgehörte Gesprächsfetzen am eigenen oder am Nachbarbett. Aus diesem Grund kann es sinnvoll sein, die Visite aufzuteilen. Eine große Visite am Morgen dient dann dazu, sich einen Überblick über die Situation der Patienten zu verschaffen und den weiteren Behandlungsplan für den kommenden Tag festzulegen. Hierbei sollte möglichst viel vor der Zimmertür geklärt werden, um die Patienten nicht durch lange Diskussionen am Bett zu verunsichern. Zu einem späteren Zeitpunkt wird dann eine Visite durchgeführt, die der Kommunikation mit den Patienten dient. Hier braucht nicht das gesamte Stationspersonal beteiligt zu sein, was Zeit spart. Der behandelnde Arzt sollte sich hierbei an das Bett des Patienten setzen, ihn klar mit Namen ansprechen und Blickkontakt suchen. In der Visitensituation ist es sinnvoll, dem Patienten im Zweifelsfall nochmals eine kurze Orientierungshilfe zu geben, da die Bewusstseinslage schnell wechseln kann und eine kurzfristig wiedergewonnene Orientierung häufig wieder verloren geht.
»
Guten Tag Herr Müller, ich bin Dr. Meier und betreue Sie hier auf der Intensivstation der Uniklinik. Vielleicht erinnern Sie sich noch
von gestern an mich. Sie hatten vorgestern einen Herzinfarkt und sind vom Notarzt hierher gebracht worden. Es geht Ihnen schon wieder besser, und nachher kommt Ihre Frau, um Sie zu besuchen.
« Wichtig ist, hierbei Blickkontakt zu suchen oder über taktile Reize (z. B. Hand geben/halten) Aufmerksamkeit zu fokussieren. Gerade die nonverbale Reaktion des Patienten kann Aufschluss über seine Gemüts- und Bewusstseinslage geben. Desorientierte Patienten spüren häufig, »dass sie die Situation nicht voll erfassen«, und versuchen, mit freundlichem Nicken oder Höflichkeitsfloskeln darüber hinwegzutäuschen. Bei einer eilig vorüberziehenden Visite können hierdurch Orientierungsstörungen der Patienten unterschätzt werden oder unbemerkt bleiben. Kommunikation mit intubierten Patienten. Intubierte Patienten leiden, sobald sie das Bewusstsein wiedererlangen, darunter, dass sie nicht sprechen können. Wenn irgend möglich, sollten die Patienten (z. B. bei der präoperativen Aufklärung) darauf hingewiesen werden, dass die Möglichkeit besteht, in intubiertem Zustand aufzuwachen und deshalb sprechunfähig zu sein. Wenn der Patient sich hieran erinnert, ist er von der Angst befreit, »plötzlich die Sprache verloren zu haben«, z. B. durch einen Schlaganfall. Der aufwachende Patient sollte immer wieder auf den vorübergehenden Zustand der Intubation hingewiesen werden, um ihn zu beruhigen. Für die erste Zeit sollte er auf Kommunikationsmittel wie Nicken, Kopfschütteln und Handzeichen hingewiesen werden. Stabilisiert sich sein Zustand, so ist häufig die schriftliche Kommunikation möglich. Die hierfür nötigen Hilfsmittel sollten bereitgehalten werden: 4 Klemmbrett mit Filzstiften unterschiedlicher Schriftdicke, 4 Buchstabentafel, mit deren Hilfe der Patient durch Zeigen auf einzelne Buchstaben Wörter zusammensetzen kann, 4 ein Blatt mit vorformulierten Fragen oder Aussagen, auf die der Patient zeigen kann, 4 Brillenträger und Schwerhörige sollten ihre gewohnten Hilfsmittel möglichst bald zurückerhalten.
Manchmal gelingt es trotz aller Mühen von Seiten des Patienten und seiner Betreuer nicht, sich verständlich zu machen, insbesondere wenn die schriftliche Kommunikation noch nicht möglich ist (zittriges Schriftbild). Sollte der Patient sich über sein Unverstandensein sehr erregen, kann es sinnvoll sein, kurzfristig den Kontakt abzubrechen, um eine Eskalation mit ungünstiger Veränderung von Kreislauf- und Ventilationsparametern zu vermeiden. Dies kann mit dem Hinweis auf eine spätere neue Kommunikationsmöglichkeit geschehen.
»
Leider verstehe ich im Moment nicht, was Sie meinen. Wir können es aber nachher noch einmal versuchen, wenn Ihre Frau da ist; vielleicht fällt es ihr leichter, uns zu erklären, was Sie meinen.
«
Physiotherapie. Physiotherapie kann nicht nur möglichen Komplikationen wie Thrombosen, Pneumonien oder Kontrakturen vorbeugen, sondern sie hilft den Patienten auch, den Tagesablauf zu strukturieren und bietet die Möglichkeit zu einer als sinnvoll erlebten Aktivität. Sie ist eine der wenigen Möglichkeiten im Tagesablauf, in denen der Patient Selbstwirksamkeit und -kontrolle erleben kann und das Gefühl hat, selbst aktiv zur Verbesserung seines Zustandes beitragen zu können. Aktivierende Physiotherapie vermittelt dem Patienten zudem Erfolgserlebnisse, die einer durch Unterforderung und Verstärkerentzug bedingten Depression vorbeugen. Hier kann ergotherapeutische Betreuung bereits bei Intubierten helfen, Tagesstruktur und Alltagsfertigkeiten zurückzugewinnen und den Pati-
21 3.1 · Belastungsfaktoren, Prävention und psychologische Interventionen bei Intensivpatienten
enten psychisch und körperlich zu aktivieren. Hierdurch kann auch eine Reduktion der stationären Verweildauer erreicht werden [22]. Angehörige als Unterstützung. Bei Patienten, die längere Zeit auf der Intensivstation bleiben müssen und bei desorientierten Patienten können Angehörige eine wertvolle Unterstützung sein (s. nächster Abschnitt). Bei »Langliegern« bringt der regelmäßige Besuch von Angehörigen Abwechslung in den monotonen Tagesrhythmus. Da das Personal zu ausführlicher Kommunikation mit intubierten Patienten selten ausreichend Zeit hat, können die Angehörigen als Gesprächspartner des Patienten hilfreich sein. Angehörige haben häufig Angst, etwas zu beatmeten Patienten zu sagen oder aktuelle familiäre Dinge zu berichten. Sie sollten ermutigt werden zu erzählen, auch wenn sie vielleicht keine Antwort erhalten. Gleichzeitig ist der regelmäßige Besuch für den Patienten ein Signal, dass er noch nicht vergessen worden ist und dass es sich lohnt, weiter zu kämpfen. Bei desorientierten Patienten kann die regelmäßige und längerfristige Anwesenheit einer vertrauten Person helfen, die Orientierung wiederzugewinnen. Wenn die Anwesenheit eines Angehörigen vom Stationsteam als Belastung erlebt wird, besteht die Möglichkeit, ein Gespräch mit einer unbeteiligten Person (z. B. psychotherapeutischer Konsilarzt) anzubieten, die helfen kann, Missverständnisse aufzuklären und zu vermitteln. Auf diese Weise können auch »schwierige« Angehörige als Bündnispartner gewonnen werden.
in der Regel für ein Entspannungsverfahren zu motivieren. Sofern er bereits zuvor ein Entspannungsverfahren erlernt und praktiziert hat, sollte er ermuntert werden, dies in den oben genannten Belastungssituationen wieder einzusetzen. Bewährt hat sich auch der Einsatz von Entspannungsmusik. Progressive Relaxation nach Jacobson. Muss ein Entspannungs-
verfahren neu erlernt werden, so eignet sich hierzu v. a. die progressive Relaxation nach Jacobson. Dieses Verfahren ist auch in schwierigen Situationen einfach zu lernen und kann bereits nach 2 oder 3 Instruktionen vom Patienten eigenständig angewendet werden. Sollte sich der Patient hiermit schwer tun, so kann als Unterstützung eine Entspannungskassette über Kopfhörer angeboten werden. Imaginationsverfahren Auch dieses Verfahren ist für den Einsatz
auf der Intensivstation gut geeignet. Hierbei wird der Patient vom Therapeuten zunächst in einen entspannten Zustand gebracht, anschließend wird er dazu aufgefordert, sich »wie im Tagtraum« ein Bild oder eine Szene vorzustellen, die für ihn mit Entspannung verbunden ist (z. B. Liegen am Strand oder im Liegestuhl im heimischen Garten). Nach 2–3 Übungsdurchgängen unter Anleitung wird der Patient dazu ermuntert, selbstständig, auch ohne Anwesenheit des Therapeuten, zu üben. Einige Patienten, die lange auf einer Intensivstation bleiben müssen, nutzen diese Übung gerne, um die Station »wenigstens in Gedanken« verlassen zu können. Durchführung durch das Stationsteam. Entspannungsübungen
3.1.3
Psychotherapie auf der Intensivstation
Obwohl die Häufigkeit psychischer Probleme bei Intensivpatienten offensichtlich ist, stellt eine enge Zusammenarbeit zwischen Psychotherapeuten und Intensivmedizinern derzeit eher die Ausnahme als die Regel dar. Hierbei spielen der unterschiedliche Arbeitskontext und häufig auch wechselseitige Vorurteile eine Rolle. Auf einer Intensivstation muss der Psychotherapeut auf seine gewohnten Arbeitsbedingungen weitgehend verzichten: Einen ruhigen, störungsfreien Raum, in dem er mit dem Patienten allein ist, ausreichend Zeit sowie ein Gegenüber hat, das in Kommunikationsfähigkeit und Bewusstsein nicht eingeschränkt ist. Inzwischen stehen jedoch Konzepte [16] zur Verfügung, die erfolgversprechend in der Intensivmedizin eingesetzt werden können. Dabei ist es erforderlich, Behandlungstechniken entsprechend der Problemsituation und der Kommunikationsfähigkeit des Patienten zu kombinieren. Ein Problem ist allerdings, dass nur wenige Krankenhäuser über einen psychosomatischen oder psychologischen Konsiliardienst verfügen. Wenn im Klinikum keine entsprechende Abteilung vorgehalten wird, können Patienten und Angehörige auch über eine Kooperation von niedergelassenen Psychotherapeuten betreut werden. In zunehmend mehr Bereichen der Medizin (Onkologie, Transplantationsmedizin) ist eine Sicherstellung der psychischen Betreuung Voraussetzung zur Zertifizierung als Spezialzentrum.
Entspannungsverfahren Entspannungsverfahren sind indiziert bei Patienten, die während
des Aufenthalts auf der Intensivstation unter ängstlicher Anspannung leiden oder die sich bei diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen so verkrampfen, dass sie diese als besonders belastend oder schmerzhaft erleben. Entspannungsverfahren haben gegenüber einer medikamentösen Sedierung den Vorteil, weder auf Kreislauf noch auf den Atemantrieb ungünstig zu wirken. Wenn man dem Patienten den Zusammenhang (Teufelskreis) zwischen Angst, Anspannung und vermehrten Schmerzen verdeutlicht, ist er
müssen nicht zwingend von einem Fachpsychotherapeuten ausgeführt werden. Nach entsprechender Ausbildung können diese auch durch ein Mitglied des Pflegepersonals oder von Physiotherapeuten durchgeführt werden, sofern eine entsprechende Fachsupervision gegeben ist. Auf diese Weise können Verfügbarkeit und Praktikabilität von Entspannungsverfahren auf der Intensivstation wesentlich erhöht werden. Psychotherapie. Sinnvoll ist die kontinuierliche Betreuung einer
Intensivstation durch einen konstanten psychotherapeutischen Kooperationspartner im Sinne eines Konsil- und Liaisondienstes (7 Kap. 3.4). Dies gibt den Psychotherapeuten Gelegenheit, sich auf die besonderen Anforderungen des Arbeitsfeldes Intensivstation einzustellen und störungsspezifisches Wissen über die jeweils dominierenden Krankheitsbilder zu erwerben. Therapeutische Gespräche werden in der Regel deutlich kürzer sein als sonst in der Psychotherapie üblich. Für die Mehrzahl der ITS-Patienten ist eine Gesprächsdauer zwischen 5 und 15 min günstig. Dafür nehmen Gespräche mit dem Stationsteam und ggf. auch mit Angehörigen einen breiteren Raum ein. Zu den Aufgaben des Psychotherapeuten auf der Intensivstation gehören: 4 stützende Gespräche mit Patienten und Angehörigen, 4 störungsspezifische (verhaltenstherapeutische) Interventionen, z. B. bei Panikanfällen oder Depression, 4 konfliktzentrierte (psychodynamische) Interventionen, z. B. wenn durch die Situation auf der Intensivstation ein bisher latenter Autonomie-Abhängigkeits-Konflikt aktualisiert wird und zu Noncompliance führt, 4 unterstützende oder konfliktzentrierte Gespräche mit Patienten und/oder Angehörigen in schwierigen Entscheidungssituationen, bei Konflikten und Trauer, 4 Unterstützung von Angehörigen verstorbener Patienten, 4 Beratung des ITS-Teams, 4 ggf. Organisation einer psychotherapeutischen Nachbetreuung im Langzeitverlauf nach der Entlassung.
3
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Kapitel 3 · Psychosoziale Situation und psychologische Betreuung in der Intensivmedizin
3
Psychotherapeutische Interventionen bei einzelnen Störungsbildern werden in 7 Kap. 52 beschrieben.
3
3.2
Die Situation der Angehörigen
3
3.2.1
Problemsituationen
3
Für die Angehörigen ist die Umgebung auf der Intensivstation in der Regel ebenso fremdartig und potenziell bedrohlich wie für den Patienten. Insbesondere wenn der Patient noch bewusstlos oder bewusstseinsgetrübt ist, lastet der größere Leidensdruck auf den Angehörigen, die die Situation und Bedrohung des Patienten bei vollem Bewusstsein wahrnehmen. Die unbekannten Apparate und die Geschäftigkeit des Pflegepersonals sowie die häufige Notwendigkeit, wegen Behandlungsmaßnahmen bei einem Zimmernachbarn den Raum verlassen zu müssen, verstärken das Gefühl, zu stören, unerwünscht zu sein. Gleichzeitig kann es Angst hervorrufen, den Patienten einer »unbekannten Maschinerie« überlassen zu müssen. Unausgesprochene Gefühle der Angehörigen können die Kommunikation und Kooperation mit Ärzten und Pflegepersonal sehr erschweren.
3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 3
Fragen. Die Angst um den Patienten kann sich darin äußern, dass
ein Angehöriger immer wieder die gleichen Fragen über Krankheitsverlauf, Behandlungsmaßnahmen und Prognose stellt, auch wenn diese Fragen schon oft beantwortet wurden oder derzeit nicht beantwortbar sind. Wenn die gleichen Fragen kurz hintereinander an verschiedene Mitglieder des Teams gestellt werden, entsteht bei diesen das Gefühl, kontrolliert und gegeneinander ausgespielt zu werden. Aggressivität. Die Wut darüber, dass ein geliebter Mensch so
schwer krank ist, leiden muss und möglicherweise sterben wird, kann in Wut und Ärger über das Behandlungsteam umgewendet werden. Im Extremfall kann dies zu aggressivem Verhalten und Beschimpfungen führen. Einflussnahme. Das Gefühl, der Erkrankung ohnmächtig gegenüberzustehen, kann dazu führen, dass ein Angehöriger Kontrolle dort ausüben will, wo dies noch möglich ist, und deshalb versucht, das Pflegepersonal und die Ärzte zu kontrollieren und herumzukommandieren. Vermeidung. Eine andere Reaktion auf die Erkrankung eines na-
hestehenden Menschen kann darin bestehen, sich der Situation zu entziehen, indem man den Patienten so selten wie möglich besucht und die Situation vermeidet. Umgang und Kooperation mit Angehörigen. Es ist wichtig, diese
Reaktionsformen zu kennen, um nicht persönlich gekränkt zu reagieren, sondern sie als problematisches Verhaltensmuster in einer Überforderungssituation zu erkennen. Eine solche akzeptierende Grundhaltung bedeutet nicht, dass das Stationspersonal verpflichtet wäre, unhöfliches oder grenzüberschreitendes Verhalten von Angehörigen klaglos hinzunehmen. Sie ermöglicht es vielmehr, bei Angehörigen die zugrunde liegenden Ängste und Befürchtungen anzusprechen, um somit die Situation klären zu können. Im Einzelfall kann es auch sinnvoll sein, einen psychotherapeutischen Konsiliarius als Unterstützung für die Angehörigen oder als neutralen Vermittler hinzuzuziehen. Eine weitere Ressource kann ein Klinikseelsorger sein. Hier kann es allerdings sinnvoll sein, die Angehö-
rigen explizit darauf hinzuweisen, dass dieser zur psychischen Unterstützung und nicht zur Sterbevorbereitung hinzugezogen wird. Eine gute Kooperation mit den Angehörigen ist eine wertvolle Ressource. Bei Patienten, die längere Zeit auf der Intensivstation verweilen müssen, können Angehörige, die hierzu bereit und in der Lage sind, in die Pflege einbezogen werden. Sie können dem Patienten mehr Gespräch und Abwechslung bieten als es dem Pflegepersonal aus zeitlichen Gründen möglich ist. Für einen Patienten, der nach einem schweren Durchgangssyndrom wieder in die Realität zurückfindet, kann die regelmäßige Anwesenheit einer vertrauten Person eine wesentliche Unterstützung darstellen. Sind schwierige Entscheidungen zu treffen, wie z. B. das Einstellen invasiver therapeutischer Maßnahmen, so ist es ebenfalls hilfreich, wenn bereits vorher ein Vertrauensverhältnis mit den Angehörigen aufgebaut wurde.
3.2.2
Psychische Belastung und Störungsbilder bei Angehörigen von ITS-Patienten
In den letzten Jahren rückte die psychische Situation der Angehörigen zunehmend in den Fokus des wissenschaftlichen Interesses. Hierbei zeigte sich, dass Angehörige mitunter stärker belastet sind als die Patienten selbst [17]. Die Arbeitsgruppe von Pochard et al. [21] konnte in einer Multicenterstudie mit 78 teilnehmenden Intensivstationen nachweisen, dass 75,5 % aller Familienangehörigen und 82,7 % aller Partnerinnen und Partner Symptome von Angst oder Depressivität zeigten. Diese waren stärker ausgeprägt bei jüngeren Patienten und Patienten in kritischem Zustand oder Patienten, die auf der ITS verstarben. Die Unterbringung des Patienten in einem Mehrbettzimmer war mit höherer Depressivität bei den Angehörigen assoziiert. Eine erhöhte Belastung durch Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) wurde bei bis zu 49 % aller Angehörigen von Patienten auf der ITS auch noch 6 Monate nach der Entlassung oder dem Tod des Patienten nachgewiesen. Hierbei waren Angehörige Überlebender ebenso stark belastet wie Angehörige von Patienten, die ihre Erkrankung nicht überlebt hatten [14]. Nicht selten ist der Anblick invasiver Maßnahmen für die Angehörigen belastender als für die Patienten. So konnten Bunzel et al. bei keinem der untersuchten Patienten nach Implantation eines Kunstherzens, wohl aber bei 27 % ihrer Partnerinnen eine PTBS nachweisen [5]. Höhere PTBS-Raten fanden sich bei Angehörigen, die sich schlecht über Behandlungsverlauf und Therapiemaßnahmen informiert fühlten, sowie bei denjenigen, die in kritische Entscheidungen einbezogen waren. Die mit 81,8 % höchste Rate belasteter Angehöriger fand sich bei denjenigen, die in Entscheidungen über den Behandlungsabbruch mit einbezogen worden waren [3]. Dieser Befund deutet darauf hin, dass Angehörige zwar eine umfassende Information über Krankheitsverlauf und Behandlung als hilfreich bei der Verarbeitung der damit verbundenen Belastungen erleben, dass aber das Entscheidenmüssen, z. B. über einen Behandlungsabbruch, zu einer Überforderung mit auf die Belastung bezogenem Grübeln und Schuldgefühlen führen kann, welche die Betroffenen noch lange Zeit in erheblichem Maße belasten. Weitere Forschung ist notwendig, um zu klären, ob sich dieser Befund auch auf Deutschland übertragen lässt und ob hieraus Konsequenzen für die Art des Einbeziehens von Angehörigen in kritische Entscheidungen gezogen werden müssen. Hilfreich kann es sein, den Angehörigen anzubieten, die letzte Entscheidung beim Ärzteteam zu lassen und immer wieder auf die ärztliche Verantwortung hinzuweisen.
23 3.2 · Die Situation der Angehörigen
3.2.3
Präventive und therapeutische Ansätze
Persönliche Beziehungen sowie ausreichende Informationen verringern in erheblichem Maß Angst und Misstrauen. Es ist daher sinnvoll, dass sich die Mitarbeiter des Stationsteams bei der Kontaktaufnahme namentlich vorstellen und Namensschilder tragen. Sofern es organisatorisch möglich ist, sollten den Angehörigen konstante Ansprechpartner benannt werden, um einer Verunsicherung durch unterschiedliche Aussagen vorzubeugen.
Informationsblatt Ein Informationsblatt kann in der Umkleide ausgehängt und den Angehörigen zusätzlich mit nach Hause gegeben werden. Dieses sollte folgende Informationen enthalten: 4 grundsätzliche Aussage darüber, dass Angehörige auf der Station als Unterstützung für die Patienten willkommen sind, auch wenn medizinische Erfordernisse manchmal dazu zwingen, die Besuchszeit vorzeitig zu beenden oder Notfälle einem ruhigen Gespräch im Wege stehen, 4 Besuchszeiten, 4 Ansprechpartner auf Seiten der Ärzte und des Pflegepersonals, 4 Telefonnummern und Sprechzeiten, 4 einige wenige Sätze zu Funktion und Aufbau (ggf. Spezialaufgaben) der Intensivstation, 4 wenn häufig »Langlieger« betreut werden, Hinweis auf preisgünstige Übernachtungs- und Verpflegungsmöglichkeit in Kliniknähe, 4 Hinweis auf Unterstützungsmöglichkeit für die Angehörigen selbst (Seelsorge, Sozialdienst, psychotherapeutische Abteilung).
Gesprächsführung mit Angehörigen Angst und Trauer als Reaktion auf die schwere Erkrankung eines geliebten Menschen sind als gesund anzusehen und sollten daher nicht pathologisiert oder gar mit Beruhigungsmitteln gedämpft werden. Sinnvoll ist der Rat, offene Fragen soweit wie möglich mit dem Stationspersonal zu klären und sich darüber hinaus emotionale Unterstützung und Rückhalt im Kreis der weiteren Familie oder im Freundeskreis zu suchen. Ebenso können in einem kurzen Gespräch Bewältigungsressourcen aktiviert werden (»Waren Sie schon einmal in einer ähnlich schwierigen Situation? Was oder wer hat Ihnen damals geholfen?«). Auch der Hinweis darauf, dass Angst, Niedergeschlagenheit und Trauer angesichts einer solchen Belastung »normale« Reaktionen sind, kann auf die Angehörigen sehr entlastend wirken. Es stellt kein Zeichen von Schwäche da, in bestimmten Situationen mit den Angehörigen mitzutrauern, im Gegenteil, es kann Angehörigen zeigen, dass die »Welt der Maschinen« auch Leben und Emotionen beinhaltet.
3.2.4
Das Gespräch mit Angehörigen verstorbener Patienten
Gesunde und pathologische Trauer Die Begleitung Angehöriger von sterbenden oder verstorbenen Patienten stellt eine ebenso schwierige wie wichtige Aufgabe dar, die hier nur im Überblick behandelt werden kann (weitere Informationen z. B. bei [13]). Die Aufgabe des Stationspersonals ist es vor allem, Angehörigen den Eintritt in einen gesunden Trauerprozess zu erleichtern und somit Prävention gegen das Auftreten von pathologischer Trauer und Depression zu betreiben. Trauer ist ein physiologischer Prozess und hat 4 Hauptaufgaben [26]: 4 Realität eines Verlusts zu akzeptieren,
4 Schmerz des Verlusts zuzulassen, 4 Anpassung an eine Welt, in die der Vermisste nicht zurückkommt, 4 Gefühle und Energien gegenüber dem Vermissten zurückzuziehen und in neue Beziehungen zu investieren. Pathologische Trauer. Pathologische Trauer erkennt man hinge-
gen an folgenden Merkmalen: 4 selbstzerstörerisches Verhalten (Suizidversuche, Alkohol, Medikamente), 4 Suizidgedanken, 4 zunehmender sozialer Rückzug, 4 Übergang in klinisch manifeste Depression. Verschiedene Studien konnten nachweisen, dass der Initialphase der Mitteilung des Todes und des unmittelbaren Abschieds bei der Weichenstellung zwischen gesunder und pathologischer Trauer eine große Bedeutung zukommt [20].
Hinweise zur Gesprächsführung Wenn irgendwie möglich, sollte den Familienmitgliedern die Gelegenheit gegeben werden, das Sterben ihres Angehörigen zu begleiten. Dies erfordert eine rechtzeitige Information und eine rechtzeitige Entscheidung darüber, wann therapeutische Maßnahmen einzuschränken sind, um der Familie Raum zum Abschied einzuräumen. Auf einer Intensivstation ist diese Möglichkeit jedoch häufig nicht gegeben, wenn der Tod plötzlich eintritt oder wenn die Angehörigen wegen fortgesetzter therapeutischer Maßnahmen oder wegen Reanimationsversuchen bis zuletzt nicht zum Patienten gelassen werden können. In diesem Fall ist es sinnvoll, die Angehörigen zu ermutigen, den Toten noch einmal zu sehen, um von ihm Abschied zu nehmen, es sein denn, der Patient ist sehr entstellt. Ein solches Ritual erleichtert den späteren Trauerprozess. Entsprechend dem Wunsch der Angehörigen sollte vorher und nachher Raum für ein Gespräch mit dem behandelnden Arzt und die Beantwortung von Fragen sein. Für die Angehörigen ist es wichtig, Fragen stellen zu können (z. B. »Wie konnte das so plötzlich geschehen?«; »Hat er sehr gelitten oder ging alles ganz schnell?« usw.). Wenn diese Fragen unbeantwortet bleiben, kann dies zu jahrelangem Grübeln und zu Depressionen führen. Die Angehörigen wollen in einer solchen Situation in der Regel nicht »Material für Klagen« sammeln, sondern sie suchen Informationen, die ihnen helfen sollen, das Geschehene zu begreifen. Zurückhaltende oder ausweichende Informationen können daher die Grundlage für Misstrauen und Zweifel legen. In der 7 Übersicht sind die Empfehlungen für ein Gespräch, in dem man nahe Angehörige über den plötzlichen Tod eines Patienten informieren muss, zusammengefasst [13]:
Empfehlungen zur Überbringung der Todesnachricht 4 Persönliche und respektvolle Atmosphäre durch namentliches Vorstellen und Beachtung nonverbaler Kommunikation (Blickkontakt, Zuhören, Schweigen und Gefühlsausdruck). 4 Ungestörter Raum mit Sitzmöglichkeiten für alle Beteiligten. 4 Ermittlung der bisherigen Informationslage der Angehörigen durch die Eingangsfrage »Was wissen Sie bisher?«. 6
3
24
3
Kapitel 3 · Psychosoziale Situation und psychologische Betreuung in der Intensivmedizin
4 Die Botschaft im richtigen Moment verständlich und mit hinreichender Deutlichkeit erklären, das Wort »Tod« deutlich aussprechen. 4 Von Seiten des Behandlers nicht zu viel und zu schnell mitteilen, den Angehörigen Zeit zum »Verdauen« der Informationen geben. 4 Gefühle und Ohnmacht zulassen. 4 Am Ende des Gesprächs sollte danach gefragt werden, ob und wo die Angehörigen Unterstützung finden können (z. B. weitere Familienangehörige, Freunde, Seelsorger), und ob weitere Hilfen benötigt werden (z. B. Taxi für den Heimweg).
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Da die Angehörigen durch die Nachricht in der Regel so überwältigt sind, dass sie viele Informationen nicht verarbeiten können und häufig weitere Fragen in den nächsten Tagen auftauchen, ist es sinnvoll, ein weiteres Gespräch anzubieten bzw. einen Psychotherapeuten oder Seelsorger hinzuzuziehen. Auch hier sind Beruhigungsmittel in aller Regel kontraindiziert, da sie den Beginn des normalen Trauerprozesses nur behindern und verzögern. Hilfreich ist es für die Betroffenen jedoch, wenn ihnen bestätigt wird, dass ihre emotionale Reaktion gesund und angemessen ist. Dies erspart den Betroffenen, zusätzlich zu ihrer Trauer auch noch Scham und Unsicherheit empfinden zu müssen. Aufklärungsgespräche und Gespräche mit Angehörigen werden auch deshalb als belastend empfunden, weil weder im Medizinstudium noch in der Facharztweiterbildung handlungsleitendes Wissen oder Fertigkeiten in ausreichendem Maß angeboten werden. > Regelmäßige, praxisbezogene Weiterbildungen zum Thema »Gesprächsführung« helfen deshalb nicht nur, die Außendarstellung der Intensivstation zu verbessern, sondern wirken ebenso präventiv gegen Überlastungsund Insuffizienzgefühle der Mitarbeiter.
3 3
3.3
Belastungsfaktoren bei Mitarbeitern der Intensivstation
3
3.3.1
Belastungsfaktoren und Folgeprobleme
3
In zahlreichen Studien (Übersicht bei [11]) konnten verschiedene Belastungsfaktoren für die Arbeitssituation auf einer Intensivstation nachgewiesen werden: 4 eine hohe Mortalitätsrate wird insbesondere dann zur Belastung, wenn die Heilung als einziges Erfolgskriterium akzeptiert und der Tod als Niederlage eingeschätzt wird, 4 eine Verlegung des Patienten gerade dann, wenn es ihm besser geht, so dass Dank und Anerkennung von Patient und Angehörigen häufig nicht der Intensivstation, sondern der nachbetreuenden Station zugute kommen, 4 eine invasive Behandlung trotz sicher aussichtsloser Situation (schweres Trauma, sehr alter Patient) 4 ein hoher Prozentsatz bewusstloser oder bewusstseinsgetrübter Patienten, 4 ständiges Wechseln von Routineaufgaben und Notfällen; dies führt zu Hektik und Zeitdruck und verhindert einen befriedigenden Beziehungsaufbau zum Patienten sowie ein Auseinandersetzen mit den eigenen Gefühlen, die dann häufig entweder verdrängt oder mit nach Hause genommen werden müssen,
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4 Konfrontation mit emotional belastenden Situationen, für die man in der Ausbildung nicht hinreichend trainiert wurde, 4 Konfrontation mit bisher unbekannten oder als bedrohlich eingeschätzten Krankheitsbildern [23], 4 in der Regel geringe finanzielle Belohnung der oft umfangreichen Weiterbildung und Qualifizierung des Personals, 4 Schichtdienst.
Burn-out-Syndrom Die Folge dieser belastenden Arbeitsbedingungen können eine erhöhte Personalfluktuation sowie eine abnehmende Berufszufriedenheit sein. Hieraus können auch klinische Symptome entstehen. Für diesen Prozess wurde der Begriff »Burn-out-Syndrom« geprägt. Burisch [6] beschreibt 7 Kategorien der Burnout-Symptomatik (7 Übersicht).
Burn-out-Symptomatik 4 Warnsymptome der Anfangsphase mit vermehrtem Engagement, freiwilliger unbezahlter Mehrarbeit, Beschränken sozialer Kontakte und Freizeitaktivitäten; die Folge sind chronische Müdigkeit und Erschöpfung 4 Reduziertes Engagement: sowohl desillusionierter Rückzug aus der Arbeit als auch verringertes privates Engagement 4 Emotionale Reaktion mit Depression, Aggression und Schuldzuweisungen 4 Abbau von kognitiver Leistungsfähigkeit, Motivation und Kreativität 4 Verflachung des emotionalen und sozialen Lebens auch in der Freizeit 4 Psychosomatische Beschwerdebilder wie Kopf- oder Rückenschmerzen, Panikanfälle 4 Verzweiflung und Depression
Studien, die die Auswirkungen der Arbeitsbedingungen auf der Intensivstation auf die Gesundheit der Mitarbeiter exakt nachweisen, fehlen jedoch nach wie vor weitgehend [10]. Ebenso ist unklar, ob es sich hier um für die Intensivmedizin spezifische Belastungen handelt, da z. B. vergleichbare Belastungen mit Angst- und Stresssymptomen auch beim Pflegepersonal von Notfallambulanzen und Normalstationen nachgewiesen werden konnten [15].
Posttraumatische Belastungsstörung Eine posttraumatische Belastungsstörung kann nicht nur als Folge selbst erlittener Traumata, sondern auch sekundär bei Berufsgruppen entstehen, die häufig mit Extremsituationen, Leid und Tod konfrontiert werden. Entsprechende Befunde für Polizisten und Rettungssanitäter liegen schon länger vor. Bei einer Untersuchung an 144 examinierten Krankenschwestern und -pflegern, die auf verschiedenen Intensivstationen arbeiteten, litten 88 % unter »flash-backs«, die sich auf im Beruf erlebte belastende Situationen bezogen, und bei 75 % waren Symptome eines erhöhten Erregungsniveaus nachweisbar. Insgesamt 41 % erfüllten die diagnostischen Kriterien für das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung, dies entspricht auch der PTBS-Inzidenz, die bei den anderen genannten Berufsgruppen gefunden wurde [24]. Neuere Studien finden zwar geringere PTBS-Prävalenzen, diese liegen aber immer noch deutlich über dem Erwartungswert bei Gesunden [12]. > Möglicherweise ist das Konzept der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) besser geeignet, um
25 3.4 · Psychosomatischer Konsil- und Liaisondienst
hieraus präventive und therapeutische Maßnahmen ableiten zu können, als das aus der Arbeitspsychologie übernommene Konstrukt des Burn-out. Weitere Untersuchungen über Risikofaktoren, Verlauf und arbeitsmedizinische Relevanz der PTBS bei Personal von Intensivstationen sind dringend erforderlich.
3.3.2
Präventionsmöglichkeiten
Gestaltung und Organisation der Intensivstation Die Station sollte von der räumlichen Ausstattung und auch von der Organisation her so gestaltet sein, dass ungestörte Pausen und Erholungszeiten möglich sind. Die Stationsleitung sollte sich ihrer Verantwortung gegenüber den Mitarbeitern bewusst sein und auf ein Arbeitsklima achten, in dem es möglich ist, Gefühle von Überlastung rechtzeitig anzusprechen. Regelmäßige Stationsbesprechungen können helfen, Problemsituationen aufzudecken und zu entschärfen. Studien zur Arbeitszufriedenheit konnten zeigen, dass sich der Krankenstand verringert und die Arbeitszufriedenheit zunimmt, wenn die Mitarbeiter das Gefühl haben, in wesentliche Entscheidungen einbezogen zu werden und nicht nur Befehlsempfänger zu sein. Die regelmäßige Stationsbesprechung kann deshalb ein wichtiges Forum sein, um den Stationsablauf und den Umgang mit immer wiederkehrenden kritischen Situationen gemeinsam zu besprechen und festzulegen (z. B. »Wann sollen Behandlungsmaßnahmen reduziert/eingestellt werden?«).
Weiterbildung Regelmäßige Weiterbildungsveranstaltungen fördern den Aufbau einer gemeinsamen positiven Identität des professionellen Teams einer Intensivstation. Das Gefühl, auf einer Ebene hoher fachlicher Kompetenz zu arbeiten und die täglichen Abläufe auf der Station immer wieder neuen Erkenntnissen der medizinischen und pflegerischen Forschung anzupassen, stärkt Selbstbewusstsein und Arbeitszufriedenheit. Erkrankungsspezifisches Wissen kann auch helfen, Ängste abzubauen und sich schneller auf bisher unbekannte Problemfelder einzulassen [23]. Über diese allgemeinen positiven Aspekte hinaus können Weiterbildungsveranstaltungen im psychosozialen Bereich die Fähigkeit in Gesprächsführung und im Umgang mit »schwierigen Patienten« trainieren und ein Gefühl der Kompetenz in bisher als defizitär erlebten Bereichen schaffen. Insbesondere die Arzt-(Schwester-/ Pfleger-)Patient-Kommunikation wird in der medizinischen Ausbildung im deutschsprachigen Raum vernachlässigt. Im angelsächsischen Raum haben entsprechende Konzepte ihren festen Stellenwert im Curriculum (Training in »Doctor-Patient Communication Skills« und »Bringing Bad News«). Entsprechend groß ist der Bedarf, solche Inhalte in der beruflichen Weiterbildung zu vermitteln. Für den ärztlichen Bereich empfehlen sich Kurse im Rahmen der psychosomatischen Grundversorgung, für den Bereich der Pflege wurden Weiterbildungskonzepte, z. B. von Dinger [6], vorgelegt. Weiterbildungen zur gezielten Vorbereitung auf potenziell traumatische Situation können zur Prävention einer PTBS wirkungsvoller sein als im Nachgang durchgeführte sog. »Debriefings« [12].
Supervision Die Balint-Gruppe stellt für Ärzte, die auf einer Intensivstation arbeiten, eine Möglichkeit dar, außerhalb des Stationsteams schwierige Arzt-Patient-Beziehungen zu reflektieren. Das Konzept der Supervision sieht hingegen vor, dass ein von außen kommender Supervisor (der nach Möglichkeit Erfahrungen mit dem Arbeitsfeld
der Intensivstation haben sollte) mit dem gesamten Team arbeitet. Es wird zwischen dem Konzept der Teamsupervision und der Fallsupervision unterschieden. Bei der Teamsupervision stehen Aspekte der Zusammenarbeit untereinander im Vordergrund, während bei der Fallsupervision jeweils einzelne Fallgeschichten besprochen werden. Die Arbeit an einem einzelnen, nach Möglichkeit aktuellen Fall bietet die Möglichkeit, konkrete Veränderungsschritte zu erarbeiten und deren Wirksamkeit zu erproben. So wird verhindert, dass die Supervision in Grundsatzdebatten abgleitet, die letztlich wenig handlungsrelevant und hilfreich sind. Während in der Vergangenheit der Schwerpunkt häufig zu sehr auf gruppendynamische Prozesse gelegt wurde, was die Zusammenarbeit im Team in Einzelfällen mehr verschlechterte als verbesserte, sind inzwischen pragmatischere Supervisionskonzepte entwickelt worden, die auf die Bedürfnisse des jeweiligen Teams besser zugeschnitten sind. Gefühle von Insuffizienz und Überforderung haben ihre Ursache häufig darin, dass Ärzte und Pflegepersonal auf die Bewältigung emotional belastender Situationen in ihrer Ausbildung zu wenig vorbereitet wurden. Das Gefühl von Insuffizienz und die Angst zu versagen, sind häufig Ursache dafür, dass Gespräche vermieden werden. Gesprächsführung und die Verarbeitung der dabei auch bei einem selbst auftretenden Gefühle lassen sich jedoch ebenso lernen und trainieren wie die Anwendung organmedizinischer Behandlungsmethoden. Es hat sich deshalb als sinnvoll erwiesen, eine kontinuierliche Fallsupervision mit Weiterbildungsangeboten zu Themen wie Gesprächsführung und Kommunikationstechniken zu verbinden. Der Erwerb von Wissen und Kompetenz ist hier ebenso wie in anderen Bereichen der Medizin ein wirkungsvoller Schutz vor Gefühlen von Insuffizienz und Überforderung.
3.4
Psychosomatischer Konsilund Liaisondienst
Nur in Ausnahmefällen wird eine Intensivstation über eigene Psychotherapeuten verfügen. In der Regel wird die Versorgung deshalb über einen Konsil- und Liaisondienst zu organisieren sein [1, 11]. Unter Konsildienst versteht man die direkte Betreuung der Patienten durch den hinzugezogenen Psychotherapeuten, unter Liaisondienst die Beratung und Weiterbildung des Ärzte- und Pflegeteams der Intensivstation bei der Betreuung problematischer Patienten, z. B. bei gemeinsamen Visiten und Fallbesprechungen. Sollte das eigene Krankenhaus nicht über eine psychosomatisch-psychotherapeutische Abteilung oder eine psychiatrische Fachabteilung mit psychotherapeutisch weitergebildeten Kollegen verfügen, so müssen externe Kooperationspartner gesucht werden. Hier bieten sich sowohl benachbarte psychosomatisch-psychotherapeutische Fachkliniken als auch niedergelassene Kollegen an. Die Intensivstation sollte möglichst über längere Zeit von dem gleichen psychotherapeutischen Konsiliarius betreut werden, der die Besonderheiten der Station und der auf ihr betreuten Patienten kennt und dem Stationspersonal als Ansprechpartner vertraut ist. Ein kombinierter Konsil- und Liaisondienst hat sich gegenüber einem reinen Konsildienst als effektiver erwiesen. Nicht jeder Patient braucht fachpsychotherapeutische Behandlung. Wenn im Rahmen des Liaisondienstes die Mitarbeiter der Intensivstation entsprechend geschult werden, können sie Aufgaben der »psychosomatischen Grundversorgung« selbst übernehmen. Der im Rahmen eines Liaisondienstes stattfindende regelmäßige Austausch führt weiterhin dazu, dass psychosoziale Probleme zunehmend Beachtung im Stationsalltag finden, was einen präventiven Effekt für das Auftreten psychischer Störungen bei Patienten
3
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Kapitel 3 · Psychosoziale Situation und psychologische Betreuung in der Intensivmedizin
haben kann. Eine verbesserte Kommunikation zwischen Stationspersonal und Patient macht dann häufig einen Konsilbesuch des Fachtherapeuten überflüssig. Sowohl im Kontakt mit Patienten als auch mit Angehörigen kann es hilfreich sein, dass der konsiliarisch hinzugezogene Psychotherapeut »von außen« kommt und nicht Teil des Stationsteams ist. Wenn dies bereits bei der Vorstellung deutlich ausgesprochen wird, fällt es dem Patienten und den Angehörigen leichter, auch negative Gefühle wie Angst und Ärger zu äußern, ohne befürchten zu müssen, das Stationsteam zu kränken oder zu verärgern. In Konfliktsituationen oder bei ausgeprägtem Misstrauen kann der von außen kommende Konsiliarius als neutrale Informationsquelle und als Vermittler wahrgenommen werden.
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Literatur 1 2 3
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27
Intensivpflege D. Stolecki
4.1
Einführung – 28
4.2
Entwicklung der Intensivpflege – 28
4.3
Pflegeverständnis in der Intensivpflege – 29
4.4
Kompetenzen in der Intensivpflege – 30
4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.4.4
Fachkompetenz – 31 Methodenkompetenz – 31 Persönlichkeitskompetenz – 31 Psychosoziale Kompetenz – 32
4.5
Personalmanagement in der Intensivpflege – 32
4.5.1 4.5.2 4.5.3
Personaleinsatzplanung – 33 Personalentwicklung – 33 Gestaltung von Beziehungen – 33
4.6
Fehlervermeidung – 34 Literatur – 34
H. Burchardi et al. (Hrsg.), Die Intensivmedizin, DOI 10.1007/978-3-642-16929-8_4, © Springer Medizin Verlag Berlin Heidelberg 2011,
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28
Kapitel 4 · Intensivpflege
4.1
Einführung
Die Intensivpflege hat sich zu einem hoch komplexen Bereich entwickelt und füllt als Thema inzwischen ganze Lehrbücher. Insofern geht es in diesem Kapitel nicht um die Beschreibung einzelner intensivpflegerischer Tätigkeiten, sondern um die Darstellung verschiedener Teilaspekte. Beginnend bei der Entwicklung der Intensivpflege werden v. a. das sich verändernde Pflegeverständnis, die erforderlichen Kompetenzen, das Personalmanagement sowie Aspekte der Fehlervermeidung dargestellt. Intensivpflege findet heute in zwei Bereichen statt. Politisch gewünscht ist derzeit, dass immer mehr ambulante Versorger am Markt aufgetreten, die spezifische Intensivpflegeleistungen in den eigenen vier Wänden des Erkrankten gewährleisten. Historisch gewachsen und verankert ist Intensivpflege als Institution aber im Krankenhaus, was einer engeren Definition von Intensivpflege entspricht und hier Gegenstand der Betrachtungen sein soll. Intensivpflege auf einer Intensivstation bewegt sich in einem Spannungsverhältnis zwischen hoher Technisierung und menschlicher Begegnung mit engem körperlichem Kontakt und persönlicher Nähe. Daneben bestehen aufwändige diagnostische und therapeutische Möglichkeiten, mit denen das Leben erhalten werden kann. Andererseits sorgen infauste Prognosen z. T. für längere pflegerische Interventionen mit Sterbebegleitung und Trauerarbeit. High-Tech und High-Touch in der Intensivpflege wird begleitet von Kommunikationsprozessen zwischen dem therapeutischen Team und dem Patienten sowie seinen Angehörigen. Die Güte der Kommunikation innerhalb des Teams bestimmt die Versorgungsprozesse rund um den Patienten. Sie ist die Basis für eine gezielte, lückenlose Information in der Behandlung des Patienten und bestimmt den nahtlosen Ablauf aller geplanten Interventionen. Auch die Gestaltung der Beziehung zwischen Team und Patient und auch seinen Angehörigen entscheidet mit über den Grad der Versorgungsqualität und die Vermeidung von Fehlern [15, 39]. So gut die Möglichkeiten der gesamttherapeutischen Versorgung heute auch sind, so sehr findet sich in diesem System eine Mischung verschiedener Probleme: 4 Die hohe Technisierung verlangt nicht nur nach fachlicher Kompetenz, sondern auch nach dem Bewusstsein, dass der Mensch im Mittelpunkt der Versorgung steht. Der Grat zwischen Patientenignorierung und -orientierung ist sehr schmal. 4 Die Förderung des Patienten bedarf einer engen Abstimmung aller am therapeutischen Prozess Beteiligten. Hier ist eine echt gemeinte Kooperation gefragt und die Verzahnung der beteiligten Berufsgruppen im Sinne eines gesamttherapeutischen Handelns erforderlich. Kommunikationsprozesse müssen stringent geregelt sein, um Informationsdefizite zu vermeiden bzw. bestmöglich zu minimieren. 4 Die zahlreichen Mitarbeiter mit ihren unterschiedlichen Kompetenzen müssen mit geeigneten Methoden geführt und koordiniert werden. Diese Führung verlangt nach einer adäquaten Ausbildung. 4 Die Herausforderungen der modernen Intensivpflege und -medizin verlangen von allen Beteiligten eine hohe Kompetenz. Unzureichende Kompetenz kann, je größer das therapeutische Team ist, länger unentdeckt bleiben. 4 Dem Patienten auf der Intensivstation ist zu gewährleisten, dass er im Rahmen der kritischen Erkrankung bis zu seiner Verlegung und darüber hinaus bis zu seinem möglichen Tod eine bestmögliche Versorgung erhält. Seine Angehörigen sind in diesen gesamten Prozess einzubeziehen.
Damit sind hohe Anforderungen an alle Mitglieder des therapeutischen Teams gestellt. Entsprechend sind für Pflegende und Ärzte auf der Intensivstation neben einer profunden fachlich-technischen Kompetenz weitere berufliche Kompetenzen Grundvoraussetzung, um handlungsfähig zu sein.
4.2
Entwicklung der Intensivpflege
Wenn auch erste Ansätze zur Intensivpflege historisch betrachtet weit zurückreichen, ist ihr eigentlicher Ursprung in Deutschland mit der Errichtung von Intensivstationen gleichzusetzen. Hiernach existiert Intensivpflege seit mehr als 40 Jahren und ist gekennzeichnet durch eine fulminante Weiterentwicklung. Mit der Trennung von Chirurgie und Anästhesie sowie der Notwendigkeit zur Errichtung von Intensivstationen begann die Ära der Intensivpflege. Auf einem Symposium der Deutschen Gesellschaft für Anästhesie und Wiederbelebung (ehemals DGAW, heute DGAI) in Verbindung mit dem Deutschen Krankenhausinstitut e. V. Düsseldorf sowie dem Institut für Krankenhausbau der Technischen Universität Berlin im November 1969 in Nürnberg wurde erstmals die Forderung nach qualifiziertem Personal mit entsprechender Ausbildung erhoben. Bereits 1964 wurde von Frey an der Mainzer Universitätsklinik erstmals eine 2-jährige Weiterbildung zur Fachkrankenschwester bzw. zum Fachkrankenpfleger für Anästhesie und Intensivmedizin eingeführt, aber erst 1969 gab die DGAW Empfehlungen für die Ausbildung von Anästhesiepflegepersonal heraus. Vorgesehen war hier eine 1-jährige Ausbildung mit 100 Unterrichtsstunden und einer abschließender Zertifizierung. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) gab nur 2 Jahre später Empfehlungen für die Weiterbildung von Krankenpflegepersonal in den Bereichen Anästhesie und Intensivmedizin, Operationsdienst und Psychiatrie heraus. Sie umfasste eine Weiterbildungszeit von 1 Jahr mit insgesamt 320 Unterrichtsstunden. Hier wurden nun auch zum ersten Mal Anerkennungsverfahren für Weiterbildungslehrgänge ausgesprochen. 1972 gab die DGAW überarbeitete Richtlinien heraus, die als Grundlage für die Durchführung von Lehrgängen in der Anästhesie und Intensivmedizin empfohlen wurden [2]. Die Notwendigkeit der Integration von Weiterbildungslehrgängen für Pflegepersonal wurde aus unterschiedlichen Perspektiven begründet. So schrieb die DKG, dass die bisherige Entwicklung des anästhesiologischen Fachgebietes einen steigenden Bedarf an Fachanästhesisten habe, dieser jedoch nicht mit ärztlichem Personal zu decken sei [17]. Opderbecke u. Weißauer berichteten 1974 in einem Artikel, dass die Übertragung von Funktionen aus dem Aufgabenbereich des Arztes nur an weitergebildetes und damit besonders qualifiziertes Pflegepersonal den Bedürfnissen der modernen Medizin entspräche, da der zunehmende ärztliche Personalbedarf wohl kaum in nächster Zukunft zu decken sei [30]. Damit sprach man sich für die Empfehlungen der DGAW aus, um das anästhesiologische und intensivmedizinische Fachgebiet adäquat durch weitergebildetes Pflegepersonal zu unterstützen. Jung berichtete auf der Jahrestagung des Berufsverbandes Deutscher Anästhesisten im November 1975 von einem weltweiten Mangel an Anästhesisten und war der Meinung, dass dem ausgebildeten Fachpflegepersonal Tätigkeiten übertragen werden sollten, die in der konventionellen Pflege bisher dem Arzt überlassen waren. Ahnefeld verdeutlichte, dass die ständige Ausweitung der Intensivmedizin eine Arbeitsteilung zwischen Ärzten und Pflegepersonal erfordere und damit eine zwangsläufige Delegation bestimmter Aufgaben an das Pflegepersonal. Bedingt durch die quantitative und qualitative Mangelsituation befürwortete er die Weiterbildung des
29 4.3 · Pflegeverständnis in der Intensivpflege
Pflegepersonals mit den Worten: »Die Schwestern und Pfleger, die eine solche Weiterbildung absolviert haben, werden zu den Mitarbeitern, die wir heute in der Anästhesie und ganz besonders in der Intensivmedizin benötigen« [1, 34]. Aufgrund gemeinsamer Beratungen zwischen der DGAI, der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin, der Gesellschaft für Sozialpädiatrie, der inzwischen gegründeten Deutschen Gesellschaft für Fachkrankenpflege (DGF) und in Absprache mit verschiedenen Krankenpflegeverbänden entstand schließlich erstmalig eine von allen Verbänden befürwortete und 1976 durch die DKG verabschiedete Weiterbildungsordnung, die in verschiedenen Bundesländern unverändert bis 1998 bindend war. Jedoch wurden bereits zwischen den 1980-er und 1990-er Jahren in verschiedenen Bundesländern landesrechtliche Regelungen zur Durchführung von Weiterbildungslehrgängen erlassen, die das curriculare Bild erheblich verändert haben. Die Begründungen für die inhaltliche Neugestaltung sind vielschichtig und umfassen neben politischem Willen auch die Forderungen nach qualitätssichernden pflegerischen Kriterien sowie ein inzwischen verändertes Pflegeverständnis. Inzwischen existieren in 12 von 16 Bundesländern landesrechtliche Regelungen zur Durchführung der Fachweiterbildung, z. T. mit fächerintegrativem Ansatz, zum Teil in modularer Form. Für Nordrhein-Westfalen wurde ein modularer Ansatz in Anlehnung an den Bologna-Prozess geschaffen, womit die internationale Durchlässigkeit aufgrund eines vergleichbaren internationalen Niveaus angestrebt wird [44]. 2009 ist ein erster Studiengang für »intensive care practioner« hinzugekommen, der mit einem Bachelor Degree abschließen wird. Hintergrund dieser Entwicklung sind Forderungen, den Beruf der Pflege auch an dieser Stelle zu akademisieren.
4.3
Pflegeverständnis in der Intensivpflege
Da die Intensivpflege zunächst nur als Teilgebiet der Intensivmedizin und damit als Assistenzberuf mit körperpflegerischer Orientierung betrachtet wurde, ist es nicht verwunderlich, dass die Struktur der Weiterbildung analog zur Auffassung von Medizin geprägt wurde. Die Perspektive der Medizin ist naturwissenschaftlich und rational; hieraus werden notwendige Interventionen abgeleitet und begründet. Im Mittelpunkt steht die Heilung gestörter Organfunktionen. Infolgedessen wird der Mensch nach seiner defizitären Gesundheit beurteilt und das betroffene Organsystem analysiert. Medizinische Interventionen werden begründet mit der Beseitigung dieser Defizite, wobei Pflegende eine wichtige Rolle im Sinne von ausführenden und assistierenden Tätigkeiten übernehmen [27, 42, 47]. Nach diesem Verständnis ist Intensivmedizin »die systematische Anwendung aller neuen therapeutischen Möglichkeiten zum temporären Ersatz gestörter oder ausgefallener Organfunktionen bei gleichzeitiger Behandlung des verursachenden Grundleidens« [25]. Genau nach diesem Verständnis wurde Intensivpflege nicht nur wahrgenommen, sondern auch in der Nomenklatur von Ätiologie, Pathophysiologie, Symptomatik, Diagnostik und Therapie gelehrt. Die ersten Lehrgänge waren analog konfiguriert und umfassten zu einem Großteil der 220 Stunden des theoretischen Unterrichts anatomische, physiologische sowie (intensiv-)medizinische und technische Kenntnisse. Infolgedessen wurden auch die Tätigkeitsfelder bzw. Aufgaben beschrieben, zu denen bis zu Beginn der 1990-er Jahre primär folgende gehörten: 4 Überwachung des Monitorings und der von Monitoren aufgezeichneten Daten, 4 Assistenz bei intensivmedizinischen Eingriffen,
4 Ausführung und Überwachung von Intensivbehandlungsmaßnahmen sowie deren Dokumentation, 4 Durchführung der kardiopulmonalen Reanimation, 4 Entnahme von Laborproben, 4 Durchführung von Desinfektions- und Sterilisationsmaßnahmen, 4 Krankenüberwachung und Grundpflege [34]. Durch die Professionalisierung der Pflege änderte sich die Wahrnehmung ihres gesellschaftlichen Auftrags. Mit dem Bekanntwerden erster pflegetheoretischer Ansätze zur Begründung von Pflegeinterventionen tauchten in den 1960-er Jahren auch erste Pflegemodelle auf. Das von Henderson publizierte und in den USA praktizierte Bedürfnismodell wurde mehrfach modifiziert und durch Roper (England) in den 1970-er Jahren für die Krankenpflege auch im deutschen Sprachraum aktuell. Juchli sorgte schließlich zu Beginn der 1980-er Jahre dafür, dass ihr modifiziertes Bedürfnismodell mit den sog. »Aktivitäten des täglichen Lebens« bundesweit Anerkennung fand und fortan zum strukturierenden Moment in der Krankenpflegeausbildung wurde. Der Ansatz aller Bedürfnismodelle ist ein holistischer und wird geprägt durch die Erfassung des Menschen in seinen unterschiedlichen Lebensphasen mit seinen jeweiligen Bedürfnissen. Auch hier geht es zum einen um defizitäre Situationen, die der Mensch in seinen Lebensaktivitäten erfährt. Der Ansatz geht aber auch von der Annahme aus, dass eine Beeinträchtigung einer Lebensaktivität auch Auswirkungen auf andere Personen haben muss. Dabei sind nicht nur physische, sondern auch psychische wie seelische und spirituelle Probleme involviert und werden in den Rahmen der pflegerischen Interventionen einbezogen. Dieser Paradigmenwechsel war insofern wichtig, als der Anspruch des naturwissenschaftlichen Denkens und Handelns in der Medizin, eben Heilung herbeizuführen, weder die Chronifizierung von Krankheit noch Sterben und Tod als handlungsleitende Struktur berücksichtigte. Eine weitere perspektivische Veränderung ergab sich durch die von der WHO 1979 publizierte Definition des Krankenpflegeprozesses, wie er bereits 1985 in der BRD im Krankenpflegegesetz verankert wurde. Der Krankenpflegeprozess stellt einen Problemlösungs- wie auch Interaktionsprozess dar, der als zweites strukturierendes Moment pflegerische Interventionen beeinflussen sollte. Er umfasst die die Planung der pflegerischen Intervention, die Festlegung sowie Durchführung von Maßnahmen und die kontinuierliche Einschätzung erzielter Wirkungen [4, 12, 19, 24]. Inzwischen sind die Bestrebungen - auch unter den Stichworten von Professionalisierung und Leistungserfassung (DRG-relevante Nebendiagnosen) – vorangeschritten, Pflegediagnosen analog zu den NANDA-Klassifizierungen (North American Nursing Diagnosis Association) in den Pflegeprozess aufzunehmen. Hierbei wäre durch eine einheitliche Sprachkodierung auch eine Klassifizierung möglich. Gleichzeitig könnte bei der Dokumentation erheblich Zeit gespart werden und ein reeller Leistungsnachweis der pflegerisch notwendigen Interventionen erfolgen. Vor dem Hintergrund reduzierter ökonomischer Reserven würde das einen doppelten Gewinn darstellen. Beides, Krankenpflegemodell und -prozess, führte damit zu Veränderungen in der Pflegeausbildung wie auch in der Weiterbildung. Mitarbeiter von Weiterbildungsstätten erkannten darüber hinaus sehr früh die weitere Bedeutung beider Anteile im Sinne des Qualitätsmanagements und unterstrichen dessen Bedeutung in zahlreichen Publikationen. Das führte zu Entwicklungen von (Pflege-)Leitbildern, die bald zum Aushängeschild klinischer Einrichtungen sowie von Weiterbildungsstätten wurden.
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Kapitel 4 · Intensivpflege
So hieß es zu Beginn der 1990-er Jahre, dass »Intensivpflege […] die Unterstützung, Übernahme und Wiederherstellung der Aktivitäten und existenziellen Erfahrungen des Lebens (AEDL) bei kritisch Kranken mit manifesten Störungen vitaler Funktionen umfasst. Sie beinhaltet eine ganzheitliche, patientenorientierte Pflege, die sich nicht nur mit der Beseitigung von Fehlfunktionen, sondern gleichermaßen mit Problemen von bleibender Behinderung, chronischen Krankheiten und dem Bereich Sterben und Tod eines Menschen befasst. Der Patient wird als Persönlichkeit mit individuellen Bedürfnissen gesehen« [27]. Dieses neue Pflegeverständnis war maßgebend für die curriculare Neugestaltung landesrechtlicher Regelungen im Rahmen der Fachweiterbildungen und wurde von Berufsverbänden publiziert:
»
Geplante Intensivpflege […] beinhaltet neben einer gesundheitsunterstützenden Lebenshilfe unter Aktivierung der physischen, psychischen, spirituellen und sozialen Ressourcen sowie der lindernden Pflege und Sterbebegleitung auch eine präventive und begleitende Gesundheitsberatung. Auf der Basis von ermittelten, den Patienten betreffenden Informationen bezüglich physischer, psychischer, sozialer und medizinischer Voraussetzungen wird Pflege anhand akuter und potenzieller Probleme geplant, durchgeführt und kontinuierlich evaluiert.
«
Die neuen Vorstellungen über das »Tätigkeitsfeld Intensivpflege« gingen noch weiter und umfassten nun auch pädagogische und Managementaufgaben, die bis dahin eine eher untergeordnete Rolle gespielt hatten. Damit gesellten sich die Aufgaben von Planung und Überwachung der Organisation des Krankenpflegedienstes sowie der Arbeitsabläufe ebenso hinzu wie die sach- und fachkundige Beratung und Anleitung von Pflegekräften in Intensivpflegeabteilungen [14]. Involviert blieb unverändert die Koordination spezifischer Diagnosen anderer Berufsgruppen im Pflegeprozess.
4 4.4
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Kompetenzen in der Intensivpflege
In ihrem ersten Buch zur Gestaltung einer Weiterbildung für Intensivmedizin und Anästhesie beschrieben Ahnefeld et al. [2] die immer größer werdende Diskrepanz zwischen Erkenntnissen der pflegerischen Erstausbildung und den immer höheren Ansprüchen in einem speziellen Arbeitsbereich wie der Intensivpflege und postulierten parallel zur Etablierung von Weiterbildungslehrgängen einen hohen Bildungsstand. Damit hatte der Begriff »Bildung« auch für die Intensivpflege sehr früh eine besondere Bedeutung. Da Intensivpflege ein hochkomplexes pflegerisches Handeln darstellt und sich seit Jahren in einem schnellen Wandel befindet, ist ein kontinuierliches Lernen im Sinne des lebenslangen Lernens unverzichtbarer Bestandteil. Der moderne Bildungsbegriff steht für den lebensbegleitenden Entwicklungsprozess des Menschen, in dem er seine kulturellen, geistigen und lebenspraktischen Fähigkeiten mitsamt seinen sozialen und personalen Kompetenzen erweitern kann. Unter pädagogischer Betrachtung zielt Bildung darauf ab, 3 spezifische Fähigkeiten zu vermitteln: 4 Selbstbestimmungsfähigkeit, 4 Mitbestimmungsfähigkeit und 4 Solidaritätsfähigkeit [31]. Diese Grunddimensionen menschlicher Fähigkeiten sind auch das Gerüst für die Fortsetzung von Bildung nach einer erworbenen Erstausbildung. Demnach soll Bildung u. a. zu einer handwerklichtechnischen Bildung führen, die Interaktionen zwischenmenschli-
cher Beziehungen und eine politische und ethische Handlungsfähigkeit entwickeln sowie weitere spezifische Fähigkeiten ermöglichen. Dazu gehören Schlüsselqualifikationen wie Kritik- und Teamfähigkeit, Empathie und Kooperationsfähigkeit, Kommunikations- und Argumentationsfähigkeit, Entscheidungsfähigkeit und Selbstständigkeit sowie logisches, systematisches und vernetztes Denken, um nur einige zu nennen. Die 3 Grundelemente von Bildung können im Rahmen einer fachspezifischen Bildungsmaßnahme wie der Intensivpflege nicht ausgeblendet werden, sondern sind die Basis für weiter zu entwickelnde Fähigkeiten und Fertigkeiten. Damit stehen Schlüsselqualifikationen im Mittelpunkt der beruflichen Weiterbildung. Hinter diesem Begriff verbergen sich alle Qualifikationen, die den Berufstätigen befähigen, auch zukünftigen Berufsanforderungen generell gewachsen zu sein. Entwickelt wurde das Konzept mit der Begründung, dass durch schneller eintretende Veränderungszyklen berufliche Ausbildungsinhalte einer kurzen Halbwertszeit unterliegen und Mitarbeitern damit keine Handlungssicherheit mehr gegeben ist [18]. Die Schlüsselqualifikationen (. Abb. 4.1) werden durch verschiedene Kompetenzen beschrieben. So umfasst Methodenkompetenz u. a. Analyse- und Problemlösungsfähigkeiten, die Fähigkeit zu systematischem und vernetztem Denken sowie konzeptionelle Fähigkeiten. Die personale Kompetenz umfasst, neben anderen, Motivation, Verantwortungsbewusstsein, Flexibilität, Selbstständigkeit und Entscheidungsfähigkeit. Die soziale Kompetenz setzt sich ebenfalls aus verschiedenen Fähigkeiten zusammen, zu denen Empathie, Konflikt- und Teamfähigkeit, Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit sowie Vorbildfunktion und Überzeugungskraft gehören [28]. Diese Kompetenzen können nicht losgelöst von fachlichen Inhalten und Situationen vermittelt oder erworben werden. Anhand dieses Modells wurde das Konzept der beruflichen Handlungskompetenz entworfen. Um eine konkrete Handlung auszuführen, benötigt ein Mitarbeiter immer mehrere Schlüsselqualifikationen bzw. Anteile von ihnen. Handlungskompetenz ergibt sich demnach aus der Summe verschiedener Kompetenzen. Folglich müssen im Rahmen der praktischen Ausbildung wie auch in der theoretischen Weiterbildung, neben notwendigen fachlichen Aspekten, auch Methoden- und Sozialkompetenz unterrichtet werden, damit Mitarbeiter zu einer eigenverantwortlichen Handlungskompetenz gelangen können (. Abb. 4.2).
. Abb. 4.1 Schlüsselqualifikation
. Abb. 4.2 Handlungskompetenz
31 4.4 · Kompetenzen in der Intensivpflege
. Abb. 4.3 Handlungskompetenz im Kontext individueller Einstellungen und Schlüsselqualifikationen
Handlungskompetenz in der beruflichen Praxis lässt sich unter Einbeziehung der betrieblichen Umwelt und des individuellen Mitarbeiters dann mit . Abb. 4.3 anschaulich darstellen [3]. Folglich bedeutet Handlungskompetenz, dass Mitarbeiter über verschiedene Kompetenzen verfügen und diese in der beruflichen Praxis situationsgemäß anwenden wollen und können. Maßgebend ist neben dem Wollen und Können aber auch das Dürfen, womit die institutionellen Rahmenbedingungen entscheidend sind, die die Handlungskompetenz bestimmen. Wenn das Bildungsverständnis so angelegt ist, dass über Bildungsmaßnahmen verschiedene Kompetenzen von Mitarbeitern entwickelt werden sollen, dann muss das Führungsverständnis des Unternehmens kongruent sein, damit diese erlangten Kompetenzen durch Handeln auch gelebt werden können. Damit müssen evtl. unterschiedliche Interessen in Einklang gebracht werden [3, 6], die in der jüngsten Vergangenheit für berufspolitischen Zündstoff gesorgt haben.
4.4.1
Fachkompetenz
Die fachlich-technische Kompetenz steht sicher unbestritten weit oben in der Skala erforderlicher Kompetenzen und ist mit ein Garant für die Umsetzung intensivpflegerisch-medizinischer Interventionen. Ausgehend von der Krankenbeobachtung sowie der klinischen und apparativen Überwachung umfasst das Grundgerüst intensivpflegerischer Maßnahmen folgende Komponenten: 4 die Kompensation bzw. Teilkompensation der Körperpflege, 4 alle Arten von Prophylaxen, 4 Lagerungsmaßnahmen, 4 die Förderung der Atmung und Organisation der Atemtherapie, 4 die Wundversorgung. Daran angeschlossen sind alle assistierenden sowie delegierbare medizinische Tätigkeiten, die im Rahmen der Intensivmedizin erforderlich sein können.
4.4.2
Methodenkompetenz
Fachliche Kompetenz allein reicht im komplexen Tätigkeitsfeld der Intensivpflege nicht (mehr) aus. Im Gegenteil: Um handlungsfähig zu sein, muss ein Mitarbeiter auch methodisch kompetent sein, damit er spezifische Probleme mit entsprechenden Konzepten lösen kann. Methodenkompetenz als spezielle Form der Kompetenz meint die Fähigkeit, Techniken, Strategien und Verfahren zur Problemlösung zielgerichtet anzuwenden. Zu den methodisch notwendigen Voraussetzungen in der Intensivpflege gehört unabdingbar die Anwendung von Problemlösungsprozessen. Hier ist der Pflegeprozess nicht nur strukturierendes Moment zur Planung und Durchführung intensivpflegerischer Maßnahmen, sondern auch Grundlage zur Evaluation von Versor-
gungsprozessen. Er ermöglicht sowohl eine prospektive Einschätzung der Situation des Patienten als auch eine intermittierende wie auch eine retrospektive Qualitätsbeurteilung, womit das Instrumentarium qualitätssichernder Maßnahmen zum Tragen kommt. Dienlich sind hier alle Arten von Scoresystemen, die medizinische und pflegerische Problemsituationen einzuschätzen helfen, von A wie Apgar-Score bis W wie Waterlow-Skala. Methodenkompetenz bedeutet auch, Arbeitstechniken und Konzepte situationsbezogen und zielgerichtet einsetzen zu können. Damit müssen Konzepte, die nicht primär aus der Pflege stammen, komplementär berücksichtigt werden. Dazu gehören u. a. das Konzept der Kinästhetik zur Förderung der Mobilisation, der basalen Stimulation, das Affolter- und das Bobath-Konzept zur Förderung der Wahrnehmung und der Frührehabilitation sowie die fazioorale Stimulation aus der Ernährungstherapie, die in das Gesamtkonzept der intensivpflegerischen Strategie einfließen. Darüber hinaus umfasst Methodenkompetenz auch die Fähigkeit zur Informationsbeschaffung, die im Kontext der Patientenversorgung benötigt wird. Unter dem Stichwort der evidenzbasierten Intervention sind damit die Ergebnisse von pflegewissenschaftlichen und medizinischen Studien gemeint, die für den jeweiligen Fall in Betracht kommen. Rein empirisches Fachwissen wird also adäquat ergänzt und der Patient damit auf der Basis der aktuellen Evidenz versorgt. [32].
4.4.3
Persönlichkeitskompetenz
Durch die rasante Entwicklung operativer und intensivmedizinischer Verfahren hat das Leistungsspektrum bereits deutlich zugenommen. Durch vermehrte Leistungen bei kürzeren Verweilzeiten und gleichzeitiger Zunahme des Anteils multimorbider Patienten sind sowohl die Komplexität der Aufgaben wie auch die Dynamik der Versorgung erheblich gestiegen. Diese unter dem Begriff der Dynaxität zu erfassende Situation erfordert eine 3. Dimension von Kompetenz, um im Berufsalltag bestehen zu können [17]. Dazu gehören u. a. 4 Anwendung spezifischer Normen und Werte zur Beurteilung verschiedener Situationen, 4 Aufgeschlossenheit und Lernbereitschaft vor dem Hintergrund ständiger Neuerungen, 4 Kreativität angesichts neuer Herausforderungen und mangelnder Ressourcen, 4 Autonomie im Sinne von Selbstständigkeit und Selbstdisziplin, 4 ein hohes Maß an Motivation und Energie sowie Stabilität und Belastbarkeit, da Umfang und Qualität der intensivpflegerischen Arbeit ständig variieren und Physis wie Psyche beanspruchen [14], 4 Flexibilität, 4 Konflikt- und Kritikfähigkeit, um in der multidisziplinären Versorgung mit vielen Mitarbeitern zu bestehen, 4 Fähigkeit zur Stressbewältigung und zur Gewährleistung der eigenen Psychohygiene, 4 Authentizität und Loyalität. Bildungsprogramme sowie die abteilungsinterne Begleitung durch Kollegen und Vorgesetzte müssen diese Kriterien im Sinne der eigenen Personalentwicklung mitberücksichtigen, um in absehbarer Zeit über Experten zu verfügen [4].
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32
Kapitel 4 · Intensivpflege
4.4.4
Psychosoziale Kompetenz
Abgerundet werden die beruflichen Handlungskompetenzen durch psychosoziale Kompetenzen, die gerade in der Intensivpflege eine besondere Verankerung benötigen. In der Versorgung kritisch Kranker ist es notwendig, soziale Verantwortung zu tragen und Respekt auszudrücken. Insbesondere müssen Beziehungen gestaltet und sowohl problemlösende als auch beziehungsbildende Rollen übernommen werden. Hierbei ist die Fähigkeit vorauszusetzen, dass die Bedürfnisse und Wünsche anderer realitätsgerecht erfasst und auf dieser Grundlage in nicht bewertender, sondern deskriptiver Weise beantwortet werden. Empathie ist hierbei die Basis, um die Welt durch die Augen eines anderen zu sehen [21‒23]. Die Vielzahl der unterschiedlicher Berufsgruppen und Tätigkeiten verlangt Kooperations- und Delegationsfähigkeit. Die sich schnell verändernden Versorgungssituationen erfordern eine Ambiguitätstoleranz, d. h. die Fähigkeit, sich schnell und mit geringem Unbehagen an neue, instabile Situationen anzupassen [8]. > Nicht zuletzt ist eine ausgebildete kommunikative Kompetenz das alles verbindende Medium. Das betrifft die unterschiedlichen Formen der Kommunikation mit den Patienten, die Gespräche mit den Angehörigen sowie die fachlichen Diskussionen im Rahmen des therapeutischen Teams.
Wie wichtig die Kombination dieser Kompetenzen ist, verdeutlicht die Übersicht mit einem Auszug aus der Deklaration der Menschenrechte Sterbender, entstanden auf einem Workshop mit dem Thema »Der Todkranke und sein Helfer« in Lansig, Michigan (USA) [7].
Deklaration der Menschenrechte Sterbender 4 Ich habe das Recht, bis zu meinem Tode wie ein lebendiges menschliches Wesen behandelt zu werden und das Recht, stets noch hoffen zu dürfen – worauf auch immer sich diese Hoffnung richten mag. 4 Ich habe ein Recht darauf, von Menschen umsorgt zu werden, die sich eine hoffnungsvolle Einstellung zu bewahren vermögen – worauf auch immer sich diese Hoffnung richten mag. 4 Ich habe das Recht, Gefühle und Emotionen anlässlich meines nahenden Todes auf die mir eigene Art und Weise ausdrücken zu dürfen. 4 Ich habe das Recht, schmerzfrei zu sein, in Frieden und Würde und nicht allein zu sterben. 4 Ich habe das Recht, meine Fragen ehrlich beantwortet zu bekommen und nicht getäuscht zu werden. 4 Ich habe das Recht, von meiner Familie und für meine Familien Hilfen zu bekommen, damit ich meinen Tod annehmen kann. 4 Ich habe das Recht, meine Individualität zu bewahren und meiner Entscheidungen wegen auch dann nicht verurteilt zu werden, wenn diese in Widerspruch zu Einstellungen anderer stehen. 4 Ich habe das Recht, offen und ausführlich über meine religiösen und/oder spirituellen Erfahrungen zu sprechen, unabhängig davon, was dies für andere bedeutet. 4 Ich habe das Recht, zu erwarten, dass die Unverletzlichkeit des menschlichen Körpers nach dem Tode respektiert wird. 6
4 Ich habe das Recht, von fürsorglichen, empfindsamen und klugen Menschen umsorgt zu werden, die sich bemühen, meine Bedürfnisse zu verstehen, und die fähig sind, innere Befriedigung daraus zu gewinnen, dass sie mir helfen, meinem Tod entgegenzusehen.
Wahrheit und Wahrhaftigkeit am Krankenbett spielen damit nicht nur für Pflegende eine entscheidende Rolle, sondern für das gesamte therapeutische Team, womit das Postulat für Bildungsangebote zum Erwerb der psychosozialen Kompetenz, wie es im Rahmen der Fachweiterbildung geschieht, unterstrichen wird. Da die Krankenhäuser in Deutschland immer mehr im Spannungsfeld zwischen Erlös- und Qualitätsorientierung stehen, unterliegen sie dabei den Mechanismen eines freien Marktes, ohne allerdings (betriebswirtschaftlich gesehen) selbst frei agieren zu können [43]. Über Marketinginstrumente wird die Leistungsfähigkeit beschrieben, werden Behandlungszahlen und Komplikationsraten dargestellt und nicht zuletzt Zielversprechen in Form von Leitbildern gegeben. Patienten und ihre Angehörige messen daran die tatsächliche Versorgung in den Kliniken und prüfen gewissermaßen Qualitäten. Schaut man sich die Rückkopplungen durch die Patienten an, trifft man sehr häufig auf die Aussage, dass die Kommunikation in Aufklärungs- oder auch Beratungsgesprächen als nicht gut empfunden wurde. Mit Blick auf die bereits eingetretenen Leistungsveränderungen in bundesdeutschen Kliniken und denen, die vermutlich noch kommen werden, haben sicher auch Mitarbeiter aller Berufsgruppen auf Intensivstationen hier noch Verbesserungspotenzial.
4.5
Personalmanagement in der Intensivpflege
Eine wichtige Aufgabe in der Intensivpflege ist die Wahrnehmung von Führungsaufgaben. Auch dies will gelernt sein. Macht wird zwar oft per Amt verliehen, reicht aber in der Regel nicht aus, um eine Organisation fachgerecht zu lenken. Die Annahme, ausschließlich per Amtsautorität Führung wahrnehmen zu können, ist längst überholt. Führung ist keine einseitige Aktion, sondern stellt eine Interaktion dar und umfasst ein systematisches und zielorientiertes Einwirken auf eine Person oder Gruppe. Führung geschieht also nicht zufällig, sondern absichtsvoll und geplant unter Berücksichtigung mehrerer Aspekte. Zu den Hauptfragen gehören: Welche Ziele sollen mit welchen Mitarbeitern, mit welchen Mitteln, in welcher Zeit und unter welchen Bedingungen erreicht werden [35]? In diesem Zusammenhang werden auf der Intensivstation mehrere Tätigkeiten unterschieden: 4 Organisation der Personaleinsatzplanung 4 Personalentwicklung und Sicherung der Pflegequalität 4 Gestaltung der Beziehungen. Ärztliche und pflegerische Mitarbeiter nehmen auf der Intensivstation sehr ähnliche Aufgaben für unterschiedliche Berufsgruppen wahr. Der ärztliche Leiter trägt die Gesamtverantwortung für alle medizinischen Interventionen und ist zuständig für die Einsatzplanung und Aufsicht nachgeordneter Ärzte. Die pflegerische Leitung bestimmt die Zuordnung des Pflegepersonals und ist verantwortlich für alle Pflegeinterventionen sowie für Fragen der Personalentwicklung, der Fort- und Weiterbildung. Ärzte und Pflegende sind gemeinsam verantwortlich für die Koordination beider und anderer Berufsgruppen. Kooperation und eine professionelle Beziehungsge-
4
33 4.5 · Personalmanagement in der Intensivpflege
staltung im inneren System (Team und Patient) wie im äußeren System (Angehörige und andere Berufsgruppen) sind die Basis für ein funktionierendes Gesamtsystem [38].
4.5.1
Personaleinsatzplanung
Nach der periodischen Dienstplangestaltung muss im Dienst eine tägliche Zuordnung des Personals erfolgen. Zu berücksichtigen ist dabei die Zuordnung von Mitarbeitern mit entsprechender Qualifikation entsprechend dem erforderlichen Versorgungsgrad der Patienten. Je höher der qualitative und quantitative Versorgungsgrad, desto höher sollte die Kompetenz des betreuenden Mitarbeiters sein. Gleichzeitig sollte sich im Dienstplan ein Konzept zur Anleitung von Mitarbeitern wiederfinden, das die Personalentwicklung von Mitarbeitern mit (noch) geringerer Kompetenz durch Zuordnung von Mitarbeitern mit einer höheren Kompetenz gewährleistet. Im Zuge der Dienstplangestaltung sind Zeitpunkte für die abteilungsinterne Fortbildung zu verankern, sodass die Kompetenz nicht nur durch die fachpraktische Arbeit, sondern auch durch intermittierende und flankierende Themenangebote weiterentwickelt werden kann [26].
4.5.2
Wenig Status des Kompetenz Mitarbeiters Hohes Engagement Maßnahme Dirigieren
Personalentwicklung
Das bisher sehr wenig beachtete Instrument der Pflegevisite ist eine hervorragende Ergänzung der Personalentwicklung und auch des Qualitätsmanagements. Analog zu der ärztlichen Verantwortung analysieren und entwickeln Pflegeverantwortliche der Intensivstation durch den Besuch am Bett sowohl Struktur- als auch Prozesskriterien. Hinsichtlich der Struktur- und Prozessqualität wird deutlich, ob vereinbarte Kriterien zur Dokumentation, die Handhabung von Pflegeleitlinien und -standards und Konzepte zur Anleitung neuer Mitarbeiter eingehalten werden. Zeitgleich kann überprüft werden, ob Behandlungspfade und Pflegeinterventionen analog zum Pflegeprozess verstanden worden sind und umgesetzt werden. In gleicher Weise kann auch der Gesamtkenntnisstand der Mitarbeiter erfasst werden. Aus den Visiten gewonnene Erkenntnisse sollten zur Reflexion in Teambesprechungen (Fallbesprechungen) führen, um evtl. Entwicklungspotenziale zu diskutieren. »Nebenbei« erfährt der Patient auf der Intensivstation individuell eine erhöhte Aufmerksamkeit, wenn er bei allen Betrachtungen in den Mittelpunkt gestellt wird. Das bedeutet, dass man mit ihm über seinen Versorgungsprozess spricht, ihm signalisiert, dass sich alles um ihn dreht. Keinesfalls darf die Pflegevisite zu einem Angst einflößenden Instrument der persönlichen Überprüfung entarten, sondern soll zur Optimierung der Versorgungsprozesse sowie der erwarteten Ergebnisse beitragen [20]. Parallel dazu sind pädagogisch konzipierte Anleitungsprozesse zur Personalentwicklung notwendig. Hier werden die Mitarbeiter mit ihren Kompetenzen analysiert und erforderliche Begleit- bzw. Lehr-/Lernprozesse bestimmt [50]. . Abb. 4.4 zeigt die 4 Entwicklungsgrade mit den erforderlichen Führungsmaßnahmen. Mitarbeiter mit noch geringer Kompetenz, aber mit hohem Engagement verlangen nach einer dirigierenden Begleitung. Für gewöhnlich verfügen diese Mitarbeiter nach einer gewissen Zeit über mehr Kompetenz, zeigen aber nicht selten ein geringes Engagement. Der Aspekt des Trainierens steht im Vordergrund der Entwicklungsmaßnahme, sodass das Engagement parallel zur Kompetenz gefördert wird. Bei weiterentwickelter Kompetenz zeigt sich häufig in der 3. Stufe ein schwankendes Engagement, wofür es zahlreiche
Einige Kompetenz Wenig Engagement
Hohe Kompetenz Schwankendes Engagement
Hohe Kompetenz Hohes Engagement
Trainieren
Sekundieren
Delegieren
entwicklungsfähig
entwickelt
. Abb. 4.4 Ausmaß an Führung und pädagogischer Begleitung im Anleitungsprozess. (Mod. nach dem situativen Führungsmodell von Hersey und Blanchard 1977)
unterschiedliche Gründe gibt, die in der Umgebung der Abteilung, aber auch in der Person des Mitarbeiters liegen können. Eine enge Begleitung sorgt für eine Stärkung des persönlichen Einsatzes. Abschließend erreicht der Mitarbeiter die zunächst höchste avisierte Stufe seines Könnens und seines Engagements, womit er für die Abteilung besonders wichtig wird. Jedoch liegt gerade darin die höchste Schwierigkeit im Umgang mit diesen Mitarbeitern, da sie nun gemäß ihrer Kompetenz nach adäquaten Aufgaben verlangen und selbstständig arbeiten wollen. Entsprechend müssen ihnen als sinnvoll erlebte Aufgaben gemäß ihrem Kompetenzgrad übertragen werden. Das sind z. B. Mitarbeiter, die eine Fachweiterbildung absolviert haben und nach einer Zeit der praktischen Routine im gleichen Fachgebiet nun ihr Potenzial einbringen wollen. Gelingt es der Pflegedienstleitung, diese Mitarbeiter adäquat einzusetzen, so profitiert die Abteilung von zufriedenen und zuverlässigen Mitarbeitern, die allesamt einen wichtigen Beitrag zur Qualitätssicherung leisten können. Bleiben diese Kriterien unberücksichtigt, entwickelt sich bei den Mitarbeitern eine Unzufriedenheit, die, wenn ignoriert und nicht gegengesteuert, in der Abteilung zur »Zeitbombe« wird. Frustration, Aggression und schließlich der Verlust wichtiger Mitarbeiter sind mögliche Folgen.
4.5.3
Gestaltung von Beziehungen
Die professionelle Gestaltung von Beziehungen ist ein elementarer Bestandteil des beruflichen Handelns und ein entscheidender Faktor dafür, ob die angestrebten Ziele erreicht werden können. Da gerade in der Intensivpflege komplexe Situationen auftreten, müssen Aufgaben, Zuständigkeiten und Entscheidungskompetenzen klar geregelt werden. Dies gilt auch für Ablaufpläne, die Informationskultur und das notwendige Schnittstellenmanagement. Wesentliche gestaltende Elemente sind dabei Initiative, Offen- und Direktheit sowie Berechenbarkeit und eine kritische Loyalität. Aufkommende Konflikte im Pflegeteam müssen so früh wie möglich angesprochen und bearbeitet werden Die Personalführung folgt den Managementprinzipien von »DICOR« (»delegation, information, cooperation, objectives, results«). Autoritäre Führung nach dem KITA-Prinzip (»kick in the ass«) ist dagegen längst nicht mehr zeitgemäß, da hierdurch in aller Regel nur Frustration und Aggression entstehen, die Fluktuation der Mitarbeiter zunimmt oder Dienst nur noch »nach Vorschrift« erledigt wird. [5]. Für das Delegationsprinzip spricht, dass kompetente, aus sich heraus motivierte Mitarbeiter Möglichkeiten zur Entwicklung ihres fachlichen und persönlichen Potenzials erwarten und fordernde Tätigkeiten eigenverantwortlich durchführen wollen. Informationen sorgen für Transparenz und damit für die Nachvollziehbarkeit notwendiger Entscheidungen und Maßnahmen. Mündige Mitarbeiter wissen und verstehen, was in ihrem Umfeld passiert, und können sich damit identifizieren. Kooperation ist eine notwendige Grundvoraussetzung innerhalb des Pflegeteams, aber auch im gesamttherapeutischen Team. Das Ziel muss den Weg bestimmen!
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Kapitel 4 · Intensivpflege
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durch Personalmangel und ungenügende Qualifikation des Personals.
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> Fehler und Beinahefehler stellen Gefahren dar, die als ständige Begleiter zugenommen haben.
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. Abb. 4.5 Ganzheitliche Betroffenheit des Patienten. (Mod. nach Kreienbaum, Hundenborn 1994 [47])
Hierbei müssen sich die Entscheidungsträger, nach Abwägung aller Kriterien, auf den besten Prozess verständigen. > Zielvereinbarungen (»objectives«) vermitteln allen Beteiligten vor dem Hintergrund bestehender Probleme, was, wann und wie erreicht werden soll.
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4.6
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Literatur 1 2
Auch hier ist die Folge eine Identifikation mit dem Ziel, die wiederum bestimmt, in welchem Maße das Ziel erreicht wird. Bei dieser Form von Führung werden mitarbeiterorientierte und aufgabenbezogene Ziele (weitestgehend) in Einklang gebracht. Das bedeutet, dass neben der Leistung eben auch die Zufriedenheit der Mitarbeiter eine entscheidende Rolle spielt. Ergebnisse (»results«) sollen Anlass für positive Verstärkungen sein, um die Leistungsfähigkeit in quantitativer, v. a. aber in qualitativer Hinsicht zu optimieren [8, 9]. Fehlt ein solches Konzept zur professionellen Beziehungsgestaltung, können im Team u. U. schwelende Konflikte, Verbitterung, Aggressionen sowie Frustrationen und Demotivation entstehen. Im schlimmsten Fall zerfällt das Team durch Zunahme von Fluktuation bzw. durch das Auftreten von Burn-out [50, 49]. Im Rahmen der Beziehungsgestaltung (. Abb. 4.5) spielen natürlich auch der Patient und seine Angehörigen eine entscheidende Rolle. Patienten erleben die Intensivstation nicht nur als Belastung. In einer Untersuchung von Hannich et al. [45] empfanden Patienten die Monitorüberwachung, die individuelle Aufmerksamkeit und Pflege als Sicherheit. Infolgedessen wollen sie informiert werden, nachfragen und mitentscheiden können. Angehörige von Intensivpatienten haben ein starkes Bedürfnis nach Klarheit. Sie möchten Vertrauen haben, Sicherheit spüren und Zweifel ausblenden können. Daher wollen sie ehrliche Antworten auf ihre Fragen hören. Sie brauchen das Gefühl, dass es Hoffnung gibt, und möchten die Prognose des Erkrankten wissen [48]. Fühlen sich Patienten nicht verstanden oder werden kommunikativ übergangen, so verweigern sie die Zusammenarbeit, beklagen sich bei Außenstehenden und verbleiben in ihren krankmachenden Mustern. Sind Angehörige aufgebracht, ist die Kontaktaufnahme unumgänglich, um sich der eventuellen Kritik zu stellen, auch wenn sie objektiv nicht unbedingt gerechtfertigt ist.
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Diese Gefahren müssen bestmöglich erkannt und frühzeitig beseitigt werden, damit es weder Schäden bei Patienten gibt noch unnötige und erhöhte Kosten die Budgets weiter belasten. Unzufriedenheit bei Patienten sorgt darüber hinaus für einen schnellen Imageverlust und schließlich für Mindereinnahmen, die die Klinikbudgets noch mehr treffen – ein Circulus vitiosus der Moderne, der ausgeschlossen werden muss. Vor diesem Hintergrund sind Pflegende und Ärzte als Team gefordert, sich mit der Gefahr auseinanderzusetzen.
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Fehlervermeidung
Durch die Zunahme von Dynamik und Komplexität, der sog. Dynaxität, haben die therapeutischen Teams immer weniger Zeit, die pro Patient notwendigen Interventionen vorzunehmen. Da im Zuge von Kosteneinsparungen die Arbeitsbereiche der Intensivstationen sowohl für ärztliche als auch für pflegerische Mitarbeiter einerseits unattraktiver geworden sind, zeitgleich in den letzten Jahren Stellen abgebaut bzw. eingefroren wurden, erhöhen sich die Gefahren
19
20
21
Ahnefeld FW (1976) Das Problem der Schwesternbildung. Anästhesieinformation Nr. 17, 107–112 Ahnefeld FW, Dick W, Halmagyi M, Valerius T (1975) Fachschwester, Fachpfleger Anästhesie – Intensivmedizin. Weiterbildung 1. Richtlinien, Lehrplan, Organisation. Springer, Berlin Heidelberg New York Becker M (2002) Personalentwicklung. Bildung, Förderung und Organisationsentwicklung in Theorie und Praxis. 3. Aufl. Schäffer/Poeschel, Stuttgart Benner P (1997) Stufen zur Pflegekompetenz – from novice to expert. Huber, Bern Birkenbihl VF (2005) Birkenbihl on management. Econ, Berlin Bühner R (2004) Mitarbeiterkompetenzen als Qualitätsfaktor. Strategieorientierte Personalentwicklung mit dem House of competence. Hanser, München Busche A, Student JC (1986) Zu Hause sterben. Hannover Correll W (1971) Pädagogische Verhaltenspsychologie. 4. Aufl. Ernst Reunhardt, München Correll W (2006) Motivation und Überzeugung in Führung und Verkauf. Redline Wirtschaftsverlag, Frankfurt DGAI (2000) Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) zur Versorgungssituation im Bereich der Intensivmedizin. www.svr-gesundheit.de/Gutachten Deutsche Gesellschaft für Fachkrankenpflege (2009) Strukturstandards für die lntensivpflege und die Pflege in der Anästhesie [www.dgf-online. de/pubstruktur.htm] Donabedian A (1966) Evaluating the quality of medical care. Milbank Memorial Fund Q44: 166 Eichhorn S (1969) Die Organisation der Intensivbehandlung. In: Opderbecke HW (Hrsg) Intensivbehandlungseinheiten im Krankenhaus. Springer, Berlin Heidelberg New York Friesacher H (1993) Psychosoziale Belastungen des Intensivpflegepersonals. Ursachen – Auswirkungen – Lösungsansätze. Intensiv 1: 34–40 Friesacher H (1995) Intensivpflege heute: Pflege zwischen High-Tech und High-Touch. Intensiv 2: 47–52 Friesacher H (2005) Pflegeverständnis. In: Ullrich L, Stolecki D, Grünewald M (Hrsg) Thiemes Intensivpflege und Anästhesie. Thieme, Stuttgart Golombek G (1985) Notwendigkeit und Bedeutung der Weiterbildung. Die Schwester – der Pfleger 2: 114 Götz K (1997) Management und Weiterbildung. Führen und Lernen in Organisationen. Band 9. Grundlagen der Berufs- und Erwachsenenbildung. Schneider Verlag, Hohengehren Grünewald M, Stolecki D, Ullrich L (2005) Methoden und Instrumente der Qualitätssicherung. In: Ullrich L, Stolecki D, Grünewald M (Hrsg) Thiemes Intensivpflege und Anästhesie. Thieme, Stuttgart Grünewald M, Stolecki D, Ullrich L (2005) Arbeitsfeld Intensivstation und Anästhesie. In: Ullrich L, Stolecki D, Grünewald M (Hrsg) Thiemes Intensivpflege und Anästhesie. Thieme, Stuttgart Hannich HJ, Wedershoven C (1985) Die Situation von Angehörigen auf der Intensivstation. Anästhesie und Intensivtherapie, Notfallmedizin 20: 89–94
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4
37
Hygiene in der Intensivmedizin M. Dettenkofer, E. Meyer (unter Mitarbeit von A. Conrad)
5.1
Hauptursachen und Entstehung von Krankenhausinfektionen – 38
5.2
Übertragungswege und häufigste Erregerreservoirs – 38
5.3
Hygienemaßnahmen auf Intensivstationen – 38
5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.3.4
Händehygiene – 39 Aufgaben des mikrobiologischen Labors – 39 Klimatisierung/raumlufttechnische Anlagen – 39 Umkleiden auf Intensivstationen – 39
5.4
Techniken zur Verhütung und Kontrolle der wichtigsten Krankenhausinfektionen – 40
5.5
Surveillance nosokomialer Infektionen auf Intensivstationen – 40
5.6
Isolierung infizierter und kolonisierter Patienten – 40
5.6.1 5.6.2 5.6.3 5.6.4
Bauliche Voraussetzungen – 40 Kohortenisolierung – 40 Hygienemaßnahmen bei multiresistenten Erregern – Beispiel Methicillin-resistente Staphylococcus aureus – 40 Weitere wichtige multiresistente Erreger (VRE, ESBL) – 42
5.7
Reinigung und Desinfektion – 42
5.7.1 5.7.2 5.7.3 5.7.4
Raumdesinfektion – 42 Reinigung und Desinfektion der Betten – 42 Wasserhygiene – 42 Aufbereitung von medizinischem Instrumentarium – 43
5.8
Unnötige Hygienemaßnahmen – 43
5.9
Umweltschutz auf Intensivstationen – 43 Literatur – 46
H. Burchardi et al. (Hrsg.), Die Intensivmedizin, DOI 10.1007/978-3-642-16929-8_5, © Springer Medizin Verlag Berlin Heidelberg 2011,
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38
Kapitel 5 · Hygiene in der Intensivmedizin
5.1
Hauptursachen und Entstehung von Krankenhausinfektionen
Die Hauptursachen von Krankenhausinfektionen (nosokomiale Infektionen; 7 Kap. 64) auf Intensivstationen sind nicht Hygienefehler, sondern die erhöhte Disposition: Die Patienten sind empfänglich durch verschiedene Grundkrankheiten, operative Eingriffe und invasive diagnostische und therapeutische Maßnahmen (z. B. Venenkatheter, Blasenkatheter, Intubation usw.). Durch diese in der Intensivmedizin unerlässlichen Interventionen werden die natürlichen Abwehrbarrieren durchbrochen und den Mikroorganismen der direkte Zutritt zum Körper ermöglicht. Therapeutische Maßnahmen können zusätzlich die körpereigene Abwehr vermindern (Zytostatika-, Kortisontherapie). Durch den Einsatz von Breitspektrumantibiotika (7 Kap. 62) wird die Selektion und Ausbreitung resistenter Krankheitserreger begünstigt. Krankenhausinfektionen entstehen: 4 endogen durch Keime der körpereigenen Flora (z. B. Harnwegsinfektion ausgehend von der Darmflora, Pneumonie aus der Flora des Nasen-Rachen-Raums oder Magens), 4 seltener exogen durch Transfer von Keimen aus der Umwelt des Patienten (direkter Kontakt v. a. mit den Händen oder indirekter Kontakt über Oberflächen, Geräte, Instrumente; noch seltener über respiratorische Tröpfchen oder die Luft). Endogene Krankenhausinfektionen sind schwieriger zu verhüten als exogene. Auch mit den besten Methoden der Krankenhaushygiene lassen sich weniger als die Hälfte aller Krankenhausinfektionen vermeiden [4].
ratorische Viren, die auf Gegenständen mehrere Stunden überleben können (z. B. RS-Viren), mit den Händen übertragen. Der Mensch berührt unwillkürlich dutzende Male am Tag seine Nase und seinen Mund, dabei gelangen Viren, aber auch Staphylococcus aureus aus dem Nasen-Rachen-Raum auf die Hände und mit ihnen durch direkten oder indirekten Kontakt (Flächen, Gegenstände) zum Patienten. ! Cave Am häufigsten werden Krankheitserreger auf Intensivstationen mit den Händen bzw. nicht sachgemäß verwendeten Handschuhen übertragen.
5.3
Hygienemaßnahmen auf Intensivstationen
Die häufigsten Krankenhausinfektionen auf Intensivstationen sind: 4 Pneumonie, 4 Harnwegsinfektion, 4 Sepsis, 4 Wundinfektion, 4 Infektionen der Haut und Schleimhäute (meist Venenkatheterinfektionen an der Eintrittstelle). Die Hauptursachen sind invasive Maßnahmen, d. h. bei: 4 Pneumonie: Intubation, maschinelle Beatmung, 4 Harnwegsinfektionen: Blasenkatheter 4 Sepsis: intravasale Katheter, v. a. ZVK.
Die wichtigsten Hygienemaßnahmen auf der Intensivstation
5.2
Übertragungswege und häufigste Erregerreservoirs
Krankheitserreger werden weitaus am häufigsten mit den Händen des medizinischen Personals bzw. durch nicht rechtzeitig gewechselte Handschuhe übertragen. Dies gilt für grampositive wie -negative Keime und Viren. Einrichtungsgegenstände und Apparate, die immer wieder mit den Händen berührt werden müssen, z. B. Beatmungsgeräte, Tastenfelder von Monitoren, Armaturen usw., können relevante Erregerreservoirs sein, v. a. für Staphylokokken und Enterokokken, aber auch für Acinetobacter u. a. Sie müssen daher regelmäßig wischdesinfiziert werden. Darüber hinaus ist entscheidend, dass beim Verlassen der Patientenumgebung bzw. des Bettplatzes Handschuhe ausgezogen und die Hände desinfiziert werden. Gramnegative Keime vermehren sich v. a. in feuchter Umgebung wie kontaminiertes Anfeuchtungswasser, Ultraschallvernebler, O2Anfeuchtungsgeräte, Mundpflegelösung. Die wichtigsten Erregerreservoirs von Staphylococcus aureus als dem bedeutendsten grampositiven Infektionserreger sind der Nasen-Rachen-Raum und die Hautflora, das wichtigste Erregerreservoir gramnegativer Keime die Gastrointestinal- und auch die Rachenflora. Unwichtige Erregerreservoirs sind: Fußböden, Wände, Decken, patientenferne Möbel. Über große respiratorische Tröpfchen werden v. a. Viren und bakterielle Erreger von Atemwegsinfektionen, aber auch Meningokokken übertragen (»face-to-face« innerhalb von ca. 1,5 m um die Streuquelle). Nur selten werden Infektionen auf Intensivstationen im engeren Sinne aerogen über weitere Strecken übertragen, z. B. offene Lungentuberkulose, bestimmte Viruserkrankungen mit Beteiligung des Respirationstrakts (Varizellen- und Masernpneumonie, SARS) oder Aspergillussporen. Meist werden aber auch respi-
4 Händedesinfektion mit einem alkoholischen Händedesinfektionsmittel als wichtigste Standardhygienemaßnahme 4 Handschuhwechsel unmittelbar nach Beendigung der Tätigkeit am Patienten 4 Möglichst kurze Verweildauer von Fremdkörpern (Venenkatheter, Blasenkatheter, arterielle Katheter, Hirndruckmesssonden usw.); regelmäßige Prüfung der Indikation 4 Hygienisch einwandfreie interventionelle und pflegerische Techniken zur Verhütung von Blasenkatheterinfektionen, Venenkatheterinfektionen, Pneumonie bei Beatmung und postoperativen Wundinfektionen (7 Kap. 64) 4 Sorgfältige Indikation von Antibiotikatherapie und -prophylaxe; z. B. ist eine perioperative Antibiotikaprophylaxe über die Dauer des Eingriffs hinaus überflüssig, teuer und fördert die Resistenzentwicklung (7 Kap. 62)! 4 Schulung und Disziplin aller Personen, v. a. der Ärzte (wichtige Vorbildfunktion besonders der leitenden Ärzte) 4 Einsatz von speziell ausgebildetem Personal; Beratung durch Krankenhaushygieniker und Hygienefachpersonal 4 Sichere Aufbereitung von Medizinprodukten 4 Gezielte und sinnvolle Reinigungs- und Desinfektionsmaßnahmen 4 Sichere und wirksame Isolierungstechniken 4 Surveillance device-assoziierter Infektionen (Qualitätssicherung) 4 Ausreichende Personal-Patienten-Relation: Zuwenig Personal bedeutet immer auch weniger Hygiene!
39 5.3 · Hygienemaßnahmen auf Intensivstationen
5.3.1
Händehygiene
> Die hygienische Händedesinfektion mit einem alkoholischen Präparat – zur besseren Verträglichkeit farb- und duftstofffrei – ist die wirksamste, kostengünstigste und einfachste Maßnahme zur Verhütung von Infektionsübertragungen (Kreuzinfektionen). Ärzte desinfizieren die Hände seltener und kürzer als Pflegepersonal. Auch das Wechseln von Handschuhen unmittelbar nach Patientenkontakt wird häufig vergessen. Auf die Notwendigkeit der Händehygiene und das gründliche Einreiben des Mittels als wesentlichem Qualitätsparameter muss immer wieder hingewiesen werden.
In den aktuellen Empfehlungen der WHO werden 5 Indikationen zur Händehygiene genannt (7 Übersicht).
5 Indikationen zur Händehygiene der WHO 4 Vor Patientenkontakt 4 Vor Tätigkeiten mit Infektions- und Kontaminationsgefahr und vor invasiven Maßnahmen 4 Nach Patientenkontakt 4 Nach Kontakt mit potenziell infektiösen Materialien (z. B. Ausscheidungen oder Körperflüssigkeiten) 4 Nach Kontakt mit der Patientenumgebung bzw. vor Verlassen des Bettplatzes
Mit diesem Konzept kann Händehygiene in der Praxis situationsgerecht und schlüssig durchgeführt werden. Unnötige Händedesinfektionen werden vermieden. Für eine korrekte Technik wird genügend Händedesinfektionsmittel (ca. 3 ml) in die Hohlhand appliziert und eingerieben, sodass die gesamten Hände vollständig benetzt werden. Um Lücken zu vermeiden, muss besonders auf die sorgfältige Desinfektion häufig nicht benetzter Areale wie Fingerkuppen, Daumen, Fingerzwischenräume und Handrücken geachtet werden. Die Einwirkungszeit der alkoholischen Präparate beträgt meist 30 s. Aus dermatologischen Gründen soll eine routinemäßige Kombination von Waschen mit Seife und anschließender Händedesinfektion vermieden werden. Bei pflegerischen und ärztlichen Tätigkeiten ist die Händedesinfektion generell dem Händewaschen vorzuziehen. Wasser und Seife gewährleisten keine ausreichende Wirksamkeit, um Krankheitserreger sicher zu eliminieren. Nur bei sichtbaren Verschmutzungen der Hände sollen diese zuerst gewaschen, abgetrocknet und dann desinfiziert werden. Die Händedesinfektion mit einem alkoholischen Händedesinfektionsmittel ist zudem besser hautverträglich als häufiges Händewaschen. Für eine wirksame Händehygiene ist es außerdem wichtig, dass die Fingernägel kurz geschnitten sind und kein Fingerschmuck und keine künstlichen Fingernägel getragen werden. ! Cave Auch wenn Handschuhe getragen werden, müssen (zumindest nach Kontamination der Handschuhe) die Hände anschließend desinfiziert werden. Bis zu 20 % der Einweghandschuhe weisen nach Gebrauch optisch z. T. nicht wahrnehmbare Löcher auf.
Leider beobachtet man immer wieder, dass Pflegepersonal die Hygienemaßnahmen beachtet, Ärzte aber beispielsweise ohne Handschuhwechsel und Händedesinfektion Blut abnehmen oder am Venenkathetersystem manipulieren. Hier können gezielte Fortbil-
dungen die Compliance bei der Händehygiene verbessern [www. aktion-sauberehaende.de]. Dazu kommt, dass ohne fachlich geschultes Personal (Krankenhaushygieniker, Hygienefachkräfte) eine sinnvolle und gezielte Krankenhaushygiene nicht möglich ist [www.rki.de]. Die lokalen Präventionsempfehlungen müssen in Zusammenarbeit mit diesem Fachpersonal jeweils den aktuellen internationalen Standards angepasst werden.
5.3.2
Aufgaben des mikrobiologischen Labors
Das mikrobiologische Labor, mit dem die Intensivstation zusammenarbeitet, muss in mindestens jährlichen Abständen das Erregerspektrum und die Resistenzsituation analysieren. Die Resistenzraten können auch innerhalb eines Krankenhauses erheblich differieren. Ohne Kenntnis der lokalen Resistenzsituation ist eine adäquate empirische Antibiotikatherapie nicht möglich [8] (7 Kap. 62). Intensivstationen sollten mit mikrobiologischen Laboratorien zusammenarbeiten, deren Ärzte regelmäßig zusammen mit den Intensivstationsärzten eine Visite durchführen.
5.3.3
Klimatisierung und raumlufttechnische Anlagen
Bei der Klimatisierung von Intensivstationen muss zwischen arbeitsphysiologischen und hygienischen Anforderungen unterschieden werden. Aus arbeitsphysiologischen Gründen (angenehmes Raumklima für Patienten und Personal, Wärmeabführung von Geräten) dürfte es notwendig sein, viele Intensivstationen mit raumlufttechnischen Anlagen auszustatten, die jedoch nicht hohen hygienischen Ansprüchen der Luftreinheit genügen müssen (2-stufige Filterung in der Regel ausreichend; in der 2. Stufe Filterklasse F9). Aus rein krankenhaushygienischen Gründen, d. h. zur Verhütung einer aerogenen Keimübertragung, ist es nur notwendig, bestimmte Teilbereiche einer Intensivstation, und zwar abhängig vom jeweiligen Patientenkollektiv, das auf der betreffenden Station betreut wird, zu klimatisieren (s. unten).
5.3.4
Umkleiden auf Intensivstationen
Personalschleusen sind ebenso wenig hygienisch notwendig wie Material- oder Geräteschleusen. Personen, die keinen direkten pflegerischen oder ärztlichen Kontakt mit dem Patienten haben, müssen sich beim Betreten der Intensivstation auch nicht umkleiden. Durch das routinemäßige Umkleiden werden Infektionen nicht verhindert, sondern unnötig hohe Kosten verursacht. Dies gilt z. B. für ärztliche Konsiliardienste, Besucher, Handwerker, Sozialdienste und Hygienepersonal. Die Verwendung eines patientenbezogenen Schutzkittels oder das Anlegen einer Einmalschürze muss erst am Patientenbett dann erfolgen, wenn bei der entsprechenden pflegerischen oder ärztlichen Tätigkeit die Gefahr einer Kontamination besteht oder der Patient z. B. wegen eines MRSA-Nachweises isoliert wird. Da Besucher nur Sozialkontakt und keinen pflegerischen Kontakt mit dem Patienten haben, müssen sie in der Regel auch keinen Kittel anziehen. Auch das Überziehen eines Schutzkittels bei Verlassen der Station ist aus hygienischen Gründen nicht notwendig.
5
40
5 5
Die hygienische Händedesinfektion bei Betreten und Verlassen der Station ist jedoch sowohl für Klinikpersonal wie für Besucher wichtig. Spezielle Bereichsschuhe oder gar Plastiküberschuhe sind hygienisch nicht erforderlich, Letztere sogar kontraproduktiv, da beim Überziehen leicht die Hände verschmutzt werden.
5 5.4
5 5 5 5 5 5 5 5 5 5
Kapitel 5 · Hygiene in der Intensivmedizin
Techniken zur Verhütung und Kontrolle der wichtigsten Krankenhausinfektionen
In Deutschland wurden in den letzten Jahren von der Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention am Robert Koch-Institut (RKI) evidenzbasierte, kategorisierte Empfehlungen erarbeitet, die über das Internet abrufbar sind (www.rki. de). Diese stimmen in weiten Teilen mit den HICPAC-Guidelines (Healthcare Infection Control Practices Advisory Committe) der CDC (Centers for Disease Control and Prevention, Atlanta, USA) überein (http://www.cdc.gov/ncidod/dhqp/guidelines.html). Die eigene Lektüre der RKI- und CDC-Guidelines ist anzuraten, zumal dort wertvolle Hintergrundinformationen gegeben werden. Übersichten zu den einzelnen Themen finden sich 7 Kap. 64 und auch im Standardwerk »Praktische Krankenhaushygiene und Umweltschutz« [1] sowie in [7]. ! Cave Der weitaus häufigste Überträger von Infektionen ist der Mensch, d. h. auf der Intensivstation in erster Linie das medizinische Personal, das direkten Kontakt mit den Patienten hat. Dabei spielen kontaminierte Hände (und Handschuhe) bei der Infektionsübertragung die bei weitem wichtigste Rolle. Wände, Decken oder auch Fußböden bergen nur eine äußerst geringe Infektionsgefahr.
5 5.5
5 5 5 5
Surveillance nosokomialer Infektionen auf Intensivstationen
Die gezielte Surveillance (Erfassung, Analyse, Feedback und Diskussion) von device-assoziierten Infektionen ist auf Intensivstationen eine wichtige Maßnahme im Rahmen des Qualitätsmanagements [3] (7 Kap. 62). Hier bietet sich im deutschsprachigen Raum die Teilname am Krankenhaus-Infektions-Surveillance-System (KISS) an (www.nrz-hygiene.de).
5
5.6
Isolierung infizierter und kolonisierter Patienten
5
5.6.1
Bauliche Voraussetzungen
5 5 5 5 5
Nach baulichen Gesichtspunkten können im Wesentlichen folgende Intensivstationen unterschieden werden: 4 Offene Stationen, bei denen die Betten nur durch einen bestimmten Abstand voneinander getrennt sind. In diesen Stationen ist eine vollständige räumliche Isolierung infizierter oder kolonisierter Patienten kaum möglich. 4 Stationen, bei denen zwischen den Patienten Trennwände stehen, sog. offene Boxen. In diesen Boxen können ggf. beatmete Patienten, deren Respirationstrakt mit multiresistenten Keimen besiedelt ist, isoliert werden (Bettplatzisolierung). 4 Stationen, bei denen einzelne Betten in geschlossenen Boxen oder Einzelzimmern stehen.
Eine Intensivstation sollte mindestens ein, besser mehrere Isolierzimmer mit groß genug bemessener Schleuse und raumlufttechnischer Anlage besitzen. In der Schleuse befindet sich ein Waschbecken, im Nasszellenbereich ggf. zusätzlich noch eine Steckbeckenspülanlage.
5.6.2
Kohortenisolierung
In bestimmten epidemiologischen Situationen, z. B. bei Staphylokokkenepidemien, bestimmten multiresistenten Keimen oder Durchfallerregern, ist es notwendig, auch kolonisierte Patienten, also solche, die (noch) nicht erkrankt sind, zu isolieren. Bei der sog. Kohortenisolierung werden mit dem gleichen Erreger infizierte oder kolonisierte Patienten in einem räumlich abgetrennten Bereich zusammengefasst, um eine Infektionsübertragung auf noch gesunde Patienten zu verhüten. Auch innerhalb der Kohorte gelten natürlich die Regeln der Standardhygiene.
5.6.3
Hygienemaßnahmen bei multiresistenten Erregern – Beispiel Methicillin-resistente Staphylococcus aureus
Häufigkeit. Methicillin-resistente Staphylococcus aureus (MRSA) wurden erstmals in den 1960-er Jahren isoliert und haben sich seitdem weltweit verbreitet. In Norwegen, Schweden, Dänemark und den Niederlanden liegt die MRSA-Rate (Anteil an allen S.-aureusIsolaten) im Bereich von 1 %, in vielen südeuropäischen Ländern, aber auch in England dagegen über 25 %. In Deutschland lag sie 2008 bei 19,5 % aller Staphylococcus-aureus-Isolate (EARSS) (. Tab. 5.1). MRSA sind häufig nicht nur gegen Methicillin resistent, sondern – bis auf Vancomycin/Teicoplanin und die neueren Antibiotika Linezolid, Quinupristin/Dalfopristin, Tigecyclin und Daptomycin – auch gegen viele weiter derzeit zugelassene Antibiotika. Für die Selektion von MRSA gelten v. a. Chinolone als Risikofaktor. > In aller Regel gilt, dass eine reine Kolonisation mit multiresistenten Erregern nicht mit Antibiotika behandelt werden sollte. Eine rationale Antibiotikatherapie und -prophylaxe in Kombination mit effektiven Hygienemaßnahmen ist der entscheidende Schlüssel für die Kontrolle der Resistenzausbreitung (7 Kap. 62).
. Tab. 5.1 Surveillance der Antibiotikaanwendung und der bakteriellen Resistenzen auf Intensivstationen in Deutschland. (Angaben von SARI 2009 [www.antibiotika-sari.de] [8]) Erreger
Resistenz
S. aureus, resistent gegen Methicillin
21,8 %
E. faecium, restistent gegen Vancomycin
7,1 %
K. pneumoniae, resistent gegen Cephalosporine der 3. Generation
12,7 %
E. coli, resistent gegen Ciprofloxacin
24,2 %
E. coli, resistent gegen Cephalosporine der 3. Generation
12,6 %
P. aeruginosa, resistent gegen Imipenem
29,6 %
P. aeruginosa, resistent gegen Ciprofloxacin
19,1 %
41 5.6 · Isolierung infizierter und kolonisierter Patienten
Der Nasenvorhof als natürliches Reservoir für S. aureus bildet meist den Ausgangspunkt für eine Besiedlung der übrigen Körperstellen. Daher ist zur Erfassung der Besiedlung mit MRSA der Nasenabstrich unerlässlich (angefeuchteter steriler Tupfer). Die erforderliche hohe Sensitivität beim Nachweis bzw. Ausschluss von MRSA erreicht man durch kombinierte Abstriche von Nase, Rachen, Perineum/Leiste und vorhandenen Wunden. Ein routinemäßiges Aufnahme-Screening auf Intensivstationen (Nase/Rachen) ist angezeigt und vereinfacht das Procedere. Der wichtigste Übertragungsweg von Patient zu Patient und von Patient zu Personal ist auch hier der direkte bzw. indirekte Kontakt (über die Hände und mit dem Nasen-Rachen-Raum). Beim trachealen Absaugen (MRSA im Trachealsekret), beim Verbandwechsel (MRSA in der Wunde) oder beispielsweise beim Bettenmachen (v. a. bei perinealen MRSA-Trägern) besteht das Risiko, dass über Sekrete bzw. Hautschuppen Staphylokokken über Tröpfchen, sehr selten über die Luft übertragen werden. > Der Verbreitungsgrad von MRSA und anderen multiresistenten Erregern in der eigenen Klinik muss bekannt sein und seit Inkrafttreten des Infektionsschutzgesetzes auch systematisch erfasst werden. Bei Ausbrüchen, d. h. beim Auftreten zweier oder mehrerer Erkrankungen mit dem gleichen Erreger, bei denen ein epidemiologischer Zusammenhang anzunehmen oder bestätigt ist, müssen die speziellen Hygienemaßnahmen oft noch ausgeweitet werden.
Ausbrüche von MRSA sind nach § 6 IfSG dem Gesundheitsamt nichtnamentlich zu melden.
Wichtigste Hygienemaßnahmen bei MRSA-positiven Patienten in der Intensivmedizin 4 Standardhygienemaßnahmen nach den allgemeinen Regeln, d. h. insbesondere gründliche Händedesinfektion und Handschuhwechsel (s. unten) bei Patientenkontakt und vor Verlassen des Bettplatzes bzw. Patientenzimmers. Die Händedesinfektion ist ggf. auch für den Patienten selbst und für Besucher wichtig. 4 Unterbringung des MRSA-infizierten oder- besiedelten Patienten im Einzelzimmer oder abgetrennten Bereich (Bettplatzisolierung); ggf. gemeinsame Unterbringung mehrerer MRSA-Träger (Kohortenisolierung, s. oben). Die Isolierung in einem Einzelzimmer hat jedoch keinen Sinn, wenn die Standardhygienemaßnahmen nicht eingehalten werden und der Personalschlüssel unzureichend ist. 4 Patienten, die vor der Isolierung eines MRSA-positiven Patienten mit diesem in Kontakt gekommen sind (z. B. Nachbarpatienten), müssen gescreent werden (Nase/ Rachen, Perineum/Leiste, ggf. Wunden). Gleiches gilt bei Aufnahme von Patienten aus Einrichtungen/Abteilungen mit bekanntem MRSA-Problem und bei Wiederaufnahme bei früherem MRSA-Nachweis: Auch zunächst erfolgreich dekolonisierte Patienten haben ein hohes Risiko, wieder mit MRSA besiedelt zu werden. Bei Wiederaufnahme sollten daher Kontrollabstriche durchgeführt werden (ggf. Primärisolierung bis zum Erhalt des negativen Ergebnisses). 6
4 In Ausbruchsituationen kann auch ein Screening der gesamten Station – ggf. auch inklusive Personal – notwendig sein. 4 Bei nasaler Besiedlung sollte eine 5-tägige Behandlung mit Mupirocin-Nasensalbe (3-mal tgl.) durchgeführt werden. Nach 2 Tagen Pause können dann zur Kontrolle des Therapieerfolgs 3 Abstrichserien (immer Nase, Rachen, Leiste, ggf. weitere Lokalisationen) im Abstand von 24 h durchgeführt werden. Bei nicht erfolgreicher Dekolonisierung kann die Therapie bis zu 2-mal wiederholt werden (alternativ ggf. Polyhexanid- oder PVP-Jod-haltige Salbe). Unterstützend sollte bei Hautkolonisation eine tägliche Ganzkörperwaschung mit desinfizierenden Substanzen (v. a. Octenidin, Polyhexanid) erfolgen. 4 Die Akte eines MRSA-positiven Patienten sollte gekennzeichnet sein, und alle Kontaktbereiche sollten informiert werden (Physiotherapeuten, Reinigungspersonal, Röntgenpersonal etc.). Wenn möglich auch elektronischer Warnhinweis im EDV-Patientendatensystem. 4 Bei pflegerischem oder Körperkontakt mit infizierten oder kolonisierten MRSA-Trägern müssen patientenbezogen Handschuhe getragen werden (dies ist bei anderen Tätigkeiten, z. B. Essensversorgung, nicht erforderlich). Bei direktem Patientenkontakt, z. B. auch beim Bettenmachen, sollten zusätzlich Kittel und Mund-/Nasenschutz getragen werden; letzteres zur Verhinderung einer Übertragung durch unbewusste Hand-zu-Mund bzw. -Nasen-Bewegungen des Personals. Kopfhauben sind nicht erforderlich. 4 Nur die notwendigen Pflegeutensilien werden im Zimmer gelagert; Blutdruckmanschetten, Stethoskope und Fieberthermometer dürfen nur patientenbezogen eingesetzt bzw. müssen nach Gebrauch desinfiziert werden (dies sollte grundsätzlich so gehandhabt werden). 4 MRSA-positive Patienten werden vorzugsweise auf einer Liege transportiert (frisches Tuch). Bei Wunden vor dem Transport neuen Verband anlegen; bei nasaler Besiedlung Mund-/Nasenschutz. 4 Wäsche und Geschirraufbereitung bedürfen keiner besonderen, über das normale Maß hinausgehenden Maßnahmen: Abfall wird im Patientenzimmer gesammelt und mit dem Hausmüll entsorgt. Die Wäsche wird im Zimmer gesammelt. 4 Die Besiedelung mit MRSA darf kein Grund sein, einen Patienten nicht aufzunehmen; weiterbehandelnde Institutionen müssen natürlich informiert werden. 4 Das Patienten- bzw. Behandlungszimmer nach Entlassung wischdesinfizieren (besonders wichtig: Flächen mit Hautund Händekontakt).
> Wichtig für Intensivstationen ist die leichte Erreichbarkeit von Händedesinfektionsmittel-Spendern (bettplatznah); ggf. zusätzlich sog. Kittelflaschen verwenden.
5
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42
Kapitel 5 · Hygiene in der Intensivmedizin
5.6.4
Weitere wichtige multiresistente Erreger (VRE, ESBL)
5
Vancomycin-resistente Enterokokken (VRE) nehmen auch in Europa zu. Obwohl Enterokokken per se nicht sehr virulent sind, können Infektionen zu erheblichen Problemen führen, v. a. wegen der meist schweren Grunderkrankungen der Patienten [5]. Klinisch bedeutsam sind Enterococcus faecalis und Enterococcus faecium. Bei den meisten VRE handelt es sich um E. faecium. Die Resistenz gegen Vancomycin ist häufig verbunden mit Mehrfachresistenz, die Ampicillin und andere Penicilline einschließt und über die Gene VanA und VanB vermittelt ist. Bei VanA-Resistenz besteht Hochresistenz gegenüber Vancomycin und eine Resistenz gegenüber Teicoplanin, bei VanB-Resistenz besteht nur eine Resistenz gegenüber Vancomycin. Durch die Mehrfachresistenz sind die therapeutischen Möglichkeiten eingeschränkt. Im Rahmen von Ausbrüchen v. a. bei hämatologisch/onkologischen Patienten spielen auch in Deutschland besonders virulente Stämme (»clonal complex 17«) eine zunehmende Rolle. Zur Kontrolle von VRE sind konsequente Hygienemaßnahmen wie bei MRSA erforderlich – allerdings entfällt die Notwendigkeit eines Mund-Nasen-Schutzes, da keine nasale Trägerschaft zu erwarten ist. Extended-spectrum-β-Laktamase (ESBL) produzierende gramnegative Bakterien sind nach MRSA mittlerweile in Deutschland die zweithäufigsten multiresistenten Erreger. Sie produzieren Enzyme, die die Fähigkeit haben, β-Laktamantibiotika (Cephalosporine, Penicilline) zu inaktivieren [6]. Sie werden v. a. bei E. coli und Klebsiellen gefunden. Problematisch ist, dass ihre Resistenz plasmidvermittelt übertragen wird, d. h. die Resistenz kann auch zwischen verschiedenen Spezies übertragen werden. Ebenso wie bei MRSA und VRE sind die Therapieoptionen eingeschränkt. Um die Ausbreitung von ESBL zu verhindern, gilt es, die Übertragung von Patient zu Patient zu verhindern (konsequente Standardhygiene und adäquate Isolierungsmaßnahmen) und Antibiotika rational und so kurz wie möglich einzusetzen. Auch VRE- und ESBL-bildende Erreger sowie weitere gramnegative Risikoerreger wie resistente Acinetobacter baumanii werden hauptsächlich über Hände/Handschuhe des Personals übertragen. Deshalb sind die wichtigsten Hygienemaßnahmen auch bei multiresistenten Erregern Händedesinfektion und Handschuhwechsel vor und nach Patientenkontakt [9].
5
5.7
5
Händedesinfektion 7 Abschn. 5.3.
5
5.7.1
5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5
5 5 5 5 5
Reinigung und Desinfektion
Raumdesinfektion
Es genügt eine Wischdesinfektion der (horizontalen) patientennahen Flächen. Eine routinemäßige Desinfektion von Waschbecken, Siphons oder Toiletten ist nicht nötig; eine Reinigung mit einem umweltfreundlichen Reinigungsmittel reicht aus. Die Desinfektion ist aber erforderlich nach Benutzung durch Patienten mit multiresistenten Erregern oder meldepflichtigen Erkrankungen. Die Reinigung sollte nur von geschultem Personal durchgeführt werden. Desinfizierend gereinigt werden: 4 patientennahe Flächen (z. B. Nachttisch, Versorgungsleiste, Monitor, Medikamentenwagen, Verbandswagen, Beistelltische): routinemäßig in der Regel 2-mal täglich,
4 Flächen, die häufig mit den Händen berührt werden (Bedienungsoberflächen des Beatmungsgeräts und der Monitore): in jeder Schicht. Für jeden Raum und für jede Box sollten frische Tücher verwendet werden. Bei Kontamination von Flächen mit z. B. Blut, Sputum, Eiter, Wundexsudat muss sofort gezielt desinfiziert werden, d. h. die Kontamination wird mit einem desinfektionsmittelgetränkten Tuch mit Handschuhen entfernt. Der Fußboden wird 2-mal täglich mit dem hausüblichen Reinigungssystem (ohne Zusatz eines Desinfektionsmittels) gereinigt [2]. Auch hier muss bei Kontamination mit potenziell infektiösem Material immer unverzüglich gezielt desinfiziert werden. Das Versprühen von Desinfektionsmitteln sollte generell vermieden werden. Denn dadurch gelangt das Mittel nicht nur auf den Gegenstand, sondern auch in die Atemwege von Patienten und Personal. Auch Kopfkissen, Matratzen und Federbetten beispielsweise können durch Besprühen nicht wirksam desinfiziert werden. Für eine sachgerechte Flächendesinfektion ist immer auch die mechanische Komponente des Wischens notwendig. Die Verwendung von Desinfektionsmitteln in Konzentrationen der Desinfektionsmittelliste des Robert Koch-Instituts ist auch bei meldepflichtigen Infektionskrankheiten nicht notwendig, sondern nur im Seuchenfall und nur auf Anordnung des Amtsarztes. Eine Raumdesinfektion durch Verdampfen von Formaldehyd ist auch nach meldepflichtigen Erkrankungen, z. B. offener Lungentuberkulose, nicht notwendig.
5.7.2
Reinigung und Desinfektion der Betten
Matratzen erhalten einen waschbaren Schonbezug; Kopfkissen und Bettdecken müssen desinfizierend gewaschen werden können. Bettgestelle müssen zur Aufbereitung nicht in eine Zentrale gefahren werden, die Reinigung und Wischdesinfektion kann manuell auf der Station erfolgen.
5.7.3
Wasserhygiene
Die Strahlregler an den Wasserhähnen sollen einmal pro Woche in einer automatischen Reinigungs- und Desinfektionsmaschine bzw. Geschirrspülmaschine gereinigt und thermisch desinfiziert werden, da es durch die sich dort ansammelnden Verunreinigungen aus dem Leitungswasser und Biofilmbildung zu einer verstärkten Kontamination des Wassers kommen kann. Es sollten Lamellenstrahlregler eingesetzt werden (geringeres Kontaminationsrisiko). Im Leitungswasser sind häufig in wechselnder Keimzahl sog. Wasserkeime, z. B. auch Pseudomonaden, Acinetobacter oder Aspergillen, nachzuweisen. Deshalb kann es je nach Wasserqualität sinnvoll sein, dem Waschwasser für die Körperwaschungen vom Patienten PVP-Jodlösung zuzufügen (1 Teil 10 %ige PVP-Jodlösung auf 100 Teile Wasser). Wissenschaftliche Studien hierzu liegen jedoch nicht vor. In kritischen Bereichen muss steriles oder steril gefiltertes Wasser verwendet werden, z. B..zur Mundpflege bei beatmeten Patienten. In Übereinstimmung mit Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation und den Centers for Disease Control and Prevention (USA) ist der Wert von routinemäßigen Wasseruntersuchungen auf Legionellen umstritten, die heute allerdings auf der Basis der Trinkwasserverordnung in der Regel 1- bis 2-mal jährlich erfolgen. Bei jeder nosokomialen Pneumonie muss konsequent die Legionellenä-
43 5.9 · Umweltschutz auf Intensivstationen
tiologie ausgeschlossen werden. Wenn eine Legionellenpneumonie auf einer Station auftritt, sind unverzüglich gezielte Wasseruntersuchungen auf Legionellen erforderlich (ggf. Typisierung bei positivem Nachweis). Präventionsmaßnahmen müssen mit Krankenhaushygiene- und Technikabteilung abgestimmt werden.
5.7.4
Aufbereitung von medizinischem Instrumentarium
Die sichere Aufbereitung von medizinischem Instrumentarium gehört zu den unerlässlichen Standardhygienemaßnahmen [1, 10]. Hierzu wird besonders auf die einschlägigen Empfehlungen des Robert Koch-Instituts hingewiesen (www.rki.de). Diese sind mittlerweile in der Medizinprodukte-Betreiberverordnung verankert. Das Muster eines Reinigungs- und Desinfektionplans für eine Intensivstation ist in . Tab. 5.2 aufgeführt.
5.8
Unnötige Hygienemaßnahmen
Routinemäßige Abklatschuntersuchungen von Flächen oder Gegenständen zur Überprüfung der Effektivität von Reinigung oder Desinfektion, routinemäßige Personaluntersuchungen oder routinemäßige Luftkeimzahlbestimmungen auf Intensivstationen sind nicht zielführend, beanspruchen aber die knappen Ressourcen. Die wichtigsten unnötigen Hygienemaßnahmen im Intensivbereich sind im Folgenden zusammengestellt: 4 routinemäßige Abklatschuntersuchungen, 4 routinemäßige Personaluntersuchungen (z. B. Rachenabstriche), 4 routinemäßige Luftkeimzahlbestimmungen,
4 4 4 4 4 4 4 4 4
routinemäßige ungezielte Wasseruntersuchungen, UV-Lampen, Plastiküberschuhe oder spezielles Schuhwerk, routinemäßige Desinfektion von Waschbecken, Siphons, Gullis, Fußboden, Klebematten, Desinfektionsmatten, Wechsel der Beatmungsschläuche alle 48 h, Personal-, Material- und Geräteschleusen, Umkleiden bei Betreten oder Verlassen der Intensivstation, routinemäßig Kittel für Besucher.
5.9
Umweltschutz auf Intensivstationen
Mit Ausnahme von Spritzen und Nadeln ist bisher nicht nachgewiesen worden, dass die Verwendung von Einwegmaterial zu einer Senkung der Infektionsrate führt. Viele Einwegmaterialien (z. B. Beatmungsschläuche, Einwegabsaugsysteme) können durch Mehrwegmaterialien ersetzt werden. Einweggeschirr ist aus hygienischen Gründen überflüssig. Einige Einwegsysteme können wiederaufbereitet werden, z. B. Atemtrainer oder Sauerstoffmasken. Die Wiederaufbereitung von Einwegmaterialien ist in Deutschland gesetzlich nicht verboten, muss dann aber hohen hygienischen Standards genügen (www.rki. de). Geschlossene Trachealabsaugsysteme können 48–72 h verwendet werden. Infusionsbestecke müssen nicht häufiger als alle 72 h gewechselt werden, dadurch wird die Menge des Kunststoffabfalls deutlich reduziert (vorzugsweise PVC-freie Bestecke verwenden).
. Tab. 5.2 Muster eines Reinigungs- und Desinfektionsplans für die Intensivmedizin Was?
Wann?
Womit?
Wie?
Hygienische Händedesinfektion
z. B. vor Verbandswechsel, Injektionen, Blutabnahmen, Anlage von Blasenund Venenkathetern, nach Kontamination* (bei grober Verschmutzung vorher Hände waschen), nach Ausziehen der Handschuhe
Alkoholisches Händedesinfektionsmittel (farbund duftstofffrei)
Ausreichende Menge entnehmen, damit die Hände vollständig benetzt sind, gründlich verreiben bis Hände trocken sind (30 s); kein Wasser zugeben!
Händereinigung
Bei Betreten bzw. Verlassen des Arbeitsbereiches, nach Verschmutzung
Flüssigseife aus Spender
Hände waschen, mit Einmalhandtuch abtrocknen
Chirurgische Händedesinfektion
Vor operativen Eingriffen
Alkoholisches Händedesinfektionsmittel: saubere Hände und Unterarme (ggf. zuvor waschen; dabei Nägel und Nagelfalze nur bei Verschmutzung bürsten), anschließend Händedesinfektionsmittel präparateabhängig während 1,5-3 min portionsweise auf den Händen und anfangs auch den Unterarmen verreiben
Hautdesinfektion
Vor Punktionen, bei Verbandswechsel usw.
Alkoholisches Hautdesinfektionsmittel oder PVP-Jod/Alkohol-Lösung
Sprühen – wischen – sprühen (– wischen) Dauer: 30 s (s. Herstellerangabe)
Vor Anlage von intravasalen Kathetern
Alkoholisches Hautdesinfektionsmittel (vorzugsweise mit remanentem Wirkstoffzusatz: Octenidin) oder PVP-Jod/Alkohol
Mit sterilen Tupfern mehrmals auftragen und einreiben (wichtig: nicht nur sprühen) Dauer: 1 min (s. Herstellerangabe)
5
44
5
Kapitel 5 · Hygiene in der Intensivmedizin
. Tab. 5.2 Fortsetzung Was?
Wann?
Womit?
Hautdesinfektion (Forts.)
Vor invasiven Eingriffen mit besonderer Infektionsgefährdung (z. B. Gelenkpunktionen)
Alkoholisches Hautdesinfektionsmittel, ggf. mit remanentem Zusatz
Mit sterilen Tupfern mehrmals auftragen und einreiben (wichtig: nicht nur sprühen); Dauer: 3 min
5
Schleimhautdesinfektion
z. B. vor Anlage von Blasenkathetern
Octenidin-haltiges Schleimhautdesinfektionsmittel; oder PVP-Jodlösung ohne Alkohol
Unverdünnt auftragen; Dauer: 1 min
5
Instrumente
Nach Gebrauch
5 Reinigungs- und Desinfektionsautomat, verpacken, autoklavieren oder 5 in Instrumentenreiniger/-desinfektionsmittel (immer bei Verletzungsgefahr) einlegen und reinigen (ggf. Ultraschallbad), abspülen, trocknen, verpacken, autoklavieren
Standgefäß mit Kornzange
1-mal täglich
Reinigen, verpacken, autoklavieren (bei Verwendung kein Desinfektionsmittel in das Gefäß geben)
Trommeln
1-mal täglich nach Öffnen (Filter regelmäßig wechseln)
Reinigen, autoklavieren
Blutdruckmanschette Kunststoff
Nach Kontamination, nach Verschmutzung, nach jedem Patienten
5 Mit Flächendesinfektionsmittel bzw. Alkohol 70% abwischen, trocknen oder Reinigungs- und Desinfektionsautomat 5 In Instrumentenreiniger einlegen, abspülen, trocknen, autoklavieren oder Reinigungs- und Desinfektionsautomat
Stethoskop
Nach jedem Patienten
Alkohol 70%
Mundpflegeset
1-mal täglich
Tablett/Becher, Klemme
Nach jedem Gebrauch 1-mal täglich
Becher mit Gebrauchslösung
Nach jedem Gebrauch
5 5 5 5 5
Führungsstab
Nach Gebrauch
Reinigungs- und Desinfektionsautomat oder reinigen, verpacken, autoklavieren
5 Sauerstoffanfeuchter 5 Gasverteiler
Bei Patientenwechsel oder alle 48 h (ohne Aqua dest.)
Reinigungs- und Desinfektionsautomat oder reinigen, trocknen, autoklavieren
5
5 Wasserbehälter 5 Verbindungsschlauch
Alle 7 Tage
Reinigungs- und Desinfektionsautomat (Flowmeter mit Alkohol 70% abwischen)
5
Haarschneidemaschine
Nach Gebrauch
Mit Alkohol 70% abwischen
Scherkopf
Nach Gebrauch
Reinigen, in Alkohol 70% für 10 min einlegen, trocknen oder reinigen, autoklavieren (Pflegeöl benutzen)
Geräte, insbesondere Bedienungsknöpfe
1-mal pro Schicht
Flächendesinfektionsmittel
Abwischen
Mobiliar
Nach Kontamination
Flächendesinfektionsmittel
Abwischen
Kuhn-System, Beatmungsbeutel
Alle 24 h bzw. bei Patientenwechsel
Reinigungs- und Desinfektionsautomat
5
Laryngoskopgriff, Tubusklemme
Nach Gebrauch
Flächendesinfektionsmittel oder Alkohol 70%
5
Laryngoskop-spatel
Nach Gebrauch
Unter fließendem Wasser mit Bürste reinigen, trocknen, mit Alkohol 70% abwischen oder Reinigungs- und Desinfektionsautomat, zuvor Birne entfernen
5
Masken, Guedel-Tubus, Magill-Zange
Nach Gebrauch
Reinigungs- und Desinfektionsautomat oder in Instrumentenreiniger einlegen, abspülen, trocknen, verpacken, autoklavieren
5
Temperatursonden
Nach Gebrauch
Alkohol 70%
Notfallbeatmungsgerät (Schläuche, Ventil, Beutel etc.)
Nach Gebrauch
Mit Flächendesinfektionsmittel abwischen; Reinigungs- und Desinfektionsautomat
5 5
5 5 5 5 5 5 5 5 5
5 5 5
5 5
Wie?
Abwischen
Reinigungs- und Desinfektionsautomat, trocknen oder mit Alkohol 70% abwischen Mit Alkohol 70% abwischen Reinigungs- und Desinfektionsautomat oder in Instrumentenreiniger einlegen, trocknen, verpacken, autoklavieren Mit Alkohol 70% auswischen
Abwischen
Abwischen
45 5.9 · Umweltschutz auf Intensivstationen
. Tab. 5.2 Fortsetzung Was?
Wann?
Womit?
Wie?
Transducer und Kabel
Direkt vor und nach Gebrauch, bei jedem Systemwechsel
Flächendesinfektionsmittel oder Alkohol 70%
Kapnometrieschlauch und Adapter
Nach Gebrauch
Desinfektion oder autoklavieren
ICP-Kabel
Bei Systemwechsel
Mit Flächendesinfektionsmittel abwischen
ICP-Sonde
Nach Gebrauch
Mit Alkohol 70% abwischen, anschließend Niedrigtemperatursterilisation (z. B. Plasmasterilisation)
Pulsoxymetriekabel und Clip
Bei Patientenwechsel 1-mal täglich
Alkohol 70% oder Flächendesinfektionsmittel
Beatmungszubehör (z. B. Schläuche, Wasserfalle, Verneblertopf, Tubusadapter, Y-Stück)
Bei Patientenwechsel (bzw. vorher bei Verschmutzung)
Reinigungs- und Desinfektionsautomat
Absauggefäße inkl. Verschlussdeckel und Verbindungsschläuche
1-mal täglich oder bei Patientenwechsel
Reinigungs- und Desinfektionsautomat oder in Desinfektionsmittel einlegen, abspülen, trocknen
Waschbecken
1-mal täglich
Mit umweltfreundlichem Reiniger reinigen
Wasserstrahlregler
1-mal pro Woche
Reinigungs- und Desinfektionsautomat
Duschen
Nach Benutzung durch infizierte Patienten
Flächendesinfektionsmittel
Nach der Einwirkzeit mit Wasser nachspülen, trocknen
Fußboden
1-mal täglich
Umweltfreundlicher Reiniger
Hausübliches Reinigungssystem Wischen
Abwischen
Abwischen
Nach Kontamination*
Flächendesinfektionsmittel
Waschschüsseln
Nach Benutzung
Vorzugsweise maschinelle (thermische) Aufbereitung
Nagelbürsten
Nach Gebrauch
Reinigungs- und Desinfektionsautomat oder in Instrumentenreiniger einlegen, abspülen, autoklavieren
Steckbecken, Urinflaschen
Nach Gebrauch
Steckbeckenspülautomat
Abfall, bei dem Verletzungsgefahr besteht, z. B. Skalpelle, Kanülen
Direkt nach Gebrauch (bei Kanülen kein Recapping)
Entsorgung in durchstichsichere und fest verschließbare Kunststoffbehälter
* Kontamination: Kontakt mit (potenziell) infektiösem Material. Anmerkungen: Nach Kontamination mit potenziell infektiösem Material (z. B. Blut, Exsudaten oder Exkreten) immer sofort gezielte Desinfektion der Fläche. 5 Beim Umgang mit Desinfektionsmitteln immer mit (Haushalts-)Handschuhen arbeiten (Allergisierungspotenzial). 5 Ansetzen der Desinfektionsmittellösungen nur in kaltem Wasser (Vermeidung schleimhautreizender Dämpfe). 5 Anwendungskonzentration beachten. 5 Einwirkzeiten von Instrumentendesinfektionsmitteln einhalten. 5 Standzeiten von Instrumentendesinfektionsmitteln nach Herstellerangaben (wenn Desinfektionsmittel mit Reiniger angesetzt wird: täglich wechseln). 5 Zur Flächendesinfektion nicht sprühen, sondern wischen. 5 Nach Wischdesinfektion: Benutzung der Flächen möglich, sobald diese wieder trocken sind. 5 Benutzte, d. h. mit Blut etc. belastete Flächendesinfektionsmittellösung mindestens täglich wechseln. 5 Haltbarkeit einer unbenutzten dosierten Flächendesinfektionsmittellösung (z. B. 0,5%) in einem verschlossenen Behälter (z. B. Spritzflasche) nach Herstellerangaben (meist 14–28 Tage). 5 Reinigungs- und Desinfektionsautomat: mindestens 80°C, 10 min Haltezeit (ohne Desinfektionsmittelzusatz; A0-Wert=600).
5
46
5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5
Kapitel 5 · Hygiene in der Intensivmedizin
Literatur 1
Daschner F, Dettenkofer M, Frank U, Scherrer M (Hrsg) (2006) Praktische Krankenhaushygiene und Umweltschutz, 3. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York 2 Dettenkofer M, Wenzler S, Amthor S, Antes G, Motschall E, Daschner FD (2004) Does disinfection of environmental surfaces influence nosocomial infection rates? A systematic review. Am J Infect Control 32: 84–89 3 Gastmeier P, Sohr D, Schwab F, Behnke M, Zuschneid I, Brandt C, Dettenkofer M, Chaberny IF, Rüden H, Geffers C (2008). Ten years of KISS: the most important requirements for success. J Hosp Infect 70 Suppl 1:11–16 4 Grundmann H, Barwolff S, Tami A, Behnke M, Schwab F, Geffers C, Halle E, Gobel UB, Schiller R, Jonas D, Klare I, Weist K, Witte W, Beck-Beilecke K, Schumacher M, Ruden H, Gastmeier P (2005) How many infections are caused by patient-to-patient transmission in intensive care units? Crit Care Med 33: 946–951 5 Hübner J, Dettenkofer M, Kern WV (2005) Vancomycin-resistente Enterokokken. Dtsch Med Wochenschr 28: 130: 2463–2468 6 Livermore DM, Woodford N (2006) The beta-lactamase threat in Enterobacteriaceae, Pseudomonas and Acinetobacter. Trends Microbiol 14: 413–420 7 Mayhall CG (ed) (2004) Hospital epidemiology and infection control, 3rd edn. Lippincott Williams & Wilkins, Philadelphia Baltimore New York 8 Meyer E, Schwab F, Gastmeier P, Rueden H, Daschner FD (2006) Surveillance of antimicrobial use and antimicrobial resistance in german intensive care units (SARI): A summary of the data from 2001 through 2004. Infection 34: 303–309 9 Dettenkofer M, Utzolino S, Luft D., Lemmen S. Patienten mit multiresistenten Erregern: Wirksamkeit und Risiko von Isolierungsmaßnahmen bei »MRSA&Co.«. Zentralbl Chir 2010; 135: 124–128 10 Schulz-Stübner S, Hauer T, Dettenkofer M (2003) Aufbereitung von Medizinprodukten in der Anästhesiologie und Intensivmedizin. Anästhesiologie & Intensivmedizin 44: 442–446 11 WHO. Indikationen zur Händehygiene [www.who.int]
47
Transport kritisch kranker Patienten W. Wilhelm
6.1
Einleitung – 48
6.2
Transportrisiken – 48
6.2.1 6.2.2
Atmung/Beatmung – 48 Herz-Kreislauf-System – 48
6.3
Transportausrüstung – 48
6.3.1 6.3.2 6.3.3
Transportmonitor – 48 Transportbeatmungsgerät – 49 Notfalltasche – 49
6.4
Vorbereitung und Durchführung des Transports – 49
6.4.1 6.4.2 6.4.3 6.4.4 6.4.5
Personelle Voraussetzungen – 49 Vorbereitung des Patienten – 49 Überwachung während des Transports – 50 Einstellung des Transportbeatmungsgeräts – 50 Vorgehen in Sonderfällen – 50
6.5
Besonderheiten des Interhospitaltransports – 52
6.5.1 6.5.2
Transportmittel – 52 Vorbereitung und Durchführung – 52
Literatur – 52
H. Burchardi et al. (Hrsg.), Die Intensivmedizin, DOI 10.1007/978-3-642-16929-8_6, © Springer Medizin Verlag Berlin Heidelberg 2011,
6
6 6 6 6 6 6 6 6 6 6 6 6
48
Kapitel 6 · Transport kritisch kranker Patienten
6.1
Einleitung
Kritisch kranke Patienten müssen häufig transportiert werden: vom Schockraum zum OP oder zur Intensivstation, von der Intensivstation zum CT, in den OP, zur Koronarintervention oder auch – innerklinisch oder zwischen Kliniken – zu einer anderen Intensiveinheit. Dabei stellt jeder Transport ein Risiko dar, sodass vorher – insbesondere bei »Diagnostikfahrten« – immer eine Nutzen-RisikoAbwägung erfolgen muss. Manche postoperative Röntgenkontrolle kann verschoben werden, bis der Patient sich stabilisiert hat oder zumindest nicht mehr beatmet wird; große, schwere und teuere Diagnostikgeräte sollte man – wenn auch ungern – zum Intensivpatienten hinfahren. Schließlich werden auch kleinere operative Eingriffe nach entsprechender Abwägung besser ohne Transport auf der Intensivstation durchgeführt, hierzu gehört beispielsweise die perkutane Dilatationstracheotomie. Grundsätzlich gilt: »Der sicherste Transport kritisch kranker Patienten ist derjenige, der überhaupt nicht stattfindet«. Trotzdem sind viele Transporte unumgänglich und müssen manchmal sogar schnellstmöglich unter Notfallbedingungen erfolgen. Es ist daher empfehlenswert, alle Intensivtransporte standardisiert durchzuführen und die erforderliche Ausrüstung rund um die Uhr einsatzbereit vorzuhalten [4, 18]. Inzwischen gibt es dazu auch Expertenforen, Empfehlungen oder Richtlinien verschiedener Fachgesellschaften [1-3, 7, 18], die z. T. aber nur einen Minimalstandard definiert haben.
6.2
6 6
6.2.1
6
6 6 6 6 6 6 6 6 6
4 Wechsel des Beatmungsgeräts, evtl. auch des Beatmungsverfahrens 4 Hypoxie, Hypo- oder Hyperkapnie 4 Akzidentelle Atemwegsverlegung, Tubusdislokation oder Extubation 4 Akzidentelle Unterbrechung der kontinuierlichen Medikamentenzufuhr; bei Katecholaminen oder Vasodilatatoren krisenhafte Blutdruckschwankungen 4 Funktionsstörung von passagerem Herzschrittmacher oder intraaortaler Ballongegenpulsation (IABP) 4 Vorübergehender Mehrbedarf an Analgetika/Sedativa 4 Lagerungsänderungen: Unterbrechung der axialen Rotation bei Patienten mit schwerer Oxygenierungsstörung, Flachlagerung im CT bei Patienten mit erhöhtem intrakraniellem Druck 4 Akzidenteller Verlust von Kathetern und Drainagen, z. B. arterieller oder zentralvenöser Katheter, Hirndrucksonde, Thoraxdrainage etc. 4 Hypothermie 4 Transporttrauma durch Beschleunigung, Lärm, Vibration 4 Betriebsinterne Transportprobleme (Fahrstuhl, Wartezeiten) 4 Eingeschränkte Überwachungs- und Behandlungsbedingungen, insbesondere bei Umlagerungsmanövern
Atmung und Beatmung
Die Beatmung während des Transports erfolgt in der Regel nicht mit dem Intensivrespirator, sondern mit einem Transportbeatmungsgerät. Allein durch diesen Gerätewechsel und den anschließenden Transport kann es zu nachhaltigen Oxygenierungsstörungen kommen: So wurde in einer Untersuchung zum innerklinischen Transport beatmeter Intensivpatienten in nahezu der Hälfte der Fälle (43 %) eine signifikante Verschlechterung der Oxygenierung festgestellt, und bei immerhin 1/5 der Patienten wurden die Ausgangswerte erst wieder nach mehr als 24 h erreicht [19]. Zudem scheint der Transport beatmeter Patienten ein eigenständiger Risikofaktor für die Entwicklung einer »respiratorassoziierten« Pneumonie zu sein: In einer Untersuchung beatmeter Patienten verdreifachte der innerklinische Transport das Pneumonierisiko [5].
6.2.2
Risikofaktoren und Gefahren beim Transport von Intensivpatienten (mod. nach [11])
Transportrisiken
Die Hauptrisiken betreffen die Atmung bzw. Beatmung und das Herz-Kreislauf-System (gute Übersicht bei [15]). Hier können Störungen rasch und ohne Vorwarnung auftreten und dann sofort lebensbedrohlich werden. Hinzu kommt, dass es bei den meisten Transporten kurze Zeitabschnitte (z. B. beim Umlagern) gibt, in denen die Überwachung des Patienten trotz optimaler Geräteausstattung ausschließlich klinisch durchgeführt werden muss.
6
zunehmenden Veränderung physiologischer Parameter kam, u. a. bei 40 % zu einer Blutdruckveränderung von mindestens 20 mmHg; bei 21 % der Patienten änderte sich die Pulsfrequenz um mindestens 20 Schläge/min [13]. In einer Untersuchung einer chirurgischen Intensivstation kam es bei 12 von 203 (=6 %) Transporten zu schwerwiegenden Zwischenfällen, u. a. Herzstillstand (n=3), erheblichem Blutdruckabfall (n=2) und Hypoxämie (n=4); bei einem weiteren Patienten musste eine Thoraxdrainage eingelegt werden [17]. In einer aktuellen Untersuchung wurden bei 339 Intensivtransporten insgesamt 604 unerwartete Ereignisse registriert, von denen 30 als schwerwiegend klassifiziert wurden [16]. Folgende Zwischenfälle traten am häufigsten auf: 4 schwerwiegende Hypotonie, 4 Bewusstseinstrübung, die dann eine Intubation erforderte, 4 Anstieg des intrakraniellen Drucks.
Herz-Kreislauf-System
Auch Herz-Kreislauf-Störungen können jederzeit während eines Transports auftreten. Bei traumatologischen Intensivpatienten wurde berichtet, dass es bei über 2/3 (68 %) der transportierten Patienten zu einer ernst-
6.3
Transportausrüstung
Für den innerklinischen Intensivtransport ist folgende Basisausstattung erforderlich [7]: 4 Transportmonitor, 4 Transportbeatmungsgerät mit O2-Quelle, zur Sicherheit bei Ausfällen ein Handbeatmungsbeutel mit Reservoir, 4 eine Absaugeinheit, 4 Notfalltasche mit Medikamenten und Intubationsbesteck, 4 Defibrillator, sofern der Patient besonders gefährdet ist.
49 6.4 · Vorbereitung und Durchführung des Transports
6.3.1
Transportmonitor
Der Transportmonitor muss stabil gebaut, übersichtlich dimensioniert und bedienbar sein, einen beleuchteten, gut erkennbaren Bildschirm besitzen sowie über eine Akkulaufzeit von mindestens 2 h verfügen. Folgende Parameter müssen überwacht werden können: 4 EKG mit Herzfrequenz, 4 nichtinvasive Blutdruckmessung (mit verschiedenen Manschettengrößen), 4 invasive Druckmessung mit Darstellung der Druckkurve (für Blutdruck, ZVD, PAP, PCWP oder ICP), 4 Pulsoxymetrie (mit Pulsfrequenzangabe, optional mit Pulskurvendarstellung), 4 Kapnometrie (mit Darstellung der Kapnographiekurve) bei beatmeten Patienten.
6.3.2
Transportbeatmungsgerät
Ein Transportbeatmungsgerät sollte folgende Einstellmöglichkeiten bzw. Eigenschaften besitzen: 4 Atemfrequenz und Tidalvolumen bzw. Atemminutenvolumen, 4 Atemzeitverhältnis (I:E frei wählbar, zumindest aber 1:1 und 1:2), 4 FIO2 frei wählbar, 4 PEEP, 4 Beatmungsdruckanzeige, 4 akustischer und optischer Volumenmangel-, Stenose- und Diskonnektionsalarm. ! Cave Beim Einsatz der Transportbeatmungsgeräte müssen folgende Gefahren beachtet werden: 4 Alte Geräte besitzen keinen Diskonnektions- oder Volumenmangelalarm! 4 Die Beobachtung der Beatmungsdruckanzeige ist zwar hilfreich, beweist aber keine ausreichende Ventilation und kann bei einer Stenose im Bereich der Atemwege irreführend sein. 4 Alte Geräte sind O2-druckbetrieben. Ist kein O2-Druck mehr vorhanden (bei geschlossener oder vollständig entleerter O2-Flasche), stoppt die Beatmung bei einigen Geräten ohne Vorwarnung.
Daher ist gleichzeitig eine klinische Überwachung unbedingt erforderlich: Der Thorax hebt und senkt sich regelmäßig. Eine Überwachung mit Kapnometrie ist ideal, die Pulsoxymetrie reagiert erst verzögert bei beginnendem O2-Mangel. 6.3.3
Notfalltasche
Die Notfalltasche für innerklinische Transporte muss kein vollständig aufgerüsteter Notarztkoffer sein; es genügen vielmehr ein Basissatz Notfallmedikamente, einige Spritzen und Kanülen, ein Intubationsbesteck sowie ein Handbeatmungsbeutel mit Masken und Guedel-Tuben. Eine Vorschlagsliste zur Medikamentenausstattung findet sich in . Tab. 6.1.
. Tab. 6.1 Vorschlagsliste zur Medikamentenausstattung eines Notfallkoffers für innerklinische Transporte Notfallmedikamente
Sedativa/ Analgetika
Sonstiges
5 5 5 5 5 5
5 5 5 5
5 100 ml NaCl 0,9 % 5 100 ml NaHCO3 8,4 % 5 Nichtdepolarisierendes Muskelrelaxans (z. B. Rocuronium oder Cisatracurium)
6.4
Adrenalin Noradrenalin Atropin Akrinor Amiodaron Nitroglycerin
Midazolam Etomidat Propofol Ketamin
Vorbereitung und Durchführung des Transports
Geplante Intensivtransporte werden am besten während der Hauptarbeitszeit durchgeführt, wenn die Mitarbeiterzahl am höchsten ist. Dies gilt insbesondere für Transporte zu diagnostischen Zwecken, um Befunde sofort mit einem erfahrenen Untersucher »vor Ort« diskutieren und eventuelle Zusatzuntersuchungen anschließend ohne unnötigen Zweittransport durchführen zu können.
6.4.1
Personelle Voraussetzungen
Innerklinische Transporte beatmeter Intensivpatienten sollten immer von mindestens 2 Personen begleitet werden: einem Arzt und einer Pflegekraft (=Transportteam), beide mit intensivmedizinischer Qualifikation [7]. Der transportbegleitende Arzt sollte folgende Anforderungen erfüllen [20]: 4 Erfahrung in der Intensivmedizin, 4 Erfahrung in der Notfallmedizin, 4 Erfahrung in der Transportbegleitung, 4 Erfahrung im Atemwegsmanagement (Beutel-Masken-Beatmung, Intubation und alternative Verfahren). In der Regel wird das Transportteam den Patienten auch selbst auf der Intensivstation betreuen und ist über die individuellen Besonderheiten informiert. Ist der Patient dem Transportteam nicht bekannt, so wird eine kurze Übergabe durchgeführt. Hierbei muss auch eine Identitätssicherung des Patienten und der geplanten Maßnahme erfolgen. ! Cave Bei innerklinischen Transporten gilt: Persönlich unbekannte Patienten nie ohne vorhergehende Identitätssicherung transportieren! Dies gilt insbesondere bei Patienten, die zu einer Operation oder nach Hirntoddiagnostik zur Explantation begleitet werden sollen.
6.4.2
Vorbereitung des Patienten
Der ansprechbare Patient wird vor dem Transport entsprechend informiert, etwa 30‒45 min vor dem geplanten Untersuchungs- oder Operationstermin kann dann in Ruhe mit den Transportvorbereitungen begonnen werden.
Infusionen Prinzipiell sollten nur so viele Infusionen und Spritzenpumpen wie wirklich nötig am Patienten angeschlossen bleiben, um auch beim Umlagern möglichst übersichtlich arbeiten zu können. In der Re-
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50
6 6 6
Kapitel 6 · Transport kritisch kranker Patienten
gel reicht eine Infusionsflasche (meist eine Vollelektrolytlösung) an einem gut laufenden Venenzugang aus; hierüber können Medikamente rasch injiziert und eingespült werden. Infusionsflaschen mit parenteraler Ernährung oder Antibiotika werden nicht benötigt und sollten – um Inkompatibilitäten bei der Injektion anderer Medikamente zu vermeiden – gar nicht erst mitgeführt werden.
Beatmete Patienten Zusätzlich zu dem oben genannten Monitoring ist bei beatmeten Patienten eine weitergehende Überwachung erforderlich: 4 Beatmungsdruck mit Stenosealarm, 4 Volumenmangel- und Diskonnektionsalarm, 4 Kapnometrie (mit Kapnographiekurve).
Kreislaufwirksame Medikamente
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Katecholamine, Vasodilatatoren und evtl. Antiarrhythmika müssen selbstverständlich auch während des Transports infundiert werden. Hierfür sind Motorspritzenpumpen (»Perfusoren«) am besten geeignet, wobei die Spritzenzuleitung direkt an einen (zentralen) Venenkatheter angeschlossen sein sollte. Werden diese Medikamente über einen Y-Anschluss mit einer laufenden Infusion zugeführt, so müssen Infusionspausen (z. B. durch Ablegen der Flasche beim Transport) unbedingt vermieden werden. Schließlich muss auf ausreichend gefüllte Medikamentenspritzen geachtet werden: Ein Spritzenwechsel sollte noch vor Transportbeginn erfolgen, Ersatzspritzen werden mitgeführt.
Weitere Medikamente, insbesondere in Spritzenpumpen, sollten wegen der Transportübersichtlichkeit nur dann am Patienten angeschlossen bleiben, wenn 4 eine Unterbrechung der Infusion für die Transportdauer kontraindiziert ist, 4 eine Unterbrechung aufgrund der individuell erwarteten kurzen Wirkdauer problematisch wäre, 4 das Medikament im Bedarfsfall nicht ausreichend sicher als Bolus appliziert werden kann. So wird man bei analgosedierten Patienten für die Dauer des Transports häufig auf Fentanyl-/Midazolam-Bolusgaben wechseln und auf die Heparinbasisinfusion ganz verzichten können, andererseits wird eine therapeutische Heparinisierung meist weitergeführt. ! Cave Besondere Vorsicht ist geboten bei insulin- oder kaliumhaltigen Infusionen: Diese sollten (von seltenen Ausnahmefällen abgesehen) wegen der Hypoglykämieund Hyperkaliämiegefahr nicht auf dem Transport mitgeführt werden.
6.4.3
Überwachung während des Transports
6 6
Nicht beatmete Patienten
6 6 6 6
Einstellung des Transportbeatmungsgeräts
Bei der Einstellung des Transportbeatmungsgeräts wird die Einstellung des Intensivrespirators direkt übernommen. Ist dies nicht vollständig möglich, so sollte bei den folgenden Beatmungsparametern eine ähnliche Einstellung erreicht werden: 4 Atemfrequenz, 4 Tidalvolumen, 4 Atem-Zeit-Verhältnis, 4 PEEP (wichtig: immer einstellen!), 4 Beatmungsspitzendruck.
Andere Medikamente
Anschließend wird das Transportmonitoring angeschlossen, wobei sich der Überwachungsumfang an den nachfolgenden Empfehlungen orientieren sollte.
6
6.4.4
Für den Transport nicht beatmeter Intensivpatienten wird zur Überwachung folgender Minimalstandard empfohlen: 4 EKG mit Herzfrequenz, 4 Pulsoxymetrie, 4 nichtinvasive Blutdruckmessung. Ist eine arterielle Kanüle vorhanden, so wird auch eine direkte invasive Druckmessung empfohlen. In manchen Situationen ist es sinnvoll, eine invasive Druckmessung allein für den Transport und die geplante Intervention neu anzulegen.
Die Patienten werden beim Gerätewechsel anfänglich mit 100 % O2 beatmet. Dies scheint bei Erwachsenen auch für eine übliche Transportdauer akzeptabel zu sein und ist zudem mit einem gewissen Sicherheitsgewinn verbunden. Dauert die Intervention vermutlich länger (z. B. mehrstündige Operation, angiographische Intervention etc.), so wird der Intensivrespirator zusätzlich mitgeführt und z. B. im OP oder Angiographieraum über Wandanschlüsse wieder in Betrieb genommen.
Berechnung von O2-Vorrat und maximaler Betriebsdauer Vor dem Transport können O2-Vorrat und mögliche Betriebsdauer berechnet werden. Hierbei muss man berücksichtigen, dass aus Sicherheitsgründen in O2-Flaschen ein Restdruck von ca. 30 bar verbleiben sollte. Der minütliche Gasverbrauch der oben genannten Transportrespiratoren entspricht bei 100 %-O2-Beatmung der Summe aus Atemminutenvolumen plus 1 l/min »Betriebsgas«.
Berechnung des O2-Vorrats Nutzbarer O2-Vorrat = Volumen der O2-Flasche × (Flaschendruck – 30 bar Restdruck)
Beispiel: 3 l × (180–30 bar) = 450 l O2 Bei einem Atemminutenvolumen von 9 l/min entspricht dies einer sicheren Beatmungsdauer von 450 l/(9+1 l/min)=45 min. Durch Beatmung mit einer FIO2 = 0,5 (»Air Mix«) ließe sich die Beatmungsdauer in etwa verdoppeln.
Patienten mit schweren Oxygenierungsstörungen Sollen Patienten mit schwersten Oxygenierungsstörungen transportiert werden (z. B. CT-Diagnostik bei Polytrauma mit ARDS), so ist die Indikation hier besonders streng zu stellen. Für die Transportbeatmung sollte dann am besten ein akkubetriebener Intensivrespirator verwendet werden, der z. B. in eine Spezialtrage integriert oder selbst fahrbar ist. Diese Transporte sind technisch besonders anspruchsvoll und verlangen von allen Beteiligten eine exakte Planung und Durchführung.
51 6.4 · Vorbereitung und Durchführung des Transports
6.4.5
Vorgehen in Sonderfällen
Der Intensivpatient kann vor dem Transport an weiteren Diagnostik- oder Therapiegeräten angeschlossen sein. Hier wird folgendermaßen verfahren:
Pulmonalarterienkatheter Ein unbeabsichtigtes Vorschieben des Katheters beim Transport oder Umlagern kann Herzrhythmusstörungen auslösen oder sogar zu einer Pulmonalarterienruptur führen. Um dies zu vermeiden, wird der Pulmonalarterienkatheter vor dem Transport unter Monitorkontrolle zurückgezogen, ausgehend von der Wedge-Position ca. 2–5 cm, sodass die Katheterspitze dann in einem größeren Pulmonalarteriengefäß liegt. Anschließend wird der Katheter am Schleuseneingang fixiert und die Zentimetermarke notiert. Eine kontinuierliche PAP-Messung während des Transports ist m. E. im Routinefall nicht erforderlich, allerdings muss die Lage der Katheterspitze (z. B. während einer CT-Untersuchung) diskontinuierlich mit PAP-Messung überprüft werden. Während länger dauernder Interventionen oder Operationen wird eine kontinuierliche Druckmessung empfohlen, die Bestimmung des Wedgedrucks erfolgt nach Bedarf.
Intrakranielle Druckmessung Abhängig vom verwendeten Druckmesssystem ist eine kontinuierliche Überwachung des intrakraniellen Drucks (ICP) während des Transports gar nicht möglich. Das in der Übersicht dargestellte Vorgehen hat sich bei Patienten mit erhöhtem ICP bewährt.
Praxisempfehlungen zum Transport von Patienten mit erhöhtem intrakraniellen Druck 4 Vor Transportbeginn Analgosedierung vertiefen, dabei auf ausreichenden zerebralen Perfusionsdruck (CPP) achten 4 Gegebenenfalls für diese Phase zusätzliche Muskelrelaxierung erwägen (z. B. mit Cisatracurium oder Rocuronium) 4 Bei der Beatmungseinstellung Hyperkapnie vermeiden, ggf. vorübergehend milde Hyperventilation (bei Bedarf Blutgasanalyse) 4 Osmodiuretika bereithalten; falls schon im Routineplan enthalten, dann Applikation einer Dosis unmittelbar vor Transportbeginn 4 Transport mit erhöhtem Oberkörper, Kopf stabil in der Mittellinie gelagert 4 Bei Ankunft, z. B. im CT oder OP, sofort ICP-Messung wieder anschließen, Flachlagerung des Patienten möglichst vermeiden oder unter ICP-Kontrolle durchführen 4 Bei länger dauernden Interventionen Kontrolle der Beatmungseinstellung mit Kapnometrie und intermittierender Blutgasanalyse 4 Vorsicht bei intraventrikulärer Druckmessung mit Liquorableitung: System am besten für den Transport verschließen, um ein unbeabsichtigtes Leerlaufen zu verhindern; Öffnung der Liquordrainage nach Bedarf und ICP-Wert
Thoraxdrainage Thoraxdrainagen werden im Schockraum bei beatmeten Patienten häufig mit einem Gummilippenventil (sog. Heimlich-Ventil) versorgt. Dabei muss auf die seitenrichtige Ventilkonnektion geachtet
werden (diese ist auf dem Ventil als Bild dargestellt), anderenfalls kann sich ein Spannungspneumothorax entwickeln. Wird an das Heimlich-Ventil ein Sekretbeutel angeschlossen, so droht die gleiche Gefahr, wenn der Beutel nicht durch einen Scherenschnitt eröffnet wurde. Beim Intensivtransport müssen die Thoraxdrainagen auch während des Transports mit einem ausreichenden Sog versehen werden. Solange bei dem Patienten keine Luftleckage vorliegt, kann für kurze Transporte ein geschlossenes Dreikammersystem mit integrierter Sogkontrolle verwendet werden, anderenfalls muss eine akkubetriebene Saugpumpe an das Drainagesystem angeschlossen werden. Weiterhin ist Folgendes zu beachten: 4 Thoraxdrainage und Verbindungsschlauch vor Transportbeginn auf freie Durchgängigkeit prüfen, 4 Schläuche sicher befestigen, um ein unbemerktes Abknicken oder eine Diskonnektion zu verhindern, 4 Drainagesystem nicht über Patientenniveau anheben, um einen Rücklauf von Flüssigkeit zu vermeiden. ! Cave Auch bei korrekter Lage und Funktion der Thoraxdrainage kann sich während des Transports ein neuer Spannungspneumothorax ausbilden, der eine sofortige Entlastung erfordert!
Hämodialyse/Hämofiltration Bei Patienten, die ein Nierenersatzverfahren benötigen, sind folgende Besonderheiten zu beachten: 4 Nach intermittierender Hämodialyse: Volumenmangel, Elektrolytdysäquilibrium; daher vor Transportbeginn aktuelle Blutgas- und Elektrolytkontrolle durchführen und Volumenstatus abschätzen. 4 Bei kontinuierlichem Verfahren (z. B. CVVHD): Schlauchleitungen mit heparinhaltiger Kochsalzlösung (»Heparinschloss«) freispülen, Maschine in Stand-by-Modus, abhängig von der geplanten Intervention Heparinrestwirkung beachten!
Intraaortale Ballonpumpe (IABP) und »Assist Devices« Für den Transport von Patienten mit IABP wird die Hilfe einer weiteren Person empfohlen, die mit den typischen Problemen einer IABP und deren Lösung gut vertraut sein sollte; meist ist dies ein Kardiotechniker. Dies gilt insbesondere bei Patienten mit einem linksventrikulären oder biventrikulären »assist device« (LVAD/ BVAD) [15]. Der Transport selbst kann nur sehr langsam erfolgen und benötigt eine entsprechende Vorlaufzeit. Vor Transportbeginn muss Folgendes beachtet werden: 4 IABP-Katheter ausreichend fixieren, um eine Dislokation beim Transport (und insbesondere beim Umlagern) zu verhindern, 4 bei EKG-Triggerung: EKG-Elektroden auf sicheren Halt überprüfen, evtl. erneuern, 4 bei Drucktriggerung: Druckmessvorrichtung überprüfen, 4 Steuereinheit der IABP kontrollieren: Augmentationsstärke, Frequenz? Bei manchen IABP-Geräten ist eine korrekte Drucktriggerung bei erheblicher Hypotonie nicht möglich. Daher sollte für den Transport ein alternatives Triggerverfahren sofort verfügbar sein, am einfachsten das EKG. Der IABP-Betrieb kann während des Transports anhand der typischen arteriellen Druckkurvenveränderungen überwacht werden.
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52
Kapitel 6 · Transport kritisch kranker Patienten
6.5
Besonderheiten des Interhospitaltransports
Interhospitaltransporte zwischen Intensivstationen unterschiedlicher Versorgungsstufe finden in beiden Richtungen statt: Anfänglich werden die Patienten aufgrund der Schwere oder Besonderheit der Erkrankung von einer Intensiveinheit niedrigerer Versorgungsstufe in eine Spezialeinheit verlegt, nach abgeschlossener Behandlung wird dann möglicherweise auch ein Rücktransport durchgeführt. Prinzipiell muss davon ausgegangen werden, dass die Risiken beim Interhospitaltransport und beim innerklinischen Transport ähnlich sind, valide Untersuchungen sind allerdings nur unzureichend vorhanden [12]. In einer prospektiven niederländischen Studie wurden 100 konsekutive Interhospitalintensivtransporte untersucht. Dabei wurden bei 1/3 der Transporte Komplikationen beobachtet, wovon – nach Ansicht der Autoren – etwa 70 % hätten vermieden werden können [14]. Dies zeigt deutlich, dass der Transport von Intensivpatienten eine sorgfältige Planung durch das abgebende Krankenhaus und eine ebenso sorgfältige Durchführung erfordert!
6 6.5.1
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6 6
6.5.2
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6 6 6 6 6 6 6
In dem Arzt-Arzt-Gespräch müssen außerdem weitere Informationen abgefragt werden, die am besten auf einem speziellen Protokoll dokumentiert werden.
Intensivtransportprotokoll der DIVI [6, 10] 4 Verlegendes Krankenhaus: Station, behandelnder Arzt mit Telefon-, Fax-Nummer und evtl. E-Mail-Adresse 4 Aufnehmendes Krankenhaus: Station, behandelnder Arzt mit Telefon-, Fax-Nummer und evtl. E-Mail-Adresse 4 Patientendaten: Name, Alter, Gewicht, Größe 4 Erkrankung: Diagnosen und Operationen, Verlauf, aktueller Zustand 4 Intensivmedizinische Besonderheiten: – Gasaustausch und Beatmung – Hämodynamik inkl. Monitoring, kreislaufunterstützende Therapie (Katecholamine, IABP etc.) – Neurologie (Hirndruckmessung?) – Weitere Organdysfunktionen bzw. Organersatzverfahren – Laborwerte 4 Besonderheiten: Infektionsstatus, Speziallagerung etc. 4 Kostenträger mit Telefon-, Fax-Nummer und evtl. E-Mail-Adresse; Zusage der Kostenübernahme
Transportmittel
Für den Interhospitaltransfer werden speziell ausgerüstete Fahrzeuge (ITW = Intensivtransportwagen), Hubschrauber (ITH =Intensivtransporthubschrauber) oder Flächenflugzeuge (Ambulanz-Jet) vorgehalten, deren Alarmierung und Einsatzkoordination über die lokale Rettungsleitstelle (ITW, z. T. ITH) oder die bekannten Hilfsorganisationen (z. T. ITH, Ambulanz-Jet) erfolgt. Alle Fahr- und Flugzeuge müssen über die für den innerklinischen Transport dargestellten Überwachungs- und Behandlungsmöglichkeiten verfügen, zusätzlich muss ein moderner Intensivrespirator an Bord vorhanden sein. Die Deutsche interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) hat zu Konstruktion und Ausstattung eines ITW konkret Stellung genommen [8] und darüber hinaus Empfehlungen zur erforderlichen Qualifikation des begleitenden Arztes gemacht [9]. Der Einsatzradius wird etwa folgendermaßen angegeben: 4 ITW: bis 100 km oder 2 h Transportdauer, 4 ITH: 50–250 km, 4 Ambulanzjet: >250 km.
6
schnellstmöglich verfügbaren Rettungsmittel und mit Begleitung durch den verlegenden Arzt.
Die Übergabe des Patienten erfolgt auf der Intensivstation des verlegenden Krankenhauses, anschließend übernimmt das Transportteam die volle Verantwortung für den Patienten. Die Übergabe in der Zielklinik sollte ebenfalls an einen intensivmedizinisch erfahrenen Arzt erfolgen.
Literatur 1
2
3
Vorbereitung und Durchführung
Jeder Interhospitaltransport muss im Vorfeld exakt geplant werden; dazu ist unbedingt ein Arzt-Arzt-Gespräch erforderlich. Zuerst müssen zwei entscheidende Fragen beantwortet werden: 4 Warum soll der Patient verlegt werden? 4 Wie dringend ist der Transport? Hierbei sei betont, dass jede Transportindikation eine Einzelfallentscheidung darstellt, bei der Nutzen und Risiken für den Patienten individuell sorgfältig abgewogen werden müssen. Dementsprechend ist es nahezu unmöglich, von einem »nicht transportfähigen« Patienten zu sprechen, der erwartete Nutzen muss aber in jedem Fall das evtl. extrem hohe Risiko rechtfertigen! Weiterhin muss bei sehr dringlichen Einsätzen Folgendes beachtet werden: > Intensivtransporter sind keine Notfallverlegungsfahrzeuge. Muss ein Notfallpatient sofort in eine Spezialklinik gebracht werden, z. B. bei intrakranieller Blutung mit Einklemmungsgefahr, so erfolgt dies mit dem
4
5
6
7
8
Association of Anaesthetists of Great Britain and Ireland (2006) Recommendations for the Safe Transfer of Patients with Brain Injury [www.aagbi.org/publications/guidelines/docs/braininjury.pdf ] (Zugriff 30.04.2010) Association of Anaesthetists of Great Britain and Ireland (2009) AAGBI Safety Guideline Interhospital transfer. [www.aagbi.org/publications/ guidelines/docs/interhospital09.pdf ] (Zugriff 30.04.2010) Australasian College for Emergency Medicine, Australian and New Zealand College of Anaesthetists, Joint Faculty of Intensive Care Medicine (2003) Minimum standards for intrahospital transport of critically ill patients. [www.acem.org.au/media/policies_and_guidelines/min_stand_intrahosp_crit_ill.pdf ] (Zugriff 30.04.2010) Beckmann U, Gillies DM, Berenholtz SM, Wu AW, Pronovost P (2004) Incidents relating to the intra-hospital transfer of critically ill patients. An analysis of the reports submitted to the Australian Incident Monitoring Study in Intensive Care. Intens Care Med 30: 1579–1585 Bercault N, Wolf M, Runge I, Fleury JC, Boulain T (2005) Intrahospital transport of critically ill ventilated patients: a risk factor for ventilatorassociated pneumonia-a matched cohort study. Crit Care Med 33: 2471–2478 Deutsche interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin DIVI (2000) Intensivtransportprotokoll. [www.divi-org.de/fileadmin/pdfs/ notfallmedizin/intensiv.pdf ] (Zugriff 30.04.2010) Deutsche interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin DIVI (2004) Empfehlung der DIVI zum innerklinischen Transport kritisch kranker, erwachsener Patienten. [www.divi-org.de/fileadmin/pdfs/Intensivmedizin/Empfehlung_DIVI.pdf ] (Zugriff 30.04.2010) Deutsche interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin DIVI (2004) Stellungnahme der BAND und DIVI zur Konstruktion und
53 Literatur
9
10 11 12
13 14
15 16 17
18
19
20
Ausstattung von Intensivtransportwagen (ITW) [www.divi-org.de/ fileadmin/pdfs/notfallmedizin/Stellungnahme_ITW_6_12.pdf ] (Zugriff 30.04.2010) Deutsche interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin DIVI (2004) Zur ärztlichen Qualifikation bei Intensivtransport. [www.diviorg.de/fileadmin/pdfs/Intensivmedizin/spez_intensivtransport_2004. pdf ] (Zugriff 30.04.2010) Ellinger K, Denz C, Genzwürker H, Krieter H (2005) Intensivtransport. Deutscher Ärzte-Verlag, Köln Engelhardt W (1997) Innerklinische Transporte von Patienten mit erhöhtem intrakraniellen Druck. Anästh Intensivmed 38: 385 Fan E, MacDonald RD, Adhikari NKJ, Scales DC, Wax RS, Stewart TE, Ferguson ND (2006) Outcomes of interfacility critical care adult patient transport: a systematic review. Crit Care 10: R6–R12 Indeck M, Peterson S, Smith J, Brotman S (1988) Risk, cost, and benefit of transporting ICU patients for special studies. J Trauma 28: 1020–1025 Ligtenberg JJM, Arnold LG, Stienstra Y, van der Werf TS, Meertens JHJM, Tulleken JE, Zijlstra JG (2005) Quality of interhospital transport of critically ill patients: a prospective audit. Crit Care 9: R446–R451 Löw M, Jaschinski U (2009) Innerklinischer Transport des kritisch kranken Patienten. Anaesthesist 58: 95–108 Papson JP, Russel KL, Taylor DM (2007) Unexpected events during the intrahospital transportof critically ill patients. Acad Emerg Med 14:574–577 Szem JW, Hydo LJ, Fischer E, Kapur S, Klemperer J, Barie PS (1995) Highrisk intrahospital transport of critically ill patients: safety and outcome of the necessary »road trip«. Crit Care Med 23: 1660–1666 Warren J, Fromm RE Jr, Orr RA, Rotello LC, Horst HM; American College of Critical Care Medicine (2004) Guidelines for the inter- and intrahospital transport of critically ill patients. Crit Care Med 32: 256-2 Waydhas C, Schneck G, Duswald KH (1995) Deterioration of respiratory function after intra-hospital transport of critically ill surgical patients. Intens Care Med 21: 784–789 Wiese CHR, Bartels U, Fraatz W, Bahr J, Zausig YA, Quintel M, Graf BM (2008) Innerklinische Transporte von kritisch kranken Patienten: Eine besondere Herausforderung in der klinischen Versorgung. Anästh Intensivmed 49:125–133
6
55
Scores R. Lefering, E. Neugebauer
7.1
Was ist ein Score? – 56
7.2
Scores in der Intensivmedizin – 56
7.2.1 7.2.2 7.2.3
Zusammensetzung – 56 Spezifische vs. allgemeine Scores – 59 Einmalerhebung versus Verlaufsbeobachtung – 59
7.3
Ziele der Anwendung von Scores – 61
7.3.1 7.3.2 7.3.3 7.3.4 7.3.5
Schweregradklassifikation und Prognose – 61 Forschung – 61 Qualitätssicherung – 61 Ökonomie – 62 Ausbildung – 62
7.4
Entwicklung und Evaluation von Scores – 62
7.4.1 7.4.2 7.4.3
Experte plus Statistik – 62 Bewertung von Scores – 62 Sensitivität und Spezifität – 63
7.5
Grenzen und Gefahren – 64
7.5.1 7.5.2 7.5.3 7.5.4 7.5.5
Interpretation – 64 Therapieentscheidungen – 64 Therapieabbruch – 64 Starre Komponenten – 64 Aktualität – 65
Literatur– 65
H. Burchardi et al. (Hrsg.), Die Intensivmedizin, DOI 10.1007/978-3-642-16929-8_7, © Springer Medizin Verlag Berlin Heidelberg 2011,
7
7 7
56
Kapitel 7 · Scores
7.1
Was ist ein Score?
Der Begriff Score stammt aus dem Englischen und bedeutet übersetzt Punktzahl. Score
7
Ein Score ist der Versuch, eine komplexe klinische Situation auf einen eindimensionalen Punktwert abzubilden. Eine solche Reduktion verfolgt das Ziel, übergreifende Aspekte wie Schweregrad oder Prognose als Kombination einzelner Fakten objektiv zu fassen, um sie dann in unterschiedlichen Kollektiven vergleichend darstellen zu können.
7 7 7 7 7 7 7 7 7 7 7 7 7 7 7 7 7 7 7 7 7 7
Jeder Versuch, die individuelle Situation eines Patienten zu dokumentieren, stellt bereits eine Reduktion dar, denn sie beschreibt nur das, was wir heute messen können oder meinen, messen zu müssen. Jeder Laborwert, jede Röntgenaufnahme, jede Blutgasanalyse, jedes EKG ist ein kleines Stück Information, ein Mosaikstein im Zustandsbild des Patienten. Die Gesamtheit dieser Befunde und ihre Veränderung über die Zeit ist ein Versuch, diese Komplexität – in reduzierter Form – abzubilden.
Score bedeutet Reduktion Ein Score geht hier noch einen Schritt weiter. Er reduziert die vorliegenden Daten eines Patienten auf einen einzigen Wert, der sich als Punktsumme einzelner Faktoren ergibt, die aus Sicht von Experten oder aufgrund statistischer Datenanalysen als wesentliche Determinanten des Zustands eines Patienten angesehen werden (. Abb. 7.1). Der große Vorteil dieser Reduktion wird deutlich, wenn man den ersten in der Medizin publizierten Score, den 10-Punkte-Apgar-Score zur Beurteilung von Neugeborenen, betrachtet. Es ist der Versuch, eine komplexe Situation durch die Konzentration auf das »Wesentliche« überschaubar zu machen und damit eine vergleichende Betrachtung unter vielen Patienten erst zu ermöglichen. > Scores sind der Versuch, durch Reduktion auf das Wesentliche vergleichende Betrachtungen zu ermöglichen.
7.2
Scores in der Intensivmedizin
Die Intensivmedizin befasst sich mit schwerkranken Patienten, und nicht jeder Patient überlebt diesen kritischen Zustand, trotz massivem Einsatz von Medikamenten, technischen Hilfsmitteln und permanenter Überwachung. Das Ziel der Intensivtherapie ist letztlich das Überleben der Situation, die zur Einweisung auf die Intensivstation geführt hat, d. h. den Zustand des Patienten soweit zu stabilisieren oder zu normalisieren, dass er der Intensivtherapie nicht mehr bedarf. Es stellt sich bei jedem Intensivpatienten immer die Frage, wie weit er von diesen beiden Extremen, nämlich die Intensivstation lebend und stabil verlassen zu können oder zu sterben, entfernt ist. Scores sind ein Versuch, ein Ansatz, eine Möglichkeit, diesen Zustand zu quantifizieren. In . Tab. 7.1 sind einige in der Intensivmedizin häufig verwendete Scoresysteme beispielhaft zusammengestellt.
. Abb. 7.1 Ein Scorewert ist die Zusammenfassung unterschiedlicher Aspekte eines Patienten in einem einzigen Zahlenwert (oben). Der gleiche Scorewert kann daher aus vielen unterschiedlichen Situationen resultieren (unten)
7.2.1
Zusammensetzung
Ein Score ist immer die Kombination mehrerer Aspekte eines Krankheitsgeschehens, von denen jeder für sich im klassischen Sinne messbar ist, z. B. Blutdruck, Herzfrequenz oder Laborwerte. Zusätzlich zum aktuellen Zustand können auch Aspekte berücksichtigt werden, die der Patient anamnestisch (Alter, Vorerkrankungen) oder akut (Operation, Diagnose) mitbringt. Auch therapeutische Maßnahmen (z. B. Beatmungstherapie, Dialyse) können als indirekte Indikatoren für die Schwere der Erkrankung einbezogen werden. Ein Score wählt gewisse Aspekte aus, gewichtet sie mit Punkten und fügt diese durch Summation zu einem Gesamtwert zusammen. Auswahl und Gewichtung der Aspekte hängen von der Art und Weise der Scoreentwicklung und von der beabsichtigten Anwendung ab. In der Regel unterstützen heute statistische Analysen die von Experten initiierten Ansätze zur Entwicklung und Validierung von Scores.
Physiologische Scores Die Physiologie eines Patienten beschreibt das »Funktionieren« des Organismus. Jedes Organ hat eine Aufgabe zu erfüllen, und es wird an ausgewählten klinischen und Laborparametern erfasst, inwieweit ihm diese Aufgabe gelingt. Ein Beispiel für einen solchen physiologischen Score ist der SAPS II (. Tab. 7.2), bei dem für Werte in einem definierten Normbereich 0 Punkte vergeben werden, was
57 7.2 · Scores in der Intensivmedizin
. Tab. 7.1 Auswahl von in der Intensivmedizin gebräuchlichen Scoresystemen Score
Referenz, Jahr
Patienten
Zeitpunkt
Zusammensetzung Punktwerte
Summenwert*
Bemerkung
Allgemeine Schweregradklassifikation APACHE II Acute Physiology and Chronic Health Evaluation
[7] 1984
Intensiv allgemein
nach 24 h
12 physiologische Parameter, GCS, Alter, Vorerkrankungen
0–68*
Prognoseberechnungen mit zusätzlichen Koeffizienten für 50 Diagnosegruppen
APACHE III
[8] 1996
Intensiv allgemein
nach 24 h
18 physiologische Parameter, GCS, Alter, Vorerkrankungen
0–319*
Formeln für Prognose nicht frei verfügbar
APACHE IV
[25] 2006
Intensiv allgemein
nach 24 h
142 Variablen
?
Formel nicht publiziert; 116 Diagnosegruppen
SAPS II Simplified Acute Physiology Score
[13] 1993
Intensiv allgemein
nach 24 h
14 physiologische Parameter, GCS, Alter, Vorerkrankung
0–163*
Multicenterdatenbank aus USA/Europa
SAPS III
[16,17] 2006
Intensiv allgemein
nach 1 h
20 Parameter: Patient (5), Aufnahme (5), Physiologie (10)
0-217*
multinationale Datenbasis; mit Prognoseformel
TISS – Therapeutic Intervention Scoring System
[5] 1974
Intensiv allgemein
täglich
76 therapeutische und pflegerische Maßnahmen; je 1–4 Punkte
0–177*
Erste Version von 1974 [3] u. a. genutzt für ökonomische Analysen/Personalbedarf
TISS-28
[20] 1996
Intensiv allgemein
täglich
28 therapeutische und pflegerische Maßnahmen; je 1–8 Punkte
0–78*
Berechnet aus TISS; deutlich robuster und einfacher
NEMS Nine Equivalents of Nursing Manpower Use Scorer
[21] 1997
Intensiv allgemein
täglich
9 Maßnahmen-Bündel, je 3-12 Punkte
0–66*
Weitere Reduzierung des TISS-28
MOF – Multiple Organ Failure
[4] 1985
Intensiv allgemein
täglich
7 Organsysteme: Dysfunktion (1 Punkt), Versagen (2 Punkte)
0–14*
Basiert auf Expertenwissen; einfache Handhabung
MODS – Multiple Organ Dysfunction Score
[15] 1995
Intensiv allgemein
täglich
6 Organsysteme, je 0–4 Punkte
0–24*
Basiert auf Literaturstudien und Daten; keine therapeut. Maßnahmen
SOFA – Sequential Organ Failure Assessment
[24] 1996
Intensiv allgemein
täglich
6 Organsysteme, je 5 Stufen (0–4 Punkte)
LOD – Logistic Organ Dysfunction System
[14] 1993
Intensiv allgemein
nach 24 h
6 Organsysteme, bis zu 3 Stufen (0–5 Punkte) des Organversagens
0–22*
n=10.547 logistische Regression
Therapie und Pflege
Organversagenscores
Konsensuskonferenz; ursprünglich »sepsis related organ failure assessment«
Spezifische Scores (Auswahl) GCS – Glasgow Coma Scale
[22] 1974
Schädel-HirnTrauma
initial Verlauf
Augen öffnen, verbale und motorische Reaktion
3*–15
weltweit angewendet
ABSI – Abbreviated Burn Severity Index
[23] 1982
Patienten mit Verbrennungen
initial
Alter, Geschlecht, verbrannte Körperoberfläche, Inhalationstrauma
0–18*
Verfeinerung der bekannten Baux-Regel
Mit * sind jeweils die schlechtest möglichen Werte gekennzeichnet, die teilweise real nicht erreichbar sind. GCS = Glasgow Coma Scale.
7
58
7
Kapitel 7 · Scores
. Tab. 7.2 SAPS-II-Score, entwickelt an über 13.000 Intensivpatienten aus Nordamerika und Europa [13]. Maßgeblich sind die schlechtesten Werte (d. h. die höchste Punktzahl) in einem 24-h-Zeitraum nach Aufnahme auf die Intensivstation. Für Werte im Normalbereich werden keine Punkte vergeben
7
Punkte bei niedrigen Werten
»Normal«
Punkte bei hohen Werten
Ein externer Qualitätsvergleich ist ohne eine Form der risikoadjustierten Schweregradbeschreibung (z. B. mit Scores) nicht möglich.
Für die Intensivmedizin existieren eine Reihe von gut validierten Prognosescores, deren neuester der Simplified Acute Physiology Score 3 [7] (SAPS 3) ist (. Tab. 9.6). Dieser ist als »public domain« frei verfügbar. Alternativen sind der ältere SAPS 2 sowie der APACHE II und der APACHE III (kostenpflichtig). Für andere Ergebnisqualitäten können andere Schweregradadjustierungen erforderlich sein; nicht für alle Anwendungen sind diese vorhanden. Für den Ergebnisvergleich ist, neben dem eingangs erwähnten internen Längsschnittvergleich, der Vergleich mit den Ergebnissen anderer, vergleichbarer Intensivstationen von besonderem Interesse. Diese können, beispielsweise anhand publizierter Daten aus wissenschaftlichen Studien, als die möglicherweise »besten« erzielbaren Ergebnisse definiert werden. Dies hat den Nachteil, dass man sich mit Ergebnissen vergleicht, die zwar unter optimalen Bedingungen erreichbar sind (und zusätzlich einem Hawthorne-Effekt unterliegen können), aber unter artifiziellen Studienbedingungen und Patientenselektionierungen entstanden sind und damit auf typische Patientenkollektive nicht unbedingt sinnhaft zu übertragen sind. Auch ist eine Vergleichbarkeit in der Datenerfassung und Datenqualität meist nicht sichergestellt. Günstiger erscheint die Teilnahme an größeren Qualitätssicherungprojekten mit definierter Datenerfassung, einheitlichen Definitionen und vorgegebenen Qualitätsindikatoren. Hierzu gehören im deutschsprachigen Raum: 4 Nationales Register zur Qualitätssicherung in der Intensivmedizin der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensivmedizin (DIVI) [1] [www.divi-org.de], 4 Verein Österreichisches Zentrum für Dokumentation und Qualitätssicherung in der Intensivmedizin (ASDI) [6] [www. asdi.ac.at], 4 das Krankenhaus-Infektions-Surveillance-System (KISS) [3]: Modul ITS-KISS [www.nrz-hygiene.de],
4 das Qualitätsmanagement ITS der Landesärztekammer Thüringen [www.laek-thueringen.de], 4 Leapfrog Group (USA) [4]; [www.leapfroggroup.org]. Innerhalb Deutschlands wurde ein Kerndatensatz Intensivmedizin – Mindestinhalte der Dokumentation im Bereich der Intensivmedizin gemeinsam von der DIVI und der DGAI verabschiedet [1, 5, 8, 9]. Der Kerndatensatz der DIVI und DGAI umfasst Angaben zu demographischen Daten (Alter, Geschlecht), zur Herkunft (Aufenthaltsort vor Aufnahme auf die Intensivstation), zum Aufnahmegrund (Diagnose, Krankheitskategorie, Art der vitalen Störung). Weiterhin wird der Zustand zum Zeitpunkt der Aufnahme auf die Intensivstation (SAPS 2 und 3) erfasst. Diese Daten erlauben eine Risikostratifizierung der Patienten und erleichtern den Vergleich über die verschiedenen Intensivstationen hinweg. Die Beschreibung des Verlaufs während des Aufenthalts auf der Intensivstation wird durch eine tägliche Erfassung des SAPS 2, TISS und SOFA-Scores realisiert. Zu den erfassten Ergebnisvariablen gehören das Überleben, der Zustand bei Verlassen der Intensivstation und der Zielort der Verlegung sowie (fakultativ) der Barthel-Index. Damit ist es möglich, die Häufigkeit und ggf. der Dauer von Interventionen und Komplikationen auch unter Berücksichtigung der Patientencharakteristika und Ausgangssituation bei Aufnahme auf die Intensivstation vergleichend darzustellen. Eine der wichtigsten Analysen ist der Vergleich der erwarteten Sterblichkeit mit der tatsächlich beobachteten Letalität. Dieser wird ausgedrückt als SMR (»standardized mortality ratio«). Die SMR ist der Quotient aus beobachteter zu vorhergesagter Sterblichkeit. Ein Quotient von 1 ist entsprechend umgekehrt zu interpretieren. Zur Interpretation des Vergleichs ist die Definierung des angestrebten Ziels entscheidend. Allgemein gesprochen kann es ein Ziel sein, eine bestimmte Anforderung immer zu erfüllen, schlechte Ergebnisse zu vermeiden bzw. zu minimieren oder im Durchschnitt eine bestimmte Leistung zu erreichen (»benchmarking«). Die angestrebte Leistung kann der durchschnittlichen Leistung vergleichbarer Intensivstationen entsprechen oder sich an den Besten orientieren. Der Vergleich mit dem Durchschnitt kann dazu führen, dass zwar Problembereiche identifiziert werden können, nicht jedoch die Potenziale realisiert werden, die eine Spitzenleistung ermöglichen. Andererseits zeigt eine Leistung wie der Durchschnitt eine adäquate Qualität an. Ein unterdurchschnittliches Ergebnis oder ein Ergebnis, das nicht den eigenen Erwartungen oder Anforderungen entspricht, gibt Anlass, neben möglichen Strukturdefiziten auch die eigenen Prozesse zu untersuchen, um das Verbesserungspotenzial auszuschöpfen.
. Tab. 9.6 Parameter des Simplified Acute Physiology Score 3 (SAPS 3). (Mod. nach Moreno et al. [7]) Box 1
Box 2
Box 3
5 Alter 5 Komorbiditäten 5 Dauer des Krankenhausaufenthalts vor Aufnahme auf die Intensivstation 5 Krankenhausbereich, in dem sich der Patient vor Aufnahme auf die Intensivstation aufgehalten hat 5 Wesentliche Therapiemaßnahmen vor Aufnahme auf die Intensivstation
5 Geplante oder ungeplante Aufnahme auf die Intensivstation 5 Gründe für die Aufnahme (welche Organstörung?) 5 Chirurgischer Status 5 Anatomische Region des chirurgischen Eingriffs (falls zutreffend) 5 Akuter Infektionsstatus zum Zeitpunkt der Aufnahme auf die Intensivstation
5 5 5 5 5 5 5 5 5 5
Glasgow-Coma-Scale Gesamtbilirubin Körpertemperatur Kreatinin im Serum Herzfrequenz Leukozytenzahl pH-Wert Thrombozytenzahl Systolischer Blutdruck Oxygenierung
9
9 9 9 9 9 9 9 9 9 9 9 9 9 9 9 9
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Kapitel 9 · Ökonomie und Qualitätsmanagement
9.3
Ökonomie in der Intensivmedizin O. Mörer
Bis vor wenigen Jahren war der Behandlungsauftrag ausreichend. Heute werden auch Krankenhäuser nach wirtschaftlichen Grundprinzipien bewertet: »Der Ertrag muss den Aufwand rechtfertigen«. Die stetige Zunahme der Ausgaben im Gesundheitssystem gibt vor dem Hintergrund der sich verändernden demographischen Bevölkerungskonstellation aus volkswirtschaftlicher Sicht Anlass zur Sorge, ob wir uns eine Medizin nach heutigem Standard auch in Zukunft werden leisten können [1]. Bei dem Bestreben, die Kosten im Gesundheitssystem zu reduzieren, gerät auch die Intensivmedizin zunehmend in den Fokus [2]. In Deutschland werden pro Jahr ca. 63,2 Mrd. Euro für die Krankenhäuser ausgegeben [3]. Davon entfallen ca. 13 % für die intensivstationäre Behandlung [4]. In Krankenhäusern der Maximalversorgung werden für die Intensivstationen bis zu 20 % des Gesamtetats aufgewendet, obwohl nur ca. 5 % aller Krankenhauspatienten in diesem Bereich behandelt werden [5, 6]. Sie gehören, neben den Operationseinheiten, zu den kostenintensivsten Abteilungen einer Klinik. Diese Tatsache allein ist allerdings zunächst wertneutral, da eine Beurteilung der Kosten nur vor dem Hintergrund der Erlöse sinnvoll erscheint. Auch die Perspektive ist zu bedenken. Was sich aus gesamtgesellschaftlicher, volkswirtschaftlicher Perspektive als problematisch darstellt, kann gleichzeitig aus betriebswirtschaftlicher Sicht eines Krankenhauses hochrentabel sein. Es lässt sich allerdings konstatieren, dass in einem so kostenintensivem Teilbereich der Medizin eine kritische Auseinandersetzung mit ökonomischen Aspekten dringend geboten ist, damit die zur Verfügung stehenden Ressourcen sinnvoll eingesetzt werden. Nur so kann sichergestellt werden, dass sich auch in Zukunft eine Intensivtherapie auf hohem Niveau rechtfertigen lässt. Eine Zuordnung und Berechnung der Kosten im Bereich der Intensivmedizin ist nur exakt möglich, wenn die erbrachten Leistungen und verbrauchten Ressourcen patientenindividuell erfasst werden. Die Verantwortung für die Leistungserfassung sollte idealerweise am Ort der Leistungserbringung »online« erfolgen. Sie ist primär unabhängig von ihrer Verrechenbarkeit. Eine umfassende Leistungserfassung wird mit Implementierung von computerisierten Patientendatenmanagementsystemen in der Intensivmedizin zunehmend realisierbar.
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9.3.1
Kosten- und Leistungserfassung
Unter dem betriebswirtschaftlichen Begriff »Kosten« wird der bewertete Verbrauch von Gütern und Dienstleistungen in einer Periode zum Zwecke der Leistungserstellung verstanden [7]. Die Beurteilung von erbrachter Leistungen und der entstandenen Kosten ist extrem von der Perspektive des Betrachters abhängig. Dies kann im Bereich der Medizin z. B. die Gesellschaft, der Kostenträger, das Krankenhaus, die Intensivstation oder der einzelne Patient sein. > Die Beurteilung von Kosten ist nur unter Berücksichtigung der Perspektive des Untersuchers möglich.
Bei den Kosten muss genau berücksichtigt werden, worauf sich die Kostenbelastung bezieht. So sind Kosten für das Krankenhaus solche, für die das Krankenhaus belastet wird. Diese sind zu unterscheiden von Preisen (z. B. Preis eines Arzneimittels nach der Roten Liste), vom Budget (d. h, die finanzielle Haushaltsmittelzuteilung für eine Betriebseinheit), von Fallpauschalen bzw. Sonderentgelten (die von den Kassen als Entgelt für die Krankenhausleistung gezahlt
werden und von dem Krankenhaus als Einnahmen verbucht werden). Im Allgemeinen sind die realen Kosten einer Intensivbehandlung unbekannt. Dabei lässt sich eine Kostenberechnung anhand der Gesamtaufwendungen des Krankenhauses durch anteilige Berechnung von oben nach unten (,,top-down«) seitens der Krankenhausverwaltung durchführen. Eine derartige Kostenstellenrechnung gibt ausreichend Informationen darüber, welche Kosten im Bereich der Intensivmedizin entstanden sind. Stellt man diesen Berechnungen beispielsweise den anteiligen DRG-Erlös für Intensivmedizin gegenüber, lässt sich berechnen, ob die Intensivstation kostendeckend arbeitet. Eine Schätzung des indirekten Kostenanteils (Kosten, die der Intensivstation nicht direkt zuzuordnen sind) kann nur aus den laufenden Kosten des Gesamtbetriebs ermittelt werden. Der jeweilige Anteil für eine Betriebseinheit kann dann entweder gleichgewichtig proportional (etwa nach der Bettenzahl, der Raumnutzung oder der Pflegetage) oder aber ungleichgewichtig (etwa nach einem speziell ermittelten, aufwandsangepassten Proportionalitätsfaktor) verteilt werden. Eine auf die Abteilung oder Kostenstelle bezogene differenzierte Kostenartenrechnung (Aufgliederung nach Personalkosten, Material- oder Sachkosten, Fremdleistungskosten) muss bezüglich ihrer Inhalte genau definiert sein. Eine Zusammenfassung in verschiedene Kostenarten oder Kostenblöcke [8], wie etwa in Kosten für Personal, medizinische Verbrauchsgüter, klinische Hilfsdienste, nichtklinische Hilfsdienste, Einrichtungen und Immobilie, erleichtert hierbei die weitere Analyse. Je nach angestrebtem Ziel und Perspektive der Datenerhebung kann eine derartige Kostenerfassung durchaus sinnvoll sein, sie birgt aus intensivmedizinischer Sicht jedoch folgende Probleme: 4 ausschließlich retrospektiv, 4 Erfassung der Kosten einer größeren Betriebseinheit, 4 individuelle Zuordnung zu einzelnen Diagnosen, Prozeduren oder Patienten nahezu unmöglich, 4 keine sinnvolle Handhabe für Kostenersparnis. Die Kosten für die verschiedenen Behandlungsmaßnahmen im Zusammenhang mit verschiedenen Diagnosen oder gar die Ausgaben für einen individuellen Patienten können jedoch in der Regel nicht ermittelt werden. Bislang waren selbst einfachste Voraussetzungen für eine Kostenerfassung in der Intensivmedizin nicht selbstverständlich: In einer Untersuchung in 88 Intensivstationen aus 12 europäischen Ländern (EURICUS) [9] stellte sich heraus, dass nur 14 Stationen über ein eigenes Kostenerfassungssystem verfügten und nur 38 Stationsleiter eine gewisse Vorstellung über die Kosten pro Behandlungstag für ihre Station hatten [10]. Eine heute durchgeführte Umfrage wird sehr wahrscheinlich ein verändertes Kostenbewusstsein zeigen. Die Frage etwa, warum im vergangenen Jahr das Budget der Betriebseinheit überschritten worden ist, kann mit dem Top-downVerfahren nicht beantwortet werden. Auch die Frage, ob die Behandlung einzelner DRGs kostendeckend möglich ist oder defizitär, bleibt unbeantwortet. Diese Frage kann nur z. B. aus etwaigen Änderungen von Behandlungsverfahren oder der geänderten Patientenanzahl bzw. -diagnosen geschätzt werden. So lassen sich nur selten die notwendigen Konsequenzen für eine Therapieoptimierung oder für einen rationelleren Einsatz beschränkter Ressourcen entwickeln [11]. Demgegenüber ist mittels detaillierter Kostenträgerrechnung durch Anwendung eines Bottom-up-Verfahrens eine direkte Erfassung der Aufwendungen am individuellen Patienten möglich [12], allerdings wesentlich aufwendiger. Sie ermöglicht eine detaillierte
85 9.3 · Ökonomie in der Intensivmedizin
patientenbezogene Analyse der Therapiekosten. In der Intensivmedizin lässt sich dieses Verfahren nur durch eine automatisierte Erfassung über ein integriertes Patientendatenerfassungssystem (»patient data management system« – PDMS) verwirklichen [13]. Der Vorteil liegt in der permanenten Verfügbarkeit und dem – auf lange Sicht – geringeren personellen Aufwand, eine wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung rationaler und ökonomischer Therapiekonzepte. Doch auch bei bettseitiger Erfassung der direkten Kosten lassen sich die indirekten, übergeordneten Kosten (Overhead) nur mit dem Top-down-Verfahren ermitteln, was aufgrund der Stabilität dieser Kosten über einen längeren Zeitraum hinweg jedoch vertretbar erscheint.
Erfassung des Personalaufwands Ein Großteil der Kosten der Intensivtherapie sind Personalkosten (7 unten). Da der personelle Aufwand für den einzelnen Patienten vom Krankheitsbild und dem aktuellen Krankheitsschweregrad abhängig ist, ist eine fallbezogene Erfassung der erbrachten Leistung sinnvoll. Sie ist die Voraussetzung für die Berechnung des Personalbedarfs einer Intensivstation. Bisher bilden die einzelnen in der Intensivmedizin tätigen Berufsgruppen ihre Leistungen in unterschiedlichem Maße ab. So hat sich die patientengenaue Darstellung der Pflegeleistung in den letzten Jahren zunehmend etabliert, da die Anwendung allgemeiner Pflegeschlüssel (7 Kap. 10) den Belastungen einer Intensivstation nicht gerecht wird. Die Arbeitsbelastung kann schon innerhalb eines Krankenhauses erheblich variieren, und es gibt deutliche diagnosebezogene Unterschiede im Pflegeaufwand. Bei polytraumatisierten Patienten liegt die Pflegezeit mit im Mittel 924 min deutlich höher als für einen internistischen Patienten mit Herzinfarkt (819 min) [14]. Trotzdem lässt die medizinische Diagnose keine zuverlässigen Rückschlüsse auf den Pflegeaufwand zu [14]. Es gibt verschiedene Erfassungssysteme, mit denen anhand von gemittelten Zeiten oder Aufwandspunkten der Aufwand berechnet werden kann, der sich dann wiederum in Personalkosten umrechnen lässt. Neben international etablierten Scoring-Systemen wie dem TISS-28 (Therapeutic Interventions Scoring System-28) [15] oder NEMS [16] stehen weitere Pflegezeiterfassungsmodelle für die Ermittlung und Festlegung des Pflegeaufwands zur Verfügung. Hierbei ist LEP (LEP = Leistungserfassung in der Pflege) [17] das am weitesten verbreitete und validierte Instrument. Während es also im Pflegebereich seit Jahren Bestrebungen gibt, die erbrachten Leistungen jedem Patienten individuell zugeordnet »bottom up« zu dokumentieren, werden ärztlich Leistungen in der Regel über den Personalschlüssel auf die Anzahl der im beobachteten Zeitraum behandelten Patienten bzw. Gesamtliegetage »top down« heruntergerechnet. Dies liegt sicherlich nicht zuletzt daran, dass eine patientennahe Leistungserfassung pflegerischer Maßnahmen aufgrund der begrenzten Anzahl betreuter Patienten pro Pflegekraft insgesamt einfacher ist als beim ärztlichen Personal, das einen nicht geringen Anteil der dem Patienten zuzuordnenden Tätigkeiten (Beurteilung von Röntgenbildern, Laborwerten und Untersuchungsbefunden) nicht direkt am Patientenbett erbringt. Trotz höherer Ungenauigkeiten ist aber auch eine patientengenaue ärztliche Leistungserfassung denkbar. Flexible Arbeitszeitmodelle, ein Pool von Pflegekräften und Ärzten, die in Abhängigkeit vom jeweiligen Aufwand zugeordnet werden können, sowie die Anpassung der Personalschlüssel an den wahren Arbeitsaufwand sind Möglichkeiten, die sich aus der Beschreibung des Personalaufwandes ableiten lassen. Ohne derartige Konzepte bleiben Personalkosten »indirekte Kosten«, da das Personal unabhängig von der aktuellen Beschäftigungssituation ohnehin
vorhanden ist. So wird man die gesamten Personalkosten als tatsächliche Jahreskosten (inkl. Überstunden) erfassen und diese dann etwa als Aufwand pro Behandlungstag errechnen.
Kosten der Intensivbehandlung Die Intensivmedizin repräsentiert den kostenintensivsten Bereich eines Krankenhauses [5], in dem zwischen 5–20 % der Gesamtkosten entstehen [5, 6]. Mit zwischen 45 und 65 % fallen die Hauptausgaben auf die Personalkosten [18–21]. Eigene Daten aus einer Untersuchung in 51 deutschen Intensivstationen zeigten, dass die Personalkosten im Mittel ca. 56 % der Tageskosten ausmachen [20]. Je nach personeller Besetzung der Intensivstation können die Kosten damit erheblich variieren, was sich auch in den unterschiedlichen Kosten von Intensivstationen in Krankenhäusern der verschiedenen Versorgungsstufen niederschlägt, da sich gerade in kleinen Krankenhäusern eine 24-stündige ärztlichen Präsenz häufig kaum realisieren lässt, wohingegen sie z. B. in Krankenhäusern der Maximalversorgung die Regel sein dürfte. Neben den Personalkosten stellen medizinische Sachkosten (18 %) und Infrastrukturkosten (16 %) die größten Kostenfaktoren dar [19]. Unabhängig von den Personalkosten sind Intensivpatienten allerdings kein kostenhomogenes Patientengut. Es gibt enorme Unterschiede in den Gesamtkosten, und selbst bei jedem einzelnen Patienten schwanken die Tageskosten abhängig vom Krankheitsverlauf erheblich [11]. Neben den Personalkosten wird die Höhe der direkten Therapiekosten von der zugrunde liegenden Erkrankung (Aufnahmegrund, Diagnose, internistisch oder chirurgisch) [22], dem Krankheitsschweregrad [23], der Notwendigkeit invasiver Prozeduren (mechanische Beatmung, Hämofiltration), dem Auftreten von Infektionen und einigen weiteren Faktoren beeinflusst [20, 24, 25]. Die Tageskosten auf der Intensivstation wurden kürzlich mit 1.265 Euro berechnet [19]. Bei beatmungspflichtigen Patienten sind die Kosten deutlich höher, das Gleiche gilt für notfallchirurgische oder polytraumatisierte Patienten. Oye u. Belamy fanden, dass ein relativ kleiner Anteil (8 %) der kostenintensiven Patienten nahezu 50 % der gesamten Ressourcen verbraucht [26]. In der Gruppe der langliegenden (> 20 Tage) und damit teuersten Patienten haben um 80 % eine schwere Infektion bzw. eine Sepsis [25]. Eigene Untersuchung zeigten, dass ein kleine Gruppe von Patienten (3 %) mit langer Verweildauer (>20 Tage) ca. 23 % der Gesamtausgaben der Intensivstation verursacht [24]. Diese Ergebnisse unterstreichen den exponentiellen Anstieg der Kosten mit Auftreten schwerwiegender Komplikationen wie der schweren Sepsis. In einer Studie an 3 deutschen Universitätskliniken lagen die Gesamtkosten für die Intensivtherapie für schwere Sepsisfälle bei 23.297 Euro pro Patient [25].
9.3.2
Erstattung der Kosten
In Deutschland wird, wie in vielen anderen Ländern auch, der Krankenhausaufenthalt mittlerweile mittels Fallpauschalen oder DRG-(«Diagnose-related-group”) vergütet. DRGs sind diagnosebezogene Fallgruppen, die zur ökonomisch-medizinischen Klassifikation von Patienten verwendet werden [27]. Auf der Grundlage von Hauptdiagnosen, Nebendiagnosen und Prozeduren wird unter Berücksichtigung des klinischen Schweregrades jeder behandelte Fall definiert und vergütet. Das deutsche DRG-System wurde zunächst auf der Grundlage des Klassifikationssystems aus Australien (sog. AR-DRG, Version 4.1) entwickelt und seit der Einführung kontinuierlich modifiziert. Das Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus (InEK) sammelt die erforderlichen Daten zur Kalkulation der Fallpauschalenvergütung und wertet sie aus. Auf der Basis dieser Daten wird das DRG-System angepasst [28].
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Kapitel 9 · Ökonomie und Qualitätsmanagement
Ein Vergütungssystem nach DRG ist nicht darauf angelegt, den Aufwand für den Einzelfall sachgerecht abzubilden. Vielmehr soll der durchschnittliche Aufwand für den jeweiligen Patientenmix einer Abteilung bzw. eines Krankenhauses innerhalb eines Zeitraums möglichst sachgerecht vergütet werden. Es ist also ein krankenhausökonomisches und nicht ein medizinisch-wissenschaftliches Wertesystem. Daher muss eine DRG möglichst kostenhomogen definiert sein, damit es nicht zwischen verschiedenen Krankenhäusern durch Selektion von unterschiedlicher Patientenauswahl (Auswahl »günstigerer« Fälle) zu unfairen Vergütungsverteilungen kommen kann. Das Fallpauschalensystem soll ein lernendes System sein und bleiben. So wurden nach den ersten Erfahrungen mit der G-DRGVersion erhebliche Änderungen erforderlich, die in jeweils neuen Fassungen Eingang fanden. Eine detaillierte Würdigung der DRGSystematik für den Bereich Intensivmedizin würde den Rahmen dieses Buchkapitels sprengen, deshalb sei an dieser Stelle auf die einschlägige Literatur verwiesen [29–32]. Eine Aktualisierung der DRG-Systematik durch die Spitzenverbände der Selbstverwaltung mit überarbeitetem Fallpauschalenkatalog inklusive aller Anlagen, wie Abrechnungsbestimmungen, den Zusatzentgeltkatalog, den Katalog bisher nicht mit den DRG-Fallpauschalen vergüteter Leistungen, wird jeweils für das kommende Jahr auf den Seiten des InEK www.g-drg.de veröffentlicht [28] und sind dort nachzulesen. Grundsätzlich stellt die Intensivmedizin das DRG-System vor besondere Aufgaben [24, 33]. Obschon für jeden Behandlungsfall anteilig eine Intensivpauschale vorgesehen ist, die sich nach der Wahrscheinlichkeit für einen notwendigen intensivstationären Aufenthalt und dem erforderlichen Aufwand richtet, kann dieses pauschale Vergütungskonzept zu einer deutlichen Unterfinanzierung führen. Seit Einführung des DRG-Abrechnungssystems wurde verschiedentlich die resultierende Kostenerstattung für Intensivpatienten untersucht und festgestellt, dass einzelne Patientenkollektive nicht kostendeckend zu behandeln sind [33–36]. Die ungenügende Berücksichtigung intensivmedizinischer Leistungen hätte zu einer deutlichen Unterfinanzierung geführt, insbesondere bei Patienten mit langer Liegedauer, aber auch bei Patienten, die besonders ressourcenintensiv sind, wie z. B. polytraumatisierte oder septische Patienten. Diese Problematik wurde erkannt und daher für die Intensivmedizin eine Reihe von Änderungen durchgeführt, die darauf abzielten, eine leistungsgerechte Vergütung zu realisieren. Im Wesentlichen wird die bei intensivpflichtigen Patienten notwendige Therapie von Organsystemen, die häufig losgelöst ist von der eigentlichen Krankenhausaufnahmediagnose, stärker gewichtet. Die Fallschwere wurde in der Anfangsphase im Wesentlichen über die Beatmungsdauer definiert und im Verlauf weiter ausdifferenziert. Ihr hoher Stellenwert wurde teilweise zugunsten einer Schweregradabstufung mittels aufwands- und krankheitsschwerebasierten Scores (Aufwandspunkte nach TISS-10 und SAPS 2, ohne Glasgow Coma Scale) korrigiert, der intensivmedizinischen Komplexbehandlung. Allerdings kann diese Leistungsziffer nur bei erfüllter Strukturvoraussetzungen (z. B. 24-stündige ärztliche Präsenz) kodiert werden. Eine weitere Verbesserung der Abbildung der Intensivmedizin wurde mit der Funktion Komplizierende Konstellationen und Prozeduren sowie der Definition von Zusatzentgelten erreicht. Zusatzentgelte (ZE) dienen dazu, die Kosten einzelner etablierter hochpreisiger Medikamente und kostenintensiver Verfahren und Prozeduren zu erstatten. Darüber hinaus erfolgt die Vergütung neuer Untersuchungsund Behandlungsmethoden, die mit den Fallpauschalen und Zusatzentgelten noch nicht sachgerecht vergütet werden können, den sogenannten NUB-Leistungen. Die Berücksichtigung eines Medikamentes oder Verfahrens als NUB kann beantragt werden.
> Wesentlich für eine sachgerechte Vergütung ist: 5 eine gute medizinische Dokumentation, 5 eine hohe Kodierqualität. Sie bestimmen letztlich die gesamte Leistungsvergütung des Krankenhauses.
Zuordnung der Erlöse intensivmedizinischer Leistungen Durch Einführung der neuen Steuerungselemente (Zusatzengelte, NUB) und der Komplexbehandlung bildet das DRG-System intensivmedizinische Leistungen deutlich genauer ab, allerdings ist damit noch nicht die Frage beantwortet, wie die Leistungen krankenhausintern zugeordnet werden. Mit der Einführung der DRGs haben sich die Bemühungen, eine krankenhausinterne (innerbetriebliche) Leistungsverrechnung zu etablieren, verstärkt [37, 38]. Gerade die Intensivmedizin stellt eine multidisziplinäre Schnittstelle eines Krankenhauses dar. Neben der die Station führenden Abteilung sind an der Behandlung der Patienten in der Regel mehrere Abteilungen beteiligt. Grundsätzliche Verbesserungen des DRG-Systems führen nur dann zur leistungsgerechten Vergütung der Intensivmedizin, wenn die Erlöse auch richtig zugeordnet werden. Das intensivstationäre Budget kann durch Zuordnung des intensivmedizinischen DRG-Anteils jedes behandelten Falls generiert werden. In alternativen Modellen wird nur der auf der Intensivstation behandelte Fall herangezogen und z. B. mit einem zusätzlichen liegedauerabhängigen Abschlag aus dem Gesamterlös für die Intensivstation versehen. Letzteres Modell setzt möglicherweise positive Anreize für die behandelnde Fachabteilung und unterstützt das Konzept einer leistungsbezogenen Vergütung. Aufgrund der relativ starken Gewichtung von Zusatzentgelten (ZE) im Bereich der Intensivmedizin müssen die dort generierten ZE (und NUB) der Intensivmedizin zugeschlagen werden, damit keine Deckungslücke entsteht. Wird das ZE beispielsweise der entlassenden Abteilung zugebucht, kann dies erhebliche Probleme verursachen, da die Intensivmedizin zwar häufig die ZE generiert, Patienten aber nur selten direkt von der Intensivstation entlassen werden. Die Zuordnung der ZE entsprechend der erbrachten Menge und Therapiedauer spiegelt die tatsächlichen Kostenanteile am besten wider [38].
9.3.3
Konzepte zur Kostenersparnis
Der derzeitige Kostendruck zwingt uns, alle Möglichkeiten einer Kostenersparnis auszunutzen, die mit guter Behandlungsqualität vereinbar sind. Kosteneinsparungen sind auch in der Intensivmedizin möglich, ohne dass daraus eine Rationierung intensivtherapeutischer Leistungen resultieren muss. So konnte beispielsweise für einen Teil der in 7 Abschn. 9.1 (. Tab. 9.4) aufgeführten Qualitätsindikatoren nachgewiesen werden, dass ihre Einführung auch aus ökonomischer Sicht sinnvoll ist. > In der Intensivmedizin sind eine Steigerung der Effizienz und Kostenreduktion möglich, ohne dass dabei auch nur ein Patient schlechter behandelt werden würde.
Oft ist der Prozess zur Rationalisierung jedoch beschwerlich und wird daher zu früh abgeschlossen. Eine konsequente und professionalisierte Intensivmedizin erscheint teurer. Daten aus den USA belegen jedoch, dass diese sich nicht nur für den einzelnen Patienten, sondern letztlich auch für das Krankenhaus lohnt. »Good care saves lifes, good care saves money«.
87 Literatur
Die Liegedauer hat aufgrund des relativ hohen Anteils fixer Kosten einen großen Einfluss auf die Gesamtkosten. Jeder eingesparte Behandlungstag senkt die Behandlungskosten. Seit 1998 hat sich die durchschnittliche Verweildauer an deutschen Krankenhäusern um 2 Tage von 10,1 auf 8,1 Tage verkürzt. Dieser Entwicklung folgend wurde im gleichen Zeitraum auch die Zahl der Krankenhäuser (von 2.263 auf 2.083) und entsprechend die Zahl der Krankenhausbetten reduziert. Dadurch gewinnt die Intensivmedizin weiter an Bedeutung. Ihre Effizienz muss daher auch stärker hinterfragt werden.
Kostenreduktion durch Verbesserung der Handlungsabläufe Die Komplexität der Intensivmedizin und die enge Zusammenarbeit verschiedener Berufsgruppen in diesem kostenintensiven Bereich legen es nah, feste Arbeitsabläufe vorzuschreiben, um Möglichkeiten für Missverständnisse, Reibungsverluste und Unstimmigkeiten zu minimieren und eine möglichst effiziente Medizin zu gewährleisten (Näheres auch 7 Kap. 10). Ablaufregelungen (SOP). Durch Ablaufregelungen (SOPs) lassen
sich Maßnahmen rationalisieren (7 Kap. 10). SOPs bekommen dadurch erhebliche ökonomische Bedeutung und können mit erheblicher Kostenreduktion verbunden sein. Durch Anwendung des sog. Short-cycle-improvement-Verfahrens, bei dem eingeführte Protokolle ständig überprüft und angepasst werden, reduzierten sich Laboruntersuchungen um 65 % (Einsparung 21.593 US-$/Jahr), Thoraxröntgenaufnahmen um 56 % (jährliche Einsparung 3.941 US-$), die Beatmungsdauer um 35 % [39] sowie die mittlere Intensivliegedauer von 5,0 auf 3,5 Tage (jährliche Kosteneinsparung pro Patient im Mittel 4 %). Unverzügliche Behandlung. Eine frühe konsequente Therapie
(sog. »early goal directed therapy« [40]) bei schwerer Sepsis bietet eine verbesserte Ergebnisqualität und ist in der Regel auch kosteneffektiv [41]. Auch der Einsatz der sog «Sepsis-Bundles«, d. h. konsequente Therapie innerhalb der vorgeschlagenen Zeitfenster, reduziert die Kosten pro Patient (16.103 US-$ vs. 21.985 US-$) bei gleichzeitiger Verbesserung des Outcomes [42].
ziehen, oder unnötige Doppeluntersuchungen sollten unterbleiben.
Personaleinsparung Die Personalkosten verursachen den größten Anteil der Kosten der Intensivtherapie. Die Versuchung, das Budget durch Einsparmaßnahmen in diesem Bereich zu entlasten, ist daher außerordentlich groß. Das kann jedoch zu fatalen Missentwicklungen führen: Eine zu enge Personalausstattung erhöht die Komplikationsrate, verlängert die Beatmungsdauer und die Verweildauer auf der Intensivstation und erhöht damit auch die Kosten. So verdoppelt sich die schweregradgewichtete Letalität bei erhöhter Arbeitsbelastung (d. h. zu geringer Personalkapazität) im Vergleich zu Situationen mit niedrigerer Belastung [44]. Die ständige Präsenz kompetenter Ärzte ist eine Grundvoraussetzung für eine hochwertige Intensivtherapie. Nicht nur, weil in diesem Bereich womöglich innerhalb von Minuten oder gar Sekunden ärztliche Maßnahmen notwendig werden, sondern auch, weil eine vorausschauende Therapie nur bei kontinuierlicher Auseinandersetzung mit der aktuellen klinischen Situation des Patienten möglich ist. Dadurch reduziert sich nicht nur die Krankenhausletalität [45]; diese Maßnahme dürfte höchstwahrscheinlich auch kosteneffektiv sein, da z. B. unnötig lange Liegedauern und teure Komplikationen verhindert werden können. > Die inadäquate Einsparung beim Personal ist kontraproduktiv.
Das bessere Konzept zur Rationalisierung besteht darin, den Einsatz der teuren Intensivbehandlung nur für diejenigen Patienten einzusetzen, für die eine solche Behandlung wirklich erforderlich ist, und weiters darin, jede überflüssige Nutzung zu vermeiden. Das bedeutet aber wiederum, dass andere Alternativen (postoperative Recovery, Intermediate-Care, Frührehabilitation etc.) verfügbar sein müssen.
Literatur
Vermeidung von Komplikationen. Komplikationen erhöhen häu-
Literatur zu 7 Abschn. 9.1
fig die Letalität, verlängern die Liegedauer und verursachen zusätzliche Kosten. Das zeigt sich am Problem nosokomialer Infektionen, insbesondere der Beatmungspneumonien »ventilator associated pneumonia«; VAP) die zu einer erheblichen Verlängerung der Behandlungsdauer und erhöhten Kosten führen. Der frühzeitige Wechsel auf eine nichtinvasive Beatmung trägt zumindest bei einem ausgewählten Patientengut (hyperkapnisches respiratorisches Versagen) zu einer Reduktion der Beatmungs- und Liegedauer bei und vermindert die Rate infektiologischer Komplikation. Der standardisierte Einsatz anerkannter Behandlungsmaßnahmen zur VAPPrävention (Lagerungsmaßnahmen, Vermeidung von unkritischem Antibiotikaeinsatz etc. [43]) und die gezielte Schulung des Personals führen zu einer deutlichen Senkung des Infektionsrisikos.
1
Kostenbewusste Diagnostik und Therapie. Das Schärfen des Be-
2
3 4 5
6
wusstseins kann zu einer deutlichen Kostenreduktion führen. Allein die tägliche Information über die Kosten beschlossener Diagnostik- und Therapiemaßnahmen während der Visite reduzierte die Ausgaben, ohne dass die Letalität beeinflusst wurde [39].
7
> Jede diagnostische Maßnahme sollte begründet sein. Untersuchungen, die keine Konsequenzen nach sich
8
Martin J, Schleppers A, Fischer K, Junger A, Klöss T, Schwilk B, Pützhofen G, Bauer M, Krieter H, Reinhart K, Bause H, Kuhlen R,Heinrichs W, Burchardi H, Waydhas C (2004) Mindestinhalte der Dokumentation im Bereich der Intensivmedizin– Der Kerndatensatz Intensivmedizin. Anästh Intensivmed 45: 207–216 Committee on Quality of Health Care in America (2001) Crossing the quality chasm: a new health system for the 21st century. National Academy Press, Washington, DC Donabedian A (1993) Continuity and change in the quest for quality. Clin Perform Qual Health Care 1:9–16 Donabedian A (1973) Aspects of medical care administration: specifying requirement for health care. Harvard University Press, Cambridge, MA Pronovost PJ, Angus DC, Dorman T et al. (2002) Physician staffing patterns and clinical outcomes in critically ill patients: A systematic review. JAMA 288: 2151–2162 Bastos PG, Knaus WA, Zimmerman JE et al. (1996;) The importance of technology for achieving superior outcomes from intensive care. Brazil APACHE III Study Group. Intensive Care Med 22: 664–669 Curtis RJ, Cook DJ. Wall RJ, Angus DC, Bion J, Kacmarek, Kane-Gill SL, Kirchhoff KT, Levy M, Mitchell PH, Moreno R, Pronovost P, Puntillo K (2006) Intensive care unit quality improvement: A »how-to” guide for the interdisciplinary team. Crit Care Med 34: 211–218 Kalassian KG, Dremsizov T, Angus DC (2002) Translating research evidence into clinical practice: New challenges for critical care. Crit Care 6: 11–14
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Kapitel 9 · Ökonomie und Qualitätsmanagement
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9
91
Organisation und Management H. Burchardi, W. Fleischer
10.1
Organisation – 92
10.1.1 10.1.2 10.1.3
Verkürzung der Liegedauer – 92 Rationelle Diagnostik und Therapie – 93 Beschaffung und Bevorratung – 93
10.2
Intensivmedizin in der Versorgungskette – 93
10.2.1 10.2.2 10.2.3 10.2.4
Einsatz der Intensivbehandlung – 94 Integration der Fachdisziplinen – 94 Beendigung der Intensivbehandlung – 94 Kooperation und Netzwerk – 95
10.3
Personal – 95
10.3.1 10.3.2 10.3.3
Anhaltszahlen – 95 Qualität – 96 Pflegequalität – 96
10.4
Leitung der Intensivstation – 97
10.4.1 10.4.2 10.4.3 10.4.4
Die Intensivstation – ein multidisziplinärer Arbeitsplatz – 97 Qualifikationen und Aufgaben des Leiters – 97 Fähigkeiten zur Leitung – 98 Persönliche Qualifikationen – 98
10.5
Kommunikation – 99
10.5.1 10.5.2
Zwischenmenschliche Kommunikation – 99 Kommunikationstechnik – 101
10.6
Konfliktmanagement – 101
10.6.1 10.6.2
Konfliktdiagnose – 101 Konfliktlösung – 102
Literatur – 103
H. Burchardi et al. (Hrsg.), Die Intensivmedizin, DOI 10.1007/978-3-642-16929-8_10, © Springer Medizin Verlag Berlin Heidelberg 2011,
10
10 10 10 10 10 10 10 10
92
Kapitel 10 · Organisation und Management
10.1
Organisation
Eine gute Organisation ist für die Intensivbehandlung aus verschiedenen Gründen unerlässlich: Die Intensivstation versieht ihre Aufgabe innerhalb des komplexen Netzwerkes der Krankenhausversorgung. Sie hat also selber optimal zu funktionieren, aber ist ebenso auf die abgestimmte und reibungslose Funktion der beteiligten Abteilungen und Dienstleister angewiesen. Jede Hemmung im Ablauf kostet Zeit und Geld – und verursacht ggf. sogar ein Gesundheitsrisiko. Die Intensivmedizin ist ohnehin eine der kostenträchtigsten Abteilungen des Krankenhauses. Der derzeitige Kostendruck zwingt uns, jede Möglichkeit einer Kostenersparnis auszunutzen, die mit guter Behandlungsqualität vereinbar ist. Darüber hinaus ist aufgrund der hohen psychischen Belastung aller Mitarbeiter ein Umgangsstil gefragt, der allen Halt gibt und für eine stabile Atmosphäre sorgt. Ohne Zweifel gibt es in jeder Intensivstation und in jedem Krankenhaus noch ein Potenzial zur Verbesserung der Organisation und zur Kosteneinsparung, das es zu nutzen gilt.
10.1.1
10
Die Verweildauer auf der Intensivstation ist wegen des hohen Personalkostenanteils besonders bedeutsam für die Behandlungskosten. Jeder eingesparte Behandlungstag senkt die Kosten. Hierauf kann man mit einem ganzen Spektrum an Maßnahmen Einfluss nehmen: 4 Verbesserung der intensivmedizinischen Handlungsabläufe, 4 unverzügliche Behandlung/Vermeidung von Komplikationen, 4 Verbesserung der krankenhausinternen Abläufe, 4 Verbesserung des Informationsflusses zwischen allen Berufsgruppen.
10 10 10 10 10 10 10 10 10 10 10 10 10 10
Erstellung einer SOP 1. 2.
10
10
Analgosedierung, die routinemäßige postoperative Versorgung nach größeren Eingriffen, die Entwöhnung (Weaning) vom Respirator, die Durchführung von kontinuierlicher Hämofiltration und vieles andere mehr. Die Festlegung von Standardprozeduren ist ein wichtiger Beitrag zur Qualitätssicherung und zur Verbesserung der Handlungsabläufe. SOPs können die Abläufe vereinfachen, verbessern und beschleunigen. Sie rationalisieren die Maßnahmen und bekommen dadurch erhebliche ökonomische Bedeutung. SOPs müssen von dem Personenkreis erstellt werden, der mit ihnen arbeiten muss; sie sollten nicht »von oben herab« verordnet werden. Die Erstellung einer solchen SOP besteht aus mehreren Schritten (7 Übersicht):
Verkürzung der Liegedauer
In den letzten Jahren hat sich die durchschnittliche Verweildauer an deutschen Krankenhäusern bereits deutlich verkürzt; sie wird sich auch in Zukunft noch weiter verkürzen. Insbesondere wird man vielfach auf ambulante oder teilstationäre Behandlung übergehen. Für die Intensivmedizin hat das jedoch zur Folge, dass ihre Bedeutung im Rahmen der stationären Behandlung eher noch größer wird und der Druck auf die Bettenbelegung der Intensivstation weiter ansteigt.
Verbesserung der intensivmedizinischen Handlungsabläufe Intensivbehandlung und -pflege ist ein äußerst komplexes Geschehen. Verschiedene Personengruppen, wie Pflegekräfte und Ärzte, müssen funktionsgerecht zusammenarbeiten. Die einzelnen Personen müssen ihre Maßnahmen mit den übrigen Behandelnden abstimmen, etwa beim Schichtwechsel. Die verschiedenen Aufgaben müssen miteinander koordiniert werden, wie etwa die Analgosedierung bei einer Beatmung. So gibt es viele Interaktionen, die Möglichkeiten für Missverständnisse, Reibungsverluste, Unstimmigkeiten bieten und die in diesem Zusammenspiel verbessert werden können. Das bedeutet, dass Abläufe festgeschrieben und jedem Mitarbeiter bekannt sein müssen. Ablaufsregelungen, sog. SOPs (»standard operating procedures«), sind Regelungen, mit denen die tatsächlichen Bedingungen und Aufgaben vor Ort und innerhalb des betroffenen Personenkreises berücksichtigt werden. Sie sind daher von Richtlinien, Leitlinien oder Guidelines zu unterscheiden, die überregional mit verallgemeinerter Gültigkeit aufgestellt werden. Für die Regelung durch SOPs eignen sich Abläufe, die gut standardisierbar sind und häufig vorkommen; etwa die Strategie der
3. 4. 5. 6.
Fragestellung: relevant, gut abgrenzbar, generalisierbar, ausreichend häufig Vorheriges Literaturstudium (oft sind Lösungen bereits beschrieben) Erstellung eines ersten Entwurfs Erster Praxistest mit dem Ziel der Anpassung und Verbesserung Einführung in die Praxis mit ausführlicher Information aller Mitarbeiter Kontinuierliche Überprüfung und Anpassung
Besonders wichtig sind die lückenlose Protokollierung der Problemfälle und die Durchsprache der Critical Incidents (CIRS); dies bildet die Grundlage für die kontinuierliche Verbesserung der SOP. Der Vorgang der Erstellung einer SOP ist letztlich fast ebenso wichtig wie ihre Funktion. Die Erfahrung bei der Erstellung einer SOP kann für die Mitarbeiter »teambildend« sein; es motiviert das Team zur Übernahme von Eigeninitiative und bildet oft den Ausgangspunkt für weitere Verbesserungsmaßnahmen auf der Intensivstation. Die regelmäßige Durchsprache in Übergaben oder Mitarbeiterbesprechungen sichert die Anwendung der SOPs in der täglichen Arbeit.
Unverzügliche Behandlung und Vermeidung von Komplikationen In letzter Zeit gibt es zunehmend Belege für die Überlegenheit unverzüglicher Intensivbehandlung. Es bewahrheitet sich, was immer schon vermutet wurde: Je eher und je konsequenter behandelt wird, desto besser ist der Erfolg! Das ergibt sich deutlich z. B. aus der Rivers-Studie über »early goal-directed therapy«, bei der eine frühe konsequente Optimierung der Kreislauffunktion und des Sauerstofftransports bei septischen Patienten die Krankenhausletalität von 46,5 % auf 30,5 % reduzierte [32]. Der Vorteil rascher, entschiedener Behandlung zeigt sich auch in einer Pilotauswertung der Placebo-Gruppen (n=1.036) von 2 großen Sepsisstudien [26]. In einer retrospektiven Auswertung von 17.878 Hochrisikoeingriffen in den USA wurde festgestellt, dass an kleineren Krankenhäusern die Komplikationsraten doppelt so hoch waren wie in größeren Häusern; die Letalität lag bei kleineren Häusern um 3,6bis 6,8-mal höher [8]. So verursacht jede Komplikation dem Haus zusätzlich Aufwand und Kosten, dem Patienten schlimmstenfalls sogar den Tod.
93 10.2 · Intensivmedizin in der Versorgungskette
Verbesserung der krankenhausinternen Abläufe Die Intensivstation steht inmitten des gesamten Funktionsnetzwerkes des Krankenhauses. Funktionieren einzelne Abläufe schleppend, so verzögert sich u. U. die Intensivbehandlung: Die Verzögerung eines CT-Termins, eines Operationstermins, einer Konsiliarbesprechung, einer Verlegung auf die Normalstation kann die Aufenthaltsdauer auf der teuren Intensivstation verlängern. Jeder kennt diese Probleme aus dem täglichen Ablauf; daher müssen nicht nur die Prozesse innerhalb der Intensivstation, sondern auch die Abläufe zwischen den einzelnen Funktionsdiensten des Krankenhauses organisiert und auf geordnete und rasche Reaktion optimiert werden. Die Bedeutung dieser Zusammenhänge für den Gesamtablauf im Krankenhaus muss vom ärztlichen Leiter als auch von der Pflegeleitung der Intensivstation jedem Mitarbeiter bewusst gemacht werden: 4 unnötige Wartezeiten sind zu vermeiden, 4 Personalengpässe können sich fatal auswirken, 4 mangelnde Information schafft unnötige Reibungen, 4 für Überbedarfssituationen sind Pufferkapazitäten vorzuhalten usw. Jeder Mitarbeiter kann zur Verbesserung der Abläufe seinen Anteil beitragen. Wie sehr sich Krankenhausabläufe verbessern lassen, zeigt die Einführung eines »Patientenmanagers«: In einigen Krankenhäusern kümmern sich sog. Patientenmanager um den reibungslosen Behandlungsablauf bei Patienten, die nicht notfallmäßig ins Krankenhaus gekommen sind. Sie kümmern sich um die durchzuführenden Voruntersuchungen, die Operationstermine, ggf. um ein vorzuhaltendes Intensivbett und um eine evtl. notwendige rechtzeitige Anmeldung zur Rehabilitation. Ein solcher Patientenmanager (vielfach eine erfahrene Pflegekraft) entlastet das behandelnde Personal erheblich und ermöglicht ihm, sich auf seine eigentlichen Aufgaben zu konzentrieren; gleichzeitig wurde nachweislich die Verweildauer im Krankenhaus verkürzt.
10.1.2
Rationelle Diagnostik und Therapie
Durch eine rationellere Diagnostik und Therapie lassen sich Kosten einsparen. Jede diagnostische Maßnahme sollte begründet sein, d. h. das diagnostische Ergebnis muss Konsequenzen haben: in Behandlungsmaßnahmen resultieren oder zur Sicherung oder zum Ausschluss von Diagnosen. Unnötige Doppeluntersuchungen sind zu vermeiden, es sei denn, dass das erste Ergebnis in Zweifel gezogen werden muss. Damit verlassen wir den routinemäßigen Versorgungsablauf und bevorzugen die individuell angepasste Intensivmedizin. Natürlich kann dieses Konzept gelegentlich im Gegensatz zu den empfohlenen Standardabläufen (SOPs) stehen; doch sollte jede SOP Abweichungen zulassen, allerdings mit guter Begründung (und ein guter Grund ist die Nutzlosigkeit einer Maßnahme). Eine wichtige Information der eingesetzten Medikamente und Heilmittel bietet eine »Top-ten-« (Top-twenty-«/«Top-fifty«)-Liste, d. h. eine Aufstellung der monatlichen Kosten gestaffelt nach den kostenträchtigsten Gesamtverbräuchen. Hierdurch kann man eine konkrete Vorstellung bekommen, wodurch die Kosten entstehen und mit welchen Änderungen von Behandlungskonzepten man ggf. die Medikamentenkosten wirksam reduzieren kann. Es hat sich in der Intensivmedizin bewährt, Experten für besondere Fragen hinzuzuziehen. Mit solcher Expertise lassen sich auch Diagnostik und Behandlungsmaßnahmen rationeller einsetzen Das gilt nicht nur für die Behandelnden der Grunderkrankungen und
für die Konsiliarii, das gilt auch für Experten anderer Fachgebiete (7 Abschn. 10.2.2).
10.1.3
Beschaffung und Bevorratung
Die gesamte Marktwirtschaft demonstriert uns täglich, wie viel durch gezielte Beschaffung und optimierte Bevorratung gespart werden kann.
Einmalmaterial Unnötige Diversifikation der Beschaffung (z. B. zu viele verschiedene Kathetersorten) bindet Ressourcen, provoziert Handhabungsfehler bei der Nutzung und bindet zu große Lagerungskapazität. Die bestmögliche Standardisierung der Beschaffung von Material mit der besten Kosten-Nutzen-Relation ermöglicht große Bestellmengen mit Rabattvergünstigungen, standardisiert die Nutzung und erleichtert den Einsatz durch verschiedene Anwender. Die Auswahl von Einmalmaterial kann durch eine Kommission (»Beschaffungskommission«) aus kompetenten Vertretern der unterschiedlichen Nutzer sehr effizient standardisiert werden. Dadurch lässt sich die unübersehbare Vielfalt der Materialbeschaffung reduzieren und andererseits die Qualität des beschafften Materials verbessern. Gleichzeitig können aber auch unnötige Kosten eingespart werden. Die Diskussion über die Vorzüge und Nachteile der Materialien in der Kommission bringt darüber hinaus einen wichtigen Informationszuwachs und ein besseres Qualitätsbewusstsein für alle Nutzer.
Medikamente Auch auf dem Gebiet der Medikamentenbevorratung verursachen große dezentralisierte Vorräte auf den Stationen große Probleme: Sie benötigen Platz, provozieren Verwechselungen, führen zu Überziehung der Verfallsdauer und verursachen dadurch hohe unnötige Kosten. Die Reduktion der Lagerbestände auf den Stationen (und insbesondere auf einer Intensivstation) erfordert natürlich einen erheblichen logistischen Aufwand: Das Bestell- und Transportsystem zwischen den Stationen und der Zentralapotheke muss optimiert werden. Sonderanforderungen, die grundsätzlich unvermeidlich sind (z. B. bei Spezialbehandlungen, Fortführung von präklinischer Dauermedikation), müssen soweit wie möglich reduziert werden. Der Lagerbestand auf der Station muss kontinuierlich und sorgfältig kontrolliert und rechtzeitig ergänzt werden. Eine computergestützte Bevorratungskontrolle mit Barcode-Erfassung hat sich als sehr hilfreich erwiesen. Die Vorteile eines zentralen Apothekeneinkaufs, ggf. durch Zusammenschluss mehrerer Krankenhausapotheken, liegen auf der Hand und sind allgemein bekannt.
10.2
Intensivmedizin in der Versorgungskette
Die Behandlung auf der Intensivstation ist im Ablauf der gesamten Krankenhausbehandlung eines Patienten lediglich ein Abschnitt, wenn auch ein äußerst entscheidender. Dieser Abschnitt muss sorgfältig eingepasst werden, damit der Behandlungserfolg insgesamt nicht gefährdet wird. Die Schnittstellen zwischen der Intensivbehandlung einerseits und der Normalbehandlung bzw. der anschließenden Rehabilitationsbehandlung andererseits sind kritisch und verdienen große Aufmerksamkeit.
10
10
94
Kapitel 10 · Organisation und Management
10.2.1
Einsatz der Intensivbehandlung
Krankenhausintern
So werden Patienten mit Akutproblemen von kleineren Krankenhäusern oft zu spät zur Intensivbehandlung verlegt, wenn bereits die Situation vitalbedrohlich oder gar präfinal geworden ist. Dann ist es schwierig und extrem aufwendig, selbst mit maximaler Intensivbehandlung noch erfolgreich zu sein. Hier ist es wichtig, zwischen den peripheren und den zentralen Krankenhäusern ein gutes interkollegiales Einvernehmen zu schaffen. Fehlendes Vertrauen bei den kleinen Häusern und Überheblichkeit bei den großen Kliniken sind kontraproduktiv. Es ist eine wesentliche Aufgabe der zentralen Kliniken der Maximalversorgung, als »Mutterhäuser« den peripheren Krankenhäuser bei schwierigen Fällen zu helfen, die diese wegen ihrer Aufgabenstellung, ihrer reduzierten Kapazität und Ausstattung und ihrer fehlenden intensivmedizinischen Erfahrung weder leisten können noch sollen.
10
Bei akuten Vitalbedrohungen, wie etwa bei der sich anbahnenden Sepsis, ist der rasche und konsequente Einsatz der Intensivbehandlung oftmals entscheidend für den Behandlungserfolg [24]. Dann muss der Patient von der Normalstation unverzüglich auf die Intensivstation verlegt werden. Allerdings sind die Ärzte und Pflegekräfte auf den Normalstationen ohne intensivmedizinische Ausbildung und Erfahrung oft nicht geschult, die vitale Bedrohung zu erkennen und die Möglichkeiten und Chancen einer Intensivbehandlung zu beurteilen [28]. Nicht selten wird diese wichtige Initialentscheidung auch unnötig verzögert: unangebrachter Optimismus («das wird schon wieder besser«), mangelnde Entscheidungsfähigkeit und fehlende Kompetenz (»das muss der Chefarzt entscheiden«), fachliche Überheblichkeit (»das können wir besser«). So wird nicht selten kostbare Zeit vergeudet und die kritische Situation des Patienten verschärft. Eine verzögerte, zu späte Aufnahme intensivpflichtiger Patienten auf die Intensivstation verstärkt die akute Problematik kritisch und erhöht nachweislich die Letalität [36]. Diese Schwachstelle im Versorgungsnetzwerk eines Krankenhauses muss immer wieder von allen Beteiligten bewusst wahrgenommen werden. Interdisziplinäre Schulung des nichtintensivmedizinischen Personals auf den Normalstationen kann das Bewusstsein der Behandelnden für kritische Situationen schärfen. Andererseits muss jederzeit ein erfahrener Intensivmediziner für Anfragen von den Normalstationen verfügbar sein. An manchen Intensivstationen wurde mit Erfolg ein »Notfallteam« (MET »Medical Emergency Team«) etabliert, das den Normalstationen mit Beratung, Konzil und Noteinsatz zur Seite steht. Die Dienstleistung ist für die Intensivstation sehr aufwendig, wenn sie ernsthaft betrieben wird [18]. Mit der Einführung muss v. a. eine eingehende Schulung auf den Normalstationen verbunden sein [1]. Dann jedoch scheint dieser Service zumindest postoperative Risikosituationen auf der Normalstation zu reduzieren [19]. Für internistische Notfälle sind die Ergebnisse widersprüchlich [19, 20]. Der tatsächliche Nutzen eines solchen Notfalldienstes scheint nicht zuletzt auch in der Weiterbildung des Pflegepersonals auf den Normalstationen zu liegen.
10
Übernahme von auswärtigen Krankenhäusern
Verlegung krankenhausintern
Die Übernahme von kritisch kranken Patienten von einem externen Krankenhaus ist noch wesentlich schwieriger. Angesichts der personellen und apparativen Einschränkungen sind heute die Möglichkeiten, kritisch Kranke adäquat zu versorgen, insbesondere in kleineren Häusern deutlich reduziert. Andererseits ist man dort versucht, Patienten möglichst lange im eigenen Hause zu halten; schließlich gibt man nicht gern seine Problempatienten aus der Hand. Seitens der größeren Krankenhäuser, die für eine Übernahme zur Intensivbehandlung in Frage kämen, besteht i. Allg. große Zurückhaltung, Problempatienten von anderen Häusern zu übernehmen. Die Gründe sind vielschichtig: Mangel an Intensivbetten (selbst wenn als Argument nur vorgeschoben), ggf. notwendige Änderung des vorgesehenen Operationsplans, Furcht vor höheren Kosten bei Folgebehandlung. Allerdings hat sich inzwischen die Vergütung der intensivmedizinischen Komplexleistungen im DRGSystem soweit verbessert, dass diese Intensivbehandlungen kostendeckend geleistet werden können, sofern die Station gut organisiert ist. Das bedeutet allerdings, dass die Strukturvoraussetzungen für die DRG-Komplexleistungen erfüllt sein müssen (d. h. kontinuierliche intensivärztliche Versorgung).
Nicht nur die rechtzeitige Übernahme eines Patienten auf die Intensivstation ist kritisch, auch die Rückverlegung auf die Normalstation muss sorgfältig abgewogen werden. Bleibt der Patient zu lange auf der Intensivstation, dann ist das kostenträchtig. Für den Patienten ist diese Situation belastend und bedeutet für ihn u. U. ein zusätzliches Risiko, etwa einer nosokomialen Infektion. Wird er jedoch zu früh verlegt, ist die Qualität der nachfolgenden Überwachung und Betreuung auf der Normalstation bei seinem instabilen Zustand nicht ausreichend. Dann muss er oft nach kurzer Zeit und im schlechten Zustand wieder auf der Intensivstation aufgenommen werden. Letztlich hat sich dann der Behandlungserfolg meist deutlich verschlechtert. Hier wirkt sich auch eine zu knapp bemessene Kapazität an Intensivbetten aus. Um Patienten in akuten Vitalbedrohungen jederzeit auf der Intensivstation aufnehmen zu können, muss die Bettenkapazität der Station ausreichend sein. Müssen Patienten bei zu knapper Bettenkapazität für neue Aufnahmen vorzeitig von der Intensivstation entlassen werden, dann sind diese Patienten gefährdet, wenn die Normalstation für eine solche Übernahme nicht adäquat qualifiziert ist [14].
10 10 10 10 10 10 10 10 10 10 10 10 10 10
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10.2.2
Integration der Fachdisziplinen
Auch mit Verlegung auf die Intensivstation werden die primär behandelnden Ärzte nicht aus ihrer Mitverantwortung entlassen. Die Intensivbehandlung muss unbedingt in enger Kooperation mit den primär behandelnden Ärzten erfolgen. Interdisziplinäre Zusammenarbeit und gemeinsame Nutzung der verschiedenen Kompetenzen und Expertisen sind die Voraussetzung für eine erfolgreiche Weiterbehandlung auf der Intensivstation. Dabei profitieren alle Seiten von einer sachgerechten, interdisziplinären Diskussion; sie ist die Grundlage für eine vertrauensvolle Kooperation und ermöglicht allen eine Steigerung ihrer Expertise. Anderenfalls kann eine gemeinsam entwickelte Geschäftsordnung, die die Entscheidungsabläufe und Verantwortlichkeiten festlegt, Orientierung geben. Auch die regelmäßige Einbeziehung von weiteren Spezialisten, wie etwa klinische Pharmakologen, Röntgenologen, Mikrobiologen u. a., verbessert die Wirksamkeit der Intensivbehandlung. So hat sich gezeigt, dass die Fehlerrate der intensivmedizinischen Pharmakotherapie durch Mitwirkung eines klinischen Pharmakologen deutlich verringert werden kann [25].
10.2.3
Beendigung der Intensivbehandlung
95 10.3 · Personal
> An dieser kritischen Schnittstelle kann eine IntermediateCare-Station (IMC) eine wertvolle Pufferfunktion ausüben.
Auf IMC-Stationen werden Patienten betreut, die keine eigentliche Intensivbehandlung benötigen, jedoch noch kontinuierlich intensiv überwacht werden müssen. Solche Stationen sollten möglichst mit intensiverfahrenen Pflegekräften besetzt sein. Die ständige Anwesenheit eines Intensivmediziners ist nicht erforderlich, er muss jedoch kurzfristig verfügbar sein. Eine IMC-Station kann eine wichtige Pufferstellung zwischen der Intensivstation und der Normalstation erfüllen. Mit ihr kann die arbeits- und kostenaufwendige Intensivstation entlastet werden. Für die Intensivstation wird damit zusätzliche kostbare Bettenkapazität geschaffen; sie kann somit rationeller genutzt werden. Auch bei unvorhergesehenen Spitzenbelastungen bietet die IMC-Station vorübergehende Entlastung. In den Empfehlungen der DGAI [6] werde 4 unterschiedliche Organisationsmodelle vorgestellt (7 Übersicht):
fältig erkundet werden, welches Versorgungsniveau das Heimatkrankenhaus bieten kann. Unter Umständen muss der Patient im Zentralkrankenhaus auf der Normalstation noch vorübergehend weiterversorgt werden, bis die Verlegung vertretbar ist. Rehabilitationszentrum. Ein oft großes Problem ist es, nach ei-
ner erfolgreichen Intensivbehandlung eine anschließende spezielle Anschlussversorgung in einen Rehabilitationszentrum zu finden, etwa für Schädel-Hirn-Traumata. Jeder kennt die unfriedigende Suche nach einem Rehabilitationsplatz, bei der für den Patienten oft wertvolle Zeit vergeudet wird und für den Kostenträger hohe Ausgaben für eine bereits nicht mehr erforderliche Intensivbehandlung anfallen. Der derzeitige Mangel an guten Rehabilitationsplätzen ist äußerst unbefriedigend. Absprachen zwischen Krankenhäusern und Reha-Zentren in der jeweiligen Region können und sollten hier Erleichterung schaffen.
10.2.4 Intermediate-Care-Station (IMC) – Organisationsmodelle nach DGAI 4 Integrationsmodell Im Integrationsmodell werden IMC-Betten räumlich und organisatorisch in die Intensivstation integriert. Das ermöglicht volle Flexibilität bei wechselnden Anforderungen durch den Krankheitsverlauf des jeweiligen Patienten. Durch die Einbindung in die Gesamtorganisation der Intensivstation wird zusätzlicher Informations-, Organisations- und Arbeitsaufwand eingespart. Die Kompetenz des erfahrenen Pflegepersonals bleibt erhalten. Allerdings besteht die Gefahr, dass auch bei IMC-Patienten dennoch überwiegend das volle Repertoire der Intensivmedizin genutzt wird, die Rationalisierungsmöglichkeiten also nicht ausgeschöpft werden. 4 Parallelmodell Beim Parallelmodell liegt die IMC-Station räumlich unmittelbar neben der Intensivstation; damit lässt sich ihre Funktion organisatorisch leicht in die Intensivstation integrieren. 4 Aufwachraum Die Verwendung des Aufwachraumes als IMC-Station (24 h/Tag) lässt sich an manchen Krankenhäusern als Einstieg in die IMC nutzen. 4 Selbstständige und unabhängige IMC-Station Diese Form der IMC-Station ist sicherlich die teuerste und organisatorisch aufwendigste Lösung. Ein flexibler Wechsel zwischen IMC und Intensivtherapie je nach den Erfordernissen des wechselnden Krankheitsverlaufs ist dabei umständlich. Auch besteht die Gefahr, dass sich eine solche Station verselbstständigt, und der wünschenswerte und erforderliche Kompetenzaustausch mit der Intensivstation versiegt [39].
Externe Verlegung Externes Krankenhaus. Wurde ein Patient aus einem externen Krankenhaus auf die Intensivstation übernommen, so ist es oft sinnvoll, diesen nach abgeschlossener Intensivbehandlung wieder in das Heimatkrankenhaus zurückzuverlegen. Dort liegt die vollständige Information über die primäre Erkrankung vor, dort sind auch in der Regel die Angehörigen zu Hause. Allerdings muss sorg-
Kooperation und Netzwerk
Die Verlegung eines Patienten in ein anderes Krankenhaus bedeutet immer auch, dass die eigenen Therapiekonzepte und potenziellen Fehleinschätzungen anderen offenbart werden. Das Konkurrenzdenken zwischen den Häusern führt dabei nicht selten zu Verstimmungen. Solche Nachteile lassen sich vermeiden, wenn Kooperationen vereinbart werden, z. B. zwischen kleineren Häusern und Maximalkrankenhäusern, zwischen Häusern der Akutversorgung und Rehabilitationszentren oder mit Häusern der Spezialversorgung. Solche Kooperationen sind für beide Seiten ein Gewinn, können über längere Zeit ein Vertrauensverhältnis aufbauen und die Verlegungsverfahren vereinfachen. Insbesondere für die großen Intensivstationen kann ein solches Netzwerk vorteilhaft sein, etwa für eine rasch anschließende Rehabilitationsbehandlung. Allerdings müssen die Voraussetzungen einer für beide Seiten adäquaten Vergütung noch verbessert werden.
10.3
Personal
Die Personalbesetzung einer Intensivstation hat einen quantitativen und einen qualitativen Aspekt. Die Vernachlässigung eines der beiden Aspekte bedeutet eine deutliche Verschlechterung der intensivmedizinischen Versorgung und kann sogar zu einer Steigerung der Mortalitätsraten führen.
10.3.1
Anhaltszahlen
Die offiziellen Anhaltszahlen sind weniger geprägt von der tatsächlichen Arbeitsrealität der Intensivstation als vielmehr von den Zwängen der Kostenreduktion. So gelten immer noch die Kennzahlen von 1974 [5], obwohl sich zwischenzeitlich die strukturellen Bedingungen in der Intensivmedizin erheblich gewandelt haben. Sie wurden lediglich von der DIVI an die inzwischen veränderte Regelarbeitszeit angepasst [9]. Danach soll 4 1 Arzt für 3 Patienten bei überwiegender Intensivüberwachung 4 1 Arzt für 2 Patienten bei überwiegender Intensivtherapie vorgesehen sein. Für die Pflege gilt: 4 1 Pflegekraft für 1,68–0,88 Betten bei Intensivüberwachung 4 1 Pflegekraft für 0,62–0,44 Betten bei Intensivbehandlung.
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Kapitel 10 · Organisation und Management
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Heute müssen zumindest die gültigen tarifrechtlichen Änderungen berücksichtigt werden, die zu einer weiteren Reduktion der Jahresarbeitszeit geführt haben. Im europäischen Vergleich sind diese deutschen Richtzahlen sehr knapp bemessen. Die Daten der EURICUS-I-Studie [29] ergaben in den erfassten europäischen Ländern einen Mittelwert von 3,6 Pflegekräften pro Bett, mit einer breiten Streuung von 2,4 in Belgien bis zu 6,4 in England. Für Deutschland ergab sich ein Mittelwert von 2,8 Pflegekräften/Bett (Berechnung mit 85 % Belegung und 25 % Ausfallquote).
10
Arbeitsaufwand
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Für eine adäquate Besetzung einer Intensivstation muss der tatsächliche Arbeitsaufwand dieser Station berücksichtigt werden. Ein realistisches Berechnungskonzept, das auf dem tatsächlich geleisteten Zeitaufwand beruhte, ergab einen deutlich höheren Bedarf [7, 35]; dieser wurde jedoch nie als Berechnungsgrundlage anerkannt. Eine andere Möglichkeit zur Bemessung der pflegerischen und ärztlichen Leistung kann aus dem TISS-Score abgeleitet werden [23]. Auch dieser Berechnungsmodus wird nicht offiziell verwendet. Allerdings wurden mit der Einführung der intensivmedizinischen Komplexbehandlung im DRG-System bereits Scores wie SAPS und TISS eingesetzt, um den Behandlungsaufwand zu quantifizieren. Selbst solche Aufwandszahlen können die tatsächliche Leistung einer Intensiveinheit jedoch nur unvollständig erfassen. Der ärztliche Arbeitsaufwand wird zusätzlich mitbestimmt von der Häufigkeit von Neuaufnahmen, der diagnostischen Komplexität, von außerstationären Einsätzen (Transporte, Spezialdiagnostik, Konsile, Katheterpunktionen etc.). Hinzu kommt ein heute deutlich gesteigerter Dokumentationsaufwand. In allen größeren Intensivstationen muss die ärztliche Versorgung als Schichtdienst organisiert werden, damit jederzeit rasch und kompetent reagiert und behandelt werden kann. Aus gutem Grund hat die DIVI seinerzeit für Intensivstationen der Maximalversorgung die 24-stündliche ärztliche Präsenz gefordert [10]. Dieses Qualitätskriterium wurde dann für die Vergütung der Komplexbehandlung »Intensivmedizin« im Rahmen der DRG übernommen. Für die permanente Anwesenheit eines Arztes beträgt die Mindestbesetzung einer Intensiveinheit im geregelten 3-Schicht-Modell mit einer Wochenarbeitszeit von 40 h und 15 % Fehlzeiten 5,4 Ärzte (ohne Oberärzte). Daraus ergibt sich bereits, dass zu kleine Intensiveinheiten ökonomisch keine Überlebenschance haben. Studien haben gezeigt, dass zu drastische Sparmaßnahmen mit einer messbaren Verschlechterung des Outcomes und mit mehr als einer Verdopplung der adjustierten Mortalität verbunden sind [36]. Darüber hinaus reduziert der große wirtschaftliche Druck auf die Intensivstationen die Möglichkeiten zur klinischen Forschung. So ist es nicht verwunderlich, dass der Output an wissenschaftlichen Arbeiten und die Kongressbeiträge von deutscher Seite in den letzten Jahren zunehmend schwinden.
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Sonstiges Personal
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Damit das knapp bemessene ärztliche und pflegerische Personal der Intensivstation überhaupt seine vielfältigen Aufgaben sorgfältig erfüllen kann, sollte es von allen berufsfremden Aufgaben entlastet werden. Daher muss für die Intensivstation weiteres Personal zur Verfügung stehen, wie Reinigungskräfte, Wirtschaftsdienste, technisches Personal für Gerätewartung u. a. Für Schreib- und Organisationsaufgaben ist für Stationen über 12 Betten eine Sekretärin (für Richtig verstehen heißt, gut zuzuhören! Sie erfahren viel mehr, wenn Sie zuhören!
Jemand, der nicht richtig zuhört, zeigt kein Interesse, sein Gegenüber zu verstehen. Der Leiter eines Teams sollte jedoch um Objektivität und Neutralität bemüht sein, im Sinne aller Mitarbeiter. Diese erreicht er nur, wenn er bereit ist, aktiv zuzuhören und zu verstehen. Daher gilt: 4 bereit zur Diskussion, aber entschlussfreudig, 4 bereit zur Entscheidung, aber abgewogen, 4 offen und kompetent, …mit anderen Worten: sozialkompetent!
Soziale Kompetenz Auf der Intensivstation arbeitet ein Team aus unterschiedlichen Funktionsgruppen miteinander. Um es wertschätzend zu führen, braucht es Vertrauen, nicht Macht! Ein Leiter, der aktiv und verlässlich führt, verfügt bei seinen Mitarbeitern über ein Vertrauenskonto, ein »emotional bank account», wie es Covey ausdrückt [3]. Ein solches Vertrauenskonto baut sich der Leiter mit seiner sozialen Kompetenz auf. Es ist die Basis dafür, dass ihm sein Team auch in schwierigen Situationen und bei hohen Anforderungen vertrauensvoll folgt. Ein Vertrauenskonto ist die wertvollste Grundlage einer guten Arbeitsatmosphäre – selbst wenn es einmal nicht richtig läuft und heftige Worte gewechselt werden.
Motivation Der Einzelne motiviert sich am ehesten über seine Bedürfnisse und Wünsche [27]. Das können die Arbeitsbedingungen sein, die Arbeitsplatzsicherheit, besondere Anforderungen, interessante Arbeitsgruppen, Achtung der Kollegen usw. Je weniger diese Bedürfnisse in seinem Job erfüllt werden, desto wichtiger werden sie ihm. Von Vorteil ist, dass die medizinische und pflegerische Tätigkeit als solche bereits eine hohe Motivation hervorruft; sie ist sinnvoll, wohltätig, verantwortungsvoll. Gleichzeitig ist die Belastung durch Zeitdruck, hohe Verantwortung und Schichtdienst sehr groß. Umso wichtiger ist es, die Arbeitsmotivation der Mitarbeiter langfristig zu erhalten und ständige Überlastung möglichst zu reduzieren. Sozialkompetenz bedeutet auch, nicht nur über Pflichten und Aufgaben zu reden, auch über Bedürfnisse und Wünsche. Eine der großen Herausforderungen für den Leiter ist es, die individuelle Verschiedenheit seiner Mitarbeiter zu akzeptieren [21]. Wir sind immer versucht, unsere eigene Sicht der Dinge als absolut zu betrachten. Unsere Wahrnehmung ist selektiv; wir neigen dazu, Informationen, die nicht in unser Konzept passen, zu verdrängen. Natürlich können individuelle Unterschiede und Widersprüche Konflikte hervorrufen. Sie fördern allerdings auch die Kreativität, verbessern die Entscheidungsfähigkeit und vergrößern das Engagement. Daher ist der Leiter gut beraten, dieses Potenzial der individuellen Vielschichtigkeit gut im Team zu nutzen, für Diskussionen, für differenzierte Lösungsvorschläge, für individuell abgestimmten Einsatz der Mitarbeiter bei unterschiedlichen Aufgaben [13, 17]. Die Mitarbeiter sind besser motiviert, wenn sie den Eindruck haben, dass sie in ihrer Individualität respektiert werden. Andererseits fördert die Toleranz gegenüber den individuellen Verschiedenheiten das gemeinsame Klima im Team; es ist das beste Mittel gegen Mobbing. Wichtig für den Erhalt der Arbeitsmotivation ist eine dialogorientierte Zusammenarbeit zwischen Mitarbeitern und Leitung, die sich mit Zielvereinbarungsgesprächen wirkungsvoll herstellen lässt. Auf diese Weise werden die Mitarbeiter stärker in das Klinikgeschehen eingebunden, und ihre Eigeninitiative und ihr Verantwortungsbewusstsein werden ausgebaut. Sie kennen die Ziele ihrer Klinik/ihrer Station und ihren konkreten Beitrag zum Erreichen des Gesamtziels. Transparenz, Identifikation und Motivation sind die Folge. Ein gut motiviertes Team hat eine »corporate identity«, es identifiziert sich mit seiner Aufgabe, mit seinen Mitarbeitern und mit dem gesamten Arbeitsumfeld. Das Team hat ein Selbstbewusstsein und ist stolz auf die eigenen Leistungen. Der Leiter tut gut daran, ein solches Selbstbewusstsein zu fördern, das jedoch nicht zur Überheblichkeit gegenüber anderen Leistungsträgern führen darf. Arbeitszufriedenheit und Motivation sind wichtige Faktoren, mit denen gute Leute gehalten werden, von denen sich neue Bewerber angezogen fühlen und die erheblich zur Burnout-Prävention beitragen.
10.5
Kommunikation
10.5.1
Zwischenmenschliche Kommunikation
Gute Kommunikation ist für eine effiziente, reibungslose Arbeit des Teams unerlässlich: klare Anweisungen zur Aufgabenverteilung, zu Arbeitsabläufen (SOPs), Visiten, gemeinsame Besprechungen, aber auch Weiterbildungskonferenzen und Zwischenfallbesprechungen (sog. M&M-Konferenzen) und Zielvereinbarungsgespräche. Viel-
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Kapitel 10 · Organisation und Management
fach entstehen Unstimmigkeiten und Streitigkeiten durch unklare, fehlende oder widersprüchliche Kommunikation. Schlechte Kommunikation, sowohl innerhalb der Gruppe als auch zwischen Gruppe und Leitung, ist eines der häufigsten und schwerwiegendsten Probleme. Sie verursacht Irrtümer und Behandlungsfehler, führt zu Konflikten und Frustration. Kommunikation dient nicht nur zur Information, sondern fördert auch zwischenmenschliche Beziehungen.
Ich-Botschaft: Was hat das alles mit mir zu tun? Wahrnehmung:
Beschreiben, was ich gesehen, gelesen, gehört, gefühlt habe, Zahlen, Daten, Fakten nennen → »Mir ist aufgefallen, dass …«
Wirkung:
Beschreiben, welche Gefühle diese Wahrnehmung bei mir ausgelöst hat → »Es hat mich geärgert, dass …«
Wunsch:
Kurzfristig Anweisung Langfristig darüber reden, was der andere braucht → »Ich wünsche mir von Ihnen, dass …«
> Konflikte lassen sich nur durch Kommunikation lösen!
Gute kommunikative Fähigkeiten zählen daher zu den wichtigsten Eigenschaften eines Leiters (. Abb. 10.2). In der hektischen, stressbelasteten Arbeitsatmosphäre der Intensivstation ist gute Kommunikation eine schwierige Aufgabe. Es lohnt sich, in ihre Verbesserung einige Mühe zu investieren: Die USamerikanische Gesellschaft für Intensivmedizin hat einige beachtenswerte Handlungsanweisungen und Regeln erstellt [4]: aktives Zuhören, betonte Stimmgebung, Wiederholung zur Sicherung des Verständnisses (Wer? Was? Wie?) sowie schriftliche Zusammenfassungen über abgeschlossene Diskussionen (z. B. »Tagesthemen«). Eine wichtige Methode der zwischenmenschlichen Kommunikation ist es, Feedback zu geben und zu nehmen (. Abb. 10.3). Auf diese Weise lässt sich anderen mitteilen, wie man sie sieht, oder aber etwas darüber erfahren, wie man selbst wahrgenommen wird. Eine gut funktionierende Feedback-Kultur ist ein wichtiges Führungsinstrument, mit dem sich die Zusammenarbeit wirkungsvoll verbessern lässt – vorausgesetzt, es werden einige Grundregeln der Kommunikation eingehalten, und die Rückmeldungen werden akzeptiert. Der Kern eines Feedback-Gespräches besteht immer
. Abb. 10.3 Feedback
aus Ich-Botschaften, die ganz eindeutig die Wahrnehmungen und Wünsche aus der eigenen Sicht beschreiben. Um sie zu formulieren und auch anzunehmen, bedarf es auf beiden Seiten Geber- und Nehmerqualitäten, deren wichtigstes Merkmal das aktive Zuhören ist. Feedback ist niemals gleichzusetzen mit einer verallgemeinernden Abrechnung. Im Vordergrund stehen dabei immer das Treffen von Absprachen und das Aufzeigen von Perspektiven. Feedback sollte nur unter vier Augen und persönlich gegeben werden. Wichtig ist, dass der Feedback-Empfänger sein Gesicht nicht verliert.
Tägliche Visite Die tägliche Visite bildet die Grundlage für die laufende Diagnostik und Behandlung jedes individuellen Patienten. Die Vermittlung so zahlreicher und komplexer Informationen, hinreichend vollständig und in so kurzer Zeit, erfordert ein hohes Maß an allseitiger Disziplin. Andererseits muss die Zeit ausreichen, um Fragen zu stellen und gezielte Diskussionen zu ermöglichen. Die fachliche Diskussion mit den Experten der beteiligten Fachgebiete ist die Grundlage des multidisziplinären Konzepts jeder guten Intensivmedizin. Die Visite ist Beratung, Erkenntnisaustausch – nicht nur einseitige Information oder Berichterstattung.
Partnerschaftliche Kommunikation
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Vision
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Strategie
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Gruppenbesprechungen
10 10 Chefarzt
Ärzte
ch e
10 Ge
sp rä
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Der Kern des Feedbacks – gelungene Ich-Botschaften
Gespräche Leitung, Pflege . Abb. 10.2 Partnerschaftliche Kommunikation
Pflegekräfte
Ein wichtiges Mittel zur Kommunikation organisatorischer Fragen ist die Gruppenbesprechung. Direkte Reaktionen auf Informationen können angeregt werden, Missverständnisse werden durch Nachfragen vermieden. Dies verbessert die Akzeptanz bei den Mitarbeitern und fördert ihr Engagement. Gruppenbesprechungen sollten regelmäßig abgehalten werden, einen definierten Zeitrahmen sowie eine feste Tagesordnung haben. Es ist die Aufgabe des Leiters, die nötige Balance zwischen offener, aber konzentrierter Diskussion und zielgerichteter Entscheidung zu finden. Die Informationen müssen verstanden werden, Mutmaßungen sind zu vermeiden, die abschließende Botschaft sollte wiederholt und schriftlich fixiert werden, damit Missverständnisse ausgeräumt werden [4]. Gruppenbesprechungen fördern die Teambildung. Es entwickelt sich ein besseres Verständnis zwischen den Mitarbeitern, wenn sie Informationen austauschen und sich gegenseitig ihre Auffassungen darüber mitteilen.
101 10.6 · Konfliktmanagement
Konfliktmanagement
Regeln für erfolgreiche Leitung von Gruppenbesprechungen
10.6
4 4 4 4 4 4 4
Ein Konflikt ist ein Kräftemessen zwischen unterschiedlichen Interessen. Konflikte sind oft unausweichlich und werden meist als störend empfunden, sie sollten aber öfter als Ausdruck kreativer Auseinandersetzung gesehen werden. Dann haben sie eine wichtige Funktion der Verbesserung und der Erneuerung – kurz der Vitalität. In einer Abteilung ohne Konflikte gibt es: 4 keine Veränderungen, 4 keine Motivation der Mitarbeiter, 4 ungenutzte Ressourcen.
Definiere die Ziele … sei gut vorbereitet! Verstehe die Umstände … höre zu! Entdecke die Ursachen … frage! Identifiziere die Verursacher … frage! Lasse die Gruppe diskutieren … aber zielorientiert! Fasse zusammen … aber kurz! Konklusion: Wer tut was
Einführung von neuen Mitarbeitern Ein besonderes Problem der Kommunikation ist die Einführung von neuen Mitarbeitern in die Intensivmedizin. Die Grundregel ist denkbar einfach: Je besser die Mitarbeiter in ihre Aufgaben eingewiesen werden, desto früher können sie ihre Arbeit übernehmen. Dieser einfache Grundsatz wird häufig missachtet. Anfänger werden ohne ausreichende Vorbereitung in ihre Aufgabe hineingeworfen – und dann wundert man sich, wenn sie ihre Aufgabe nicht gut erledigen oder gar Angst vor der komplexen Intensivmedizin bekommen! Eine gute Einführung motiviert die Mitarbeiter. Unmotivierte Mitarbeiter leisten schlechte Arbeit und verursachen die häufigsten Probleme am Arbeitsplatz. Eine gut strukturierte Einführung beginnt mit einer Unterrichtsphase (möglichst am Arbeitsplatz), mit Informationen und Arbeitsanweisungen (SOPs). In dieser Phase sollte der Mitarbeiter möglichst von einem individuell benannten Tutor betreut werden. Danach beginnt die Eingewöhnungsphase, in der dann die direkte Betreuung durch individuelle Information und eine generellere Gruppenbetreuung abgelöst wird. Die regelmäßige Überprüfung (offen oder verdeckt) der jeweiligen Kenntnisse und Fähigkeiten des neuen Mitarbeiters zeigt, inwieweit er bereits in der täglichen Arbeit eingesetzt werden kann. Dieser relativ aufwendige Betreuungseinsatz lohnt sich jedoch: Als je besser vorbereitet der neue Mitarbeiter sich empfindet, desto motivierter widmet er sich seiner Aufgabe und wird bald ein wertvolles Teammitglied sein.
10.5.2
Kommunikationstechnik
Für eine gute Kommunikation müssen auch die technischen Voraussetzungen gegeben sein: Stationseigene Telefon- und Faxanschlüsse, PC-basierte Information (Internet, Literaturabfrage, wissenschaftliche Datensammlung, Rote Liste, DRG-Kataloge etc.). Ein computerbasiertes Patientendatenmanagementsystem (PDMS) verbessert nicht nur die Patienten- und Behandlungsdokumentation, sondern ermöglicht auch eine effiziente Leistungs- und Aufwandsdokumentation. Eine funktionsbezogene digitale Kommunikation etwa für Anforderungen und Befunde aus dem Zentrallabor, der Mikrobiologie und anderen Leistungsstellen verbessert die Übermittlungsschnelligkeit und -sicherheit und vermindert Aufwand und Zeitaufwand deutlich. Auch digitale Bild- und Befundvermittlung für Röntgenaufnahmen bringen große Vorteile. Ferner bietet die Telemetrie heute neue Möglichkeiten der Kommunikation: Das Spektrum reicht von der Übertragung von Patienten- und Befunddaten innerhalb der Hauses bis hin zur Fernübertragung von CT- und Röntgenbildern zwischen kleineren Krankenhäusern und Expertenzentren. Der bestechende Vorteil ist, dass eine Expertenberatung rasch zugänglich gemacht werden kann.
> Das Arbeitsklima ist langweilig, und alles ist vorhersehbar.
So können Konflikte nützlich und kreativ sein. Sie können sich aber auch destruktiv auswirken, sie können die Produktivität herabsetzen und Stress, Chaos und Desintegration auslösen. Daher müssen wir verstehen, wie Konflikte entstehen und wie sie nutzbringend verarbeitet werden können. > Probleme erwachsen meist nicht aus dem Konflikt, sondern aus den Fragen, ob überhaupt und wie man sich des Konfliktes annimmt.
10.6.1
Konfliktdiagnose
Um einen Konflikt zu beurteilen, muss zunächst eine richtige »Diagnose« gestellt werden.
Konflikttypen Es ist wichtig, zu verstehen, auf welchen der 4 typischen Ursachen der Konflikt letztlich beruht: 4 auf Differenzen auf dem Gebiet der strategischen Zielvorgaben, 4 auf Problemen der Aufgabenstellung und Organisation, 4 auf dem Gebiet von individuellen Zielvorstellungen und Interessen oder 4 auf sozialer und emotionaler Ebene. > Nur mit dieser Kenntnis kann man den Konflikt ursächlich angehen und lösen.
Bei Konflikten der strategischen Zielvorgaben (z. B. Aufgabenstellung der ITS) müssen Definitionen formuliert und Informationen verbessert werden. Bei Entscheidungen »entweder/oder« wird es allerdings unvermeidbar gelegentlich »Verlierer« geben. Bei organisatorischen Problemen können Funktionsabläufe verbessert, Arbeitsanweisungen formuliert und in organisatorische Hilfsmittel investiert werden. Bei individuellen Interessenskonflikten, die manchmal nicht klar formuliert sind, muss nachgefragt werden. Bei Konflikten auf sozialer und emotionaler Ebene müssen die Konfliktpersonen miteinander konfrontiert werden, müssen Besprechungen zwischen den Konfliktparteien stattfinden, ggf. müssen Individuen aus dem Team herausgelöst werden. In allen Fällen ist die Führungskompetenz des Leiters gefordert.
Konfliktbedingungen Im Konflikt zählen nicht nur die Argumente; auch die Bedingungen des Umfelds spielen eine große Rolle: So wird man es sich lange überlegen, ob man gegen einen sehr mächtigen Gegner einen Streit vom Zaun bricht. Die Umfeldbedingungen müssen also klar berücksichtigt werden: die hierarchische Struktur, die Gruppeninteressen (Ärzte/Pflegekräfte), die Interessenslager
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Kapitel 10 · Organisation und Management
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(»Verbündete«/«Gegner«), die möglichen Alternativen, die eigene Expertise, die eigene Glaubwürdigkeit und vieles mehr.
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Konfliktstadien
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Ein Konflikt ist nicht statisch, sondern hat seine eigene Dynamik. Dies zu verstehen hilft, um bei der Intervention Zeitpunkt und Maßnahmen richtig und angepasst auszuwählen. Der Konflikt beginnt meist als latenter Konflikt, der von den Beteiligten noch nicht wahrgenommen wird. Erst später wird er deutlich, und die einzelnen Parteien beziehen Stellung; diese Phase sollte zur Konfliktlösung genutzt werden. Wird der Konflikt nicht zufriedenstellend gelöst, dann beginnt die Eskalation: Die Standpunkte verhärten sich, Gespräche werden abgewiesen, es kommt zu Beschuldigungen und Verletzungen. Erst wenn alle einsehen, dass es so nicht weitergehen kann, tritt die Deeskalation ein: Jetzt wird miteinander geredet, verhandelt, um eine gute Lösung gerungen. Die allerletzte Phase jedoch wird oft vergessen: Schließlich muss wieder Frieden einkehren, alle müssen wieder miteinander ein vernünftiges Arbeits- und Vertrauensverhältnis aufbauen. Geschieht das nicht, dann wird sich dieser Konflikt wieder aufschaukeln, und das Ganze beginnt von Neuem. Auch hier ist also die soziale Kompetenz des Leiters gefragt. Konflikte sollten früh wahrgenommen werden. Eine Klärung bzw. Lösung sollte rasch versucht werden. Sonst droht die Eskalation.
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Eigene Position
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Bei der Diagnose des Konflikts ist es für den Leiter wichtig, die eigene Position zu analysieren: Steht er über den Konfliktparteien, dann kann er aus seiner Position objektiv und fair eine Entscheidung fällen und die Gruppen wieder zusammenführen. Steht der Leiter direkt zwischen den Parteien, sind seine tatsächliche Meinung und vielleicht auch seine Vermittlungsfähigkeit gefragt. Eine faire Vermittlung, die von beide Seiten akzeptiert wird, kann zu einer schwierigen Herausforderung werden. Ist der Leiter jedoch Teil des Konflikts und muss bei den Verhandlungen eine eigene Interessensgruppe vertreten, ist es besonders schwierig. In diesem Fall muss er sehr genau wissen, wozu er befugt ist und wozu nicht. Wichtig ist der enge Kontakt zur eigenen Interessengruppe sowie die Durchsprache der vorgesehenen Entscheidungen. Nichts ist frustrierender, als die Ablehnung einer mit Mühe erreichten Entscheidung durch die eigene Interessengruppe. Hat der Leiter im Konfliktfall die Krankenhausinteressen zu vertreten, ist die Verantwortlichkeit gegenüber dem eigenen Team höher zu bewerten. Hält er in solchen Situationen nicht zu seinen Mitarbeiten, kann sich das nachhaltig auf das Arbeitsklima auf der Station und auf die Leistung auswirken.
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10.6.2
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Konfliktlösung
Die ideale Lösung eines Konfliktes bedeutet ein gutes Ergebnis für beide Parteien und eine verbesserte zwischenmenschliche Beziehung; dies ist in jeder Hinsicht eine Win-win-Situation. Wer Konflikte grundsätzlich vermeidet und, wenn sie vorkommen, sich ihnen nicht stellt, wird weder gute Ergebnisse erzielen noch ein gutes Arbeitsklima erreichen; das wäre eine typische Lose-lose-Situation. Irgendwo dazwischen liegt das weite Feld der Kompromisse. Dabei sollten ausgesprochene Win-lose-Situationen vermieden werden, da sie oft zu neuen Konflikten Anlass geben und die Stimmung unnötig vergiften.
Verhandlungen Konflikte lassen sich am sichersten durch Verhandlungen lösen. Die Voraussetzung für eine gemeinsame Lösung ist, dass es neben den unterschiedlichen Standpunkten auch gemeinsame Interessen gibt, die es bei den Verhandlungen zu betonen gilt. Verhandlungen bedeuten in erster Linie, zuzuhören, zu versuchen die tatsächlichen Motive der Gegenpartei zu verstehen, Fragen zu stellen, um sicherzugehen, dass die Probleme und die Motive richtig verstanden wurden, und die Gegenpartei aufzufordern, ihrerseits Fragen nach Ihren Gründen und Hintergründen zu stellen. Gutes gegenseitiges Verständnis der Motive und Ziele erleichtert und beschleunigt die Verhandlung. Wird von anderer Seite ein Angebot gemacht, sollte die Berücksichtigung der eigenen Interessen geprüft werden (Win-Win-Situation). Sind diese nicht berücksichtigt, sollte das Angebot abgelehnt werden. Wichtig ist die Frage nach den Alternativen: Als BATNA (»best alternative to a negotiated agreement«) werden die minimalen Bedingungen bezeichnet, unter denen noch eine Einigung akzeptiert werden kann. Es ist empfehlenswert, sich vor Verhandlungsbeginn über die eigenen BATNA Klarheit zu verschaffen. Während der Verhandlungen wird die Gegenpartei oft versuchen, den Druck zu erhöhen, um eine Lösung zu erzwingen. Lösungen unter Entscheidungsdruck sind jedoch selten gut. Daher sollte der Leiter diese Strategie durchschauen, um sich von dem Druck zu lösen. Dazu sind geeignet: das Entscheidungstempo zu verlangsamen oder den Entscheidungsprozess zu unterbrechen, die direkte Konfrontation mit einem mächtigen Gegner durch Zeitbegrenzung zu verkürzen, oder schließlich sich einen anderen Verhandlungspartner zu suchen, um dem Druck auszuweichen.
Konzessionen Zu einem bestimmten Zeitpunkt werden die Verhandlungsparteien zu Konzessionen genötigt werden, damit man schließlich zu einer Entscheidung kommt. Hierfür gibt es einige Regeln: 4 Konzessionen spät und in kleinen Schritten machen, 4 Konzession bevorzugen, die nichts kosten, 4 Leistungen auf Gegenseitigkeit kombinieren (etwa: »wenn ich…, dann müssen Sie…«). 4 Bedingungen deutlich vortragen (nicht: »Könnten Sie nicht vielleicht etwas mehr zahlen?«). 4 Konzessionen sind »Handelswaren«. Daher empfiehlt es sich, ein paar Konzessionen in der Hinterhand zu behalten, die genutzt werden können, wenn es im letzten Moment unbedingt erforderlich sein sollte. Bei den Verhandlungen sollte nach Möglichkeit eine gute Partnerschaft aufrechterhalten werden. Das Ziel der Verhandlung ist ein gutes Ergebnis, das sich in partnerschaftlicher Zusammenarbeit nachhaltig bewähren muss. Verhandlungen sind keine Kampfhandlungen. Gegner sind keine Feinde. Die Fähigkeit einer guten Konfliktbewältigung sind hervorragende Eigenschaften eines sozial kompetenten Leiters. Dabei muss er seine Strategie der Konfliktbewältigung sorgfältig an die jeweiligen Gegebenheiten anpassen. Nicht jeder Konflikt ist mit den gleichen Mitteln zu lösen. Aber selbst, wenn er dies anfangs noch nicht beherrscht, lernen doch manche in ihrem Beruf noch dazu. Zusammenfassung Eine gut funktionierende Intensivstation zu leiten ist eine große Herausforderung. Sie anzunehmen bedeutet, neben hohen fachspezifischen
103 Literatur
Anforderungen regelmäßig in Führungszeit zu investieren – eine Investition, zu der es keine Alternative gibt. Der Schlüssel zu einem erfolgreichen intensivmedizinischen Team ist regelmäßige Kommunikation mit allen Beteiligten. Kommunikation ist der Transmissionsriemen, der eine Kultur des Verstehens, der Wertschätzung sowie der Ziel- und Prozessorientierung antreibt und erhält. Es liegt im Aufgabenbereich des Leiters, diesen Transmissionsriemen in Bewegung zu halten und zu pflegen. Die Basis dafür bildet die Orientierung an folgenden Führungsgrundsätzen: Fürsorgeprinzip, Verteilungsgerechtigkeit, Vorbildfunktion, Informationsfluss und Feedback. Die Investition in Führungszeit zahlt sich in jedem Fall aus. Denn sie erhält die Motivation der Mitarbeiter und kommt somit gleichzeitig den Patienten und Angehörigen zugute.
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10
105
Weiterbildung und Kompetenzvermittlung in der Intensivmedizin A.R. Heller, M.P. Müller
11.1
Einführung – 106
11.2
Umfeld intensivmedizinischer Aus-, Weiter- und Fortbildung – 107
11.3
Ziele des intensivmedizinischen Abschnitts der Facharztweiterbildung – 107
11.4
Entwicklung und Implementierung eines Curriculums – 108
11.5
Vom Wissen zum Können – 112
11.6
Nutzung von Simulatoren und Algorithmen für unterschiedliche Aspekte der Wissensvermittlung – 113
11.6.1 11.6.2 11.6.3 11.6.4
Technische Fertigkeiten – 113 Nicht technische Fertigkeiten – 114 Prozeduren und Handlungsabläufe – 114 Systemkenntnis – 115
Literatur – 115
H. Burchardi et al. (Hrsg.), Die Intensivmedizin, DOI 10.1007/978-3-642-16929-8_11, © Springer Medizin Verlag Berlin Heidelberg 2011,
11
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106
Kapitel 11 · Weiterbildung und Kompetenzvermittlung in der Intensivmedizin
11.1
Einführung
Lehre und Weiterbildung sind allumfassende Prozesse, die letztlich in einer Verhaltensänderung des Lernenden resultieren sollen. Die formenden Faktoren dabei sind die Arbeitsumgebung, das Curriculum, eigene Erfahrungen sowie die Inhalte besuchter Weiterbildungsveranstaltungen und bettseitiger Weiterbildungsaktivitäten. Am nachhaltigsten aber wirkt Lernen an einem positiven Vorbild [18], das die vermittelten Inhalte – fachlicher wie nichtfachlicher Natur – selbst vorlebt. Ein grundsätzlicher Vorteil der Erwachsenenbildung ist dabei die vergleichsweise hohe Lernmotivation und Zielorientierung der Lernenden. Entsprechend sollten die Weiterbildungsbefugten diesen gerne übersehenen Lerneifer unter Berücksichtigung des jeweils mitgebrachten Weiterbildungsstandes als Transmissionsriemen für eine effektive intensivmedizinische Weiterbildung zu nutzen lernen. Der Lehrende sollte sich hier dem Anspruch stellen, für den Lernenden wie ein Sprungbrett in die nächste Wissensebene zu wirken. Das Bestreben des Lehrenden, sich besonders kenntnisreich und bedeutend darzustellen, hat in der Weiterbildung keinen Platz. Wissensvermittlung in der Intensivmedizin muss in diesem Sinne als Kontinuum von der studentischen Lehre [2] über die Intensivzeit während der Facharztweiterbildung [10] und Intensivspezialisierung bis hin in die tägliche Praxis verstanden und gelebt werden. Dabei werden bereits während der studentischen Ausbildung Lehrmethoden angewandt, die das lebenslange Lernen fördern und methodisch den Grundstein für die lernerzentrierte Weiterbildung legen. > Einflussfaktoren für die Kompetenzvermittlung sind die Arbeitsumgebung, das Curriculum, eigene Erfahrungen, Weiterbildungsaktivitäten und Lernen am Vorbild.
Um dies zu erreichen, muss der Lehrer in der Intensivmedizin einer Reihe von Qualitätsansprüchen genügen [5]. Neben der formal nachgewiesenen intensivmedizinischen Fachkompetenz im entsprechenden Fachbereich (Subspezialisierung) und kontinuierlichem eigenem Lernen (Literatur, Kongresse) muss die Weiterbildung ein echtes Anliegen des Weiterbildenden sein, was sich in der Schaffung von zeitlichen Freiräumen, Entwicklung der eigenen Lehrbefähigung, dem Engagement in intensivmedizinischen Netzwerken sowie einem eigenen Curriculum zeigt. Zudem sollte zur Qualitätssicherung in der Lehre regelmäßig Austausch mit anderen Lehrenden innerhalb und außerhalb der Institution bestehen [26]. Ein ergänzender Aspekt, der den Horizont sowohl der Lernenden als auch der Lehrenden weitet, ist die Schaffung eines Umfelds, in dem intensivmedizinische Forschung (klinisch, experimentell, Versorgungsforschung) im weitesten Sinne gedeihen kann. Schließlich sollte der Lehrende mit Qualitätssicherungssystemen vertraut sein sowie mit ethischen, rechtlichen und betriebswirtschaftlichen Themen, soweit sie die Intensivmedizin berühren. > Lehrer in der Intensivmedizin müssen neben reiner Fachkompetenz Mindeststandards erfüllen in eigener Weiterbildung, Lehrbefähigung, Curricularentwicklung, Netzwerk, Forschung und Qualitätsmanagement.
Die Relevanz einer zertifizierten ärztlichen Weiterbildung für das Überleben von Patienten nach Standardeingriffen konnten Silber et al. zweifelsfrei belegen [28]. Trotzdem wird medizinische Aus- , Weiter- und Fortbildung in Deutschland häufig stiefmütterlich nach dem Motto »see one – do one – teach one« [30] behandelt. Die qualitätssichernde Maßnahme »get one« existiert begreiflicherweise nur in Ausnahmefällen [20]. Ein strukturiertes Erlernen von Prozeduren und Maßnahmen unter Supervision [10] gehört nicht zur
Lehrkultur und hat in Deutschland im Vergleich zu den Vereinigten Staaten [5] traditionell kaum einen Stellenwert. Umfrageergebnisse bei deutschen Oberärzten zeigen, dass strukturierte Anleitung in 71 % der Einrichtungen erfolgt, »learning by doing« allerdings noch immer 50 % ausmacht (Mehrfachauswahl möglich [6]). Dies hat seine Ursache einerseits im Fehlen einer ärztlichen Lehrerausbildung und mangelnder Wertschätzung der Lehrtätigkeit für Karriereentscheidungen, andererseits auch in der Entgeltstruktur der Krankenhäuser, die bislang keine Vergütung für ihre Weiter- und Fortbildungstätigkeit erhielten und folglich weder eine diesbezügliche Personalstruktur noch Lehr- und Lernkultur vorhielten. Diese Situation hat sich unter dem betriebswirtschaftlichen Primat seit der DRG-Einführung verschärft, indem viele Kliniken vorrangig mit Facharztbesetzung arbeiten und keine Weiterbildung mehr mit der ihr innewohnenden Qualitäts- und Ressourcenproblematik (notwendige Supervision, nicht indizierter diagnostischer Aufwand, Fehlerbehebungskosten, verlängerte Verweildauer etc.) anbieten. > Da in Deutschland weder eine ausreichende medizinische Lehrerausbildung noch eine Wertschätzungskultur für ihre Ausbildertätigkeit besteht, ist »learning by doing« noch immer an der Tagesordnung.
Trotz dieses negativen Trends im Stellenwert von Aus-, Fort- und Weiterbildung sind in den letzten Jahren gleichfalls gegenläufige positive Entwicklungen zu beobachten. So sind die Evaluation der Lehrveranstaltungen an den Universitäten sowie die Veröffentlichung der Ergebnisse mittlerweile durch die Approbationsordnung vorgeschrieben, und die Qualität der Weiterbildung an den Krankenhäusern wird im Rahmen eines bundesweiten Benchmarking-Projekts der Bundesärztekammer evaluiert [16]. Diese in der Schweiz bereits lange bestehenden Vergleichsmöglichkeiten der Qualität in der Weiterbildung werden zukünftig auch in Deutschland wesentlich für die Arbeitgeberwahl durch den Arzt sein. Die Qualität der Wissensvermittlung muss daher für die Weiterbildenden gerade auch im Hinblick auf den demographischen Wandel mit Fachkräftemangel und zunehmender Patientenkomplexität ein zentrales Interesse sein. > Die Veröffentlichung der Weiterbildungsqualität nach Schweizer Vorbild wird im Rahmen des zunehmenden Fachkräftemangels Migrationsbewegungen hin zu den in der Lehre ausgewiesenen Standorten auslösen.
Zur Professionalisierung der Lehre und zur Etablierung von medizinischer Lehrkompetenz in Deutschland wurde ein Studiengang »Master of Medical Education« (MME-D) etabliert. MME-Absolventen beginnen nun mit dem Aufbau und der Strukturierung von Curricula an den Universitäten. Diese vornehmlich auf die studentische Lehre fokussierten Maßnahmen strahlen aber auch positiv auf die ärztliche Weiter- und Fortbildung aus, indem dieses neue Know-how ebenfalls in lokale Curricula für Weiter- und Fortbildung einfließt. > Neue Chancen entstehen durch medizinische Lehrerausbildung »Master of Medical Education«.
107 11.3 · Ziele des intensivmedizinischen Abschnitts der Facharztweiterbildung
11.2
Umfeld intensivmedizinischer Aus-, Weiter- und Fortbildung
Unabhängig von der Art der hochspezialisierten Tätigkeit in Risikobereichen (Luftfahrt, Reaktorbetrieb, Militär etc.) muss sich die Wissensvermittlung innerhalb einer Berufsgruppe aber auch im interdisziplinär/multiprofessionellen Team immer sowohl am Umfeld als auch den Zielen der Arbeitsprozesse orientieren. Dazu bedarf es der nüchternen Analyse des intensivmedizinischen Arbeitsumfelds, das jedem Teammitglied Schwächen [15] einräumt, diese allerdings durch organisatorische und ausbilderische Maßnahmen auffängt. Voraussetzungen für eine erfolgreiche Aus- und Weiterbildungstätigkeit in der Intensivmedizin sind klare Führungsstrukturen und ein offener Dialog aller beteiligten Berufsgruppen mit dem eigenen Bedürfnis zu Qualitätsverbesserung. Dazu gehört ebenso eine gemeinsame Vision Aller für eine patientenzentrierte Intensivtherapie und das Ziel der bestmöglichen Patientenversorgung unter Einbeziehung evidenzbasierter Behandlungsalgorithmen in die tägliche Versorgung. Zum Aspekt der Qualitätssicherung gehört dabei in allen beteiligten Berufsgruppen eine offene Fehlerkultur (7 Kap. 8) und die fortlaufende Messung der Ergebnisqualität zur Bestimmung der Effektivität der getroffenen Maßnahmen sowie der Weiterbildung. Eine fest verankerte positive Kommunikationskultur mit den Patienten und Angehörigen gehört darüber hinaus zu den guten Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Weiterbildungstätigkeit [5]. > Organisatorische und Ausbildungsmaßnahmen müssen allgegenwärtige Schwächen im Team auffangen. Dazu gehören ein offener Dialog, Qualitätsmessung und -verbesserung, Patientenzentrierung, EBM und Handlungsalgorithmen.
Das in . Abb. 11.1 dargestellte Führungsmodell für medizinische Hochrisikoeinrichtungen [9], wie es Intensivstationen sind, bezieht die relevanten Umfeldfaktoren mit ein: Zunächst wird ein (Therapie-) Ziel definiert, das als Führungsaufgabe an die Teammitglieder kommuniziert wird. Bereits in diesem Stadium des Task Management können in der Intensivmedizin die Rahmenbedingungen Komplexität, Zeitdruck und Fehlerrisiko entscheidende Auswirkungen auf die Qualität der weiteren Schritte bis zur Zielerreichung haben (7 Kap. 8). Um die Auswirkungen dieser Störgrößen einzudämmen, können aber verhaltensorientierte Techniken wie evidenzbasierte Algorithmen (»standard operation procedures«; SOP) [3, 25], Simulatortraining sowie Crew Ressource Management (7 Abschn. 11.5.2) und Critical Incident Reporting (CIRS) [13] er-
Führung Z ie lde finition
Effektivität
K ommunika tion
Risiko Komplexität Zeitdruck
Mitarbeit
Ausführung
Ergebnis Effizienz
. Abb. 11.1 Lernziele der Intensivmedizin, abgeleitet aus den Rahmenbedingung für die (Therapie-) Zielerreichung (weiß Führungsaufgaben, grau Teamaufgaben, blau Störfaktoren). (Mod. nach [9])
gänzend zur rein kognitiven Wissensvorhaltung Outcome-relevant eingesetzt werden [8]. Unter Mitarbeit des Teams kommt es zur Ausführung der z. B. im Rahmen der Visite kommunizierten Aufgabe. Das Ergebnis hängt hierbei maßgeblich von der Effizienz (die Dinge richtig tun) des Gesamtteams ab. Die Frage, ob das Ergebnis dem ursprünglich definierten Ziel entspricht, wird vielfach nicht gestellt, ist aber der Kernpunkt eines jeden Qualitätsmanagements und damit Führungsaufgabe [4]. Nur im Abgleich von erreichtem Ergebnis mit dem einst definierten Ziel kann die Effektivität (die richtigen Dinge tun) eines Teams überhaupt erst bestimmt werden. Genau diese Einsichtfähigkeit, dass das Ergebnis einer Aufgabe und ihr ursprünglich definiertes Ziel vielfach diskrepant sind und eine Nachjustierung der Aufgabenstellung mit erneutem Durchlaufen eines Zyklus verlangt, macht gute Intensivmediziner aus. Hier wird deutlich, wie Verhaltensaspekte, wie rechtzeitige selbstkritische Rückmeldungen aus dem Team, zu einem wichtigen Steuerinstrument werden. Auf diese Weise lässt sich die Zielerreichung innerhalb eines Visiten-Visiten-Zyklus sowohl effektiv als auch effizient gestalten. > Effizienz misst sich am erreichten Ergebnis, Effektivität am ursprünglichen Ziel. Ein Metalernziel der Weiterbildung ist, dass regelhaft ein Unterschied zwischen Ziel und Ergebnis besteht und Nachjustierungen notwendig sind.
11.3
Ziele des intensivmedizinischen Abschnitts der Facharztweiterbildung
In seinem Buch »Das Unerwartete managen« beschreibt K. Weick Besonderheiten von Hochrisikoorganisationen (HRO), zu denen er auch die intensivmedizinische Versorgung zählt [31]. Diese Eigenschaften sind genau die Lernziele, die der Arzt während seiner intensivmedizinischen Weiterbildung verinnerlichen muss:
»
Menschen brauchen oft zu lange, um zu erkennen, dass die Ereignisse ihren Erwartungen zuwider laufen und dass eine problematische Situation eskaliert. Wenn sie dann verspätet erkennen, wie das Unerwartete seine Wirkung entfaltet, gehen ihre Bemühungen, das Unglück einzudämmen, außerdem häufig in die falsche Richtung.
«
Als wesentliche Kennzeichen des Erfolgs von HROs beschreibt Weick ein entschlossenes achtsames Handeln mit der Würdigung schwacher Anzeichen auf sich anbahnende Probleme, sowie der Konzentration darauf, negative Wirkungen mit flexiblen Mitteln symptomatisch einzudämmen, um das Gesamtsystem möglichst schnell wieder funktionstüchtig zu machen. Dazu gehören die ständig aktualisierte, nicht zu vereinfachende Deutung der komplexen Zusammenhänge und ggf. eine kontraintuitive starke Reaktion (Therapie) auf schwache Signale mit demjenigen Teil des Teams mit der größten Kompetenz für dieses Problem [27] und nicht durch das Mitglied mit der höchsten hierarchischen Stellung [11]. Zuletzt ist das Vorhandensein einer offenen Fehlerkultur Kennzeichen des Erfolgs und der Sicherheit von HROs. Gaba hat die Schlüsselelemente des Crew Ressource Managements zusammengefasst, die eine angemessene Reaktion auf das Unerwartete unter Zeitdruck erleichtern sollen und die auch als übergeordnete Lernziele für Teamarbeit in der Intensivmedizin gelten können (7 Übersicht).
11
108
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Kapitel 11 · Weiterbildung und Kompetenzvermittlung in der Intensivmedizin
Schlüsselelemente des Crew Ressource Management [12] 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4
Kenne Deine Arbeitsumgebung. Antizipiere und plane voraus. Lenke deine Aufmerksamkeit bewusst. Nutze alle verfügbaren Informationen. Reevaluiere immer wieder. Benutze Merkhilfen. Übernimm die Führungs- oder eine Helferrolle. Fordere frühzeitig Hilfe an. Kommuniziere effektiv. Verteile die Arbeitsbelastung. Mobilisiere alle verfügbaren Ressourcen. Verhindere Fixierungsfehler. Teamarbeit aktiv fördern. Setze die Prioritäten dynamisch.
> Der Erfolg von Hochrisikoorganisationen (HRO) liegt in flexiblem entschlossenem Reagieren auf sich anbahnende Probleme. Negative Wirkungen werden symptomatisch eingedämmt, um das Gesamtsystem schnell wieder funktionstüchtig zu machen.
Für eine nachhaltige Weiterbildung konnten dabei gerade im medizinischen Kontext einige Erfolgsfaktoren identifiziert werden [19]. Zuallererst muss der zeitliche Freiraum für die Weiterbildung auf der Intensivstation aktiv gegen den Widerstand der Vielzahl von Aufgaben geschaffen werden. Zudem ist ein Klima des Vertrauens und der Patientenzuwendung auf der Station eine wertvolle Vorbedingung für eine erfolgreiche Weiterbildung. Unabdingbar für den Lehrenden sind Fachkompetenz und die hieraus abgeleitete klinische Glaubwürdigkeit. Sind diese Vorbedingungen erfüllt, so haben sich Einführungs- und Abschlussgespräche für die Lernenden als sinnvoll erwiesen. Zunächst, um den individuellen Bedarf an Förderung und Forderung zu ermitteln und um später ein Feedback für die weitere Entwicklung zu geben, aber auch, um den Effekt der Weiterbildung überhaupt erst messen zu können. In diesem Zusammenhang muss auch die Musterweiterbildungsordnung der Bundesärztekammer berücksichtigt werden, die mindestens jährlich zu dokumentierende Weiterbildungsevaluationen fordert. Ein Fragebogen (. Abb. 11.2) kann hier das Procedere erleichtern, wobei gleichermaßen auch die Lehrperformance parallel dazu erhoben werden muss [10].
Erfolgsfaktoren für die Weiterbildung sind: 4 Schaffung zeitlichen Freiraums, 4 Klima des Vertrauens und der Patientenzuwendung, 4 klinische Glaubwürdigkeit des Lehrenden, 4 Einführungs- und Abschlussgespräche.
11 11 11 11 11
> Einführungs- und Abschlussgespräche ermöglichen erst die Messbarkeit eines Lerneffekts.
Die Visite bildet ein Schlüsselelement der intensivmedizinischen Kompetenzvermittlung. Einen wesentlichen Beitrag liefert in diesem Rahmen auch die Fallvorstellung durch den Lernenden unter achtsamem Zuhören durch den Lehrenden. Dabei soll der Lehrende eher mit sparsamen Rückfragen den Zusammenhang klären lassen als im Monolog sein eigenes Wissen in den Vordergrund stellen. Weiterhin gehören Falldiskussionen z. B. am Flip Chart, zur Schulung von differenzialdiagnostischen und Problemlösungsfä-
higkeiten zu den erfolgreichen Methoden der intensivmedizinischen Wissensvermittlung. Für häufig wiederkehrende klinische Situationen können in diesem Rahmen auch Algorithmen gemeinsam entwickelt werden. Die Präsentation von Themen im Rahmen von Vorträgen oder spontanen Referaten durch Lehrende oder Lernende ist ebenfalls methodisch wertvoll, wenn sie konkret ohne Weitschweifigkeit am aktuellen klinischen Problem bleibt. Das hierdurch bereits gezielt stattfindende Lernen durch Lehren ist eine sehr effektive Möglichkeit des Wissenstransfers. Letztlich kann durch die beschriebenen Personalentwicklungsmaßnahmen trotz Mitarbeiterrotation sichergestellt werden, dass Know-how im Team aufgebaut, erhalten und entwickelt wird [19, 27]. Abgerundet wird der Leistungsstandard in der intensivmedizinischen Weiterbildung, wenn psychosoziale Aspekte des Handelns sowohl am Patienten als auch im Team eine tragende Rolle spielen.
Elemente des Wissenstransfers sind: 4 Fallvorstellungen und -diskussionen innerhalb oder außerhalb der Visite sowie 4 Präsentationen durch Lehrende und Lernende.
> Trotz Mitarbeiterrotation müssen Aufbau, Erhalt und Fortentwicklung des Know-how im Team sichergestellt werden.
11.4
Entwicklung und Implementierung eines Curriculums
Die intensivmedizinischen Kompetenzziele sind Ausschnitte aus den allgemeinen ärztlichen Kompetenzzielen: Medizinischer Experte, Teamarbeiter, Kommunikator mit Patienten und Angehörigen, Organisator, lebenslanger Lerner, Gesundheitsfürsorger und professionell Handelnder [26]. Neben den in 7 Abschn. 11.2 angesprochenen Aspekten ist die Erreichung dieser allgemeinen Kompetenzziele Prüfstein für ein jedes Curriculum.
Kompetenzziele 4 4 4 4 4 4 4
Experte Teamarbeiter Kommunikator Organisator Lerner Gesundheitsfürsorger Professionalität
Um ein krankenhausindividuell passgenaues Intensivcurriculum zu erstellen, das einen Nutzen sowohl für die Weiterbildung als auch für die Krankenversorgung erwarten lässt, hat sich eine 6-stufige Vorgehensweise, die konsequent aufeinander aufbaut, als zweckmäßig erwiesen [14]: Dazu gehört zu allererst eine Umfeld- und Bedarfsanalyse für spezifische Wissensinhalte und Kompetenzen von Seiten der Station an die Mitarbeiter, die vom Profil der Station geprägt ist. Dabei wird es umso einfacher sein, ein passgenaues Curriculum zu entwickeln, je genauer die Problemlage definiert ist. Der Erfolg aller weiteren Schritte für eine verbesserte Patientenversorgung und Weiterbildung hängt davon ab, inwiefern ein genaues Verständnis des Bedarfs existiert. Inhalt dieser Analyse muss es sein, aus der Perspektive der Beteiligten (Arzt, Patient, Pflege etc.) die
11
109 11.4 · Entwicklung und Implementierung eines Curriculums
1.
Wie beurteilen Sie die persönliche Arbeitssituation
1. In welchem Bereich arbeiteten Sie in der letzten Rotation?
KCH
UWC
ORT
NCH
VTG
Wichtigkeit Dies ist für mich ... Bitte kreuzen Sie bei den folgenden Kriterien jeweils die aus Ihrer Sicht zutreffende Antwortmöglichkeit an.
völlig un- unteilweise wichtig wichtig wichtig wichtig
HNO
GYN
URO
ITS
Zufriedenheit Damit bin ich zurzeit ...
sehr wichtig
sehr ununteilweise sehr zufrieden zufrieden zufrieden zufrieden zufrieden
2. Motivation für die tägliche Arbeit durch meine Vorgesetzten 3. Verteilung der Arbeitsbelastung in meinem Bereich 4. Gewährung von Pausen 5. Anerkennung meiner Arbeit durch den Bereichsleiter 6. Möglichkeit, praktische Tätigkeiten entsprechend dem Lehrplan durchzuführen 7. Was haben Sie vermisst (bitte als Freitext)
Dies trifft für mich ...
8. In unserem Krankenhaus lohnt es sich, zur fachlichen oder persönlichen Entwicklung Eigeninitiative zu zeigen
überhaupt nicht zu
nicht zu
teilweise zu
zu
völlig zu
9. In meinem Arbeitsbereich gibt es noch viel Spielraum für Verbesserungen 2.
Wie beurteilen Sie die Zusammenarbeit mit Ihren Kolleginnen und Kollegen und die Information und Kommunikation Wichtigkeit Dies ist für mich ...
Zufriedenheit Damit bin ich zurzeit ...
völlig un- unteilweise sehr wichtig wichtig wichtig wichtig wichtig
sehr ununteilweise sehr zufrieden zufrieden zufrieden zufrieden zufrieden
Bitte kreuzen Sie bei den folgenden Kriterien jeweils die aus Ihrer Sicht zutreffende Antwortmöglichkeit an.
10. Verständliche und eindeutige Informationen für meine tägliche Arbeit 11. Aufgabenabgrenzung/Kompetenzabgrenzung 12. Offene und konstruktive Lösung von Konflikten mit meinen Kolleginnen und Kollegen innerhalb des Bereiches 13. Offene und konstruktive Lösung von Problemen zwischen den Kliniken . Abb. 11.2a Ausschnitt aus Evaluationsbogen für Mitarbeiter durch den Bereichsleiter.
110
11 11
Kapitel 11 · Weiterbildung und Kompetenzvermittlung in der Intensivmedizin
1. Wie beurteilen Sie die allgemeine Entwicklung des Mitarbeiters Für welchen Bereich beurteilen Sie den Mitarbeiter
KCH
UWC
ORT
NCH
11
Name:
Weiterbildungsjahr:
11
Datum Abschlussgespräch:
Zufriedenheit Damit bin ich zurzeit ...
11 11 11 11 11 11
Bitte kreuzen Sie bei den folgenden Kriterien jeweils die aus Ihrer Sicht zutreffende Antwortmöglichkeit an.
sehr ununteilweise sehr zufrieden zufrieden zufrieden zufrieden zufrieden
1. Wissenszuwachs des Mitarbeiters in dieser Rotation
2. Eigene Vorbereitung des Mitarbeiters durch selbstständiges Literaturstudium 3. Der Mitarbeiter ist kritikfähig und setzt die an ihm geübte Kritik konstruktiv um 4. Die Zusammenarbeit des Mitarbeiters mit den operativen Fachkollegen und dem Funktionspersonal (auch auf Station) war kooperativ und produktiv
11 11 11
5. Der Mitarbeiter kann vorhandenes Wissen neu kombinieren und auf neue Situationen übertragen 6. Der Mitarbeiter ist mit einer guten Beobachtungsgabe ausgestattet und erkennt Probleme rechtzeitig
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7. Der Mitarbeiter zögert nicht, in schwierigen Situationen Hilfe durch einen Vorgesetzten zu erbitten 8. Der Mitarbeiter ist in der Lage, einen Handlungsplan zu entwerfen, ihn durchzuführen und zu kontrollieren sowie notwendige Änderungen vorzunehmen (Differenzialdiagnosen/-therapie)
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9. Der Mitarbeiter ist entsprechend seiner Berufserfahrung in der Lage, Prioritäten richtig zu setzen
11
10. Der Mitarbeiter schätzt seine theoretischen und praktischen Fähigkeiten sowie Schwächen realistisch ein
11 11 11 11 11 11
MKG
11. Der Mitarbeiter hat gelernt, selbstständig zu arbeiten, ohne sich unangemessen zu verselbstständigen 12. Im Verhältnis zwischen Ausbildern und dem Mitarbeiter gab es meiner Meinung nach einen intensiven und bereitwilligen Meinungsaustausch 13. Die Entschlussfähigkeit und Belastbarkeit des Mitarbeiters (Verhalten in Stresssituationen) ist dem Weiterbildungsstand entsprechend . Abb. 11.2b Evaluationsbogen für Bereichsleiter durch die Mitarbeiter (Ausschnitt)
VTG
HNO
GYN
URO
Rotationsdauer: Freitexte Beispiele
ITS
111 11.4 · Entwicklung und Implementierung eines Curriculums
gegenwärtige Bewältigungsstrategie für ein Problem einer idealen Lösung gegenüberzustellen sowie disponierende und verstärkende Faktoren zu ermitteln. Hier können bereits existierende Curricula [5, 10] oder auch Leitliniendatenbanken sehr hilfreich sein. Dabei ist es auch wichtig, dass diese Analyse nicht vom grünen Tisch eines Einzelnen aus, sondern im Einvernehmen der maßgeblichen Lehrer einer Klinik im Team erfolgt.
> Bis zum Ende der Intensivrotation (wann) wird der Weiterbildungsassistent (wer) anhand von 5 Fällen (wie viel) das Standardvorgehen bei Patienten mit ICB (was) demonstrieren (tun).
Entwicklung eines Curriculums (6-stufig) 1. 2. 3. 4. 5. 6.
oder psychomotorische Entwicklung (z. B. Angehörigengespräch) der Lernenden beziehen, aber auch auf den Prozess (Teilnahme an Veranstaltungen) oder auch das bisher bewirkte Outcome der dem Lernenden zugewiesenen Patienten. Die Formulierung von Zielen ist indes eine vielfach unterschätzte Aufgabe. Ein wirkungsvoll formuliertes Ziel beinhaltet 5 Grundkomponenten: 4 Wer wird wie viel (wie gut) von was bis wann tun?
Bedarfsanalyse seitens der Patienten/der Station Bedarfsanalyse seitens der Lernenden Zieldefinition Festlegung der Lehrmethoden Implementierung Feedback
Eine entsprechende Lernzielsammlung [5] kann dann als Logbuch erarbeitet werden [10], anhand dessen die Erfüllung der Lehrgegenstände nachgewiesen werden kann.
Im 2. Schritt ist zu klären, welcher Bedarf auf Seiten der lernenden Zielgruppe besteht. Dabei sind sowohl kognitive Vorbedingungen wie die individuelle Fachrichtung, Weiterbildungsstand im Hinblick auf intensivmedizinische Inhalte, Zusatzweiterbildungen als auch affektive (Engagement, Werte, Rollenvorstellungen) und psychomotorische Fähigkeiten bestimmend. Ebenso sind selbst erkannte Defizite der Lernenden und verfügbare oder bevorzugte Lehrressourcen und Lehrformate (Art der Patienten, Medienzugang, Mentoren) bedarfsbestimmend. Hieraus wird klar, dass der 3. Schritt – Festsetzung der konkreten Aufgaben und Ziele des Curriculums – erst dann möglich ist, wenn die Bedarfslagen ermittelt sind. Ihre explizite Formulierung ist deswegen von Bedeutung, weil der Lehrinhalt nur auf diese Weise transparent gemacht und priorisiert werden kann. Gleichzeitig werden die Lernenden fokussiert, und es wird eine Evaluierbarkeit ermöglicht. Dabei können sich Ziele auf die kognitive (z. B. Kenntnis von Definitionen und Zusammenhängen), affektive (Wertungen)
> Ziele können erst dann definiert werden, wenn die Bedarfslagen geklärt sind. Sie beziehen sich auf kognitive, affektive oder psychomotorische Fähigkeiten, die am Lernprozess selbst oder am Outcome gemessen werden können.
Diese Ziele und Lerninhalte bestimmen unter Berücksichtigung der Schritte 1 und 2 die notwendigen Weiterbildungsstrategien und Lehrmethoden, die in . Tab. 11.1 zusammengefasst sind. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Lernerfolg zwar durch Variation geeigneter Lehrmethoden steigt, die Methodenauswahl aber immer auch vor dem Hintergrund der verfügbaren Lehrressourcen getroffen werden muss. Erst jetzt beginnt die Implementierungsphase des Curriculums. Hierbei steht zunächst die Ressourcenproblematik (Personal, Zeit, Räume, Kosten) im Vordergrund [6]. Entsprechend ist hier das frühzeitige Gewinnen von interner und externer Unterstützung (finanziell, administrativ) eine notwendige Vorbedingung, denn die notwendigen Verwaltungs- und Kommunikationsaufgaben (Ma-
. Tab. 11.1 Kongruenz von Lehrziel und Lehrmethode. (Nach [14]) Lehrmethode
Lernziel Kognitiv Wissen
Problemlösung
Affektiv
Psychomotorisch
Denkweise
Skills
Verhalten
Literaturstudium
+++
+
+
+
o
Vorlesung
+++
+
+
+
o
Diskussionen
++
++
+++
+
+
Übungen zu Problemlösung
++
+++
+
o
+
Programmiertes Lernen
+++
++
o
+
o
Lernprojekte
+++
+++
+
+
+
Rollenmodelle
o
+
++
+
++
Demonstration
+
+
+
++
++
Erfahrungen am Lebenden
+
++
++
+++
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Simulator1
+
++
++
+++
++
Video-Feedback
+
o
o
+++
+
Eingriffe Verhalten/Umgebung
o
o
+
+
+++
Erfahrungen am
o nicht empfehlenswert, + gelegentlich nützlich, ++ geeignet, +++ sehr geeignet. 1 Abhängig vom Komplexitätsgrad.
11
112
11 11 11 11 11 11 11 11 11 11 11 11 11 11 11 11 11 11 11
Kapitel 11 · Weiterbildung und Kompetenzvermittlung in der Intensivmedizin
terialien, Ausrüstung, Zeitpläne, Evaluationen) müssen z. B. aus existierenden Sekretariaten heraus übernommen werden. Gleichermaßen müssen Hürden (finanziell, Interessens- und Autoritätskonflikte) identifiziert und entgegnet werden. Schließlich hat sich die Einführung über eine Pilotphase vor dem vollständigen »roll out« bewährt, da erstens Probleme in der Pilotphase im Kleinen behoben werden können und zweitens ein erfolgreicher Pilot dem Gesamtprojekt Triebkraft und Nachfrage verleiht. > Ressourcenknappheit ist die wesentliche Hürde für die Implementierung eines Curriculums. Eine Pilotphase ermöglicht es, Umsetzungsprobleme schnell zuerkennen und zu beheben.
Um die Bedarfsgerechtigkeit des Curriculums an die sich ständig ändernden Rahmenbedingungen anzupassen und sein langfristiges Überleben zu sichern, ist eine regelmäßige beiderseitige Evaluation und Feedback, sowohl der Weiterbildenden als auch der Weiterzubildenden, von hoher Bedeutung (. Abb. 11.2). Die Ergebnisse der Evaluation müssen zwingend für Verbesserungen des Curriculums genutzt werden. Die Anpassung des Curriculums an den Bedarf sichert erst eine Compliance sowohl der Lernenden als auch der Lehrenden mit der Lehrsystematik, da sie dann erst als sinnvoll erachtet und gelebt wird. Dabei muss auch dem Team der Lehrenden motivierende Wertschätzung von Seiten der Klinikadministration entgegengebracht werden (Faculty-development-Programme, Auslobung von Lehrpreisen, Anerkennung von aktiver Weiter- und Fortbildungstätigkeit im Rahmen von Habilitationsverfahren, Öffentlichkeitsarbeit etc.). > Die Anpassung eines Curriculums an die sich über die Zeit wandelnden Bedarfslagen sichert dessen langfristige Akzeptanz. Regelmäßige Evaluationen liefern die Datengrundlage hierfür.
Um ein nachhaltiges Curriculum zu entwickeln und zu erhalten ist ein nicht unerheblicher Aufwand notwendig. Sollten in der Zukunft Weiterbildungskosten vom DRG-System honoriert werden, könnten allerdings entsprechende Ressourcen eröffnet werden. Die Qualität der Weiterbildung wird zukünftig einer der Faktoren sein, die entscheiden, ob der Stellenschlüssel eines Krankenhauses gefüllt werden kann oder nicht. Daher ist ein entsprechendes Engagement in die Curricularentwicklung und -implementierung lohnend. In diesem Zusammenhang steht neben den existierenden Lernzielkatalogen für die Intensivmedizin [5, 10] die Entwicklung eines national konsentierten Katalogs bereits auf der Agenda des DGAI-Arbeitskreises Lehre. > Die Qualität der Weiterbildung wirkt sich nicht nur positiv auf die Performance der aktuellen Mitarbeiter aus, sie erleichtert zudem das Recruiting zukünftiger Mitarbeiter.
11 Vom Wissen zum Können
11
11.5
11
Lang ist der Weg durch Lehren, kurz und wirksam durch Beispiele. (Seneca, römischer Philosoph, ca. 4 v. Chr.–65 n. Chr.)
11
Die Fähigkeiten, die von Lernenden der Intensivmedizin in den unterschiedlichen Abschnitten ihrer Aus-, Weiter- und Fortbildung erwartet werden, sind in . Abb. 11.3 dargestellt. Dabei wird von reinem Faktenwissen (Physiologie, Biochemie etc.) ausgegangen, das bereits im Studium erweitert wird durch immer realitätsnahere und fallbezogene Lehrkonzepte, die zunehmend Verhaltensaspekte und Problemlösefähigkeiten als Lehrinhalte berücksichtigen. Eine Viel-
11 11
»
«
zahl von Fähigkeiten und Fertigkeiten kann u. a. auch an Simulatoren unterschiedlichen Realitätsgrades erlernt oder trainiert werden. Im Gegensatz zur nichtlinearen und komplex vernetzten Realität vermittelt klassischer Frontalunterricht oder ein Literaturstudium lediglich theoretische und fachbezogene Einzelinhalte. Dieses Wissen allein reicht nicht aus, ohne Weiteres in die Praxis umgesetzt zu werden (. Abb. 11.3), da die unüberschaubare Kombinationsmöglichkeit des Wissens bei jeder weiteren Aufgabe neu zu einer tragfähigen Lösung zusammengesetzt werden muss. Diese Neukonfiguration der Inhalte ist aufwendig, weil die gegebene Situation nicht mit bekannten gespeicherten Handlungen kongruent ist. Es muss also eine bewusste zeitaufwendige Analyse der Informationen erfolgen sowie eine bewusste, das Problem lösende Planungsentscheidung und Ausführung. Diese Vorgehensweise ist unter Berücksichtigung der in . Abb. 11.1 dargestellten Rahmenbedingungen in der Intensivmedizin inakzeptabel. > Die Summe aller kognitiven Einzelinhalte kann nicht ohne Weiteres in die intensivmedizinische Praxis umgesetzt werden. Die Komplexität macht eine zeitaufwendige Rekombination der Inhalte erforderlich.
Zunächst können Praktika unter Zuhilfenahme kleiner Skills-Trainer durchgeführt werden, die z. B. die Fähigkeit, einen Venenzugang zu etablieren, schulen. Diese Stufe ist beim intensivmedizinischen Weiterbildungsassistenten in der Regel bereits erreicht. Erlernte Zuordnungen von Signalmustern zu Handlungsmustern können so direkt umgesetzt werden. Damit werden bereits Module für die Problemlösung bereitgehalten, die ein erster Schritt zur qualitätssichernden Standardisierung und somit sinnvoll im medizinischzeitkritischen Umfeld sind. Trotzdem ist beim Zusammenbau der »Module« noch ein hoher aktiver Regulationsgrad mit entsprechendem Zeitversatz notwendig. Die klinische Realität zeigt, dass bei weitem nicht alle wie im Beispiel dargestellten Möglichkeiten der Wissenskombination (. Abb. 11.3) eintreten. Die Menge der ausreichend häufig vorkommenden Notfälle beschränkt sich auf eine überschaubare Anzahl von Szenarien. Komplexere Problemlösungen liegen dann bereits als Engramme vor, die nur noch auf die geringfügig variablen Randbedingungen angepasst werden müssen. Entsprechend kann die Umsetzung sofort nach der »Blickdiagnose« (Feststellung des Kreislaufstillstandes) beginnen. Dieses Niveau sollten zumindest für die Basisreanimation alle approbierten Ärzte erreicht haben. Weiterhin ist zu fordern, dass diese Fähigkeiten über das gesamte Berufsleben eines Arztes »up to date« und jederzeit abrufbar gehalten wird. Dies erfordert jährliche Zertifizierungen, die in dieser Form leider noch nicht verpflichtend sind. > Algorithmen sind Engramme der Teammitglieder, die eine zeitnahe Lösung von Problemen ermöglichen, da nur noch Randbedingungen angepasst werden müssen.
Schließlich erfordert die Simulation komplexer Szenarien entsprechend auch High-fidelity-Simulatoren, die eine besondere Realitätsnähe und Informationskomplexität bieten. Komplexe Notfallsituationen in der Intensivmedizin zeichnen sich häufig durch eine Notwendigkeit zur Entscheidungsfindung unter Zeitdruck bei eigentlich unzureichenden Informationen aus. In der realistischen Arbeitsumgebung am High-Fidelity-Simulator können in Szenarien, die in Echtzeit laufen, Problemlösefähigkeiten trainiert werden. Spätestens in dieser Komplexitätsstufe wird auch Crew Ressource Management zum erfolgskritischen Faktor (7 Abschn. 11.5.2), da ein »kollektives Bewusstsein« (. Abb. 11.3) zur Fehlerrobustheit beiträgt [29] und in der Lage ist, auf scheinbar widersprüchliche
113 11.6 · Nutzung von Simulatoren und Algorithmen für unterschiedliche Aspekte der Wissensvermittlung
Speicherinhalte A-n
Weiß es
Transfer (τ,R²)
Studium
Literaturstudium/ Frontalunterricht
Praktikum, Skills Training z.B. Venenzugang
Facharztweiterbildung
Module A-n low fidelity Simulation z.B. Basic life support
Performance Outcome
Zeigt es
Engramm/ Algorithmus High fidelity Simulation z.B. Geräteausfall
Verhalten
Tut es
Wissen
Subspezialisierung
Weiß wie
Kann es mit lückenhaften/ irreführenden Informationen
x Störfaktoren Engramme
cross check
. Abb. 11.3 Evolution der Lehrkonzepte und Einordnung in die intensivmedizinische Ausbildung (R²=Unschärfe, τ=Zeitkonstante)
Informationen, neue Situationen oder fachliche Defizite einzelner Teammitglieder im Sinne der Problemlösung zu reagieren. > Mit steigender Komplexität der Anforderungen an ein Team werden Verhaltensaspekte zunehmend erfolgsentscheidend, die nur am Simulator trainiert werden können.
11.6
Nutzung von Simulatoren und Algorithmen für unterschiedliche Aspekte der Wissensvermittlung
Die Trainingsanforderungen und Einsatzbereiche verschiedener Lehrmethoden unterscheiden sich in Abhängigkeit vom Weiterbildungsziel und dem existierenden Weiterbildungsstand (. Tab. 11.1, . Abb. 11.3). Dabei sind im Wesentlichen technische und nicht technische Fertigkeiten (Verhalten) sowie Prozeduren und Systemkenntnis zu unterscheiden. > Für die Lehrformate gilt: »One size does not fit all«.
11.6.1
Technische Fertigkeiten
In der Medizin sind in vielen Bereichen manuelle Fertigkeiten von großer Bedeutung. Ein Beispiel aus der Intensivmedizin ist die endotracheale Intubation, die Übung erfordert und eine Reihe von Komplikationsmöglichkeiten vom Zahnschaden bis hin zum
letalen Ausgang bietet. Das Erlernen der Intubation kann prinzipiell an einem einfachen Intubationstrainer geübt werden. Diese Skills-Trainer sind kostengünstig und eignen sich für Übungen von Einsteigern in die Intensivmedizin. Vergleichbare Übungsmodelle sind auch in anderen Hochrisikobereichen etabliert, so können beispielsweise Flugzeugbesatzungen das Öffnen der Notausgänge trainieren. Eine Besonderheit der medizinischen Skills-Trainer im Vergleich zu anderen Berufsfeldern ist jedoch die hohe Variabilität der realen Umstände. Ein Atemwegsmodell zum Üben der Intubation mag anatomisch gut nachgebildet sein, allerdings variiert die Anatomie der Atemwege von Patient zu Patient so stark, dass eine gute Intubationsleistung am Skills-Trainer keine wirkliche Sicherheit bei der Intubation am Patienten gibt. Selbst der erfahrene Intensivmediziner erlebt gelegentlich Situationen, in denen die Intubation schwierig oder gar unmöglich ist. Diese Fälle treten etwa mit einer Häufigkeit von knapp 10 % aller Patienten auf [17]. Nun muss eine alternative Oxygenierungsmöglichkeit bzw. Atemwegssicherung gewählt werden. In etwa 0,29 % aller Fälle tritt eine lebensbedrohliche Situation ein, wenn auch die Maskenbeatmung nicht funktioniert (»cannot intubate – cannot ventilate«) [17]. An einer größeren Klinik müssen somit 50–80 solcher vitalen Atemwegsnotfälle pro Jahr einkalkuliert und damit auch im kontinuierlichen Training (auch der Fachärzte) berücksichtigt werden. Am Skills-Trainer kann sowohl die Prozedur der Intubation trainiert als auch Systemkenntnis hinsichtlich der Anwendung verschiedener Atemwegshilfen erworben werden.
11
114
11 11
Kapitel 11 · Weiterbildung und Kompetenzvermittlung in der Intensivmedizin
> Skills-Trainer ermöglichen die modulare Entwicklung psychomotorischer Fähigkeiten, können die Variabilität der medizinischen Wirklichkeit allerdings nur bedingt abbilden.
11 11.6.2
11 11 11 11 11 11 11 11 11 11 11 11 11 11
Nicht technische Fertigkeiten
In der Medizin, ähnlich wie in der Luftfahrt, werden etwa 80 % aller kritischen Ereignisse durch menschliche Fehler verursacht [1]. Sogenannte Crew-Ressource-Management- (CRM-) Fortbildungen vermitteln Fertigkeiten zur Reduktion der menschlichen Fehler in kritischen Situationen unter Einbeziehung des gesamten Teams (. Abb. 11.3). Bereits in den frühen 1990-er Jahren wurden die verfügbaren Anästhesiesimulatoren in einer für Anästhesisten typischen Arbeitsumgebung betrieben. Komplette OP-Teams trainierten nach einem von der Arbeitsgruppe um David Gaba entwickelten Curriculum die Bewältigung kritischer Ereignisse in Echtzeit [12]. Hierbei wurde der Schwerpunkt des Trainings auf nicht-technische Fertigkeiten gelegt (. Tab. 11.2). Um die 4 Kernkompetenzen des CRM (7 Übersicht) zu vermitteln, hat sich die Kombination von Simulatortraining unter Mitwirkung von Psychologen in einem 6-stufigen Lehrkonzept bewährt [24]. Somit kann ein optimaler Transfer des psychologischen Problemlösungswissens in die medizinische Praxis erreicht werden.
Die 4 Kernkompetenzen des Crew Ressource Management (CRM)) 4 4 4 4
Situationsbewusstsein Teamarbeit Organisationsfähigkeit Entscheidungsfindung
> Crew Ressource Management (CRM) überträgt psychologisches Problemlösungswissen als Situationsbewusstsein, Teamarbeit, Organisationsfähigkeit und Entscheidungsfindungsfähigkeit in die Medizin. Stufe 1. Ein Notfallszenario wird mit vorbildhafter Verwendung
11
von nicht technischen Fähigkeiten zur Lernzieldemonstration durch die Instruktoren vorgeführt.
11
Stufe 2. Interaktive Vermittlung psychologischer Grundlagen des CRM sowie von Strategien der jeweiligen Kernkompetenz.
11
Stufe 3. Eine Festigung erfolgt dann in Stufe 3 anhand abstrakter
psychologischer Übungen.
11 11 11 11 11
Stufe 4. Erst in Stufe 4 wird dieses Wissen auf eine reale medizi-
nische Umgebung übertragen. Hierzu dient ein kurzes interaktives Simulatorszenario mit Instruktoren und Teilnehmern, wobei die jeweilige zu vermittelnde Kernkompetenz eine Schlüsselrolle bei der Problemlösung spielt. Stufe 5. Übungsszenario mit 2–3 Teilnehmern am High-Fidelity-
Simulator mit Fokus auf die thematisierte Kernkompetenz. Die restlichen Teilnehmer verfolgen das Geschehen per Videoübertragung und diskutieren die Abläufe im Hinblick auf die aktuellen Lernziele.
Stufe 6. Schließlich erfolgt in Stufe 6 eine videoassistierte Analyse für die Akteure von 4 Seiten: Selbsteinschätzung durch die Akteure, Einschätzung durch die Beobachter sowie durch die medizinischen und psychologischen Instruktoren. Nach Durchlaufen der 4 Kernkompetenzblöcke folgen weitere Simulatorszenarien mit Debriefing, die auf komplexere Art alle CRM-Kompetenzen fordern. Mit zunehmendem Professionalitätsgrad der Mitarbeiter (. Abb. 11.3) werden Verhaltensaspekte neben dem medizinischen Wissen und den technischen Fähigkeiten zunehmend wichtig und sind in kritischen Situationen erfolgsentscheidend. Daher gehört CRM zu den Lernzielen eines nachhaltigen Intensivcurriculums. > CRM schult das Problemlösungsverhalten der Mitarbeiter, das mit steigender Komplexität der Aufgaben Outcomerelevant wird.
11.6.3
Prozeduren und Handlungsabläufe
Der Nutzen von Algorithmen in der intensivmedizinischen Versorgung ist in der Literatur mittlerweile empirisch gut abgesichert [3, 25]. Während Algorithmen in der Patientenversorgung früher vielerorts als Hilfsmittel für Anfänger verpönt waren, zeigt sich heute klar, dass die stringente Einführung von Algorithmen in einer Notaufnahme einen größeren Effekt auf das Überleben der Patienten hat als die individuelle Erfahrung des behandelnden Arztes [8]. Für die Erstellung von SOPs eignen sich dabei besonders solche Situationen, in denen unter großem Zeitdruck wenig komplexe kritische Situationen bewältigt werden müssen [23]. Eine weitere Voraussetzung ist die vorhandene Evidenz für den Nutzen einer Standardbehandlung. > Algorithmen eignen sich für wenig komplexe Situationen, die unter Zeitdruck bewältigt werden müssen, wenn ein entsprechender Evidenzgrad vorliegt. Ein verbessertes Outcome durch Algorithmeneinsatz ist empirisch belegt.
Ein gutes Beispiel für etablierte Algorithmen stellt die Reanimation dar. Die regelmäßig überarbeiteten Leitlinien geben die Maßnahmen in der Reihenfolge vor, in der nach derzeitigem Kenntnisstand die Überlebenschance der Patienten am höchsten ist. Zur Gewährleistung einer bestmöglichen Patientenversorgung muss der Ablauf der Reanimation nach den aktuellen Leitlinien allerdings regelmäßig trainiert werden. Nach der kognitiven Aufnahme der Leitlinie (Lektüre/Poster) bieten Simulatoren (. Tab. 11.1) ein geeignetes Lehrformat für die psychomotorische Umsetzung des Algorithmus für dieses selten auftretende Szenario. Dabei gibt es allerdings eine große Vielfalt an Trainingsmodellen und Simulatoren, an denen die entsprechenden Abläufe geübt werden können. Während die Industrie mit jeder Generation an Übungsmodellen weitere Funktionen implementiert, muss der Nutzen solcher zusätzlichen Funktionen immer mit Rücksicht auf die Zielgruppe abgewogen werden. Für ein vollkommen hinreichendes Lowfidelity-Training des Reanimationsablaufs verleiten komplexere Möglichkeiten zur Eröffnung verwirrender Nebenschauplätze, die das eigentliche Lernziel aus dem Fokus rücken und eher der Selbstdarstellung des Ausbilders dienen. So sind beim Herzstillstand die Qualität der Basismaßnahmen (v. a. der Herzdruckmassage) sowie der Zeitpunkt der Defibrillation diejenigen Faktoren mit dem größten Einfluss auf die Überlebensrate und stellen demnach den Schwerpunkt bei der Schulung dar [7]. Folglich steht und fällt die zielgruppenorientierte Effektivität eines Simulatortrainings mit der Lehrqualifikation des Ausbilders [5]. Obwohl hierfür keine verbindlichen Standards bestehen, werden an der Institution der Autoren
115 Literatur
nur Ausbilder eingesetzt, die eine formale Qualifikation beim European Resuscitation Council (ERC) erworben haben.
. Tab. 11.2 7 Prinzipien zur Vermittlung von Prozeduren und technischen Fertigkeiten [21]
> Der Lehrinhalt und die Simulatorkomplexität müssen immer an den tatsächlichen Bedarf der Zielgruppe angepasst werden. Weniger ist meistens mehr.
In der Vermittlung von Prozeduren und technischen Fähigkeiten am Simulator genauso wie in der klinischen Lehrpraxis hat sie eine 7-stufige Vorgehensweise (. Tab. 11.2) als zweckmäßig herausgestellt [21]. Ein evidenzbasiert erarbeiteter Handlungsalgorithmus muss dabei den Mitarbeitern auf geeignetem Wege jederzeit abrufbar kommuniziert werden. Dazu eignen sich ein regelmäßig zu aktualisierendes Kitteltaschenbuch sowie die Form als Poster in entsprechenden Gefährdungsbereichen. Zusätzlich sollten die SOPs auch im Intranet verfügbar sein. Eine SOP für das Management des schwierigen Atemwegs kann z. B. als Poster an jedem Beatmungsplatz aufgehängt eine wichtige Entscheidungshilfe sein. Obligat ist weiterhin das jährliche Training (pflegerisches und ärztliches Personal) mit den im Algorithmus angegebenen Hilfsmitteln am Skills-Trainer.
Welches sind die Ziele der Prozedur?
2. Vorführen der Prozedur
Ausführliche Beschreibung Zwischenfragen sind erwünscht
3. Beobachtung des Lernenden während der Übung
Lernender soll eigene Tätigkeit kommentieren Ermutigen zur Selbsteinschätzung und -reflexion
4. Feedback geben
Spezifische und beschreibende Beurteilung Bezug nur zur gezeigten Leistung, keine Wertung
5. Ermutigen zur Selbsteinschätzung
Selbst wahrgenommene Leistungsstärke Selbst wahrgenommenes Verbesserungspotenzial
6. Übungsphase unter nicht optimalen Bedingungen
Variation des Komplexitätsgrads
7. Weiterentwicklung des Lehrablaufs
Unvorbereitete Lernende Unterschiedliche Lernumgebungen Dynamisches Lehren und Lernen
Literatur 1 2
> Bei der Nutzung von Medizintechnik ist stets mit Bedienfehlern zu rechnen.
3
Obwohl der Gesetzgeber für Geräteeinweisungen strenge Auflagen gibt [22], ist eine einmalige Schulung kein Garant für das Ausbleiben von Fehlbedienungen. Beim Training am Patientensimulator kann die nötige Systemkenntnis geschult werden, die die Wahrscheinlichkeit gefährlicher Fehlbedienungen reduziert. Als besonders wertvoll sind Trainings einzuordnen, in denen der Umgang mit technischen Problemen bei den medizinischen Geräten geschult wird. Moderne Simulatorzentren in der Medizin stellen die komplette Arbeitsumgebung eines oder mehrerer Intensivplätze nach. Das Training kann im Team und in Echtzeit erfolgen, sodass die Zwischenfallsituationen unter ähnlichen Bedingungen wie in der Realität gemeistert werden müssen.
4 5
> Teamtrainings zu technischen Problemen verbessern die Systemkenntnis und reduzieren die Fehlbedienungsrate.
1. Planung
Sind die Lernenden vorbereitet? (Literatur/AV-Medien)
Systemkenntnis
Insbesondere in der Intensivmedizin fand in den letzten Jahrzehnten eine starke Technisierung statt. Dies führte u. a. durch Verbesserung der Überwachungsmöglichkeiten zu einer Erhöhung der Patientensicherheit. Die Abhängigkeit unserer Patienten von Überwachungsmonitoren, Respiratoren und anderen technischem Hilfsmitteln birgt jedoch auch zusätzliche Gefahren. Wie auch in anderen Hochrisikobereichen ist die Bedienung der Geräte durch Menschen oft fehlerbehaftet. Ein Intensivarbeitsplatz setzt sich üblicherweise aus Geräten unterschiedlicher Hersteller zusammen. Damit ist nur selten gewährleistet, dass die Geräte über entsprechende Schnittstellen – beispielsweise hinsichtlich einer Alarmhierarchie – miteinander kommunizieren. Auch sind die verschiedenen Geräte häufig nicht so angeordnet, dass der Anwender alle Funktionen und Messwerte gleichzeitig im Blick hat. Nicht zuletzt die große Anzahl an Geräten verschiedener Hersteller oder auch gleicher Hersteller, aber unterschiedlicher (Software-) Versionen erschwert die reaktionsschnelle und korrekte Bedienung durch den Anwender.
Anmerkungen
Welches sind die Bedürfnisse der Lernenden?
> Handlungsalgorithmen müssen für die Mitarbeiter stets zugänglich sein und regelmäßig trainiert werden.
11.6.4
Prinzip
6
7
8
Arnstein F (1997) Catalogue of human error. Br J Anaesth 79: 645–656 Beckers SK, Rex S, Kopp R, Bickenbach J, Sopka S, Rossaint R, Dembinski R (2009) Intensivmedizin als Bestandteil des Pflicht-Curriculums: Evaluation eines Pilot-Curriculums am Universitatsklinikum Aachen. Anaesthesist 58: 273–274 Bleyl JU, Heller AR (2008) Standard operating procedures und OP-Management zur Steigerung der Patientensicherheit und der Effizienz von Prozessabläufen. Wien Med Wochenschr 158: 595–602 Deming WE (1986) Out of the Crisis. McGraw-Hill, New York Dorman T, Angood PB, Angus DC, Clemmer TP, Cohen NH, Durbin CG, Jr., Falk JL, Helfaer MA, Haupt MT, Horst HM, Ivy ME, Ognibene FP, Sladen RN, Grenvik AN, Napolitano LM (2004) Guidelines for critical care medicine training and continuing medical education. Crit Care Med 32: 263–272 Goldmann K, Steinfeldt T, Wulf H (2006) Die Weiterbildung für Anästhesiologie an deutschen Universitätskliniken aus Sicht der Ausbilder – Ergebnise einer bundesweiten Umfrage. Anasthesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 41: 204–209 Handley AJ, Koster R, Monsieurs K, Perkins GD, Davies S, Bossaert L (2005) European Resuscitation Council guidelines for resuscitation 2005. Section 2. Adult basic life support and use of automated external defibrillators. Resuscitation 67 Suppl 1: S7–23 Haut ER, Chang DC, Hayanga AJ, Efron DT, Haider AH, Cornwell EE, IIIrd (2009) Surgeon- and system-based influences on trauma mortality. Arch Surg 144: 759–764
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Kapitel 11 · Weiterbildung und Kompetenzvermittlung in der Intensivmedizin
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117
Langzeitfolgen nach Intensivtherapie J. Langgartner
12.1
Einführung – 118
12.2
Langzeitüberleben, Outcome – 118
12.2.1 12.2.2
Bedeutung von Scoring-Systemen – 118 Definition von Einflussfaktoren auf das Überleben – 118
12.3
Lebensqualität – 119
12.3.1 12.3.2 12.3.3
Begriffsdefinition – 119 Erfassung der Lebensqualität – 119 Studien zur Lebensqualität von Patienten nach Intensivtherapie – 120
12.4
Funktioneller Status – 121
12.4.1 12.4.2
Physische Spätfolgen – 121 Psychische Spätfolgen – 121
Literatur – 122
H. Burchardi et al. (Hrsg.), Die Intensivmedizin, DOI 10.1007/978-3-642-16929-8_12, © Springer Medizin Verlag Berlin Heidelberg 2011,
12
12 12 12 12 12 12
118
Kapitel 12 · Langzeitfolgen nach Intensivtherapie
12.1
Einführung
Der Erfolg der Intensivtherapie wird häufig am akuten Erfolg, dem Überleben der Akutphase auf der Intensivstation oder dem Krankenhausüberleben, gemessen. Wie sich das Überleben dieser schwer kranken Patienten im weiteren Verlauf entwickelt, ist nur selten im Blickfeld von Studien. Doch gerade die langfristige Betrachtung von Patienten nach Intensivtherapie ist notwendig, um die Stellung der Intensivmedizin bei verschiedenen Erkrankungen und Patienten definieren zu können. Hier ist es wichtig, die gewonnenen Ergebnisse auch unter dem Aspekt, welche Langzeitfolgen allein durch die Intensivtherapie hervorgerufen wurden, kritisch zu hinterfragen. Außerdem müssen die aufgedeckten Probleme dazu dienen, die Therapie selbst zu verbessern.
12
12.2
12
Häufig wird auf der Intensivstation die Frage nach der Prognose des Patienten und den sich daraus ergebenden Konsequenzen gestellt. Dabei kann zwischen einer kurzfristigen und einer langfristigen Prognose unterschieden werden. 4 Als kurzfristige Prognose werden die Endpunkte Überleben oder Versterben auf der Intensivstation oder im Krankenhaus angesehen. Hier gehen in der Regel das funktionelle Ergebnis sowie die Lebensqualität nicht mit ein. 4 Die langfristige Prognose ist hingegen nicht nur durch das reine Überleben, sondern auch durch die Funktionalität sowie die Lebensqualität gekennzeichnet.
12 12 12 12 12 12 12 12 12
Langzeitüberleben, Outcome
Die Prognosebestimmung ist meist kein rein formalistischer Prozess, sondern setzt sich aus einer Vielzahl von Einflussfaktoren zusammen, die eine subjektive Einordnung und Gewichtung durch die auf der Intensivstation tätigen Ärzte und deren Erfahrungen erleben.
12.2.1
Bedeutung von Scoring-Systemen
Um den Intensivmediziner bei seiner Prognoseeinschätzung zu unterstützen, wurden eine Reihe unterschiedlicher Scoring-Systeme entwickelt. Scores
12 12 12 12
Ein Scoring-System ist ein Punktsummensystem, mit dessen Hilfe komplexe Zusammenhänge vereinfacht und vergleichbar dargestellt werden können. Es können deskriptive, prognostische und therapeutisch-interventionelle Systeme unterschieden werden. Prognostische Scores sind 4 APACHE (Acute Physiology And Chronic Health Evaluation) , APACHE II, APACHE III, 4 SAPS (Simplyfied Acute Physiology Score) , SAPS III, 4 MPM (Mortality Prediction Model) , MPM II.
12 12 12 12
Die Hauptlimitation dieser prognostischen Scores besteht darin, dass eine Aussage bezüglich des Letalitätsrisikos nur für eine ganze Patientengruppe, aber nicht für den einzelnen Patienten möglich ist [25]. Die hier ermittelte Risikoabschätzung liefert somit nur eine statistische Wahrscheinlichkeit und keine individuelle Prognose. Das Outcome und der Schweregrad der Erkrankung werden mit der Wahrscheinlichkeit, im Krankenhaus zu sterben, gleichgesetzt. Diese Reduktion auf nur einen Outcomeparameter wird aber dem
einzelnen Patienten nicht gerecht, da die Prognose-Scores keinerlei Aussage über die Lebensqualität nach dem Intensivaufenthalt ermöglichen. Somit können prognostische Scores für individuelle Überlebensprognosen oder Therapieentscheidungen nur Hilfsmittel, nicht aber ausschlaggebend sein. > Scoring-Systeme erlauben keine Aussage über das individuelle Letalitätsrisiko des einzelnen Patienten, sondern liefern nur eine statistische Wahrscheinlichkeit.
12.2.2
Definition von Einflussfaktoren auf das Überleben
Der Einfluss der akuten Erkrankung auf das weitere Überleben ist während und direkt nach dem Intensivaufenthalt sicherlich am größten. 2 Aspekte müssen bei der Beurteilung des Langzeitüberlebens berücksichtigt werden: 4 das gewählte Vergleichskollektiv und 4 die Länge des Beobachtungszeitraums. Patienten internistischer Intensivstationen zeigen klare demographische Unterschiede gegenüber Patienten anderer Disziplinen. Internistische Intensivpatienten sind jünger, kränker und weisen eine höhere Intensivmortalität auf. Das Langzeitüberleben zeigt sich hingegen besser als bei den nicht internistischen Patienten [19]. Diese Ergebnisse zeigen, dass das gewählte Vergleichskollektiv für die Beurteilung von großer Wichtigkeit ist. Das ideale Vergleichskollektiv wäre ein Kollektiv hospitalisierter, nicht intensivmedizinisch behandelter Patienten mit ähnlichen demographischen Daten, Diagnosen und Begleiterkrankungen [10]. In Abhängigkeit von Alter, Akuterkrankung und Komorbidität kommt es im Laufe der Zeit zu einem parallelen Verlauf zum gewählten Vergleichskollektiv. Allein unterschiedlich ist dabei die Dauer bis zur Paralellisierung. Dabei liefert der Zeitpunkt der Paralellisierung mit einem vergleichbaren, hospitalisierten Patientenkollektiv Informationen über den Einfluss der Intensivtherapie, und der Zeitpunkt der Paralellisierung mit einer gesunden Kontrollgruppe bzw. der Normalbevölkerung bietet Informationen zur Bedeutung der Erkrankung auf das Langzeitüberleben [10]. In den meisten Studien zu diesem Thema liegt die Nachbeobachtungszeit bei wenigen Monaten bis Jahren. Nur wenige Studien zeigen Nachbeobachtungszeiten von 5 und mehr Jahren. Das Risiko zu sterben ist nach einem Intensivaufenthalt in den folgenden 12 Monaten am höchsten. Während einige Studien mit einer Nachbeobachtungszeit von 5 Jahren auch in den ersten 2–4 Jahren ein schlechteres Überleben gegenüber der Normalbevölkerung mit anschließender Parallelisierung der Überlebenskurven zeigten [23, 40], fand eine große australische Studie mit einer Nachbeobachtung von 19.921 Patienten über 15 Jahre eine höhere Sterberate gegenüber der Normalbevölkerung über den gesamten Beobachtungszeitraum [38]. Nach 15 Jahren waren noch 54,7 % der Intensivpatienten am Leben. Insgesamt war die Sterbewahrscheinlichkeit der Intensivpatienten im Vergleich zur übrigen Bevölkerung auf etwa das Doppelte erhöht. In dieser Studie konnten Williams et al. das Alter, die Komorbidität und die primäre Diagnose als die stärksten Einflussfaktoren auf das Langzeitüberleben definieren. Ebenso zeigten Krankheitsschwere und Organversagen Einfluss auf das Langzeitüberleben [28]. . Abb. 12.1 zeigt den Einfluss des jeweiligen Merkmals hinsichtlich der Sterblichkeit des Patienten >1 Jahr nach der Intensivtherapie in dieser Studie. Eine Metaanalyse aus dem Jahr 2005 über 19 Untersuchungen zum Thema Langzeitüberleben nach Intensivtherapie ergab eine
119 12.3 · Lebensqualität
12
Vergleichskollektiven erhöht. Wann es zu einer Parallelisierung der Überlebenskurven kommt, ist neben vielen anderen Faktoren von der primären Diagnose abhängig!
10,9
10 8 6,3
12.3
6
«
3,9
4
Lebensqualität
2,7
2,6 1,7
2
1,4
0 Intensivaufenthalt > 4 Tage
Herzstillstand
ED NPL
Charlson-Index > 3
> 3 Organversagen
Alter 65-74 Jahre
Alter > 75 Jahre
. Abb. 12.1 Hazard-Ratio der einzelnen Merkmale hinsichtlich Sterblichkeit >1 Jahr nach der Intensivtherapie (Charlson-Index=Charakterisierung der Komorbiditäten, ED NPL=Erstdiagnose neoplastische Erkrankung). (Nach [38])
Sterblichkeit von 16,3 % (8–33 %) auf der Intensivstation, von 31,2 % [11–64 %) im Krankenhaus und von 39,3 % (26–63) bzw. 50 % (40– 58) nach 1 bzw. 5 Jahren [37]. Wie unterschiedlich der Verlauf des Langzeitüberlebens bei verschieden Grunderkrankungen sein kann, verdeutlichen die Ergebnisse verschiedener Studien. So zeigt sich in einer Studie von Quartin, dass die Letalität septischer Patienten innerhalb der ersten 5 Jahre auch unter Berücksichtigung der Begleiterkrankungen deutlich erhöht war [26]. Die Überlebenskurven von Traumapatienten laufen hingegen schon relativ früh parallel zur Kontrollpopulation [7, 22]. Mehr als 20 % der Traumapatienten starben früh innerhalb der ersten 6 Monate, danach liefen die Überlebenskurven aber bereits parallel [7]. Korosec Jagodic` et al. verglichen direkt die Mortalität von septischen und unfallchirurgischen Patienten. Auch hier zeigten die unfallchirurgischen Patienten sowohl bei der Intensiv- und Krankenhausmortalität als auch bei der Langzeitmortalität bessere Ergebnisse als die Patienten mit Sepsis [18]. Die Studien zu diesem Thema zeigen insgesamt, dass das Langzeitüberleben von Patienten nach einer Intensivtherapie offensichtlich sehr variabel ist. Grund hierfür sind die vielen Faktoren, wie unterschiedliche Patientenkollektive mit ihren unterschiedlichen Komorbiditäten, Alter und Schweregrade der Erkrankung, oder auch verschiedene Behandlungs-, Aufnahme- und Entlassprozeduren der einzelnen Intensiveinheiten. Die Anzahl weiterer Einflussfaktoren ist groß, und die meisten dieser Einflussfaktoren sind kaum zu kontrollieren. Dies wiederum erschwert die Interpretation der Langzeitüberlebenskurven von Intensivpatienten. Zum anderen ist die Vergleichbarkeit der verschiedenen Studien durch die verschiedenen Vorgehensweisen innerhalb der Studien, wie z. B. Länge des Nachbeobachtungszeitraums, Wahl des Vergleichskollektivs oder aber auch Wahl der Patienten, die in die Nachbeobachtung eingeschlossen werden, stark erschwert. Daher wären auch hier groß angelegte, multizentrische Studien, z. B. in Form von Melderegistern, wünschenswert. > Die Mortalität kritisch kranker Patienten ist auch noch Jahre nach Beendigung der Intensivtherapie gegenüber
Wie bei dem Theater kommt es auch im Leben nicht darauf an, wie lange es dauert, sondern wie gut gespielt wird”. (Seneca, römischer Philosoph, ca. 4 v. Chr.–65 n. Chr.)
«
Als primäres Therapieziel und Studienziel werden häufig das Überleben der Intensivtherapie und das Krankenhausüberleben definiert. Das Erreichen dieser Ziele ist objektiv und leicht nachvollziehbar. Allein diese Ziele werden dem Patienten als Menschen aber nicht gerecht. Für das weitere Leben spielt der Allgemeinzustand des Patienten eine überragende Rolle. Daher muss das Erzielen einer für den Einzelnen ausreichende Lebensqualität ebenenfalls ein erklärtes Ziel medizinischen Handelns sein.
12.3.1
Begriffsdefinition
Zur Frage, wie Lebensqualität definiert wird und welche Aspekte dabei eine Rolle spielen, gibt es verschiedene Ansichten. Lebensqualität wird z. B. von der WHO als »…die subjektive Wahrnehmung einer Person über ihre Stellung im Leben in Relation zur Kultur und den Wertsystemen, in denen sie lebt, und in Bezug auf ihre Ziele, Erwartungen, Standards und Anliegen« definiert [36]. So wird in Bezug auf die Gesundheit diese nicht allein als das Freisein von Krankheit definiert, sondern umfasst auch das geistige und soziale Wohlbefinden [36]. Im medizinischen Bereich wird häufig von der gesundheitsbezogenen Lebensqualität als multimodales Konzept gesprochen. Diese beinhaltet körperliche, mentale, soziale und verhaltensbezogene Komponenten des Wohlbefindens und der Funktionsfähigkeit aus Sicht der Patienten und/oder der von Beobachtern. Die Lebensqualität ist somit ein subjektives Merkmal, das im Individuum verankert, von der jeweiligen Lebenssituation abhängig und einem ständigen Wandel unterworfen ist. Die gesundheitsbezogene Lebensqualität ist weniger ein medizinisch bestimmbarer Zustand oder Befund, sondern vielmehr ein subjektives Erleben und Empfinden. Nicht jeder, der vom medizinischen Standpunkt aus gesund ist, fühlt sich gut – und natürlich gilt das auch umgekehrt [35].
12.3.2
Erfassung der Lebensqualität
Die Lebensqualität sowohl vor, während als auch nach der Intensivtherapie ist sehr schwierig zu beurteilen [9]. Viele Aspekte der Lebensqualität können nicht direkt erfasst werden und müssen indirekt, z. B. mittels Fragen, bestimmt werden. Die Antworten werden in Punktwerte umgesetzt, deren Summe dann den Wert der jeweiligen Komponente ergibt. Die einzelnen Komponenten werden zu größeren Domänen zusammengefasst. Theoretisch sollte sich die so ermittelte Lebensqualität nicht von der tatsächlichen Lebensqualität unterscheiden [32]. Es existiert eine Vielzahl an Testinstrumenten zur Beurteilung der Lebensqualität (7 Übersicht). Es kann methodisch zwischen allgemeinen, krankheitsspezifischen und primär psychologischen Instrumenten unterschieden werden. Die methodischen Anforderun-
12
120
12 12
Kapitel 12 · Langzeitfolgen nach Intensivtherapie
gen an solche Instrumente zur Erfassung der Lebensqualität sind hoch. Neben Zuverlässigkeit, Wiederholungsfähigkeit und Validität der verschiedenen Bereiche muss das Testinstrument die Fähigkeit besitzen, Veränderungen wiederzugeben [3].
12
Die bisher am häufigsten verwendeten Instrumente zur Erfassung der Lebensqualität
12
4 4 4 4
12 12 12 12 12 12 12 12 12
Sickness Impact/Functional Limitation Profile Perceived Quality of Life Scale Nottingham Health Profile Medical Outcome Survey Short Form-36 (SF-36)
Der Medical Outcome Survey Short Form-36 wurde – im Gegensatz zu den anderen Tests – sowohl sprachlich als auch kulturell anderen Ländern angepasst (. Tab. 12.1). Sowohl Zuverlässigkeit als auch Validität für die Evaluation von Intensivpatienten wurden hoch bewertet [14].
. Tab. 12.1 Beschreibung der 8 Dimensionen des Medical Outcome Survey Short Form-36 (SF-36), die sich konzeptuell in die Bereiche »körperliche Gesundheit« und »psychische Gesundheit« einordnen lassen Dimension
Kennzeichen
Körperliche Funktionsfähigkeit
Ausmaß der Beeinträchtigung körperlicher Aktivitäten wie Selbstversorgung, Gehen, Treppensteigen, Bücken, Heben und mittelschwere oder anstrengende Tätigkeiten
Körperliche Rollenfunktion
Ausmaß der Beeinträchtigung der Arbeit oder anderer täglicher Aktivitäten, z. B. weniger schaffen als gewöhnlich, Einschränkungen in der Art der Aktivitäten oder Schwierigkeiten, bestimmte Aktivitäten auszuführen
Körperliche Schmerzen
Ausmaß an Schmerzen und Einfluss der Schmerzen auf die normale Arbeit, sowohl im Haus als auch außerhalb des Hauses
Allgemeine Gesundheitswahrnehmung
Persönliche Beurteilung der Gesundheit, einschließlich des aktuellen Gesundheitszustandes, der zukünftigen Erwartungen und der Widerstandsfähigkeit gegenüber Erkrankungen
Vitalität
Die Person fühlt sich energiegeladen und voller Schwung oder eher müde und erschöpft
Soziale Funktionsfähigkeit
Ausmaß, in dem die körperliche Gesundheit oder emotionale Probleme die normalen sozialen Aktivitäten beeinträchtigen
Emotionale Rollenfunktion
Ausmaß, in dem emotionale Probleme die Arbeit oder andere tägliche Aktivitäten beeinträchtigen; u. a. weniger Zeit für Aktivitäten aufbringen, weniger schaffen und nicht so sorgfältig wie üblich arbeiten
Psychisches Wohlbefinden
Allgemeine psychische Gesundheit, einschließlich Depression, Angst, emotionale und verhaltensbezogene Kontrolle und allgemeine positive Gestimmtheit
Veränderung der Gesundheit
Beurteilung des aktuellen Gesundheitszustandes im Vergleich zum vergangenen Jahr
12 12 12 12 12 12 12 12 12 12 12 12
! Cave Insgesamt sind aber die meisten Tests nicht primär für Intensivpatienten entwickelt worden und müssen daher noch intensiver hinsichtlich Validität, Zuverlässigkeit und Sensitivität untersucht werden.
12.3.3
Studien zur Lebensqualität von Patienten nach Intensivtherapie
Um den Einfluss der Intensivtherapie und der ursächlichen Erkrankung zu ermitteln, wäre ein »Ausgangswert« der Lebensqualität vor der Intensivtherapie wünschenswert. Es kann versucht werden, den Patienten bei Aufnahme auf die Intensivstation dahingehend zu interviewen, was aber in den meisten Fällen nicht möglich ist. Alternativ kann eine Befragung von Angehörigen vorgenommen werden oder der Patient retrospektiv dazu befragt werden, sobald er dazu in der Lage ist [10]. Wie oben bereits angesprochen, beeinflusst die primäre Erkrankung entscheidend den Verlauf nach dem Intensivaufenthalt. Entsprechend ist es einsichtig, dass der Zeitpunkt der Erhebung der Lebensqualität einen entscheidenden Einfluss auf dessen Bewertung hat [9]. Wehler et al. fanden, dass ältere Patienten im Vergleich zu jüngeren keine signifikante Verschlechterung der Lebensqualität nach der Intensivtherapie hatten [34]. Geschlecht, Länge des Intensivaufenthaltes und die Unterscheidung internistischer oder chirurgischer Diagnosen scheinen keinen Einfluss auf die Lebensqualität zu nehmen [6]. Vergleicht man die Lebensqualität von Intensivpatienten vor dem Intensivaufenthalt mit der der Normalbevölkerung, so war sie bereits vorher in allen Items des SF-36 signifikant und klinisch relevant schlechter [9, 27, 34], wobei die Erfassung der Lebensqualität vor dem Intensivaufenthalt retrospektiv erfolgte. Auch wurde nicht bei allen Patienten während des Beobachtungszeitraumes die Lebensqualität wie vor der Intensivtherapie erreicht [9, 27, 34]. Dowdly et al. zeigten in ihrer Literaturübersicht, dass in allen Untersuchungen die Lebensqualität im Laufe der Zeit bei den Patienten zunimmt, aber auch nach mehreren Jahren weiterhin Defizite vorhanden sind und sie in den verschiedenen Items nicht den Wert der Normalbevölkerung erreicht [6]. > Festzuhalten ist, dass die Lebensqualität von Patienten nach Intensivtherapie auch nach der Entlassung noch deutlich eingeschränkt ist, sich aber im Laufe der Zeit sehr wohl bessern und das Niveau wie vor dem Intensivaufenthalt erreichen kann.
In den letzten Jahren werden immer mehr Studien veröffentlicht, die sich mit der Beurteilung der Lebensqualität spezieller Intensivpatientengruppen beschäftigen, wie z. B. den Sepsispatienten. Heyland et al [14] konnten, ebenso wie bereits Perl et al. [24] zeigen, dass >1 Jahr nach Krankenhausentlassung sowohl die psychische als auch die körperliche Leistungsfähigkeit gegenüber der Normalpopulation reduziert war. Vergleiche mit anderen Intensivpatienten [11, 18] zeigten auch die allgemeine Gesundheitswahrnehmung und die Selbstständigkeit im Alltag bei Patienten mit Sepsis reduziert. Eine andere Studie [15] legt nahe, dass Patienten mit schwerer Sepsis und septischem Schock ca. 6 Monate nach Entlassung aus dem Krankenhaus aber sehr wohl auch den funktionellen und psychischen Status, den sie vor dem Intensivaufenthalt hatten, erreichen können.
121 12.4 · Funktioneller Status
Körperliche, neuropsychologische und soziale Probleme nach Intensivtherapie 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4
Appetitlosigkeit, Gewichtsverlust Muskelschäche, Müdigkeit Schmerzhafte, steife Gelenke Haut-, Nägel-, Haarveränderungen Juckreiz Amenorrhö Angst, Depression Panikattacken Schlaflosigkeit Posttraumatisches Stresssyndrom Schuldgefühle Erinnerungsverluste, schlechtes Konzentrationsvermögen Patnerschaftskonflikte, Einsamkeit Verlust der Selbstsicherheit
Die Lebensqualität nach Intensivtherapie ist meist deutlich eingeschränkt. Sie kann sich aber im Lauf der Zeit sehr wohl wieder der Lebensqualität vor dem Intensivaufenthalt angleichen. > Es muss klar sein, dass eine Verbesserung der Lebensqualität über den Status vor der Intensivtherapie hinaus nicht zu erwarten ist.
variiert deutlich in Abhängigkeit von den untersuchten Subgruppen von Intensivpatienten, den Risikofaktoren, denen die Patienten ausgesetzt waren, den angewandten Diagnosekriterien und dem Zeitpunkt der Diagnosestellung [30]. So entwickeln beispielsweise 70 % der Patienten mit Sepsis oder SIRS eine CIP [39]. Kommt es zu weiteren Komplikationen und Multiorganversagen, steigt die Inzidenz sogar bis auf 100 % [31]. In einer Untersuchung von Patienten, die bei ARDS intensivmedizinisch betreut wurden, konnte 1 Jahr danach noch bei allen Patienten eine funktionelle Einschränkung bei Muskelatrophie und Schwäche nachgewiesen werden [13]. Aber auch 5 Jahre nach einem Intensivaufenthalt fanden sich bei Patienten noch klinische und neurophysiologische Zeichen einer CIP und CIM. Eine Verminderung der Lebensqualität 1 Jahr nach dem Intensivaufenthalt aufgrund persistierender Symptome ist beschrieben [12]. Als führende Risikofaktoren wurden Sepsis, SIRS und das Multiorganversagen identifiziert. Daneben wurden noch weitere unabhängige Risikofaktoren wie z. B. die Gabe von Katecholaminen oder die Hyperglykämie identifiziert [12]. Präventiv kann nur versucht werden, die Riskofaktoren zu minimieren und bewusst die Frühförderung der Patienten in das Behandlungskonzept aufzunehmen. Weitere physische Spätfolgen nach Intensivtherapie sind wenig untersucht und sollten Gegenstand groß angelegter Studien sein, da durch deren Ermittlung und mögliche Therapie sicherlich Einfluss auf die Lebensqualität der Patienten genommen werden kann.
12.4.2 12.4
Funktioneller Status
12.4.1
Physische Spätfolgen
Etwa 6 % aller intensivpflichtigen Patienten entwickeln ein akutes Nierenversagen [21, 33]. Während die Akutsterblichkeit bei diesen Patienten hoch ist, haben die Patienten nach einem intensivpflichtigen akuten Nierenversagen eine gute Langzeitprognose mit subjektiv guter Lebensqualität [16, 20].Doch behalten zwischen 2 und 15 % aller Patienten mit akutem Nierenversagen eine permanente Nierenfunktionsstörung zurück [1, 2, 17]. 57 % der Überlebenden bei Entlassung aus dem Krankenhaus weisen eine komplette und 43 % nur eine partielle Remission der Nierenfunktionsstörung auf [29]. Bei den meisten Patienten kam es im Verlauf zu einer weiteren Verbesserung der Nierenfunktion. Nach 5 Jahren hatten 91 % eine normale Nierenfunktion [29]. Daten zur Leberfunktion bei Patienten nach Intensivtherapie gibt es nur wenige, obwohl die Leber eine zentrale Rolle bei Patienten mit Sepsis und Multiorganversagen spielt. Eine in den letzten Jahren in den Blickwinkel gerückte Spätfolge bei kritisch kranken Patienten ist die sekundär sklerosierende Cholangitis. Dabei handelt es sich um eine chronische cholestatische Erkrankung, die das Gallengangsystem betrifft und zu einer fortschreitenden Fibrosierung der Leber mit Gallengangstrikturen und im Endstadium zum Vollbild einer Leberzirrhose führt. Betroffen sind Patienten ohne vorbekannte Gallen- oder Leberfunktionsstörungen. Als auslösender Mechanismus wird eine hypoxische Schädigung des Gallengangsystems im Rahmen der intensivpflichtigen Erkrankung angenommen. Die Möglichkeiten eines therapeutischen Eingreifens sind gering und beschränken sich meist auf supportive Maßnahmen, wie z. B. die antibiotische Therapie rezidivierender Cholangitiden. Häufig bleibt die Lebertransplantation als einzige Therapieoption [5, 8, 28]. Eine weitere wichtige Spätfolge nach Intensivtherapie ist die Beeinträchtigung des neuromuskulären Systems, wie die CriticalIllness-Polyneuropathie (CIP) und Myopathie (CIM). Die Inzidenz
Psychische Spätfolgen
Nicht nur die schwere Erkrankung selbst, sondern auch die damit verbundene Intensivtherapie stellt einen ausgeprägten Stressor für den Patienten dar. Die Unsicherheit bezüglich des eigenen Fortkommens, die Angst vor Schmerzen und das Ausgeliefertsein in unangenehmen Situationen lassen es nicht überraschend erscheinen, dass mit dem Auftreten depressiver Symptome nach einer Intensivtherapie zu rechnen ist. Davydow et al. haben eine systematische Übersicht der Literatur zu depressiven Symptomen nach Intensivtherapie erstellt [4]. Sie konnten zeigen, dass 1 ahr nach Entlassung in 33 % der Fälle depressive Symptome und in 28 % eine klinisch signifikante Depression vorlag. Es ist davon auszugehen, dass die tatsächliche Anzahl an Patienten mit Depressionen nach Intensivaufenthalt sogar noch höher liegt, da Studien mit Patienten, die bereits bei Aufnahme auf die Intensivstation eine Depression bzw. depressive Symptome aufwiesen, ausgeschlossen wurden. Versucht man, Risikofaktoren zu benennen, so hat sich über die verschiedenen Studien gezeigt, dass weder Geschlecht, Alter noch die Schwere der Erkrankung bei Aufnahme auf die Intensivstation mit dem Auftreten einer Depression vergesellschaftet sind. Hingegen war das Auftreten depressiver Symptome zu einem frühen Zeitpunkt nach der Intensivtherapie ein starker Indikator für die Entwicklung einer Depression [4]. Bei einer Untersuchung von 160 Patienten mit akuter Lungenschädigung wurde 6 Monate nach dem Intensivaufenthalt in 26 % der Fälle eine Depression diagnostiziert. Das Auftreten depressiver Symptome war in dieser Studie assoziiert mit dem Aufenthalt auf einer chirurgischen Intensivstation, einem SOFA-Score von >10 und einer mittleren täglichen Benzodiazepindosis von mindestens 75 mg Midazolamäquivalent [6]. Der Zusammenhang zwischen diesen identifizierten Risikofaktoren und deren Bedeutung ist bisher nicht klar und muss in weiteren Studien evaluiert werden. Die depressiven Symptome nehmen negativen Einfluss auf die entsprechenden Items der gesundheitsassoziierten Lebensqualität der Patienten. Entsprechend sollte frühzeitig nach depressiven Sym-
12
122
12 12 12 12 12
Kapitel 12 · Langzeitfolgen nach Intensivtherapie
ptomen gefahndet und mittels interdisziplinärer Zusammenarbeit mit Psychiatern und Psychologen diese angegangen werden, um so die Morbidität und Lebensqualität nach Intensivtherapie positiv zu beeinflussen. Zusammenfassung Patienten nach Intensivtherapie weisen nicht nur physische Langzeitfolgen, wie z. B. Nierenfunktionseinschränkungen, Leberfunktionsstörungen oder CIP/CIM auf, sondern zeigen auch eine erhöhte Anzahl an depressiven Symptomen. Dies alles nimmt Einfluss auf die Lebensqualität dieser Patienten. Soweit wie möglich sollten daher bereits während des Krankenhausaufenthaltes prophylaktische Maßnahmen bzw. therapeutische Möglichkeiten wahrgenommen werden.
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Literatur 1
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123
Akut- und Frührehabilitation B. Gassner, S. Kircher, G. Schönherr 13.1
Rehabilitationsteam und Zielsetzung – 124
13.2
Lagerung – 124
13.2.1 13.2.2 13.2.3 13.2.4 13.2.5 13.2.6 13.2.7 13.2.8 13.2.9 13.2.10
Lagerung zur Verbesserung der Atemfunktion – 124 Lagerung zur Vermeidung bzw. Behandlung von Dekubitalulzera – 124 Lagerung zur Verbesserung der Herz-Kreislauf-Funktion – 125 Lagerung bei erhöhtem Hirndruck – 125 Lagerung zur Regulation des Muskeltonus – 125 Lagerung zur Förderung von Vigilanz, Aufmerksamkeit und Aktivierung des Patienten – 126 Lagerung zur Erhaltung der Gelenkbeweglichkeit – 126 Lagerung zur Angstreduktion und Vermittlung von Sicherheit – 126 Spezielle Lagerungen bei Verletzungen des Bewegungsapparats – 127 Zusammenfassung – 127
13.3
Frühmobilisation – 127
13.4
Atem-, Schluck- und Esstherapie – 128
13.4.1 13.4.2 13.4.3 13.4.4 13.4.5 13.4.6 13.4.7 13.4.8 13.4.9 13.4.10 13.4.11
Weaning – 128 Sekretlösung und Sekrettransport – 128 Erhaltung und Verbesserung Thoraxdehnbarkeit – 129 Normalisierung Atemmusters – 129 Angstminderung, Entspannung – 129 Atmung, Stimme und Schlucken – 129 Schluck- und Esstherapie – 129 Abklärung – 129 Kausale Therapieverfahren – 129 Esstraining mit Kompensationsstrategien – 130 Kanülenmanagement – 130
13.5
Bewegungstherapie – 130
13.6
Stimulationsbehandlung – 131
13.6.1 13.6.2 13.6.3 13.6.4 13.6.5
Vestibuläre Stimulation – 131 Taktile Stimulation – 132 Akustische Stimulation – 132 Visuelle Stimulation – 132 Gustatorische und olfaktorische Stimulation – 132
13.7
Symptomorientierte Therapie – 132
13.7.1 13.7.2 13.7.3
Physiotherapie – 132 Ergotherapie – 133 Logopädie – 134
Literatur – 134 H. Burchardi et al. (Hrsg.), Die Intensivmedizin, DOI 10.1007/978-3-642-16929-8_13, © Springer Medizin Verlag Berlin Heidelberg 2011,
13
13
124
Kapitel 13 · Akut- und Frührehabilitation
13.1
Rehabilitationsteam und Zielsetzung
13
Erste Rehabilitationsmaßnahmen beginnen bereits in der Akutphase (A-Phase) der Erkrankung und gehen direkt in die Frührehabilitationsphase (B- oder Rehaphase) über. Die Rehabilitation erfolgt – dies ist auf Intensivstationen von besonderer Bedeutung – interdisziplinär. Das Behandlungsteam, bestehend aus Ärzten, Physio- und Ergotherapeuten, Logopäden sowie dem Pflegepersonal, legt zunächst therapeutische Ziele fest, die dann gemeinsam erreicht werden sollen. In der ersten Behandlungsphase arbeitet das Team zusammen am Patienten, berufsspezifische Grenzen verblassen. Erst mit zunehmender Vigilanz und Compliance des Patienten können Behandlungsziele der einzelnen Berufsgruppen individuell definiert werden.
13
Akutphase. In der Akutphase stehen die Stabilisierung der Vital-
13 13 13 13
13 13 13 13 13 13
funktionen sowie die Vermeidung und Bekämpfung sekundärer Komplikationen im Vordergrund. Frührehabilitation. Die Frührehabilitation ist durch folgende
Schwerpunkte charakterisiert: 4 spezifische Lagerungsmaßnahmen, 4 Atemtherapie, 4 Frühmobilisation, 4 Aufbau einer Kommunikationsbasis, 4 Wahrnehmungsförderung, aktivierende, stimulierende Maßnahmen, 4 Kanülenmanagement, 4 Weaning, 4 Förderung der Motorik und der Sensorik, 4 gezielte Schluck- und Esstherapie, Mundhygiene, 4 symptomorientierte therapeutische Intervention.
13 13 13 13 13 13 13 13 13 13 13 13
13.2
Lagerung
Die Lagerung intensivpflichtiger Patienten ist eine der wichtigsten Maßnahmen zur Vermeidung oder zur Behandlung von Sekundärkomplikationen wie Pneumonien, Thrombosen, Dekubitalulzera, Kontrakturen und Nervendruckläsionen. > Eine gute interdisziplinäre Zusammenarbeit sowie eine entsprechende Ausbildung aller auf einer Intensivstation tätigen Personen sind maßgeblich für die sinnvolle und erfolgversprechende Durchführung von Lagerungen. Therapieziele. Es gibt viele verschiedene Ziele, die die jeweilige La-
gerung eines Patienten erfüllen soll: 4 Verbesserung der Herz-Kreislauf-Funktion, 4 Verbesserung der Atmung, 4 Hirndrucksenkung, 4 Vermeidung bzw. Behandlung von Dekubitalulzera, 4 Regulation des Muskeltonus, 4 Erhaltung der Gelenkbeweglichkeit, 4 Speziallagerungen bei Verletzung des Bewegungsapparats, 4 Förderung von Vigilanz, Aufmerksamkeit und Aktivierung des Patienten, 4 Angstreduktion, Vermittlung von Sicherheit. Da – je nach aktueller Hauptproblematik – nicht alle Ziele mit jeder Lagerung erfüllt werden können, wird für jeden Patienten eine individuell angepasste Lösung gesucht.
13.2.1
Lagerung zur Verbesserung der Atemfunktion
Atmungserleichternde Positionen müssen ebenfalls für jeden Patienten individuell gefunden werden. Sie sind abhängig von der Grunderkrankung, von Erkrankungen der Atemwege und der Lunge, der Beatmungssituation, dem Körperumfang, persönlichen Vorlieben usw. Bei nicht-kommunizierenden Patienten orientiert man sich an der Atemfrequenz, der O2-Sättigung, der Herzfrequenz, dem Blutdruck usw. Folgende Positionen werden meist gut toleriert: 4 Seitenlage, 4 Sitz, bei Bedarf mit abgestützten Armen, 4 Rückenlage (V-Lagerung: der Kopf und die Schultern des Patienten werden mit zwei überlappenden Polstern unterlagert, die zusammen die Form eines auf den Kopf gestellten V ergeben). Beim Sitzen ist zu beachten, dass der Patient nicht zusammensackt und der Thorax nicht komprimiert wird. Das Abdomen darf die freie Zwerchfellbeweglichkeit nicht beeinträchtigen. Die Erfahrung zeigt, dass der Sitz im Bett, der oftmals standardmäßig zur Erleichterung der Atmung eingesetzt wird, nicht immer die beste Position ist (zu Drainagelagerungen 7 Abschn. 13.4.2).
13.2.2
Lagerung zur Vermeidung bzw. Behandlung von Dekubitalulzera
Dekubitusrisiko Das Dekubitusrisiko ist in der Akutphase der Intensivbehandlung deutlich erhöht. Die Ursachen sind sehr vielfältig, z. B. Mikrozirkulationsstörungen durch Kreislaufinstabilität und Katecholaminbehandlung, Immobilisierung, Analgosedierung, Thermoregulationsstörungen, Katabolismus usw.
Dekubitusgefährdete Körperstellen Folgende Körperstellen sind dekubitusgefährdet und müssen daher druckentlastet bzw. druckfrei gelagert werden: In Rückenlage. Hinterkopf, Ellbogen, Kreuzbein und Sitzbein, Fer-
sen und Fußknöchel. In Bauchlage. Stirn, Nase, Kinn, Schulter, Rippenbogen, Knie und
Fußrücken, bei Männern auch Hoden und Penis. Daraus resultiert der begründete, anfänglich sehr häufige Einsatz von Spezialmatratzen bzw. Spezialbetten zur Auflagedruckminimierung, z. B. die Anwendung von Luftkissenbetten. Anzumerken ist, dass auch auf diesen Spezialmatratzen bzw. -betten regelmäßig in verschiedenen Positionen gelagert werden kann und muss. > Nachteil der Superweichlagerung ist, dass der Patient jegliches Körpergefühl verliert und, z. B. beim Abhusten, kein Widerlager zum Abstützen bzw. zum Einsatz der Atemhilfsmuskulatur findet.
Dekubitusprophylaxe durch Umlagern Wechselnde Körperpositionen dienen nicht nur der optimalen Dekubitusprophylaxe, sondern auch dem Vestibulumtraining und als Orientierungshilfe am eigenen Körper und im Raum. Daher sollte der Patient schnellstens von der Superweichlagerung, z. B. vom Luftkissenbett, entwöhnt und regelmäßig (ca. alle 2 h) umgelagert werden. In Seitenlage wird nicht direkt auf die Seite, sondern etwas vor bzw. hinter der 90 °-Position gelagert.
125 13.2 · Lagerung
13.2.3
Lagerung zur Verbesserung der Herz-Kreislauf-Funktion
Regelmäßiges Umlagern im Bett sowie die frühest mögliche, kontrollierte, langsam aufbauende Mobilisation des Patienten dienen der Verbesserung der Herz-Kreislauf-Funktion. Die Versorgung mit gut angepassten Antithrombosestrümpfen bzw. Bandagen ist unerlässlich. Passive, möglichst aber aktive rhythmische Bewegungen im Bett dienen als Vorbereitung zur Mobilisation. Im Einzelfall und nach Absprache mit dem Arzt können auch kreislaufstabilisierende Medikamente angewandt werden. Bei venösem Rückstau empfiehlt sich eine 20 °-Hochlagerung der Beine.
13.2.4
Lagerung bei erhöhtem Hirndruck
Bei der Lagerung von Patienten mit gesteigertem intrakraniellem Druck muss der Kopf in Mittelstellung gelagert werden; Überstreckung oder Abknickung sind zu vermeiden. Bei Kreislaufstabilität wird eine leichte Oberkörperhochlagerung empfohlen, um den venösen Blutabfluss aus dem Gehirn über die Jugularvenen zu fördern.
13.2.5
Lagerung zur Regulation des Muskeltonus
Je nach Tonussituation (Hypo-/Hypertonus) wird versucht, diese durch eine entsprechende Lagerung zu beeinflussen.
Hypotonus Durch häufiges Umlagern, Wechsel unterschiedlicher Gelenkpositionen und das Vertikalisieren in den Sitz oder den Stand wird versucht, den Muskeltonus zu normalisieren.
Hypertonus Muskulärer Hypertonus kann zahlreiche Ursachen haben (spinale, zerebrale Spastizität, Tonuserhöhung nach Mittelhirnsyndrom) und sich unterschiedlich manifestieren: Extensions-, Flexionssynergien, Seitenbetonung usw. Die Lagerungsbehandlung erfolgt entgegen derjenigen Gelenkstellungen, die durch die tonische Aktivitätssteigerung eingenommen wurden. Auch hierbei wird nicht streng nach einem Schema vorgegangen, sondern es wird versucht, je nach Reaktion des Patienten (vegetative Zeichen, motorische Unruhe etc.) eine für den Patienten angenehme Position zu finden. Folgende Prinzipien sollten immer beachtet werden:
durch Dehnung, im schlimmsten Fall durch Schmerz, zu einer noch stärkeren Tonuserhöhung kommt. Vor allem bei Tonuserhöhungen mit rigidem Anteil, wie nach einem Mittelhirnsyndrom, führt anhaltende Dehnung und endgradiges Bewegen zu einer Erhöhung der Muskelgrundspannung. Übermäßiger Eifer, z. B. beim Durchbewegen mit dem Ziel der Kontrakturprophylaxe, kann in diesem Fall zum gegenteiligen Effekt führen. Lagerungsmaterial. Optimales Lagerungsmaterial zeichnet sich
durch gute Formbarkeit und Anpassungsfähigkeit an die Situation aus (z. B. Federpolster). Starre Polster, Gips-, und Kunststoffschienen in der Frühphase führen zu vermehrter Muskelspannung und somit zu verstärkter Gefahr von Kontrakturen und sollten primär nicht für die Lagerung verwendet werden. Härteres Material wird aber sehr wohl ganz gezielt zum Zweck der Wahrnehmunsförderung, dem Erspüren der eigenen Körpergrenzen und der Umwelt eingesetzt. Gips und Schienen sollen ausschließlich zu therapeutischen Zwecken verwendet werden und müssen individuell genauest an die jeweilige Patientensituation angepasst und kontrolliert werden. Seitenlage. Sie ist bei allen Patienten mit muskulärer Hypertonie
die bevorzugte Position, da sie die tonische Muskelaktivierung im Sinne einer Tonusreduktion am günstigsten beeinflusst. Bei Patienten mit halbseitiger Symptomatik wird versucht, den zu erwartenden bzw. den schon vorhandenen tonischen Haltungs- und Bewegungsmustern entgegenzuwirken. Dabei eignet sich die Lagerung auf die betroffene Körperhälfte am besten zur Tonusregulation (. Abb. 13.1). > Die Seitenlage ist bei allen Patienten mit muskulärem Hypertonus die bevorzugte Position, da sie die tonische Muskelaktivierung am günstigsten vermindern kann.
Bei Patienten mit Tetraspastik wird individuell, d. h. je nach vorherrschender Tonusverteilung, gelagert, wobei darauf zu achten ist, dass sich die Wirbelsäule in Mittelposition und der Kopf in einer leichten Flexionshaltung befinden. Bei vorherrschendem Extensorentonus an den unteren Extremitäten werden diese v. a. in Flexion gelagert und umgekehrt. Die häufig verwendete Lagerung in 30 °-Drehung erweist sich bei Patienten mit Hypertonus als ungünstig, da sie sich zu nahe an der Rückenlage befindet, wodurch der Kopf und in weiterer Folge der ganze Körper in Extensionsstellung kommen. Tonusregulierender wirkt die Seitenlage knapp vor (günstigste Lage bei Tetraspastik) bzw. knapp hinter der 90 °-Lagerung mit Rumpf- und Bauchunterlagerung.
Stellung des Kopfes und der Halswirbelsäule. Die Stellung des
Kopfes und der Halswirbelsäule (HWS) bedingt, entsprechend der Lokalisation und des Ausmaßes der ZNS-Schädigung, mehr oder weniger stark ausgeprägte Enthemmungsphänomene tonischer Reflexaktivitäten [tonischer Labyrinthreflex (TLR); asymmetrisch und symmetrisch tonischer Nackenreflex (ATNR, STNR)]. So kann die Extension der Kopfgelenke den Extensionstonus im ganzen Körper verstärken, dasselbe gilt für die Flexion (TLR). Wird die HWS extendiert, erhöht sich der Extensionstonus der oberen sowie der Flexionstonus der unteren Extremitäten und umgekehrt (STNR). Keine Extrempositionen. Prinzipiell wird bestehenden tonischen Mustern entgegengelagert. In der pseudoschlaffen Phase lagert man entgegen die zu erwartende Form der Tonuserhöhung. Es sollten dabei jedoch keine Extrempositionen eingenommen werden, da es
. Abb. 13.1 Seitenlagerung
13
126
Kapitel 13 · Akut- und Frührehabilitation
ten vermittelt Sicherheit. Langsames Tempo und genügend Kontakt zur Unterlage senken den Tonus, wohingegen zu schnelles Arbeiten und unklare Berührungen den Tonus steigern.
13 13
13.2.6
13 13 13 13 13
. Abb. 13.2 Bauchlage: Unterlagerung von Kopf, Rumpf und Sprunggelenken
13
Bauchlage. Sie stellt ebenfalls eine günstige Möglichkeit zur Beein-
13 13 13 13 13 13 13 13 13 13 13 13 13 13 13 13 13
flussung tonischer Aktivitäten dar. Durch die leichte Flexionshaltung des Kopfes wird bei Patienten mit starker Strecktendenz häufig eine Tonusverminderung erreicht. Zur Freihaltung der Atemwege (v. a. bei Patienten mit Tubus und Trachealkanüle) und zur besseren Lagerungsmöglichkeit der Schultergelenke muss der Rumpf ausreichend unterpolstert werden. Auch beatmete Patienten können und sollen auf den Bauch gelagert werden. Die Umlagerung erfordert in diesem Fall mehrere Personen. Die Sprunggelenke werden ebenfalls unterpolstert, um einerseits die Überstreckung der unteren Extremitäten zu verhindern, andererseits einer Spitzfußstellung entgegenzuwirken (. Abb. 13.2). Rückenlage. Hier ist besonders auf die Stellung des Kopfes zu ach-
ten, da bei Extension des Kopfes, bedingt durch den tonischen Labyrinthreflex, die Extensorenaktivität verstärkt wird. Deshalb wird der Kopf, bei Bedarf auch der ganze Oberkörper, in leichter Flexion gelagert. Die Hüft- und Kniegelenke werden ebenfalls in leichter Beugehaltung positioniert, um dem Strecktonus entgegenzuwirken. > Insgesamt ist die Rückenlage bei Patienten mit muskulärem Hypertonus als ungünstigste Lagerung anzusehen.
Varianten der Rückenlagerung, z. B. die V-Lagerung (7 Abschn. 13.2.1) oder die Lagerung der Beine in Schrittstellung sind der reinen Rückenlagerung vorzuziehen. Sitz. Sobald der Patient vegetativ ausreichend stabil ist, sollte er im Sitzen gelagert werden. Das Sitzen fördert Vigilanz und Aufmerksamkeit und beeinflusst die Herz-Kreislauf-Funktion sowie den Muskeltonus positiv, es fördert die Gesamtkörperwährnehmung und die Abgrenzung des Körpers gegenüber der Umwelt. Man beginnt, den Patienten im Bett für einige Minuten aufzusetzen, wobei auf eine aufgerichtete, aber nicht überstreckte Haltung der Wirbelsäule zu achten ist. Bei guter Verträglichkeit kann der Patient am nächsten Tag in einen Stuhl gesetzt werden. Auch hier sei auf die leichte Flexionshaltung des Kopfes hingewiesen. Bei instabilem Rumpf wird dieser mit ausreichend formbarem Polstermaterial (ideal: Federpolster) unterstützt, ebenso die Arme, die zusätzlich auf einen Tisch gelagert werden. Die Beine werden in Flexion, möglichst in 90 °, gelagert, die Füße aufgestellt. Umlagern. Auch beim Umlagern des Patienten wird Einfluss auf
die Tonussituation genommen. Großflächiges Berühren des Patien-
Lagerung zur Förderung von Vigilanz, Aufmerksamkeit und Aktivierung des Patienten
Zur Steigerung der Vigilanz eignen sich hohe Positionen am besten (7 Abschn. 13.6.1 »Vestibuläre Stimulation«). Auch deshalb werden Patienten so früh wie möglich vertikalisiert (Querbett, Multifunktionsstuhl, Stand, Gehen). Bei jedem Umlagern kann eine Aktivierung des Patienten erfolgen, sofern diese Handlung kein passives Manipulieren darstellt, sondern auf das jeweilige Aktivitätsniveau des Patienten eingegangen wird. > Bei Patienten mit verlangsamter Reizverarbeitung (z. B. sedierte oder neurologische Patienten) ist es wichtig, das Tempo so anzupassen, dass die jeweilige Handlung nachvollzogen werden kann und dadurch eine aktive Beteiligung ermöglicht wird.
Auch ein Wechsel des Tempos kann zur Stimulation der Vigilanz angezeigt sein, jedoch immer unter genauer Beobachtung der Reaktion des Patienten, da Angst zu Rückzug und Abwehr führen kann. Ein einheitliches Vorgehen ermöglicht es dem Patienten, zunehmend Aktivität zu übernehmen, da die einzelnen Handlungsabläufe vertraut sind und nicht jede Person eine andere Methode anwendet. > Alle Lagerungsmaßnahmen müssen dem Patienten, auch wenn er nicht offensichtlich ansprechbar ist, immer angekündigt und erklärt werden. Ihm muss genügend Zeit bleiben, um darauf zu reagieren und nach seinen Möglichkeiten mitzuhelfen.
13.2.7
Lagerung zur Erhaltung der Gelenkbeweglichkeit
Bei Patienten mit muskulärem Hypotonus sollte die Gelenkbeweglichkeit durch entsprechende Lagerung und Umlagerung, frühest mögliche Mobilisation und sanfte Bewegungstherapie erhalten werden können. Bei Patienten mit muskulärem Hypertonus bildet die Lagerung in tonussenkenden Positionen die wichtigste Vorraussetzung zur Erhaltung der Gelenkbeweglichkeit. Auch hier sei darauf hingewiesen, dass zu forciertes, über die Gegenspannung des Patienten hinausgehendes Lagern die Ausbildung von Kontrakturen eher fördert als verhindert. Die Verwendung von Lagerungshilfsmitteln (z. B. hohe Turnschuhen im Bett) muss in jedem Fall einzeln überprüft werden, da auch diese zu erhöhtem Muskeltonus und in der Folge zu Kontrakturen führen können. Weiterhin kann es bei zu starkem Gegendruck zur Dekubitusbildung kommen.
13.2.8
Lagerung zur Angstreduktion und Vermittlung von Sicherheit
Der Aufenthalt auf einer Intensivstation macht Angst, v. a. wache und aufwachende Patienten oder solche, die nur teilweise orientiert sind, fühlen sich verunsichert und wissen oft nicht, was mit ihnen geschieht. Deshalb ist es besonders wichtig, durch die Lagerung, sei
127 13.3 · Frühmobilisation
es im Bett oder in einem Stuhl, dem Patienten Sicherheit, besser Geborgenheit, zu vermitteln. Instabile Lagerungen und Hilfsmittel verunsichern, v. a. dann, wenn die Vigilanz und die Körperwahrnehmung beeinträchtigt sind. Es sollte ausreichend weiches Polstermaterial verwendet werden, um dem Patienten Sicherheit zu geben. Bei Seitenlage im Bett wird der Patient ganz nach hinten an die Bettkante gebracht und am Rücken durch ein Polster oder Pack abgestützt. So wird durch den freien Raum vor ihm Sicherheit vermittelt. Im Sitzen wird nach Möglichkeit ein Tisch vorgestellt, um dem Patienten die Angst vor dem Herausfallen zu nehmen.
13.2.9
Spezielle Lagerungen bei Verletzungen des Bewegungsapparats
Diese Lagerungen werden je nach Art und Ausmaß der Verletzung und in Absprache mit dem behandelnden Arzt vorgenommen. Bei Bedarf werden Spezialschienen und Lagerungshilfen verwendet.
13.2.10
Zusammenfassung
Die vielen Möglichkeiten der Lagerung gerade beim Intensivpatienten sollten nicht vernachlässigt werden, da sie die Atmung sowie die Herz-Kreislauf-Funktionen unterstützen, Schmerzen lindern, den Muskeltonus senken und dem Patienten neue Wahrnehmungen und Körpererfahrungen ermöglichen können. Dazu ist ein interdisziplinäres 24-h-Lagerungsmanangement notwendig. ! Cave Bedingt durch den vermehrten Einsatz von Antidekubitusbetten besteht auf Intensivstationen die Tendenz, Patienten sehr lange in der gleichen Position zu lagern. Hierdurch werden Störungen der Körperwahrnehmung, der Wahrnehmung der Umgebung und der Sensibilität gefördert.
Es kann häufig beobachtet werden, dass Patienten, die entsprechend gelagert werden, weniger Sedativa und Antispastika benötigen.
13.3
Frühmobilisation
Am Beispiel des Schlaganfalls wurde gezeigt, dass immobilitätsbedingte Sekundärkomplikationen, wie z. B. tiefe Beinvenenthrombosen oder Infekte der Atemwege, zu mehr als der Hälfte der Sterbefälle im 1. Monat führen [17]. Es existieren zunehmend Studien, die zeigen, dass durch eine frühzeitige Mobilisation diese Sekundärkomplikationen vermieden werden können [4]. Die frühe Mobilisation dient zudem der Erreichung weiterer Ziele (7 Übersicht).
4 Prophylaxe und Behandlung von Veränderungen am Bewegungsapparat: Gelenke, Muskeln und umgebende Weichteile 4 Verbesserung der Herz-Kreislauf-Situation 4 Verbesserung der Mobilität: Erlernen und Verbessern von Lagewechseln (Rückenlage – Seitlage –Sitz – Stand – Gang) 4 Vorbeugen von Fallängsten durch frühzeitige Mobilisation 4 Vorbeugen von depressiven Zuständen 4 Erlangen von Selbstständigkeit durch Einbeziehen in die Aktivität
Doch was ist frühzeitige Mobilisation, und in welchem Zeitraum nach dem Geschehen soll sie stattfinden? Frühmobilisation Unter Frühmobilisation ist die Mobilisation zumindest im Sitz (Querbett oder Rollstuhl) bzw. im Stehen, wenn möglich im Gehen, zu verstehen. Diese Mobilisation kann durch einen Therapeuten bzw. Pflegepersonal, allein oder zu zweit bzw. auch unter Zuhilfenahme von Patientenlifter oder Stehtisch oder Stehbett erfolgen. Je aktiver die Maßnahme, desto mehr kann damit gerechnet werden, dass der Patient auch motorisch lernt, je passiver, umso mehr steht die Prophylaxe von Sekundärkomplikationen im Vordergrund. Ein Hochstellen des Oberkörpers im Bett ist nicht als Mobilisation zu werten!
Der Zeitpunkt der Frühmobilisation ist jeweils individuell vom Arzt zu bestimmen und richtet sich nach verschiedenen Parametern. Zu erwähnen ist, dass derzeit eine große multizentrische Studie – AVERT-Studie (A Very Early Rehabilitation Trial) – stattfindet, deren erste Ergebnisse zeigen, dass die Mobilisation innerhalb von 24 h zu einer Reduktion von leichten und schweren Sekundärkomplikationen führt [4]. > Es ist somit - nach Ausschluss von Kontraindikationen durch den Arzt eine Mobilisation innerhalb der ersten 24 h anzustreben. Was ist bei der frühen Mobilisation von Patienten zu beachten? 4 Vigilanz: Ist der Patient ausreichend wach, um aktiv an
4
4
Ziele, die mit der Frühmobilisation angestrebt werden 4 Vermeidung von Sekundärkomplikationen: Atemwegserkrankungen, tiefe Beinvenenthrombosen, Dekubitalulzera 4 Verbesserung von Vigilanz, Aufmerksamkeit und räumlicher Orientierung 4 Verbesserung von propriozeptiver, exterozeptiver und vestibulärer Wahrnehmung 6
4
4 6
Mobilisationsmaßnahmen teilzunehmen, oder müssen passive Maßnahmen stattfinden (Lifter, Stehbett etc.)? Das Aufsetzen erfolgt von der Rückenlage über die Seitlage in den Sitz – niemals direkt aus der Rückenlage zum Sitz kommen! Kopfkontrolle: Kann der Patient seinen Kopf selbst stabilisieren, oder ist eine weitere Hilfsperson zur Supervision der Kopfstellung vonnöten? Ausreichend Hilfe: Wichtig ist es, dem Patienten genug Sicherheit zu geben, damit er sein motorisches Potenzial voll ausschöpfen kann (evtl. 2. Hilfsperson oder Stehhilfe). Ausgangsposition: Eventuell von erhöhter Sitzposition aufstehen, um weniger Aktivität aufbringen zu müssen.
13
128
13 13 13 13 13 13 13 13 13 13 13 13 13
Kapitel 13 · Akut- und Frührehabilitation
4 Fußposition: Die Füße des Patienten müssen hinter den Kniegelenken positioniert werden, da nur so ein biomechanisch ökonomisches Aufstehen möglich ist. 4 Schuhe: Ausreichend festes Schuhwerk verhindert das Weggleiten der Füße. 4 Schulter: Eine plegische Schulter muss immer gesichert werden (v. a. bei subluxierter bzw. schon schmerzhafter Schulter)! Der betroffene Arm darf nicht neben dem Körper herabhängen und niemals über die Schulter bzw. den Oberkörper der Hilfsperson hängen (Hebelwirkung). Der Patient soll, wenn möglich, den Arm selbst halten, bzw. der Arm wird von der Hilfsperson mit leichter Kompression in das Schultergelenk gesichert. Mehr dazu in 7 Abschn. 13.2. 4 Lagerung: Ausreichende Unterlagerung des betroffenen Arms im Sitzen. 4 Sitz im Bett: Eine Erhöhung des Oberkörpers im Bett ist nicht als Mobilisation anzusehen. Kann ein Patient nicht im Rollstuhl sitzen, kann er im Bett folgendermaßen »mobilisiert« werden: 4 Erhöhung des Fußteils (immer zuerst, da der Patient sonst nach unten abrutscht), 4 Erhöhung des Kopfteils, 4 Schrägstellen des gesamten Bettes. 4 Hilfsmittel wie z. B ein Tisch vor dem Patienten erleichtern den Augenkontakt und die räumliche Orientierung. 4 Ausreichende Stabilisierung von Sprung- und Kniegelenken beim Aufstehen: Entweder eine Hilfsperson befindet sich vor dem Patienten oder – bei Bedarf – stehen 2 Personen seitlich. 4 Monitoring: Die Frühmobilisation erfolgt immer mit Monitoring: EKG, Herzfrequenz, Blutdruck, Pulsoxymetrie.
13 13
13.4
13
Auch bei der Durchführung der Atemtherapie auf einer Intensivstation ist die enge Zusammenarbeit von Ärzten, Pflegepersonal und Therapeuten notwendig. Die Atemtherapie kann nicht nur dazu beitragen, den Patienten vor invasiveren Maßnahmen (Beatmung) zu bewahren, bzw. bei konsequenter Anwendung, auch die Entwöhnung von der maschinellen Beatmung erleichtern und beschleunigen. Die jeweils anzuwendenden Methoden sind abhängig von Beatmungsform, Vigilanz und Kooperation des Patienten, wobei aktive Maßnahmen nach Möglichkeit immer vorzuziehen sind, da sie den passiven Maßnahmen an Wirksamkeit überlegen sind. Die einzelnen Ziele der Atemtherapie werden im Folgenden beschrieben.
13 13 13 13 13 13 13 13 13
13.4.1
Atem-, Schluck- und Esstherapie
Brustkorb des Patienten vom Therapeuten unterstützt, damit ein erhöhtes Atemvolumen erreicht wird. Ist ein Patient bereits wach und kooperativ, kann man ihn zum aktiven Mitatmen oder z. B. zum Atmen gegen Widerstand animieren. Es sollte darauf geachtet werden, dass die Atemfrequenz in einem physiologischen Rahmen bleibt (Richtwert: 15 Atemzüge/min). Die speziellen Techniken sind in 7 Abschn. 13.4.4 ff. dargestellt. Weiter ist zu berücksichtigen, dass während des »therapeutischen Weanings« eine engmaschige Kontrolle der Blutgasanalyse von Seiten der Pflege durchgeführt werden muss.
13.4.2
Sekretlösung und Sekrettransport
Die effektivste Möglichkeit zur Sekretmobilisation ist zum einen die forcierte Exspiration, zum anderen die reflektorische Atemtherapie (RAT). Für die forcierte Exspiration ist die aktive Mitarbeit des Patienten notwendig. In seiner Exspirationsphase wird der Patient vom Therapeuten am Thorax manuell fixiert. Ziel ist es. eine maximale Exspiration zu erreichen und somit das Sekret zu mobilisieren. Idealerweise wird die forcierte Exspiration von 2 Therapeuten durchgeführt (. Abb. 13.3). Bei beatmeten Patienten kommt die reflektorische Atemtherapie zur Anwendung. Durch Stimulierung konkreter Körperrezeptoren wirkt der Therapeut auf den Atemrhythmus mit ein. > Nach der Sekretmobilisation ist es entscheidend, das es zum Sekretabtransport kommt, durch Husten (im Sitzen mit abgestützten Händen, wenn möglich), abschlucken, ausspucken, orales oder tracheales Absaugen. Inhalation. Bei spontan atmenden Patienten können zu Beginn der Atemtherapiesitzung Inhalationen mit sekretlösenden Aerosolen durchgeführt werden. Bei wachen und kooperativen Patienten dient der Einsatz des Flutter VRP1 Desitin (»vario respiratory pressure«) dem Ablösen des Schleims von den Bronchialwänden, zur Mobilisation des Sekrets sowie zur Atemschulung. Drainagelagerung. Je nach Thoraxröntgenbefund (Ort und Aus-
maß von Infiltraten, Atelektasen, minderbelüfteten Lungenbezirken) werden – möglichst gleichzeitig mit sekretlösenden Maßnahmen – Drainagelagerungen durchgeführt. Diese sollten frühestens 1–2 h nach der letzten Nahrungsaufnahme erfolgen.
Weaning
Weaning bedarf einer sehr engen interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Therapeuten und Pflegepersonal. Für die Begleitung des Weanings wird das Therapieteam zur Unterstützung der Atmung hinzugezogen, sobald der Patient nicht mehr voll kontrolliert beatmet ist. Der Patient soll grundsätzlich in eine optimale Ausgangsstellung (Seitlage, Sitz im Bett o. Ä.) gebracht werden. In Absprache mit dem Pflegepersonal werden beispielsweise SIMV-Frequenzen, Druckunterstützung und PEEP reduziert. Währenddessen wird der
. Abb. 13.3 Atemtherapie: Unterstützung der Exspiration durch 2 Therapeuten
129 13.4 · Atem-, Schluck- und Esstherapie
> Vor der Drainagelagerung wird abgesaugt, um die Verschleppung des Sekrets in andere Lungenbezirke zu verhindern.
Ziel der Drainagelagerung ist es, das Bronchialsekret mit Hilfe der Schwerkraft entsprechend der Anatomie des Bronchialsystems zu transportieren und zu entfernen. Ist ein aktives Abhusten nicht möglich, wird das Sekret vor dem erneuten Umlagern abgesaugt.
13.4.3
Erhaltung und Verbesserung Thoraxdehnbarkeit
der Weiter können Dreh-Dehn-Lagerungen durchgeführt werden, um die Mobilität der Rippen-Wirbel-Gelenke zu erhalten. Auch Techniken der manuellen Therapie sind möglich, wobei bei sedierten oder hypotonen Patienten auf den fehlenden Schutz durch die Muskulatur zu achten ist. Weitere Möglichkeiten sind die Diaphragma-Thorax-Mobilisierung und die passive Mobilisierung im Atemrhythmus. Das Ausstreichen der Zwischenrippenräume dient der Entspannung der Muskulatur und somit der Beweglichkeit des Thorax.
13.4.4
13.4.6
Die Atmung stellt eine Möglichkeit dar, mit dem Patienten in einen ersten Dialog zu treten. In der logopädischen Therapie nimmt sie einen großen Stellenwert ein. Die Atmung ist entscheidend für die Phonation, aber auch grundlegend für die Koordination von Atmung und Schlucken. Durch die Arbeit an der Atmung lässt sich bei Patienten mit oder ohne Kanüle häufig der erste Stimmeinsatz erreichen. In der Therapie wird die Atmung bewusst gemacht – etwa durch die handgestützte Atemtherapie – und willkürlich vertieft.
13.4.7
Schluck- und Esstherapie
Häufig treten bei Intensivpatienten Schluckstörungen (Dysphagien) auf, die meist durch neurologische Erkrankungen oder mechanische Behinderungen bedingt sind. Schon vor der Extubation können erste Stimulationen im Mund- und Gesichtsbereich erfolgen. Durch intraorale Stimulation sowie Manipulation am Tubus werden Erkenntnisse über Sensibilität, Schluckfrequenz, Speichelansammlung und Tonusverhältnisse gewonnen, die wichtig für eine Extubation sind. Weiters wird Sekundärproblemen wie z. B. sensorischer Deprivation, Tonuszunahme und Beißen entgegengewirkt.
Normalisierung Atemmusters 13.4.8
des Je nach Beatmungsform, Vigilanz und Kooperation des Patienten wird mit aktiven oder reaktiven Techniken versucht, das Atemmuster zu beeinflussen. Dabei hat sich gezeigt, dass sich die Atmung häufig umso besser beeinflussen lässt, je weniger erklärt wird, da manche Patienten durch den Druck, »richtig« atmen zu müssen, häufig nicht wissen, wie sie den sonst unwillkürlich ablaufenden Vorgang der Atmung bewerkstelligen sollen.
Techniken zur Normalisierung des Atemmusters 4 Kontaktatmung mit unterschiedlichen Handpositionen 4 Abheben von Hautfalten am Bauch 4 Atemstimulierende Einreibung aus der basalen Stimulation 4 Hänge- und Packegriffe 4 Heiße Rolle 4 Lippenbremse 4 Forcierte Exspiration
13.4.5
Atmung, Stimme und Schlucken
Angstminderung, Entspannung
Der oft große Leidensdruck, die Unsicherheit und die Angst, die Patienten auf Intensivstationen erleben, können natürlich auch die Atmung beeinflussen. Hyperventilation und große Atemanstrengung können die Folge sein. Der Körperkontakt bei der Atemtherapie, das Wiederkehren einer Bezugsperson und deren ruhige Stimme, optimale Umfeldorganisation (z. B. eigene Musik) können deshalb zur Beruhigung und in der Folge zur Normalisierung der Atmung führen. So kann z. B. ein Therapeut bei der Extubation helfen, indem er die Exspiration unterstützt, wodurch reflektorisch die Inspiration verstärkt wird. Die Erfahrung hat gezeigt, dass diese Hilfe, aber auch der Körperkontakt und die durchgehende Anwesenheit einer Person, in der oft angstbesetzten Situation zu einer schnelleren Normalisierung der Atmung führen.
Abklärung
In dieser frühen Phase der logopädischen Arbeit gibt es kein standardisiertes Diagnostikverfahren, sondern es gilt der Grundsatz: Diagnostik = Therapie. Der Patient wird in eine optimale Ausgangsstellung (Seitlage, aufrechter Sitz, Vertikalisation etc.) gebracht. Schon während des Mobilisierens des Patienten wird auf Warnhinweise einer Aspiration (z. B. Husten beim Umlagern) sowie auf Schluckbewegungen und -frequenz geachtet. Sofern möglich, wird auch auf die Qualität der Stimme (Phonation) – z. B. gurgelnd, »wet voice« etc. – geachtet und in weiterer Folge auf die Reinigung (Räuspern, Husten mit promptem Abschlucken). Abhängig von den oben angeführten Funktionen, ausreichenden Schutzmechanismen und bei ausreichender Vigilanz kann ein Schluckversuch mit Bolus durchgeführt werden. Der erste Schluckversuch soll nicht mit Joghurt erfolgen, da Joghurt schleimbildende und adhäsive (haftet an der gesamten intraoralen und pharyngealen Schleimhaut) Eigenschaften aufweist. In der Regel wird Fruchtmus in homogener, breiiger Konsistenz verwendet. Schluckt der Patient diesen Bolus regelrecht, wird das Kostspektrum durch Flüssigkeit und feste Kost erweitert. Zu der klinisch logopädischen Diagnostik empfiehlt sich eine weitergehende HNO-ärztliche oder phoniatrische Untersuchung mit einer videoendoskopischen Dysphagiediagnostik (»fiberendoscopic evaluation of swallowing«; FEES). So wird festgestellt, ob dem Patienten eine ausreichende orale Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme möglich ist. Sollte dies nicht der Fall sein, ist die Indikation zur zusätzlichen Sondenernährung über die nasogastrale Sonde oder PEG gegeben.
13.4.9
Kausale Therapieverfahren
Ziel der logopädischen Therapie ist in Abhängigkeit von der vorliegenden Problematik die Wiederherstellung der physiologischen Abläufe und die Normalisierung von gestörten Muskelfunktionen und eingeschränkter Sensibilität (kausale Therapie) bzw. die Erleichterung des Schluckens sowie die Verhinderung von Aspiration (kom-
13
130
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Kapitel 13 · Akut- und Frührehabilitation
pensatorische Maßnahmen) oder die Anpassung der Umgebung an die tatsächlichen Fähigkeiten des Patienten (Hilfsmittelanpassung). In dieser frühen Phase wird hauptsächlich die Faziooraltrakttherapie (F.O.T.T.; . Abb. 13.4) angewendet. In der Akutphase der Erkrankung ist es zunächst wichtig, 4 pathologische Reflexe (z. B. Beißreflex) oder Saug-SchmatzBewegungen abzubauen, 4 den Muskeltonus zu normalisieren (er kann hypoton sein mit mangelndem Mundschluss oder hyperton, wenn der Mund des Patienten nicht zu öffnen ist), 4 physiologische Reflexe wie Würg- oder Schluckreflex zu fördern, 4 die Sensibilität (Hypo- oder Hypersensibilität) zu normalisieren. Bei den kausalen Therapiemethoden unterscheidet man zwischen passiven und aktiven Übungen. Passive Übungen. Es gibt zahlreiche Therapietechniken, die her-
angezogen werden können, z. B. Castillo Morales, Bobath, F.O.T.T., thermale Stimulation, PNF, basale Stimulation. Aktive Übungen. Aktive Übungen setzen die Mitarbeit des Patien-
13
ten voraus. Der Patient führt unter Anleitung (taktil, verbal, Imitation etc.) Bewegungen im orofazialen Bereich (intra- und extraoral) durch. Neben dieser Muskulatur können so u. a. auch die laryngeale Adduktion und Larynxelevation gefördert werden.
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13.4.10
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. Abb. 13.4 Orofaziale Stimulation
Esstraining mit Kompensationsstrategien
Erste Essversuche erfolgen im Anschluss an Stimulierungs- und Fazilitationsübungen. Das Essen wird dem Patienten u. a. durch gute Kopf- und Kieferkontrolle und eine taktile Stimulation des Schluckreflexes erleichtert. Außerdem werden folgende Kompensationsstrategien angewandt: Richtige Konsistenz der Nahrung. Anfangs wird die Nahrung nur im therapeutischen Setting verabreicht. Je nach Störungsbild wird die Kostform an den Patienten angepasst (passierte Kost, weiche Kost, Normalkost). Zu Beginn der Nahrungsaufnahme können Patienten meist nur homogene Konsistenzen bewältigen. Auf dem Weg zu gemischten Konsistenzen wird Kauen in Gaze angewandt. Bei Kost mit gemischter Konsistenz (Suppe mit Einlage, Brot mit z. B. Kaffee etc.) zeigen Patienten häufig Probleme. Sollte es einem Patienten nicht möglich sein, Flüssigkeiten zu trinken, kann die Konsistenz mit Hilfe eines Eindickungsmittels verdickt werden (Sirup-ähnlich, Creme-ähnlich oder Pudding-ähnlich). Haltung und Positionierung. Je nach Art der Störung kann eine bestimmte Haltung von Rumpf und Kopf das Schlucken verbessern. Die richtige Positionierung der Nahrung im Mund kann das Schlucken außerdem erleichtern. Verwendung von Hilfsmitteln. Dazu zählen spezielle Becher (Coombes-Becher), Ventilröhrchen, eigenes Besteck. Verwendung von speziellen Schlucktechniken. Bei einigen Störungsformen kommen zusätzliche Schlucktechniken, die der Patient für eine Verbesserung des Schluckaktes erlernt, zum Einsatz. Beispiele dafür sind das supraglottische Schlucken oder das Mendelsson-Manöver.
13.4.11
Kanülenmanagement
Das Dysphagiemanagement mit Kanülenpatienten bedarf eines gesonderten Vorgehens. In der Therapiesituation wird der Patient in eine optimale Ausgangsstellung gebracht. Nach intra- und extraoraler Stimulation wird die Kanüle entblockt. Pharyngeale und laryngeale Sensibilität kann nur durch die Atemluft, die in entblocktem Zustand den physiologischen Weg geht (Nase, Rachen, Trachea etc.) erhöht werden. Es hat sich gezeigt, dass die Schluckfrequenz in entblocktem Zustand deutlich höher ist. Des Weiteren wird am physiologischen Schlucken (Zungenmotilität, Kehlkopfmobilisation etc.), an den Schutzmechanismen und an der Phonation gearbeitet. Der erste Schluckversuch wird ausschließlich in entblocktem Zustand mit methylenblau gefärbtem breiigem Bolus und anschließendem Kontrollabsaugen durchgeführt. Die Entblockungszeiten werden in Zusammenarbeit mit dem Pflegepersonal ausgedehnt, bis der Patient im Idealfall dekanüliert (Richtlinie: 24 h entblockt) werden kann.
13.5
Bewegungstherapie
Die Bewegungstherapie geht mit der Lagerung Hand in Hand und dient der 4 Prophylaxe von Kontrakturen, 4 Behandlung von Traumen, 4 Vermittlung von sensiblen Reizen, Wahrnehmungsschulung, 4 Anbahnung von Motorik und Wiedererlangung motorischer Fähigkeiten. Hierbei werden nicht alle Gelenke hintereinander in alle Bewegungsrichtungen durchbewegt, sondern man versucht, die Bewegung in sinnvolle Handlungen einzugliedern, die Bewegung dazu zu benutzen, dem Patienten den eigenen Körper und in der Folge seine Umgebung wahrnehmbar zu machen (7 Abschn. 13.7.2). Das bedeutet nicht, auf das Durchbewegen zu verzichten, vielmehr geht es darum, die Bewegung in einen Zusammenhang zu stellen, ihr einen Sinn und ein Ziel zu geben. So kann z. B. der Arm bewegt werden, indem man dem Patienten einen Waschlappen in die Hand gibt und der Therapeut das Waschen des Gesichts führt usw. Bei solchen bekannten und dadurch leichter wieder abrufbaren Handlungen können oft erste motorische Aktivitäten hervorgerufen oder verstärkt werden.
131 13.6 · Stimulationsbehandlung
! Cave Bei Patienten mit muskulärem Hypotonus, d. h. auch bei analgosedierten Patienten, ist bei der Bewegungstherapie besondere Vorsicht geboten, da der Gelenkschutz durch die Muskulatur nicht gewährleistet ist.
Vor allem bei Schultergelenkbewegungen sollte immer die Skapula mitbewegt und der Humeruskopf in der Gelenkpfanne gehalten werden. Zudem sollten keine Extrempositionen eingenommen werden. Häufiges Umlagern und frühestmögliche Mobilisation sind weiter wichtig für die Kontrakturprophylaxe. Bei Patienten mit Hypertonus hat sich gezeigt, dass invasives, auch gegen Widerstand durchgeführtes Bewegen zu Traumatisierungen von Muskeln und Gelenken und in der Folge zu Kontrakturen führen kann. Weiterhin kann es zu schmerzbedingten Abwehrhaltungen und Tonussteigerungen kommen. Auch die Fixierung in starren Schienen und Gipsen in frühen Phasen der Remission führt in diesen Lagerungsmitteln und auch nach deren Abnahme zu verstärktem Tonusanstieg. Günstig ist es, eine für den jeweiligen Patienten tonussenkende Position (d. h. entgegen der vorherrschenden tonischen Muskelaktivierung) zu wählen und dann den Patienten langsam, immer den vorgegebenen Widerstand akzeptierend, zu bewegen. Zu diesen tonussenkenden Positionen gehören v. a.: 4 der Sitz, 4 der Stand, 4 die Seitenlage, 4 die Bauchlage. Je nach Akzeptanz des Patienten wird zuerst an seinem eigenen Körper entlang geführt, mit Gegenständen hantiert, oder es werden sinnvolle Handlungsabläufe wie z. B. Lagewechsel durchgeführt. Um dem Patienten mehr Sicherheit zu geben, ist es günstig, dies in den ersten Phasen zu zweit, manchmal sogar zu dritt zu tun. Im Verlauf der Remission zeigt sich ein spontaner Tonusrückgang, v. a. der rigiden Komponenten. Erst dann kann das Ausmaß der Kontrakturen und auch der Spastizität beurteilt werden. Es hat sich als sinnvoll erwiesen, mit der gezielten Kontrakturbehandlung, wie z. B. der seriellen Gipsredression, zu diesem Zeitpunkt zu beginnen, da auch die aktive Mitarbeit des Patienten in dieser Phase besser möglich ist.
13.6
13.6.1
Vestibuläre Stimulation
Gerade in der Frühphase der Rehabilitation wird die vestibuläre Stimulation häufig verwendet. Durch die Stimulation des aufsteigenden retikulären aktivierenden Systems (ARAS) der Formatio reticularis wird die Vigilanz gesteigert und die Voraussetzung für Aufmerksamkeit und aktive Teilnahme des Patienten an allen rehabilitativen Maßnahmen geschaffen. Vertikalisieren. Durch das Aufsetzen bzw. Aufstellen erhält der Pa-
tient neue sensomotorische Afferenzen zur Förderung der Körperwahrnehmung und der Orientierung des Körpers im Raum. Bessere Augenkoordination sowie Kopf- und Rumpfkontrolle können angebahnt werden als Voraussetzung für weitere motorische Aktivitäten (. Abb. 13.5). Eine weitere Anwendungsmöglichkeit des Vertikalisierens ist die Tonusbeeinflussung. So haben vestibuläre Reize je nach Geschwindigkeit und Bewegungsrichtung tonuserhöhende oder tonussenkende Wirkung. (z. B. Schaukeln nach vorn/hinten, seitlich, rotatorisch, Hängematte usw.). Schnelle und unregelmäßige Bewegungen können den Tonus erhöhen, langsame gleichmäßige dienen hingegen der Tonusreduktion. Auf den Einfluss der Kopfstellung auf die Tonusverteilung im Körper wurde bereits in 7 Abschn. 13.2.5 eingegangen. Auch zur Spitzfußprophylaxe und -behandlung ist das Vertikalisieren bzw. Stehen mit Hilfspersonen unerlässlich. Lange Immobilität birgt Gefahren wie Bed-Rest-Syndrom, Kontrakturen, Dekubitus, Pneumonie, Gelenkverkalkung, Athrophie usw. Durch das Vertikalisieren können viele dieser Symptome gemindert bzw. vermieden werden (7 Abschn. 13.3). Vestibuläre Stimuli haben z. T. starke vegetative Auswirkungen. So können sie beruhigend wirken, den Kreislauf stabilisieren, die
Stimulationsbehandlung
Ein weiterer Schwerpunkt der Frührehabilitation ist die gezielte Stimulation des Patienten. Es gibt zwar auf einer Intensivstation eine Fülle von unspezifischen Stimuli wie Geräusche, Licht, Bewegungen usw. Das Ziel der Stimulation in der Rehabilitation besteht jedoch darin, für den jeweiligen Patienten adäquate, auf ihn abgestimmte Stimuli zu finden, die er verarbeiten und auf die er reagieren kann. Die Erfahrung zeigt, dass je nach der Phase der Remission verschiedene Stimuli unterschiedlich wirksam sein können. Auch die jeweilige therapeutische Zielsetzung bestimmt die Art und den Einsatz der Stimuli, wie z. B. Förderung der Vigilanz, Beeinflussung des Muskeltonus, Schulung der Wahrnehmung, Anbahnung von Bewegungen usw. Es ist natürlich niemals möglich und auch nicht erwünscht, wirklich nur unimodal zu stimulieren, da immer mehrere Sinnesqualitäten angesprochen werden. Stattdessen gilt es, Schwerpunkte zu setzen, um die angebotenen Reize verarbeitbar zu machen. . Abb. 13.5 ADL-Training
13
132
13 13 13 13 13 13 13 13 13 13 13 13 13
Kapitel 13 · Akut- und Frührehabilitation
13.6.4
! Cave Deshalb sollten die ersten Vertikalisierungen immer mit Monitoring erfolgen, um die Vitalparameter zu kontrollieren.
Bei der visuellen Stimulation ist die Lichtquelle sehr wichtig. Es empfiehlt sich, Tageslicht oder Tageslichtlampen zu verwenden. Die Farben der Inneneinrichtung, der Wände und der Decken sollten, wenn möglich, für liegende Patienten konzipiert sein. Unterschiedliche, in verschiedenen Farben gestaltete Dienstkleidung ist gegenüber weißer Dienstkleidung zu bevorzugen. Bunte Bettwäsche ist vorteilhaft, farbige Muster sind jedoch zu vermeiden, da diese zu Zählphänomenen führen können. Dem Patienten werden zur visuellen Stimulation Bilder mit Hell-dunkelKontrasten und farbigen Objekten gezeigt, wobei auf seine persönlichen Interessen Rücksicht zu nehmen ist.
13.6.2
Taktile Stimulation
Der taktil-kinästhetische Sinneskanal, über den die direkte Beziehung zur Umwelt aufgenommen wird, ermöglicht oft den ersten Zugang zum Patienten. Man tritt mit dem Patienten über eine Initialberührung in Kontakt (»Begrüßung«). Auch die Verabschiedung vom Patienten sollte taktil unterstützt werden. Berührungsreize, die großflächig und mit gleichmäßigem Druck erfolgen, sind deutliche, klare Informationen an den Patienten und wirken beruhigend, wohingegen schnelle Berührungen aktivierend, aber auch angsteinflößend wirken können. Hilfsmittel und Vorgehen. Zur taktilen Stimulation eignen sich die Hände des Therapeuten (z. B. durch Drücken, Streicheln, Reiben, Pumpen der Muskulatur), die geführten Hände des Patienten und verschiedenartige Materialien (Tücher, Bürsten, Schwämme, Cremes usw.). Schmerzreize sind nicht Teil eines therapeutischen Konzepts. Sie führen nur zur Abwehr und Angst gegenüber dem Therapeuten und sollten nur zur Überprüfung des Verlaufs außerhalb der Therapiesituation zur Anwendung kommen. Taktile Reize werden am ganzen Körper des Patienten gesetzt, wobei bei neurologischen Patienten im Gesichtsbereich Vorsicht geboten ist, da es leicht zu oralen Automatismen kommen kann.
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Visuelle Stimulation
Atmung regulieren, jedoch auch Schwindel, Schweißausbrüche und Übelkeit auslösen.
13.6.5
Diese Stimulationsformen stehen in engem Zusammenhang mit der Schluck- und Esstherapie. Bei der gustatorischen Stimulation werden kleine Nahrungsmengen auf der Zunge des Patienten platziert. Die Auswahl der Geschmacksrichtung wird dabei von den Vorlieben des Patienten bestimmt. Über den Geschmack werden Erinnerungsspuren für das Schlucken geweckt und der Schluckakt stimuliert. Gleichzeitig wird eine Grundlage für die höheren Niveaustufen von Artikulation und Lautbildung geschaffen. Durch das Riechen an der angebotenen Nahrung wird auch das olfaktorische System angeregt. Noch gezielter kann der Geruchsinn durch den Einsatz von starken Gerüchen stimuliert werden. Der Geruchsinn intubierter oder tracheotomierter Patienten ist erheblich schwieriger zu stimulieren, da kein Luftfluss durch die Nase stattfindet.
13.7 13.6.3
Gustatorische und olfaktorische Stimulation
Symptomorientierte Therapie
Akustische Stimulation
Dem Gehör als dem Organ, das Sprache wahrnimmt, kommt in der Therapie große Bedeutung zu. Es versucht, aktiv aus der Klangwelt der Umgebung relevante Reize herauszufiltern. Schon in sehr frühen Remissionsphasen lassen sich bei Patienten Reaktionen auf akustische Reize beobachten. Jeder Sinnesreiz kann grundsätzlich erregend oder beruhigend sein, hochfrequente und laute akustische Reize wirken beispielsweise erregend. Einfache, sich langsam wiederholende Klangbilder werden zur Beruhigung eingesetzt. Es ist wichtig, vor dem Patienten, auch wenn er komatös ist, keine negativen Bemerkungen über ihn zu machen oder wenn möglich, in seiner Anwesenheit gar nicht über ihn zu sprechen. Der Therapeut versucht, durch wiederholtes ruhiges Ansprechen und den Einsatz von Gesang oder das Erzeugen von Geräuschen mit dem Patienten in Kontakt zu treten. Da oft noch Unklarheit über das Sprachverständnis herrscht, wird in einfachen und kurzen, aber altersentsprechenden Sätzen gesprochen. Gestik und Mimik oder Bildmaterial werden unterstützend eingesetzt. Einen sehr positiven Effekt kann auch das Vorspielen der Lieblingsmusik oder etwa der Stimmen der Angehörigen des Patienten haben. Durch Führen kann der Patient auch selbst Geräusche an Klanginstrumenten erzeugen.
In den frühen Phasen der Rehabilitation sind die Ziele und Maßnahmen der einzelnen Berufgruppen wie der Ärzte, Pflegepersonen, Physio- und Ergotherapeuten sowie der Logopäden oftmals identisch oder überschneiden sich, wie z. B. Stabilisierung des Herz-Kreislauf-Systems und der Atmung, Förderung der Vigilanz, prophylaktische Maßnahmen, Stimulation verschiedener Sinneswahrnehmungen, Wahrnehmungsschulung usw. Deshalb sollte in diesen Phasen der Patient gemeinsam und interdisziplinär behandelt werden. Sind nun Vigilanz, Aufmerksamkeit, Orientierung und z. T. Problembewusstsein zunehmend vorhanden und können motorische sowie neuropsychologische Probleme genauer definiert werden, beginnt die symptomorientierte Therapie, in der berufsspezifisch auf einzelne Störungen eingegangen wird.
13.7.1
Physiotherapie
Schädigungen des oberen Motoneurons Die häufigsten physiotherapeutisch zu behandelnden Störungen beruhen auf Schäden des oberen Motoneurons. Sie sind in der 7 Übersicht aufgeführt.
133 13.7 · Symptomorientierte Therapie
Häufigste Symptome bei Schädigung des oberen Motoneurons 4 4 4 4 4 4
Paresen bzw. Plegien Tonuserhöhungen (spastisch, rigidospastisch) Tendenz zu primitiven Bewegungsmustern Verlust der selektiven Muskelaktivität Pathologische Reflexaktivitäten (tonische Reflexe) Immobilitätsbedingte adaptive Veränderungen an Gelenken und umgebenden Weichteilen
Je nachdem, welche Art der Störung im Vordergrund steht, werden vom Physiotherapeuten verschiedene Behandlungskonzepte eingesetzt. Wichtigstes Symptom für die motorische Behinderung/Bewegungseinschränkung des Patienten ist v. a. eine Parese/Lähmung der betroffenen Körperabschnitte. Diese bedingt eine verminderte Rekrutierung motorischer Einheiten, wodurch es zu einem Kraftverlust, zur verlangsamten Kraftgenerierung und vermehrten Bewegungsanstrengung kommt. Bei der Behandlung der paretischen Körperabschnitte kommen zunehmend aufgabenorientierte repetitive Behandlungskonzepte zum Einsatz, da man weiß, dass durch das Lösen von konkreten Aufgaben motorisches Lernen angebahnt wird und eine ausreichende Wiederholungsanzahl der Übungen notwendig ist, um Fertigkeiten zu erlernen.
techniken zum Einsatz, die Physiotherapeuten zur Verfügung stehen.
Symptome bei Schädigungen des unteren Motoneurons 4 4 4 4 4
Verminderung des Muskeltonus Paresen bzw. Plegien Areflexie Sensibilitätsstörungen Atrophie
Therapeutisch wird mit Sensibilitätsschulung und Kräftigungstechniken vorgegangen, der Einsatz eines EMG-Biofeedbackgeräts kann in diesem Fall unterstützend wirken.
Ossifikationen Ein zu invasives Bewegen in frühen Phasen der Remission kann eine Ossifikation begünstigen. In der aktiven Phase der Ossifikation wird im betroffenen Gelenk nur minimal bewegt, der Patient jedoch häufig umgelagert. Die benachbarten Gelenke können jedoch in vollem Umfang bewegt werden. Nach Abschluss des entzündlichen Prozesses bzw. nach operativer Entfernung der Ossifikation wird mit manualtherapeutischen und anderen Mobilisationstechniken wieder im vollen Bewegungsumfang gearbeitet.
13.7.2
Ergotherapie
Wirksame Methoden der Behandlung der Spastizität 4 4 4 4 4 4 4
Langsame Muskeldehnungen Dehnungen unter Gewichtsbelastung (Stützen, Stehen) Lagerung in Schienen Zirkuläre Gipse Reziprokes Bewegen Thermische Reize (Eistauchbad/Wärmeapplikation) Elektrostimulation
! Cave Bei einem rigiden Anteil der Tonuserhöhung ist von Schienen- oder Gipsbehandlungen abzuraten, da diese den Tonus zusätzlich erhöhen können..
Adaptive Veränderungen Infolge der Immobilität kommt es zu sekundären Anpassungen des skelettomuskulären Systems: Dies führt relativ rasch (z. T. innerhalb von wenigen Tagen) zu Atrophien und Bewegungseinschränkungen.
Adaptive Veränderungen durch Immobilisation 4 4 4 4 4 4 4
Gesteigerte Muskelsteifheit Struktureller Umbau in Muskel- und Bindegewebszellen Veränderungen motorischer Muster Erlernter Nichtgebrauch Abbau der Muskelausdauer Beeinträchtigung des kardiovaskulären Systems Beeinträchtigung der körperlichen Leistungsfähigkeit
Behandlung von Wahrnehmungsstörungen Neben den läsionsbedingten Wahrnehmungsdefiziten haben Patienten auf der Intensivstation meist wenig bis keine Möglichkeit, sich selbst zu bewegen, wodurch sich der adäquate sensorische Input drastisch reduziert. Folgende Wahrnehmungsstörungen können auftreten: reduzierte Körperwahrnehmung, nesteln, motorische Unruhe, in die Luft greifen, Desorientiertheit, Vernachlässigung einer Körper- und Raumhälfte, Schwierigkeiten bei Bewegungs- und Handlungsabläufen usw. Mit dem Patienten wird an folgenden Wahrnehmungsbereichen gearbeitet: 4 somatische Wahrnehmung, 4 vestibuläre Wahrnehmung, 4 vibratorische Wahrnehmung, 4 taktil-haptische Wahrnehmung, 4 visuelle, auditive, orale, olfaktorische Wahrnehmung – spielen für die Bildung/Erhaltung des Körperschemas eine geringere Rolle, sind aber trotzdem zu berücksichtigen. Durch Therapieangebote wie z. B. basale Stimulation, Affolter, sensorische Integration usw. wird es dem Patienten in dieser frühen Rehabilitationsphase ermöglicht, mit der Umwelt in Kontakt zu treten, um Körper- und Raumwahrnehmung wiederzuerlangen. Bereits in dieser Phase wird beginnend an der persönlichen Selbstständigkeit gearbeitet, indem der Patient bei einfachen Alltagsaktivitäten geführt wird (z. B. Gesicht waschen, Zähneputzen, Körper eincremen; . Abb. 13.5).
Förderung der persönlichen Selbstständigkeit Zur Behandlung adaptiver Veränderungen am Bewegungsapparat kommen alle manualtherapeutischen sowie Weichteilbehandlungs-
Therapeutische Hilfen werden an die Fähigkeiten des Patienten angepasst und schrittweise reduziert, um eine persönliche Selbstständigkeit (Waschen, Anziehen, Essen usw.) zu erreichen. Fallweise ist der Einsatz von Hilfsmitteln (z. B. Griffverdickung, Non-slip-Unter-
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Kapitel 13 · Akut- und Frührehabilitation
lagen usw.) notwendig. Schon kleinste Teilerfolge in der persönlichen Selbstständigkeit wirken sich meist positiv und motivierend auf den Patienten aus.
13 13 13 13
1
Funktionelle Behandlung von Rumpf und oberer Extremität
2
Mit sinnvollen Handlungen und Bewegungszielen wird an Bewegungsanbahnung, Schulung von Oberflächen- und Tiefensensibilität und selektiver Bewegungen gearbeitet, um die Funktion im Alltag zu erhalten bzw. wiederzuerlangen. Die verwendeten Methoden sind Bobath, Affolter, Perfetti, PNF mit dem Ziel des motorischen Lernens.
3
4
Kontrakturprophylaxe und -behandlung In enger Zusammenarbeit mit Ärzten und Physiotherapeuten werden auch Schienen- und redressierende Gipsbehandlungen, evtl. in Kombination mit einer Botulinumtoxininjektion, durchgeführt.
5 6
Therapie neuropsychologischer Defizite Die Therapie neuropsychologischer Defizite in der Intensivstation ist sehr alltagsorientiert. Mit praktischen Aufgaben des täglichen Lebens wird an Aufmerksamkeit, Konzentration, räumlich-konstruktiver Wahrnehmung, Handlungsplanung, Handlungsflüssigkeit und in weiterer Folge an komplexeren kognitiven Fähigkeiten gearbeitet. Ergänzende Übungsprogramme (nach Schweizer, Caprez, Kerkhoff) und spezielle Computerprogramme können im Laufe der Rehabilitation zum Einsatz kommen.
7 8
9 10 11
13.7.3
Logopädie
In der frühen Phase der neurologischen Rehabilition beschäftigt sich die Logopädie schwerpunktmäßig mit Dysphagien und Kanülenmanagement 7 Abschn. 13.4 ff.). Weitere Inhalte der Logopädie sind die Therapien vonAphasien (rezeptive und produktive Störungen der Sprache), Dysarthrophonien (Störungen des Sprechens, der Artikulation, Sprechatmung, Stimme und Prosodie) sowie die Therapien von Störungen des orofazialen Bereichs (Fazialisparese).
Akutphase Die gestörten Sprachfunktionen bilden sich in den ersten 4 Wochen zu einem gewissen Teil, bei etwa 1/3 der Patienten vollständig zurück. Auf der Intensivstation wird der Logopäde meist mit Patienten in dieser Phase konfrontiert. Die erste Aufgabe besteht nun darin, die Sprachstörung des Patienten genau kennen zu lernen, ihn in dieser schwierigen Phase zu begleiten, die Veränderungen zu verfolgen und eine beobachtende Diagnose zu erstellen. In der Therapie gilt es, mögliche Aus- und Umwege zu suchen. Vor allem Verständigungstraining ist in der Akutphase sehr wichtig.
Übungsphase
13
Literatur
Verbessert sich der Allgemeinzustand des Patienten, kann eine umfangreichere Aphasiediagnostik erfolgen, um ein symptomspezifisches Üben zu ermöglichen. Die Aphasietherapie hat sich in den letzten Jahrzehnten rapide entwickelt, was dazu führte, dass heute unzählige Theorien und Methoden bestehen. Wichtige Therapieansätze sind 4 der Kommunikationsansatz, 4 der sprachstrukturelle Ansatz, 4 der Modellansatz, 4 der Modalitätenansatz und 4 der Strategieansatz.
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135
Palliativmedizin in der Intensivmedizin F. Nauck
14.1
Entwicklung der Intensiv- und Palliativmedizin – 136
14.2
Gemeinsamkeiten und Gegensätze von Intensivmedizin und Palliativmedizin – 136
14.3
Therapie- und Behandlungsangebote in der Palliativmedizin – 137
14.4
Symptomkontrolle – 137
14.4.1 14.4.2 14.4.3 14.4.4 14.4.5 14.4.5 14.4.7 14.4.8
Dyspnoe – 138 Schmerzen – 138 Rasseln in der Terminalphase (»Death Rattle”) – 139 Übelkeit und Erbrechen – 139 Opioidbedingte Übelkeit und Erbrechen – 139 Obstipation – 139 Juckreiz bzw. Pruritus – 140 Pflegerische und komplementäre Maßnahmen – 140
14.5
Ethische Entscheidungen in der Intensivmedizin – 140
14.5.1
Wege der Entscheidungsfindung in der Intensivmedizin – 141
Literatur – 142
H. Burchardi et al. (Hrsg.), Die Intensivmedizin, DOI 10.1007/978-3-642-16929-8_14, © Springer Medizin Verlag Berlin Heidelberg 2011,
14
136
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Kapitel 14 · Palliativmedizin in der Intensivmedizin
In der Intensivmedizin werden kritisch kranke Patienten aus sehr unterschiedlichen Fachbereichen und mit unterschiedlichen Grunderkrankungen behandelt. Mit dem Begriff Intensivmedizin assoziiert man eher Maximaltherapie, Lebensrettung oder Reanimation als eine Therapiezieländerung, Therapieabbruch oder Palliativmedizin. Traditionell besteht das Ziel darin, mit Mitteln der Intensivmedizin eine kritische Krankheitsphase zu überbrücken in der Hoffnung, dass der Patient überlebt und die Behandlung zu einer Restitutio ad integrum führt. Jedoch ist Heilung nicht immer erreichbar. Wird erkannt, dass ein kurativer Ansatz nicht mehr möglich ist, muss der Einsatz intensivmedizinischer Maßnahmen besonders kritisch hinterfragt werden, um Patienten nicht der Gefahr einer » Übertherapie am Lebensende« auszusetzen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt sind Aspekte der Palliativmedizin in die Intensivmedizin zu integrieren [8–10, 19]. Untersuchungen konnten nachweisen, dass palliativmedizinische Methoden und Vorgehensweisen auf einer Intensivstation zu einer verbesserten Betreuung am Lebensende für Patienten, ihre Angehörigen und Freunde führen können bzw. mit guter Versorgung am Lebensende assoziiert werden [6, 11, 15]. Hierbei sollte die Palliativmedizin als ergänzende, besondere Expertise in Schmerztherapie und Symptomkontrolle sowie einer respektvollen, fürsorglichen Begleitung des Patienten und seiner Familie in dessen letzter Lebensphase und während des Sterbeprozesses gesehen werden. Um dies in die Praxis umzusetzen, sollten die unterschiedlichen involvierten Berufsgruppen das gleiche Ziel in der Behandlung verfolgen und ihre Kompetenzen in der Lösung schwieriger Probleme bündeln.
14 14.1
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Entwicklung der Intensivund Palliativmedizin
Aufgrund neuer intensivmedizinischer Therapiemöglichkeiten überleben Patienten immer häufiger eine vorübergehende lebensbedrohliche Erkrankung oder einen erforderlichen operativen Eingriff. Gleichzeitig sterben zahlreiche Patienten auf Intensivstationen. Hier besteht die Gefahr, dass Ärzte ethisch gebotene Grenzen der Intensivmedizin nicht erkennen bzw. nicht in ihre therapeutischen Überlegungen mit einbeziehen. Die Entwicklung der modernen Medizin macht in der Intensivmedizin besonders deutlich, dass sich nicht nur die Arzt-Patienten-Beziehung verändert, sondern auch das Verständnis von Krankheit. Intensivmediziner müssen nicht ausschließlich Kompetenzen zur Anwendung der neuen Techniken erwerben, sondern zunehmend über Fähigkeiten verfügen, mit denen sie den Herausforderungen am Lebensende, der Auseinandersetzung mit ethischen Problemen in Grenzsituationen sowie den Themen Therapieabbruch, Therapieverzicht oder aktive Sterbehilfe begegnen. Hier können und müssen sich – auch wenn die Behandlungsprioritäten und therapeutischen Konzepte in Intensiv- und Palliativmedizin unterschiedlich sind – beide Bereiche ergänzen. Die Palliativmedizin hat sich aufgrund von Defiziten in unserem modernen Gesundheitssystem entwickelt. Diese lagen nicht nur in der Behandlung von Schmerzen oder anderen belastenden körperlichen Symptomen bei Patienten mit weit fortgeschrittenen inkurablen Erkrankungen am Lebensende, sondern auch in unzureichender psychosozialer und spiritueller Begleitung der Patienten und ihrer Angehörigen.
> Optimale Symptomkontrolle physischer Beschwerden und Unterstützung bei psychosozialen Problemen, Kommunikation, Auseinandersetzung mit der Erkrankung und Begleitung des Sterbenden und seiner Angehörigen sind wesentliche Merkmale der Palliativversorgung [13].
Palliativmedizin in der Intensivmedizin bedeutet somit eine Medizin, die sich dem ganzen Menschen und seiner komplexen psychosozialen Verfasstheit widmet und die von einer gesprächs- und behandlungsorientierten Medizin sinnvoll ergänzt wird. Palliativmedizinische und palliativpflegerische Inhalte werden zunehmend verpflichtend in die Aus-, Fort- und Weiterbildungskataloge aller Berufsgruppen im Gesundheitswesen, die in die Versorgung schwerkranker und sterbender Menschen eingebunden sind, aufgenommen. Hier gilt es gerade in der intensivmedizinischen Weiterbildung, sinnvolle zukunftsweisende Konzepte zu entwickeln, um palliativmedizinische Inhalte noch nachhaltiger fächerübergreifend zu integrieren.
14.2
Gemeinsamkeiten und Gegensätze von Intensivmedizin und Palliativmedizin
Trotz unterschiedlicher Ansatzpunkte zeigt sich, dass Intensivmedizin und Palliativmedizin nicht einander ausschließende Gegensätze sind, sondern zahlreiche Gemeinsamkeiten aufweisen. Es geht somit nicht um den Widerspruch »Apparate-Medizin« vs. » sprechende, begleitende Medizin«. In beiden Bereichen werden Patienten in extremen Lebensphasen und problematischen Therapiesituationen behandelt, die oftmals von einer enormen Dynamik geprägt sind. Hohe Fachkompetenz, Arbeit im inter- und multidisziplinären Team, mit einem der Intensität der Betreuung angepassten Stellenplan sind Voraussetzungen für eine erfolgreiche Arbeit sowohl auf der Palliativstation als auch in der Intensivmedizin. Offene Kommunikation im Team, mit Patienten und Angehörigen, Aufklärung und Übermittlung schlechter Nachrichten sowie Entscheidungsfindung in schwierigen ethischen Fragestellungen gehören ebenso wie die Begleitung in der letzten Lebensphase zu weiteren wesentlichen Gemeinsamkeiten. Durch die modernen Möglichkeiten der Intensivmedizin und die damit verbundenen Grenzverschiebungen wurden Sterben und Tod zunehmend verdrängt, mit der Folge, sich vornehmlich auf das medizinisch-technisch Machbare zu konzentrieren und nicht genügend auf das medizinisch-ethisch Vertretbare zu achten. Angst vor einer inhumanen Apparatemedizin – aufgrund der zunehmenden diagnostischen Möglichkeiten wie Sonographie, Computertomographie, Kernspintomographie, aber auch die technischen Voraussetzungen für eine immer differenziertere Narkoseführung und Beatmung sowie die Möglichkeiten der Ersatzverfahren für Niere, Herz und Leber leiteten einen schleichenden Paradigmenwechsel ein. Furcht vor unnötiger Leidensverlängerung und unwürdigem Sterben war ein Motor für die Stärkung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten bei gleichzeitiger Absage an das bis dato eher paternalistische Fürsorgeprinzip des Arztes. Hier bieten die Erfahrungen aus der Palliativmedizin gerade in der Intensivmedizin gute Voraussetzungen, den Herausforderungen der Zukunft kompetent begegnen zu können. Jedoch bestehen auch Gegensätze, die die Integration der Palliativmedizin in die Intensivmedizin nicht immer leicht machen. Das Behandlungsziel in der Intensivmedizin ist in erster Linie die Lebensverlängerung und, wenn möglich, die Wiederherstellung der Gesundheit. In der Intensivmedizin müssen Entscheidungen schnell, manchmal reflektorisch bei nicht entscheidungsfähigen Patienten ge-
137 14.4 · Symptomkontrolle
fällt werden. Der Ausgang einer Intensivbehandlung ist häufig nicht vorhersehbar. Die Lebens- und Funktionserhaltung in der Intensivmedizin durch hohen technischen Aufwand leitet ihre Berechtigung aus der Überzeugung ab, dem Patienten durch Überwinden einer lebensbedrohlichen Situation eine neue Lebensperspektive zu geben. Ist dies nicht möglich, müssen Entscheidungen getroffen werden, die zum einen den Willen des Patienten, zum anderen das ethisch gebotene medizinische Handeln berücksichtigen [13]. Unterschiede werden somit deutlich in der Zielsetzung, die primär nahezu konträr verläuft. Palliativmedizin hat das Ziel bei nicht heilbar kranken Patienten, deren Erkrankung fortgeschritten und lebensbegrenzend ist, durch adäquate Symptomkontrolle und Linderung von Leiden eine bestmögliche Lebensqualität zu erreichen, wobei die Lebensverlängerung zunächst nicht im Vordergrund steht. > Palliativmedizin sieht das Sterben als einen natürlichen Prozess, ohne dabei Leben zu verkürzen oder Sterben zu verlängern.
In den palliativmedizinischen Versorgungsstrukturen Deutschlands werden weit überwiegend Patienten mit fortgeschrittenen, inkurablen Tumorerkrankungen (89,7 % in der Hospiz- und Palliativerhebung HOPE 2007) behandelt. Bisher noch relativ wenigen Patienten mit nicht malignen Grunderkrankungen und belastenden Symptomen wird ebenfalls eine palliativmedizinische Versorgung zuteil, wie z. B. Patienten mit neurologischen, kardialen, respiratorischen oder renalen Erkrankungen im Terminalstadium. Die Entwicklung der Palliativmedizin zeigt, dass die palliativmedizinische Behandlung und Begleitung zunehmend bereits in früheren Krankheitsstadien und nicht nur von Tumorpatienten nachgefragt wird, über einen deutlich längeren Zeitraum erfolgt und auch für nicht onkologisch erkrankte Patienten sinnvoll ist [11]. Dies entspricht auch ihrem Selbstverständnis, wie es sich z. B. in der Definition der Weltgesundheitsorganisation aus dem Jahr 2002 ausdrückt [18]: Definition der WHO Palliativmedizin bzw. Palliative Care ist ein Ansatz zur Verbesserung der Lebensqualität von Patienten und ihren Familien, die mit Problemen konfrontiert sind, welche mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung einhergehen. Dies geschieht durch Vorbeugen und Lindern von Leiden durch frühzeitige Erkennung, sorgfältige Einschätzung und Behandlung von Schmerzen sowie anderen Problemen körperlicher, psychosozialer und spiritueller Art.
Ein weiterer Unterschied zur Intensivmedizin besteht darin, dass es in der Palliativmedizin in der Regel keinen Zeitdruck gibt, Entscheidungen zu treffen. Anders als in der Intensivmedizin sind die meisten Patienten bewusstseinsklar und entscheidungsfähig. In Gesprächen zwischen Patient, Angehörigen und dem therapeutischen Team kann das Ziel des »informed consent«, d. h. Entscheidung des Patienten nach ausführlicher Aufklärung, häufig erreicht werden.
14.3
Therapie- und Behandlungsangebote in der Palliativmedizin
> Die Kardinalsymptome menschlichen Leidens wie Schmerz, Angst, Atemnot, Unruhe und Durst prompt und dauerhaft zu lindern, wie es bereits Hufeland (1763–1836) formulierte, ist integraler Bestandteil ärztlichen Handelns
und Teil des Aufgabenspektrums jeder medizinischen Fachdisziplin.
Ein mitmenschlicher Umgang mit Leben, Sterben und Tod sowie der Erhalt von Autonomie und Respekt vor der Würde Schwerstkranker und Sterbender waren und sind zentrale Themen der modernen Hospizbewegung und Palliativmedizin. Die palliativmedizinische Versorgung basiert dabei auf der hohen Fachkompetenz sowie auf inter- und multidisziplinärer Zusammenarbeit unterschiedlicher Berufsgruppen, ergänzt durch ehrenamtliche Mitarbeiter. Palliativmedizin versteht sich in diesem Zusammenhang als Ergänzung und Erweiterung dieser grundlegenden Leistungen auch in oder für die Intensivmedizin durch: 4 spezielle Kompetenzen in der Schmerztherapie und Symptomkontrolle, 4 Sensibilisierung für die Bedürfnisse Sterbender, ihrer Angehörigen und Freunde, 4 psychosoziale Unterstützung und Begleitung des Patienten und seiner Angehörigen, 4 kommunikative Kompetenzen auch bei ethischen Fragestellungen (Therapiezieländerung, palliative Sedierung, Flüssigkeitsgabe und Ernährung am Lebensende etc.), 4 Kompetenzen in der palliativen Pflege und Wundmanagement, 4 seelsorgerische Begleitung in Aspekten der Spiritualität und Religiosität, 4 rehabilitative/versorgungsdienstliche Maßnahmen, 4 Ehrenamtlichenarbeit, 4 Trauerarbeit. Palliativmedizinische Angebote kommen in der Intensivmedizin besonderes dann zum Tragen, wenn akute, physische und/oder psychosoziale Krisensituationen bzw. ethische Fragestellungen bei Patienten mit fortgeschrittener, inkurabler Erkrankung auftreten, seltener bei Fragen der Schmerztherapie, Symptomkontrolle oder palliativpflegerischen Maßnahmen. Für die palliativmedizinische Krisenintervention stehen Organisationsformen wie Palliativstation, palliativmedizinischer Konsiliardienst und ambulanter Palliativdienst zur Verfügung. Zudem bieten stationäre Hospize und ambulante Hospizdienste, teils mit Unterstützung ehrenamtlicher Helfer, in enger Zusammenarbeit mit den palliativmedizinischen und -pflegerischen Diensten ihre Kompetenzen bei der Begleitung schwer- und sterbenskranker Menschen an. Auf Intensivstationen bietet sich die Unterstützung durch einen palliativmedizinischen Konsiliardienst an. Gemeinsam können dann weitere Therapiemaßnahmen, eine Verlegung auf eine Palliativstation, in ein Hospiz oder gar in die häusliche Umgebung geplant werden.
14.4
Symptomkontrolle
Die Linderung von Leiden gehört seit jeher zu den zentralen ärztlichen und pflegerischen Aufgaben, somit ist die Palliativmedizin keine neue medizinische Disziplin. Neu belebt wurden jedoch Aspekte wie Kommunikation, Mitmenschlichkeit, Teamarbeit, Integration der Angehörigen in das Behandlungs- und Versorgungskonzept sowie die Berücksichtigung des Menschen in seiner ganzheitlichen Dimension durch ihren interdisziplinären und multiprofessionellen Ansatz. Neu ist auch die Integration evidenzbasierter Erkenntnisse in der Symptomkontrolle, insbesondere der Schmerztherapie und im Rahmen der Behandlung von Intensivpatienten die Dyspnoe und Obstipation, die als belastende und die subjektive Lebensqualität einschränkende Symptome häufig vorhanden sind.
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Für die palliativmedizinische Behandlung, Pflege und Begleitung sind die individuellen Bedürfnisse der Schwerstkranken und Sterbenden das wesentliche Kriterium. Voraussetzung für eine suffiziente Behandlung aller Symptome ist die Kenntnis der Pathophysiologie sowie eine sorgfältige Anamnese, in der neben den möglichen physischen auch die psychischen, sozialen und ggf. spirituellen Ursachen ermittelt werden. Die Erstellung eines individuellen an Vorerkrankungen adaptierten Therapieplans, die regelmäßige klinische Untersuchung vor und während der Behandlung sowie die offene und ehrliche Kommunikation mit dem Patienten und seinen Angehörigen sind weitere wichtige Grundvoraussetzungen. Durch ein differenziertes Therapieregime lässt sich bei den meisten Patienten eine zufriedenstellende Symptomkontrolle erzielen. Im Folgenden wird die Behandlung und Symptomkontrolle in der letzten Lebensphase anhand von Dyspnoe, Schmerzbehandlung, Behandlung des terminalen Rasselns sowie die Behandlung von Übelkeit/Erbrechen und Obstipation kurz dargestellt, um aufzeigen, welche Möglichkeiten bei Intensivpatienten hilfreich sein können, wobei sich auch hier intensivmedizinische und palliativmedizinische Behandlungsstrategien sinnvoll ergänzen.
14 14.4.1
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Kapitel 14 · Palliativmedizin in der Intensivmedizin
Dyspnoe
Dyspnoe, ein häufiges Symptom bei Patienten auf einer Intensivstation, ist das unangenehme subjektive Symptom der Atemnot, dessen Ausmaß nur der Patient selbst bestimmen kann. Dyspnoe ist oftmals von Tachypnoe, Angst, Unruhe und Panik begleitet. Intensivmedizinische Therapiestrategien beinhalten neben der invasiven bzw. nichtinvasiven Beatmung die medikamentöse Therapie der zugrundeliegenden Ursache sowie eine Behandlung mit Opioiden. Dyspnoe bei Intensivpatienten kann durch Pleuraergüsse, Lungenödem, chronische oder akute Atemwegsobstruktionen, Infektionen, kardiale Ursachen, aber auch durch primäre oder sekundäre Lungentumoren, Aszites, Anämie, oder postoperativ nach thorakalen oder abdominellen Eingriffen bedingt sein.
Opioiden erhält und in der Lage ist, Medikamente oral zu sich zu nehmen, ist die Anfangsdosierung 5–10 mg Morphin oral alle 4 h, bei regelmäßiger Opioidvormedikation zusätzlich 1/6–1/3 der bisherigen Tagesdosis. Bei der parenteralen intravenösen Applikation können Opioide sehr gut in niedrigen Dosierungen titriert werden, bis eine deutliche Symptomlinderung erfolgt oder Nebenwirkungen wie Sedierung eine Dosisreduktion erforderlich machen, wenn diese Nebenwirkung – anders als etwa in der Finalphase – nicht gewünscht ist. Bei Panikattacken ist die Kombination mit Anxiolytika wie Diazepam oder Lorazepam indiziert. Hier ist das rasch und stark anxiolytisch wirkende Lorazepam bei Bedarf oder regelmäßig alle 8 h 1–2,5 mg sublingual indiziert. Nichtmedikamentöse Strategien wie Entspannungsverfahren, Physiotherapie, ein offenes Fenster, eine ruhige Umgebung, Oberkörperhochlagerung, nicht beengende Kleidung und der Einsatz eines Ventilators können zusätzlich Erleichterung verschaffen. Die nasale Gabe von Sauerstoff ist selten, d. h. nur bei ausgeprägter Hypoxämie und Zyanose, sinnvoll. Bei Palliativpatienten führt meistens das Versagen der Atemmechanik und nicht der Sauerstoffmangel zur Dyspnoe.
14.4.2
Schmerzen
Schmerz ist auch bei Patienten in der letzten Lebensphase auf der Intensivstation ein häufiges Problem. Ähnlich wie in der Behandlung von Schmerzen bei Tumorerkrankungen gilt, dass neben einer möglichst kausalen Therapie der Schmerzen eine Schmerztherapie nach den Richtlinien des seit Jahren anerkannten Stufenschemas der Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine Schmerzlinderung erreicht werden kann, wobei der Einsatz starker Opioide eine herausragende Rolle spielt. Die Behandlung verliert auch in der letzten Lebensphase der Erkrankung nicht ihre Wirksamkeit. Die Auswahl der Analgetika erfolgt nach der Schmerzursache und der Stärke des Schmerzes. Analgetika werden schrittweise gegen den Schmerz titriert, wobei die Dosis so weit gesteigert wird, bis der Patient ausreichend schmerzreduziert ist.
Therapie Palliativmedizinische Behandlungsstrategien können in der Weaningphase indiziert sein, um zu einer Linderung der Dyspnoe und zur Symptomkontrolle beizutragen, wenn eine Entscheidung zum Therapieverzicht (Beatmung) gefallen ist. Ist eine Behandlung der Dyspnoe mit Opioiden indiziert, so zielt diese auf eine Reduktion der Atemfrequenz bei Tachypnoe und die Ökonomisierung der Atemarbeit ab, darüber hinaus auf die Beeinflussung der Reaktion des Patienten auf die Atemnot. > Die wichtigsten Substanzen zur Symptomkontrolle von Dyspnoe sind starke Opioide. Opioide bewirken eine größere Toleranz des Atemzentrums ge-
genüber erhöhten CO2-Werten und führen durch Senkung der Atemfrequenz zur Abnahme der Atemarbeit. Bei gleichem Atemminutenvolumen und gleichzeitig geringerer Atemfrequenz steigt das Atemzugvolumen und damit die alveoläre Ventilation. Zudem dämpfen Opioide über ihre Wirkung am limbischen System die emotionale Reaktion des Patienten auf die Atemnot. Die medikamentöse Behandlung besteht in der regelmäßigen Gabe von Morphin oder einem anderen starken Opioid wie z. B. Hydromorphon, das bei älteren Menschen aufgrund der niedrigeren Plasmaeiweißbindung sowie der geringeren Kumulation aktiver Metabolite bei Patienten mit Niereninsuffizienz Vorteile in Bezug auf das Nebenwirkungsspektrum bietet. Wenn der Patient opioidnaiv ist oder keine regelmäßige Schmerztherapie mit starken
Therapie nach dem WHO-Stufenschema 4 In der WHO-Stufe 1 werden Nichtopioide wie Novaminsulfon oder Antiphlogistika wie Ibuprofen verabreicht. Hier müssen bei Intensivpatienten die möglichen Kontraindikationen (z. B. Niereninsuffizienz und Nebenwirkungen, z. B. gastrointestinale Blutungen) beachtet werden. 4 In der 2. Stufe wird die Therapie durch ein mittelstarkes Opioid wie z. B. Tramadol oder Tilidin ergänzt. 4 Bei unzureichender Analgesie – bzw. bei starken Schmerzen bereits initial – werden starke Opioide verabreicht.
Opioide können auf vielfältige Weise invasiv und nichtinvasiv appliziert werden. Ist in der Tumorschmerztherapie die orale Gabe der Analgetika der Standard, so werden bei Intensivpatienten die starken Opioide häufig intravenös über Spritzenpumpen kontinuierlich verabreicht. Für die Schmerztherapie stehen zahlreiche starke Opioide (u. a. Buprenorphin, Fentanyl, Hydromorphon, Morphin, Oxycodon, Sufentanil) zur Verfügung.
139 14.4 · Symptomkontrolle
> Für alle starken Opioide gilt, dass durch eine Prophylaxe Nebenwirkungen in der Regel vermieden werden können.
Grundsätzlich muss die Basisdosierung des starken Opioides gegen den Schmerz titriert werden. Zusätzlich benötigen viele Patienten insbesondere für pflegerische oder physiotherapeutische Maßnahmen eine Bedarfsmedikation, deren Dosierung individuell titriert werden muss. Als Grundregel gilt ca. 1/6 der Tagesdosis. Häufig ist eine Dosisanpassung bei Zunahme der Schmerzen erforderlich.
14.4.3
Rasseln in der Terminalphase (»Death Rattle”)
starkem Erbrechen kann initial eine parenterale Gabe der Antiemetika sinnvoll sein.
Therapie 4 Bei gastrointestinal bedingter Übelkeit stellt Metoclopramid 30–60 mg/Tag das Medikament der 1. Wahl (Basisantiemetikum) dar. 4 Bei Übelkeit und/oder Erbrechen ausgelöst durch Erregung der Chemorezeptortriggerzone (CTZ) wird Haloperidol 3-mal 0,5 mg/Tag verabreicht. 4 Bei Erregung des Brechzentrums: Antihistaminikum Dimenhydrinat 3-mal 50 mg oral bzw. bis zu 2-mal 150 mg rektal.
Wird durch oszillierendes Sekret im Pharynx-Trachea-Bereich erzeugt. z Ursachen und Folgezustände 4 In der Finalphase ist kein ausreichendes Abhusten möglich, es erfolgt eine Retention von Bronchialsekret auch bei Patienten, die in der letzen Lebensphase extubiert wurden. 4 Terminales Rasseln führt zu Erstickungsangst beim Patienten und entsprechenden Befürchtungen bei den Angehörigen.
Therapie 4 Medikamentöse Therapie: – Morphingabe bzw. Erhöhung der bisherigen Dosis. – Anticholenergikum (z. B. N-Butylscopolamin Buscopan, ggf. Scopoderm TTS) 10–20 mg s.c. 6- bis 8-stündlich. – Sekretionshemmung. – Relaxierung glatter Muskulatur, zusätzlich Sedierung. 4 Naso-/oropharyngeale Absaugung nur kurzfristig erfolgreich, manchmal jedoch unvermeidlich. 4 Lagerung halbsitzend, 30 ° Seitlagerung.
14.4.4
Übelkeit und Erbrechen
z Ursachen 4 Afferente Impulse aus dem oberen Gastrointestinaltrakt an das Brechzentrum in der Formatio reticularis der Medulla oblongata. 4 Erregung von Chemorezeptoren in der Area postrema, der Medulla oblongata (Chemorezeptortriggerzone). 4 Vestibularisreizung, Hirndrucksteigerung und/oder psychische (visuelle oder olfaktorische) Stimuli.
Therapieansätze Die Therapie von Übelkeit und Erbrechen umfasst nichtmedikamentöse und medikamentöse Maßnahmen. Zunächst sollte, wenn möglich, die Ursache behandelt werden (z. B. Obstipation, Infektionen, Husten, Schmerzen, Hyperkalzämie, erhöhter Hirndruck). Bei der symptomatischen Therapie kommen als antiemetisch wirksame Medikamente prokinetische Substanzen, Neuroleptika, Antihistaminika, Anticholinergika, 5HT3-Antagonisten, Glukokortikoide und Benzodiazepine zur Anwendung. Die Auswahl der Antiemetika erfolgt nach der auslösenden Ursache sowie der spezifischen Rezeptorwirkung. Die Medikation sollte regelmäßig, in ausreichender Dosierung und antizipativ verabreicht werden. Bei
14.4.5
Opioidbedingte Übelkeit und Erbrechen
Zu Beginn einer Opioidtherapie klagen etwa 20–30 % aller Patienten über Übelkeit und Erbrechen. Auslöser ist eine direkte Wirkung der Opioide auf: 4 die Chemorezeptortriggerzone (CTZ), 4 den Gastrointestinaltrakt (Gastrostase), 4 das Vestibularorgan. Eine Toleranzentwicklung und somit ein Nachlassen der Symptome tritt in der Regel nach 8–10 Tagen ein. Aufgrund der Häufigkeit von opioidbedingter Übelkeit und Erbrechen sollte bei Beginn einer Therapie mit starken Opioiden eine Prophylaxe mit Antiemetika durchgeführt werden.
Prophylaxe 4 Haloperidol 3-mal 0,5 mg/Tag (CTZ) 4 Metoclopramid 30–60 mg/Tag (Gastrostase/CTZ).
14.4.6
Obstipation
Das Symptom Obstipation ist bei Intensivpatienten ebenso wie bei Palliativpatienten ein multifaktorielles Geschehen. z Ursachen 4 Behandlung mit Opioiden und anderen obstipierend wirkenden Medikamenten. 4 Postoperativ. 4 Organische (u. a. Tumoren), metabolische (z. B. Hyperkalzämie) oder neurogene Ursachen. 4 Funktionelle Ursachen (u. a. ballaststoffarme Kost, geringe Flüssigkeitsaufnahme, Immobilität, Arzneimittel). Aufgrund dieser Probleme ist bei Intensivpatienten häufig eine Indikation für eine medikamentöse, symptomatische Therapie mit Laxanzien gegeben, da eine Umstellung auf eine ballaststoffreiche Kost, die Erhöhung der Trinkmenge und Steigerung der körperlichen Aktivität oft nicht möglich sind. Mit Beginn einer Therapie mit starken Opioiden muss in jedem Fall eine Obstipationsprophylaxe mit Laxanzien durchgeführt und über den gesamten Therapieverlauf beibehalten werden (keine Toleranzentwicklung).
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Kapitel 14 · Palliativmedizin in der Intensivmedizin
Therapie
Therapie
4 Laxanzien werden aufgrund der Pathophysiologie und Wirkungsweise appliziert. 4 Steigerung der Propulsion: Natriumpicosulphat (Laxoberal; 10–20 Trpf. initial) oder Bisacodyl (Dulcolax)-Supp. 4 Stuhlaufweichung: Macrogol (Movicol; 1–2 Beutel/Tag). 4 Mikroklysma und/oder Einlauf. 4 Methylnaltrexon (Relistor) subkutan bei opioidinduzierter Obstipation. 4 In Extremfällen: Amidotrizoate (Gastrografin) 50–100 ml oral nach Absprache mit den Radiologen. 4 Wenn notwendig, frühzeitig manuelle Ausräumung (ggf. unter Sedierung).
4 Allgemeinmaßnahmen wie Regulieren der Raumtemperatur, Luftbefeuchtung, lockere Baumwollkleidung, Nagel- und Hautpflege: Öl, Schüttelmixturen, Lotionen, Emulsionen, Steroidcremes. 4 Waschungen mit Essigwasser. 4 Bäder mit rückfettenden und juckreizstillenden Zusätzen (z. B. Balneum Hermal, Ölbad Cordes, Linola-Fett-Ölbad). 4 Beseitigung von Noxen und Stoffwechselstörungen. 4 Überprüfung der verabreichten (evtl. induzierenden) Medikamente. 4 Photochemotherapie: UV-Bestrahlung, PUVA=Psoralen (Meladinine)+UVA (z. B. bei Mykosis fungoides, Psoriasis). 4 Kausale Behandlung tumoröser Infiltrationen mit Strahlentherapie/Chemotherapie. 4 Medikamentöse Therapie: – Antihistaminika, sedierende Präparate bevorzugen: z. B. Clemastin (Tavegil 3-mal 1 mg/Tag), Pheniramin (Avil 3-mal 0,05 mg/Tag). – Bei opioidbedingtem Pruritus Opioidwechsel erwägen. – Opioidantagonisten niedrig dosiert, z. B. Naloxon (Narcanti) 1,7–2 mg i.v./Tag, Nalbuphin (Nubain) 60 μg/ kg KG/h. – Gabe von Propofol in subsedierender Dosis (Disoprivan) 1 mg i.v./kg KG/h. – Trizyklische Antidepressiva: Doxepin (Aponal, Sinquan) oder Amitryptilin (Saroten). – Bei urämisch bedingtem Juckreiz: Ondansetron (Zofran), einmalig 8 mg i.v., dann 2-mal 4 mg oral/Tag.
> Bei Intensivpatienten, die operiert wurden, muss eine Absprache mit den mitbehandelnden Chirurgen erfolgen.
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Die Anwendung der Laxanzien richtet sich auch nach Vortherapie und Auskultations- und Tastbefund (klinische Diagnostik von Subileus und Ileus).
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14.4.7
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Juckreiz bzw. Pruritus
Unangenehme Empfindung der Haut (und der angrenzenden Schleimhäute), die zum Kratzen zwingt und von Unruhe, Schlaflosigkeit, Angstgefühlen sowie nachfolgenden Hautläsionen, Kratzeffekten, Superinfektionen begleitet wird. Die Reizaufnahme, Leitung und Modulation über Strukturen erfolgen wie beim nozizeptiven System. Pruritus kann eingeteilt werden in 4 »Pruritus cum materia« (mit umschriebenen Hautveränderungen assoziiert) und 4 »Pruritus sine materia« (ohne solche Hautveränderungen). z Ursachen 4 Tumoröse Hautinfiltration (z. B. Lymphangiosis, NonHodgkin-Lymphome, Leukämien, Mykosis fungoides), 4 Paraneoplastisch (z. B. M. Hodgkin), 4 Primäre Hautkrankheiten (z. B. Psoriasis, Mykosen, atopische Dermatitis, Scabies), 4 Metabolisch (Urämie, Cholestase), 4 Allergien, 4 Medikamentös induziert, z. B. durch Opioide (bei systemischer Applikation, häufiger bei epiduraler und subarachnoidaler Applikation), 4 Durch Nichtopioide (NSAID, Flupirtin, Antidepressiva, Kalzitonin), 4 Durch Zytostatika (Hautrötung, -schuppung), 4 Allergische Reaktionen auf Medikamente (allgemein).
14.4.8
Pflegerische und komplementäre Maßnahmen
In der Symptomkontrolle in der letzten Lebensphase sind pflegerische Maßnahmen, wie Mundpflege bei Mundtrockenheit oder Quarkwickel bei Lymphödem, Einreibungen oder Waschungen bei starkem Schwitzen oder Juckreiz, aber auch zahlreiche andere komplementäre Verfahren wie Auflagen, gelegentlich Akupressur oder Akupunktur, bei den unterschiedlichsten Symptomen eine sinnvolle Ergänzung der medikamentösen Behandlung. Die Kombination verschiedener Behandlungsverfahren erweitert nicht nur das Wirkungsspektrum, sondern hat oftmals auch Einfluss auf das Ausmaß der Nebenwirkungen einer medikamentösen Therapie.
14.5
Ethische Entscheidungen in der Intensivmedizin
Nicht nur in der Palliativmedizin, sondern auch in anderen Bereichen wie der Intensivmedizin zeigt sich eine zunehmende Auseinandersetzung mit der möglichen Inkurabilität einer Erkrankung. Nicht zuletzt angeregt durch die gesellschaftliche Diskussion über Tod und Sterben, die Debatte zur aktiven Sterbehilfe oder den ärztlich assistierten Suizid, verleihen Patienten ihrer autonomen Willensentscheidung durch Vorausverfügungen (Patientenverfügung bzw. Vorsorgevollmacht) Ausdruck. > Der aktuell erklärte Wille des Patienten ist für die Behandlung bindend.
141 14.5 · Ethische Entscheidungen in der Intensivmedizin
Die Auseinandersetzung mit den Wünschen und dem Willen des Patienten und Fragen nach einer etwaigen Therapiezieländerung oder -begrenzung erfordern ein hohes Maß an kommunikativer Kompetenz und klinischer Abwägung. In Ergänzung zu einer eher klinisch orientierten Kooperation unterschiedlicher Fachrichtungen, die in die Behandlung des Patienten involviert sind, wurden in Deutschland zur Unterstützung des klinischen Entscheidungsprozesses Strukturen der klinischen Ethikberatung (Konsil, Fallbesprechung, Komitee) etabliert. Darüber hinaus leisten palliativmedizinische Versorgungseinrichtungen mit ihrem interdisziplinären und multiprofessionellen Behandlungsansatz auch auf Intensivstationen [13] und in der Notfallmedizin [14] Unterstützung bei der vorausschauenden Planung, der moderierenden Strukturierung und der ethischen Bewertung klinischer Entscheidungssituationen. Die Entscheidungsfindung ist gerade bei der Behandlung von Patienten auf einer Intensivstation nicht immer leicht. Je jünger der behandelnde Arzt ist, umso mehr neigt er dazu, alle Potenziale auszuschöpfen, die der Intensivmedizin zur Verfügung stehen. Es bedarf gleichermaßen ärztlicher wie menschlicher Erfahrung, die Grenzen eines sinnvollen Einsatzes intensivmedizinischer Maßnahmen zu erkennen, die sich nicht nur an ökonomischen Kriterien orientieren, sondern an der Wiederherstellung eines für den betroffenen Menschen akzeptablen Gesundheitszustandes. Entscheidungen bedeuten immer auch Urteilsbildung, Respektierung individueller Werte, Begleitung und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Entscheidungen möglichst im multidisziplinären Team nach bestem Wissen und Gewissen zu treffen, kann aber auch bedeuten, zu akzeptieren, dass man im Einzelfall auch einmal eine falsche Entscheidung trifft. Die Dilemmata zwischen ärztlichem Ethos und der Autonomie des Patienten oder zwischen Lebenserhaltungsprinzip und subjektiver Lebensqualität manifestieren sich in Intensiv- und Palliativmedizin mit unterschiedlicher Gewichtung, dennoch ist es in beiden Arbeitsfeldern dringend geboten, sich mit ethischen Problemen in Grenzsituationen auseinanderzusetzen.
14.5.1
Wege der Entscheidungsfindung in der Intensivmedizin
Im Grenzbereich zwischen Leben und Sterben bedarf es insbesondere im Spannungsfeld von medizinischen Möglichkeiten, sozialen Interessen, gesellschaftlichen Prioritäten und individuellen Erwartungen einer Orientierungshilfe [3]. Jedoch ist die Beurteilung, ob der Sterbeprozess eines Menschen bereits begonnen hat und ob Maßnahmen eine Verlängerung des Sterbens oder des Lebens bedeuten würden, nicht nur in der Intensivmedizin häufig schwierig. Zudem wird nicht selten berichtet, dass Ärzte sich mit einem Behandlungsverzicht u.a. aus Angst vor juristischen Konsequenzen und Furcht vor Vorwürfen Angehöriger oder Vorgesetzter schwer tun und eher den » sicheren« Weg der Maximaltherapie wählen. Ärzte müssen sich vergegenwärtigen, dass Heileingriffe nach gültiger Rechtsprechung den (äußeren) Tatbestand der Körperverletzung erfüllen. Dies gilt selbst dann, wenn der Eingriff vital indiziert und dringend ist, lege artis durchgeführt wird und in jeder Hinsicht erfolgreich verläuft [20]. Das Selbstbestimmungsrecht des bewusstseinsklaren Patienten muss respektiert werden, auch wenn der Patient einen lebensrettenden oder lebensverlängernden Eingriff ablehnt [17]. In der Intensivbehandlung nimmt infolge demographischer Entwicklungen sowie aufgrund der Fortschritte der Medizin die Zahl nicht einwilligungsfähiger Patienten zu. Gleichzeitig müssen Ärzte sich nicht nur in der Intensivmedizin mit der Tatsache ausei-
nandersetzten, dass verbindlich gültige Patientenverfügungen, Vorsorgevollmachten oder Betreuungsverfügungen von Angehörigen oder Betreuern vorgelegt werden. Hierdurch kann der Patient auch für den Fall, dass er sich nicht (mehr) mündlich äußern kann, sein Selbstbestimmungsrecht wahrnehmen und Einfluss auf eine medizinische Behandlung nehmen. > Ärztliches Handeln ist an die medizinische Indikation und die Zustimmung des Patienten gebunden – und damit auch an den in einer Patientenverfügung geäußerten Willen.
Die seit 1. September 2009 gültige Gesetzgebung zur Patientenverfügung bekräftigt die Verbindlichkeit, wobei deutlich wird, dass, je konkreter eine Patientenverfügungen inhaltlich gestaltet ist, desto eher auch die Chance besteht, dass sie adäquat umgesetzt wird. Ein unreflektiertes Abarbeiten eines in einer Patientenerklärung vor Monaten oder Jahren festgehaltenen Willens könnte jedoch dazu führen, dass sich der Arzt bei Vorliegen einer Patientenverfügung nicht mehr aufgefordert sieht, den individuellen Patientenwillen in der jetzt gegebenen, konkreten Situation zu ermitteln [12]. Um dem vorzubeugen, hat der Gesetzgeber in § 1901b BGB auf die Bedeutung eines Gesprächs mit Betreuer, Vorsorgebevollmächtigtem, Verwandten oder nahestehenden Personen zur Ermittlung des Patientenwillens hingewiesen. Für die Erstellung einer Patientenverfügung empfiehlt es sich, diese nicht ohne ein ausführliches Informationsgespräch mit dem betreuenden Arzt zu verfassen [7]. Jedoch haben sich nicht alle Menschen über ihre Erwartungen bezüglich der menschlichen und medizinischen Betreuung und Versorgung am Lebensende und/oder bei lebensbedrohlichen Erkrankungen Gedanken gemacht. Forensischen Problemen bei Nichteinwilligungsfähigkeit kann durch eine rechtzeitige Bestimmung eines Vorsorgebevollmächtigten/Betreuers in der Behandlung von Intensivpatienten begegnet werden. Kann zwischen Ärzten und Vorsorgebevollmächtigtem/Betreuer keine Einigkeit über die weitere Behandlung erzielt werden, so können Einwilligungen in medizinische Eingriffe durch das Vormundschaftsgericht erteilt oder untersagt werden. Auch wenn nach der neuen Gesetzgebung die Bindungskraft an eine zuvor schriftlich festgelegte Patientenverfügung für eine Situation, die auf die aktuelle Behandlungssituation zutrifft, unumstritten ist, so bleibt doch fraglich, inwieweit bei einem nicht mehr einwilligungsfähigen Patienten der zuvor schriftlich festgelegte Wille, lebenserhaltende Maßnahmen in bestimmten Situationen zu unterlassen, tatsächlich noch so vom Patienten gewünscht ist; dies besonders unter dem Aspekt, dass es für Menschen schwierig ist, Entscheidungen, die Gesundheit oder Krankheit betreffen, zu antizipieren. Umfragen bei chronisch Kranken weisen, wie etwa eine Studie von Eibach und Schaefer, einen Prozentsatz von fast 90 % der Befragten auf, die sich am Lebensende vertrauensvoll in die Fürsorge ihrer Ärzte und Angehörigen begeben möchten [4]. Im Unterschied zum Gesunden, der bei einer Befragung ein theoretisches, antizipiertes Szenario entwirft, vor dessen Hintergrund er seine Antwort formuliert, hat der Kranke im Laufe seiner Erkrankung eine Entwicklung durchgemacht, in der die meisten Menschen ihre Vorstellungen und Wünsche ihren realistischen Möglichkeiten anpassen (Gap-Theorie) und durchaus Lebensqualität empfinden [2]. Dieses Wissen darf bei der Beurteilung des »mutmaßlichen Willens« nicht außer Acht gelassen werden [13]. Hilfreich sind die Hinweise zum Umgang mit Therapieentscheidungen am Lebensende, die in den Grundsätzen der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung aufgeführt werden. Dabei wird deutlich, dass Lebensverlängerung nicht in jedem Fall und
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Kapitel 14 · Palliativmedizin in der Intensivmedizin
nicht mit allen Mitteln das ausschließliche Ziel ärztlichen Handelns sein kann und darf [5]. Bei einer Änderung des Therapieziels bestehen unterschiedliche Entscheidungsoptionen, die nur nach sorgfältiger Prüfung der aktuellen Situation und bei nicht entscheidungsfähigen Patienten, wenn möglich, im Konsens der Behandelnden mit den Betreuenden und Angehörigen eines Patienten im multidisziplinären Team im Sinne eines »ethischen Fallgesprächs« getroffen werden sollten. Solche Entscheidungen erfordern weit mehr als medizinisches Wissen. > Die Einschätzung der aktuellen klinischen Situation und der Prognose unter Berücksichtigung des Willens des Patienten, des psychosozialen und familiären Umfeldes ist wesentliche Voraussetzung für eine nicht nur medizinisch adäquate, sondern auch für eine medizinisch-ethisch vertretbare Entscheidung.
Entscheidungsoptionen sind hierbei die Entscheidungen zu 4 Therapieverzicht (Nichtbeginnen einer möglichen intensivmedizinischen Therapie), 4 Einfrieren der begonnenen Therapie oder 4 Therapieerhalt bei kritischer Prognose und geringen Überlebenschancen (Nichterweitern einer intensivmedizinischen Behandlung, z. B. Dialyse, Reanimation), 4 Therapiereduktion, wenn keine Überlebenschance mehr besteht (Beendigung einer Therapie mit Katecholaminen, Beatmung mit 21 % O2 und optimale Basisversorgung) oder 4 Therapieabbruch am Lebensende (Beenden einer das Sterben verlängernden Therapie bei infauster Prognose). Voraussetzung für die Durchführung jeglicher medizinischer Behandlung ist jedoch, dass eine Indikation für die Therapie besteht oder weiterhin besteht. Das »ethische Fallgespräch« stellt für den behandelnden Arzt eine Hilfe bei der Entscheidungsfindung für oder gegen eine medizinische Behandlung dar. Letztendlich steht jedoch der betreuende Arzt als Mensch und als juristisch verantwortliche Person vor einer Entscheidung, die ihm keine Gruppe und kein Angehöriger abnehmen kann, es sei denn, ein Vorsorgebevollmächtigter oder Betreuer ist schriftlich benannt, oder bei Dissens mit dem Bevollmächtigten/Betreuer hat das Vormundschaftsgericht entschieden. Eine Entscheidung hin zu einer Änderung des Therapieziels (Therapieverzicht, Einfrieren der Therapie oder Therapieabbruch) darf jedoch nicht das Ende aller therapeutischer Maßnahmen bedeuten, sondern erfordert auch in der Intensivmedizin die Begleitung und Betreuung des Sterbenden und Schwerkranken mit infauster Prognose im Sinne der Palliativmedizin.
gleichwertige Elemente unter Beachtung palliativmedizinischer Prinzipien; das bedeutet auch die Einbeziehung des Patienten und seiner Angehörigen im Sinne von »shared decision making« und »comfort care« unter Berücksichtigung physischer, psychischer, sozialer und spiritueller Gesichtspunkte im multidisziplinären Team. Wesentlich ist es, den Übergang von »cure to care« zu erkennen und zu vermitteln, wenn eine Lebensverlängerung und Widerherstellung lebensbedrohlich gestörter Organfunktionen nicht möglich ist, der Krankheitsverlauf nicht mehr abwendbar ist und der Tod nahe bevorsteht. Eine Entscheidung für die Fortführung einer Behandlung oder die Anordnung einer erneuten Diagnostik fällt, so zeigt sich im klinischen Alltag, nicht selten leichter als eine Entscheidung hin zu einer Therapiezieländerung, die auch den Abbruch einer Behandlung umfassen kann. In unklaren Situationen bei nicht entscheidungsfähigen Patienten und wenn im Behandlungsteam kein Konsens besteht, ist das » ethische Fallgespräch ein sinnvolles Instrument, um die bestmögliche und angemessene Behandlung für die Patienten zu ermitteln. Mit ihrem ganzheitlichen Behandlungsansatz hat die Palliativmedizin neue Wege in der umfassenden Betreuung schwerkranker und sterbender Menschen beschritten, die gerade in der Behandlung von Intensivpatienten eine sinnvolle Ergänzung darstellen können.
Literatur 1
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Zusammenfassung Palliativmedizin in der Intensivmedizin widerspricht sich nicht, auch wenn Aufgaben, Konzepte und Ziele ursprünglich unterschiedliche medizinische Bereiche betreffen. In beiden Bereichen haben Schmerztherapie und Symptomkontrolle, Leidenslinderung, offene Kommunikation im Team, Aufklärung und Übermittlung schlechter Nachrichten, intensive Patienten- und Angehörigenbegleitung und Auseinandersetzung in Grenzbereichen des Lebens und der Medizin sowie Entscheidungsfindung in schwierigen ethischen Fragestellungen eine hohe Priorität, höher als in anderen Bereichen der Medizin. Die Kunst liegt darin, zur richtigen Zeit die jeweils beste, ethisch und medizinisch gebotene Entscheidung mit dem (oder im Sinne des) Patienten für den Patienten zu gewährleisten. In Anlehnung an einen Beschluss der 5th International Conference in Critical Care in Brüssel 2003 gehört zu einer optimalen Betreuung des Intensivpatienten die Konzentration auf »cure, care and comfort« als
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145
Diagnostik und Überwachung Kapitel 15
Hämodynamisches und respiratorisches Monitoring, intravasale Katheter
Kapitel 16
Zerebrales Monitoring, neurophysiologisches Monitoring
Kapitel 17
Bildgebende Verfahren: Röntgen, Ultraschall, CT, Nuklearmedizin
Kapitel 18
Labordiagnostik in der Intensivmedizin
II
147
Hämodynamisches und respiratorisches Monitoring, intravasale Katheter W. Wilhelm, R. Larsen, H. Pargger, S. Ziegeler, F. Mertzlufft 15.1
Einleitung – 148
15.2
Herz-Kreislauf-Funktion: Basismonitoring – 148
15.2.1 15.2.2 15.2.3 15.2.4
Inspektion, Palpation und Auskultation – 148 Kontinuierliche EKG-Überwachung – 148 Indirekte Blutdruckmessung – 150 Arterielle Katheter und invasive Blutdruckmessung – 151
15.3
Venenkatheter und zentraler Venendruck – 153
15.3.1 15.3.2 15.3.3
Allgemeines – 153 Volumensubstitution und periphere Venenkanülierung – 153 Zentrale Venenkatheter – 154
15.4
Pulmonalarterienkatheter – 160
15.4.1 15.4.2 15.4.3 15.4.4 15.4.5
Allgemeines – 160 Indikationen – 161 Kathetertypen – 161 Punktionsorte und Einführungstechnik – 161 Erhebung und Interpretation hämodynamischer Messwerte – 164
15.5
HZV-Messung durch arterielle Pulskonturanalyse und andere Verfahren – 166
15.5.1 15.5.2 15.5.3
PiCCOplus-Monitor – 167 LiDCO-System – 169 FloTrac-Sensor und Vigileo-Monitor – 169
15.6
Atemfunktion – 171
15.6.1 15.6.2 15.6.3
Überwachung der respiratorischen Funktion – 171 Pulsoxymetrie – 171 Kapnometrie – 173
15.7
Analyse der arteriellen Blutgase – 174
15.7.1 15.7.2 15.7.3 15.7.4 15.7.5 15.7.6 15.7.7 15.7.8 15.7.9 15.7.10
Probenentnahme – 174 Aufbewahrung und Verarbeitung der Proben – 175 Sauerstoffpartialdruck – 175 Sauerstoffsättigung des Blutes – 175 Sauerstoffbindungskurve – 176 Physikalisch gelöster Sauerstoff – 176 Sauerstoffgehalt im Blut – 176 Sauerstoffangebot an die Organe – 176 Alveoloarterielle O2-Partialdruckdifferenz – 177 Störungen des arteriellen Sauerstoffstatus – 177
Literatur – 177
H. Burchardi et al. (Hrsg.), Die Intensivmedizin, DOI 10.1007/978-3-642-16929-8_15 ,© Springer Medizin Verlag Berlin Heidelberg 2011,
15
15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15
148
Kapitel 15 · Hämodynamisches und respiratorisches Monitoring, intravasale Katheter
15.1
Einleitung
Die Überwachung umfasst die Beobachtung, Messung und Registrierung veränderlicher Funktionen des Intensivpatienten. Ihr wesentliches Ziel ist die frühzeitige Erkennung von Störungen des physiologischen Gleichgewichts und die Erfolgskontrolle therapeutischer Maßnahmen. Die Überwachung muss zielgerichtet und systematisch erfolgen, nicht zufällig oder willkürlich, weil die Überwachungsgeräte zur Verfügung stehen. Die erhobenen Befunde und Messdaten müssen zuverlässig sein, da sie häufig die Grundlage für therapeutische Entscheidungen darstellen. Alle Überwachungsmaßnahmen müssen sinnvoll, unter Abwägung von Nutzen, Risiken und Kosten, auf den jeweiligen Bedarf abgestimmt werden. Das stereotype Ansammeln unzähliger Daten lenkt von der klinischen Beobachtung des Patienten ab, erschwert die integrative Beurteilung des Zustands und behindert im ungünstigen Fall den therapeutischen Entscheidungsprozess. z Was soll überwacht werden? Beim kritisch kranken Intensivpatienten sind häufig mehrere Organfunktionen gefährdet oder beeinträchtigt, sodass zumeist ein umfangreiches Überwachungsprogramm erforderlich ist. Im Mittelpunkt stehen hierbei naturgemäß die sog. Vitalorgane, d. h. die Funktion des Herz-Kreislauf-Systems und der Lunge, ergänzt durch Erfassung einer Vielzahl weiterer Variablen und Parameter.
Überwachung physiologischer Variablen beim Intensivpatienten (Auswahl) 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4
Herzfrequenz und Rhythmus (EKG) Arterieller Blutdruck Zentraler Venendruck Pulmonalarteriendrücke, Wedgedruck Herzzeitvolumen und abgeleitete hämodynamische Größen Intrathorakale Volumina Atemfrequenz, Atemtyp Arterielle Blutgase und O2-Sättigung, O2-Gehalt und -transport Säuren-Basen-Parameter Hämoglobin, Hämatokrit Serumelektrolyte Nierenfunktionsparameter Blutgerinnung, Thrombozyten Leberenzyme Körpertemperatur Intrakranieller Druck EEG, prozessiertes EEG
15 15 15 15 15 15
15.2
Herz-Kreislauf-Funktion: Basismonitoring
Die Überwachung der Herz-Kreislauf-Funktion erfolgt klinisch und apparativ, wobei sich die Invasivität der Überwachungsmaßnahmen in erster Linie nach dem hämodynamischen Funktionszustand des Intensivpatienten richtet. Ist die Herz-Kreislauf-Funktion unbeeinträchtigt und sind kurzfristig keine wesentlichen Störungen zu erwarten, genügt die klinische Einschätzung, ergänzt durch nichtinvasive Standardverfahren wie EKG und indirekte Blutdruckmessung. Demgegenüber erfordern schwerwiegende hämodynami-
sche Störungen, Sepsis oder Schock den großzügigen Einsatz invasiver Verfahren bis hin zum Pulmonalarterienkatheter.
Überwachung der Herz-Kreislauf-Funktion beim Intensivpatienten 4 Basismonitoring – Herzfrequenz und -rhythmus: EKG-Monitor – Arterieller Blutdruck – Zentraler Venendruck 4 Erweitertes Monitoring – Pulmonalarteriendrücke, Wedgedruck – Druck im linken Vorhof – Herzzeitvolumen; intrathorakale Volumina – Pumpfunktion, Kontraktilität, Klappenfunktion (mit Echokardiographie)
15.2.1
Inspektion, Palpation und Auskultation
Diese einfachen Verfahren sind zwar weniger genau als invasive Methoden und erfordern eine größere Erfahrung des Untersuchers, gehören aber nach wie vor zu den unverzichtbaren Routinemaßnahmen, die täglich – auch wiederholt – angewandt werden müssen, um den Zustand des Patienten einzuschätzen. Inspektion. Die Inspektion ermöglicht meist nur eine grobe Orientierung über die Herz-Kreislauf-Funktion. Überprüft werden die Bewusstseinslage des Patienten, Hautfarbe der Extremitäten, Kapillardurchblutung (Nagelbett), Ödeme, gestaute Halsvenen, Hydratationszustand der Schleimhäute usw. Palpation. Schwache, schnelle oder fehlende periphere Pulse zu-
sammen mit kalten Extremitäten sind Zeichen der Hypovolämie oder des Schocks. Starke respiratorische Schwankungen der Pulsamplitude weisen auf Hypovolämie oder Herztamponade hin und bedürfen der apparativen diagnostischen Abklärung. Auskultation. Zur vollständigen klinischen Untersuchung des
Herzens gehört auch beim Intensivpatienten die Auskultation. Hiermit können Herzrhythmus und -frequenz festgestellt werden, weiterhin Störungen der Herzklappenfunktion sowie pathologische Herzgeräusche.
15.2.2
Kontinuierliche EKG-Überwachung
Störungen der Herzfrequenz, des Herzrhythmus und der Koronardurchblutung gehören zu den häufigen Komplikationen bei Intensivpatienten. Um diese Störungen frühzeitig erkennen und behandeln zu können, wird beim Intensivpatienten routinemäßig eine kontinuierliche EKG-Überwachung durchgeführt. Auf der Intensivstation werden hierfür in der Regel Multifunktionsmonitore eingesetzt, mit denen mehrere physiologische Variablen überwacht werden können, z. B. Blutdruck (nichtinvasiv/invasiv), Herzfrequenz, O2-Sättigung (Pulsoxymetrie), endexspiratorischer pCO2 (Kapnometrie), Atemfrequenz, EEG, intrakranieller Druck, Temperatur.
149 15.2 · Herz-Kreislauf-Funktion: Basismonitoring
Mit dem EKG-Monitor feststellbare Störungen der Herzfunktion 4 4 4 4 4 4 4 4
Störungen der Herzfrequenz: Bradykardie/Tachykardie Störungen des Herzrhythmus: supraventrikulär/ventrikulär Myokardischämie, Myokardinfarkt Blockbilder Kardiale Nebenwirkungen von Pharmaka Kardiale Wirkungen von Elektrolytstörungen Störungen der Herzschrittmacherfunktion Herzstillstand: Kammerflimmern, Asystolie, elektromechanische Entkoppelung
Die EKG-Ableitung beim Intensivpatienten unterliegt zahlreichen Störfaktoren, die zu einer Beeinträchtigung der Signalqualität mit entsprechenden Fehldeutungen des erhaltenen Bildes führen können. Um verwertbare EKG-Signale zu erhalten, müssen die einzelnen Komponenten des Systems »optimiert« werden.
Vorbereitung des Patienten Das von der Haut abgeleitete EKG-Signal ist sehr klein; die Amplitude beträgt lediglich 0,5–2 mV. Wichtig ist daher eine sorgfältige Vorbereitung der Haut, damit die Elektroden gut haften und der Hautwiderstand vermindert wird. Haare über der Ableitungsstelle müssen zunächst entfernt werden, ebenso alle Rückstände und Verunreinigungen wie Fett, Blut usw. Hierbei empfiehlt sich die Reinigung mit Alkohol und die anschließende Trocknung der Haut.
Elektroden In der Intensivmedizin werden zumeist Hautelektroden verwendet; Nadelelektroden sind speziellen Indikationen vorbehalten, z. B. schweren Verbrennungen. Hautelektroden sind in der Regel Einmalklebeelektroden mit aufgetragenem Elektrodengel, das die Epidermis penetriert und den Hautwiderstand herabsetzt. Ein gutes Elektrodensystem ist erforderlich, damit der elektrische Impuls störungsfrei auf den Monitor übertragen wird. Die Grundlinie des EKG muss stabil und artefaktfrei sein, der QRS-Komplex ausreichend hoch (damit Frequenzfehler und Alarmsystem korrekt funktionieren) und die P-Wellen deutlich erkennbar. Eingetrocknetes Gel aufgrund unsachgemäßer Lagerung der Elektroden oder Einwirkung von Hitze erhöht den Hautwiderstand und führt zu instabiler Grundlinie und Interferenzen mit 50 HzSignalen anderer elektrischer Geräte. Die korrekte Platzierung von Elektroden ist besonders wichtig, um ein maximales EKG-Signal mit geringst möglichen Störungen zu erhalten. Knochenvorsprünge, Gelenke und Hautfalten sind für die Elektrodenplazierung nicht geeignet. Artefakte durch Muskelaktivität oder Muskelzittern sowie Haut- und Atembewegungen müssen vermieden werden. Weiterhin sollten an einem Patienten stets nur Elektroden des gleichen Herstellers verwendet werden.
Ableitungssystem Die American Heart Association empfiehlt die Analyse von mindestens 2, bevorzugt aber 3 Ableitungen für die kontinuierliche Überwachung des EKG. Wichtigste Ziele dieser Erweiterung der Ableitsysteme sind: 4 Erkennung von P-Wellen, 4 Beurteilbarkeit der Herzachse, 4 Unterscheidung zwischen ventrikulären und supraventrikulären Rhythmusstörungen oder Extrasystolen, 4 bessere Charakterisierung von ST-Segment-Veränderungen.
z Ableitung II Bei dieser Ableitung werden die Potentialdifferenzen zwischen rechtem Arm und linkem Bein gemessen. Die Achse der Ableitung verläuft parallel zur Achse zwischen Sinus- und AV-Knoten, entsprechend groß und leicht auffindbar ist daher die P-Welle. Die Ableitung II ermöglicht somit eine Identifizierung von P-Wellen und die Differenzierung zwischen supra- und ventrikulären Rhythmusstörungen. Myokardischämien im Hinterwandbereich sind erkennbar. z V1-Ableitung Hierbei befinden sich 4 Elektroden jeweils an den Extremitäten, die 5. Elektrode im 4. Interkostalraum rechts vom Sternum. Bei dieser Ableitung sind P-Welle und QRS-Komplex besonders deutlich zu erkennen. z MCL1-Ableitung Hierbei handelt es sich um eine modifizierte (bipolare) V1-Ableitung. Die positive Elektrode befindet sich in V1-Position rechts vom Sternum im 4. ICR, die linke Elektrode in Nähe der Schulter oder unter der linken Klavikula. Am EKG-Monitor wird der Schalter auf Ableitung II eingestellt. Mit dieser Ableitung können gut Herzrhythmusstörungen und Erregungsleitungsstörungen beurteilt werden. z Ableitung V5 Die Ableitung V5 dient der Erkennung von Myokardischämien, insbesondere im Vorderseitenwandbereich. Hierbei wird die V5-Elektrode im 5. ICR in der vorderen Axillarlinie platziert. Zusammen mit der Ableitung II können ischämische ST-Segmentveränderungen mit einer relativen Sensitivität von 80 % (bei Vergleich mit einem 12-Kanal-EKG) erkannt werden. Die Ableitung V5 gilt allen anderen Ableitungen gegenüber in der Erkennung von Myokardischämien als überlegen. z Modifizierte V5-Ableitung Verfügt der Monitor nur über 3 Ableitungen, so kann die Elektrode für den linken Arm in V5-Position gebracht und der Schalter des Monitors auf Ableitung I gestellt werden. Hierdurch ergibt sich eine modifizierte V5-Ableitung, die für die Erkennung von Myokardischämien gut geeignet ist. Durch einfaches Betätigen des Schalters kann beim Auftreten von Rhythmustörungen, ohne Neuplazierung der Elektroden, die Ableitung II eingestellt werden.
Monitor Die beim Intensivpatienten eingesetzten EKG-Monitore dürfen nur wenig störanfällig sein, besonders gegenüber elektromagnetischen Feldern anderer Geräte (z. B. Infusionspumpen, Spritzenpumpen) oder statischen Aufladungen. Geringe Störanfälligkeit geht allerdings häufig mit Beeinträchtigungen der Signalwiedergabe einher. Moderne EKG-Monitore enthalten Speicheroszilloskope, auf denen das EKG während des Durchlaufs gespeichert wird. Beim Erreichen des Bildrands wird die Kurve gelöscht oder für kurze Zeit gespeichert, sodass Arrhythmien kurz nach ihrem Auftreten erneut abgerufen werden können. Bei den meisten Monitoren kann das EKG-Bild auf dem Schirm »eingefroren« und dann genauer analysiert werden. Bei 2-Kanal-Speicheroszilloskopen ist das Bild auf dem zweiten Kanal sogar beliebig lange zu speichern. Einige Monitore verfügen zusätzlich über einen Schreiber, der sich zu vorgewählten Zeitpunkten oder durch Erreichen vorgegebener Alarmgrenzen einschaltet und das EKG registriert. Alle Monitore weisen einen Herzfrequenzzähler auf, der die Herzfrequenz aus den R-Zacken oder (fälschlich) den jeweils
15
150
15 15 15 15 15 15 15 15 15
Kapitel 15 · Hämodynamisches und respiratorisches Monitoring, intravasale Katheter
höchsten Ausschlägen der EKG-Kurve entnimmt und digital anzeigt, gewöhnlich in Verbindung mit einem akustischen Signal. Die Herzfrequenz kann außerdem über die arterielle Druckkurve oder über das Plethysmogramm des Pulsoxymeters bestimmt werden. z Computerunterstützte Analyse Zahlreiche Monitore ermöglichen eine automatisierte, kontinuierliche Analyse des Herzrhythmus und des ST-Segments und damit eine vom Überwacher unabhängige Erkennung von Rhythmusstörungen und Myokardischämien. Die derzeit eingesetzten Systeme sind allerdings nicht absolut verlässlich.
Bei der kontinuierlichen EKG-Überwachung können zahlreiche Artefakte auftreten, die auf Funktionsstörungen oder falschen Anschlüssen des Systems beruhen. Wichtigster Störfaktor sind elektromagnetische Interferenzen, durch die das normale EKG-Bild verloren geht. Respiratorische Schwankungen können ebenfalls das EKG beeinflussen, bedingt durch Verschiebungen des Mediastinums oder Veränderungen der Herzvolumina während des Beatmungszyklus. Betroffen ist v. a. die Höhe des QRS-Komplexes.
15 15
Typische EKG-Störungen und ihre wichtigsten Ursachen sind in der 7 folgende Übersicht zusammengefasst.
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Indirekte Blutdruckmessung
Die arterielle Blutdruckmessung ist essenzieller Bestandteil der Überwachung eines Intensivpatienten. Der arterielle Blutdruck gilt als Indikator des allgemeinen hämodynamischen Status, weist aber keine oder nur eine geringe diagnostische Spezifität auf, da eine komplexe Beziehung zwischen Blutdruck, Blutfluss und Blutvolumen besteht.
Mittlerer arterieller Blutdruck=Herzzeitvolumen × peripherer Gefäßwiderstand
Störungen der EKG-Überwachung
! Cave Erscheint kein EKG-Signal auf dem Monitor, sollte zuerst der Patient überprüft werden, danach das Gerät!
15
15.2.3
Störungen des EKG und deren wesentliche Ursachen 4 Grundlinie wandert, EKG-Bild fehlt: – Empfindlichkeit zu gering eingestellt – Falsche Ableitung eingestellt – Patienten- und/oder Elektrodenkabel defekt 4 Wandernde oder unregelmäßige Grundlinie: – Bewegungen des Patienten – Muskelzittern – Ungenügende Hautreinigung – Einfluss von Wechselstrom – Elektrodengel ausgetrocknet – Elektroden falsch platziert – Patienten- und Stromkabel berühren sich 4 EKG-Amplitude zu klein: – Größenkontrolle am Monitor zu klein eingestellt – Elektrodengel ausgetrocknet – Elektroden falsch platziert 4 EKG-Bild wird unterbrochen: – Elektrodendraht gerissen – Elektroden falsch platziert – Patientenkabel defekt 4 Herzfrequenzmonitor alarmiert ständig: – Frequenzalarm zu nahe an Herzfrequenz des Patienten eingestellt – Elektroden falsch platziert (zu niedrige R-Zacke) – Kabel defekt – Instabile Grundlinie
Häufige Ursachen eines niedrigen Blutdrucks beim Intensivpatienten sind Blut- und/oder Flüssigkeitsverluste, Herzinsuffizienz, Trauma oder Sepsis, während ein hoher Blutdruck häufig als Ausdruck einer »Stressreaktion« gewertet wird. Als normal gelten beim Jüngeren Blutdruckwerte von 120/80 mm Hg. Im Alter zeigt sich eine ansteigende Tendenz. Es gelten systolische Werte ab 140 mm Hg und/oder diastolische Werte ab 90 mm Hg als Hypertonie.
Art der Messung Der arterielle Blutdruck kann indirekt oder direkt gemessen werden. Die indirekten Verfahren sind einfach und nichtinvasiv, die direkten hingegen invasiv und apparativ aufwendig. Mit der indirekten Methode werden systolischer (psyst) und diastolischer (pdiast) Blutdruck gemessen, während der mittlere arterielle Druck (MAP) aus den so bestimmten Werten nach folgender Formel berechnet wird:
MAP =
psyst+2·pdiast 3
= pdiast +
1 3
(psyst–pdiast)
Für die nichtinvasive Blutdruckmessung werden verschiedene Verfahren eingesetzt; allen gemeinsam ist derzeit die Verwendung einer aufblasbaren Manschette, die naturgemäß lediglich eine Intervallmessung ermöglicht. > Die indirekte Blutdruckmessung kann bei allen hämodynamisch stabilen Patienten, bei denen nicht mit schweren Störungen der Herz-Kreislauf-Funktion gerechnet werden muss, eingesetzt werden. Hingegen sollte bei instabiler Herz-Kreislauf-Funktion die direkte Messung wegen ihrer größeren Genauigkeit und der kontinuierlichen Erfassung der Blutdruckwerte bevorzugt werden.
Oszillationsmethode Diese Technik in ihrer automatisierten Form wird derzeit am häufigsten eingesetzt. Zunächst wird die Manschette über den systolischen Druck hinaus aufgeblasen, danach langsam abgelassen. Der systolische Blutdruck entspricht hierbei dem erstmaligen Auftreten von Oszillationen der Manometernadel, der mittlere arterielle Druck den maximalen Ausschlägen und der diastolische Druck dem schlagartigen Kleinerwerden oder Verschwinden der Osziallationen. Bei Hypotension, Hypovolämie oder enger Pulsamplitude wird häufig nur der arterielle Mitteldruck angezeigt. Bei hohen Blutdruckwerten werden möglicherweise zu niedrige systolische und mittlere Drücke angezeigt, bei Hypotension zu hohe.
151 15.2 · Herz-Kreislauf-Funktion: Basismonitoring
Genauigkeit der indirekten Messung Die Genauigkeit der indirekten Blutdruckmessung kann durch zahlreiche Faktoren beeinträchtigt werden. Hierzu gehören v. a.: 4 falsche Größe und Platzierung der Manschette, 4 zu rasches Ablassen des Manschettendrucks, 4 Hypotension, periphere Vasokonstriktion, Schock, 4 Herzrhythmusstörungen.
ris verschlossen ist, könnte die Punktion der A. radialis theoretisch zu einer Mangeldurchblutung der Hand führen. Eine Möglichkeit, die Durchblutung an der Hand zu beurteilen, ist der modifizierte Allen-Test [1]. Die Durchführung des Allen-Tests ist in der Übersicht dargestellt.
Durchführung des Allen-Tests
15.2.4
Arterielle Katheter und invasive Blutdruckmessung
Arterielle Katheter und eine invasive Blutdrucküberwachung werden je nach Krankengut und Stationsphilosophie bei weit über 50 % der Patienten auf Intensivstationen eingesetzt. Der große Vorteil gegenüber der nichtinvasiven automatischen oszillometrischen Blutdruckmessung ist die Möglichkeit, den Druck tatsächlich von Schlag zu Schlag zu überwachen. Obwohl die arterielle Blutdruckmessung in den letzten Jahren infolge von Materialverbesserungen zunehmend häufiger eingesetzt wurde, sollte man ihre Komplikationen nicht negieren und keinesfalls aus Bequemlichkeit arterielle Katheter einführen oder belassen. Insbesondere die routinemäßige Überwachung der O2Sättigung mit der Pulsoxymetrie und der endexspiratorischen CO2Konzentration mit der Kapnometrie reduziert die Anzahl der erforderlichen Blutgasanalysen.
Indikationen Es gibt vermutlich einige absolute Indikationen für arterielle Katheter. Tatsächlich bewiesen wurde der Nutzen für die Patienten jedoch nicht. Aufgrund der Verbesserungen in der Technik der nichtinvasiven Blutdrucküberwachung und nach Einführung von Pulsoxymetrie und Kapnometrie sollte man jedoch die Indikationsstellung zur arteriellen Kanülierung immer hinterfragen. Demzufolge können die abgegebenen Empfehlungen von Zentrum zu Zentrum erhebliche Unterschiede aufweisen. Ein arterieller Katheter kann z. B. in folgenden Situationen indiziert sein: 4 instabile Herz-Kreislauf-Funktion, wahrscheinlich ohne Besserung in den nächsten 12 h, 4 Dauerinfusion vasoaktiver Substanzen, 4 Notwendigkeit einer engmaschigen Blutdrucküberwachung, z. B. bei drohender Aneurysmaruptur, 4 Notwendigkeit repetitiver arterieller Blutgasanalysen.
Katheter- und Punktionstechnik Wie bei den venösen Punktionen gilt auch hier, dass sich der Anfänger auf eine Methode beschränken sollte. Das gibt eine gewisse Garantie, innerhalb recht kurzer Zeit zu einer angemessenen Erfahrung mit dieser Methode zu gelangen. Häufig wird eine Über-die-Nadel-Punktionstechnik verwendet. Manchmal sind die arteriellen Gefäße jedoch sklerotisch so verändert, dass der Katheter nicht vorgeschoben werden kann. In diesen Fällen kann mit Seldinger-Technik versucht werden, einen weichen geraden Draht (ohne J-Spitze) durch eine Punktionsnadel in das Gefäß und dann den Katheter über den Draht zu schieben. Bei der A. radialis verwenden wir einen 20-G-, bei der A. femoralis einen 17- oder 18-G-Katheter. A. radialis Die Punktion der A. radialis wird am häufigsten durchgeführt, und zwar sowohl für die Einlage eines Katheters als auch für die einmalige Punktion mit einer Nadel. Über die anatomischen Grundlagen sollte sich der Leser im Detail an anderer Stelle informieren. Entscheidend ist, dass die A. radialis und A. ulnaris je in den arteriellen Bogen in der Handfläche münden. Falls die A. ulna-
4 Beide Arterien (radial und ulnar) werden am Handgelenk abgedrückt. 4 Der Patient öffnet und schließt die Faust so lange, bis die Handfläche abgeblasst ist. 4 Die Hand darf nicht hyperextendiert werden, weil das zu falsch-negativen Resultaten führt. 4 Eine Arterie wird freigegeben und die Zeit gemessen, bis sich die Hand gerötet hat. 4 Vollständige Rötung in weniger als 7 s deutet auf eine normale Funktion des arteriellen Bogens hin, über 14 s ist pathologisch.
Allerdings sind der Stellenwert des Allen-Tests und seine Korrelation zu Durchblutungskomplikationen umstritten; manche Autoren verzichten ganz auf seine Durchführung. Zur Punktion sollte das Handgelenk über eine Rolle hyperextendiert und gut auf der Unterlage befestigt werden. Die weitere Technik ist in . Abb. 15.1 dargestellt. z A. femoralis Die anatomischen Verhältnisse im Leistenbereich sind in . Abb. 15.8 verdeutlicht. Der Zugang über die A. femoralis wird in der Regel dann verwendet, wenn die Punktion der A. radialis technisch nicht möglich ist, ein Durchblutungsproblem besteht oder die Katheter bei Infektionsverdacht gewechselt werden müssen. Beim erweiterten hämodynamischen Monitoring mit dem PiCCO-System ist die A. femoralis der Standardzugang. Meist wird mit SeldingerTechnik punktiert und ein 15–20 cm langer 17- oder 18-G-Katheter eingeführt. Die Punktionstechnik entspricht der beim venösen Zugang. z Andere Lokalisationen Gelegentlich werden die A. brachialis, axillaris oder dorsalis pedis für eine invasive Blutdrucküberwachung verwendet. Die Punktionstechnik ist nicht wesentlich anders als an den beiden beschriebenen Stellen. Für die A. axillaris wird, wie in der Leiste, die SeldingerTechnik angewandt. Am Fußrücken ist oft eine 20-G-Kanüle schon zu groß. Die verwendete 22-G-Kanüle thrombosiert relativ häufig, oder der Katheter knickt ab. Diese alternativen Lokalisationen werden sehr selten verwendet, z. T. wird dann ganz auf die invasive Druckmessung verzichtet, wenn die radiale oder femorale Einlage nicht möglich oder kontraindiziert ist.
Komplikationen Die Häufigkeit von Komplikationen hängt vom Ort der Punktion, der Dicke des Katheters und der Liegedauer ab. Die angegebenen Zahlen schwanken mit 15–40 % erheblich, aber wirklich relevante Komplikationen sind viel seltener. z Thrombosen Thrombosen sind bei Kanülierungen der A. radialis oder A. dorsalis pedis häufiger als bei der A. femoralis. Kontinuierliche Spülsysteme und dünnere Katheter haben aber allgemein zu einer Reduktion
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152
15
Kapitel 15 · Hämodynamisches und respiratorisches Monitoring, intravasale Katheter
Sehne des M. palmaris longus A. ulnaris
15
N. medianus Sehne des M. flexor carpi radialis A. radialis
15 15 15 15 15 15
a
b
d
e
c
15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15
. Abb. 15.1 a Anatomische Verhältnisse am Handgelenk. b Nach Lagerung und Lokalanästhesie wird die A. radialis in einem Winkel von ca. 30–45 ° zur Haut punktiert. c Freier Blutfluss oder freie Aspiration bestätigen die korrekte Lage. Die Nadel wird festgehalten und der Katheter mit drehenden Bewegungen über die Nadel in das Gefäß geschoben. d Anschließend wird die Nadel entfernt. e Beim Vorschieben des Katheters soll der Winkel zwischen Haut und Katheter auf 20–30 ° verringert werden.
dieser Komplikation geführt, wobei ein Heparinzusatz zur Spüllösung nicht nötig ist. Thrombosen scheinen häufig auch erst nach Entfernung der Katheter zu entstehen, klinisch relevante Befunde mit ischämischer Symptomatik der Hand sind jedoch extrem selten. z Luftembolien Zerebrale Luftembolien wurden experimentell beschrieben; es handelt sich dabei um retrograde Luftembolien. Demnach sind arterielle Leitungen an der oberen Extremität besonders gefährlich. Daneben sind die Menge der Luft und die Größe der betroffenen Person entscheidende Risikofaktoren. Bei kleinen Kindern muss deshalb ganz besonders aufgepasst werden. z Infektionen Die Infektion eines arteriellen Katheters ist heute selten. Wichtig ist ein sorgfältiges hygienisches Arbeiten bei Verwendung arterieller Leitungen für die Blutdrucküberwachung. Insbesondere dürfen die Spüllösungen keine Glukose enthalten und sollten alle 24 h ausgewechselt werden. Die arteriellen Blutentnahmen sollten möglichst
patientennah durchgeführt werden. Keinesfalls sollte das Blut durch das gesamte Schlauchsystem bis in den Bereich der Druckkammer aspiriert werden müssen, außer wenn das Schlauchsystem nach 24 h gewechselt wird. Ein regelmäßiges Umfädeln der arteriellen Kanüle über einen Draht zur Infektprophylaxe wird nicht mehr empfohlen, und das Wechseln des Punktionsortes, z. B. alle 7 Tage, ist umstritten. Hingegen wechseln wir die Punktionsstelle bei einer Sepsis mit positiven Blutkulturen; dies erfolgt auch bei einer Infektion der Einstichstelle, da eine bakterielle Arteriitis lebensgefährlich werden kann. Weitere Komplikationen arterieller Katheter sind Pseudoaneurysmata, Hämatome, Blutungen, Neuropathien, periphere Embolien und, sehr selten, auch kritische Durchblutungsstörungen.
Invasive arterielle Druckmessung
z Überwachungssystem Standardmäßig besteht ein System zur kontinuierlichen Blutdrucküberwachung heute aus folgenden Komponenten:
15
153 15.3 · Venenkatheter und zentraler Venendruck
4 geeigneter, arterieller Katheter, 4 flüssigkeitsgefülltes, starres Schlauchsystem mit patientennahem Dreiwegehahn für Blutentnahmen, 4 Druckaufnehmer mit Eichmöglichkeit gegen die Atmosphäre, 4 automatisches Spülsystem, 4 elektronische Druckwandlereinheit. Eine detaillierte technische Darstellung des Systems ist hier nicht möglich. Der interessierte Leser sei auf andere Quellen verwiesen [12]. z Häufige Fehlerquellen Hierzu zählen: 4 falscher Nullabgleich, 4 falscher Nullpunkt der Messkammer, 4 zu geringe Dämpfung durch das Schlauchsystem (Kurve »verschleudert«), 4 zu starke Dämpfung: Abknicken des Schlauchsystems oder der Kanüle, Thrombose, Druckabfall proximal der Katheterspitze bei arterieller Verschlusskrankheit oder disseziierendem Aneurysma, Luft im Schlauchsystem. Eine zu starke Dämpfung bewirkt eine sehr flache Kurve, hier ist – wenn überhaupt – nur der mittlere arterielle Druck verwertbar. Eine zu geringe Dämpfung produziert eine sehr hohe und spitze systolische Kurve, die nach dem Peak einen mehr oder weniger ausgeprägten, momentanen Abfall zeigt.
Kontinuierliche arterielle Blutgasüberwachung In den letzten Jahren wurden immer häufiger kontinuierliche arterielle Messeinheiten angeboten, die eine Bestimmung des pH-Werts sowie des O2-und CO2-Partialdrucks ermöglichen. Die Messung erfolgt mit einer fiberoptischen Technik, es gibt bis heute aber keine Daten, die auch nur annähernd gezeigt hätten, dass diese aufwendigen und teuren Systeme für die Behandlung von kritisch Kranken nützlich wären. Bis auf Weiteres wird der Einsatz dieser Systeme wenigen, seltenen Indikationen vorbehalten bleiben.
15.3
15.3.1
Venenkatheter und zentraler Venendruck Allgemeines
Intensivtherapie ohne intravasale Katheter oder ohne intravasales Monitoring ist heute undenkbar geworden. Jeder Patient benötigt mindestens einen peripheren venösen Zugang, hauptsächlich um Medikamente, Flüssigkeiten und Elektrolyte infundieren zu können. Patienten mit instabilem Kreislauf oder anderen schweren intensivmedizinischen Krankheitsbildern werden mit arteriellen, zentralen oder pulmonalarteriellen Kathetern versorgt. Schließlich werden vereinzelt Katheter im Bulbus der V. jugularis platziert, um Rückschlüsse auf die zerebrale Perfusion zu erhalten. Arterielle und Bulbus-jugularis-Katheter dienen praktisch ausschließlich der Überwachung, während zentrale Katheter regelmäßig auch zur Infusion von hochpotenten Kreislaufmedikamenten und zur parenteralen Ernährung verwendet werden.
15.3.2
Volumensubstitution und periphere Venenkanülierung
Auswahl der Kanüle Eine Volumenersatztherapie mit Kristalloiden, Kolloiden oder Blutersatzprodukten sollte generell über periphere Venenkanülen erfolgen. Zum einen sind periphere Venen schnell und einfach zu punktieren, und zum anderen können kurze und dicke Kanülen verwendet werden. Hierüber lassen sich in kurzer Zeit große Mengen an Flüssigkeiten infundieren, insbesondere, wenn kommerziell erhältliche Druckinfusions- oder Drucktransfusionssysteme verwendet werden. Diese pressen automatisch den Inhalt flüssigkeitsgefüllter Plastikbeutel (Blutprodukte, Kolloide, Kristalloide) über ein spezielles Schlauchsystem und die Kanüle in das Venensystem, wärmen gleichzeitig die Flüssigkeiten an und prüfen auf Luftblasen. Es sind auch sehr dicke Katheter (Außendurchmesser 7–8,5 F; . Tab. 15.1) erhältlich, die in Seldinger-Technik durch eine 1,2 mm dicke Kanüle eingeführt werden können. Immer ist zu bedenken, dass die Infusionsgeschwindigkeit vom kleinsten Lumen in der Strecke und der Gesamtschlauchlänge abhängt. Ein dünnlumiger Dreiwegehahn an einem dicken Katheter oder überlange Infusionsschläuche und Katheter machen eine schnelle Volumensubstitution unmöglich (. Tab. 15.2).
. Tab. 15.1 Maßeinheiten intravasaler Katheter (Außendurchmesser) French [F]
[mm]
Gauge [G]
[mm]
3
1
20
0,90
4
1,35
19
1,08
5
1,67
18
1,26
6
2
17
1,49
7
2,3
16
1,67
8
2,7
15
1,85
9
3,0
14
2,13
10
3,3
13
2,44
. Tab. 15.2 Durchflussraten durch gleich dicke Katheter (14 G; 2 mm Außendurchmesser) verschiedener Länge Länge [cm]
Durchfluss (ml/ min bei 1 m Höhe)
Zeitbedarf [min] für die Infusion von 1 I Flüssigkeit
4,5
300
3,3
5,2
260
3,8
10
80
12,5
15
68
14,7
20
65
15,4
30
50
20
Die angegebenen Zahlen sind verschiedenen Herstellerprospekten entnommen. Die Durchflussraten können je nach Innendurchmesser des Katheters bei gleicher Gauge-Zahl schwanken.
154
15 15 15 15 15
Als Punktionsorte kommen neben allen Venen an den Armen auch die V. saphena magna in der medialen Fußknöchelregion und die V. jugularis externa in Frage. Punktionen im Bereich von Gelenken haben den Nachteil, dass der Infusionsfluss durch eine Beugung im Gelenk behindert werden kann. Nach Punktion der V. jugularis externa muss der Kopf häufig zur Gegenseite gedreht werden, um ein Anliegen der Katheterspitze an der Venenwand zu verhindern. Wegen des gebogenen Verlaufes der V. jugularis externa sieht man gelegentlich eine sekundäre Perforation der Katheterspitze mit subkutaner Infusion, besonders wenn die Infusion unter Druck steht. Daher sollten Infusionen unter Druck über die V. jugularis externa nur unter direkter Sichtkontrolle erfolgen.
Komplikationen
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Neben subkutaner Infusion nach sekundärer Perforation der Katheterspitze sind lokale Reizsymptome und Phlebitiden die häufigsten und wichtigsten Komplikationen peripherer Katheter. Ursachen für diese lokalen Reizsymptome können die Infusion von hypotonen oder hypertonen Lösungen, die Injektion von sauren oder basischen Medikamenten und – allerdings umstritten – die Liegedauer sein [4]. Daneben spielen die aseptische Punktionstechnik und eine sorgfältige Katheterpflege entscheidende Rollen (. Abb. 15.2 [23]). Schließlich konnte auch gezeigt werden, dass die Materialien, aus denen die Katheter gefertigt sind, einen Einfluss auf die Häufigkeit von lokalen Reizsymptomen haben. Silikon hat sich im Gegensatz zu Teflon als gewebeverträglicher erwiesen. Unter diesen Gesichtspunkten schwanken die angegebenen Häufigkeiten von Thrombophlebitiden zwischen 50 %. Lebensbedrohliche Komplikationen wie bakterielle Thrombophlebitiden mit Sepsis sind selten und können durch sorgfältige Pflege und Überwachung der Katheter vermieden werden [23].
15
15.3.3
15 15 15 15 15 15
15 15
Zentrale Venenkatheter
Der zentrale Venenkatheter ist ein integraler Bestandteil der heutigen Intensivtherapie. Fertigkeiten in Punktionstechniken und Kenntnisse der Komplikationen, Indikationen und Limitationen von zentralen Kathetern sind deshalb wichtige Lerninhalte in der Ausbildung von Intensivmedizinern.
15 15 15 15
Idealer Punktionsort Bis heute wird der ideale Punktionsort für eine zentrale Vene kontrovers diskutiert, und wie so oft führt diese Unsicherheit zu einer Vielzahl von Empfehlungen. Im Folgenden werden mögliche Zugangswege dargestellt, jedoch können andere Methoden völlig gleichwertig sein. Entscheidend ist letztlich das atraumatische, schnelle und effiziente Einführen des Katheters.
15 15 15 15 15
35
Punktionsort
p < 0,001
30
Abteilungspersonal Spezialteam
25 20 %
15
Kapitel 15 · Hämodynamisches und respiratorisches Monitoring, intravasale Katheter
15 10 5
p < 0,025
0 lokale Symptome
Phlebitis
Induration
schwere Phlebitis
. Abb. 15.2 Die Pflege von peripheren Kathetern durch ein spezialisiertes Team führt, verglichen mit dem normalen Abteilungspersonal, zu einer deutlichen und signifikanten Verringerung der Häufigkeit von Phlebitiden. Damit wurde gezeigt, dass durch sorgfältige Beobachtung und Betreuung der Einstichstellen die Komplikationsrate der peripheren Katheter gesenkt werden kann
und subjektive Gesichtspunkte, die in Relation zum individuellen Risiko des Patienten gesetzt werden müssen. Indikationen für zentralvenöse Venenkatheter können u. a. sein: 4 Infusion von vasoaktiven Substanzen, 4 Infusion von irritablen Substanzen (z. B. Kaliumchlorid oder parenterale Ernährungslösungen), 4 Überwachung des zentralvenösen Drucks, 4 parenterale Ernährung, 4 transvenöse Schrittmachertherapie, 4 notfallmäßige Hämodialyse oder Hämofiltration, 4 Unmöglichkeit, eine periphere Vene zu punktieren, 4 Operationen am Schädel in halbsitzender Position (Luftembolie). Die reine Flüssigkeitstherapie ist nur selten eine Indikation für zentrale Venenkatheter. In der Regel ist die Infusionsgeschwindigkeit über zentrale Katheter deutlich langsamer als über kurze periphere Kanülen. Im Notfall jedoch können über zentrale Hämodialysekatheter oder Schleusen sehr schnell größte Mengen an Flüssigkeiten infundiert werden. Punktionen mit diesen Kathetern sollten aber dem Geübten überlassen bleiben.
Kathetertypen Es gibt mehrere Möglichkeiten, Katheter einzuteilen und damit verschiedene Typen zu unterscheiden. Die wichtigsten Kriterien für eine Kathetereinteilung sind: 4 Punktionstechnik, 4 Anzahl der Lumina, 4 Material inklusive möglicher Spezialbeschichtungen.
Indikationen
Punktionstechniken
Die Popularität der zentralen Venenkatheter hat in den letzten Jahren nicht nur auf Intensivstationen erheblich zugenommen. Entsprechend werden die Indikationen immer weiter gefasst, und die prophylaktische Einlage eines zentralen Katheters für eine Therapie in näherer Zukunft ist nichts Ungewöhnliches mehr. Alle verantwortlichen Ärzte sollten sich jedoch bewusst sein, dass lebensbedrohliche Komplikationen dieser Katheter zwar sehr selten sind, dass aber nur eine harte Indikation ihr mögliches Auftreten bei einem Patienten rechtfertigen kann. Jede Indikation enthält objektive
Seldinger-Technik. Dies ist heute die Standardmethode für die Punktion von zentralen Venen, häufig von Arterien und bisweilen sogar von peripheren Venen mit dicken Kanülen. Das Prinzip der Methode besteht darin, eine Nadel in ein Blutgefäß zu platzieren, dann einen Draht durch die Nadel an den Zielort vorzuschieben, die Nadel zu entfernen und schließlich den Katheter über den Draht einzuführen (. Abb. 15.3).
155 15.3 · Venenkatheter und zentraler Venendruck
a
b
Nadel entfernen
c
d
Draht
Katheter
e
f
. Abb. 15.3a–e. a Zentrale Venenpunktion mit einer Nadel und aufgesetzter Spritze. Die Spitze der Nadel muss genügend weit in der Vene liegen (1 cm). Oft ist eine Aspiration von Blut erst beim langsamen Zurückziehen der Nadel möglich, weil das Venenlumen durch die Nadel verlegt wurde oder das Nadellumen an der Venenwand anliegt. Für alle heikleren Punktionen empfiehlt sich eine Lokalisationspunktion mit einer kurzen, dünnen, z. B. 23-G-Nadel. b, c Einführen des Drahtes in die Vene (Draht mit J-förmiger Spitze für Venen, gerade und weiche Spitze für Arterien). Der Draht muss ganz leicht in die Vene gleiten. Wenn nach 5–10 cm ein Widerstand auftritt, muss damit gerechnet werden, dass der Draht paravenös liegt. d Zurückziehen und Entfernen der Nadel. e Je nach Dicke des definitiven Katheters muss die Haut entlang des Drahtes mit einem Stichskalpell inzidiert und mit einem Dilatator aufgedehnt werden. f Einführen des Katheters über den Draht
Anzahl der Lumina Zentrale Venenkatheter mit mehreren Lumina (»Mehr- oder Multilumenkatheter«) sind in der Intensivtherapie Standard. Dies hat folgende Gründe: Medikamente können untereinander und in Kombination mit der parenteralen Ernährung inkompatibel sein, was v. a. zu einem Wirkverlust, aber auch zum Ausfällen der Lösungen führen kann. Weiterhin ermöglichen es mehrere Lumina, die Infusionsgeschwindigkeiten unabhängig voneinander zu variieren. Heute werden Katheter mit bis zu 7 Lumina angeboten.
Ob Mehrlumenkatheter öfter zu katheterassoziierten Infektionen führen als Einlumenkatheter, ist umstritten [15].
Material Katheter werden heute am häufigsten aus Teflon, Silikon oder Polyurethan hergestellt. Diese Stoffe sind chemisch relativ inert und nicht thrombogen. Teflon ist ein hartes Material, daher ist das Einführen in Gefäße etwas einfacher. Polyurethan und Silikon sind sehr weich und flexibel, sodass eine transdermale Platzierung ohne Seldinger-Technik fast unmöglich ist; dafür wird die sekundäre Per-
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15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15
Kapitel 15 · Hämodynamisches und respiratorisches Monitoring, intravasale Katheter
kranial
foration der Katheterspitze durch die Venenwand unwahrscheinlicher. Viele Katheter enthalten zusätzlich einen bestimmten Anteil an Schwermetallen wie Barium oder Wismut, um die Darstellung im Röntgenbild zu erleichtern. z Beschichtete Katheter Die neuen Katheterentwicklungen zielen darauf ab, die Katheter mit geeigneten Stoffen so zu überziehen, dass einerseits ihre Thrombogenität und andererseits die Infekthäufigkeit herabgesetzt werden. So konnte gezeigt werden, dass Katheter, die mit Silbersulfadiazin und Chlorhexidin imprägniert sind, eine um 50 % geringere Infekthäufigkeit aufweisen können. Die Beschichtung der Katheter mit Antibiotika (z. B. Teicoplanin) scheint dagegen nur kurze Zeit wirksam zu sein, weil schon 36 h nach Einführen kein Antibiotikum mehr auf dem Katheter nachgewiesen werden konnte. Schließlich konnte gezeigt werden, dass eine Heparinbeschichtung die Bakterienadhärenz in vitro und die Häufigkeit von Bakteriämien oder Fungämien in vivo reduzieren kann. Aufgrund der Datenlage kann jedoch bis heute keine Empfehlung für den einen oder anderen beschichteten Spezialkatheter gegeben werden.
V. basilica V. cephalica
lateral
medial
Punktionsorte und Punktionstechnik In jedem der zahlreichen Lehrbücher, die sich mit der Punktion von zentralen Venen beschäftigen, findet man eine andere Gewichtung bezüglich des idealen Punktionsorts und der angemessenen Punktionstechnik bei einem bestimmten Patienten. Auf diese Weise wird es für den Anfänger schwierig zu entscheiden, welchen Punktionsort und welche Technik er wählen soll. Letztlich wird es so sein, dass verschiedene Varianten möglich sind, ohne dass sicher gesagt werden kann, welche die beste gewesen wäre. Die hier beschriebenen Techniken erheben deshalb keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern zeigen, welche Methoden sich in unseren Augen bewährt haben. Das zentrale Venensystem ist durch folgende Zugänge erreichbar: 4 V. basilica 4 V. jugularis externa, 4 V. jugularis interna, 4 V. subclavia, 4 V. femoralis. Jeder dieser Zugänge hat objektive und subjektive Vor- und Nachteile. Es kommt hinzu, dass jede dieser Venen mit verschiedenen Techniken punktiert werden kann. Generell ist zu fordern, dass für jeden Patienten der schonendste und ungefährlichste Zugang zu wählen ist. Dabei spielt auch die Erfahrung und Übung des Ausführenden eine entscheidende Rolle. Wie bei allen manuellen Tätigkeiten tragen auch vollständige und den Verhältnissen angepasste Vorbereitungen zum Gelingen des Unternehmens bei: 4 Kenntnisse über Anatomie, Ablauf der Punktion, Material, 4 Patientenvorbereitung: Aufklärung, Lagerung (Kopftieflage, damit die Halsvenen gefüllt sind!), Landmarken einzeichnen, 4 Punktion: steriles Arbeiten (Desinfektion, Abdecken, Mundschutz, Handschuhe), vollständiges Material, evtl. Lokalanästhesie. z V. basilica Die Punktion der Armvenen ist sicher und mit sehr wenigen schwerwiegenden Komplikationen behaftet. Die V. basilica wird in der medialen Armbeuge gefunden und punktiert (. Abb. 15.4). Die Punktion wird wesentlich erleichtert, wenn der Arm im Ellbogengelenk vollständig gestreckt oder sogar überstreckt gelagert wird.
kaudal
. Abb. 15.4 Punktion der V. basilica in der linken Ellenbeuge
Der Verlauf der lateral gelegenen V. cephalica ist eher ungünstig, weil diese in einem stumpfen Winkel in die V. axillaris einmündet und hier häufig nicht gut vorgeschoben werden kann. Auf keinen Fall darf beim Vorschieben Gewalt angewendet werden, weil sonst die Gefahr einer Perforation der Katheterspitze durch die Gefäßwand besteht. Eine intravasale Lage der Katheterspitze darf nur angenommen werden, wenn sich Blut leicht aspirieren lässt. Prinzipiell ist jeder Kathetertyp (inklusive Pulmonalarterienkatheter) über diesen Zugang verwendbar. Man sollte jedoch bedenken, dass Bewegungen des punktierten Arms die Katheterspitze um mehrere Zentimeter wandern lassen können, sodass Herzrhythmusstörungen oder sogar eine Perforation hervorgerufen werden können. Für die meisten Anwendungen genügt ein Vorschieben des Katheters bis in die V. subclavia. Der zentralvenöse Druck kann dort reproduzierbar und genau überwacht werden. Erfolgsrate. Die Punktion ist in der Regel einfach. Die A. brachi-
alis befindet sich allerdings in unmittelbarer Nähe zur V. basilica, und akzidentelle Punktionen der Arterie kommen immer wieder vor. Eine zentrale Plazierung des Katheters gelingt in etwa 70 % der Fälle. Komplikationen. Die häufigste Komplikation ist die Thrombophlebitis. Sie tritt bei bis zu 10 % der Patienten auf und kann sich auf die V. subclavia und jugularis interna ausbreiten. Perforationen des rechten Vorhofes mit Entwicklung einer Herztamponade wurden auf die Migration der Katheterspitze bei Armbewegungen zurückgeführt [31]; es sind jedoch auch subkutane Infusionen im Bereich des Oberarms und in der Klavikulagegend sowie Infusionen direkt in den Pleuraraum beschrieben worden. Falls eine akzidentelle Punktion der A. brachialis mit der oft dicken (14 G) Einführnadel
157 15.3 · Venenkatheter und zentraler Venendruck
stattgefunden hat, muss die Punktionsstelle mindestens 10 min direkt komprimiert und anschließend mit einem Druckverband versorgt werden. Empfehlungen. Dieser Zugang eignet sich für zentrale Katheter,
die eine nur kurze Liegedauer bei einem weitgehend immobilen Patienten haben sollen, z. B. intraoperativ und wenige Stunden postoperativ. Außerdem kann es von Vorteil sein, bei der Punktion keine Trendelenburg-Lagerung durchführen zu müssen. Schließlich können die anatomischen Verhältnisse am Hals des Patienten so ungünstig sein, dass eine einfache Punktion am Arm vorteilhaft erscheint, insbesondere wenn die Blutgerinnung gestört ist. Letztlich ist die V. basilica der beste Zugang zum zentralen Venensystem für den ungeübten Arzt, dem keine ausreichende Supervision zur Verfügung steht. z V. jugularis externa Die Punktion der V. jugularis externa erlaubt es auf einfache Weise, vom Kopf her in das zentrale Venensystem zu gelangen. In Kopftieflage wird durch ein Valsalva-Manöver oder durch Fingerdruck oberhalb der Klavikula der Verlauf der Vene quer über den M. sternocleidomastoideus sichtbar (. Abb. 15.5a). Der Kopf wird leicht zur Gegenseite gedreht und der Hals nach hinten überstreckt. Dann wird zuerst die Haut und anschließend vorsichtig die Vorderwand der Vene punktiert (. Abb. 15.5b). Die Aspiration erfolgt mit wenig Sog, um die Vene nicht kollabieren zu lassen. Über die Nadel kann entweder eine kurze Venenkanüle oder ein an der Spitze Jförmig vorgefertigter Seldinger-Draht eingeführt werden.
Sternocleidomastoideus Klavikula
Erfolgsrate. In etwa 80 % der Fälle ist die Katheteranlage erfolgreich. 10 % der Misserfolge beruhen auf missglückten Punktionen, in weiteren 10 % kann der Draht nicht zentralwärts vorgeschoben werden. Ohne J-Draht erreicht ein langer Katheter nur in 50–70 % die V. cava superior [2]. Komplikationen. Dank der oberflächlichen Lage dieser Vene sind
schwerwiegende Komplikationen selten. Vorsicht ist geboten beim Einführen von kurzen, harten und dicken Kathetern, über die zudem mit Druck viel Volumen infundiert werden soll. Die Vene kann auch nach erfolgreicher Platzierung des Katheters sekundär perforiert werden. Unbemerkt besteht die Gefahr, große Mengen von Flüssigkeit in die Halsgewebe zu infundieren. Die Punktionsstelle sollte deshalb genau überwacht werden. Natürlich kann auch der J-Draht die Vene perforieren. Blut muss deshalb jederzeit aus dem Katheter aspirierbar sein. Oft muss bei kurzen Venenkanülen am Hals der Kopf zur Gegenseite gedreht werden, weil sonst die Spitze im Bereich der Klavikula an der Venenwand anstößt. Empfehlungen. Erfolgreich durchgeführt ist die Punktion der
V. jugularis externa eine elegante Alternative zur V. jugularis interna oder V. subclavia. Ähnlich wie bei der V. basilica empfielt sich dieser Zugang für Anfänger oder bei Patienten, bei denen andere zentrale Zugänge relativ kontraindiziert sind, z. B. bei Gerinnungsstörungen. In Notsituationen lassen sich über kurze Katheter in dieser Vene schnell größte Mengen an Volumen infundieren. z V. jugularis interna Dieser Zugang wird auf Intensivstationen sehr häufig verwendet. Es gibt für die Orientierung auf der Haut einige Landmarken, die bei den meisten Patienten identifizierbar sind. Um diese Landmarken herum werden verschiedene Punktionsorte empfohlen. Es gibt kein Patentrezept, dem Lernenden sei aber empfohlen, sich bei jedem Patienten den Verlauf der Vene unter der Haut genau vorzustellen und sich auf einen oder höchstens 2 Punktionsorte zu beschränken.
V. jugularis externa
jugulärer Ansatz des M. sternocleidomastoideus V. jugularis interna a
klavikulärer Ansatz des M. sternocleidomastoideus Klavikula A. carotis
V. jugularis externa
b . Abb. 15.5a, b. Lokalisation (a) und Punktion (b) der rechten V. jugularis externa
. Abb. 15.6 Lokalisation und Punktion der rechten V. jugularis interna
15
158
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Kapitel 15 · Hämodynamisches und respiratorisches Monitoring, intravasale Katheter
Anatomie. Die Vene entspringt an der Schädelbasis zwischen Kie-
ferwinkel und Mastoid und verläuft dann unter dem M. sternocleidomastoideus in Richtung der medialen Klavikula (. Abb. 15.6). Die A. carotis liegt medial der V. jugularis interna, wobei sich allerdings diese Lageverhältnisse durch Drehung des Kopfes verändern. Die Drehung des Kopfes zur Gegenseite, wie sie oft bei der Punktion der V. jugularis interna praktiziert wird, bringt die Vene leicht vor die Arterie, sodass die Arterie akzidentell durch die Vene punktiert werden kann. Auf Höhe des Zungenbeins liegt die Vene gerade medial des M. sternocleidomastoideus, verschwindet dann darunter, um auf Höhe des Thyroids im Dreieck zu erscheinen, das vom sternalen und klavikulären Muskelbauch des M. sternocleidomastoideus und der Klavikula gebildet wird. Punktionstechnik. Der ideale Ort für die Punktion liegt im beschriebenen Dreieck. Der Patient befindet sich in Kopftieflage, der Kopf wird nach hinten überstreckt und etwa 15–30 ° zur Gegenseite gedreht. Man steht am Kopf des Patienten und sticht von der Spitze des Dreiecks oder wenig darunter mit 30–45 ° Neigung zur Haut kaudal in die Tiefe. Die Vene befindet sich in der Regel 1–3 cm unter der Haut. Die Vene kann prinzipiell auch auf ihrem restlichen Verlauf am Hals punktiert werden. Die Lage der A. carotis muss jedoch in jedem Fall genau eruiert werden. > Von Punktionen durch den M. sternocleidomastoideus ist abzuraten: Sie sind schmerzhaft und mit dicken Kathetern und Nadeln sehr schwierig. Je kaudaler im Verlauf der Vene die Punktion ausgeführt wird, desto höher wird die Gefahr einer Pleurapunktion.
zum Herzen am ehesten geradlinig verläuft und so die Gefahr einer Katheterfehllage oder intraluminalen Gefäßverletzung am geringsten ist. Der Katheter wird dann beim Erwachsenen üblicherweise 14–15 cm weit vorgeschoben. Obwohl schwerwiegende Komplikationen selten sind, sollte die Punktion von erfahrenen Ärzten oder unter entsprechender Supervision stattfinden. Ferner ist zu bedenken, dass der Katheter am Hals von wachen Patienten als unangenehm empfunden werden kann. z V. subclavia Der Zugang zur V. subclavia kann supra- oder infraklavikulär erfolgen. Der Patient wird in Kopftieflage gebracht, wobei eine Tuchrolle entlang der thorakalen Wirbelsäule die Punktion deutlich erleichtern kann. Infraklavikulärer Zugang. Meist wird der infraklavikuläre Zugangsweg gewählt. Die Nadel durchsticht die Haut etwa in der Medioklavikularlinie, 2–3 cm kaudal der Klavikula. Die Nadel wird zunächst auf die Klavikula und dann Millimeter um Millimeter nach dorsal bewegt, bis sie zwischen Klavikula und 1. Rippe eindringt. Von dieser koronaren Ebene sollte die Nadel nicht weiter nach dorsal abweichen, sondern exakt nach medial in Richtung des Jugulums vorgeschoben werden. Dabei darf der Kontakt der Nadel mit der Klavikula nicht verloren gehen (. Abb. 15.7). Meist ist ein leichtes »Plopp« beim Eindringen der Nadel in die Vene spürbar.
15 15 15 15 15 15 15 15 15 15
Erfolgsrate. Es kann in über 90 % der Fälle mit einer erfolgreichen
Punktion gerechnet werden. In besonders schwierigen Fällen kann die Lokalisation der Vene mittels Ultraschall hilfreich sein. Komplikationen. Die Häufigkeit von Komplikationen liegt bei
etwa 2 %, wobei diese Rate erheblich von der Erfahrung und der Geschicklichkeit des Ausführenden abhängt. Hierbei ist die Punktion der A. carotis interna mit etwa 80–90 % Anteil die mit Abstand häufigste Komplikation. Sie kann vom Hämatom bis zur Obstruktion der oberen Luftwege führen, besonders bei Blutgerinnungsstörungen oder wenn sehr großlumige Katheter in das Gefäß vorgeschoben werden. Glücklicherweise ist jedoch die arterielle Punktion in der Regel ohne Folgen für den Patienten.
V. jugularis externa M. sternocleido mastoideus
a
Vorgehen bei versehentlicher arterieller Punktion 4 A. carotis 3–5 min lang komprimieren (nicht abdrücken!). 4 Bei erheblicher Einblutung mit Gefahr der Atemwegobstruktion Intubation erwägen. 4 Bei Blutgerinnungsstörung Gerinnungssubstitution erwägen. 4 Evtl. Gefäßchirurgen hinzuziehen.
Stichrichtung supra klavikulärer Zugang
15 15
Erste Rippe V. subclavia
15 15
V. jugularis interna
Klavikula
Stichrichtung Jugulum
Ein Pneumothorax nach Punktion der V. jugularis interna ist zwar selten, kann aber bei kaudaler Punktion auftreten.
b
z Empfehlung Die Punktion der V. jugularis interna hat sich für das Einführen von zentralen Venenkathetern, Pulmonalarterienkathetern oder transvenösen Schrittmachersonden bewährt. Im Routinefall sollte die rechtsseitige Punktion bevorzugt werden, da hierbei der Weg
. Abb. 15.7a, b. Punktion der V. subclavia. a Anteriorer Blickwinkel. Mit der Nadel sucht und hält man Knochenkontakt zur Klavikula. b Anterolateraler Blickwinkel: Die Nadel wird Richtung Jugulum zwischen 1. Rippe und Klavikula durchgeführt. Der Pfeil zeigt die Stichrichtung für den supraklavikulären Zugang dorsal des klavikulären Ansatzes des M. sternocleidomastoideus
159 15.3 · Venenkatheter und zentraler Venendruck
Leistenband
V. femoralis A. femoralis V. femoralis
A. femoralis
a
b
. Abb. 15.8a, b. a Lokalisation von A. und V. femoralis in der Leiste (Merke: IVAN Innen, Vene, Arterie, Nerv). b Punktion der rechten V. femoralis in der Leiste. Die Vene verläuft unter dem Leistenband hindurch
Empfehlungen. Die rechtsseitige Punktion sollte bevorzugt wer-
den, da die Pleuraspitze hier etwas tiefer liegt und der Ductus thoracicus linksthorakal verläuft. Die Punktion der V. subclavia kann mit erheblichen Komplikationen verbunden sein. Aus diesem Grund muss das Erlernen der Punktion unter kompetenter Anleitung und Supervision stattfinden. Für den Patienten ist die Lage der Punktionsstelle angenehmer als andere Stellen, auch ist die Pflege des Gefäßzugangs beim Intensivpatienten einfacher und möglicherweise mit einer geringeren Katheterinfektionsrate verbunden. Die etwas höhere Komplikationsrate, die schlechtere Erfolgsrate und die häufigere Fehllage der Katheterspitze im Vergleich zur V. jugularis interna verlangen jedoch ein sorgfältiges Abwägen im Einzelfall. z V. femoralis Die V. femoralis ist einfach zu punktieren: 2–3 cm unterhalb des Leistenbandes findet man die V. femoralis 1–2 cm medial der A. femoralis (. Abb. 15.8). Die Vene verläuft in kraniokaudaler Richtung, und entsprechend muss die Nadel für die Punktion geführt werden. Erfolgsrate. Auch in den Händen von wenig Erfahrenen hat die
Supraklavikulärer Zugang. Die entscheidende Landmarke für den
supraklavikulären Zugang ist der klavikuläre Ansatz des M. sternocleidomastoideus. Die Nadel dringt oberhalb der Klavikula durch die Haut und passiert den erwähnten Muskelansatz dorsal mit Stichrichtung auf die kontralaterale Brustwarze. Die Vene liegt in etwa 3 cm Tiefe. Erfolgsrate. Es kann mit einer Erfolgsrate von 80–90 % gerechnet werden. Misserfolge beruhen einerseits auf dem Nichtfinden der Vene und andererseits auf dem Unvermögen, den Katheter oder den Führungsdraht vorzuschieben [9]. Eine Fehllage der Katheterspitze ist in etwa 10 % der erfolgreichen Punktionen zu erwarten. Sie scheint beim infraklavikulären Zugang häufiger zu sein. Komplikationen. Noch viel stärker als bei der Punktion der V. ju-
gularis interna ist die Häufigkeit und Schwere von Komplikationen von der Erfahrung des Ausführenden abhängig. Die Inzidenz schwerer Zwischenfälle bewegt sich zwischen 1 und 3 %, bei einer Gesamtinzidenz von etwa 5 % [9]. Der Pneumothorax macht bis zur Hälfte dieser Komplikationen aus, wobei die Inzidenz beim Unerfahrenen 3–5 % und beim Erfahrenen unter 0,5 % liegt. ! Cave Der Pneumothorax ist die wichtigste Komplikation einer V.-subclavia-Punktion, daher sollte anschließend immer ein Thoraxröntgenbild angefertigt werden. Etwa die Hälfte der Fälle kann konservativ behandelt werden, jedoch ist eine entsprechende Überwachung insbesondere der nichtdrainierten Patienten anzuraten.
Zu den seltenen Komplikationen gehören Spannungspneumothorax, Hämatothorax, Infusionsthorax oder die subkutane Emphysembildung. Wegen des Risikos eines beidseitigen Pneumothorax mit akuter Gefährdung des Patienten sollte eine V.-subclavia-Punktion der Gegenseite nach missglückter Punktion auf der anderen Seite nur im Ausnahmefall und dann nur von einem erfahrenen Arzt durchgeführt werden. Die Punktion der A. subclavia kommt mit einer Inzidenz von etwa 1 % vor. In der Regel kann sie durch Kompression ober- und unterhalb der Klavikula behandelt werden. Bei Patienten mit Gerinnungsstörungen ist die Gefahr einer massiven Blutung gegeben.
Punktion der V. femoralis eine Erfolgsrate von über 90 %. Ungeübte mögen zwar mehrere Versuche benötigen, dies scheint jedoch keinen Einfluss auf die abschließende Erfolgsrate zu haben. Komplikationen. Die einzig wirklich wichtige Komplikation ist die
akzidentelle Punktion der A. femoralis. Sie kommt in bis zu 10 % der Fälle vor [30]. Dank der anatomischen Gegebenheiten lassen sich die negativen Auswirkungen dieser Komplikation einfach durch einen 10-minütigen Druck auf die Arterie beherrschen. Schließlich ist die Punktion der A. femoralis Routine für viele interventionelle und diagnostische radiologische Untersuchungen, für arterielles Druckmonitoring oder für die intraaortale Ballongegenpulsation. Es gibt keine eindeutigen Hinweise auf gehäufte Infekte im Bereich von Femoralkathetern im Vergleich mit anderen Kathetern in großen Venen oder Arterien [30]. Die gefürchtetste Komplikation, die nach Untersuchungen aus den 1950-er Jahren zur Verbannung des Femoralvenenkatheters geführt hatte, ist die Entwicklung von Thrombosen und Embolien. Bei Verwendung der neuen Kathetermaterialien scheint sich heute aber abzuzeichnen, dass Femoralvenenkatheter nicht häufiger zu thomboembolischen Komplikationen führen als Venenkatheter an anderen Stellen. Empfehlung. Die V. femoralis lässt sich auch durch Unerfahrene
schnell und einfach punktieren. Unmittelbare, schwere Komplikationen in Verbindung mit der Punktion sind selten, und die Vermutung, Katheterinfektionen und Thrombosen seien bei dieser Lokalisation häufiger, lässt sich durch neuere Untersuchungen nicht bestätigen. Daraus folgt, dass der femoralvenöse Zugang für alle Notfallsituationen, bei Punktionen durch unerfahrene Ärzte oder bei Kontraindikationen für andere Punktionsstellen zu empfehlen ist. Einschränkend sei erwähnt, dass die Beweglichkeit der punktierten Beinseite eingeschränkt ist. Unruhige und unkooperative Patienten, die trotz liegendem Katheter dauernde Bewegungen im Hüftgelenk ausführen, sind für diesen venösen Zugang wenig geeignet.
Allgemeine Probleme und Komplikationen Die folgenden Abschnitte behandeln Probleme, die für alle venösen Punktionsstellen gleichermaßen gelten. Wo nötig, werden Einzelaspekte der verschiedenen Katheterlokalisationen speziell hervorgehoben.
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160
15
Kapitel 15 · Hämodynamisches und respiratorisches Monitoring, intravasale Katheter
. Tab. 15.3 Risikofaktoren für die Entstehung von Katheterinfekten. Relevante Beispiele sind in Klammern angegeben. (Nach [2])
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Risikofaktoren Patient
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Katheter
5 Lebensalter (Säuglinge, sehr alte Patienten) 5 Immunalteration (Trauma, Operation, Verbrennung, Sucht) 5 Immunsuppression (Kortikosteroide, Immunsuppressiva, Transplantation) 5 »Haus-« und Abteilungsflora, Resistenzlage (methicillinresistente Staphylokokken) 5 Material (PVC) 5 Kathetertyp (Pulmonalarterienkatheter) 5 Zugangsweg (V. jugularis interna und Tracheostoma) 5 Punktionstechnik (ungenügende Sterilität) 5 Katheterverband (Plastikfolien) 5 Verweildauer (>7 Tage)
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z Infektion Die katheterassoziierte Infektion ist die häufigste und wichtigste Komplikation zentraler Venenkatheter. Man muss damit rechnen, dass jeder 4. Katheter kolonisiert ist, und dass jeder 10. Katheter zu einer klinisch relevanten Infektion führt. Man konnte zeigen, dass in Europa über 20 % aller Intensivpatienten an einer nosokomialen, während des Intensivaufenthalts entstandenen Infektion leiden, davon 12 % mit positiven Blutkulturen [27]. Die intravasalen Katheter sind zudem ein besonders wichtiger Risikofaktor für Septikämien mit einer Mortalität von 12–80 % [18]. Mannigfaltige Ursachen und Einflüsse können katheterassoziierte Infekte fördern. Entsprechend ist eine Fülle von klinischen Untersuchungen vorhanden, die in ihrer Gesamtheit eher verwirren als klären. Ganz entscheidend für das Risiko einer Katheterinfektion auf der Intensivstation sind die Dauer des Aufenthaltes und die Liegedauer des Katheters. Der interessierte Leser sei hierzu auf ausgezeichnete Übersichtsartikel verwiesen. Neben ätiologischen und pathogenetischen Faktoren spielen Risikofaktoren eine große Rolle für die Entstehung derartiger Infektionen. Diese sind in . Tab. 15.3 zusammengefasst. ! Cave Katheterinfektionen bei Intensivpatienten sind häufig und haben eine hohe Letalität.
Deshalb sind die rechtzeitige Diagnose und Therapie wichtig. Leider sind die klinischen Zeichen unspezifisch und die Diagnose deshalb schwierig. Im Zweifelsfall muss der zentrale Katheter entfernt werden. Ganz verfehlt wäre es aber, deswegen den Katheterinfekt als quasi unvermeidbares Schicksal zu akzeptieren. Denn während die Einführung der beschichteten Katheter bei Risikopatienten zu einer Reduktion der katheterassoziierten Infekte führen kann, ist der Routinegebrauch auch aus Kostengründen weiter umstritten. Dagegen wurde in mehreren großen Studien gezeigt, dass die Einführung von Schulungsprogrammen über die aseptische Punktionstechnik und Schutzmaßnahmen sowie die korrekte Pflege von zentralen Kathetern zu einer Reduktion von Infekten führen. Diese Programme können in Empfehlungen oder Richtlinien für den Umgang mit zentralen Kathetern münden und sind für jede Klinik empfehlenswert [10].
z Luft- und Katheterembolien Diese Komplikationen sind selten. Luftembolien kommen z. B. bei Einlage des Katheters vor, wenn die Kopftieflage aufgehoben wird und der Katheter nicht verschlossen ist. Wird das Problem nicht schnell erkannt, kann dies tödlich enden [16]. Außerdem können Luftembolien auch jederzeit durch akzidentelle Öffnung eines zentralen Infusionssystems entstehen. z Gerinnungsstörungen Die Einlage von zentralen Kathetern bei Gerinnungsstörungen sollte dem Erfahrenen vorbehalten bleiben. In der Regel wird man die Indikation so restriktiv wie möglich stellen und, wenn immer möglich, auf einen peripheren Katheter ausweichen. Falls ein zentraler Katheter unabdingbar erforderlich ist, bieten sich die V. basilica und die V. jugularis externa an, weil ein Kompressionsverband an diesen Stellen leicht anzulegen ist und weil eine Blutung nicht unbemerkt abläuft. Weiter kann – auch abhängig von der Indikation und Schwere der Gerinnungsstörung – eine Punktion der V. femoralis oder der V. jugularis interna erwogen werden. Der Zugang über die V. subclavia sollte nur im äußersten Notfall verwendet werden. z Thrombosen Thrombotische Veränderungen sind mit 10–30 % aller Katheter häufig, aber selten von klinischer Relevanz. Bei bis zu 3 % der Patienten kommt es jedoch zu klinischen Symptomen. Das Kathetermaterial beeinflusst die Thrombogenität. Es scheint, dass sich hydromerbeschichtetes Polyurethan am günstigsten verhält. Auch Silikonkatheter sind sehr wenig thrombogen, jedoch so weich, dass sie chirurgisch platziert werden müssen. Bei Punktionen an der oberen Extremität oder am Hals ist das klinische Zeichen der Thrombose die obere Einflussstauung oder die Schwellung eines Arms. Um die Diagnose zu sichern, kann eine Ultraschall-Duplexuntersuchung der Venen durchgeführt werden. Wie oft diese Thrombosen zu Lungenembolien führen, ist unklar. Wir empfehlen jedoch, falls keine schwerwiegende Kontraindikation vorliegt, die therapeutische Heparinisierung dieser Patienten und die Entfernung des Katheters. Im ungünstigsten Fall kann sich die Thrombose bei liegendem Katheter infizieren und zur Ursache einer Sepsis mit langem Antibiotikabedarf und hoher Letalität entwickeln. z Perforationen Perforationen der großen Gefäße nach Kathetereinlage sind selten und können sowohl durch den Seldinger-Draht als auch durch den Katheter selbst hervorgerufen werden. Üblicherweise bemerkt man sie 1–7 Tage nach Einlage. Der Patient kann sich mit Dyspnoe präsentieren, und man findet neue Pleuraergüsse. Offenbar kommen diese Perforationen bei linksseitiger V.-jugularis-Punktion häufiger vor. Möglicherweise drückt die Katheterspitze bei diesem Zugang öfter gegen die laterale Wand der V. cava superior.
15.4
Pulmonalarterienkatheter
15.4.1
Allgemeines
Der Pulmonalarterienkatheter wird heute vielfach eingesetzt, um Herz- und Kreislauffunktionen insbesondere bei kritisch kranken Patienten zu überwachen und Therapiemaßnahmen anzupassen. Der Katheter wurde 1970 von Swan u. Ganz 27] erstmalig beschrieben und in die Klinik eingeführt. Bis 1996 war der Gebrauch des Pulmonalarterienkatheters relativ unumstritten und die Indikationen entsprechend breit gefächert.
161 15.4 · Pulmonalarterienkatheter
Dann aber wurde eine aufsehenerregende Studie an beinahe 6000 Patienten publiziert, die zeigte, dass der Pulmonalarterienkatheter bei diesen Patienten zu einer höheren Mortalität und zu einem größeren Geld- und Ressourcenverbrauch geführt hatte [6]. Daraufhin entstand eine lebhafte Diskussion, Task Forces wurden gegründet und Guidelines publiziert. Bislang ist aber aufgrund von Studienresultaten keine definitive Nutzen-Risiko-Analyse für die Anwendung von Pulmonalarterienkathetern möglich. Zudem müssen weniger invasive Methoden (z. B. transpulmonale Indikatormethoden in Verbindung mit Pulskonturanalysen, transösophageale Doppleruntersuchung, Pulskurvenanalyse) zur Bestimmung des Herzzeitvolumens und anderer Parameter erwogen werden [7, 31]. Es besteht jedoch kein Zweifel daran, dass der Pulmonalarterienkatheter auch heute für ausgebildete und auszubildende Intensivmediziner sehr wichtige Details liefert, die gerade beim kritisch kranken Patienten eine individuelle Abschätzung der pathophysiologischen Situation und damit eine differenzierte Herz-Kreislauf-Therapie erst ermöglichen. Dieser Abschnitt soll helfen, das für den sinnvollen Einsatz des Pulmonalarterienkatheters erforderliche Wissen [15] zu erwerben, und gleichzeitig dazu ermuntern, den Nutzen des Katheters beim einzelnen Patienten täglich zu hinterfragen.
15.4.2
Indikationen
Nach einer Erklärung der »European Society of Intensive Care Medicine« gibt es Patienten, Umstände und Erkrankungen, bei denen der Pulmonalarterienkatheter Informationen liefert, die mit dem üblichen hämodynamischen Monitoring nicht erhältlich sind [20]. Hierzu können folgende Situationen gehören: 4 septischer Schock und Behandlung mit hochdosierten Vasopressoren, 4 schwere respiratorische Insuffizienz, 4 schweres Herzversagen, 4 große chirurgische Eingriffe bei Patienten mit kürzlich abgelaufenem Myokardinfarkt oder eingeschränkter kardialer Reserve, 4 prärenales Nierenversagen, das auf eine übliche Therapie nicht reagiert. Die European Society of Intensive Care Medicine betont weiter, dass eine rigorose Schulung im Umgang mit dem Pulmonalarterienkatheter nötig sei und dass weitere klinische Studien die erwähnten Indikationen überprüfen müssten. Aus randomisierten Untersuchungen und einer Metaanalyse ergibt sich derzeit, dass der Swan-Ganz-Katheter für den Intensivpatienten im Wesentlichen ohne nachweisbaren Nutzen ist, die Gesamtletalität dieser Patienten nicht erhöht und die Krankenhausverweildauer nicht verlängert [16, 17]. Die akzeptierten Indikationen beruhen im Wesentlichen auf klinischer Erfahrung. > Grundsätzlich sollte der Pulmonaliskatheter nur angewandt werden, wenn eine spezifische hämodynamische Fragestellung mit nichtinvasiven Verfahren nicht geklärt werden kann und hierdurch die Behandlung des Patienten geändert wird.
15.4.3
Kathetertypen
Die Katheter sind gewöhnlich aus Polyvinylchlorid gefertigt und wegen dessen hoher Thrombogenität mit Heparin beschichtet. Die Standardlänge beträgt 110 cm, und der äußere Durchmesser reicht von 5–8 F. Ein aufblasbarer Ballon ist an der Spitze befestigt. Aufge-
blasen befördert er den Katheter entlang des natürlichen Blutstroms durch das rechte Herz in die Pulmonalarterie und schließlich in die Okklusionsstellung (Wedgeposition). In dieser Position kann am endständigen Lumen des Katheters der Druck jenseits der durch den Ballon verschlossenen kleinen Pulmonalarterie gemessen werden: der pulmonalkapilläre Verschlussdruck (Wedgedruck). Er entspricht dem Druck im Kapillargebiet der Lunge und wird, sofern sich keine Störung zwischen dem Kapillargebiet der Lunge und dem linken Vorhof befindet, als Maß für den Druck im linken Vorhof genommen. Inzwischen gibt es eine ganze Reihe verschiedener Pulmonalarterienkatheter. Der Nutzen der einzelnen Spezialkatheter ist ebensowenig bewiesen wie der des Pulmonalarterienkatheters an sich. Der Preis für einen Katheter mit kontinuierlicher O2-Sättigungsund/oder Herzzeitvolumenmessung ist jedoch 4-mal so hoch wie der eines Thermodilutionskatheters. z Ballonokklusionskatheter Dieser Katheter hat 2 oder 3 Lumina: Ein endständiges Lumen, eines für den Ballon und evtl. noch ein Lumen, das 30 cm vor der Spitze mündet. Damit kann der pulmonalarterielle Druck kontinuierlich und, nach Aufblasen des Ballons, der pulmonalkapilläre Verschlussdruck gemessen werden. Mit dem 3. Lumen misst man kontinuierlich den Druck im rechten Vorhof. z Thermodilutionskatheter Dieser Kathetertyp wird am häufigsten eingesetzt. Zu den vorher beschriebenen 3 Lumina kommt noch die elektronische Verbindung eines Thermistors, der sich 4 cm hinter der Spitze findet. Dieses Kabel wird an einen Computer angeschlossen, der das Herzminutenvolumen aus dem Temperaturverlauf bestimmen kann. z Fiberoptischer Thermodilutionskatheter Mit Hilfe eines 5., fiberoptischen, Lumens kann dieser Spezialkatheter kontinuierlich die O2-Sättigung in der Pulmonalarterie (gemischtvenöse O2-Sättigung) messen und auf einem Spezialmonitor als Kurve und digital darstellen. z Kontinuierlicher Herzminutenvolumenkatheter Es handelt sich hierbei um einen 6-Lumen-Pulmonalarterienkatheter. Dieser Katheter enthält noch zusätzlich ein Thermoelement, das dann im rechten Ventrikel liegt. Mit Hilfe eines ThermoelementPositionisierungslumens lässt sich die korrekte Lage des Katheters kontrollieren. Das Herzminutenvolumen wird aus der Energie, die für das Aufheizen des Thermoelementes benötigt wird, und aus der Temperatur am Thermistor distal davon berechnet. z Schrittmacherkatheter Es gibt verschiedene Schrittmacher-Pulmonalarterienkatheter. Sie enthalten 1–2 zusätzliche Lumina (»paceports«), durch die eine Ventrikel- und/oder eine Vorhofschrittmacherelektrode eingeführt werden können. Durch die Ableitung von Druckkurven an den Schrittmacherlumina lässt sich der Katheter korrekt platzieren.
15.4.4
Punktionsorte und Einführungstechnik
Prinzipiell lassen sich Pulmonalarterienkatheter von jedem zentralen Venenzugang an der oberen Extremität oder am Hals einschwemmen. Der rechtsseitige Zugang über die V. jugularis interna gilt als am günstigsten, weil dies der direkte Weg zum rechten Vorhof ist. Die Katheterspitze verschiebt sich auch bei Armbewegungen nicht, der Katheter kann während Herzoperationen verwendet wer-
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Kapitel 15 · Hämodynamisches und respiratorisches Monitoring, intravasale Katheter
den, und möglicherweise führt er zu weniger thromboembolischen Komplikationen. Die Punktionstechnik wurde bereits oben im Detail beschrieben. Wichtig ist, dass der Katheter unter streng aseptischen Bedingungen eingelegt wird; hierzu gehören eine Kopfbedeckung und ein steriler Kittel. Ein Pulmonalarterienkatheter wird in der Regel über eine vorher eingelegte Schleuse eingeschwemmt. Diese Schleuse ist 0,5–1 F größer als der Katheter und mit einem Rückschlagventil und einem Seitenarm versehen. Das Rückschlagventil verhindert, dass Blut aus der Schleuse fließt, und der Seitenarm stellt einen zusätzlichen zentralen Infusionsschenkel dar.
Einschwemmen Die Einlage eines Pulmonalarterienkatheters sollte immer durch einen erfahrenen Arzt oder unter dessen Anleitung stattfinden. Die einzelnen Schritte sind in der 7 Übersicht dargestellt.
Einlage eines Pulmonalarterienkatheters 4 Punktion der rechten V. jugularis interna und Einführen der Katheterschleuse in Kopftieflage. Die Haut muss ausreichend inzidiert werden (. Abb. 15.9a), damit zuerst der Dilatator und dann die Schleuse ohne Gewalt in die Vene vorgeschoben werden können. 4 Vorbereiten des Pulmonalarterienkatheters (. Abb. 15.9b, c): Der Ballon wird aufgeblasen und überprüft, die Lumina werden mit isotoner Elektrolytlösung gefüllt und der sterile Plastiküberzug übergestreift. 4 Das Ende mit den Anschlüssen kann nun unsteril einem Assistenten übergeben werden, der das endständige Lumen des Katheters an einen Druckaufnehmer anschließt. 4 Der Katheter wird durch die Schleuse eingeführt und bis zur Marke »15 cm« vorgeschoben. 4 Manche Autoren empfehlen nun zur Arrhythmieprophylaxe die Injektion von 1 mg/kg KG Lidocain durch das endständige Katheterlumen. 4 Nun muss der Druck am endständigen Katheterlumen kontinuierlich gemessen und die Druckkurve am Bildschirm überwacht werden. 4 Zuerst wird der rechtsatriale Druck (RAP) gemessen und protokolliert (. Abb. 15.10a). 4 Jetzt wird der Ballon vom Assistenten mit der empfohlenen Menge Luft (meist 1,5 ml) aufgeblasen. 4 Der Katheter wird mit aufgeblasenem Ballon langsam vorgeschoben, sodass sich die Spitze mit dem Blutstrom weiterbewegen kann. 4 Bei etwa 25–35 cm wird die Katheterspitze in den rechten Ventrikel eingeschwemmt, der rechtsventrikuläre Druck (RVP) wird registriert (. Abb. 15.10b). 4 Oft kommt es beim Durchschwemmen der Katheterspitze durch das rechte Herz zu ventrikulären Rhythmusstörungen. Ab etwa 40 cm wird die Pulmonalarterie erreicht; auch hier werden die Druckwerte (PAP) registriert (. Abb. 15.10c). 4 Der Katheter erreicht nach etwa 50 cm die Okklusionsposition, nun wird der pulmonalarterielle Okklusionsdruck (Wedgedruck) registriert (PAOP=PCWP) und die Kurve beurteilt (. Abb. 15.10d).
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4 Entlastung des Ballons: Es muss wieder eine normale pulmonalarterielle Kurve sichtbar sein. Erneutes Aufblasen des Ballons mit 0,8 ml: Der Ballon sollte nach einigen Sekunden in die Okklusionsposition geschwemmt werden, dann erneute Entlastung des Ballons. 4 Schutz des Pulmonalarterienkatheters ab Austritt aus der Schleuse mit dem sterilen Überzug. Dieser ermöglicht auch später noch, unter sterilen Bedingungen, die Katheterlage zu verändern. 4 Anschließend können Messungen des Herzminutenvolumens oder der pulmonalarteriellen Sättigung durchgeführt werden.
Tipp Das Einschwemmen eines Pulmonalarterienkatheters kann manchmal mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden sein. Neben technischen oder Katheterdefekten muss auch an Störungen durch Hypovolämie oder Schock gedacht werden. Immer dann, wenn ein schlechter venöser Rückfluss besteht, muss der Katheter extrem langsam bewegt werden, damit er sich mit dem schlechten Blutfluss fortbewegen kann. Manchmal kann ein Volumenbolus helfen, oder man fordert den Patienten auf, einen tiefen Atemzug zu nehmen. Es ist auch hilfreich, die natürliche Krümmung des Katheters so zu belassen, dass die Spitze zum rechten Herz hinzeigt. Auch kann versucht werden, die rechte Seite des Patienten etwas tiefer zu lagern. Falls der Katheter die Pulmonalklappe nicht passiert, sollte der Ballon mit weniger Volumen gefüllt werden, z. B. 0,8 ml. Oft überwindet der nun kleinere Ballon dann die Klappe.
Komplikationen Die Komplikationen, die für die zentralvenösen Zugänge angeführt wurden, gelten in gleicher Weise für die Einlage eines Pulmonalarterienkatheters. ! Cave Dabei ist zu bedenken, dass der fehlerhafte Versuch, eine 8-F-Schleuse in die A. carotis interna zu platzieren, zur Zerreißung des Gefäßes und zum Tod des Patienten führen kann.
Die folgenden spezifischen Komplikationen wurden für Pulmonalarterienkatheter beschrieben. z Ballonruptur Es scheint, dass diese Komplikation mit der hohen Qualität des Kathetermaterials sehr selten geworden ist. Bei sachgerechtem Umgang muss nicht damit gerechnet werden. z Knotenbildung im Verlauf des Katheters Knoten entstehen v. a. dann, wenn der Katheter mehrfach zurückgezogen und vorgeschoben oder eingeschwemmt wird. Die Knotenbildung verhindert man am besten, indem man den Katheter nicht weiterschiebt, wenn die erwartete Druckkurve bei der vorgesehenen Marke auf dem Monitor erscheint. Meist kann der Knoten entfernt werden, indem man ihn in die Schleuse hineinzwängt und dann Schleuse und Katheter zusammen entfernt. Wir haben es auch schon erlebt, dass der Herzchirurg beim Verschließen des rechten Vorhofes den Pulmonalarterienkatheter an-
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163 15.4 · Pulmonalarterienkatheter
Seitenarm der Schleuse
Einführloch für den Katheter Schleuse mit Rückschlagventil
V. jugularis interna
a
a Teil des Katheters, der zum Assistenten geht
b
EKG 30
a
b
c
d
mm Hg
25
Proximales Lumen Spritze zum Aufblasen des Ballons
20 15 10 5 0
Distales Lumen
b
Konnektion zum Thermistor
Schutzhülle
Katheterspitze c
c . Abb. 15.9a–c. a Eingelegte Katheterschleuse. b 4-lumiger Thermodilutionspulmonalarterienkatheter. c Sterile Katheterschutzhülle; das patientennahe Ende der Schutzhülle wird nach Einlage des Katheters mit der Schleuse verschraubt; dadurch ist auch später noch eine Lageveränderung des Katheters unter sterilen Bedingungen möglich
d
. Abb. 15.10a–d. Position und Druckkurvenverlauf während des Einschwemmens eines Pulmonalarterienkatheters: a rechter Vorhof (RAP), b rechter Ventrikel (RVP), c Pulmonalarterie (PAP), d Okklusionsstellung=Wed geposition (PAOP=PCWP)
genäht hat. Das kann geprüft werden, indem der Katheter auf freie Beweglichkeit kontrolliert wird, nachdem der Vorhof verschlossen wurde. Nicht in jedem Fall ist eine erneute Eröffnung des Herzens nötig, um den Katheter zu entfernen.
kann der Katheter auch ohne weitere Manipulation spontan in die Okklusionsstellung geraten. Daher gilt:
z Lungeninfarkt Die häufigste Ursache für Lungeninfarkte distal des Pulmonalarterienkatheters ist die unbemerkte Wanderung der Katheterspitze in die Okklusionsposition (»Dauer-Wedge«). Das ist entweder durch den permanent aufgeblasenen Ballon möglich oder, bei entlüftetem Ballon, durch die Okklusion einer kleinen Pulmonalarterie durch die Katheterspitze. Verändert sich die Körperlage des Patienten oder der Widerstand in den Pulmonalgefäßen (Letzteres z. B. durch Änderungen des Volumenstatus oder des Herzzeitvolumens), so
Ursprünglich war dieses Phänomen mit 7,2 % der Fälle relativ häufig, es ist aber inzwischen sehr viel seltener geworden.
> Der Druckkurvenverlauf an der Spitze des Pulmonalarterienkatheters muss kontinuierlich überwacht werden!
z Perforation einer Pulmonalarterie Es handelt sich hier um eine gefürchtete Komplikation, die zwar relativ selten (0,1–0,2 %) auftritt [26], dann aber tödlich enden kann. Mögliche Mechanismen sind ein Vorwärtswandern des Katheters in kleine Arterien und dann eine Ruptur der Arterie beim Ballonaufblasen. Während Herzoperationen am kardiopulmonalen Bypass
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Kapitel 15 · Hämodynamisches und respiratorisches Monitoring, intravasale Katheter
wird das Herz manipuliert und aus dem Thorax geklappt. Bei liegendem Pulmonalarterienkatheter führt das zu unkontrollierbaren Bewegungen der Spitze und damit zur Gefahr einer Pulmonalarterienruptur entweder sofort oder nach Entwöhnung von der HerzLungen-Maschine. Weil wir, wie auch andere [11], Lungenblutungen aus diesem Grund immer wieder gesehen haben, und diese Blutungen bei therapeutischer Heparinisierung tödliche Folgen haben können, wird bei uns der Pulmonalarterienkatheter am kardiopulmonalen Bypass mindestens 5 cm zurückgezogen. Folgende Therapiemaßnahmen können erforderlich werden: 4 Korrektur der Blutgerinnung, 4 Intubation mit einem Doppellumentubus, um die nicht betroffene Lunge zu schützen, 4 Bronchoskopie, 4 Inhalation von Vasokonstriktoren, 4 Beatmung mit positivem endexspiratorischem Druck, 4 evtl. sogar chirurgische Blutstillung bis hin zur Lobektomie. z Thromboembolische Komplikationen Thrombosen sind bekannte Komplikationen bei zentralen Venenkathetern. Ihre Inzidenz ist mit erheblichen Variationen in der Literatur angegeben [24]. Klinisch relevant werden Thrombosen erst, wenn sie sich infizieren. Eine Embolie aufgrund einer Thrombose, bei liegendem Pulmonalarterienkatheter, wurde bisher nicht beschrieben. Seit die Pulmonalarterienkatheter mit Heparin beschichtet sind, scheinen die Thrombosen weiter zurückgegangen zu sein. z Herzrhythmusstörungen Ventrikuläre Rhythmusstörungen beim Einschwemmen des Pulmonalarterienkatheters kommen in über 50 % der Einlagen vor. Meist sind sie selbstlimitierend und benötigen keine spezielle Therapie. Obwohl in der Literatur nur ungenau dokumentiert, injizieren wir allen Patienten vor Einlage des Pulmonalarterienkatheters prophylaktisch 1 mg/kg KG Lidocain i.v. [26]. z Direkte Schädigung von Herzstrukturen Diese Schädigungen bleiben oft unentdeckt, weil sie offensichtlich klinisch nicht auffallen. Es muss aber bedacht werden, dass in Autopsieuntersuchungen Läsionen bei bis zu 75 % der Fälle gefunden wurden. Die Relevanz dieser Schäden ist unklar, die Häufigkeit scheint aber mit der Liegezeit der Katheter zunehmen. Dies unterstreicht einmal mehr die Forderung, nicht mehr benötigte Pulmonalarterienkatheter zügig zu entfernen.
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z Infektionen Es gibt keine Hinweise, dass katheterassoziierte Infekte bei Pulmonalarterienkathetern häufiger auftreten als bei anderen zentralen Kathetern. Jedoch muss bedacht werden, dass diese Katheterläsionen am Endokard des rechten Herzens setzen und dass deshalb theoretisch die Gefahr einer Endokarditis höher ist. Diese Theorie wurde allerdings nie klinisch bewiesen.
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15.4.5
15 15
15 15 15
Erhebung und Interpretation hämodynamischer Messwerte
Der Pulmonalarterienkatheter ermöglicht die Messung und Berechnung einer Vielzahl hämodynamischer Parameter. Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus bleibt es bis heute unklar, ob die Erhebung dieser Daten dem Patienten einen Vorteil bringt. Für das pathophysiologische Verständnis vieler schwerer Krankheitsbilder auf der Intensivstation oder perioperativ sind die Werte jedoch
A - Welle
v - Welle C - Welle
x - Abfall
y - Abfall
. Abb. 15.11 Druckverlauf in den Vorhöfen. Die Bezeichnung der Spitzen und ihre Bedeutung gilt für den linken und rechten Vorhof gleichermaßen
zweifellos nützlich. Der ausgebildete Intensivmediziner kann auf diese Weise seine Arbeitshypothese bestätigen oder verwerfen, und der Anfänger lernt dabei, bestimmte Zusammenhänge zu erkennen und die Effekte potenter vasoaktiver Substanzen zu bewerten. Um diese Ziele zu erreichen, sind Kenntnisse über diese Parameter und ihre Bedeutung unerlässlich und Wissenslücken inakzeptabel [14]. Die wichtigsten Parameter und ihre Normalwerte sind in . Tab. 15.4 zusammengefasst.
Zentralvenöser Druck (ZVD) und rechter Vorhofdruck (RAP) Der Kurvenverlauf für den rechten Vorhof ist in . Abb. 15.11 dargestellt. Die A-Welle kommt durch die Kontraktion des Vorhofs zustande. Sie folgt demnach unmittelbar auf die P-Welle des EKG. Die kleine C-Welle entsteht durch die Bewegung des atrioventrikulären Rings in den Vorhof zu Beginn der ventrikulären Systole. Danach kommt der x-Abfall, der die Relaxation des Vorhofs repräsentiert. Die V-Welle entsteht durch den Druckanstieg während der venösen Füllung des Vorhofes bei geschlossener Trikuspidalklappe. Das Maximum wird am Ende der Ventrikelsystole erreicht, gefolgt vom y-Abfall, der durch die Entleerung des Vorhofes über die geöffnete Trikuspidalklappe verursacht wird.
Rechter Ventrikeldruck (RVP) Bei gewöhnlichen Pulmonalarterienkathetern kann der Ventrikeldruck nur beim Einschwemmen bestimmt werden (. Tab. 15.4; . Abb. 15.10b). Katheter mit kontinuierlicher Herzminutenvolumenanzeige oder Katheter mit Schrittmacheröffnung erlauben dagegen die kontinuierliche Aufzeichung der Ventrikeldruckkurve.
Pulmonalarterieller Druck (PAP) Wie im systemisch-arteriellen System gibt es pulmonalarteriell einen systolischen Peak, gefolgt von einem diastolischen Abfall mit einer kleinen dikroten Welle, die durch den Schluss der Pulmonalklappe entsteht (. Tab. 15.4; . Abb. 15.10). Unter Normalbedingungen liegt der diastolische Druck in der Pulmonalarterie nur 2–3 mm Hg über dem mittleren Okklusionsdruck. Bei einer aktiven, manchmal reaktiven pulmonalarteriellen Hypertension durch Vasokonstriktion kann es jedoch zu einer erheblichen Diskrepanz zwischen diesen beiden Druckwerten kommen.
Pulmonalarterieller Okklusionsdruck (PAOP, PCWP) Druckkurve. Prinzipiell entspricht der Verlauf der Druckkurve demjenigen im linken Vorhof (. Abb. 15.11). Durch die größere Distanz des Druckaufnehmers (Spitze des Pulmonalarterienkatheters) bis zum Ort der Kurvenentstehung (linker Vorhof) ist die Welle jedoch gedämpfter und verspätet. Die A-Welle folgt der PWelle des EKG nach ungefähr 240 ms. Außerdem ist die V-Welle prominenter. Einschränkungen. Falls sich im Weg von der Katheterspitze bis
zum linken Vorhof ein Hindernis befindet, wie z. B. bei der okklusiven Erkrankung der Pulmonalvenen, kann vom Okklusionsdruck
165 15.4 · Pulmonalarterienkatheter
. Tab. 15.4 Wichtige Herz-Kreislauf-Parameter und ihre Abkürzungen Parameter
Abkürzung/Formel
Mittelwert
Bereich
Einheit
Rechtsatrialer Druck
RAP
3
0–6
mm Hg
Rechtsventrikulärer Druck
RVP
25/5 (s/ed)
15–30/0–8
mm Hg
Pulmonalarterieller Druck
PAP
23/9/15 (s/d/m)
15–30/5–15/10–20
mm Hg
Pulmonalarterieller Okklusionsdruck
PAOP=PCWP
10
5–15
mm Hg
Herzzeitvolumen
HZV
3,0–7,0
l/min
Herzindex
Cl=HZV/KOF
2,5–4,5
l/min/m2
Schlagvolumen
SV=1000×HZV/HF
60–90
ml/Schlag
Schlagvolumenindex
SI=SV/KOF
40–60
ml/Schlag
Rechtsventrikulärer Schlagarbeitsindex
RVSWI=Cl×(PAP–RAP)×13,6/HR
8–12
g×m/m2
Linksventrikulärer Schlagarbeitsindex
LVSWI=Cl×(MAP-PCWP)×13,6/HR
50–60
g×m/m2
Systemischer Gefäßwiderstand
SVR=(MAP–RAP)/CO×80
900–1500
dyne×s×cm-5
Pulmonaler Gefäßwiderstand
PVR=(PAP-PCWP)/CO×80
120–250
dyne×s×cm-5
Pulmonalarterielle (gemischtvenöse) O2-Sättigung
SV· O2
70–80
%
Arterieller O2-Gehalt
CaO2=1,39×Hb×SaO2+0,0031×paO2
≈19
ml/dl
Gemischtvenöser O2-Gehalt
CV· O2=1,39×Hb×SV· O2+0,0031×pV· O2
≈14
ml/dl
· D O2=CaO2×Cl
>550
ml/min/m2
· V O2=(CaO2– CvO2 )×Cl
>170
ml/min/m2
GesamtkörperO2-Angebot GesamtkörperO2-Verbrauch
Abkürzungen (überwiegend nach den englischen Bezeichnungen): s=systolisch; d=diastolisch; ed=enddiastolisch; m mittel; KOF=Körperoberfläche; HR=»heart rate«; MAP=mittlerer arterieller Druck; SaO2=arterielle O2-Sättigung; paO2=arterieller O2-Partialdruck; pvO2=gemischtvenöser O2-Partialdruck; Hb=Hämoglobingehalt.
nicht mehr auf den Druck im linken Vorhof geschlossen werden. Falls sich die Pulmonalgefäße intermittierend schließen, wie es in bestimmten Lungenarealen physiologischerweise vorkommt, darf der Okklusionsdruck ebenfalls nicht mehr als Maß des Drucks im linken Vorhof genommen werden. Idealerweise liegt die Spitze des Katheters in der sog. Zone 3 der Lunge [26]. Wenn die Okklusionsdruckkurve starke atemabhängige Schwankungen und unerklärlich hohe Werte anzeigt oder stark gedämpft ist, besteht der Verdacht, dass der Katheter außerhalb dieser Lungenzone mit dauernd offener Gefäßverbindung zum linken Vorhof liegt. Wenn die Mitralklappe und die linksventrikuläre Funktion normal sind, kann vom Okklusionsdruck auf den linksventrikulären enddiastolischen Druck geschlossen werden. Messung bei Beatmung. Normalerweise wird der Okklusionsdruck am Ende der passiven Exspiration abgelesen. Unter Beatmung mit positivem endexspiratorischem Druck (PEEP) wird ein Teil dieses Drucks auf den Okklusionsdruck übertragen, und dies umso ausgeprägter, je besser die Compliance der Lunge ist: Bei
normalen Lungen wird etwa die Hälfe des PEEP auf den Okklusionsdruck übertragen und bei kranken Lungen (z. B. bei ARDS) nur noch 1/4 oder weniger. Trotz dieser Abhängigkeiten ist es nicht empfehlenswert, den PEEP für die Bestimmung des Okklusionsdrucks wegzunehmen oder die Beatmung zu diskonnektieren, weil sich die Patienten sofort pulmonal verschlechtern. Es wird empfohlen, sich im Verlauf einer Erkrankung auf die Veränderungen des Okklusionsdrucks und weniger auf die absoluten Werte zu konzentrieren.
Pulmonalarterielle O2-Sättigung
Die pulmonalarterielle O2-Sättigung entspricht der gemischtvenösen O2-Sättigung und wird für die Berechnung verschiedener hämodynamischer und respiratorischer Parameter benötigt (. Tab. 15.4). Außerdem besteht eine direkte Proportionalität zwischen der gemischtvenösen Sättigung und dem Herzminutenvolumen. Inzwischen gibt es Pulmonalarterienkatheter, die diese Sättigung kontinuierlich messen und anzeigen. Dass auf diese Weise die Behandlung besser wurde, konnte niemals nachgewiesen werden. Außerdem sollte man sich bewusst
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15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15 15
Kapitel 15 · Hämodynamisches und respiratorisches Monitoring, intravasale Katheter
sein, dass nicht von einem absoluten gemischtvenösen Sättigungswert auf einen absoluten Wert des Herzminutenvolumens geschlossen werden darf, da noch andere Faktoren die O2-Ausschöpfung beeinflussen.
Herzminutenvolumen Herzminutenvolumens ist die Thermodilution [11]. Ein Volumen von 10 ml einer kalten Lösung wird in den rechten Vorhof injiziert. Die Flüssigkeit wird auf dem Weg durch das rechte Herz mit dem Blut durchmischt. An der Spitze des Pulmonalarterienkatheters zeichnet der Thermistor eine Temperaturkurve auf, und ein Computer berechnet daraus das rechtsventrikuläre Herzminutenvolumen, das umgekehrt proportional zum Integral der TemperaturZeit-Kurve ist. Die Variation beträgt bei 3-maliger Bestimmung etwa 4 %. Um eine möglichst kleine Variation zu erhalten, sollte die Lösung immer im selben Teil des Atemzyklus und möglichst schnell gespritzt werden. Bei Verwendung von Flüssigkeit mit Zimmertemperatur ergibt sich eine höhere Variation. Es sollten jeweils 3 Messungen des Herzminutenvolumens durchgeführt werden, wobei die Einzelwerte nicht mehr als 10 % auseinanderliegen dürfen; diese Werte werden anschließend gemittelt. Bei einer sehr geringen Auswurfleistung, bei Trikuspidalinsuffizienz oder intrakardialem Shunt sind die Thermodilutionswerte ungenau. Fick’sches Prinzip. Steht keine Thermodilution zur Verfügung, kann die Pumpleistung auch mit der sog. Fick´schen Methode ermittelt werden. Das Prinzip besteht darin, dass die Gesamtaufnahme oder -abgabe einer Substanz durch ein Organ gleich dem Produkt aus dem Blutfluss durch das Organ und der arteriovenösen Konzentrationsdifferenz ist. Im Falle der Lungen ist also das Herzminutenvolumen gleich dem Blutfluss durch die Lungen, und das ist gleich der Gesamt-O2-Aufnahme dividiert durch die arteriovenöse O2-Gehaltsdifferenz. Für eine korrekte Bestimmung muss die O2-Konzentration direkt in der Atemluft gemessen werden. Kontinuierliche Messverfahren. Die neueste Generation der Pul-
15 15
Berechnete Werte
15 15 15
15 15 15 15
15.5
Thermodilution. Die Standardmethode für die Bestimmung des
monalarterienkatheter kann das Herzminutenvolumen kontinuierlich bestimmen und anzeigen. Die Methode beruht auf derselben Theorie, die für die Thermodilution entwickelt und geprüft wurde. In diesen Katheter ist ein Heizelement integriert, das im rechten Ventrikel platziert wird. Die Messung beruht auf dem Verhältnis zwischen der abgegebenen Heizenergie und der resultierenden Temperatur an der Pulmonalarterienspitze. Die Katheter sind validiert, und es scheint, dass die Werte etwa ähnlich genau sind wie die der Thermodilution. Die korrekte Platzierung ist allerdings eine Grundvoraussetzung. Ob sich der Katheter in der Praxis bewähren wird, und ob es sinnvoll ist, den 3-fachen Preis eines Standardkatheters zu investieren, bleibt abzuwarten [18].
15
mit dem Bestreben, sie zu normalisieren oder sogar zu maximieren, für den Patienten günstig ist.
Aus den Messwerten des Pulmonalarterienkatheters lassen sich verschiedene weitere physiologische Daten berechnen. Die Widerstände im großen und kleinen Kreislauf werden häufig erhoben, verschiedene Daten des O2-Transportes seltener (. Tab. 15.4). Die letzteren Parameter kamen v. a. im Zusammenhang mit der Forderung nach »supramaximalem« oder »supranormalem« Sauerstoffangebot bei bestimmten Krankheitsbildern in Diskussion. > Zusammenfassend kann man sagen, dass alle berechneten Werte pathophysiologisch interessant sind, es aber unklar bleibt, ob die Korrektur dieser Werte
HZV-Messung durch arterielle Pulskonturanalyse und andere Verfahren
Dieses indirekte Verfahren der HZV-Messung beruht auf Erkenntnissen des deutschen Physiologen Otto Frank, denen zufolge eine direkte Beziehung zwischen dem zeitlichen Verlauf der arteriellen Blutdruckkurve und dem gleichzeitig erfolgenden arteriellen Blutfluss besteht. Bei der von Frank aufgestellten Windkesseltheorie werden Aorta und die proximalen Arterien als eine Kammer (Windkessel) angesehen, die während der Systole des Herzens mit dem Schlagvolumen angefüllt und während Systole und Diastole wieder entleert wird. Auf der Basis dieses Modells und in Anlehnung an das Ohm´sche Gesetz beschreiben die Pulskonturverfahren eine Beziehung zwischen dem arteriellen Druck und einem arteriellen Fluss, der vom Gesamtwiderstand bestimmt wird. Im ursprünglichen, für den Kreislauf des Menschen allerdings unzureichenden Modell wurde das Schlagvolumen aus dem Druck als treibender Kraft für den Blutfluss während der Austreibungsphase (Fläche unter dem systolischen Anteil der Druckkurve) und der Impedanz bzw. dem Widerstand der Aorta bestimmt:
SV SV Asys ZAo
= Asys/ZAo = Schlagvolumen = Fläche unter dem systolischen Anteil der Druckkurve = Impedanz der Aorta
Cz-Modell von Wesseling. In diesem erweiterten Modell wur-
den der mittlere arterielle Druck und das Alter berücksichtigt, um druckabhängige nicht-lineare Veränderungen des Aortendurchmessers zu korrigieren, außerdem die (altersabhängige) Herzfrequenz, um Reflektionen aus der Peripherie auszugleichen. Das Herzzeitvolumen ergibt sich dabei aus folgender Formel:
HZVPC = HF×Asys : ZAo ZAo = a : (b+(c×MAP) + (d×HF) 4 HZVPC = Pulskontur-HZV 4 HF = Herzfrequenz 4 MAP = mittlerer arterieller Druck 4 a, b, c und d = altersabhängige Faktoren
Aufgrund der verschiedenen Korrekturfaktoren kann anstelle des Aortendrucks auch der Druck in einer peripheren Arterie verwendet werden. Da sich Größe und Impedanz der Aorta und der peripheren Arterien individuell unterscheiden, musste das absolute Herzzeitvolumen initial für jeden einzelnen Patienten mit einer Referenzmethode ermittelt werden. Dies war in der Vergangenheit in der Regel die Thermodilutionsmethode über einen Pulmonaliskatheter. Dabei ergab sich für die individuelle Aortenimpedanz folgende Formel:
167 15.5 · HZV-Messung durch arterielle Pulskonturanalyse und andere Verfahren
. Tab. 15.5 Parameter der Pulskonturanalyse (PiCCO, Fa. Pulsion)
. Abb. 15.12 Prinzip der arteriellen Pulskonturanalyse. Das Pulskontur-HZV (HZVpC) wird aus der Fläche unter dem systolischen Anteil der arteriellen Druckkurve (schraffiert), der Herzfrequenz, dem Kalibrationsfaktor der transkardiopulmonalen Thermodilution (cal) und einer differenzierten Analyse der Form der Druckkurve berechnet. (Nach [23])
ZAo=HZVPC : HZVRef x ZAo.Ref 4 HZVRef=Referenz-HZV 4 ZAo.Ref=Referenzaortenimpedanz
Zwischen Pulskontur-HZV und Thermodilutions-HZV ergab sich bei den meisten Messungen und in verschiedenen klinischen Situationen eine sehr gute Übereinstimmung [4, 7, 13].
Parameter
Normalbereich
HZVPC
3,0–5,0 l/min
Systolischer arterieller Blutdruck [mm Hg]
(Keine Angaben des Herstellers)
Diastolischer arterieller Blutdruck [mm Hg]
(Keine Angaben des Herstellers)
Mittlerer arterieller Blutdruck, MAP
70–90 mm Hg
Herzfrequenz [1/min]
60–90/min
Schlagvolumenindex (SVI)
40–60 ml/m2
Schlagvolumenvariation
17 69 > Ve7A0 7929 ?++syst.
'290
'2 ?Pa ;/ 0A6947 7t
Extubation
ja
nein
Spontanatmungskapazität?
Fortsetzung der Beatmung
. Abb. 41.12 Beispiel für ein Weaningprotokoll
werden. Hierfür empfiehlt sich die Nutzung von Sedierungsscores wie etwa die Richmond Agitation Sedation Scale (RASS), die eine objektivierbare Einschätzung der Sedierungstiefe erlauben [91]. Inzwischen konnte auch gezeitgt werden, dass der kombinierte Einsatz von Entwöhnungs- und Sedierungsprotokollen im Vergleich zur alleinigen Nutzung von Entwöhnungsprotokllen zu einer schnelleren Entwöhnung führen kann [92].
Kompensation der zusätzlichen Atemarbeit Der Endotrachealtubus und das Beatmungssystem erhöhen die Atemarbeit. Intubierte Patienten müssen während eines T-StückVersuchs diese zusätzliche Atemarbeit leisten, die nach der Extubation wegfällt. Patienten, die zwar ihre eigentliche Atemarbeit leisten könnten, jedoch wegen der zusätzlichen Atemarbeit durch den Tubus erschöpfen, würden einen T-Stück-Versuch nicht erfolgreich bestehen.
Spontanatmungsversuch Das traditionellste Verfahren zur Entwöhnung von der Beatmung besteht darin, den Patienten intermittierend von der maschinellen Beatmung zu diskonnektieren und über ein T-Stück spontan atmen zu lassen. T-Stück-Versuche über 30 min bis maximal 120 min reichen zur Beurteilung der Spontanatmung aus [93]. In der Praxis finden hierfür sog. »feuchte Nasen« häufige Verwendung, die lediglich eine gewisse Anreicherung der Atemluft mit O2 ermöglichen. Alternativ hierzu werden auch Schlauchsysteme verwendet, die neben der O2-Anreicherung eine Befeuchtung und Erwärmung des Inspirationsgases oder die Anwendung eines geringen kontinuierlichen Atemwegsdrucks (CPAP) ermöglichen. > Um eine vorzeitige Erschöpfung des Patienten im Rahmen des Spontanatmungsversuchs zu vermeiden, wird heute jedoch meist eine geringfügige Respiratorunterstützung zur Kompensation der künstlichen zusätzlichen Atemarbeit empfohlen (7 unten).
Zwischen den Phasen der reinen Spontanatmung wird bei diesem Vorgehen der Patient in aller Regel kontrolliert oder assistiert-kontrolliert beatmet.
Druckunterstützte Beatmung zur Kompensation zusätzlicher Atemarbeit. Eine geringe Druckunterstützung von 7–12 mbar
wurde verwendet, um lediglich die zusätzliche geräte- und tubusbedingte Atemarbeit zu kompensieren [94]. Ist bei einem solchen Spontanatmungsversuch mit PS ein befriedigendes Atemmuster zu beobachten, kann der Patient extubiert werden. Im Vergleich zum T-Stück scheint der Anteil der erfolgreichen Spontanatmungsversuche mit diesem Verfahren höher zu sein [78, 95]. Automatische Tubuskompensation. Die exakte Kompensation
der tubusbedingten Atemarbeit mittels einer fixen Druckunterstützung ist beim individuellen Patienten allerdings schwierig, da der Tubuswiderstand und damit die tubusbedingte Mehrarbeit nicht linear vom Gasfluss abhängen. Somit ist auch die tubusbedingte zusätzliche Atemarbeit eine variable, flussabhängige Größe, die mit einer fixen Druckunterstützung nur unzureichend kompensiert werden kann (. Abb. 41.13). Deswegen wurde die konventionelle Druckunterstützung dahingehend modifiziert, dass sie nicht mehr fix, sondern entsprechend dem nicht linearen Zusammenhang zwischen Tubuswider-
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538
Kapitel 41 · Maschinelle Beatmung und Entwöhnung von der Beatmung
pett
30
41
41.9.4
25
41 41 41 41 41
Δpett [mbar]
20 15
Unterkompensation
10 Überkompensation
5
PS = 10 mbar
0 0
0,5
1
1,5
2
Flow [I/sec]
41 41 41 41 41 41 41 41 41 41 41 41 41 41 41 41 41 41 41
. Abb. 41.13 Schematische Darstellung des Druckverlustes über den Endotrachealtubus (pett) in Abhängigkeit vom Gasfluss (Flow). Da der exponentielle Anstieg von pett bei steigendem Flow die wesentliche Determinante der zusätzlichen Atemarbeit darstellt, wird verständlich, dass mit einer fixen Druckunterstützung von z. B. 10 mbar (PSV 10) die zusätzliche Atemarbeit eigentlich nur bei einem fixen Fluss exakt kompensiert werden kann. Da bei Spontanatmung der Gasfluss aber variabel ist, wird sich mit PSV entweder eine Unterkompensation bei hohem Flow (am Beginn der Inspiration) oder Überkompensation bei niedrigem Flow ergeben. Im Gegensatz zur fixen Druckunterstützung wird bei der automatischen Tubuskompensation der Atemwegsdruck so gesteuert, dass zu jedem Flow der entsprechende pett vom Beatmungsgerät übernommen wird, sodass der Patient auch bei variablem Gasfluss vollständig von der tubusbedingten Atemarbeit entlastet werden kann (PS »pressure support«)
stand und Gasfluss appliziert wird. Da mit dem Verfahren der Tubuswiderstand exakt für jeden Gasfluss kompensiert wird, wurde das Verfahren »automatische Tubuskompensation (ATC)« genannt [96]. Mit ATC wird die exakteste Kompensation der zusätzlichen Atemarbeit bei verschiedensten Atemmustern erreicht [97]. Da keine wissenschaftlichen Daten über die klinische Anwendung zur Entwöhnung an größeren Patientenkollektiven vorliegen, kann dieser Ansatz derzeit nicht abschließend beurteilt werden. Intermittierende maschinelle Ventilation (IMV). SIMV zur Ent-
wöhnung erschien v. a. deshalb sinnvoll, da die Reduktion der maschinellen Atemfrequenz eine einfache, schrittweise Entwöhnung von der Beatmung ermöglicht. In modernen Respiratoren wird der Gasfluss für die Spontanatmung durch ein Demand-flow System zur Verfügung gestellt. Hierdurch wird die zusätzliche Atemarbeit für die Spontanatemzüge bei SIMV höher als mit kontinuierlichen Flowsystemen. Außerdem bleibt die Atemmuskulatur auch während der maschinell applizierten Atemhübe aktiv, sodass die Atemarbeit während SIMV bei ungünstiger Einstellung der Frequenz, des Atemzugvolumens oder der Flowcharakteristik sogar deutlich erhöht sein kann [4]. Daher kann dieses Verfahren heute nicht mehr generell empfohlen werden.
Nachdem die Verfahren der assistierten Spontanatmung, und hier v. a. SIMV und PS, weite klinische Verbreitung gefunden hatten [4], wurde in großen, multizentrischen Studien versucht, die verschiedenen Verfahren miteinander zu vergleichen, um ihren Stellenwert für die schwierige Entwöhnung einzuordnen [77, 78, 98]. Auch wenn das Ergebnis dieser Untersuchungen nicht eindeutig ist, kann man doch feststellen: 4 SIMV bietet keine spezifischen Vorteile als Entwöhnungsmodus und wird nicht empfohlen. 4 Sowohl T-Stück-Versuche als auch assistierte Beatmung mit einer geringen Druckunterstützung können für die Entwöhnung empfohlen werden. 4 Im direkten Vergleich beider Verfahren führt Druckunterstützung zu einer etwas höheren Anzahl erfolgreich entwöhnter Patienten. Viel wichtiger als die Auswahl der eigentlichen Technik der Entwöhnung scheint also die Organisation dieser Phase zu sein. Entwöhnungsprotokolle sollten hierbei eine Hilfe darstellen, den Prozess zu organisieren und dem Team zu helfen, den richtigen Zeitpunkt der Entwöhnung zu identifizieren. Auf keinen Fall sollen diese Protokolle aber zu einer Checklistenmentalität führen, die der Individualität des Geschehens keinen Platz mehr lässt. Dies ist insbesondere während der Entwöhnung von größter Bedeutung, da in dieser Phase der Patient aus seiner Sedierung erwacht und mit all den Schwierigkeiten der Situation umgehen lernen muss. Hierzu ist eine enge, verständnisvolle und unterstützende Betreuung durch das Pflegeteam ebenso notwendig wie die ärztliche Zuwendung, die in einem standardisierten Protokoll nicht abgebildet werden kann.
41.9.5
Nichtinvasive Beatmung zur Entwöhnung
Die Entwöhnung kann durch die Anwendung der nichtinvasiven Beatmung (NIV) statt der Entwöhnung über den künstlichen Atemweg, bis keinerlei Atemhilfe mehr notwendig ist, beschleunigt werden. NIV führt v. a. bei COPD-Patienten zu einer kürzeren und erfolgreicheren Entwöhnung [65, 99]. Die Anwendung von NIV als Bestandteil einer Entwöhnungsstrategie zumindest bei der COPD ist unbedingt zu empfehlen, es muss allerdings bedacht werden, dass bei den Patienten hierdurch kein Schutz der Atemwege mehr gewährleistet ist, was v. a. bei relevanter Aspirationsgefahr berücksichtigt werden muss.
Literatur 1
BIPAP zur Entwöhnung Für die Entwöhnung von der Beatmung liegen keine spezifischen Daten für BIPAP vor. In der klinischen Anwendung wird empfohlen, die BIPAP-Drucklevel einander anzunähern, um dann ein weiteres Weaning über CPAP zu erreichen. Die Entwöhnung mit BIPAP muss zunächst an größeren Patientenkollektiven untersucht werden, bevor hierzu eine Empfehlung gegeben werden kann.
Wahl des Beatmungsverfahrens für die Entwöhnung
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Kapitel 41 · Maschinelle Beatmung und Entwöhnung von der Beatmung
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41
543
Nichtinvasive Beatmung zur Therapie der akuten respiratorischen Insuffizienz B. Schönhofer 1
42.1
Pathophysiologischer Hintergrund – 544
42.2
Invasiver und nichtinvasiver Beatmungszugang – 544
42.3
Durchführung der nichtinvasiven Beatmung – 544
42.3.1 42.3.2 42.3.3 42.3.4
Beatmungsgeräte und Beatmungsverfahren – 545 Beatmungszugang (»Interfaces«) – 545 Personeller Aufwand und Ort des Geschehens – 545 Praktische Applikation von NIV – 547
42.4
Spektrum der Indikationen – 547
42.4.1 42.4.2 42.4.3 42.4.4 42.4.5 42.4.6 42.4.7
NIV bei hyperkapnischer Verlaufsform der ARI – 547 NIV bei hypoxämischer Verlaufsform der ARI – 549 Kardiales Lungenödem – 549 NIV in der perioperativen Phase – 550 NIV bei schwieriger Entwöhnung – 550 Postextubationsphase – 551 Neue Anwendungsbereiche – 551
Literatur – 552
1 Hinweis: Der Autor ist Sprecher des S3-Leitlinienprojekts »Nicht-invasive Beatmung zur Therapie der akuten respiratorischen Insuffizienz«.
H. Burchardi et al. (Hrsg.), Die Intensivmedizin, DOI 10.1007/978-3-642-16929-8_42, © Springer Medizin Verlag Berlin Heidelberg 2011,
42
42 42 42 42 42 42 42 42 42
544
Kapitel 42 · Nichtinvasive Beatmung zur Therapie der akuten respiratorischen Insuffizienz
42.1
Pathophysiologischer Hintergrund
Das Atmungsorgan besteht aus 2 Kompartimenten: 4 der muskulären Atempumpe mit dem Zwerchfell als wichtigstem Muskel und 4 dem Lungenparenchym, in dem der Gasaustausch stattfindet (. Abb. 42.1) [1]. Die maschinelle Beatmung dient im Wesentlichen 2 Zielen: 4 der Übernahme einer erhöhten Atemarbeit sowie 4 der Korrektur einer schweren Gasaustauschstörung. Bei der hyperkapnischen respiratorischen Insuffizienz aufgrund einer versagenden Atempumpe ist die Übernahme der Atemarbeit durch maschinelle Beatmung von entscheidender Bedeutung [2]. Bei der hypoxämischen Insuffizienz aufgrund eines akuten Lungenschadens (»acute lung injury«, ALI; »acute respiratory distress Syndrome«, ARDS) stellt die Verbesserung des alveolären Gasaustausches die Indikation zur Beatmung [3] dar, wenn trotz medikamentöser Therapie und O2-Applikation keine ausreichende Oxygenierung aufrecht erhalten werden kann.
Invasiver und nichtinvasiver Beatmungszugang
42
42.2
42
Bei vitaler Indikation ist die invasive Beatmung zweifelsfrei die Therapie der Wahl. Dennoch geht die »klassische« künstliche Beatmung über einen Endotrachealtubus mit zahlreichen, z. T. auch lebensbedrohlichen Nebenwirkungen einher. Diese reichen von unmittelbaren Schädigungen des Kehlkopfes und der Trachealschleimhaut über hämodynamische Interaktionen bis hin zu schweren Schädigungen auf alveolärer Ebene im Sinne des Baro-, Volu- bzw. Atelektraumas mit ggf. systemischen Auswirkungen auf den gesamten Organismus [4]. Auch unter atemmechanischer Betrachtung ergeben sich Nachteile für die invasive Beatmung. So führt der Trachealtubus proportional zu seiner Länge, v. a. aber in der 4. Potenz und umgekehrt proportional zu seinem Innendurchmesser zu erhöhter resistiver
42 42 42 42 42
. Tab. 42.1 Vor- und Nachteile von nichtinvasiver Beatmung bzw. invasiver Beatmung Komplikationen und klinische Aspekte
Invasive Beatmung
Nichtinvasive Beatmung
Ventilator- (tubus-) assoziierte Pneumonie
Relevant ab 3.–4. Tag der Beatmung
Nein
Tubusbedingte zusätzliche Atemarbeit
Ja
Nein
Tracheale Früh- und Spätschäden
Ja
Nein
Tiefe Sedation
Häufig notwendig
Nein
Intermittierende Applikation
Nein
Ja
Effektives Husten möglich
Nein
Ja
Essen und Trinken möglich
Kaum
Ja
Kommunikation möglich
Erschwert
Ja
Aufrechte Körperposition
Selten
Häufig möglich
Schwierige Entwöhnung vom Respirator
10–20%
Relativ selten
Zugang zu den Atemwegen
Direkt
Erschwert
Druckstellen im Gesichtsbereich
Nein
Ja
CO2-Rückatmung
Nein
Gelegentlich
Leckage
Kaum
Mehr oder weniger ausgeprägt
Aerophagie
Kaum
Häufiger
Atemarbeit [5]. Bei Sekretablagerung im Tubus kommt es zu einer weiteren Steigerung des Strömungswiderstandes [6]. Die Komplikation der invasiven Beatmung mit der höchsten Relevanz ist jedoch die tubusassoziierte Pneumonie (auch »ventilatorassoziierte Pneumonie«, VAP, genannt). Die Intubation geht mit einer 6- bis 20-fachen Zunahme der VAP, hohen Sterblichkeitsraten sowie deutlichen Mehrkosten einher [7]. Die Inzidenz der tubusassoziierten Pneumonie nimmt proportional zur Intubationsdauer zu [8]. Zur Vermeidung dieser schwerwiegenden Komplikation sollte möglichst auf die Intubation verzichtet bzw. frühzeitig extubiert werden [9]. In diesem Zusammenhang ergeben sich die wesentlichen Vorteile der nichtinvasiven Beatmung (. Tab. 42.1) insbesondere unter atemmechanischen und infektiologischen Aspekten.
42 42 42 42 42 42
42.3
42 42 42
. Abb. 42.1 Physiologie und Pathophysiologie der akuten respiratorischen Insuffizienz
Durchführung der nichtinvasiven Beatmung
Die NIV steht in 2 unterschiedlichen Techniken zur Verfügung: Negativ- und Positivdruckbeatmung. Bei der Negativdruckbeatmung (mit den Prototypen des »Tankventilators« oder der »eisernen Lunge«) führt der extrathorakal applizierte Unterdruck zur thorakalen Expansion und damit zur Inspiration. Während der Polioepidemi-
545 42.3 · Durchführung der nichtinvasiven Beatmung
en war die Negativdruckbeatmung als Therapieform der ventilatorischen Insuffizienz weit verbreitet [10]. Vor allem bedingt durch den hohen technischen Aufwand wird Negativdruckbeatmung inzwischen nur noch in wenigen Zentren zur Behandlung der akut respiratorischen Insuffizienz (ARI) eingesetzt [11]. In den vergangenen beiden Jahrzehnten hat sich NIV als Positivdruckbeatmung zur Behandlung der ARI zunehmend durchgesetzt. Hierbei führt die Applikation von positivem Druck über einen nichtinvasiven Beatmungszugang, entweder in Form von Masken oder Helmen, zur Erhöhung des intrabronchialen bzw. -alveolären Druckes und damit zur Unterstützung der Inspiration.
42.3.1
Beatmungsgeräte und Beatmungsverfahren
Abhängig vom Schweregrad der Erkrankung, den örtlichen Gegebenheiten und insbesondere der Erfahrung des behandelnden Teams wird zur Durchführung der NIV bei ARI ein breites Spektrum von Beatmungsgeräten verwendet. Es reicht von portablen Geräten mit geringerem technischem Aufwand [12] bis zu HightechIntensivrespiratoren. Auch wenn inzwischen ein Minimum an technischer Ausstattung in allen Respiratoren zur Anwendung der NIV gewährleistet ist, existieren bisher keine allgemeingültigen Richtlinien oder Empfehlungen, welcher Gerätetyp bei welcher Indikation an welchem Ort zu verwenden ist. Die wesentlichen Charakteristika der portablen Ventilatoren und Intensivrespiratoren sind in . Tab. 42.2 aufgeführt. Trotz spezieller Softwareaufrüstungen für Intensivrespiratoren zur NIV-Applikation sind portable Geräte bei vergleichbarer Beatmungsqualität häufig einfacher zu handhaben [13]. Bei der Anwendung der NIV existiert eine teilweise verwirrende Vielzahl von Beatmungsoptionen. Allgemein gesagt wird NIV im assistierten, assistiert-kontrollierten oder kontrollierten Modus mit Druck- oder Volumenvorgabe angewandt. > Die inspiratorische Druckunterstützung ist der bevorzugte Modus bei NIV zur Behandlung der ARI. Hierbei bleibt die Spontanatmung erhalten (d. h. der Patient triggert die Inspiration), die inspiratorische Atemmuskulatur wird maschinell entlastet und die Ventilation augmentiert.
Die inspiratorische Druckunterstützung kommt nicht nur in Form von »pressure support ventilation« (PSV) [14], sondern auch in Form der »proportionate assist ventilation« (PAV) zur Anwendung. PAV führt zur Entlastung der Atemmuskulatur und Besserung der Blutgase [15]. Außer einem besseren Komfort bleibt zu klären, welchen Stellenwert PAV als Beatmungsform bei dieser Indikation hat. Inzwischen wird assistierte Beatmung fast nur noch im sog. STModus mit einer Backup-Frequenz eingesetzt, d. h. dass der Patient in der Regel die Maschine triggert und nur bei Bradypnoe oder Apnoe mit einer Sicherheitsgrundfrequenz kontrolliert beatmet wird. Da Patienten mit ARI häufig stark agitiert sind und einen hohen Atemantrieb aufweisen, werden bei diesen Patienten kontrollierte Beatmungsverfahren im Gegensatz zur elektiven häuslichen Beatmung bei chronisch ventilatorischer Insuffizienz selten angewendet [12]. In ihrer Anfangsphase wurde NIV bevorzugt mit Volumenvorgabe zur Therapie der ARI eingesetzt [16]. Im weiteren Verlauf setzte sich PSV durch, v. a. weil die Kompensation von Leckagen infolge Maskenundichtigkeit und/oder offenem Mund bei Beatmung mit Druckvorgabe im Vergleich zur Volumenvorgabe größer ist [17].
. Tab. 42.2 Vergleich der portablen Ventilatoren mit den Intensivrespiratoren Klinischer Aspekt
Portable Ventilatoren
Intensivventilatoren
Leckagekompensation
Gut bis sehr gut
Häufig unzureichend
Alarme
Selten
Häufig (Fehlalarme)
Alarme
Selten
Häufig (Fehlalarme)
Monitoring (z. B. Flow und Druck)
Oft nicht vorhanden
Immer vorhanden
Möglichkeit der Sauerstoffzumischung
Oft nicht vorhanden
Immer vorhanden
Handhabung
Einfach
Häufig kompliziert
Gewicht des Schlauchsystems
Leicht
Relativ schwer
CO2-Rückatmung
Möglich bei Einschlauchsystem
Nicht möglich bei Zweischlauchsystem d. h. separatem Exspirationsschenkel)
Leckagekompensation
Gut bis sehr gut
Häufig unzureichend
Reines CPAP (»continuous positive airway pressure«), d. h. Applikation eines konstanten Drucks während In- und Exspiration, wird in der Therapie des kardialen Lungenödems und während der postoperativen Phase (7 dort) erfolgreich eingesetzt. Ansonsten hat CPAP als Therapieoption der ARI nur eine untergeordnete Bedeutung [18].
42.3.2
Beatmungszugang (»Interfaces«)
Ein breites Spektrum von Beatmungszugängen im Gesichtsbereich, wie z. B. Nasenmasken, Mund-Nasen-Masken sowie Ganzgesichtsmasken steht zur Verfügung (. Abb. 42.2). Mund-Nasen-Masken werden v. a. in der Initialphase der Therapie bevorzugt [19]. Maskenbedingte Druckstellen im Bereich von Nasenrücken und/oder übrigen Gesichtsbereich müssen früh erkannt und umgehend korrigiert werden [20, 21]. Der Beatmungshelm, der den gesamten Kopf umschließt (. Abb. 42.3), wird vorwiegend bei Patienten mit hypoxämischer ARI eingesetzt [22]. Im Vergleich zur Ganzgesichtsmaske wurde der Helm auch von COPD-Patienten gut toleriert; das Ausmaß der paCO2-Absenkung war jedoch geringer [23, 24]. Die klinische Bedeutung der Unterschiede zwischen Masken und Helm bzgl. Triggerungszeiten und Druckkurven im Modellversuch muss weiter abgeklärt werden [25]. Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Beatmungszugänge werden in . Tab. 42.3 aufgeführt.
42.3.3
Personeller Aufwand und Ort des Geschehens
Der Personalbedarf bei NIV ist in der Initialphase der Therapie der ARI mit einem Patient-Therapeut-Verhältnis von 1:1 relativ hoch. Es ließ sich jedoch zeigen, dass NIV im Vergleich zur konventionellen Therapie (inklusive invasive Beatmung) für ein trainiertes Team
42
546
Kapitel 42 · Nichtinvasive Beatmung zur Therapie der akuten respiratorischen Insuffizienz
42 42 42 42 42 42 42 a
42
b
c
. Abb. 42.2 Maskentypen: a Nasenmaske, b Mund-Nasen-Maske, c Ganzgesichtsmaske
42 . Tab. 42.3 Vergleich verschiedener Interfaces für die NIV
42
Klinischer Aspekt
Nasenmaske
Nasen-Mundbzw. Ganzgesichtsmaske
Beatmungshelm
Mundleckage
Häufig
Nicht relevant
Nicht relevant
Mundatmung
Vermeiden
Möglich
Möglich
Monitoring des Atemzugvolumens
Oft fehlerhaft
Möglich
Möglich
Beeinträchtigte Nasenatmung
Problematisch
Unproblematisch
Unproblematisch
Initiale Besserung der Blutgase (insbesondere CO2-Abnahme)
Verzögert
Relativ schnell
Bei COPD im Vergleich zu NasenMund-Maske geringer
Komfort und Toleranz
Gut
Mäßig
Sehr gut
Kommunikationsfähigkeit
Gut
Mäßig
Mäßig
Expektoration
Gut
Eingeschränkt
Eingeschränkt
Aspirationsgefahr
Gering
Mäßig
Nein
Aerophagie
Selten
Mäßig
Mäßig
Klaustrophobie
Selten
Mäßig
Nein
Totraum (kompressibles Volumen)
Gering
Relativ groß
Groß
Geräuschbelästigung
Nein
Nein
Häufiger
Ohrendruck und Hörstörungen
Nein
Nein
Häufiger
Bronchoskopische Absaugung
Möglich
Möglich
Möglich
42 42 42 42 42 42 42 42 42 42 42 42 42 42 42
. Abb. 42.3 Beatmungshelm für die NIV
auch während der ersten 4 Therapiestunden keinen vermehrten Zeitaufwand bedeutet [26–28]. Im weiteren Verlauf lässt sich dann durch NIV aber Arbeitszeit und -aufwand einsparen [29]. Abhängig von den örtlichen Gegebenheiten und Ressourcen wird NIV zur Behandlung der ARI bevorzugt auf der Intensivstation oder der Intermediate Care Unit durchgeführt [30]. Argumente für diese beiden Einheiten sind die sichere und kontinuierliche Überwachung des Patienten (in Form von Monitoring und unverzögertem Beginn vital indizierter therapeutischer Maßnahmen wie z. B. Intubation), der hohe pflegerische Aufwand in der Initialphase der Therapie [29] und die Notwendigkeit einer exakten Dokumentation von Prozeduren, therapeutischem Aufwand und Beatmungsstunden. Die Ergebnisse der in England auf Normalstationen durchgeführten Therapiestudie zu NIV als Behandlungsform der ARI [31] sind nicht ohne Weiteres auf unsere Verhältnisse zu übertragen.
547 42.4 · Spektrum der Indikationen
42.3.4
Praktische Applikation von NIV
Die NIV wird bevorzugt in halbsitzender Position durchgeführt. Im Notfall wird vorwiegend mit einer Nasen-Mund-Maske begonnen. Diese sollte initial von Hand aufgesetzt werden, um den Patienten allmählich an diesen Fremdkörper zu gewöhnen. Darüber wird Sauerstoff zugeführt. Vor allem bei Patienten mit hyperkapnischer ARI kann die Adaptation an die Maskenbeatmung durch manuelle Luftinsufflation erleichtert werden. Diese Vorgehensweise hat auch den Vorteil, abschätzen zu können, wie gut sich der Patient beatmen lässt. Erfahrungsgemäß beruhigt sich der Patient schneller, wenn einige Minuten sein spontanes Atmungsmuster mit dem Beutel unterstützt wird. Zeichnet sich hier eine Stabilisierung ab, kann die Beatmungsmaschine angeschlossen werden. Ist der Patient sehr agitiert, hat sich eine leichte Sedierung bewährt, wobei der Autor wegen der guten Steuerbarkeit hier Morphium i.v. (5–10 mg) empfiehlt. Alternativ werden kurzwirksame Sedativa eingesetzt.
42.4
Mögliche Kontraindikationen für NIV
4 4 4 4 4 4 4
Basierend auf der S3-Leitlinie »Nichtinvasive Beatmung zur Therapie der akuten respiratorischen Insuffizienz« werden im Folgenden die wichtigen Indikationen abgehandelt und am Ende des jeweiligen Abschnittes die wesentlichen Empfehlungen der S3-Leitlinie aufgeführt [38].
42.4.1
NIV bei hyperkapnischer Verlaufsform der ARI
Die häufigste Ursache für die hyperkapnische ARI (mit der Definition: pH 45 mm Hg) ist die exazerbierte COPD (7 Kap. 40). Es kommt hierbei infolge des erhöhten Atemwegswiderstandes, der dynamischen Lungenüberblähung und der konsekutiven Abflachung des Zwerchfells zur Überlastung mit drohender Erschöpfung der Atemmuskulatur (7 Abschn. 40.2).
Spektrum der Indikationen
der Auch wenn nationale und internationale Empfehlungen bezüglich NIV als Therapieform der ARI publiziert sind [32, 33], stößt der breite Einsatz der NIV aus unterschiedlichen Gründen an Grenzen. Trotz der genannten praktischen Vorteile und der positiven Studienlage zum Stellenwert der NIV bei ARI sind die epidemiologischen Daten zur Anwendungsrate ernüchternd. Bei einer weltweit durchgeführten Erhebung zu Beatmungsverfahren ergab sich, dass NIV lediglich bei etwa 1–3% der beatmeten Patienten eingesetzt wird [34]. Da mit wachsender Erfahrung in der Anwendung von NIV der Schweregrad der Grunderkrankung und das Ausmaß der Komorbidität der behandelten Patienten zunehmen, relativiert sich der Begriff »absolute Kontraindikationen« für NIV als Therapieverfahren der hyperkapnischen ARI [35] immer mehr. In der Übersicht sind die möglichen Kontraindikationen aufgeführt.
4 4 4 4
> Allgemein ist festzustellen, dass der Erfolg von NIV in einem nicht zu unterschätzenden Ausmaß von der Erfahrung und Motivation des Behandlungsteams sowie der technischen Ausrüstung abhängt.
Länger dauerndes Koma oder massive Agitation Fehlende Spontanatmung, Schnappatmung Fixierte oder funktionelle Verlegung der Atemwege Massive Hypersekretion trotz bronchoskopischer Absaugung Multiorganversagen Vital bedrohliche Hypoxämie oder Azidose (pH 20
Zäkostomie
Veränderungen der intraabdominellen Physiologie
5 Gastroparese, Ileus, intestinale Pseudoobstruktion 5 Hämo-/Pneumoperitoneum 5 Leberfunktionsstörungen/Aszites 5 Tumor
Veränderte Flüssigkeitssequestration
5 5 5 5 5 5 5
Veränderte Compliance der Bauchwand
5 5 5 5
Da nach endoskopischer Therapie eine relativ hohe Rezidivrate zur erneuten Entwicklung einer akuten intestinalen Pseudoobstruktion besteht, sind auch alternative Therapiemaßnahmen wie die perkutane Zäkostomie zu erwähnen. Wenngleich mit einer hohen Morbidität assoziert, zeigte sich die interventionelle Methode, die – endoskopisch unterstützt – ähnlich wie eine perkutane Gastrostomie angelegt wird, im Einzelfall erfolgreich.
. Tab. 43.6 Risikofaktoren für einen erhöhten intraabdominellen Druck
Chirurgische Dekompressionstherapie Bei Versagen konservativer oder interventioneller Therapiemaßnahmen sollte eine chirurgische Dekompressionstherapie mittels Zäkostomie, Kolostomie oder auch der Resektion entsprechender Darmabschnitte erfolgen. Da diese Therapiemaßnahme mit einem schlechteren Outcome vergesellschaftet ist, sollte sie nur bei Versagen der anderen Optionen oder bei Verdacht auf Perforation und/ oder Peritonitis durchgeführt werden.
Azidose Hypothermie Massentransfusionen Koagulopathie Volumenbilanz >5 l/24 h Pankreatitis Sepsis
Übergewicht Abdominelle Traumata Brandverletzungen Abdominelle Chirurgie mit Faszienverschluss 5 ARDS, mechanische Beatmung
43
564
Kapitel 43 · Gastrointestinale Störungen bei kritisch Kranken
43
systeme betroffen sein mit Ausprägung eines »multiple organ dysfunction syndrome» (MODS).
43
Kardiovaskuläre Folgen
43 43 43 43
Patienten mit erhöhtem intraabdominellem und in Folge auch erhöhtem intrathorakalem Druck erfahren eine deutliche Verschlechterung des Herzzeitvolumens. Während bei der intraabdominellen Hypertension die Effekte noch durch eine regulatorische Erhöhung des peripheren Gefäßwiderstandes kompensiert werden können, kommt es bei Patienten mit abdominellem Kompartmentsyndrom bereits zu einer deutlichen hämodynamischen Instabilität. Infolgedessen ist eine ausreichende Volumensubstitution zur Kreislaufstabilisierung notwendig.
Intestinale Folgen
43
Das Intestinum reagiert mit am empfindlichsten auf die intraabdominelle Druckerhöhung. Durch eine verminderte mesenteriale Perfusion wird die bakterielle Translokation begünstigt. Die Patienten weisen einen deutlich erniedrigten mukosalen pH-Wert bei steigendem Druck auf, der sich nach abdomineller Dekompression wieder bessern kann. Zudem führt eine Minderperfusion zu einer progredienten Dilatation. Die daraus wiederum resultierende Hypovolämie, das erniedrigte Herzzeitvolumen und die damit oft verbundene notwendige Katecholamintherapie verstärken die intestinale Minderperfusion weiter.
43
Hepatische Folgen
43 43 43
43 43 43 43 43 43 43 43 43 43 43 43 43 43
Die intraabdominelle Druckerhöhung führt sowohl zu einer arteriellen Minderperfusion der Leber als auch zu einer Verminderung des portalvenösen Blutflusses, was durch eine hypovolämische Kreislaufsituation noch verstärkt wird. Durch Aggravierung der portalvenösen Hypertension können beispielsweise bei Patienten mit Leberzirrhose entsprechende Komplikationen wie eine akute Ösophagusvarizenblutung induziert oder verstärkt werden. Daher ist eine intraabdominelle Drucksenkung, z. B. durch Ablassen von Aszites bei Patienten mit Leberzirrhose, von therapeutischer Bedeutung.
Pulmonale Folgen Durch einen Anstieg des intraabdominellen Drucks erhöht sich konsekutiv der intrathorakale Druck. Die Elevation des Zwerchfells resultiert in einer Minderbelüftung der basalen Lungenabschnitte, was zu einem Verlust der funktionellen Residualkapazität führt. Durch Affektion der pulmonalen Mechanik mit verminderter Compliance wird die Atelektasenentwicklung mit Erhöhung des intrapulmonalen Shuntvolumens begünstigt. ! Cave Dabei ist zu beachten, dass bereits eine moderate Erhöhung des intraabdominellen Drucks zu einer signifikanten Erhöhung des intraalveolären Drucks führt und somit einen negativen Effekt auf den Gasaustausch hat.
Bei Patienten mit mechanischer Beatmung und erhöhtem intraabdominellem Druck sind insgesamt höhere Beatmungsdrücke für alveoläre Recruitment-Manöver notwendig. Der optimale positiv endexspiratorische Druck (PEEP) scheint tendenziell höher zu sein als bei Patienten ohne abdominelle Hypertension. Somit sollte ein PEEP mindestens um 2 cm H2O höher als der intraabdominelle Druck liegen. Bei spontan atmenden Patienten mit erhöhtem intraabdominellem Druck kommt es zu einer vermehrten Atemarbeit. Somit sollte beispielsweise bei gerade extubierten Patienten eine erhöhte Posi-
tion angestrebt werden, um so den Druck auf das Diaphragma zu mindern und die Kompression der basalen Lungenabschnitte weitgehend zu reduzieren.
Renale Folgen Im Rahmen des erhöhten intraabdominellen Drucks entsteht eine renale Minderperfusion mit konsekutiver Verschlechterung der glomerulären Filtrationsrate und letztlich verminderter Urinauscheidung. Dabei spielen zusätzliche Faktoren eine wichtige Rolle: 4 erhöhter venöser Druck mit der Folge der Aktivierung des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems, 4 direkte Kompression der Nieren mit der Folge eines erhöhten Gefäßwiderstandes und Reduktion des Herzzeitvolumens, 4 Kompression der Ureteren, 4 erhöhter Sympathikotonus, 4 nichtosmotische ADH-Sekretion. > Die Entwicklung des akuten Nierenversagens stellt nach wie vor eine ernsthafte Komplikation beim kritisch kranken Patienten dar, die einen entscheidenden Einfluss auf die weitere Prognose der Patienten hat.
Neurologische Folgen Nicht zuletzt entsteht bei Patienten mit intraabdomineller Druckerhöhung auch eine Erhöhung des intrazerebralen Drucks mit der Folge der zerebralen Minderperfusion aufgrund eines erhöhten Perfusionswiderstands. Insbesondere betroffen sind Patienten mit vorangegangenem Schädel-Hirn-Trauma, aber auch ohne äußere Hinweise auf eine Schädelverletzung können neurologische Defizite verursacht sein.
43.5.4
Therapeutische Konsequenzen
Therapeutisches Ziel ist eine unmittelbare Senkung des intraabdominellen Druckes. Konservative Therapiemaßnahmen haben hierbei nur eingeschränkte Bedeutung. Tiefe Sedierung und ausreichende Analgesie sind als obligat zu erachten. Eine negative Flüssigkeitsbilanz kann, sofern im Rahmen der intensivpflichtigen Erkrankung tolerabel, hilfreich sein (Anwendung von Flüssigkeitsrestriktion, Diuretika, Kolloiden, Dialyseverfahren), ist aber bei instabiler Kreislaufsituation häufig nicht praktikabel. Bei vorliegendem Bild eines Ileus sind entsprechende therapeutische Maßnahmen einzuleiten wie Aspiration über nasogastrale Sonden, Anwendung von Prokinetika, ggf. auch die Dekompressionstherapie des Dickdarms. Bei Patienten mit Aszites ist eine Parazentese therapeutisch hilfreich, bei intraabdominellen Abszessen therapeutische Punktionen und Entlastung durch Drainagen. Häufig reichen jedoch konservative oder auch interventionelle Optionen wie Entlastungspunktionen nicht aus, sodass die chirurgische Dekompression als letzte Therapiealternative einzusetzen ist. Diese kann bei sehr instabilen Patienten durchaus auch als »Bedside-Therapie« auf der Intensivstation durchgeführt werden. Dabei wird das Abdomen großzügig, in aller Regel durch eine mediane Laparatomie, eröffnet und lediglich als temporärer Schutz ein Netz eingenäht und dann mit sterilen Bauchtüchern versorgt. Ein definitiver Bauchdeckenverschluss wird häufig erst nach Überleben der kritischen Situation möglich.
565 43.7 · Erkrankungen der Gallenblase und Gallenwege
43.6
Bakterielle Translokation
Der menschliche Gastrointestinaltrakt ist von einer Vielzahl von Mikroorganismen besiedelt. Dabei stellt der Darm generell keine absolute Barriere dar, sondern es kommt auch beim Gesunden kontinuierlich zum Übertritt von Organismen im Sinne einer Translokation. Klinische Relevanz erhält dieses Phänomen insbesondere beim kritisch kranken Patienten, da infektiöse Prozesse begünstigt bzw. bestehende Infektionen verschlechtert werden können [1,16].
43.6.1
Mechanismen der bakteriellen Translokation
43.6.3
Prävention und Therapie der bakteriellen Translokation
Primäres Ziel ist es, die Entstehung der bakteriellen Translokation im Vorfeld zu minimieren. Dazu gehört, die Integrität der intestinalen Mukosa aufrechtzuerhalten. Für die Einleitung einer total parenteralen Ernährung gilt als gesichert, dass die bakterielle Überbesiedlung, die mukosale Atrophie sowie oxidativer Stress begünstigt werden. Somit hat die enterale Ernährung beim Intensivpatienten einen wichtigen Stellenwert. > Der frühzeitige Einsatz der enteralen Ernährung resultiert beim kritisch kranken Patienten in einer Verminderung septischer Komplikationen.
Der bakteriellen Translokation liegen folgende Mechanismen zugrunde: 4 Verminderung der gastrointestinalen Mikroflora mit bakterieller Überbesiedlung, 4 Störung der mukosalen Barrierefunktion, 4 Reduktion der allgemeinen immunologischen Funktion.
Weitere Behandlungsstrategien der bakteriellen Translokation umfassen folgende Maßnahmen: 4 Supplementation von IgA zur mukosalen Stabilisierung, 4 Verabreichung von Ornithin-α-Ketoglutarat zur Verbesserung der intestinalen Struktur sowie der zelluläre Immunität, 4 Gabe von Fischöl zur Förderung der intestinalen Perfusion.
Möglichkeiten der Translokation
Fazit
Die Möglichkeiten der Translokation aus dem Gastrointestinaltrakt zu extraintestinalen Lokalisationen sind vielfältig. Folgende Möglichkeiten können in Betracht gezogen werden: 4 retrograde Migration intrapulmonal, 4 transmurale Migration durch die intestinale Wand, 4 lymphatische Migration durch Peyer-Plaques und mesenteriale Lymphknoten, über den Ductus thoracicus sowie das systemische Lymphsystem, 4 vaskuläre Migration schließlich bis zum Pfortadersystem.
4 Wenngleich einige therapeutische Ansätze existieren, können zum jetzigen Zeitpunkt (noch) keine gezielten Therapieempfehlungen gegeben werden. 4 Das Phänomen der bakteriellen Translokation bedarf einer weiteren Charakterisierung, um künftig klinisch genau eingeordnet werden zu können.
Klinisch bedeutend ist v. a. die retrograde Migration, die insbesondere bei Patienten mit invasiver Beatmung Aspirationspneumonien begünstigt.
43.6.2
Klinische Relevanz der bakteriellen Translokation
Inwieweit die bakterielle Translokation schließlich Einfluss auf den klinischen Verlauf kritisch kranker Patienten nimmt, ist immer noch nicht eindeutig geklärt. In einigen Studien konnte ein klarer Zusammenhang zwischen der Inzidenz von infektiösen Komplikationen und der Zunahme der intestinalen Permeabilität gezeigt werden. Wichtig zu beachten ist, dass die bakterielle Translokation nicht einem »On-off-Prinzip« folgt, sondern als permanentes Phänomen v. a. bei kritisch kranken Patienten klinische Bedeutung erlangt. Während der Einfluss der bakteriellen Translokation auf das Outcome im Tiermodell bereits mehrfach nachgewiesen werden konnte, ist der Nachweis der bakteriellen Translokation beim Menschen durchaus schwieriger, zumal klinisch eindeutige Nachweismethoden bislang fehlen. > Eindeutige Aussagen zum Einfluss der bakteriellen Translokation auf den klinischen Verlauf und zur prognostischen Relevanz können derzeit nicht getroffen werden.
43.7
Erkrankungen der Gallenblase und Gallenwege
43.7.1
Akalkulöse Cholezystitis
Als weitere Komplikation im Rahmen eines längeren Intensivaufenthaltes muss die akalkulöse Cholezystitis angesehen werden. Morphologische Veränderungen der Gallenblase sind häufig. Ihre klinische Bedeutung ist allerdings manchmal schwierig zu deuten. Während die kalkulöse Cholezystitis mit Steinnachweis in der Bildgebung, beispielsweise der Sonographie, eindeutig zuzuordnen ist, finden sich bei Intensivpatienten häufig (sono-)morphologische Veränderungen der Gallenblase ohne Steinnachweis, ohne dass deren klinische Relevanz eindeutig abzuleiten ist [2, 8]. Während also spezifische Kriterien einer akalkulösen Cholezystitis fehlen, wird die Diagnose in aller Regel basierend auf morphologischen, klinischen und laborchemischen Veränderungen gestellt und kann dann auch erst retrospektiv nach chirurgischer Therapie verifiziert werden. Prädisponierende Faktoren sind in . Tab. 43.7 zusammen gefasst. Bezüglich therapeutischer Optionen gilt die chirurgische Cholezystektomie immer noch als Methode der Wahl, konservative Therapieversuche sind auch bei instabilen Patienten mit vermuteter, klinisch relevanter akalkulöser Cholezystitis als unterlegen zu bewerten.
43.7.2
Sekundär sklerosierende Cholangitis
Immer häufiger kommt es im Rahmen kritischer Erkrankungen zu Veränderungen der Gallenwege in Form einer sog. sekundär sklerosierenden Cholangitis (SSC) [12].
43
566
43 43
Kapitel 43 · Gastrointestinale Störungen bei kritisch Kranken
. Tab. 43.7 Ätiologie der akalkulösen Cholezystitis Häufigste zugrunde liegende Erkrankungen
43 43
5 Epitheliale Ischämie des Gallenblasenepithels und Reperfusionsschäden 5 Invasive Ventilation 5 Parenterale Ernährung 5 Opioidtherapie
Assoziierte Faktoren
5 5 5 5
43
43 43 43 43
Trauma Verbrennungsunfall Spinales Trauma Postoperativ nach herzchirurgischen Eingriffen 5 Verletzungen der thorakalen Aorta
Prädisponierende Faktoren
43
43
5 5 5 5
Intensivpflichtige Erkrankung Langer Intensivaufenthalt Nachweis einer Infektion Hohe Mortalität
rhose vergesellschaftet und geht mit einer deutlich verkürzten Lebenserwartung einher. Eine frühzeitige Ischämie der Gallenwege, beispielsweise im Rahmen eines allgemeinen Schockgeschehens, wird derzeit als frühes Ereignis in der Genese der SSC beim kritisch kranken Patienten angesehen. Inwieweit bakterielle Infekte zusätzlich eine wichtige Rolle spielen, ist offen.
Behandlungsoptionen Konservative Therapiestrategien sind derzeit nicht etabliert. Patienten, die einer Lebertransplantation nicht zugeführt werden können, weisen im Verhältnis eine deutlich geringere Lebenserwartung auf. Auch verläuft die SCC infolge einer intensivpflichtigen Erkrankung in aller Regel rapider und ist mit einem schlechteren Outcome vergesellschaftet.
Literatur 1
2
Sekundär sklerosierende Cholangitis Die sekundär sklerosierende Cholangitis ist eine chronisch cholestatische Gallenwegserkrankung, die mit Entzündung, Gallengangfibrose, -striktur und progressiver Destruktion der Gallenwege einhergeht. Im fortgeschrittenen Stadium führt sie schließlich zum Bild der biliären Zirrhose.
3
4 5
43 43 43 43 43 43 43 43 43 43 43 43 43 43
6
Diese Erkrankungsentität ist neuerdings immer häufiger bei kritisch kranken Patienten mit langem Intensivaufenthalt zu finden. Typischerweise haben diese Patienten keine vorbestehenden Gallenwegs- oder Lebererkrankungen und weisen auch während der kritischen Erkrankung keine mechanische Obstruktion der Gallenwege auf.
Klinische Zeichen Im Initialstadium sind klinische Zeichen schwer zu finden und häufig unspezifisch. Erhöhte Leberwerte können die einzigen Hinweise sein, besonders deutlich erhöhte Werte der AP und der γ-GT sind charakteristisch. Dennoch fehlen spezifische Parameter für das frühe Stadium der SSC. Im Verlauf der Erkrankung lässt sich dann typischerweise eine persistierende Cholestase mit klinischen Zeichen wie Ikterus und Pruritus nachweisen. Aszendierende Gallenwegsentzündungen sind dabei als relevant anzusehen. In der Diagnostik müssen bildgebende Verfahren wie die Sonographie nicht zwingend wegweisend sein, als Goldstandard gilt die ERCP. > Goldstandard in der Diagnostik der sekundär sklerosierenden Cholangitis ist die endoskopisch retrograde Cholangiopankreatikographie (ERCP).
Typische Läsionen dabei sind PSC-ähnliche Gallengangsläsionen, multifokale Strikturen und abwechselnd dilatierte und normal weite Gallenwege im Sinne eines »Perlschnurmusters«.
Ursachen Während die SSC häufig auf ein initiales direktes Gallenwegsproblem zurückgeführt werden kann (chronisch biliäre Obstruktion, chirurgische Interventionen am Gallengang, direkte Ischämien der Gallenwege), bleibt die Genese beim Intensivpatienten bislang weitgehend unklar. Sie ist mit einer rapiden Progression zur Zir-
7 8 9 10 11 12 13 14 15
16
Berg RD, Garlington AD (1979) Translocation of certain indigenous bacteria from the gastrointestinal tract to the mesenteric lymph nodes and other organs in a gnotobiotic mouse model. Infect Immun 23: 403–411 Boland GWL, Slater G, Lu DSK et al. (2000) Prevalence and significance of gallbladder abnormalities seen on sonography in intensive care unit patients. AJR 174: 973– 977 Booth CM, Heyland DK, Paterson WG (2002) Gastrointestinal promotility drugs in the critical care setting: a systematic review of the evidence. Crit Care Med 30: 1429–1435 Catchpole BN (1969) Ileus: use of sympathetic bocking agents in its treatment. Surgery 66: 811–820 Delgoda-Aros S, Camilleri M (2003) Pseudo-obstruction in the critically ill. Best Practice Res Clin Gastroenterol 17: 427–444 Deslauriers N, Derý R, Denault A (2009)Acute abdominal compartement syndrome. Can J Anaesth 56: 678–682 Madl C, Druml W (2003) Systemic consequences of ileus. Best Practice Res Clin Gastroenterol 17: 445–456 Laurila J, Syrjälä H, Laurila PA et al. (2004) Acute acalculous cholecystitis in critically ill patients. Acta Anaesth Scand 48: 986–991 Malbraine MLNG (2000) Abdominal pressure in the critically ill. Curr Opin Crit Care 6: 17–29 Ogilvie H (1948) Large intestine colic due to sympathetic deprivation: a new clinical syndrome. BMJ 2: 671–667 Quigley EMM (2005) Critical care dysmotility: abnormal foregut motor function in the ICU/ITU patient. GUT 54: 1351–1352 Ruemmele P, Hofstaedter F, Gelbmann CM (2009) Secondary sclerosing cholangitis. Nat Rev Gastrohepatol 6: 287–295 Schölmerich J, Langgartner J (2005) Störungen des Verdauungstraktes bei kritisch Kranken. Intensivmedizin 42: 317–336 Sugrue M (2002) Intraabdominal pressure: time for clinical practice guidlines? Intens Care Med 28: 389–391 Vanek VW, Al-Salti M (1986) Acute pseudo-obstruction of the colon (Ogilvie´s syndrome). An analysis of 400 cases. Dis Colon Rectum 29: 203–210 Wiest R, Rath HC (2003) Bacterial translocation in the gut. Best Practice Res Clin Gastroenterol 17: 397–425
567
Hepatobiliäre Funktionsstörungen und Leberversagen R.E. Stauber, P. Fickert, M. Trauner
44.1
Die Leber als »Opfer« und Zielorgan – 568
44.1.1 44.1.2 44.1.3
Sepsisinduzierte Cholestase – 568 Ischämische und hypoxische Hepatitis, Schockleber – 569 TPE- (total parenterale Ernährung) und medikamentös-induzierte Cholestase – 570 Akalkulöse Cholezystitis, Gallenblasen-Sludge beim Intensivpatienten – 570
44.1.4
44.2
Die Leber als »Täter« bzw. Ursache – 570
44.2.1 44.2.2
Akutes Leberversagen (ALV) – 570 Akut-auf-chronisches Leberversagen (ACLV) – 574
44.3
Extrakorporaler Leberersatz – 576 Literatur – 577
H. Burchardi et al. (Hrsg.), Die Intensivmedizin, DOI 10.1007/978-3-642-16929-8_44, © Springer Medizin Verlag Berlin Heidelberg 2011,
44
44 44 44 44 44 44 44 44 44 44 44 44 44 44
568
Kapitel 44 · Hepatobiliäre Funktionsstörungen und Leberversagen
44.1
Die Leber als »Opfer« und Zielorgan
44.1.1
Sepsisinduzierte Cholestase
Sepsisinduzierte Cholestase Als »sepsisinduzierte Cholestase« bezeichnet man das Auftreten einer konjugierten Hyperbilirubinämie als Folge einer extrahepatischen bakteriellen Infektion ohne direkte Invasion der Leber durch Erreger.
Ätiologie Ursächlich handelt es sich dabei meist um Infektionen mit gramnegativen Stäbchen und Bacteroides spp. [33], die über die Freisetzung bakterieller Lipopolysaccharide (LPS) zur Stimulation der systemischen und hepatischen Zytokinproduktion führen. Gramnegative und grampositive Kokken kommen ursächlich ebenso in Frage. Im Rahmen eines Toxic-shock-Syndroms sind Staphylokokkentoxine (z. B. TSST-1) als Stimulans der Zytokinsynthese von zentraler Bedeutung. Die Infektions-/Sepsisquelle ist bei sepsisinduzierter Cholestase meist intraabdomineller Natur (z. B. Appendizitis, Divertikulitis, Peritonitis). Extraabdominelle Infektionsherde wie Pneumonien, Endokarditiden, Harnwegsinfektionen, Meningitiden und Weichteilabszesse sind weitere wichtige Ursachen [33, 48]. Während die sepsisinduzierte Cholestase die klassische hepatische Manifestation eines Multiorgandysfunktionssyndroms (MODS) im Rahmen einer Sepsis bzw. eines Systemic-inflammatory-response-Syndroms (SIRS) darstellt, können hämodynamische Störungen gleichzeitig auch zur ischämischen Hepatitis und Schockleber führen. Seltener können die beobachteten Leberveränderungen Ausdruck von Nebenwirkungen von Medikamenten oder total parenteraler Ernährung (TPE) sein.
Pathophysiologie Die Cholestase (i. e. Anstieg von Bilirubin und Gallensäuren im Serum) wird durch endotoxininduzierte proinflammatorische Zytokine (z. B. TNF-α, IL-1β, IL-6) ausgelöst, welche die Expression und Funktion hepatobiliärer Transportsysteme für Gallensäuren und Bilirubin hemmen [48]. Die Zytokinsensitivität der Bilirubinkonjugatexportpumpe (MRP2) ist tierexperimentell gut belegt und könnte die beobachtete konjugierte Hyperbilirubinämie bei Sepsis erklären. Zusätzlich wird die Funktion anderer hepatobiliärer Transportsystem (z. B. für Gallensäuren) sowie die Permeabilität von ZellZell-Kontakten (»tight junctions«) auf Ebene der Hepatozyten und Cholangiozyten durch proinflammatorische Zytokine erhöht [46]. . Abb. 44.1 fasst die Pathophysiologie und Manifestationsformen der sepsisinduzierten Cholestase zusammen.
Differenzialdiagnose Differenzialdiagnostisch sollte immer eine mechanische Cholestase mittels Sonographie ausgeschlossen werden. Weiterhin muss das Krankheitsbild gegenüber hepatotoxischen Nebenwirkungen von Medikamenten und der TPE abgegrenzt werden (7 Abschn. 44.1.3). Hämodynamische Ursachen eines sepsisassoziierten Pumpversagens im Sinne einer kardialen Stauungsleber oder ischämischen Hepatitis sind auszuschließen. . Abb. 44.2 fasst das differenzialdiagnostische Vorgehen bei Vorliegen eines Ikterus im intensivmedizinischen Bereich zusammen.
Klinik Die Diagnose wird bei Fieber und Ikterus bei vorwiegend konjugierter (70–80% konjugiertes Bilirubin) Hyperbilirubinämie (meist zwischen 5 und 10 mg/dl; selten zwischen 30 und 50 mg/dl) und relativ unauffälliger Lebersyntheseleistung bzw. Leberenzymen [γ-Glutamyl Transpeptidase (γ-GT) und alkalische Phosphatase (AP) maximal 2- bis 3-fach erhöht] gestellt.
44 44 44 44 44 44 44 44 44 44 44
. Abb. 44.1 Pathophysiologie und Manifestationsformen der Cholestase bei septischen Patienten. Diese kann entweder auf hepatozellulärer Ebene durch Transporterdefekte, auf Ebene der kleineren Gallengänge durch ein entzündliches Infiltrat (Cholangitis lenta) oder auf Ebene der großen Gallengänge über Obstruktion und fibroobliterierende Entzündung entstehen. Bei Auftreten einer Schockleber (ischämische Hepatitis) stehen zentrolobuläre Leberzellnekrosen im Vordergrund
569 44.1 · Die Leber als »Opfer« und Zielorgan
re, Cefoperazon). Bei Cephalosporinen mit Thiotetrazolring (z. B. Cefamandol, Cefperazon) sollte aufgrund ihrer Interaktion mit dem Vitamin-K-Metabolismus auf eine ausreichende Vitamin-KSubsititution geachtet werden. Das Vorliegen einer Cholestase darf jedoch kein Hinderungsgrund für die Gabe von Antibiotika mit primär renaler Elimination sein. Zur Gabe von Ursodeoxycholsäure gibt es noch keine evidenzbasierten Daten.
44.1.2
Ischämische und hypoxische Hepatitis, Schockleber
Definition
. Abb. 44.2 Differenzialdiagnostisches Vorgehen bei Ikterus im intensivmedizinischen Bereich je nach Vorliegen einer vorwiegend unkonjugierten Hyperbilirubinämie, eines primär cholestatischen oder hepatitischen Enzymmusters (LPS Leberparenchymschaden; TPE totale parenterale Ernährung)
Der Ikterus manifestiert sich 2–7 Tage nach Beginn der Bakteriämie. Kritisch kranke Patienten mit einem Serumbilirubin >2 mg/ dl innerhalb 48 h nach Aufnahme haben eine signifikant erhöhte Mortalität, was die Bedeutung früher Leberveränderungen für die Prognose der Patienten unterstreicht [27]. Die Serumgallensäuren sind als Ausdruck der Cholestase erhöht. Nach erfolgreicher antibiotischer Therapie sollten sich die Cholestaseparameter rasch normalisieren. Bei schweren Sepsisverläufen sind protrahierte oder zweigipfelige Verläufe möglich, wobei in diesen Fällen an eine insuffiziente Therapie der Infektionsquelle gedacht werden muss. Eine Leberbiopsie ist zur Sicherung der Diagnose üblicherweise nicht notwendig. Eine ungewöhnliche Art der sepsisinduzierten Cholestase wird selten in Form der Cholangitis lenta beobachtet (. Abb. 44.1), wobei sich hier histologisch Gallethromben in den kleineren Gallengängen mit Infiltration durch neutrophile Granulozyten finden und diese Patienten eine deutlich schlechtere Prognose aufweisen [24]. Persistierende Erhöhungen von AP und γ-GT bei kritisch kranken Patienten mit beherrschter Grunderkrankung sollten auch an die seltene Möglichkeit einer sekundär sklerosierenden Cholangitis denken lassen (. Abb. 44.1). Die tatsächliche Prävalenz dieser Erkrankung wird wahrscheinlich unterschätzt. Diagnostisch wegweisend ist das Vorliegen von biliären Ausgüssen (»Gallefilz«) mit radiologischen Charakteristika der PSC in der Cholangiographie. Das mittlere Überleben dieser Patienten ohne Lebertransplantation liegt bei 13 Monaten. Therapeutisch kann eine Sphinkterotomie und endoskopische Extraktion der Ausgüsse versucht werden, welche meist nur teilweise gelingt [40]. > Krankheitsbilder, die mit einer sepsisinduzierten Cholestase einhergehen, haben generell eine schlechte Prognose (»signum mali ominis«), die durch den Schweregrad der zugrunde liegenden Erkrankung und nicht durch die Cholestase per se bestimmt wird.
Management Die kausale Therapie der sepsisinduzierten Cholestase besteht in einer Antibiose und/oder der chirurgischen Herdsanierung. Medikamente mit vorwiegend biliärer Elimination sollten in ihrer Dosierung angepasst oder generell gemieden werden (z. B. Fusidinsäu-
Die ischämische Hepatitis ist durch läppchenzentrale Nekrosen bei Minderperfusion und daraus resultierender Hypoxie bedingt und durch ausgeprägte Erhöhung der Transaminasen (GOT/GPT-Ratio >1) sowie der Lactatdehydrogenase (LDH) charakterisiert.
Ätiologie und Pathogenese Die ischämische Hepatitis wird durch eine Durchblutungsstörung der zentrilobulären Läppchenanteile (. Abb. 44.1) im Rahmen eines akuten kardialen Pumpversagens, bei starken Blutverlusten und Hitzschlag sowie bei intraoperativen Druckabfällen beobachtet. Obwohl die Hypotonie einen zentralen Faktor für die Genese einer ischämischen Hepatitis darstellt, scheint ein niedriger Perfusionsdruck allein nicht auszureichen, um dieses Bild hervorzurufen [22, 42]. So entwickelten Traumapatienten mit dokumentierten 15-minütigen hypotensiven Phasen keine ischämischen Hepatitiden [42], was die Bedeutung einer präeexistenten eingeschränkten rechtsventrikulären Pumpleistung unterstreicht [18]. Patienten mit chronischer respiratorischer Insuffizienz (z. B. bei COPD oder Schlafapnoesyndrom) können ebenso eine ischämische Hepatitis entwickeln [12].
Klinik und Diagnose An eine ischämische Hepatitis sollte bei Patienten mit rapider Erhöhung der Transaminasen (10- bis 100-fach) und der LDH infolge einer hypotonen Phase oder respiratorischen Insuffizienz gedacht werden. Charakteristisch ist die rasche Reversibilität der Transaminasenerhöhung nach Korrektur der auslösenden Ursache (üblicherweise massiver Anstieg und Fall innerhalb von 3–11 Tagen) [13]. Schwere Fälle werden meist bei vorbestehender kardialer Stauungsleber infolge einer rechtsventrikulären Pumpstörung beobachtet. Patienten mit vorbestehender Leberzirrhose stellen eine Hochrisikogruppe dar. Das Auftreten von Gerinnungstörungen und/oder Enzephalopathie sowie die Entwicklung eines akuten Leberversagens beim primär Lebergesunden sind im Rahmen einer ischämischen Hepatitis selten.
Management Die Therapie konzentriert sich auf die Stabilisierung der Hämodynamik. In speziellen Fällen kann eine extrakorporale Leberunterstützungtherapie in Betracht gezogen werden, wobei diese Therapieverfahren gegenwärtig nur in kontrollierten Studien angewandt werden sollten.
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Kapitel 44 · Hepatobiliäre Funktionsstörungen und Leberversagen
44.1.3
TPE- (total parenterale Ernährung) und medikamentös-induzierte Cholestase
TPE kann beim Erwachsenen zu biliären Komplikationen wie Sludge, Cholezystitis, biliärer Obstruktion, Steatose und nichtalkoholischer Steatohepatitis (NASH) führen. Die durch TPE induzierte nichtmechanische intrahepatische Cholestase wird selten im Erwachsenenalter unter Kurzzeitgabe einer TPE beobachtet, stellt aber ein häufiges Problem bei Frühgeborenen dar und kann bei Erwachsenen bei einer Ernährungszeit von >3 Monaten gehäuft auftreten [7, 8]. Eine Hochrisikogruppe stellen Patienten mit Restdarmlänge 3–4 g/Tag) 5 Idiosynkratische Medikamentenreaktion 5 Ecstasy (3–4 Methylendioxymethamphetamin, MDMA) 5 Amanita phalloides
Metabolisch
5 M. Wilson
Andere Ursachen
5 5 5 5 5
Ischämische Hepatitis Budd-Chiari-Syndrom Akute Schwangerschaftsfettleber Autoimmunhepatitis Maligne Leberinfiltration
ten. In einer prospektiven US-Multicenterstudie aus dem Zeitraum 1998–2001 an 308 Patienten mit akutem Leberversagen war eine medikamentös-toxische Ätiologie mit 52% der Fälle am häufigsten (Paracetamol 39%, Idiosynkrasie 13%), während die Ätiologie in 17% unklar blieb [36].
Pathophysiologie Die akute hepatische Enzephalopathie (HE) mit konsekutivem Hirnödem ist zentrales Merkmal des akuten Leberversagens. Höhergradige HE (Grad 3–4) und Hirnödem mit Gefahr der Hirnstammeinklemmung verschlechtern die Prognose dramatisch. Nach der Ammoniak-Glutamin-Hypothese führen erhöhte intrazerebrale NH3-Spiegel über vermehrte Glutaminsynthese in den Astrozyten zu einem osmotisch bedingten Hirnödem. Die arterielle NH3Konzentration korreliert dabei mit der zerebralen NH3-Aufnahme, und arterielle Ammoniakkonzentrationen >200 μmol/l bei HE Grad 3–4 sind mit dem Auftreten einer Hirnstammeinklemmung innerhalb der folgenden 24 h assoziiert [9]. Der intrakraniale Druck steigt beim akuten Leberversagen auch mit der Körpertemperatur; Fieber >38,5°C kann zu tödlicher Hirnstammeinklemmung führen. ! Cave Gefahr der tödlichen Hirnstammeinklemmung bei arterieller Ammoniak-Konzentration >200 μmol/l!
Diagnose Hinweise für eine fulminante Virushepatitis sind ein rezenter Auslandsaufenthalt (Hepatitis A) oder Information über infizierte Sexualpartner (Hepatitis B oder i.v. Drogenabusus). Für ein Leberversagen im Rahmen von Amanita phalloides sprechen der Genuss eines Pilzgerichtes 3–4 Tage zuvor und die Ausbildung einer Gastroenteritis vor dem Auftreten der Hepatotoxizität. Bei toxischer Ätiologie ist eine direkte, dosisabhängige Hepatotoxizität (Paracetamol, Amanita) von der dosisunabhängigen idiosynkratischen Reaktion auf verschiedene Medikamente (z. B. Antibiotika, Tuberkulostatika, NSAID, Antiepileptika) [3], aber auch pflanzliche Heilmittel zu unterscheiden. Für einen akuten M. Wilson sprechen eine Coombsnegative hämolytische Anämie, eine Ratio von alkalischer Phosphatase (U/l) zu Bilirubin (mg/dl) von Aufgrund der raschen Progredienz des ALV ist bereits bei geringgradiger Enzephalopathie eine intensivmedizinische Überwachung anzustreben.
z Zerebrale Manifestationen Eine höhergradige akute hepatische Enzephalopathie mit konsekutivem Hirnödem und Gefahr der tödlichen Hirnstammeinklemmung ist die gefährlichste Komplikation des ALV. Nach klinischen Hirndruckzeichen (systolische Hypertension, Bradykardie, erhöhter Muskeltonus, gestörte Pupillomotorik, fokale und generalisierte Krampfanfälle, pathologisches Atmungsmuster) sollte bei enzephalopathischen bzw. beatmeten Patienten systematisch gefahndet werden. Diese Symptome entwickeln sich jedoch häufig erst bei deutlich erhöhtem Hirndruck, was frühzeitige therapeutische Interventionen erschwert. z Hämodynamik Das ALV ist wie das fortgeschrittene chronische Leberversagen durch eine periphere Vasodilatation mit kompensatorischer hyperdynamischer Zirkulation im Sinne eines distributiven Schocks (arterielle Hypotonie, verminderter systemischer vaskulärer Widerstand, erhöhtes Herzminutenvolumen) charakterisiert. Hinzu kommen Störungen der Mikrozirkulation mit Gewebshypoxie. z Nierenversagen Das Auftreten eines Nierenversagens bei ALV ist Zeichen eines progredienten Multiorganversagens und mit schlechter Prognose verbunden. Davon abzugrenzen ist eine direkte Nephrotoxizität von Paracetamol. Etwa 30% aller Patienten mit ALV und bis zu 70% der Patienten mit Paracetamol-Intoxikation entwickeln ein akutes Nierenversagen. z Säure-Basen-Haushalt Häufig kommt es beim ALV infolge gestörter Metabolisierung von Bikarbonat zu einer metabolischen Alkalose. Die dadurch bedingte Erhöhung des Ammoniakpartialdrucks kann eine hepatische Enzephalopathie auslösen bzw. verschlechtern. Eine Laktazidose ist als prognostisch ungünstig zu werten. Im Rahmen einer ParacetamolVergiftung ist das Ausmaß der Azidose ein wichtiger Prognoseparameter in der Entscheidung zur Lebertransplantation (7 unten). z Nebenniereninsuffizienz Bei 62% der Patienten mit ALV konnte anhand eines pathologischen Synacthentests eine Nebenniereninsuffizienz nachgewiesen
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Kapitel 44 · Hepatobiliäre Funktionsstörungen und Leberversagen
werden, die mit hämodynamischer Instabilität und Schweregrad des Leberversagens korrelierte. z Störung der Hämostase Das ALV ist einerseits durch eine verminderte plasmatische Gerinnung infolge hepatischer Synthesestörung und vermehrten Verbrauch von Gerinnungsfaktoren, andererseits durch Thrombopenie und/oder herabgesetzte Thrombozytenfunktion gekennzeichnet. Die Prothrombinzeit ist ein wichtiger prognostischer Parameter beim ALV; ihre Verschleierung durch Substitution von Frischplasma bzw. Gerinnungsfaktoren ist zu beachten. z Infektionen Beim ALV besteht aufgrund der gestörten Immunfunktion eine erhöhte Infektneigung. Bakterielle Infektionen (vorwiegend S. aureus, E. coli) konnten in 80% und Pilzinfektionen (v. a. Candida) in 30% nachgewiesen werden [38]. Fieber und Leukozytose fehlen dabei häufig. Infektionen können überdies eine hepatische Enzephalopathie auslösen. Die Entwicklung einer systemischen Entzündungsreaktion (SIRS) mit hohen Konzentrationen inflammatorischer Zytokine ist prognostisch ungünstig.
. Tab. 44.3 Management des akuten Leberversagens Antidottherapie
5 N-Acetylcystein i.v. bei Paracetamol-Vergiftung 5 150 mg/kg KG als Bolus à 50 mg/kg KG über 4 h · 100 mg/kg KG über 16 h 5 Silibinin i.v. bei Amanita-Intoxikation(5 mg/ kg KG 4-mal täglich)
Kausaltherapie
5 Nukleos(t)id-Analogon bei akuter HBV-Infektion 5 Aciclovir/Ganciclovir/Famciclovir bei Herpeshepatitis (HSV-1, HHV-6, CMV, EBV) 5 Kortikosteroide bei Autoimmunhepatitis (Prednison 40–60 mg/Tag)
Symptomatische Therapie
5 Glukoseinfusionen (Zielzuckerspiegel 80– 110 mg/dl) 5 Substitution von Albumin und Gerinnungsfaktoren 5 Hochlagerung des Oberkörpers um 30° 5 Milde Hypothermie (35–36°C) 5 N-Acetylcystein i.v. (im Frühstadium des ALV)
Therapie der Komplikationen
5 Antibiotika (empirische Gabe von Breitspektrumantibiotika nach lokaler Resistenzlage bzw. gezielt nach Antibiogramm) 5 Vasopressoren (Noradrenalin) 5 Kontinuierliche Hämo(dia)filtration frühzeitig bei Oligoanurie 5 Respiratortherapie (paCO2 30–35 mm Hg)
Extrakorporaler Leberersatz
5 Experimentell (im Rahmen von Studien)
Lebertransplantation
5 King´s-College-Kriterien (. Tab. 44.4) 5 Clichy-Kriterien (. Tab. 44.5)
Management Eine kausale Therapie des akuten Leberversagens existiert derzeit nur für Teilbereiche. Im Vordergrund stehen daher supportive Maßnahmen, um eine spontane Leberregeneration zu begünstigen und/oder eine Überbrückung bis zur Lebertransplantation zu gewährleisten. Bei toxischer Ätiologie kann eine rechtzeitige Antidottherapie (N-Acetylcystein bei Paracetamol, Silibinin bei Amanita phalloides) den Verlauf günstig beeinflussen. Zentrales Problem ist die zeitgerechte, interdisziplinäre Indikationsstellung zur Lebertransplantation (. Tab. 44.3). > Beim Auftreten klinischer Zeichen eines akuten Leberversagens sollte der Patient frühzeitig – jedenfalls vor Auftreten eines Hirnödems – an ein Lebertransplantationszentrum transferiert werden.
z Kreislaufstabilisierung Entsprechend der zugrundeliegenden Vasodilatation und hyperdynamen Zirkulation ist bei fehlender Kreislaufstabilisierung trotz adäquater Hydrierung der Einsatz von Vasokonstriktoren (Noradrenalin) über einen ZVK unter arterieller Drucküberwachung indiziert. Supraphysiologische Dosen von Hydrokortison (300 mg/Tag) können in Analogie zum septischen Schock den Bedarf an Noradrenalin senken [15]. z Beatmung Eine höhergradige hepatische Enzephalopathie kann durch Aspirationsgefahr oder Sekretretention eine Respiratortherapie notwendig machen. Darüber hinaus kann eine oft ausgeprägte Agitiertheit des Patienten eine Sedierung und Intubation veranlassen. Pneumonien zählen zu den häufigsten Organinfektionen (50%) bei akutem Leberversagen. Eine Lungenbeteiligung im Rahmen eines Multiorganversagens (ARDS) ist als Kontraindikation für eine Transplantation zu werten. Zur Absenkung des Hirndrucks wird eine leichte Hyperventilation (Ziel-paCO2 30–35 mm Hg) empfohlen. Eine stärkere therapeutische Hyperventilation (paCO2 200 μmol/l wegen der Gefahr einer Hirnstammeinklemmung unbedingt vermieden werden). Zu diesem Zweck kommen prinzipiell Laktulose (über Sonde bzw. rektal) und/ oder L-Ornithin-L-Aspartat (intravenös) in Frage. Allerdings zeigte eine rezente randomisierte, placebokontrollierte Studie an 201 Patienten mit ALV keinen positiven Effekt von L-Ornithin-L-Aspartat auf arterielle Ammoniakspiegel bzw. auf das Überleben [1]. Ammoniak kann durch extrakorporale Verfahren (7 unten) zumindest teilweise aus der Zirkulation entfernt werden. z Gerinnungssubstitution Eine Substitution von Gerinnungsfaktoren bzw. Frischplasma ist nur bei manifester Blutung bzw. vor geplanter Intervention indiziert. Die Gabe von Frischplasma ist zu bevorzugen (1 ml/kg KG führt zu Faktoranstiegen von 1–1,5%). Bei Prothrombinkomplexkonzentraten ist Vorsicht geboten, da eine latente Verbrauchskoagulopathie beschleunigt werden könnte. Thrombozytenkonzentrate sollen pro-
573 44.2 · Die Leber als »Täter« bzw. Ursache
phylaktisch bei einer Thrombopenie 2,0) die Spontanheilung begünstigt bzw. in vielen Fällen eine Lebertransplantation überflüssig macht. Infektionen mit Viren der Herpesfamilie sollten insbesondere bei leukopenischen oder immunsupprimierten Patienten frühzeitig suspiziert werden, da effektive medikamentöse Therapien (Aciclovir, Ganciclovir, Famciclovir) verfügbar sind. z N-Acetylcystein Die hochdosierte intravenöse Gabe von N-Acetylcystein (NAC) ist Therapie der Wahl bei Paracetamol-Vergiftung. NAC kann bei Verabreichung innerhalb von 10 h nach der Einnahme von Paracetamol die Entwicklung von Lebernekrosen verhindern; ein positiver Effekt auf die Überlebensrate wurde bis zu 72 h nach Ingestion beobachtet [14]. Das vom King´s College Hospital (London) etablierte Schema umfasst einen einmaligen Behandlungszyklus. Rezente Daten zeigen einen Benefit von NAC auch beim nicht-Paracetamolassoziierten ALV im Frühstadium [26]. (. Tab. 44.3). z Management des Hirnödems Patienten mit höhergradiger Enzephalopathie benötigen ein engmaschiges neurologisches Monitoring mit spezieller Beachtung einer Hirndrucksymptomatik. Ob ein invasives Hirndruckmonitoring durchgeführt werden soll, wird kontrovers beurteilt [37]. Die kontinuierliche Überwachung des intrakraniellen Drucks (ICP, Ziel 60 mm Hg) ist sensitiver als die klinischen Hirndruckzeichen (7 oben »Zerebrale Manifestationen«). Diesem theoretischen Vorteil steht aber eine beträchtliche Komplikationsrate (Blutung, Infektion) gegenüber. Ein Überlebensvorteil durch den Einsatz von Hirndrucksonden beim ALV konnte bisher nicht schlüssig nachgewiesen werden. Eine Hochlagerung des Oberkörpers um 30° senkt den Hirndruck durch Verbesserung des venösen Abflusses und ist auch als Aspirationsprophylaxe sinnvoll. Bei akuten Hirndruckspitzen bzw. klinischen Hirndruckzeichen empfiehlt sich primär die Infusion von Mannitol 20% 0,5–1 g/kg KG über 15 min unter Beachtung der Diurese und Serumosmolalität (50% Überleben ohne LTX bei Paracetamol, Hepatitis A, ischämischer Hepatitis und Schwangerschaftsfettleber [36]).
In verschiedenen Validierungsstudien bei durch Paracetamol und bei nicht durch Paracetamol bedingtem ALV zeigten die King‘s-College-Kriterien einen positiv-prädiktiven Wert von 70– 100%, aber einen negativ-prädiktiven Wert von nur 25–94% [37]. Die Clichy-Kriterien waren bei ALV nichtviraler Ätiologie den
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Kapitel 44 · Hepatobiliäre Funktionsstörungen und Leberversagen
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. Tab. 44.4 King´s-College-Kriterien zur Notfall-LTX. (Nach O´Grady et al. [34]; Bernal et al. [4]).
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Ursache
King´s-College-Kriterien
ParacetamolIntoxikation
pH-Wert 3,5 mmol/l2 oder innerhalb von 24 h: 5 hepatische Enzephalopathie Grad 3/4 und 5 Prothrombinzeit >100 s (INR >6,5) und 5 Kreatinin >300 μmol/l (3,4 mg/dl)
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Andere Ätiologien
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Prothrombinzeit >100 s (INR >6,5) oder mindestens 3 der folgenden Kriterien: 5 Alter 40 Jahre 5 Ätiologie Non-A-E-Hepatitis, Halothan, Idiosynkrasie 5 Auftreten von Enzephalopathie >7 Tage nach Beginn des Ikterus 5 Prothrombinzeit >50 s (INR >3,5) 5 Bilirubin >300 μmol/l (>17,4 mg/dl)
1
Gilt 24 h nach Aufnahme im Referenzzentrum und adäquater Rehydrierung. 2 Bzw. >3 mmol/l 12 h nach adäquater Rehydrierung.
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. Tab. 44.5 Clichy-Kriterien. (Nach Bismuth et al. [5]). Alter
Clichy-Kriterien
Alter 8.
Pathogenetisch spielt eine renale Minderperfusion infolge systemischer Vasodilatation und reaktiver Aktivierung von Sympathikus und Renin-Angiotensin-Aldosteron-System eine wichtige Rolle. Darüber hinaus wird die Existenz eines sog. hepatorenalen Reflexes diskutiert. Je nach Verlauf unterscheidet man ein HRS Typ 1 (rasch progrediente Form mit ≥2-fachem Anstieg des Serumkreatinins auf >2,5 mg/dl innerhalb von 2 Wochen) und ein HRS Typ 2 (chronische Form mit einem Serumkreatinin von 1,5–2,5 mg/dl). Therapeutisch kann das HRS durch die Antagonisierung der systemischen Vasodilation mit einem Vasokonstriktor (Terlipressin bzw. Noradrenalin) und/oder eine Plasmavolumenexpansion mittels Humanalbumin durchbrochen werden (7 unten; . Tab. 44.7). In einer rezenten randomisierten Studie waren Terlipressin und Noradrenalin, jeweils kombiniert mit Albumin, bei HRS Typ 1 gleich effektiv [43]. Eine prophylaktische Albumingabe nach spontan-bakterieller Peritonitis (SBP) und anderen bakteriellen Infektionen kann die Entwicklung eines HRS verhindern und das Überleben verlängern.
575 44.2 · Die Leber als »Täter« bzw. Ursache
. Tab. 44.6 Schweregrade der HE (West Haven Criteria) Grad
Kriterien
Grad 0
Mentalstatus normal; psychometrische Tests pathologisch (z. B. Zahlenverbindungstest)
Grad 1
Aufmerksamkeitsdefizit, Euphorie/Ängstlichkeit, Rechenschwäche
Grad 2
Lethargie, zeitliche Desorientierung, Persönlichkeitsveränderung, inadäquates Verhalten
Grad 3
Somnolenz bis Stupor, Verwirrtheit, grobe Desorientierung, bizarres Verhalten
Grad 4
Koma
. Tab. 44.7 Management des akut-auf-chronischen Leberversagens Kontrolle der Auslöser
5 Intensive Infektsuche und rasche antibiotische Therapie 5 Kontrolle von gastrointestinalen Blutungen 5 Alkoholabstinenz
Hepatorenales Syndrom (HRS) Typ 1
5 Monitoring der Diurese (Harnkatheter!) 5 Plasmavolumenexpansion + Vasokonstriktor 5 Humanalbumin: 1 g/kg KG am Tag 1, danach 20–40 g/Tag 5 alternativ: ZVD-gesteuert (>4 mm Hg) 5 Terlipressin 3 mg/Tag (0,5 mg alle 4 h), 5 bei Therapieresistenz alle 3 Tage verdoppeln bis zu maximal 12 mg/Tag 5 alternativ: Noradrenalin 0,5–3 mg/h über ZVK 5 bei Therapieresistenz evtl. Leberersatztherapie (7 Abschn. 44.3) oder transjugulärer intrahepatischer portosystemischer Shunt (TIPS)1 Prophylaxe: Meiden von nephrotoxischen Substanzen; Volumentherapie mit Albumin bei SBP und anderen bakteriellen Infektionen
Höhergradige hepatische Enzephalopathie (HE)
5 Ausgleich von Hypovolämie und Elektrolytentgleisungen 5 Therapieversuch mit Flumazenil (okkulte Benzodiazepingabe?) 5 Normale Proteinzufuhr (1,2 g/kg KG)2 5 Laktulose über Magensonde bzw. rektal (geringe Evidenz) 5 L-Ornithin-L-Aspartat i.v. 20–40 g/Tag (Evidenz nur für HE Grad 1–2) 5 Bei Therapieresistenz evtl. Leberersatztherapie (7 Abschn. 44.2.3) 5 Bei HE-Grad 4 großzügige Indikation zur Intubation (Aspirationsgefahr!)
Leberersatztherapie
7 Abschn. 44.2.3
Lebertransplantation
Höchstmögliche Priorität (Eurotransplant: T2)
1 Voraussetzungen
für TIPS-Implantation: Alter 50%), keine früheren HE-Episoden, Bilirubin Da Infektionen zu den häufigsten Auslösern zählen, ist eine intensive Infektsuche (Thoraxröntgenaufnahme, diagnostische Parazentese, Harn- und Blutkulturen!) und rasche antibiotische Therapie (Soforttherapie empirisch je nach lokaler Resistenzlage, danach möglichst gezielter Antibiotikaeinsatz nach Antibiogramm) sehr wichtig.
Eine Kausaltherapie ist angesichts der weitgehend unbekannten Pathophysiologie gegenwärtig nicht möglich. Zum Stellenwert der extrakorporalen Leberersatztherapie 7 Abschn. 44.3. Ein aggressives Management auf der Intensivstation kann die akute Lebensgefahr in vielen Fällen abwenden, doch besteht aufgrund der persistierenden chronischen Leberinsuffizienz ein hohes Risiko für rezidivierendes ACLV. Langfristig kann die Prognose nur durch eine rasche Lebertransplantation mit höchstmöglicher Prioriätsstufe (im Eurotransplant-Bereich T2-Listung) verbessert werden, wobei jedoch die Verfügbarkeit von Spenderorganen limitierend ist. Im Fall einer floriden Alkoholhepatitis als Auslöser spielt
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Kapitel 44 · Hepatobiliäre Funktionsstörungen und Leberversagen
auch die Frage der Abstinenz bzw. des Rückfallrisikos eine wichtige ethische Rolle.
44.3
Extrakorporaler Leberersatz
Künstliche Leberersatzverfahren werden bereits seit über 2 Jahrzehnten – bisher ohne einen durchschlagenden klinischen Erfolg – entwickelt. Angesichts der sehr komplexen Funktionen der Leber (Galleproduktion, Entgiftung, Synthese, Stoffwechselhomöostase, Immunfunktion) mag dies nicht verwundern. Während zu Beginn vorwiegend bioartifizielle Systeme entwickelt wurden, liegt derzeit der Fokus der Entwicklung auf zellfreien Detoxifikationssystemen. Letztere können nur die Teilfunktion »Entgiftung« ersetzen, und man sollte daher besser von »Leberunterstützung« (»artificial liver support«) als von »Leberersatz« sprechen. . Tab. 44.8 zeigt die extrakorporalen Leberunterstützungssysteme.
Bioartifizielle Systeme Bioartifizielle Systeme enthalten Hepatozyten menschlicher oder tierischer Herkunft in Bioreaktoren, welche nicht nur Entgiftungs-, sondern auch Synthesefunktionen übernehmen sollen. Dabei wurden kryopräservierte Hepatozyten aus überzähligen Spenderlebern, humanen Tumorzelllinien und Schweinehepatozyten eingesetzt. Limitierend sind die geringe erreichbare Leberzellmasse (50–200 g), die fehlende physiologische Architektur des Leberzellverbandes entlang von Hohlfasern (fehlendes Stroma, fehlendes Pfortaderund Gallengangsystem) und die beträchtlichen Kosten.
Detoxifikationssysteme Detoxifikationssysteme sollten primär die Entgiftungsfunktion der Leber unterstützen und dadurch die Leberregeneration begünstigen. Ein wichtiges Element ihres Benefits dürfte die Therapie von Endorganversagen sein (Entfernung von Ammoniak bei der hepatischen Enzephalopathie, Entfernung von zirkulierenden Vasodilatoren und harnpflichtigen Substanzen bei hepatorenalem Syndrom). Die ersten derartigen Verfahren, die Hämoperfusion über Aktivkohle und das BiologicDT-System, wurden inzwischen wegen fehlender Wirksamkeit wieder verlassen. z MARS Das Molecular Adsorbents Recirculating System (MARS; Gambro; . Abb. 44.3a), eine Form der Albumindialyse, wurde an der Universität Rostock entwickelt, ist seit 1999 CE-zertifiziert und stellt das
. Tab. 44.8 Extrakorporale Leberunterstützungssysteme System
Beispiele
Bioartifizielle Systeme
5 ELAD (»extracorporeal liver assist device«) 5 BAL (»bioartificial liver«, HepatAssist) 5 AMC-BAL (Academic Medical Center [Amsterdam] »bioartificial liver«) 5 MELS (»modular extracorporeal liver support«)
Zellfreie Systeme
5 Hämoperfusion über Aktivkohle (»charcoal hemoperfusion«) 5 BiologicDT (»sorbent suspension dialysis«) 5 MARS (»molecular adsorbents recirculation system«) 5 Prometheus (»fractionated plasma separation and adsorption« FPSA)
zuletzt am häufigsten eingesetzte Therapieverfahren dar. Im Blutkreislauf befindet sich ein spezieller Filter (MARS-Flux) mit einer Porengröße von 50 kD, welcher für Albumin undurchlässig ist, aber den Übertritt von hydrophoben Substanzen (Toxinen) ermöglicht. Im Sekundärkreislauf zirkuliert eine Albuminlösung hoher Konzentration. Ein Dialysatkreislauf mit einem Low-flux-Dialysator ist am Sekundärkreislauf nachgeschaltet. In zwei kleinen randomisierten Studien bei ACLV zeigte MARS einen Überlebensvorteil gegenüber Hämodiafiltration (beim hepatorenalen Syndrom) bzw. Standardtherapie. In der letzteren Studie an 24 Patienten mit ikterischem Leberversagen unterschiedlicher Ätiologie (vorwiegend schwere alkoholische Hepatitis mit Leberzirrhose) wurde das 30-Tage–Überleben von 6/12 in der Kontrollgruppe auf 11/12 in der MARS-Gruppe verbessert [17]. Eine größere randomisierte Multizenterstudie an 70 Patienten mit dekompensierter Leberzirrhose zeigte eine beschleunigte Verbesserung höhergradiger HE aber keinen Überlebensvorteil durch MARS [16]. Präliminäre Daten einer randomisierten Studie an 102 Patienten mit ALV (FULMAR Study; Saliba u. Mitarbeiter; AASLD 2008) zeigen keinen Überlebensvorteil durch MARS, jedoch einen positiven Trend in einer Subgruppe mit Paracetamol-Intoxikation. Eine weitere randomisierte Multizenterstudie (RELIEF Study) an 189 Patienten mit ACLV zeigte anhand präliminärer Daten ebenfalls keinen Überlebensvorteil durch MARS gegenüber der Standardtherapie (28-TageÜberleben 59% vs. 60%). Ein wahrscheinlicher Benefit durch MARS ist jedoch bei therapierefraktärem cholestatischem Pruritus anhand
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. Abb. 44.3a, b Schematische Darstellung von MARS (a) und Prometheus-System (b). An den Blutkreislauf sind jeweils ein Sekundärkreislauf, in welchem albumingebundene Toxine adsorbiert werden, sowie ein Dialysatkreislauf gekoppelt. Die beiden Systeme unterscheiden sich in den Filtern des Blutkreislaufs (MARS-Flux vs. AlbuFlow, Erklärung 7 Text), den Adsorbern und Dialysatoren sowie der Anordnung des Dialysatkreislaufs
577 Literatur
mehrerer kleiner unkontrollierter Studien und Fallserien dokumentiert. z Prometheus Das Prometheus-Verfahren (Fractionated Plasma Separation and Adsorption, FPSA; Fresenius Medical Care; . Abb. 44.3b) hat ebenso wie das MARS einen Blut-, Sekundär- und Dialysatkreislauf, unterscheidet sich aber im Aufbau und in den verwendeten Filtern. Der Blutfilter (AlbuFlow) hat eine größere Porengröße von 300 kD und ist damit durchlässig für das patienteneigene Albumin, welches im Sekundärkreislauf direkt über die Adsorber geführt wird. Der Dialysatkreislauf ist parallel an den Blutkreislauf angeschaltet und enthält einen High-flux-Dialysator. In einer randomisierten Cross-over-Studie an 8 Patienten mit ACLV konnten wir mit beiden Systemen eine vergleichbare Bilirubinelimination bei etwas höherer Bilirubinclearance durch Prometheus zeigen [25]. Präliminäre Daten einer rezenten randomisierten Multizenterstudie an 145 Patienten mit ACLV (HELIOS Trial) zeigen keinen Benefit von Prometheus gegenüber der Standardtherapie (28-Tage-Überleben 66% vs. 63%).
Indikationen Der Einsatz extrakorporaler Leberunterstützungssysteme ist anhand der aktuellen Datenlage (rezente Negativstudien mit MARS bzw. Prometheus, siehe oben) nach wie vor als experimentell anzusehen. Der in anfänglichen kleinen Studien berichtete Benefit von MARS beim ACLV konnte in größeren Patientenkollektiven nicht bestätigt werden. Weitere Studien mit verbesserter Patientenselektion und/oder wirksameren Leberersatzsystemen sind wünschenswert.
Literatur 1
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44
578
44 44 44 44 44 44 44 44 44 44 44 44 44 44 44 44 44 44 44 44 44 44 44 44 44
Kapitel 44 · Hepatobiliäre Funktionsstörungen und Leberversagen
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579
Akute Pankreatitis J. Schölmerich, T. Brünnler
45.1
Grundlagen – 580
45.1.1 45.1.2 45.1.3 45.1.4 45.1.5
Epidemiologie – 580 Ätiologie – 580 Pathophysiologie – 580 Klinik – 580 Komplikationen – 581
45.2
Diagnostik – 581
45.2.1 45.2.2 45.2.3 45.2.4
Differenzialdiagnose – 581 Diagnosesicherung – 581 Abklärung der Ätiologie – 582 Einschätzung der Prognose – 582
45.3
Therapie – 584
45.3.1 45.3.2 45.3.3 45.3.4 45.3.5 45.3.6
Konservative Basistherapie – 584 Medikamentöse Behandlung – 585 Beseitigung der Ursachen – 585 Therapie von Komplikationen – 585 Operative Therapie – 585 Interventionelle Therapie – 586
45.4
Überwachung – 586
45.5
Prognose und Folgetherapie – 586 Literatur – 586
H. Burchardi et al. (Hrsg.), Die Intensivmedizin, DOI 10.1007/978-3-642-16929-8_45 ,© Springer Medizin Verlag Berlin Heidelberg 2011,
45
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580
Kapitel 45 · Akute Pankreatitis
45.1
Grundlagen
Die akute Pankreatitis repräsentiert ein Krankheitsbild, das von einer milden Entzündung der Bauchspeicheldrüse bis zur Sepsis, zum Multiorganversagen und zum Tod reichen kann. Morphologisch reicht das Spektrum von der interstitiell ödematösen (80–90% der Fälle) bis zur hämorrhagisch-nekrotisierenden Pankreatitis mit (sub)totaler Nekrose (10–20%) des Pankreas selbst und/oder peripankreatischen Fettgewebsnekrosen. > Die Prognose korreliert mit dieser morphologischen Einteilung: Die Letalität der ödematösen Pankreatitis ist nahezu Null, die der hämorrhagisch-nekrotisierenden Form liegt bei 10–40%.
45.1.1
Epidemiologie
Die Erkrankung ist relativ häufig. Während die Inzidenz weltweit generell zunimmt [16], bestehen doch Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern: In Großbritannien hat beispielsweise die Inzidenz zwischen 1960 und 1990 deutlich zugenommen, wobei unklar ist, inwieweit verbesserte diagnostische Techniken zu diesem Anstieg beitragen [21]. Derzeit zeigen die epidemiologisch bekannten Daten dort jedoch immer noch niedrigere Inzidenzen der akuten Pankreatitis mit etwa 10/100.000/Jahr als in anderen europäischen Ländern. In Deutschland, den Niederlanden oder Norwegen liegt die Inzidenz zwischen 16 und 20/100.000/Jahr, der Altersgipfel bei 35–44 Jahren [39, 46]. Männer sind zu 50% häufiger betroffen als Frauen. In anderen skandinavischen Ländern werden noch höhere Daten präsentiert, diskutiert werden ein etwaiger höherer Alkoholgenuss dort generell, zudem allgemein aber auch die steigenden Inzidenzen an biliären Pankreatitiden und die Zunahme der Post-ERCP-Pankreatitis bei zunehmendem Einsatz dieser Untersuchungstechnik. In Kalifornien zeigte sich ein Anstieg von 33 auf 44/100.000/Jahr zwischen 1994 und 2001 [9].
45.1.2
45
45.1.3
45 45
45 45 45
> Es wird heute davon ausgegangen, dass die Mehrzahl der Effekte an anderen Organen (Lunge, Niere, ZNS und kardiovaskuläres System) durch diese Mediatoren vermittelt ist und diese auch die Prognose der schweren Form der akuten Pankreatitis bestimmen. Diese entspricht daher einem SIRS.
Es ist bislang nicht gelungen, diese pathophysiologischen Vorstellungen in überzeugende Therapiekonzepte umzusetzen. Tierexperimentelle Befunde und erste klinische Studien weisen darauf hin, dass Interventionen bezüglich dieser Immunmediatoren nur in der frühen Phase der Erkrankung wirksam sein können.
45.1.4
45
45
flammatorischer, aber auch antiinflammatorischer Substanzen freisetzen, die dann sowohl zur weiteren Zerstörung der Drüse und/ oder des umgebenden Fettgewebes als auch zu Effekten im Gesamtorganismus führen (. Abb. 45.1) [12, 33, 35]. Von Bedeutung scheint auch eine Kupffer-Zellaktivierung in der Leber zu sein, die zu dem »Zytokinsturm« bei schwerer akuter Pankreatitis im Organismus beträgt.
Ätiologie
Ätiologisch kann man zwischen biliären (40–60%), alkoholtoxischen (20–40%) und einer Gruppe idiopathischer und durch seltene Ursachen (Hyperparathyreoidismus, Medikamente, Trauma, Infekte, Hyperlipoproteinämie) bedingten Pankreatitiden (bis 20%) unterscheiden. Hinzu kommt eine größere Gruppe nicht exakt definierter Entzündungsvarianten der Bauchspeicheldrüse nach allen Formen des Schocks und nach kardiovaskulären Eingriffen, deren genaue Häufigkeit und klinische Bedeutung derzeit ungeklärt ist [36]. In einer kürzlich veröffentlichten flächendeckenden Erhebung einer Region waren von 228 Fällen einer akuten Pankreatitis 40% biliär, 32% durch Alkohol und 18% durch andere Ursachen bedingt, für 21% ließ sich keine Ursache eruieren [21].
45
. Abb. 45.1 Pathophysiologische Abläufe bei akuter Pankreatitis
Pathophysiologie
Grundlage aller Formen der Pankreatitis ist vermutlich ein relativ uniformer Ablauf, der nach Schädigung des Organs durch mechanische, hypoxische oder toxische Einflüsse zu einer raschen Aktivierung des Transkriptionsfaktors NFκβ in Azinuszellen und dadurch zur Freisetzung von Chemokinen führt. Hierdurch kommt es zu einer massiven Immigration von Granulozyten, Monozyten/ Makrophagen und Lymphozyten, die ihrerseits eine Vielzahl proin-
Klinik
> Das führende Symptom der akuten Pankreatitis ist der abdominelle Schmerz. Dieser tritt typischerweise akut auf, ist im Oberbauch mittig oder auch rechtsbetont zu finden oder kann sich gürtelförmig präsentieren.
Weitere Symptome sind eher unspezifisch und lassen die akute Pankreatitis nur schwierig von anderen Differenzialdiagnosen abgrenzen. Auch erlauben sie keine Differenzierung des Schweregrades der Pankreatitis [37]. Zu den nicht obligaten Zeichen gehören Übelkeit und Erbrechen, Meteorismus, Abwehrspannung, etwa in der Hälfte der Fälle Fieber als Ausdruck des SIRS und bei schwer verlaufenden Formen Zeichen des Schocks und des Organversagens wie das akute Nierenversagen, die respiratorische Insuffizienz als auch die hämodynamische Instabilität. Eine Bewusstseinsstörung im Sinne einer Encephalopathia pancreatica ist als seltenes Phänomen nur in etwa 10% zu beobachten, ebenso wie die prognostisch ungünstigen Hautphänomene [10]. Extrapankreatische Organkomplikationen treten fast ausschließlich bei der nekrotisierenden Form auf und haben prognostische Bedeutung. Sie stellen die wesentliche Indikation zur Intensivtherapie dar. Zu beachten ist, dass alle Patienten mit akuter Pan-
581 45.2 · Diagnostik
kreatitis sehr sorgfältig überwacht werden müssen, da Übergänge von leichten zu schweren Formen auch unter Therapie, wenngleich selten, vorkommen und Organkomplikationen selbst nach initial unkompliziertem Verlauf auftreten können.
45.1.5
4 4 4 4 4
Rupturiertes Aortenaneurysma Myokardinfarkt Akute Porphyrie Enterische Infektionen Intoxikationen (Thallium, Pilze etc.)
Komplikationen Diagnosesicherung
Wesentliche Komplikationen der schweren akuten Pankreatitis
45.2.2
4 Katecholaminpflichtiges Kreislaufversagen bzw. Schock (30–50%) 4 Nierenversagen (15–40%) 4 Lungenversagen (15–60%) 4 Enzephalopathie (20–60%) 4 Paralytischer Ileus (50–100%) 4 Intraabdominelle Hypertension (60–80%) 4 Intraabdomenelles Kompartment (27%)
Diagnose und Differenzialdiagnose der akuten Pankreatitis beruhen in erster Linie auf gründlicher Anamnese und körperlicher Untersuchung, unterstützt durch laborchemische Analysen und bildgebende Verfahren.
45.2
Diagnostik
Ziel der diagnostischen Maßnahmen ist es, die Diagnose rasch zu sichern, die Ätiologie der Pankreatitis zu klären, den Schweregrad und damit die Prognose abzuschätzen sowie Komplikationen und Verlauf zu beurteilen (. Abb. 45.2).
45.2.1
Differenzialdiagnose
Die wesentlichen Differenzialdiagnosen der akuten Pankreatitis sind in der Übersicht dargestellt.
Wesentliche Differenzialdiagnosen der akuten Pankreatitis 4 Mesenteriale Durchblutungsstörung 4 Akute Erkrankungen des Gallenwegsystems 4 Kompliziertes Ulcus duodeni, Ulcus ventriculi 6
. Abb. 45.2 Initiale Diagnostik bei akuter Pankreatitis (ERCP endoskopisch retrograde Cholangiopankreatikographie, MRCP Magnetresonanzcholangiopankreatikographie, EUS Endoskopischer Ultraschall, CT Computertomographie, CRP C-reaktives Protein)
Laboranalysen Zu den wichtigsten laborchemischen Methoden gehört die Bestimmung der Aktivität der Lipase im Serum. Die Bestimmung ist sensitiv, wenn der Patient innerhalb der ersten 2 Tage nach Einsetzen der klinischen Beschwerden untersucht wird [41]. ! Cave Es wurden allerdings auch schon normale Lipase- (und Amylase-)werte bei letalen Formen der Pankreatitis zum Zeitpunkt der Krankenhausaufnahme beobachtet, da insbesondere bei weitgehender Organnekrose die Serumaktivität der Enzyme rasch abfällt (. Abb. 45.3).
Da sich die Lipaseaktivität etwas langsamer als die der Amylase normalisiert und dieses Enzym für die Diagnosestellung spezifischer ist, wird es in der Notfallanalytik bevorzugt.
Bildgebende Verfahren Von den bildgebenden Verfahren stehen Sonographie und Computertomographie im Vordergrund. Die Sonographie hat den Vorteil der einfacheren Handhabung, besitzt in der Akutdiagnostik allerdings nur eine Sensitivität von 67% [37]. Vor allem die häufig ausgeprägte Darmgasbildung limitiert dieses Verfahren. Die Computertomographie ist in der Darstellung des Organs überlegen, jedoch findet sich bei 15–30% der Patienten mit leichter Erkrankung zumindest initial ein normales Computertomogramm
. Abb. 45.3 Serumamylase am Tag 1, 3 und 5 während akuter Pankreatitis bei Patienten mit einem später milden (Gruppe I), schweren (Gruppe II) oder fatalen (Gruppe III) Verlauf
45
582
Kapitel 45 · Akute Pankreatitis
45
[1]. Praktisch alle mäßig- bis schwergradigen akuten Pankreatitiden werden durch die Computertomographie aber entdeckt.
45
Abgrenzung anderer Erkrankungen
45 45
Eine Reihe von Maßnahmen ist erforderlich, um andere Erkrankungen abzugrenzen. Dies ist besonders dann wichtig, wenn die Beschwerden schon länger anhalten und die Enzymbestimmung nicht mehr sicher verwertbar ist. Die Übersicht zeigt eine Liste diagnostischer Standardmaßnahmen.
45.2.4
Einschätzung der Prognose
Die Prognose der Erkrankung wird im Wesentlichen durch das Ausmaß der extrapankreatischen Organschäden bestimmt. Da heute die Mehrzahl der Patienten die 1. Woche aufgrund intensivtherapeutischer Möglichkeiten überlebt, werden dann das Auftreten von Infektionen intra- oder extrapankreatischer Nekrosen und die häufig folgende Sepsis prognosebestimmend. Das Infektionsrisiko ist dabei mit 40–70% als hoch einzuschätzen, wobei das Infektionsrisiko positiv mit dem Ausmaß der Nekrose korreliert [4, 5, 17, 26, 37] (. Tab. 45.1).
45
Standarduntersuchungen in der Diagnose der akuten Pankreatitis
Computertomographie
45
4 Positiver Nachweis – Abdominelle Schmerzen mit und ohne Palpation – Erhöhte Lipase im Serum – Sonographisch oder computertomographisch typische Veränderungen 4 Ausschluss anderer Erkrankungen – Rektal digitale Untersuchung – Serumaktivität der Kreatinkinase und alkalischen Phosphatase – Röntgenuntersuchung von Thorax und Abdomen – Sonographie von Niere, Darm, Gallenblase und Gallenwegen, Leber, Milz und abdominellen Gefäßen – Elektrokardiographie
Da die Computertomographie mit Kontrastmittelbolus bei Weitem die höchste Aussagekraft bezüglich des Vorliegens von intra- (und extra-)pankreatischen Nekrosen aufweist [1] (. Abb. 44.4), wird sie häufig zur Prognoseabschätzung eingesetzt. Zahlreiche Untersuchungen haben aber gezeigt, dass der CTBefund nur eine mäßige Vorhersagekraft (positiver Vorhersagewert 75%, negativer Vorhersagewert 70%) für einen schweren oder fatalen Verlauf der Erkrankung hat [37]. So können keineswegs bei allen Patienten mit schwerem Verlauf Nekrosen in der Computertomographie nachgewiesen werden, und umgekehrt gibt es auch etliche Patienten mit leichtem Verlauf, obwohl Nekrosen festgestellt wurden [43]. Dies liegt auch an der Schwierigkeit der sicheren Diagnose von ausschließlichen Fettgewebsnekrosen.
45 45 45 45 45 45 45 45 45 45 45 45 45 45 45 45 45 45 45
Scores 45.2.3
Abklärung der Ätiologie
Hier spielen laborchemische Verfahren eine geringere Rolle. Erhöhungen der Cholestaseparameter sind bei biliärer Ätiologie sensitiv, aber nicht spezifisch; die Sonographie hat einen geringen Wert, da sie Gallengangsteine bei diesen Patienten in der Regel nicht nachweisen kann und ein Aufstau der Gallenwege auch bei ausgeprägter Entzündung im Pankreaskopfbereich vorkommt. Der Nachweis von Gallenblasensteinen ist nicht identisch mit der Diagnose einer biliären Pankreatitis. Gleiches gilt für die Computertomographie [24, 38].
Goldstandard ist die ERCP, die beim Nachweis einer biliären Ätiologie dann auch gleich therapeutische Interventionen erlaubt. Neueren Daten zufolge ist jedoch auch die MRCP in der Diagnostik der ERCP wenigstens als gleichwertig anzusehen, die Endosonographie (EUS) ist zum Steinnachweis im Choledochus gleichwertig oder möglicherweise sogar überlegen [24, 28].
Bislang sollte bei schwerer Pankreatitis mit Verdacht auf eine biliäre Genese innerhalb der ersten Tage immer noch eine ERCP, evtl. mit Papillotomie und Steinextraktion, erfolgen. Zur Patientenselektion zur ERCP kann eine EUS oder auch eine MRCP vorgeschaltet werden [25]. Wenn ein solches Verfahren regelmäßig angewandt wird und die in der ERCP gewonnene Galle auch noch auf Cholesterinkristalle untersucht wird, steigt der Anteil der diagnostizierten biliären Pankreatitiden in der Regel an.
Es wurden zahlreiche klinische Prognosescores für die akute Pankreatitis entwickelt (Übersicht bei [37, 40, 42]). Dabei finden sich in der Literatur pankreatitisspezifische Scores wie beispielsweise der Imrie- oder Ranson Score, aber auch klassische Intensivscores, die in den publizierten Untersuchungen prognostische Relevanz zeigten. Diesbezüglich finden die allgemeinen Intensivscores noch eher in der klinischen Routine Anwendung als die pankreatitisspezifischen Scores, welche zwar einen statistischen Bezug zum Schweregrad in Patientengruppen aufweisen und daher v. a. als Kriterien für Studien geeignet sind, sich aber aufgrund ihrer Komplexität oft nicht im klinischen Alltag durchsetzten. Im Einzelfall sind die Vorhersagewerte zudem ungenügend und nicht besser als die der bildgebenden Verfahren und/oder einer einfachen klinischen Untersuchung.
. Tab. 45.1 Prognose der akuten Pankreatitis – Einfluss einer Infektion von Nekrosen. (Nach [4]) Nekrosenausmaß
Bakteriologisch positiv
Bakteriologisch negativ
Patienten [%]
Mortalität [%]
Patienten [%]
Mortalität [%]
10 mg/dl
α1-AT
59
50
>4 g/l
α2-MG
82
67
3
Letztlich gelingt die Prognoseabschätzung durch eine gründliche mehrmalige tägliche klinische Untersuchung ebenso gut wie durch technische oder laborchemische Verfahren [37].
45
584
45
Kapitel 45 · Akute Pankreatitis
. Tab. 45.3 Zytokine und CRP zur Vorhersage des Schweregrades der akuten Pankreatitis [34]
45 Tag 1
45 45
Tag 2
45 45
Tag 3
45 45 45 45 45
Sensitivität [%]
Spezifität [%]
IL-6
100
86
IL-8
100
81
CRP
8
95
IL-6
100
73
IL-8
100
91
CRP
57
86
IL-6
86
91
IL-8
93
95
CRP
100
64
Tipp Für die Praxis ist derzeit daher Standard, dass mittels einer kontrastmittelverstärkten Computertomographie das Ausmaß der Nekrosen definiert wird, die Patienten mehrfach täglich klinisch untersucht werden und ab dem 3. Tag das CRP als Prognosemarker herangezogen wird. Möglicherweise etablieren sich derzeit auch weitere Marker wie das IL-6 in der klinischen Routine. Schließlich muss sorgfältig auf das Auftreten von Infektionszeichen geachtet werden.
45 45 45 45 45 45 45 45 45 45 45 45 45 45
45.3
Therapie
Therapieziele bei der akuten Pankreatitis sind Ursachenbeseitigung, Schmerzbekämpfung, supportive Maßnahmen sowie die Prophylaxe und Therapie von Komplikationen. Dies gilt umso mehr, als eine kausale medikamentöse Therapie bislang nicht existiert und interventionelle Maßnahmen und Operation bislang nur der Beseitigung von Komplikationen dienen [15].
45.3.1
Konservative Basistherapie
Die konservative Basistherapie ist in . Tab. 45.4 dargestellt. Im Vordergrund stehen Schmerzbekämpfung und Volumen- und Elektrolytsubstitution.
Schmerzbekämpfung Patienten mit akuter Pankreatitis leiden in den meisten Fällen unter nicht unerheblichen, insbesondere viszeralen Schmerzen. Die adäquate Schmerztherapie ist daher eines der unbedingten Ziele im Behandlungskonzept. Verwendung finden daher v. a. potente Schmerzmittel wie Opioidanalgetika, ggf. entsprechend des WHOStufenschemas auch in Kombination mit Nichtoioidanalgetika. Die Vorstellung, dass möglicherweise eine Verschlechterung der Pankreatitis durch inhibierende Effekte auf die Sphinkter-OddiFunktion auftreten könne, wurde nie belegt, sodass Opioide diesbezüglich unbedenklich eingesetzt werden können. Dabei werden vorwiegend Pethidin, Fentanyl und Buprenorphin verwendet [29]. Gelegentlich ist ein Periduralkatheter mit Bupivacain erforderlich (. Tab. 45.4), was v. a. beim wachen Patienten eingesetzt wird, in Einzelfällen jedoch auch beim intubierten und beatmeten Patienten
. Tab. 45.4 Konservative Basistherapie bei akuter Pankreatitis Schmerzbekämpfung
5 Pethidin 50–100 mg i.v. bei Bedarf, evtl. in Kombination mit Nichtopioidanalgetika (z. B. Metamizol), maximale Tagesdosis 500 mg 5 Fentanyl (0,05–0,3 μg/h), Sufentanil (Erhaltungsdosis 0,15–0.7 μg/kgKG/h) 5 Buprenorphin (maximal 4-mal 0,3 mg/Tag i.v. oder 4-mal 0,2 mg/Tag s.l.) 5 Periduralanästhesie (Bupivacain 0,125–0,5%, 4–8 ml/h)
Flüssigkeitsund Elektrolytsubstitution
5 Initial 3,0–6,0 l Flüssigkeit/24 h, ggf. Bilanzierung entsprechend hämodynamischem Volumenmonitoring 5 Elektrolyte Bicarbonat, Albumin nach Bedarf
Ernährung
5 Parenterale Ernährung nach den üblichen Kriterien, Zusatz von Lipiden erlaubt 5 Frühzeitige enterale Ernährung über nasojejunale Sonde erwägen 5 Insulin nach Bedarf
erwogen werden kann. Das früher empfohlene Procainhydrochlorid ist nicht hilfreich [19].
Supportive Therapie > Bei der Flüssigkeits- und Elektrolytersatztherapie ist zu beachten, dass häufig sehr viel mehr als 3 l Flüssigkeit pro Tag und z. T. auch kolloidale Volumenersatzmittel verabreicht werden müssen, da enorme Mengen eiweißreicher Flüssigkeit in die Peritonealhöhle und in den Darm sequestriert werden. Das benötigte Volumen kann in Einzelfällen bis zu 15 l täglich betragen. Hier sind eine sorgfältige Bilanzierung und eine engmaschige Kontrolle der hämodynamischen Parameter zwingend erforderlich.
Enterale Ernährung Während früher noch stenge Nahrungskarenz, Dauerdrainage des Magensaftes und parenterale Ernährung propagiert wurden, ist deren Effekt durch klinische Studien nicht belegt. Neuere Daten legen den Schluss nahe, dass eine frühe enterale Ernährung über eine Jejunalsonde oder sogar eine gastrale Sonde [20] Vorteile gegenüber der parenteralen Ernährung bieten kann. Eine zusammenfassende Analyse von 8 prospektiven, randomisierten Studien mit 275 Patienten mit nekrotisierender Pankreatitis, von denen 141 intrajejunal oder intragastral mit Sonden und 134 parenteral ernährt wurden, belegt, dass die Patienten, wenn möglich, enteral und nicht parenteral ernährt werden sollten [31]. Einzige Schwierigkeit kann dabei eine ausgeprägte Hemmung der Darmperistaltik v. a. im oberen Gastrointestinaltrakt sein, sodass entsprechende Prokinetika wie beispielsweise Metoclopramid regelmäßig zum Einsatz kommen. In der Regel sind wegen des Ausfalls der endokrinen Funktionen der Bauchspeicheldrüse Insulingaben erforderlich. > Die enterale Ernährung führt zu erheblicher Kostenersparnis, einer Senkung der Rate infektiöser Komplikationen, sicher nicht zu einer negativen Beeinflussung des klinischen Verlaufs und wahrscheinlich zur Verbesserung der Prognose.
585 45.3 · Therapie
45.3.2
Medikamentöse Behandlung
Hemmung der exokrinen Pankreassekretion und Proteaseinhibitoren In zahlreichen Studien wurde versucht, den Krankheitsverlauf durch Anwendung von Hormonen zur Hemmung der Enzymfreisetzung (Glukagon, Somatostatin, Octreotid, Kalzitonin) oder durch die Gabe von Proteaseinhibitoren (u. a. Aprotinin und Gabexat-Mesilat) zu beeinflussen. Obwohl sich im Tierversuch durchaus positive Effekte abzeichneten, waren die klinischen Ergebnisse bei Anwendung am Patienten bisher enttäuschend [41]), sodass der Einsatz dieser Substanzklassen nicht empfohlen werden kann. Dies gilt sowohl für die Therapie der akuten Pankreatitis als auch für die Prophylaxe nach ERCP (beispielweise untersucht für Gabexat-Mesilat oder IL-10). Etwas mehr Potenzial in der Prophylaxe konnte noch für den Einsatz von NSAID nachgewiesen werden [2].
Mediatorenblockade Ob sich die experimentellen Befunde zur Blockade von Tumornekrosefaktor D, Interleukin-1 oder zur Zytokindämpfung durch Interleukin-10 in die Klinik übertragen lassen werden, erscheint anhand der Datenlage derzeit nicht wahrscheinlich. Nach wie vor ist keine kausale medikamentöse Behandlung als wirksam gesichert [15].
Antibiotika Der Einsatz der antibiotischen Therapie bei Patienten mit akuter Pankreatitis ist derzeit in Diskussion. Als gesichert gilt der Einsatz beim Nachweis der Infektion nekrotischer Areale, umstritten bleibt nach wie vor der frühzeitige, dann prophylaktische Einsatz während der 1. Phase der Erkrankung [15, 30, 45]. Während in einigen Studien ein Vorteil bezüglich der Mortalität zu finden ist, sind andere Daten diesbezüglich kontrovers [18, 44]. Letztlich ist darauf zu achten, dass sowohl gallegängige als auch pankreasgängige Antibiotika bevorzugt werden, die Penetration von Antibiotika in das Pankreasgewebe sehr unterschiedlich ist und die Besiedelung der Nekrosen in der Regel durch gramnegative Keime erfolgt. Ein rascher Beginn scheint besser zu wirken als eine verzögerte Gabe [27]. Die akute nekrotisierende Pankreatitis ist eine der wenigen Erkrankungen, bei denen eine Prophylaxe mit hochwirksamen Antibiotika möglicherweise sinnvoll sein kann, eine Evidenz durch entsprechende Studien ist jedoch nicht belegt. Empfohlen wird die intravenöse Anwendung von Carbapenemen oder Chinolonen, abgeraten wird von Substanzen mit mangelnder Penetration oder Anreicherung im Pankreasgewebe (z. B. Aminoglycoside, Ampicillin, Cefotaxim).
45.3.3
Beseitigung der Ursachen
Die Ursachenbeseitigung ist bislang nur bei der biliären Pankreatitis durch Behebung von Abflussstörungen durchführbar. Hier ist bei Anwendung der EUS bzw. ERCP für die Akutdiagnostik eine frühzeitige Papillotomie mit Steinextraktion möglich; sie führt zum raschen Rückgang der klinischen und biochemischen Aktivitätsparameter. Die Durchführung der ERCP hat keine nachteiligen Folgen, die Papillotomie ist komplikationsarm. In verschiedenen Studien wurde nach dem optimalen Zeitpunkt für diese Intervention gesucht; insgesamt muss man davon ausgehen, dass bei klinischen Zeichen einer schweren Pankreatitis eine frühzeitige Intervention sinnvoll ist [15]. Eine Papillotomie bei nichtbiliärer Pankreatitis hat sich als nicht zweckmäßig erwiesen.
45.3.4
Therapie von Komplikationen
Die Letalität wird im Wesentlichen durch die extrapankreatischen Komplikationen bedingt. Prophylaxe, Früherkennung und frühzeitige Therapie dieser Komplikationen sind daher von großer Bedeutung. Die Indikation zur maschinellen Beatmung muss rechtzeitig gestellt werden; eine frühzeitige PEEP-Beatmung hat sich hier als zweckmäßig erwiesen. Bei Entwicklung eines abdominellen Kompartments muss an eine Druckentlastung mittels Laparatomie gedacht werden [8]. Eine rasche Korrektur der oft unterschätzten Flüssigkeitsverluste ist von wesentlicher Bedeutung und setzt ein angepasstes hämodynamisches Monitoring voraus. . Tab. 45.5 gibt einen Überblick der Therapie von Komplikationen.
45.3.5
Operative Therapie
Die operative Therapie der akuten Pankreatitis und insbesondere die Operationsindikation werden heute einheitlich eher zurückhaltend beurteilt. Eine Operationsindikation besteht übereinstimmend dann, wenn der Nachweis der Infektion von Nekrosen gelingt, was in der Regel durch eine gezielte Feinnadelpunktion und anschließende mikrobiologische Untersuchungen möglich ist. Allerdings werden auch hier zunehmend interventionelle Verfahren unter sonographischer oder computertomographischer Steuerung alternativ eingesetzt. Weitere Operationsindikationen können lokale Spätkomplikationen wie Abszesse, Sequesterbildung oder rasch wachsende Pseudozysten sein. In allen anderen Fällen sollte die Operationsindikation nur bei deutlicher klinischer Verschlechterung trotz konservativer Maximaltherapie und Nachweis von Nekrosen gestellt werden. Sicher darf nicht allein das morphologische Ergebnis bildgebender Verfahren die Operation begründen. Wenn operiert wird, sollte eine Nekrosektomie mit Bursalavage erfolgen (Spüllösung: Peritonealdialyselösung mit 4 mmol/l KCl und 250–500 Einheiten Heparin/l) [15].
. Tab. 45.5 Intensivtherapie von Komplikation der akuten Pankreatitis (PAK Pulmonalarterienkatheter; PEEP positiver endexspiratorischer Druck) Komplikation
Maßnahmen
Ileus
Heber-Drainage, Einläufe, Anwendung von Prostigmin umstritten; intraabdominelle Druckmessung, ggf. Entlastungslaparotomie bei Kompartment
Niereninsuffizienz
Bilanzierung, Diuretika, rechtzeitig Nierenersatzverfahren beginnen
Respiratorische Insuffizienz
O2-Gabe, frühzeitige Beatmung (inkl. PEEP), Patientenlagerung (Bauchlage oder motorbetriebenes Drehbett mit kontinuierlichem axialen Lagerungswechsel)
Kreislaufversagen
Invasives hämodynamisches Monitoring (arteriell und zentralvenös), Bilanzierung, Katecholamine
Blutzuckerentgleisung
Bilanzierte Glukosezufuhr, Altinsulininfusion
Gerinnungsstörung
Thromboembolieprophylaxe mit Heparin, ansonsten Substitution nach Bedarf
45
45 45 45 45 45 45 45 45 45 45 45 45 45 45 45 45 45 45 45 45 45 45 45 45 45
586
Kapitel 45 · Akute Pankreatitis
45.3.6
Interventionelle Therapie
In den letzten Jahren wurde von einzelnen Zentren über gute Erfolge mit der nichtoperativen Nekrosedrainage und -spülung berichtet. Dabei können perkutan CT-gesteuert Drainagen platziert und ein entsprechendes Spülregime gestartet werden, wobei die Zielkriterien die gleichen wie bei der operativen Drainageeinlage sind. In neueren Publikationen wird über die Anlage von bis zu 14 Drainagen berichtet [6]. Perkutane oder auch endoskopische transgastrische Nekrosektomien stellen reelle Alternativen zu chirurgischen Verfahren dar [15] (. Abb. 45.4). Sollten diese passiven Drainagemaßnahmen nicht ausreichen, das nekrotische Gewebe zu mobilisieren, können in einem weiteren Schritt perkutan auch aktive Verfahren wie die perkutane Nekrosektomie eingesetzt werden [7]. Dabei werden unter Durchleuchtungskontrolle Nekrosen mittels Instrumenten wie z. B. DormiaFangkörbchen zerkleinert und entfernt. Gegebenenfalls kann die Nekrosehöhle dabei durch ein über eine Schleuse eingebrachtes Endoskop visualisiert werden [14]. Ziel all dieser minimalinvasiven Maßnahmen ist, die Operation für den oft kritisch kranken Patienten entweder komplett zu vermeiden oder Zeit zu gewinnen, um die Operation auf einen späteren Zeitpunkt terminieren zu können, wenn sich die klinische Gesamtsituation stabilisiert hat. Inwieweit diese Verfahren die Zahl der Operationen weiter reduzieren werden, ist derzeit nicht endgültig absehbar.
Literatur 1 2 3
4
5 6
7
8 9
10 11 12
45.4
Überwachung
Die Früherkennung potenziell letaler Komplikationen ist von wesentlicher Bedeutung. Eine engmaschige Überwachung mittels klinischer, laborchemischer und bildgebender Verfahren ist daher erforderlich; insbesondere Gasaustausch, Nierenfunktionen und Infektionsparameter sollten lückenlos überprüft werden.
13
14
15
45.5
Prognose und Folgetherapie
Durch die modernen Verfahren der Intensivtherapie hat sich die Prognose auch der schweren Pankreatitis wesentlich gebessert [3]. In größeren Zentren mit selektioniertem Patientengut beträgt die Letalität der schweren Pankreatitis heute deutlich weniger als 10%, wobei alle oben genannten therapeutischen Prinzipien zum Einsatz kommen. Bei den Überlebenden kann es mehrere Monate dauern, bis endokrine und exokrine Organfunktionen wiederhergestellt sind. Bei einer Totalnekrose ist naturgemäß eine dauerhafte Ersatztherapie (orale Enzymsubstitution, Insulin) erforderlich. Bei vielen Patienten muss zumindest für eine Übergangsphase eine Ersatztherapie durchgeführt werden. Bei Nachweis einer biliären Genese ist die baldige elektive Cholezystektomie erforderlich, auch wenn initial eine Papillotomie erfolgt ist. Bei Pancreas divisum und rezidivierenden Pankreatitiden ist die Drainage mittels endoskopischer Techniken und selten auch eine operative Intervention sinnvoll. Bei alkoholinduzierter und medikamentös verursachter Erkrankung ist eine entsprechende Karenz erforderlich.
16 17
18
19
20
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22
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45
589
Akute gastrointestinale Blutungen H. Messmann, F. Klebl
46.1
Definition und Einteilung – 590
46.1.1 46.1.2
Lokalisation – 590 Blutungsaktivität und -dauer – 590
46.2
Diagnostik – 590
46.2.1 46.2.2 46.2.3 46.2.4 46.2.5 46.2.6
Anamnese – 590 Klinik und Laborparameter – 591 Endoskopie – 592 Computertomographie (CT) und (CT-)Angiographie – 593 Szintigraphie – 594 Operation – 594
46.3
Therapie – 594
46.3.1 46.3.2 46.3.3 46.3.4 46.3.5 46.3.6 46.3.7
Stressblutungsprophylaxe – 594 Schockbekämpfung – 595 Blutungen aus Erosionen und Ulzerationen – 595 Ösophagusvarizenblutungen – 596 Seltenere Ursachen oberer gastrointestinaler Blutungen – 597 Mittlere gastrointestinale Blutungen: Dünndarmblutungen – 597 Untere gastrointestinale Blutungen: Dickdarmblutungen – 597
Literatur – 598 Internetadressen – 599
H. Burchardi et al. (Hrsg.), Die Intensivmedizin, DOI 10.1007/978-3-642-16929-8_46, © Springer Medizin Verlag Berlin Heidelberg 2011,
46
46 46 46 46
590
Kapitel 46 · Akute gastrointestinale Blutungen
46.1
Definition und Einteilung
Akute gastrointestinale Blutungen werden nach ihrer Lokalisation eingeteilt [33] in: 4 obere (proximal der Papilla Vateri bzw. im mit dem Gastroskop einsehbaren Bereich), 4 mittlere (distal der Papilla Vateri bzw. des mit dem Gastroskop einsehbaren Bereichs bis terminales Ileum), 4 untere gastrointestinale Blutungen (terminales Ileum und distal davon).
46 46.1.1
46 46 46 46 46 46 46
Lokalisation
z Obere gastrointestinale Blutung Die obere gastrointestinale Blutung ist wesentlich häufiger als die untere, wenn auch ihre Inzidenz abzunehmen und die der unteren zuzunehmen scheint [21]. Sie wird am häufigsten durch Schleimhauterosionen bzw. -ulzerationen sowie Varizen verursacht. . Tab. 46.1 zeigt die Häufigkeitsverteilung der oberen gastrointestinalen Blutungen [9]. z Mittlere gastrointestinale Blutung Eine obskure Blutung liegt vor, wenn bei einer gastrointestinalen Blutung keine Blutungsquelle in der Gastroskopie und Koloskopie nachgewiesen werden kann. Blutungen im Dünndarmbereich sind vergleichsweise selten. Häufigste Blutungsquelle sind Angiodysplasien, Tumoren, gefolgt von selteneren Ursachen wie (Meckel-) Divertikel oder M.-Crohn-Ulzerationen.
46
z Untere gastrointestinale Blutung Im Kolorektum sind Hämorrhoidalblutungen und Divertikelblutungen am häufigsten, gefolgt von Proktitis, Karzinomen und Nachblutungen nach Polypektomie oder Biopsie. Bei Kolonblutungen ist die Häufigkeitsverteilung stark altersabhängig (. Tab. 46.2), die Inzidenz der unteren gastrointestinalen Blutung nimmt mit dem Alter zu [26].
46
46.1.2
46 46
46
Blutungsaktivität und -dauer
46
Nach der Blutungsaktivität können overte Blutungen von okkulten Blutungen unterschieden werden. Während bei Ersteren Blutungszeichen wie z. B. eine Hämatochezie, Meläna o. Ä. vorliegen, werden Letztere anhand positiver Stuhltests auf Blut detektiert. Anhand der Blutungsdauer werden akute und chronische Blutungen unterschieden.
46
46.2
Diagnostik
46
46.2.1
Anamnese
46
Die Anamnese lässt oftmals eine Verdachtsdiagnose zu, sodass weiterführende diagnostische Maßnahmen bereits frühzeitig veranlasst werden können. Schmerzmitteleinnahme oder rezidivierende Oberbauchbeschwerden, z. T. jahreszeitlich abhängig oder in Stresssituationen, lassen ein Ulkus bzw. Erosionen vermuten. Bei Patienten mit Leberzirrhose ist die Varizenblutung nur in 30–50% der Fälle die Blutungsursache. Gehäuft findet man bei diesen Patienten auch eine Gastropathie durch portale Hypertension oder MalloryWeiss-Läsionen infolge rezidivierenden Erbrechens. Letzteres tritt v. a. bei Alkoholikern auf, aber auch andere Ursachen (Erbrechen in
46
46 46 46
. Tab. 46.1 Prozentuale Verteilung der Blutungsquellen bei 1139 Patienten mit oberer gastrointestinaler Blutung. (Nach [9]) Blutungsquelle
Häufigkeit [%]
Ulcus duodeni
27
Ulcus ventriculi
24
Ösophagusvarizen
19
Erosionen
13
Refluxösophagitis
10
Mallory-Weiss-Läsionen
7
Tumorblutung
3
Angiodysplasie
1
Blutungsquelle nicht identifiziert
6
. Tab. 46.2 Blutungsquellen im Kolon in Abhängigkeit von Lebensalter und Häufigkeit 50% der Patienten die Notwendigkeit einer Intervention.
. Tab. 46.3 Scoringsystem zur Beurteilung des Rezidivblutungs- und Mortalitätsrisikos bei der akuten oberen nichtvarikösen gastrointestinalen Blutung. (Nach [34]) Risikofaktoren
0
1
2
3
Alter (Jahre)
80
Schock
Nein
Tachykardie
Hypotonie
Begleiterkrankungen
Nein
Diagnose
Mallory-Weiss-Läsion, keine Läsion
Alle anderen Blutungsquellen
Blutungsstigmata
Keine Blutungsstigmata, keine Hämatinreste
Blut, adhärentes Koagel, Gefäßstumpf, spritzende Blutung
Kardial
Renal Hepatisch Maligne
Tumor
. Tab. 46.4 Rezidivblutungs- und Mortalitätsrisiko bei Patienten mit akuter oberer, nicht variköser gastrointestinaler Blutung [35]: Patienten mit Scorewerten ≤2 können ambulant betreut werden, hingegen bedürfen Patienten mit einem Scorewert ≥6 einer intensivmedizinischen Überwachung Score
Patienten
Rezidivblutung
Mortalität nach Rezidivblutung
Gesamtmortalität
n
(%)
n
(%)
n
(%)
n
(%)
≤2
744
(30)
32
(4,3)
0
(0)
1
(0,1)
3–5
1219
(48)
173
(14)
30
(2,5)
56
(4,6)
≥6
580
(22)
211
(37)
80
(14)
126
(22)
. Tab. 46.5 Scoringsystem zur Beurteilung des Rezidivblutungs- und Mortalitätsrisikos bei der akuten oberen gastrointestinalen Blutung. (Nach [2]) Scorewert
1
Harnstoff bei Aufnahme [mmol/l]
2
3
4
5
≥6,5,8,0, Die akute nekrotisierende Herpesenzephalitis ist eine MRT-Indikation.
Meningitis
Hirnabszess
In den meisten Fällen ist der CT-Befund negativ. Geringe Dilatation der Ventrikel und des Subarachnoidalraums sind unspezifische Frühzeichen. Weniger als 50% eines Kollektivs pädiatrischer Patienten mit dokumentierter Meningitis zeigten ein meningeales Enhancement im kontrastmittelverstärkten CT [2]. Das abnorme Enhancement der Meningen zeigt sich viel deutlicher im MRT als im CT. Nach Lumbalpunktion ist ein solches Enhancement der Meningen allerdings nicht verwertbar, da es hier in etwa 10–15% der Fälle auftritt, ohne dass eine Meningitis vorliegt.
Ätiologie. Häufig durch offene Schädelfrakturen sowie per con-
> In der Frühphase einer Meningitis sollte die Magnetresonanztomographie als bildgebendes Verfahren eingesetzt werden.
eine unspezifische Ödemzone ohne eindeutige Kontrastmittelaufnahme, später dann – nach Ausbildung einer Abszessmembran – ein hypodenser Herd, der nach Kontrastmittelinjektion ein ringförmiges Enhancement aufweist (. Abb. 48.10). Als Differenzialdiagnose zu einem zentral nekrotischen Primärtumor gelten folgende Hinweise: 4 Die Kontrastmittel aufnehmende Zone ist maximal 3–6 mm breit. 4 In etwa der Hälfte der Fälle ist sie medial geringfügig dünner infolge der schlechteren Vaskularisation des Marklagers.
Enzephalitis Ätiologie. Zumeist viral (Herpes simplex Typ 1 und 2); bei immun-
supprimierten Patienten viral: HIV, Zytomegalie; nichtviral: Toxoplasmose.
tinuitatem (Sinusitis, Osteomyelitis) und hämatogen (z. B. bei Endokarditis). In der Abszessentwicklung ist ein stadienhafter Ablauf bekannt, der über eine frühe und späte fokale Enzephalitis (engl.: »cerebritis«) zur frühen Abszessmembranentwicklung (2 Wochen) bis zur späten Abszessformation führt. Multiple Abszesse sind – außer bei immungeschwächten Patienten – selten. CT-Befund. In den Frühstadien (»cerebritis«) zeigt sich lediglich
48
620
48 48
Kapitel 48 · Neurodiagnostik in der Intensivmedizin
Epidurale Abszesse entstehen meist postoperativ, subdurale Empyeme bei offenen Hirnverletzungen oder per continuitatem, wobei die Abgrenzung zum chronischen Subduralhämatom mitunter schwierig ist.
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48.2.6
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Ein Hirnödem stellt sich im CT als Zone verminderter Dichte (hypodens) dar. Raumforderungszeichen wie eine verstrichene Hirnfurchenzeichnung, enge basale Zisternen, eine Kompression der inneren Liquorräume und evtl. eine Verlagerung der Mittellinienstrukturen (Interhemisphärenspalt, Falx, Septum pellucidum, III. Ventrikel) lassen sich mit der Computertomographie ebenso sicher erkennen wie eine Liquorabflussblockade (Hydrocephalus occlusus).
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48.3
Hirnödem
Magnetresonanztomographie
Die Magnetresonanztomographie (MRT) bietet einen ausgezeichneten Weichteilkontrast, die Möglichkeit der multiplanaren Bilderzeugung und benötigt keine Röntgenstrahlen. Die langen Untersuchungszeiten, die Anfälligkeit gegenüber Bewegungsartefakten und die schlechte oder nur eingeschränkte Möglichkeit der Patientenüberwachung gehören zu den Nachteilen des Verfahrens. Im Einzelfall sind die zu erwartenden Informationen aus der MRUntersuchung und die Belastung für den Patienten (Transport, Untersuchung in Narkose) gegeneinander abzuwägen. Weiterhin ist eine Ausrüstung der MR-Einheit mit entsprechenden nicht-ferromagnetischen Überwachungsgeräten notwendig. Technik. Die Bildgebung basiert auf der Interaktion zwischen
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hochfrequenten elektromagnetischen Wellen und den Protonen der Wasser- und Fettbestandteile im Körper in Gegenwart eines starken Magnetfelds (in der Routine bis 1,5 Tesla). Im Gegensatz zur Computertomographie werden somit keine ionisierenden Strahlen verwendet. Die Bildgebung ist in allen Ebenen des Raumes frei wählbar. Kontraindikationen. Herzschrittmacher, bestimmte Herzklappen,
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intrakorporale metallische Fremdkörper, z. B. Cochleaimplantate und verschiedene Pumpen; relative Kontraindikation: klaustrophobische Patienten (evtl. Sedierung erforderlich).
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48.3.1
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Koma ungeklärter Genese
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Insbesondere zum Ausschluss einer Enzephalitis: Bei Herpesenzephalitiden sind alle anderen Untersuchungen einschließlich des Liquorbefunds innerhalb der ersten 24–72 h u. U. negativ.
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MRT-Befund. Innerhalb dieses diagnostischen Fensters zeigt sich
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MRT-Akutindikationen beim Intensivpatienten
in T2-gewichteten Sequenzen und in Sequenzen mit zusätzlicher Unterdrückung des Signals freier Wasserstoffprotonen (z. B. »fluid attenuated inversion recovery«; FLAIR) eine mediotemporale Hyperintensität (. Abb. 48.11), die sich später auf die frontalen Hirnregionen, die weiteren temporalen Anteile und die Gegenseite ausdehnen kann. Andere Meningoenzephalitiden manifestieren sich in Form intrazerebraler, auf T2-gewichteten Sequenzen und auf der FLAIR-Sequenz hyperintenser Läsionen, die kein vaskuläres Ver-
. Abb. 48.11 Patient, 39 Jahre, MRT axial, T2-gewichtete Turbospinechosequenz. Herpesenzephalitis rechts temporal (Pfeil)
teilungsmuster aufweisen. Gelegentlich zeigt sich eine Anfärbung der Meningen.
Hirnstammläsionen Diese Region ist schädelbasisnah im CT aufgrund von Aufhärtungsartefakten der Knochenstrukturen nur eingeschränkt beurteilbar. Ätiologie. Vaskuläre (ischämischer Infarkt, venöse Infarzierung), entzündliche, blastomatöse (am häufigsten Tumoren der Gliomreihe) oder toxische Genese (zentrale pontine Myelinolyse). Zentrale pontine Myelinolyse. Diese entsteht nicht nur bei Patienten mit lange bestehender chronischer Intoxikation (Alkohol), sondern auch vermehrt als Komplikation einer zu raschen Veränderung (meist »Korrektur«) des Natriumgehalts durch osmotische Demyelinisierung. Zu den seltenen Ursachen gehören Leukodystrophien, Hydrocarbon, Ciclosporin, Methotrexat und Bestrahlung. MRT-Befund. Zentrale Signalveränderung im Hirnstamm mit erhaltenem peripherem Parenchymsaum.
Hirnvenenthrombosen Hier ist die Durchführung einer CT- oder MR-Angiographie hilfreich. Im Gegensatz zur konventionellen Angiographie können mit beiden Verfahren während einer Sitzung sowohl die Hirngefäße als auch das Hirnparenchym beurteilt werden.
Meningeosis carcinomatosa Die meningeale Tumorabsiedlung ist kernspintomographisch mit höherer Sensitivität zu erfassen als computertomographisch.
621 48.6 · Neurosonographie
MRT-Befund. Kontinuierliches oder noduläres Enhancement der
Anwendung. Bisher hat sich die Mehrzahl der Studien mit der
Meningen.
Messung des zerebralen Blutflusses durch SPECT mittels 99mTcHMPAO (de la Riva 1992) und der Messung der regionalen zerebralen Metabolisationsrate von Glukose durch PET mittels 18F-gekoppelter Fluordesoxyglukose als Radiotracer befasst [10]. Mit SPECT können nach Schädel-Hirn-Trauma im Vergleich zur strukturellen Bildgebung (CT, MRT) Ausmaß und Schweregrad der zerebralen Veränderungen besser beurteilt werden, wobei auch eine gute Korrelation zwischen neurologischen Ausfällen und Gehirndysfunktionen besteht [11].
> Bei negativem MRT sollte eine Liquorpunktion durchgeführt werden, da sie wesentlich sensitiver ist!
Älteres Schädel-Hirn-Trauma Besonders bei einer Diskrepanz zwischen klinischem Bild und negativem CT-Befund (z. B. bei einem apallischen Syndrom) kann die Kernspintomographie häufig die morphologische Ursache klären. Oft finden sich Zeichen eines diffusen Axonschadens in Form von Hyperintensitäten im Parenchym und im Balken auf T2-gewichteten Sequenzen. Weiterhin sind Härnosiderinreste auf für Blutabbauprodukte empfindlichen Gradientenechosequenzen darstellbar. Liquorpulsationen können mit nichtinvasiven Maßnahmen (besondere MR-Sequenzen) sowohl qualitativ als auch quantitativ dargestellt werden. Dies ist bei der Abklärung eines posttraumatischen Hydrocephalus internus von Bedeutung.
48.3.2
Spinale MRT-Indikationen beim Intensivpatienten
Akutes Querschnittsyndrom Das akute Querschnittsyndrom ist eine der wenigen Notfallindikationen für eine MRT-Untersuchung. Der MR-Befund ermöglicht häufig die sichere Differenzialdiagnose zwischen entzündlichen vaskulären oder traumatischen Ursachen des Querschnittsyndroms. Vorsicht ist geboten bei akuten epi- oder subduralen spinalen Hämatomen, diese können in der üblichen Spin-Echo-Technik übersehen werden. Empfehlenswert ist daher, immer sog. Gradienten-Echos durchzuführen, um diese seltenen Ursachen einer Querschnittlähmung nicht zu übersehen. Eine Myelographie zur Primärdiagnostik einer akuten Querschnittlähmung ist heute nur in Ausnahmefällen indiziert.
48.4
Angiographie, digitale Subtraktionsangiographie, MR-Angiographie
Die konventionelle zerebrale Angiographie spielt beim Intensivpatienten nur eine untergeordnete Rolle und ist auf wenige Indikationen, wie z. B. eine intraarterielle thrombolytische Therapie beim akutem Gefäßverschluss oder die Aneurysmasuche bei akuter Subarachnoidalblutung, beschränkt. Die Darstellung der supraaortalen Gefäße erfolgt dabei über einen transfemoralen Zugang in Kathetertechnik [6, 13].
48.5
PET und SPECT
Die Positronenemissionstomographie ist ein bildgebendes Verfahren, das in vivo eine Beurteilung des Stoffwechsels und anderer physiologischer Parameter erlaubt. Technik. Es erfolgt eine intravenöse Injektion von mit Positronen
emittierenden Nukliden gekoppelten Radiotracern. Durch den Positronenzerfall erfolgt die Emission von γ-Photonen, die zur Bilddarstellung verwendet werden. Die Bilder reflektieren somit die quantitative In-vivo-Verteilung von Radionukliden.
48.6
Neurosonographie W. Müllges
Die Fortschritte moderner neurologischer Ultraschalldiagnostik haben in den letzten Jahren das ursprüngliche Anwendungsgebiet der Dopplersonographie, die Diagnostik von arteriellen Stenosen oder Verschlüssen extra- und intrakranieller Gefäße, erheblich erweitert. Die Duplexsonographie lässt häufig das morphologische Korrelat zu auffälligen Audiosignalen sicherer klassifizieren, Ultraschallkontrastmittel erlaubt den positiv sicheren Nachweis eines intrakraniellen Arterienverschlusses oder die Darstellung von intrazerebralen Sinus und großen Venen; die B-Bild-Sonographie ermöglicht die Darstellung einiger krankhafter Veränderungen des Hirnparenchyms einerseits und andererseits die Darstellung von peripheren Nerven und von Muskelveränderungen. Transkranielles Monitoring dient der (Verlaufs-)Beurteilung zur Therapieführung relevanter funktioneller Störungen der Hirndurchblutung und damit indirekt auch des intrakraniellen Drucks.
48.6.1
Stellenwert der Neurosonographie
Unübertreffliche Vorteile der sonographischen Untersuchungsverfahren liegen neben der Nichtinvasivität in der raschen und einfachen Verfügbarkeit und damit auch Wiederholbarkeit (Verlaufsuntersuchung) am Patientenbett, was kritisch Kranken risikobehaftete Transporte mit zugleich hohem personellem Aufwand bei den Umlagerungen zu anderen bildgebenden Untersuchungsverfahren wie CT (mit Strahlenbelastung) und MRT (mit den Überwachungsrisiken) oder invasive Untersuchungen wie Arteriographie ersparen kann. Die Konkurrenz der Methoden ist bezüglich Befundspezifität und -sensitivität unterschiedlich gut evaluiert. Letztlich zählt beim Methodenvergleich die Qualität in der eigenen Klinik und nicht die aus Studien. Im Folgenden werden Ultraschallindikationen vorgestellt und ihre Grenzen kritisch beleuchtet. Einzigartig sind die Möglichkeiten des Ultraschallmonitorings sowohl bezüglich Hämodynamik wie auch Embolien. Zuletzt sollte man bedenken, dass Ultraschalldiagnostik gegenüber allen anderen Verfahren einen ganz erheblichen Kostenvorteil hat. Der wesentliche Nachteil ist, dass die Untersuchungsergebnisse von der Expertise des Untersuchers abhängen, die in der Regel nur durch eine systematische längere Ausbildung mit Hunderten von kontrollierten Befunden erworben werden kann. Die höchsten Anforderungen an die Erfahrung und Befundungssicherheit stellt zweifellos die extrakranielle Dopplersonographie mit den kleinen, leicht transportablen Geräten dar. Wenn dies die einzig verfügbare Technik ist, wird häufig ein radiologisches Verfahren ergänzend notwendig für die Diagnosesicherung.
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Kapitel 48 · Neurodiagnostik in der Intensivmedizin
Dagegen ist die konventionelle transkranielle Dopplersonographie mitsamt des Monitorings sehr rasch und sehr sicher erlernbar; hier stellt die intellektuelle Befundinterpretation erfahrungsgemäß oft das größere Problem dar. Viel einfacher, aber an ein erheblich aufwendigeres und größeres Gerät gebunden, ist die Duplexsonographie, also Kombination von B-Bild- und Dopplertechnik, weil die visuelle Kontrolle der beschallten Struktur die Interpretation des Audiosignals erleichtert. Die Nervensonographie erfordert eine eigene konsequente Ausbildung und v. a. sehr solide anatomische Kenntnisse. Letztlich profitieren Patienten und Intensivstationen dann von der Neurosonographie, wenn Untersucher vorhanden sind, die die Grenzen der Methodik einerseits und andererseits ebenso gut ihre eigenen Grenzen kennen, die sich im Zuge gewonnener Untersuchungserfahrung und Qualitätskontrolle anhand konkurrierender Untersuchungsmethoden immer weiter in Richtung hoher Spezifität und Sensitivität hinausschieben werden. Auf jeder Intensivstation sollte heute eine extrakranielle Ultraschallgefäßdiagnostik jederzeit kompetent verfügbar sein, transkranielle Dopplersonographie gehört zwingend in die Behandlung von Patienten mit Subarachnoidalblutungen. Alle anderen im Folgenden dargestellten Ultraschallmöglichkeiten stellen aktuell noch Merkmale für eine elegante hervorgehobene intensivmedizinische Versorgungsqualität nicht nur auf dem Neurofachgebiet dar.
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48.6.2
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Untersuchung
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Arterielle Stenosen und Verschlüsse
Der größte Zeitdruck darf nicht dazu führen, sich bei der ersten Untersuchung auf einzelne Arterien von Interesse zu beschränken. Eine isolierte Betrachtung intrakranieller Gefäße beispielsweise kann zu gravierenden Fehlbewertungen und konsekutiven Fehlern im Therapiekonzept führen, wenn extrakranielle Läsionen übersehen wurden. Ultraschalldiagnostik ist aber stets insgesamt weniger zeitaufwendig als radiologische Gefäßdiagnostik. > Um Fehlbeurteilungen zu vermeiden, muss die Basisuntersuchung stets vollständig in standardisierter Reihenfolge im Seitenvergleich durchgeführt werden mit Dokumentation der Dopplerpulskurven von allen repräsentativen extra- und intrakraniellen Gefäßabschnitten.
bedingungen vorliegen (z. B. »Knickstenose«, Gefäßwandhämatom, Überlagerungen durch Jugulariskatheter oder Verletzungen). Supratentorielle Arterien. Die Untersuchung der supratentoriellen Arterien erfolgt durch das temporale Schallfenster, das sich vor und oberhalb des Tragus befindet. Bei ca. 10% der Erwachsenen verhindert der Knochen die Beschallbarkeit der Arterien. Dann ist die i.v.-Gabe von lungengängigem Ultraschallkontrastmittel in der Regel hilfreich. Dokumentiert werden die Flusssignale der proximalen Abschnitte der Aa. cerebri media, anterior und posterior. Infratentorielle Arterien. Die infratentoriellen distalen Segmente der A. vertebralis und die A. basilaris werden vorzugsweise über einen nuchalen Zugang aufgesucht, wozu der Patient in der Regel aber auf die Seite gedreht werden muss. Bei der transkraniellen Untersuchung ist die Duplex- gegenüber der Dopplersonographie insgesamt nur überlegen, wenn Unsicherheiten bei der anatomischen Gefäßzuordnung zum Audiosignal bestehen.
Indikation zur Untersuchung Der Verschluss einer hirneigenen Arterie führt zu einem ischämischen Hirninfarkt in ihrem Versorgungsgebiet. Stenose oder Verschluss einer extrakraniellen A. carotis interna oder A. vertebralis kann durch Embolie zu einem Territorialinfarkt durch sekundären Verschluss einer hirneigenen Arterie oder durch poststenotisch kritische Abnahme des Blutflusses zu einem hämodynamischen Endstrom- oder Grenzzoneninfarkt führen. Die Indikation zur Untersuchung ergibt sich daher 4 bei jedem Hirninfarkt bzw. bei neu akut aufgetretenen zentralen fokalen neurologischen Ausfällen, sei es, dass dies zur Aufnahme führte, oder sei es im intensivmedizinischen Behandlungsverlauf, insbesondere, wenn embolisierende Herzerkrankungen oder prothrombotische Gerinnungsstörungen (Sepsis) oder Thoraxtrauma vorliegen, 4 bei jedem Patienten, bei dem eine Verletzung hirnversorgender Halsgefäße naheliegend erscheint, z. B. Schädelbasisfraktur, Unfallmechanismus mit Halswirbelsäulenschleudertrauma (mit oder ohne Halswirbelfraktur), insbesondere wenn der Patient klinisch z. B. wegen einer Intubation nicht beurteilbar ist, 4 bei Patienten mit unklarem Koma (vertebrobasilärer Verschluss).
Befunde
Extrakranielle Gefäße. Die extrakraniellen Gefäße werden am
Stenose. Stenosen erkennt man an einer Erhöhung der Blutfluss-
günstigsten sitzend vom Kopfende des auf dem Rücken liegenden Patienten aus untersucht. Zum Screening ist ein Laptop-Dopplergerät in der Regel ausreichend. Üblicherweise wird zunächst die A. carotis communis am vorderen Rand des M. sternocleidomastoideus aufgesucht, dann werden die Dopplersignale des Blutflusses kontinuierlich nach kranialwärts verfolgt und die A. carotis interna (ACI) und externa voneinander differenziert. Die supratrochleären Arterien brauchen obligat nur untersucht zu werden, wenn eine sehr hochgradige Läsion der ACI vorliegt, um eine Aussage über die intrakranielle Kollateralisierung zu erlauben. Sodann wird die A. subclavia in der Klavikulargrube aufgesucht. Mittels 4-MHz-Dopplersonde wird weiters die A. vertebralis am Abgang aus der A. subclavia und submastoidal an der Atlasschleife beschallt, während mit der Duplexsonographie die Beschallung der transforaminalen Vertebralarteriensegmente möglich ist. Wie gut sich der Vertebralarterienabgang in der Duplexsonographie darstellen lässt, hängt auch von der Sondenkonfiguration ab. Die Duplexsonographie ist v. a. dann überlegen, wenn morphologische Sonder-
geschwindigkeit und einem steileren Anstieg des systolischen Pulskurvenanteils und auch am Auftreten von Dopplerfrequenzirregularitäten (»Turbulenzen«) beim Passieren einer umschriebenen Engstelle, wobei die Zunahme der Flussgeschwindigkeit mit dem Stenosegrad korreliert. Dopplersonographisch sind Stenosen ab 60% Einengung erkennbar, duplexsonographisch auch geringgradigere, die ohne Erhöhung der maximalen Frequenzen einhergehen. Die Vorteile der Duplexsonographie liegen in der Differenzierung der Stenosemorphologie, was z. B. eine atherosklerotische Läsion von einer Gefäßdissektion unterscheiden lässt, und in der korrekten Interpretation von Flussbeschleunigungen aufgrund eines abknickenden Gefäßverlaufs (Korrektur des dopplersonographischen Winkelfehlers). Entzieht sich eine relevante Stenose aus technischen oder anatomischen Gründen der unmittelbaren Beschallbarkeit, dann lässt sie sich in der Regel auch anhand indirekter Kriterien entdecken: 4 direkt: 5 umschriebene Beschleunigung der maximalen Blutflussgeschwindigkeit,
623 48.6 · Neurosonographie
a
b
. Abb. 48.12 Akuter Verschluss der von temporal beschallten A. cerebri media. In dieser axialen Schnittebene liegt der Circulus Willisi. Man erkennt den Gefäßabbruch nach Zuschalten der Farbkodierung von Flusssignalen und im Dopplermodus am »Widerstandsprofil« (a). Vergleiche dazu 30 min später während intravenöser Thrombolyse mit r-tPA (b). Jetzt stellt sich die A. cerebri media sowohl im Farb- wie im Dopplermodus als rekanalisiert dar.
5 intra- und unmittelbar poststenotische Strömungsstörungen; 4 indirekt: 5 Zunahme der prästenostischen Pulsatilität, 5 Abnahme der poststenotischen Pulsatilität, 5 Abnahme der poststenotischen gegenüber der prästenotischen maximalen Flussgeschwindigkeit, 5 poststenotische Ablösungsturbulenzen, 5 kompensatorischer Anstieg der Flussgeschwindigkeit in anderen, zur Kollateralversorgung dienenden Halsgefäßen, 5 Umkehr der Flussrichtung in als Kollateralen dienenden Gefäßen (extrakraniell supratrochleäre Arterien, intrakraniell Circulus Willisi). Die Sensitivität und Spezifität der Sonographie bei der Aufdeckung und Graduierung von extra- und intrakraniellen Gefäßstenosen liegen bei uns jeweils deutlich über 95%. Gefäßverschluss. Schwieriger ist der therapeutisch Weichen stel-
lende Nachweis eines Gefäßverschlusses mittels Dopplersonographie. Zwar findet sich unmittelbar proximal des Verschlusses ein sog. Widerstandssignal (kurz, nur frühsystolisch, bidirektional), aber wenn distal kein Flusssignal auffindbar ist, kann das auch daran liegen, dass sich ein filiformes Restlumen mit entsprechend niedrigem poststenotischem Fluss der Auffindbarkeit entzieht (»Pseudookklusion«). Dies kann die Duplexsonographie sicherer aufdecken (. Abb. 48.12a). Andererseits kann bei weiter distal vom beschallten Gebiet liegendem Gefäßverschluss proximal ein diastolischer Flussanteil erhalten bleiben, weil zwischen Beschallungsort und Verschluss kleine Gefäße abgehen und noch durchblutet werden. Typisches Beispiel ist der Verschluss der A. basilaris mit Restfluss in den proximaler abgehenden Kleinhirnarterien, sodass das Pulsprofil in den Vertebralarterien zwar niedrigamplitudig und systolisch steiler ist, aber noch diastolische Flussanteile aufweist (. Abb. 48.13a). Bei dem Verschluss einer großen intrakraniellen Arterie erhöht die i.v.Gabe von lungengängigem Ultraschallkontrastmittel die Diagnosesicherheit. Kann die Ultraschalldiagnostik trotz Ausschöpfung ihrer Möglichkeiten (. Abb. 48.13b) eine Basilaristhrombose (z. B. als Ursache eines sonst unerklärlichen Komas) nicht sicher ausschließen, was bei kompetentem Untersucher selten und dann anatomisch bedingt
ist, so muss unbedingt eine weitere nichtinvasive oder invasive Gefäßdiagnostik (. Abb. 48.13c) angeschlossen werden. Ist eine hirnversorgende Halsarterie hochgradig stenosiert oder verschlossen, dann kommt es in der Regel zu einer kompensatorischen Flusserhöhung in einem oder mehreren anderen extrakraniellen Gefäßen, um eine intrakranielle Kollateralisierung über die supratrochleären Arterien/A. ophthalmica und/oder den Circulus Willisi zu gewährleisten, der sich transkraniell darstellen lässt. Ein typischer Fallstrick ist z. B. eine einseitig verschlossene A. carotis interna mit kontralateraler Stenose und intrakraniellem Crossfilling zur Seite des Verschlusses, was eine sehr hohe Strömungsgeschwindigkeit auf der stenotischen Seite und damit eine Überschätzung des Stenosegrades im Doppler bewirkt. Dies klärt die B-Bild-Morphologie im Duplex, ergänzt durch die Möglichkeit, das erhöhte Blutflussvolumen distal der Karotisstenose zu messen (7 Abschn. 48.6.4). Konventionelle Doppler- und Duplexsonographie lassen sich auch einsetzen zum sequenziellen Monitoring okkludierender arterieller Läsionen. Beispiele sind die Überprüfung der Rekanalisierung während i.v.-Thrombolyse (. Abb. 48.12), Auswirkung einer notwendigen Karotisokklusion (z. B. bei Glomustumor) auf die abhängige Hirnhemisphäre oder Dokumentation der initial oft rasch wechselnden Befunde bei einer Dissektion.
48.6.3
Vasospasmen
Seitdem rupturierte intrakranielle Aneurysmen (Subarachnoidalblutung) früh und auch bei Schwerstbetroffenen mittels Coils verschlossen werden, stellen die vom 3.–14. Tag eintretenden Vasospasmen den Hauptanlass zur immer noch hohen Letalität und
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Kapitel 48 · Neurodiagnostik in der Intensivmedizin
. Abb. 48.13 Akutes Koma mit unauffälligem kranialem CT und beidseits positivem Babinski-Zeichen. a Mit der konventionellen Dopplersonographie wurde sofort am Krankenbett an der extrakraniellen Atlasschleife der Vertebralarterie beidseits mit der extrakraniellen 4-MHzSonde (17+3 mm Empfangstiefe) ein Widerstandsprofil mit geringem diastolischem Restfluss dargestellt als Zeichen eines distalen sehr hochgradigen Abflusswiderstands. In der oberen Zeile dann Beschallung mit der transkraniellen 2-MHz-Sonde in einer Schalltiefe ab Nacken von 75+5 mm, wo die distale Vertebralarterie zu suchen ist; hier »perfektes« Widerstandsprofil. Damit steht die Diagnose eines Basilararterienverschlusses fest, und eine i.v.-Lysebehandlung wurde eingeleitet. b Die bereits am Arteriographietisch durchgeführte farbkodierte Duplexsonographie illustriert, dass der Basilarisverschluss an der Spitze des Gefäßes lokalisiert ist. Zur Erleichterung des Betrachters Bildkippung um 180°. Vom Nacken her (unten) Darstellung der beiden Vertebralarterien ab der Atlasschleife, die sich dann zur A. basilaris vereinigen. Dieser fehlt der Anschluss an den im vorliegenden Fall ungewöhnlich komplett vom Nacken her darstellbaren Circulus Willisi mit den seitlich abgehenden Aa. cerebri posteriores und mediae sowie weiter frontalwärts der beiden Aa. cerebri anteriores. c Die selektive Arteriographie beweist als Goldstandard den Basilarisspitzenverschluss endgültig; sie wurde hier einzig eingesetzt zur superselektiven arteriellen Thrombolyse
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a
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c
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Morbidität durch Entstehung regionaler oder globaler Ischämien des Gehirns dar. Solche sekundären Infarkte können durch Ballonangioplastie häufiger verhütet werden. Dies setzt eine dopplersonographische Früherkennung bedrohlicher Vasospasmen voraus. Gleiches gilt bei den seltenen anderen Ursachen von Vasospasmen wie z. B. Einnahme bestimmter Designerdrogen. > Transkranielles dopplersonographisches Monitoring muss jeder beherrschen, der Patienten mit akuter Subarachnoidalblutung behandelt.
Vasospasmen erkennt der Doppler als multiple längerstreckige Gefäßhauptstammstenosen, die sich von Stunde zu Stunde verändern. Eine Untersuchung pro Arbeitsschicht ist also obligat. Technisch bedingt können Spasmen in den kleinen kortikalen Gefäßen nicht erkannt werden. Die Zunahme der mittleren Blutflussgeschwindigkeit von normal 35–55 auf >200 cm/s (>80% Stenose) ist indikativ für einen drohenden Hirninfarkt. Allerdings machen pathologische Begleitumstände wie Hirnschwellung und abnormer Perfusionsdruck wie auch Winkelfehler (dieser Fehler ist im Duplex ausgeschaltet) bei unterschiedlichen Untersuchern im Schichtdienst diesen Cut-off-Messwert einerseits etwas unsicher, andererseits liegt diese Grenze so hoch, dass sie als Warnzeichen für eine Intervention meist zu spät kommt.
Eine Verbesserung der Sensitivität wurde versucht durch Einbeziehung des peripheren Gefäßwiderstands 4 Pulsatilitätsindex PI = (systolische – diastolische Flussgeschwindigkeit): mittlere Flussgeschwindigkeit oder des Lindegaard-Index 4 mittlere Flussgeschwindigkeit in der A. cerebri media – mittlere Flussgeschwindigkeit in der A. carotis interna (Letztere stark untersucherabhängig; >3,6= moderate Spasmen, >6= schwere Spasmen).
Letztlich hat sich die schlichte Dokumentation der mittleren Flussgeschwindigkeit in den großen Hirnarterien durchgesetzt, wobei die sichersten Aussagen für die A. cerebri media getroffen werden können, weil deren Beschallung am wenigsten untersucherund winkelabhängig ist. Eine mittlere Flussgeschwindigkeit dort >120 cm/s spricht für eine manifeste Stenose, >160 cm/s für einen imminenten ischämischen Insult, v. a. wenn gestützt durch eine Zunahme >50 cm/s im Zeitverlauf. Dies ist der richtige Moment, weitere Untersuchungen wie ein Parenchym-Perfusions-CT oder gleich eine Ballonangioplastie zu indizieren und dadurch einem komplizierenden Schlaganfall vorzubeugen.
48.6.4
Regionale und globale Hirnperfusion
Da die transkranielle Doppler- und Duplexsonographie nur die Flussgeschwindigkeiten und Pulskurven der wenigen großen hirneigenen Gefäße misst, ist der Wunsch nach einer direkten Darstellung der Hirngewebsperfusion eine Überforderung der Methode.
625 48.6 · Neurosonographie
Dennoch ist die Ultraschalluntersuchung auch bei dieser Fragestellung sinnvoll, denn einerseits gibt es indirekte Hinweise auf bedrohliche Veränderungen, andererseits haben alle möglicherweise als Konkurrenz angesehenen Methoden des Neuromonitorings auch ihre Grenzen. Nahinfrarot-Spektroskopie und Gewebs-pO2-Sonden messen nur lokal, und sensitive Grenzwerte sind nicht etabliert; die jugularvenöse O2-Sättigungsmessung misst nur einen globalen hemisphärischen Wert, und die Messung ist extrem artefaktbehaftet; HMPAO-SPECT erlaubt nur semiquantitative Aussagen; beim Diffusions-Perfusions-MRT fehlen eindeutige Grenzwerte; XenonCT und PET sind nicht allgemein verfügbar und/oder nicht beliebig wiederholbar. Grundsätzlich ist zur Interpretation von Ultraschallmessungen bei dieser Fragestellung zu bedenken, dass sowohl eine Erhöhung des intrakraniellen Drucks (7 Abschn. 48.6.5) als auch der pH-Wert im Blut intrakranielle Flussgeschwindigkeiten und Pulsprofile in den großen Gefäßen verändern. Ein sinkender pH-Wert (bei hypoventilatorisch steigendem paCO2) lässt kleine kortikal-leptomeningeale Gefäße dilatieren und vice versa. Diese Verbesserung der kortikalen Durchblutung lässt die Gesamtperfusion ansteigen, und die Pulskurve verändert sich durch Zunahme des diastolischen Flussanteils, sodass die mittels Doppler verlässlich messbare mittlere Flussgeschwindigkeit in den Arterienhauptstämmen zunimmt. Globale Hypoperfusion. Der Prototyp einer regionalen Hypo-
perfusion entwickelt sich im abhängigen Versorgungsgebiet einer vorgeschalteten okkludierenden Arterienläsion. Bedrohlichkeit zur Entwicklung eines »hämodynamischen« Hirninfarkts wird allgemein dann angenommen, wenn 4 die poststenotische Flussgeschwindigkeit unter den Normalbereich fällt und/oder 4 die mittlere Strömungsgeschwindigkeit Insgesamt ist die transkranielle B-Bild-Untersuchung geeignet, ohne Informationsverlust zahlreiche CT-Kontrolluntersuchungen zu ersetzen.
48.6.9
Hydrozephalus
Das supratentorielle Ventrikelsystem ist im B-Bild als echolose Struktur mit echogenen Grenzlinien nahe bzw. in der Mittellinie erkennbar. Bei ausreichenden Untersuchungsbedingungen können der 3. Ventrikel, das Vorderhorn sowie die Cella-media-Region der
627 48.6 · Neurosonographie
a . Abb. 48.16 Hydrozephalus. Deutliche Erweiterung der inneren Liquorräume. Im B-Bild (axiale Schnittführung durch das Dienzephalon) deutliche Vergrößerung der echoarmen Liquorräume (Vorderhorn der Seitenventrikel >3 cm). In der M-Mode-Aufzeichnung legt die Undulation des Septum pellucidum während einer kurzen Schüttelphase des Kopfes nahe, dass der intraventrikuläre Druck nicht zu hoch und daher nicht für die Ventrikelerweiterung verantwortlich ist
48.6.10
b . Abb. 48.15 B-Bild-sonographische Darstellung einer Stammganglienblutung und ihrer Komplikationen im Verlauf. a Etwa 2 cm im Durchmesser große akute hyperechogene Stammganglienblutung (*) ohne Mittellinienverlagerung (die mit Aufwärtspfeil versehene Doppelkontur entspricht dem 3. Ventrikel), aber mit aufgeweitetem Vorderhorn des Seitenventrikels (zwischen den Pfeilspitzen). b Wenige Stunden später erhebliche Größenzunahme der Blutung (#), Tamponade des 3. Ventrikels (++), während die Vorderhornerweiterung (zwischen den senkrechten Pfeilen) abgenommen hat, Letzteres aufgrund der angelegten Ventrikeldrainage (hyperechogene Struktur; horizontaler Pfeil)
Seitenventrikel identifiziert und vermessen werden (. Abb. 48.16). Die Messwerte des 3. Ventrikels stimmen sehr gut mit den CTWerten überein, etwas schlechter ist die Korrelation im Bereich der Seitenventrikel. Erweiterungen des 3. Ventrikels und der rostralen Anteile der Seitenventrikel sind also sonographisch sicher messbar und können daher mit geringem Aufwand und ohne Belastung für den Patienten im Verlauf beispielsweise einer eitrigen Meningitis oder einer Liquorabflussstörung im Aquädukt überwacht werden. Temporalund Okzipitalhorn der Seitenventrikel sowie der 4. Ventrikel lassen sich nicht so zuverlässig wie im CT vermessen. Bei einem Hydrocephalus internus ist die Frage entscheidend, ob er durch Druckerhöhung zustande kam oder e vacuo bei Hirnatrophie. Bei der Klärung dieser Frage hat sich die Prüfung der Undulationsfähigkeit des Septum pellucidum im M-Modus als nützlich erwiesen; sie erlischt bei intraventrikulärer Druckerhöhung.
Diagnostik und Monitoring bei embolisierenden Erkrankungen
Embolien stellen sich bei der heute üblichen Darstellung der Dopplerpulskurve durch FFT-Analyse als kleine kurze Signale innerhalb dieser Kurve dar, die sich um mindestens 3 dB vom Hintergrund abheben und akustisch ein charakteristisches kurzes Geräusch bewirken. Je häufiger Mikroembolien auftreten, desto höher ist das Risiko eines Gefäßverschlusses und Hirninfarkts, unabhängig von der Emboliequelle. Zur Detektion intrakranieller Embolien wird über 15–30 min von beidseits temporal kontinuierlich mit jeweils einer 2-MHzSonde beschallt, die mit einer Kopfhalterung fixiert werden. Da dies naturgemäß insbesondere durch Haubenwackeln instabil werden kann, gibt es verschiedene Möglichkeiten zur Abgrenzung gegenüber Artefakten. Die wahrscheinlich effektivsten sind entweder Verfolgen eines Embolus durch automatische sehr rasche Verstellung der Beschallungstiefe mit einer detektierten Embolie oder das simultane Messen an zwei Orten in demselben Gefäß (meist der A. cerebri media) mit Bestimmung der Transitlatenz. Etabliert ist das Verfahren als Monitoring bei Herzoperationen, zur Abschätzung des Hirninfarktrisikos bei Vorhofflimmern, aber auch z. B. zur Differenzierung von symptomatischen und asymptomatischen Karotisstenosen und weiteren Fragestellungen der Schlaganfalldiagnostik. Auf unserer Intensivstation setzen wir es v. a. ein bei Patienten mit dem Dilemma einer Hirnblutung und gleichzeitigem Vorhofflimmern oder Vitien, um Anhaltspunkte über die Notwendigkeit und erforderliche Intensität einer Antikoagulation zu erhalten und eine zur Embolieprophylaxe nicht notwendige, aber das Blutungsrisiko erhöhende Antikoagulation zu vermeiden.
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Kapitel 48 · Neurodiagnostik in der Intensivmedizin
48.6.11
Periphere Nervenschäden
Die Nervensonographie ist ein relativ junges B-Bild-Verfahren, das an hochfrequente (>14-MHz-) Schallköpfe gebunden ist; nur zur Beschallung in der Tiefe wird man auf 7- oder 5-MHz-Schallköpfe zurückgreifen, wie sie für die extrakranielle Duplexsonographie verwendet werden. Nach distal hin sind Nerven bis zu etwa 1 mm Durchmesser beurteilbar. Das größere Problem stellt der Verlauf dickerer Nervenstämme dar, die unter Muskelmassen verschwinden. Die Darstellung so feiner Strukturen erfordert eine hohe manuelle Geschicklichkeit, die Abgrenzung gegenüber vom Echoverhalten her sehr ähnlicher Nachbarstrukturen wie Faszien und Sehnen eine intime Kenntnis der Anatomie. Dennoch ist es möglich, z. B. den N. ischiadicus beckennah zu beurteilen oder den unteren Armplexus in der Klavikulargrube. Dies kann z. B. eingesetzt werden bei der Frage, ob eine isolierte schlaffe Armparese nach Thorakotomie durch eine lokale Blutung oder vielleicht doch durch einen Insult hervorgerufen wurde. Nervenverletzung. Eine andere naheliegende Fragestellung sind Nervenverletzungen, z. B. eine N.-radialis-Zerreißung oder Quetschung durch eingebrachtes Metall bei einer Oberarmschaftfraktur oder ein Tarsaltunnelsyndrom, wenn es um die Frage einer rasch notwendigen Explorationsoperation geht. All solche Fragestellungen wurden im Gegensatz zu chronischen Engpasssyndromen (wie z. B. Karpaltunnelsyndrom des N. medianus) bisher nur kasuistisch mitgeteilt und noch nicht systematisch untersucht, insbesondere nicht bei Schwerstkranken. Eine solche Evaluation ist ein vielversprechendes Aufgabengebiet für die Zukunft. Der naheliegende Nutzen liegt darin, Patienten explorative Operationen möglicherweise zu ersparen oder bei tief sedierten Patienten Schäden zu erkennen, die sich zu diesem Zeitpunkt klinisch nicht feststellen lassen. Dies gilt umso mehr, als elektrophysiologische Untersuchungen in diesem Stadium noch keine Denervierungsaktivität im Muskel erkennen lassen und die effektive Stimulierbarkeit von Nerven zur Leitfähigkeitsmessung oft durch Weichteilschwellungen vereitelt wird.
septiert dar. Darüber hinaus findet sich bei Zuschalten des Farbmodus eine Hypervaskularisierung der Umgebung. Kompartmentsyndrom. Der klinische Verdacht auf ein Kompartmentsyndrom ist einfach zu bestätigen: die Muskeln in der betroffenen Loge sind im Seitenvergleich deutlich volumenvermehrt (Verdrängung der Faszien) und in der Regel echoärmer aufgrund des Muskelödems; die Zuschaltung des farbkodierten Modus lässt die Gefäßkompression bzw. Mangelperfusion erkennen. Fremdkörper. Fremdkörper und Splitter entziehen sich einem akribischen Ultraschaller erst, wenn sie deutlich kleiner als 1 mm (Glas ca. 1,5 mm) sind. Andere Materialien als Holz verursachen stark hyperechogene Repetitionsechos, Glas und Metallteile sog. Kometenschweifartefakte in die Tiefe. Allen solchen Läsionen gemeinsam ist im Akutstadium ein kleiner ödematöser Hof.
48.7
Liquordiagnostik – Lumbalpunktion B. Wildemann
Der Liquor wird durch Punktion des Subarachnoidalraums zwischen dem 3. und 4. bzw. dem 4. und 5. Lendenwirbelkörper oder über eine aus therapeutischen Gründen eingeführte externe Ventrikeldrainage gewonnen. Für eine aussagekräftige Liquordiagnostik ist die gleichzeitige Entnahme einer Serum- oder Plasmaprobe unverzichtbar. ! Cave Kontraindikationen für eine Lumbalpunktion sind eine pathologisch veränderte Gerinnung (Thrombopenie IgM > IgG) Oligoklonales IgG (Typ 2 oder 3)
>3,5 mmol/I 15×10–3
Lokale IgG-Synthese ab Woche 2 ab 2. Woche; oligoklonales IgG (Typ 2)
50% der Serumglukose
Erregernachweis durch PCR AI>1,5 ab Woche 2
48
630
48
Kapitel 48 · Neurodiagnostik in der Intensivmedizin
. Tab. 48.3 Fortsetzung Diagnose
Zellzahl
Zytologie
Albuminquotient
Immunoglobuline – isoelektrische Fokussierung
Laktat/Glukose
Spezialdiagnostik
Akute Neuroborreliose
Bis mehrere 100/μl
Mononukleäre Zellen, bis 25% aktivierte Lymphozyten und Plasmazellen
Bis >2510–3
Dreiklassenreaktion (IgM > IgG > IgA); oligoklonales IgG (Typ 2 oder 3)
50% der Serumglukose
AI >1,5 4-6 Wochen nach Symptombeginn
Guillain-Barré-Polyneuroradikulitis
Normal bis maximal 30/μl
Mononukleäre Zellen
Bis 25×10–3
Keine lokale Synthese; fakultativ oligoklonales IgG in Liquor und Serum (Typ 3)
50% der Serumglukose
Meningeosis carcinomatosa/ blastomatosa
Normal bis mehrere 100/μl
Tumorzellen, Blasten
>10×10–3
Selten lokale IgModer IgA-Synthese bei Lymphomen
>3,5 mmol/I >50% der Serumglukose
Identifikation monoklonaler Zellen durch FACS-Analyse oder PCR bei Lymphomen
Multiple Sklerose
Bis 35/μl
Mononukleäre Zellen, aktivierte Lymphozyten, Plasmazellen
6 h, dann kann artefiziell blutiger Liquor leicht von einem primär blutigen Liquor unterschieden werden. Klarer Überstand nach Zentrifugation spricht für eine artefiziell blutige Liquorprobe, Xanthochromie des Überstandes für eine primäre Blutung in den Subarachnoidalraum.
48.7.3
Proteine im Liquor
Proteine und Schrankenfunktion
48
Der normale Eiweißgehalt des Liquors beträgt 200–500 mg/l. Die Quantifizierung des Gesamtproteins gibt in der Notfallsituation orientierend die Funktion der Blut-Liquor-Schrankenfunktion wieder. Letztere wird jedoch deutlich sensitiver und spezifischer durch den Liquor/Serum-Albuminquotienten (QAlb) dargestellt (7 unten).
48
Liquorentstehung. Liquor wird als Filtrat des Blutes von den Ple-
48
48 48 48 48 48 48
xus chorioidei sezerniert und in seiner Zusammensetzung zusätzlich durch die Extrazellularflüssigkeit des Hirnparenchyms beeinflusst. Die Analytik des Liquorproteinprofils benötigt das Serum als Bezugsgröße, da der überwiegende Anteil des Liquorproteins aus dem Serum stammt. Zwischen Blut und Liquor besteht ein Fließgleichgewicht, das durch die Blut-Liquor-Schranke aufrechterhalten wird. Die wichtigsten Parameter, die die Liquorkonzentration von Plasmaproteinen beeinflussen, sind die Permeabilität der Blut-Liquor-Schranke und als dynamische Größe die Liquorflussgeschwindigkeit. Die Permeabilität ist gut für fettlösliche Moleküle, gering für wasserlösliche Moleküle und nimmt mit der Molekülgröße ab. Albuminquotient. Die Funktion der Blut-Liquor-Schranke ist verlässlich charakterisierbar durch den Quotienten aus Albuminkonzentration im Liquor und Albuminkonzentration im Serum (QAlb), da Albumin als rein extrazerebral (in der Leber) synthetisiertes Pro-
tein auch unter pathologischen Umständen ausschließlich aus dem Blut in den Liquor gelangt. Der Albuminquotient als quantitatives Maß für die Blut-/Liquor-Schrankenfunktion ist altersabhängig und beträgt im mittleren Erwachsenenalter Der wichtigste Schritt zur Diagnose bei allen diesen Syndromen ist die Liquoruntersuchung (. Tab. 54.1; . Abb. 54.1) [3, 5].
54.2.1
CT innerhalb von 30 min möglich?
Ja
54 54
Nein
a
Zellzahl/μl
Überwiegender Zelltyp
Eiweiß [mg/dl]
Glukose [mg/dl]a
Normal
0–5
-
45
Bakterielle Meningitis
1000– 5000
Neutrophile
100– 500
0,2 ng/ml) sind sehr viel häufiger bei der akuten bakteriellen Meningitis als bei der viralen Meningitis zu finden, aber Sensitivität und Spezifität sind nicht ausreichend, um hier hinreichend sicher zu differenzieren. Veränderungen des Blutbilds sind häufig nicht vorhanden, diese Laboruntersuchungen sind aber sinnvoll zur Beurteilung der initialen Schwere bzw. des Verlaufs.
Klinik Das häufigste Symptom der akuten Meningitis ist ein generalisierter, über wenige Stunden bis Tage zunehmender Kopfschmerz, gefolgt oder begleitet von Somnolenz bis hin zum Koma. Fieber ist ebenfalls häufig. Als lokalisierendes und fast pathognomonisches Zeichen kann eine meningeale Reizung (Nackensteifigkeit, Meningismus) auftreten. Jedes dieser Symptome ist in großen Fallserien bei mehr als 85% der Patienten vorhanden, die klassische vollständige Trias von Kopfschmerz, Fieber und Meningismus allerdings nur in etwa 2/3 der Fälle. Mindestens eins der Symptome der Trias ist jedoch in mehreren Fallserien in jeweils allen Fällen vorhanden gewesen. Insbesondere bei zusätzlicher Somnolenz und klinischer Verschlechterung muss deshalb bei jedem dieser 3 Symptome eine hohe diagnostische Aufmerksamkeit vorhanden sein und eine bakterielle Meningitis bedacht werden. Der Meningismus als lokalisierendes Symptom kann subtil oder nicht vorhanden sein oder sich nur diskret (Kernig-, Brudzinski-Zeichen) zeigen.
Diagnostik Der wichtigste Schritt ist die Liquorpunktion mit Zytologie, Laborchemie und Erregerdiagnostik. Der typische Befund bei der bakteriellen Meningitis ist ein trüber Liquor mit hoher Zellzahl, überwiegend Granulozyten, erhöhtem Eiweiß und erniedrigter Glukose (. Tab. 54.1).
Therapie Die initiale empirische Therapie muss rasch begonnen werden und die wichtigsten vorkommenden Erreger sicher treffen. Hierzu ist bei ambulant erworbener Meningitis eine Kombination eines 3.-Generations-Cephalosporins sowie eines Aminopenicilins adäquat (. Tab. 54.3 und . Tab. 54.4). Bei der Meningokokkenmeningitis ist die Gabe eines Antibiotikums vor Krankenhausaufnahme bereits mit einer besseren Prognose verbunden. Insgesamt muss es das Ziel sein, eine Antibiotikatherapie innerhalb von 3 h nach Krankenhausaufnahme zu beginnen.
Therapie mit Glukokortikoiden Die adjuvante Therapie mit Glukokortikoiden verbessert bei Kindern und Erwachsenen die Prognose der bakteriellen Meningitis und vermindert Spätkomplikationen deutlich. Dies konnte für Pneumokokkenmeningitiden, nicht aber für Meningokokken- oder andere bakterielle Meningitiden klar gezeigt werden. Da Pneumokokken der häufigste Erreger sind, sollte eine empirische Therapie mit Dexamethason 10 mg 4-mal täglich über 4 Tage parallel zur Antibiotikatherapie begonnen werden. Bei Nachweis anderer Erreger kann diese Therapie abgebrochen werden – hier bringt die Glukokortikoidtherapie keine gesicherten Vorteile, aber den potenziellen Nachteil der rascheren Wiederherstellung der Blut-HirnSchranke mit schlechterer Penetration von Antibiotika ins ZNS [1,8].
Die Therapie eines erhöhten Hirndrucks besteht aus der Hochlagerung des Oberkörpers (30°), ggf. kann eine medikamentöse Thera-
54
686
Kapitel 54 · Infektionen des ZNS
. Tab. 54.3 Empirische antibiotische Therapie bei akuter bakterieller Meningitis
54 54
. Tab. 54.4 Spezifische antibiotische Therapie bei akuter bakterieller Meningitis
Normale Tagesdosis
Normale Tagesdosis Pneumokokkenmeningitis
54
1. Ambulant erworbene Meningitis
5 Penicillin G (nach Antibiogramm mit MHK!)
Drittgenerationscephalosporin
54 54
5 Ceftriaxon
2×2 g
alternativ (bei Allergie)
5 Cefotaxim
3×4 g
5 Ceftriaxon
2×2 g
5 Vancomycin (rel. schlechte ZNSPenetration!)
2×1g
plus Aminopenicillin
54
5 Ampicillin
54
6×2 g oder 4×3 g
plus adjuvante Therapie mit Dexamethason (über 4 Tage)
54 54
54
4×10 mg
54 54 54 54 54 54 54 54 54 54 54 54
5 Dexamethason (über 4 Tage)
5 Penicillin G
2. Nosokomial erworbene Meningitis (auch Shuntinfektion)
alternativ
5 Vancomycin (rel. schlechte ZNS-Penetration!)
5 Ceftriaxon
2×1 g
4×10 mg
6×4 Mio. IU
2×2 g
Dexamethason absetzen!
5 Meropenem oder
3×1 g
Listerienmeningitis
5 Ceftazidim (plus Metronidazol, postoperativ)
3×2 g (plus 3×500 mg)
5 Ampicillin ggf. plus
6×2 g
5 Gentamycin
1×3–5 mg/kg KG (Spiegel)
54 54
Plus
Meningokokkenmeningitis
plus
54
6×4 Mio. IU
Dexamethason absetzen!
pie (z. B. mit hyperosmolaren Lösungen) oder eine Liquorableitung bei Hydrozephalus sinnvoll sein.
Staphylokokkenmeningitis
z
Nosokomiale Meningitis und liegender ventrikuloperitonealer Shunt Nosokomiale Infektionen kommen v. a. nach neurochirurgischen Eingriffen, bei nosokomialen Bakteriämien (z. B. Katheterinfektionen u. a.) und bei einem liegenden ventrikuloperitonealen Liquorshunt vor und haben deshalb ein gänzlich anderes Erregerspektrum. Aus diesem Grund muss die initiale empirische Therapie besonders gut staphylokokkenwirksam sein und auch Pseudomonas aeruginosa miteinbeziehen.
5 Flucloxacillin oder
6×2 g
5 Cefazolin
3×2 g
5 Fosfomycin oder
3×5 g
z Pneumokokkenmeningitis Die Pneumokokkenmeningitis ist die häufigste Meningitis in allen Altersklassen. In aller Regel ist die Meningitis Folge einer bakteriämischen Infektion. Seltener ist eine lokale Invasion nach Otitis, Sinusitis oder Mastoiditis. Ein solcher Herd muss durch eine Computertomographie oder andere Bildgebung ausgeschlossen werden. Häufige Spätkomplikationen der Pneumokokkenmeningitis sind v. a. Hörschäden, die bei Kindern auch zu Entwicklungsstörungen führen können. Studien bei Kindern und Erwachsenen haben klar gezeigt, dass eine adjuvante Steroidtherapie die Prognose verbessert und Spätkomplikationen reduziert. Die optimale antibiotische Therapie ist in aller Regel Penicillin G (. Tab. 54.4). In Deutschland sind penicillinresistente Pneumokokken extrem selten, deshalb sollte bei entsprechendem Nachweis und MHK-Bestimmung auf Penicillin G umgestellt werden. Penicillinresistente Pneumokokken kommen häufiger z. B. in Spanien, Ungarn, Island und Großbritannien vor. Die Dauer der Antibiotikatherapie beträgt in der Regel 14 Tage.
5 Rifampicin
1×600 mg
1. Methicillin-/Oxacillin-sensibel (MSSA)
alternativ: 5 Vancomycin
2×1 g
5 Linezolid
3×600 mg
plus ggf.
Dexamethason absetzen! 2. Methicillin-/Oxacillin-resistent (MRSA) 5 Vancomycin
2×1 g
5 Linezolid
3×600 mg
plus ggf. 5 Fosfomycin oder
3×5 g
5 Rifampicin
1×600 mg
Dexamethason absetzen!
z Meningokokkenmeningitis Meningokokkenmeningitiden treten nahezu ausschließlich als Komplikationen bakteriämischer Infektionen auf. Die Therapie der Wahl ist hier hochdosiertes Penicillin G, resistente Erreger sind bis-
687 54.2 · Meningitis, Meningoenzephalitis und Enzephalitis
her nur in Einzelfällen außerhalb von Europa beschrieben worden. Die Antibiotikatherapie soll über 7–10 Tage durchgeführt werden. Eine Wirksamkeit einer adjuvanten Steroidtherapie ist hier nicht vorhanden, deshalb sollte eine begonnene Dexamethasontherapie bei Nachweis von Meningokokken beendet werden [5]. Bei Vorhandensein einer Sepsis mit Gewebsthrombosierungen (Purpura fulminans) ist eine besonders deutliche Erniedrigung von Protein C im Serum vorhanden. Aus pathophysiologischer Sicht sollte der Einsatz von aktiviertem Protein C (Drotrecogin α) bedacht werden. Es sind allerdings nur Daten für kleine Patientenzahlen aus den randomisierten Studien für die Sicherheit und Wirksamkeit einer solchen Therapie vorhanden [8]. > Zusätzlich zur Therapie des Patienten muss eine Antibiotikaprophylaxe bei engen Kontaktpersonen durchgeführt werden.
Je nach Serotyp (bei A, C, W135 oder Y) kann eine Impfung angeboten werden.
. Tab. 54.5 Virale Meningitis/Enzephalitis und Differenzialdiagnosen Virusmeningitis (aseptische Meningitis) Coxsackieviren Echoviren Adenoviren HSV-2 VZV Influenza FSME
Parainfluenza HIV Masern Röteln Polioviren Dengue West-Nil-Fieber
Differenzialdiagnosen Infektiös Tuberkulose Borrelia Burgdorferi Treponema pallidum Rickettsia spp.
Nichtinfektiös SLE Sarkoidose M. Behçet Mollaret-Meningitis
Enzephalitis
z Listerienmeningoenzephalitis Auch Listerienmeningitiden entstehen durch Besiedlung der Meningen aus dem Blutstrom. Patienten mit Listerienmeningitis sind öfter Patienten mit Komorbiditäten (Diabetes mellitus). Häufig besteht eine parallele Bakteriämie. Die Therapie muss hier hochdosiert mit Ampicillin erfolgen; v. a. zu Beginn und bei gleichzeitiger Bakteriämie sollte eine Kombinationstherapie mit einem Aminoglykosid erwogen werden (. Tab. 54.4). Zum Therapiemonitoring sollten hier regelmäßige Spiegelbestimmungen durchgeführt werden. Die Therapiedauer beträgt meistens ca. 21 Tage. z
Besonderheiten bei Immundefekt: Tuberkulosemeningitis und Kryptokokkenmeningitis Insbesondere bei gleichzeitigem Verdacht auf einen T-zellulären Immundefekt (HIV-Infektion, Transplantation, medizinisch indizierte Immunsuppression) muss auch an atypische Erreger gedacht werden, z. B. Mycobacterium tuberculosis und Cryptococcus neoformans. M. tuberculosis kann verschiedene Liquorbefunde verursachen, von einer granulozytären bis zu einer fast rein lymphozytären Meningitis. Häufig ist hier eine überproportionale Erhöhung des Eiweißes und Erniedrigung der Glukose vorhanden. Die Färbung (Ziehl-Neelsen oder Auramin) ist sehr wenig sensitiv, die PCR ist hier nur ähnlich sensitiv wie der mikroskopische Nachweis. Ein negatives PCR-Ergebnis kann deshalb nicht zum Ausschluss einer tuberkulösen Meningitis benutzt werden. Cryptococcus neoformans tritt als Meningitiserreger v. a. bei HIV-infizierten Patienten auf. Typisch ist ein diskrepanter Befund zwischen schwersten Kopfschmerzen, relativ niedriger Liquorzellzahl und deutlich erhöhtem Liquordruck. Der spezifische Nachweis gelingt mit der Tuschefärbung, kulturell oder dem Nachweis des Antigens im Liquor.
54.2.2
Virale Meningitis
Virale Meningitiden sind deutlich häufiger als bakterielle, allerdings sind Patienten mit einer viralen Meningitis meist sehr viel weniger akut und schwer krank – die Allgemeinsymptome sind weniger schwer, der Kopfschmerz und Meningismus weniger ausgeprägt und der Verlauf sehr viel langsamer und weniger dramatisch. Deshalb ist dieses Syndrom in der Intensivmedizin deutlich seltener. Der typische Liquorbefund der viralen Meningitis ist ein klarer Liquor mit einer Zellzahl bis ca. 1000, einer mäßigen Eiweißerhöhung und normaler Glukose (. Tab. 54.1). Als Differenzialdiagnose kom-
HSV VZV Adenoviren FSME Enterovirus 71 HIV Influenza Röteln
EBV CMV Masern Japanische Virusenzephalitis LCMV West-Nil-Fieber JC-Virus Rabies (Tollwut)
Differenzialdiagnosen Intrazerebrale Durchblutungsstörung oder Blutung Intrakranielle Tumoren Akute disseminierte Enzephalomyelitis (ADEM)
Hypoglykämie Methanolvergiftung Glykolvergiftung Andere toxische Ursachen Migränesyndrome
men u. a. die Borreliose, eine Lues, die Tuberkulose und nichtinfektiöse Erkrankungen in Frage (. Tab. 54.5). Eine empirische Therapie sowohl wie eine spezifische Therapie ist bei Viren als Erregern nicht mit einem klinischen Vorteil verbunden. Dies gilt auch für die Herpesvirusmeningitiden (HSV-1, HSV-2, VZV und EBV), für die eine wirksame antivirale Therapie existiert. Aufgrund der meist blanderen Klinik kann auch die spezifische Diagnostik für die möglichen Differenzialdiagnosen (Borrelien- und Luesserologie u. a.) meist abgewartet werden und eine supportive Therapie mit Schmerzmitteln bzw. Antipyretika durchgeführt werden. Erkrankungen aus der Differenzialdiagnose (Neuroborreliose, Neurosyphilis, Leptospirose und Tuberkulose; . Tab. 54.5) bedürfen der spezifischen und – aufgrund der Blut-Liquor-Schranke – besonders hochdosierten antiinfektiven Therapie.
54.2.3
Enzephalitis
Epidemiologie und Pathogenese Enzephalitiden treten etwas mit einer jährlichen Häufigkeit von 3–7/100.000 auf. Etwa 40% der Fälle bleiben ohne spezifische Diagnose, in 40% kann ein Erreger gefunden werden, und ca. 20% sind postinfektiöse Erkrankungen (ADEM, 7 unten) [2]. Eine virale Enzephalitis kann bei Erstinfektion mit dem betreffenden Virus bzw. v. a. bei latenten Infektionen auch durch Reaktivierung im ZNS entstehen. Herpesviren können so retrograd aus dem Manifesta-
54
688
54 54 54
Kapitel 54 · Infektionen des ZNS
tions- bzw. Latenzort ins ZNS eindringen. In den meisten anderen Fällen erfolgt die Infektion des ZNS durch eine virämische Phase. Meist ist das Parenchym diffus oder multifokal befallen. Das Erregerspektrum ist breit (. Tab. 54.5), wichtige Hinweise auf die Diagnose kann v. a. die Expositionsanamnese (Reise, Tierkontakt etc.) geben.
Klinik
54 54 54
Bei der Enzephalitis sind Kopfschmerz, Bewusstseinsstörungen, Persönlichkeitsveränderungen, fokale neurologische Ausfälle und epileptische Anfälle die wichtigsten Symptome. Daneben können auch meningitische Symptome auftreten, Photophobie, Fieber und Abgeschlagenheit.
Diagnostik
54
Auch hier gilt, dass die Liquordiagnostik der wichtigste Schritt zur Diagnose ist (. Tab. 54.1, . Abb. 54.1). Das typische Liquorbild der Virusenzephalitis weist eher eine geringe bis mäßige Pleozytose, eine Eiweißerhöhung und keine Erniedrigung der Glukose auf. Der Nachweis von Erythrozyten ist nicht pathognomonisch für Herpesviren, obwohl diese häufig auch hämorrhagische Nekrosen erzeugen. Der Erregernachweis kann durch PCR oder Viruskultur erfolgen. Blutuntersuchungen zeigen hier häufig keine Auffälligkeiten, bei einigen Erregern findet sich eine Leukopenie im Differenzialblutbild. Diese Veränderungen sind jedoch nicht pathognomonisch. Als Bildgebung sollte eine MRT des Gehirns erfolgen, parenchymatöse Läsionen sind hier meist besser zu differenzieren als im CT. Falls keine MRT zur Verfügung steht, ist die beste Alternative ein CCT mit Kontrastmittel.
54
Therapie
54 54 54 54 54
54 54 54 54 54 54 54 54 54 54 54 54
Eine spezifische Therapie ist nur für wenige Erreger vorhanden (HSV, VZV, Influenza). Da besonders bei der HSV-induzierten Enzephalitis eine rasche und adäquate Therapie die Prognose verbessert, sollte Acyclovir als empirische Therapie beim Verdacht auf virale Enzephalitis begonnen werden. Dies kann durchaus vor der Liquorpunktion geschehen, da die PCR-Diagnostik hierdurch über viele Stunden nicht beeinflusst wird. Bei Nachweis von Influenzavirus kann ein Neuraminidaseinhibitor angewandt werden (Oseltamivir, Zanamivir); Daten zur Wirksamkeit sind aus Studien nicht vorhanden. z Herpesvirusenzephalitis Die Herpesvirusenzephalitis tritt meist ohne vorher klinisch apparente Reaktivierung auf. In der Bildgebung finden sich v. a. fokale Veränderungen im Frontal- bzw. Temporallappen, manchmal mit Einblutung. Die Prognose der unbehandelten HSV-Enzephalitis ist mit einer hohen Mortalität und einer hohen Rate an Spätkomplikationen schlecht. Eine rechtzeitige antivirale Therapie kann die Überlebensrate deutlich verbessern und die Komplikationen reduzieren [4]. Die Diagnose wird sensitiv und spezifisch durch Nachweis der HSV-DNA im Liquor mittels PCR gestellt. > Bei klinischem Verdacht auf eine HSV-Enzephalitis muss rasch (vor Vorliegen des PCR-Ergebnisses oder der Viruskultur) eine Therapie mit intravenösem Acyclovir begonnen werden. Auf eine adäquate Dosierung muss geachtet werden (normale Tagesdosis 3×10 mg/kg KG i.v.), diese ist für HSV wie VZV (7 unten) ausreichend.
z Varizella-zoster-Enzephalitis Virus Eine Enzephalitis mit Varizella zoster tritt relativ häufig bei Kindern oder Jugendlichen nach Erstinfektion auf (ca. 1:400) und verursacht meist zerebelläre Symptome. Die Prognose ist sehr gut, nahezu alle Patienten erholen sich vollständig. Anders ist die Prognose der VZV-Enzephalitis bei immunkompromittierten Patienten, die klinisch, radiologisch und im Verlauf der HSV-Enzephalitis ähnelt. Auch hier kann die Enzephalitis einer klinisch apparenten oder inapparenten Reaktivierung folgen. Deshalb sollte auch der Nachweis von VZV aus dem Liquor mittels PCR erfolgen. Die Therapie sollte in Analogie zur HSV-Enzephalitis mit Acyclovir (3×750 mg i.v,) erfolgen. Daten aus Studien liegen hierzu nicht vor, da die VZV-Enzephalitis deutlich seltener auftritt als die HSVEnzephalitis. z Enzephalitiden durch andere Herpesviren Eine EBV-Infektion verursacht selten eine Enzephalitis, nahezu ausschließlich im Rahmen der Erstinfektion. Aufgrund der nahezu parallel ablaufenden Mononukleose ist die Diagnose meist bereits klinisch vermutet und kann durch die PCR aus dem Liquor bestätigt werden. CMV und HHV-6 verursachen selten schwere Enzephalitiserkrankungen bei Patienten mit schwerstem zellulärem Immundefekt, z. B. bei weit fortgeschrittener HIV-Infektion oder nach allogener Stammzelltransplantation. Bei diesen Patienten sollte deshalb beim entsprechenden Verdacht eine PCR-Diagnostik erfolgen. Eine antivirale Therapie sollte mit Ganciclovir (2×5 mg/kg KG/Tag) eingeleitet werden.
Differenzialdiagnose: Akute disseminierte Enzephalomyelitis (ADEM) oder postinfektiöse Enzephalopathie Die postinfektiöse akute disseminierte Enzephalomyelitis ist eine seltene Erkrankung und tritt im Anschluss an virale Infektionen oder auch Impfungen auf. Hier ist der Pathomechanismus die Entwicklung einer Vaskulopathie, die klinisch schwer von einer infektiösen Enzephalitis oder einem Schub einer multiplen Sklerose unterschieden werden kann. Radiologisch zeigen sich Entmarkungsherde in der weißen Substanz, die Erregerdiagnostik ist negativ. Auch pathologisch-anatomisch zeigt sich im Gegensatz zur viralen Enzephalitis hier keine Infektion der Neurone. Bei Kindern ist die Prognose dieser Erkrankung gut, eine Ausnahme ist die besonders schwere Form der akuten hämorrhagischen Leukenzephalopathie [6].
z Besonderheiten bei Immundefekt Eine besondere Form der viralen Enzephalitis wird durch das Papova-Virus/JC-Virus verursacht. Hier kommt es zu rasch progredienten Persönlichkeitsveränderungen, fokalen neurologischen Zeichen und Bewusstseinsstörungen. Nahezu pathognomonisch sind die entsprechenden Veränderungen im NMR (Kernspinresonanz-Spektroskopie) des Gehirns, die bei Liquorpunktion mittels der spezifischen JC-Virus-PCR bestätigt werden sollten. Diese Erkrankung tritt auf bei fortgeschrittener HIV-Infektion, aber auch nach der Gabe von Biologika (z. B. Natazulimab). Die Therapie besteht bei HIV-infizierten Patienten in der antiretroviralen Therapie, nach der Gabe von Biologika ggf. durch Immunadsorption der Biologika. Cidofovir ist in vitro wirksam, weitgehende klinische Erfahrungen liegen zur Therapie hier nicht vor. CMV und HHV-6 kommen ebenfalls als Erreger einer Virusenzephalitis bei Patienten mit schwerem zellulärem Immundefekt in Frage.
689 54.3 · Fokale intrakranielle Infektionen
54.3
Fokale intrakranielle Infektionen
54.3.1
Hirnabszesse
Pathogenese und Epidemiologie Hirnabszesse treten durch lokale Infektionen (Sinusitis, Mastoiditis) oder durch bakteriämische Streuung auf. Herdinfektionen sind hier häufig Sinusitiden, Otitiden und Mastoiditiden, Abszesse im Zahnwurzelbereich oder Endokarditiden. Das Erregerspektrum umfasst Streptokokken, Anaerobier, S. aureus, Enterobakterien, Candida, Aspergillen und hängt im Wesentlichen vom Infektfokus und den Prädispositionen des Patienten (z. B. Neutropenie mit gramnegativer Bakteriämie oder disseminierter Aspergillose) ab.
Klinik Typischerweise machen sich intrakranielle Abszesse durch fokale neurologische Zeichen bemerkbar. Kopfschmerzen, Übelkeit und Erbrechen sowie Fieber und andere Allgemeinsymptome sind häufig, auch ein Meningismus kann vorhanden sein
Diagnostik Der wichtigste Schritt ist die Bildgebung (CCT mit Kontrastmittel). Die typische Präsentation ist hierbei eine ringförmige Läsion, oft multipel mit Kontrastmittelanreicherung und häufig einem perifokalen Ödem. Eine Erregerdiagnostik kann durch Punktion (stereotaktisch) erfolgen. Die Erregerdiagnostik ist für die Planung der Therapie (Art und Dauer) relevant und sollte, falls der Erreger nicht anderweitig, z. B. in Blutkulturen, isoliert ist, immer vorgenommen werden.
. Tab. 54.6 Antibiotische Therapie von Hirnabszessen, subduralem Empyem und infizierter Thrombophlebitis Klinische Situation
Substanzen
Normaldosierung
Empirische Therapie
Ceftriaxon plus
2×2 g
Vancomycin plus
2×1 g
Metronidazol
3×500 mg
Ceftriaxon plus
2×2 g
Metronidazol
3×500 mg
Penicillin G plus
6×4 Mio. IU
Metronidazol
2×500 mg
Vancomycin
2×1 g
Ceftriaxon
2×2 g
Vancomycin
2×1 g
Gentamycin
(3–) 5 mg/kg KG (nach Spiegel)
Penicillin plus
6×4 Mio. IU
Metronidazol plus
3×500 mg
Sulfonamid
Nach Substanz
Gleichzeitige Otitis oder Sinusitis
Zahn- oder Kieferabszess
Penetrierendes Trauma oder postoperativ
Bakterielle Endokarditis
Lungenabszess, Empyem, infizierte Bronchiektasien
Therapie Bei Läsionen >2,5 cm soll, falls klinisch möglich, eine Aspiration mit Ableitung bzw. eine Exzision erfolgen. Eine empirische Therapie des Abszesses sollte begonnen werden (. Tab. 54.6). Bei Hirndruckbzw. fokalen neurologischen Zeichen und perifokalem Ödem sollte eine supportive Therapie mit Steroiden erfolgen. z Besonderheiten bei Immundefekt Bei schwer (2 Wochen) neutropenischen Patienten steigt das Risiko von invasiven Pilzinfektionen rasch an. Hier sind Candidämien und invasive Aspergillosen zunehmend häufig, die sich auch als Hirnabszesse manifestieren können. Candidämien können durch die mangelnde Sensitivität der Blutkultur für diese Erreger unerkannt bleiben, auch die Diagnose von invasiven Aspergillosen kann schwierig sein. Bei Patienten mit schwerem T-zellulären Immundefekt (Transplantation, HIV-Infektion) kann eine zerebrale Toxoplasmose radiologisch nicht von multiplen Hirnabszessen unterschieden werden. Hier ist bei ansonsten fehlenden Hinweisen auf einen Fokus für Hirnabszesse ein Therapieversuch mit einer antiparasitären Therapie vor etwaiger Hirnbiopsie oder Abszessableitung indiziert.
54.3.2
Subdurale Empyeme und infizierte Sinusvenenthrombosen
Pathogenese und Epidemiologie Bei Zugang von Erregern in den Subduralraum (z. B. postoperativ, durch kranielle Osteomyelitis oder nach Besiedlung der Dura) kann es zum subduralen Empyem kommen. Infizierte Thrombosen können ebenso durch fokale Infektionen, aber auch sekundär bei anderen intrakraniellen Infektionen (Meningitis, Hirnabszess) auftreten. Beide Syndrome machen zusammen etwa 15–20% aller
intrakraniellen fokalen Infektionen aus. Die häufigsten Erreger sind Staphylokokken und Streptokokken.
Klinik Beim subduralen Empyem sind meistens Kopfschmerzen und Übelkeit vorhanden, Fieber nur in etwa 50% der Fälle. Bewusstseinstörungen, fokale neurologische Anzeichen und Anfälle sind häufig. Die Bewusstseinsstörung kann rasch progredient bis zum Koma sein. Die infizierte Venenthrombose kann abhängig von der Lokalisation relativ blande bis akut (z. B. Sinus-cavernosus-Thrombophlebitis) verlaufen. Bei dieser häufigen Lokalisation treten aufgrund der Lokalisation und Nachbarschaft zu den Hirnnerven v. a. Kopfschmerzen, periorbitale Schwellungen und Doppelbildersehen auf. Fieber ist hier bei der Mehrzahl der Patienten vorhanden.
Diagnostik Die wichtigste Maßnahme zur Diagnose eines subduralen Empyems ist die rasche Bildgebung (CCT oder NMR mit Kontrastmittel und ggf. spezifischen Parametern). Eine Lumbalpunktion ist weniger wichtig (7 »Therapie«) und häufig durch die bestehenden Masseneffekte kontraindiziert. Blutkulturen sollten angelegt werden. Auch für die Diagnose der infizierten Sinusvenenthrombose sind Schnittbildverfahren in aller Regel notwendig, Kontrastmittel erleichtern die Gefäßdarstellung und -beurteilung.
Therapie Die Therapie wird empirisch rasch begonnen (. Tab. 54.6). Die Ableitung des Empyems wird in der Regel durch neurochirurgische Drainage (z. B. per Bohrloch) vorgenommen. Bei infizierten Ven-
54
690
54 54 54 54 54
Kapitel 54 · Infektionen des ZNS
enthrombosen muss ein operativer Eingriff je nach Lage und klinischer Situation erwogen werden. Die empirische antibiotische Therapie entspricht der bei Hirnabszessen (. Tab. 54.6). Die Therapie muss auch hier für mindestens 3–4 Wochen durchgeführt werden; falls ein operativer Eingriff bzw. Entlastung nicht stattfindet über einen deutlich längeren Zeitraum. Eine adjuvante Therapie bei Hirndruck wird in Analogie zur bakteriellen Meningitis mit Hochlagerung des Oberkörpers und ggf. hyperosmolaren Lösungen behandelt, bei perifokalem Ödem kann eine Steroidtherapie sinnvoll sein. Die gleichen Schritte gelten in der Therapie der infizierten Sinusvenenthrombose. Aufgrund des Ausgangs von Infektionen im Gesichtsbereich muss hier ggf. eine operative Sanierung erfolgen.
54 54 54 54
Literatur 1 2 3
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4
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5 6
54 54 54 54 54 54 54 54 54 54 54 54 54 54
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691
Querschnittlähmung: Akutbehandlung und Rehabilitation M. Baumberger, P. Felleiter, F. Michel, H.G. Koch
55.1
Grundlagen – 692
55.1.1 55.1.2
Definition – 692 Statistik – 692
55.2
Pathophysiologie und Klinik – 692
55.2.1 55.2.2 55.2.3
Neurologische Ausfälle – 692 Ausfall des autonomen Nervensystems (»autonomic failure«) – 692 Störungen des Atmungssystems – 693
55.3
Diagnostik – 694
55.3.1 55.3.2 55.3.3
Neurostatus – 694 Begleitverletzungen – 696 Bildgebende Diagnostik – 696
55.4
Notfallmanagement – 696
55.4.1 55.4.2
Präklinik – 696 Intensivstation – 696
55.5
Therapie – 697
55.5.1 55.5.2
Operative und konservative Maßnahmen – 697 Pharmakotherapie – 697
55.6
Frührehabilitation – 697
55.6.1 55.6.2 55.6.3
Nahrungsaufbau und Darmrehabilitation – 697 Blasenrehabilitation – 697 Mobilisation – 698
55.7
Prognose – 698 Literatur – 698 Weiterführende Websites – 698 Liste der Querschnittzentren im deutschsprachigen Raum – 699
H. Burchardi et al. (Hrsg.), Die Intensivmedizin, DOI 10.1007/978-3-642-16929-8_5, 5 ,© Springer Medizin Verlag Berlin Heidelberg 2011,
55
692
55 55 55 55 55 55 55 55 55 55
55.1
Grundlagen
55.1.1
Definition
Eine Querschnittlähmung entsteht durch akute oder chronische Schädigung des Rückenmarks (nach Unfall, durch Krankheit) oder als angeborene Missbildung. Die Unterbrechung der darin verlaufenden motorischen, sensiblen und vegetativen Bahnen führt zur Lähmung der Muskulatur unterhalb des Verletzungsniveaus, zum Ausfall der Sensibilität (Schmerz, Temperatur, Tast- und Lagesinn) und zu Störungen der vegetativen Funktionen. Die Reflexe fehlen im akuten Stadium, erscheinen aber nach Abklingen des spinalen Schocks in gesteigerter Form. Nach Höhe der Affektion unterscheidet man 4 Tetraplegie, durch Läsion des Halsmarks (C0–T1), bei der alle 4 Extremitäten betroffen sind. 4 Paraplegie, durch Läsion im Bereich T2–S5 mit Lähmung des Rumpfes und beider Beine. Sind nur Teile des Rückenmarks betroffen, können typische Querschnittsyndrome unterschieden werden. Häufig sind: 4 »central cord syndrome«, 4 »anterior cord syndrome«, 4 Brown-Séquard-Syndrom und dessen Mischformen, 4 Conus-Cauda-Syndrom bei einem Schaden unterhalb S2.
55 55.1.2
55
Kapitel 55 · Querschnittlähmung: Akutbehandlung und Rehabilitation
Statistik
55
Die Inzidenz der Querschnittlähmungen in Deutschland beträgt 25/1 Mio. Einwohner und in der Schweiz 27/1 Mio. Einwohner. Traumatische Querschnittlähmungen entstehen mehrheitlich (>60%) bei Verkehrsunfällen und bei Sportunfällen, am häufigsten sind 18- bis 25-jährige Personen betroffen. Rund 60% sind Paraplegiker und 40% Tetraplegiker. 2/3 der traumatischen Querschnittgelähmten sind Männer. Bei nichttraumatischen Querschnittlähmungen ist die Geschlechtsverteilung ausgeglichen.
55
55.2
Pathophysiologie und Klinik
55
55.2.1
Neurologische Ausfälle
55
55
Ein Trauma der Wirbelsäule verursacht in 7,5% der Fälle ein spinales Trauma. Die neurologischen Ausfälle sind durch direkte mechanische Einwirkung auf das Rückenmark (Distorsion oder Kompression durch Fraktur, Tumor, Metastase, Hämatom etc.) oder bei nichttraumatischer Ursache durch Beeinträchtigung der Durchblutung, Entzündungen jeglicher Art, toxisch-allergische Reaktionen oder Bestrahlung des Rückenmarks verursacht. Es kann zu Ödembildung und Blutungen peri- und intraspinal kommen, die ihrerseits den Schaden nach kranial und kaudal ausweiten.
55
55.2.2
55 55
55 55
55 55 55
Ausfall des autonomen Nervensystems (»autonomic failure«)
Die spezifischen querschnittbedingten kardiovaskulären Komplikationen sind Folge des Ausfalls autonomer Funktionen [16]. Im Gegensatz zum parasympathischen Nervensystem (Hirnnerven III, VII, IX und X und Nervenwurzeln S2–S4) läuft die sympathische Innervation über die spinalen Segmente T1‒L2. Die akute traumatische Querschnittläsion führt somit durch den Ausfall der sympathi-
schen Innervation zu einem Überwiegen des Parasympathikus. Die klassische Trias des neurogenen Schocks beinhaltet die Hypotonie zusammen mit einer Bradykardie und Hypothermie.
Hypotonie und Hypertonie Posttraumatisch kann in den ersten Sekunden bis Minuten der Bludruck noch durch die Aktivierung der Vasopressoren der Nebennierenrinde aufrecht erhalten werden. In der Folge kommt es zur Hypotonie durch den Ausfall des sympathischen Nervensystems. Pathophysiologisch führen die akute Abnahme des peripheren Gefäßwiderstandes und das venöse Pooling zu einer Abnahme der kardialen Vorlast. Die Hypotonie ist am ausgeprägtesten in der Phase des spinalen Schocks, welcher Tage bis Wochen dauert.
Orthostatische Hypotonie Sie tritt bei Läsionen oberhalb T6 häufig auf und stellt insbesondere bei der ersten Mobilisation des Patienten ein Problem dar. Die Symptome bessern sich meist während der Erstrehabilitation aufgrund lokaler spinaler Reflexe und Spastizität sowie durch adaptive zerebrovaskuläre Mechanismen.
Bradykardie Bradyarrhythmien und Sinusbradykardien treten infolge des Ausfalls der sympathischen Versorgung von T1–T4 bei allen tetraplegischen Patienten im Akutstadium auf. Ein initialer Sinusstillstand ist selten. Die Bradykardie bessert sich meist nach der Phase des spinalen Schocks. Vorsicht ist jedoch geboten bei Manipulationen am Patienten, wie beispielsweise bei trachealem Absaugen, Intubation oder Bronchoskopie. Ein reflektorischer Sinusstillstand kann als Folge der vagalen Stimulation auftreten.
Fehlende Thermoregulation Bei Läsionen oberhalb T6 ist die Temperaturregulation relevant gestört. In heißer Umgebung kann der Patient nur an den noch innervierten Körperpartien schwitzen. Die offene periphere Blutstrombahn führt bereits bei Zimmertemperatur zur Auskühlung, und eine Steigerung der Körpertemperatur durch Muskelzittern ist aufgrund der Lähmung nicht möglich.
Neurogenes Lungenödem Mit einer Permeabilitätsstörung der pulmonalen Zirkulation kann sich eine weitere potenziell lebensbedrohende Komplikation einer hohen Rückenmarkläsion klinisch manifestieren: das neurogene Lungenödem. Es ist die direkte Folge einer unkontrollierten massiven Freisetzung von Katecholaminen unterhalb der Läsion (»catecholamine surge«), die durch das akute Rückenmarktrauma ausgelöst wird.
Endokrinologie und Metabolismus Als Folge der vegetativen Lähmung ergeben sich bei einem Querschnittgelähmten spezielle Probleme, die Ausdruck einer unvorhersehbaren und unorganisierten Aktivität des Sympathikus sind [5]. Im Besonderen sind dies ein gestörter Glukose-, Lipid- und Kalziummetabolismus, ein Hypothyreoidismus (»low T3 syndrome«), Hyperprolaktinämie, Verlust des ADH-Tagesrhythmus, gestörte adrenokortikale Stressreaktion und Hypotestosteronämie. Bei querschnittgelähmten Frauen tritt eine transiente Amenorrhö (Dauer 2‒18 Monate, Durchschnitt 8 Monate) als Folge eines hypothalamischen hypophysären Hypogonadismus auf.
693 55.2 · Pathophysiologie und Klinik
. Abb. 55.1 Pathophysiologie der autonomen Dysregulation. (Nach [6])
Veränderungen der Atmung beim Querschnittgelähmten
Autonome Dysregulation Nach Abklingen des spinalen Schocks kann es bei Läsionshöhe T6 und höher als Ausdruck des chronischen Stadiums eines autonomen Ausfalls zur autonomen Dysregulation (Dysreflexie) mit gefährlicher, unkontrollierter Hypertonie kommen (. Abb. 55.1). Der dabei beobachtete massive Blutdruckanstieg stellt eine lebensbedrohliche Komplikation dar, die umgehend behoben werden muss. Falls die Ursache (in 95% eine überfüllte Blase) nicht umgehend gefunden werden kann, eignen sich Nitrate zur Senkung der Vorlast und vorübergehender Kontrolle der Hypertonie.
Totale Lungenkapazität
IRV
Vitalkapazität AZV Atemzugsvolumen ERV
ERV
Funktionelle Residualkapazität RV Residualvolumen
55.2.3
Störungen des Atmungssystems
Querschnittläsionen verursachen in Abhängigkeit von der Läsionshöhe eine Lähmung der inspiratorischen und exspiratorischen Muskulatur. Die fehlende Kraft der inspiratorischen Muskulatur führt zu einer Abnahme der inspiratorischen Kapazität (AZV+IRV) und somit zu einer reduzierten totalen Lungenkapazität. Folge davon kann eine Hypoventilation sein. Die reduzierte Kraft der exspiratorischen Muskulatur führt zu einer Abnahme des exspiratorischen Reservevolumens (ERV). Bei nur geringer Abnahme der funktionellen Residualkapazität (entspricht der Atemruhelage) beobachtet man einer Erhöhung des Residualvolumens. Folge davon ist ein schwacher Hustenstoß und damit ein vermindertes Vermögen, die Luftwege von Sekret freizuhalten (. Abb. 55.2). Querschnittläsionen unterhalb L1 beeinträchtigen die Atempumpe kaum. Läsionen von T5‒T12 führen durch die Lähmung der abdominalen Muskulatur und der Interkostalmuskulatur zur Beeinträchtigung von forcierter Ausatmung und Hustenstoß [4]. Bei Läsionen von T1–T5 nimmt die Schwächung der Interkostalmuskulatur progressiv zu. Dadurch wird der Hustenstoß und damit die Möglichkeit, Sekret abzuhusten, entscheidend beeinträchtigt
Normalperson
Verlauf über Jahre bei Tetraplegie
. Abb. 55.2 Veränderungen der Atmung beim Querschnittgelähmten
[3]. Bei Läsionen oberhalb C4–C8 erfolgt die Exspiration nur passiv. Bei Läsionen C4 und höher kommt es zum Ausfall der Zwerchfellatmung. Für eine suffiziente Inspiration ist mit zunehmender Lähmungshöhe die zervikale Atemhilfsmuskulatur verantwortlich. > Patienten mit Läsionen C2 oder höher bleiben in der Regel abhängig von einer mechanischen Ventilation, während bis zu 80% der Patienten mit einer Läsion C3 und C4 erfolgreich von der initialen mechanischen Ventilation entwöhnt werden können.
In Einzelfällen kann zu einem späteren Zeitpunkt die Implantation eines Zwerchfellstimulators erwogen werden [11].
55
694
55 55 55
Kapitel 55 · Querschnittlähmung: Akutbehandlung und Rehabilitation
Hypersekretion Das Überwiegen des parasympathischen Einflusses (via N. vagus) auf die Luftwege hat eine Verengung der Luftwege und eine Hypersekretion zur Folge (Bronchokonstriktion). Zusammen mit einem verminderten Hustenstoß führt dies zu Sekretstase, Atelektase, durch die bakterielle Besiedelung der Luftwege zu Bronchitis und Bronchopneumonie [9, 12].
55
Typische Komplikationen des Atmungssystems (Ausmaß in Abhängigkeit zur Läsionshöhe)
55
4 4 4 4 4 4 4
55 55 55
Thoraxkontusion (inkl. Pneumothorax) Akute und chronische Bronchitis Alveoläre Hypoventilation Aspiration Pneumonie Pleuraerguss Lungenembolie
55.3
Diagnostik
55.3.1
Neurostatus
Die neurologische Beurteilung einer Querschnittlähmung erfolgt nach den Richtlinien der ASIA (American Spinal Injury Association [2]; . Abb. 55.3) Das klinische Bild lässt Rückschlüsse auf den Ort der Verletzung/Erkrankung des Rückenmarks, die Schwere der Lähmung und prognostische Faktoren zu. Das »neurologische Niveau« bezeichnet das kaudalste Rückenmarksegment mit beidseitig normaler Funktion. Sensibles und in analoger Weise getestetes motorisches Niveau wie auch linke gegen rechte Körperseite können voneinander abweichen. Es empfiehlt sich mit der Prüfung der Sensibilität (Schmerz) von kranial her zu beginnen. Mit der Prüfung der Sensibilität in den Dermatomen können alle Rückenmarksegmente getestet werden, was bei der Prüfung der Motorik nicht möglich ist. > Normale Sensibilität zuerst im Gesicht testen, Hirnnerven sind meist nicht betroffen.
Die Untersuchung der Motorik beschränkt sich in der Akutphase auf die Testung der Muskelkraft der 10 beidseitigen Schlüsselmuskeln in 10 Myotomen. Der Kraftgrad wird semiquantitativ in Werte zwischen 0 und 5 eingeteilt. In der Akutphase liegt wegen des spinalen Schocks meist ein schlaffe Lähmung vor.
55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 a
55
. Abb. 55.3 ASIA-Statusblatt für die Untersuchung querschnittgelähmter Patienten (a). Zusätzlich wird seit 2009 auch die autonome Funktion beurteilt (b) (siehe nächste Seite). (Nach [17, 23]. Abb. von ASIA [24], mit frdl. Genehmigung www.asia-spinalinjury.org/publications)
b
. Abb. 55.3b
unbekannt nicht beurteilbar normal gestört
Autonome Steuerung des Blutdruckes
Autonome Steuerung des Schwitzens
unbekannt
beeinträchtigte Atemfunktion, benötigt keine mechanische Ventilation
beeinträchtigte Atemfunktion, benötigt teilweise mechanische Ventilation
Keine Spontanatmung, benötigt mechanische Ventilation
Hyperthermie Hypothermie
Hyperhydrosis oberhalb der Läsion Hyperhydrosis unterhalb der Läsion Hypohydrosis unterhalb der Läsion
Ruheblutdruck syst. > 90 mmHg Orthostatische Hypotonie Autonome Dysreflexie
Bradykardie Tachykardie andere Arrhythmien
gestörte Funktion
Untersuchungsdatum: ____________
unbekannt nicht beurteilbar normal gestört
Verletzungsdatum: _______________
Autonome Steuerung des broncho - pulmonalen Systems
Temperaturregulation
unbekannt nicht beurteilbar normal gestört
unbekannt nicht beurteilbar normal gestört
Beurteilung normal gestört
System/Organ Autonome Steuerung des Herzens
Allgemeine autonome (vegetative) Funktionen
Patient: ___________________________________
Beurteilung des vegetativen Nervensystems
psychogen reflexiv
(Kontinenz)
(Kontinenz)
oberhalb Konus Konus Cauda equina
normale Funktion reduzierte oder veränderte Funktion kompletter Verlust der Funktion nicht testbar aufgrund vorbestehender oder begleitender Probleme
Befund normal verstärkt vermindert fehlend unspezifisch normal überaktiv verminderte Aktivität akontraktil normaler urethraler Verschlussmechanismus normale Sphinkterfunktion während Entleerung Inkompetenter Sphinkter Detrusor - Sprinkter Dyssynergie Nicht relaxierender Sphinkter
Untersucher: __________________________
Sphinkter
Detrusoraktivität
System/Organ Empfindung der Blasenfüllung
Urodynamische Beurteilung
2 = 1 = 0 = NT =
Orgasmus Ejakulation (nur bei Männern) Empfindung der Menses (nur bei Frauen)
System/Organ Unterer Harntrakt Gefühl der Blasenfüllung vorhanden Fähigkeit, unwillkürlichen Harnabgang zu verhindern Blasenentleerungsmethode: …………………… Darm Gefühl für Darmfüllung/Entleerung vorhanden Fähigkeit, unwillkürlichen Stuhlabgang zu verhindern Willkürliche Analkontraktion vorhanden Sexualfunktion Genitale Erregung (Erektion oder Lubrikation)
Unterer Harntrakt, Darm- und Sexualfunktion
Anatomische Diagnose:
Score
55.3 · Diagnostik
695
55
696
55
Kapitel 55 · Querschnittlähmung: Akutbehandlung und Rehabilitation
. Tab. 55.1 Klassifikation der Querschnittlähmungen gemäß ASIA Schweregrad
Charakteristik
55
A
Komplett; keinerlei motorische oder sensible Funktionen in den sakralen Segmenten S4–S5
55
B
Inkomplett; sensible, aber keine motorischen Funktionen unterhalb des neurologischen Niveaus vorhanden, inklusive S4–S5
C
Inkomplett; motorische Funktionen unterhalb des neurologischen Niveaus vorhanden. Mehr als die Hälfte der Kennmuskeln unterhalb des neurologischen Niveaus hat Muskelkraft von weniger als 3 (= Motorik, die funktionell nicht eingesetzt werden kann)
55 55 55 55
D
55 55
E
Inkomplett; motorische Funktionen unterhalb des neurologischen Niveaus vorhanden. Mehr als die Hälfte der Kennmuskeln unterhalb des neurologischen Niveaus hat Muskelkraft 3 oder mehr (= Motorik, die funktionell eingesetzt werden kann, z. B. für Transfers) Normal; motorische und sensible Funktionen sind normal
55
55
Komplette oder inkomplette Querschnittlähmungen unterscheiden sich am Vorhandensein oder Fehlen der »sakralen Aussparung«. Findet sich eine perianale Sensibilität in den Segmenten S4–S5 (=sakrale Aussparung vorhanden), wird die Querschnittlähmung als inkomplette, bei fehlender perianaler Sensibilität als komplette Querschnittlähmung bezeichnet [20, 21]. Die Klassifikation der Querschnittlähmungen gemäß den ASIA-Kriterien zeigt . Tab. 55.1. Bei der Untersuchung der perianalen Sensibilität sollte immer auch eine Rektaluntersuchung zur Beurteilung des Sphinktertonus und willkürlicher Aktivität durchgeführt werden. Unterhalb des neurologischen Niveaus vorhandene Sensibilität (oder Motorik) wird als Zone mit partiell erhaltener Innervation bezeichnet.
55
55.3.2
55 55 55 55
55 55 55 55
Begleitverletzungen
Bei einer Verletzung der Wirbelsäule ist immer auch auf entsprechende Begleitverletzungen zu achten. Schwere Kopfverletzungen sind häufig mit Schäden an der Halswirbelsäule kombiniert. Bei thorakalen Wirbelfrakturen sind Rippenfrakturen, Herz- und Lungenkontusion, traumatische Pankreatitis, Hämato-/Pneumothorax und Paravertebral- und Mediastinalblutungen häufig [18]. Bei Verletzungen der Lendenwirbelsäule kommt es zu Leber- und Milzverletzungen, retroperitonealen Hämatomen und Nierenkontusionen. Bei Stürzen auf die Füße/Beine immer auch auf Frakturen der unteren Extremitäten, speziell der Füße achten.
55 55 55 55 55
55.3.3
Bildgebende Diagnostik
> Weil die klinische Untersuchung durch die fehlende Sensibilität erheblich erschwert ist, hat die Bildgebung spezielle Bedeutung.
Eine initiale Ganzkörper-Computertomographie mit einem SpiralCT bietet einen erheblichen Zeitgewinn in der primären Diagnostik. Sämtliche Skelettfrakturen vom Schädel bis zum Becken und mögliche Verletzungen der inneren Organe sind innerhalb weniger
Minuten diagnostiziert, und Probleme können gezielt angegangen werden. Danach empfiehlt es sich, nach Möglichkeit eine Magnetresonanzuntersuchung anzuschließen, die weitere Informationen über das Rückenmark (Blutung, Ödem, Defekte etc.) wie auch über die Wirbelsäule ergibt. Oft werden nicht oder wenig dislozierte Wirbelfrakturen erst im MRI entdeckt, und diskoligamentäre Läsionen der Wirbelsäule können erst im Magnetresonanzbild dargestellt werden. Nach Stabilisation der Wirbelsäule mit metallischen Implantaten ist die Bildgebung der Verletzungsstelle im MRI oft beeinträchtigt.
55.4
Notfallmanagement
55.4.1
Präklinik
Bei der präklinischen Versorgung traumatischer Rückenmarkverletzungen steht neben der Sicherung bzw. Wiederherstellung der Vitalfunktionen insbesondere die Vermeidung eines Transporttraumas im Vordergrund. Sekundärschäden durch unsachgemäße Umlagerungen des Patienten können zu einer bleibenden Verschlechterung der neurologischen Situation und somit gravierenden Folgen für das weitere Leben führen [10]. Deshalb werden Immobilisationshilfen bei allen Patienten mit Verdacht auf eine Verletzung der Wirbelsäule großzügig eingesetzt. Standard ist die Stabilisation der Halswirbelsäule, sei es anfangs durch manuelle Stabilisierung mit dem Halsschienengriff (z. B. während der Abnahme eines Motorradhelms) oder durch die anschließend möglichst frühzeitige Anlage eines stabilen Halskragens. Alle Umlagerungen wirbelsäulenverletzter Patienten werden mit einer Schaufeltrage oder Spineboard durchgeführt, der Transport selbst auf einer adäquat abgesaugten Vakuummatratze. Zuvor ist eine Kontrolle auf Fremdkörper im Auflagebereich des Patienten (z. B. Geldbörse, Schlüssel, Mobiltelefon) sinnvoll, da bereits in dieser Phase schnell Druckstellen erzeugt werden, welche die Rehabilitation des Patienten erheblich verzögern können. Die Zielklinik für einen Patienten mit Verletzungen der Wirbelsäule und/oder des Rückenmarks muss sowohl diagnostische Möglichkeiten in den Bereichen radiologische Bildgebung (konventionelles Röntgen, Computertomographie, Magnetresonanztomographie) sowie neurophysiologische und laborchemische Untersuchungen als auch die Möglichkeit einer sofortigen operativen Versorgung durch eine wirbelsäulenchirurgische Abteilung bieten. Aufgrund geringerer Vibrationen ist dem Hubschraubertransport der Vorzug zu geben, sofern die Witterungsbedingungen dies zulassen und es deshalb nicht zu zeitlichen Verzögerungen kommt.
55.4.2
Intensivstation
Die typischen intensivmedizinischen Problembereiche bei Patienten mit Verletzungen des Rückenmarks sind 4 der spinale Schock, 4 gesteigerte Reaktionen auf vagale Reize, 4 der paralytische Ileus, 4 das extrem hohe Risiko für Dekubitalulzera. 4 Für den Großteil dieser Probleme ist der Ausfall des autonomen Nervensystems verantwortlich.
697 55.6 · Frührehabilitation
Die durch Vasoplegie bedingte relative Hypovolämie, oft durch eine blutungsbedingte absolute Hypovolämie verstärkt, wird primär durch die Infusion kristalloider und kolloidaler Volumenersatzmittel therapiert. Bei persistierendem Schock werden Katecholamine eingesetzt, bevorzugt Noradrenalin zur Vasokonstriktion, bei ventrikulärer Dysfunktion auch Dobutamin [1]. Bei Verletzungen oberhalb von T7 kommt es durch den Ausfall der sympathischen Innervation des Herzens zu ausgeprägten Bradykardien bis hin zur Asystolie; diese können spontan auftreten, insbesondere jedoch bei vagalen Reizen (z. B. beim Absaugen). Akut wird mit intravenösem Atropin therapiert, bei rezidivierendem Auftreten wird Orciprenalin in einer Dosierung von 10–30 mg/Tag eingesetzt. Der Einsatz eines Herzschrittmachers ist nur extrem selten erforderlich. Aufgrund des posttraumatisch auftretenden paralytischen Ileus mit Retentionsmagen muss zur Entlastung möglichst frühzeitig eine Magensonde gelegt werden (Cave: Aspiration während der Einlage), über die dann auch bereits innerhalb der ersten 24 h zur endogenen Stimulation eine vorsichtige Ernährung begonnen werden kann. Parallel werden Laxanzien und Einläufe eingesetzt, um mittelfristig einen 2-täglichen Abführrhythmus zu erreichen. Alle querschnittgelähmten Patienten müssen regelmäßig in 2bis 3-stündigen Intervallen umgelagert werden. Auch bei Patienten mit instabilen Frakturen ist eine seitliche Lagerung mit einem Winkel von 30° durch unter die Matratze gelegte Schaumstoffkeile möglich, dennoch sollte eine operative Stabilisierung schnellstens angestrebt werden. Harte Halskragen sind sobald als irgend möglich gegen weiche Kragen auszutauschen, da sich im Bereich der Kanten innerhalb weniger Stunden schwere Drucknekrosen ausbilden können. Die Haut muss im Bereich der Risikoareale (Fersen, Knöchel, Trochanter major, Sitzbein, Steißbein) täglich kontrolliert werden. Eine nicht wegdrückbare Hautrötung bedeutet bereits einen Dekubitus Grad 1 und muss sofort konsequent und vollständig entlastet werden.
55.5
Therapie
55.5.1
Operative und konservative Maßnahmen
Die Wiederherstellung der Statik und Belastungsstabilität der Wirbelsäule wird heute meist operativ durch offene oder geschlossene Reposition und anschließende dorsale und/oder ventrale Osteosynthese durchgeführt. Eine konservative Therapie durch spezielle Lagerung oder äußere Stabilisierung (z. B. Halogestell, Korsett) bis zur knöchernen Ausheilung kann in seltenen Fällen indiziert sein. Das invasive Vorgehen ermöglicht eine Mobilisierung der Patienten innerhalb einiger Tage und trägt damit zur Senkung des Risikos typischer Komplikationen wie Lungenembolien oder Dekubitalulzera bei.
55.5.2
Pharmakotherapie
Die Gabe hochdosierter Kortikosteroide nach Rückenmarkverletzungen wird seit vielen Jahren sehr kontrovers diskutiert [13] Die in der NASCIS III-Studie (National Acute Spinal Cord Injury Study) [7] auch im Langzeitverlauf gezeigten positiven Effekte auf Sensorik und Motorik sind geringfügig, können für den einzelnen Patienten jedoch einen erheblichen Gewinn an Lebensqualität bedeuten. Diesem möglichen Benefit steht eine erhöhte Inzidenz von Infektionen gegenüber, welche in engem Zusammenhang mit der Förderung der Glukoneogenese und den daraus folgenden hyperglykämischen Episoden zu sehen ist. Es ist unbekannt, ob diese Erhöhung des In-
fektrisikos unter der heute in der Intensivmedizin üblichen engmaschigen Kontrolle der Glukosespiegel nachweisbar wäre. Die Gabe von Methylprednisolon (z. B. Solumedrol oder Urbason) wird heute nur noch als therapeutische Option empfohlen. Die Indikation wird der individuellen Einschätzung des Behandlers überlassen, ein Verzicht auf den Einsatz dieser Therapie stellt keine Unterlassung dar. Kontraindiziert ist die Gabe von hochdosiertem Methylprednisolon bei gleichzeitigem Vorliegen eines SchädelHirn-Traumas und wenn ein Therapiebeginn nicht innerhalb der ersten 8 h nach dem Rückenmarktrauma möglich war. Ebenfalls besteht keine Indikation bei Stich- und Schnittverletzungen des Rückenmarks und bei Kindern unter 16 Jahren.
Thromboseprophylaxe Querschnittgelähmte haben bereits initial ein sehr hohes Risiko für Becken-Beinvenenthrombosen und damit auch Lungenembolien. Es empfiehlt sich, in den ersten 12 Wochen eine Thromboseprophylaxe mit gewichtsadaptiert dosiertem niedermolekularem Heparin durchzuführen, Beginn 24h postoperativ [19]. Zusätzlich erhält der Patient hüfthohe Kompressionsstrümpfe (Kompressionsklasse II). Diese sollen während 6 Monaten getragen werden.
55.6
Frührehabilitation
55.6.1
Nahrungsaufbau und Darmrehabilitation
Die neurogene Darmlähmung ist eines der Merkmale einer akuten Querschnittlähmung. Charakteristisch ist die Unfähigkeit, den Darm spontan zu entleeren. In der Akutphase hat sich der Einsatz von Prokinetika, Laktulose und Bisacodyl-Suppositorien zusammen mit einer manuellen Ausräumung im zweitäglichen Abführrhythmus etabliert. Wenn diese Maßnahmen nicht erfolgreich sind, muss man zuerst mögliche intraabdominelle Verletzungen/Erkrankungen ausschließen, bevor man mit Neostigmin- (reversibler kompetitiver Hemmstoff der Acetylcholinesterase) und Dexpanthenolinfusionen beginnt. Das Risiko eines seltenen abdominellen Kompartmentsyndroms bei gleichzeitigem Vorhandensein von massiver Koprostase und Meteorismus muss im Auge behalten werden. Eine besondere Rolle spielt die frühenterale Ernährung. Entgegen älterer Empfehlungen wird heutzutage so früh wie möglich mit der enteralen Ernährung begonnen, evtl. kombiniert mit einer parenteralen Ernährung, wenn der errechnete/gemessene Kalorienbedarf nicht enteral abgedeckt werden kann, oder bei absoluter Kontraindikation für eine enterale Ernährung. Ziel dieser Maßnahme ist es, neben der Stimulation des Gastrointestinaltraktes, einer Mangelernährung während der ersten Rehabilitationsphase vorzubeugen. Beginn mit Infusion einer Glukoselösung über die Magensonde, anschließend mehrstufiger Kostaufbau mit faserreicher Kost und osmotischen Laxanzien (z. B. Makrogol = Polyethylenglykol). Gleichzeitig zeigt sich häufig eine akute Pankreatitis (16±5,5 Tage nach Trauma), die selten klinisch relevant wird und die eine Folge der autonomen Lähmung ist (Sphinkter-Oddi-Dysfunktion und vagal dominierte Innervation des Pankreas) [18].
55.6.2
Blasenrehabilitation
Die urologischen Störungen erfordern frühzeitig ein klares Behandlungskonzept, da sie bei nicht korrekter Behandlung eine der relevanten Todesursachen bei Querschnittgelähmten darstellen. Unmittelbar nach dem Eintreten der Lähmung besteht eine schlaf-
55
698
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Kapitel 55 · Querschnittlähmung: Akutbehandlung und Rehabilitation
fe Blasenlähmung (spinaler Schock). Hier wird für begrenzte Zeit ein transurethraler Dauerkatheter eingelegt. Dieser wird spätestens nach 48 h durch eine suprapubische Ableitung ersetzt, um Blaseninfektionen, Urethrastrikturen, Divertikel, Fistelbildung und Blasensteine zu vermeiden. Als nächster Schritt muss der sterile intermittierende Katheterismus angestrebt werden. Die weitere urologische Versorgung ist abhängig von der Blasenlähmungsart, die je nach Läsionshöhe spastisch (Läsion des 1. Neurons = »upper motor neuron bladder«; UMNB) oder schlaff (Läsion des 2. Neurons = »lower motor neuron bladder«; LMNB) sein kann.
8
9
10
11
55.6.3
Mobilisation 12
Der operativ stabilisierte Patient wird, nach Vorgabe des Operateurs, meist in den ersten Tagen mobilisiert. Bei konservativer Frakturbehandlung der Wirbelsäule wird der Patient 10–12 Wochen immobilisiert. Eine orthostatische Hypotension kann durch vorherige Flüssigkeits- oder Volumengabe und die enterale Gabe eines α-Mimetikums gelindert oder vermieden werden. Beginn mit 15–30 min Sitzen im individuell angepassten Rollstuhl, tägliche Steigerung nach Befinden des Patienten. Bei Tetraplegikern ist aufgrund der fehlenden Kreislaufregulation ein Vertikalisationstraining im Stehbett oder auf dem Kipptisch notwendig, um den Körper an die aufrechte Sitzposition zu gewöhnen.
13
14 15 16
17
55 55
55.7
Prognose
18
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> In der Akutphase einer Querschnittverletzung lässt sich kaum eine verlässliche Prognose bezüglich Erholung abgeben (spinaler Schock).
19
Die Beobachtung der neurologischen Entwicklung in den ersten Wochen nach der Verletzung ermöglicht Rückschlüsse auf die Prognose. Eine vorhandene sakrale Aussparung (=perianale Sensibilität vorhanden) wird als positives Zeichen interpretiert, während eine im MRI sichtbare Blutung im Rückenmark oder eine vollständige Kontinuitätsunterbrechung des Rückenmarks als schlechtes prognostisches Zeichen gewertet wird. Inkomplette Lähmungen (ASIA B‒D; . Tab. 55.1), rasche Erholung nach dem Trauma und neurophysiologisch messbare Aktivität können Zeichen einer positiven Prognose sein [8].
20
Literatur
Weiterführende Websites
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1
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21 22 23 24
699 Liste der Querschnittzentren im deutschsprachigen Raum
Liste der Querschnittzentren im deutschsprachigen Raum BG-Kliniken Bergmannstrost Zentrum für Rückenmarkverletzte Merseburger Str. 165 D-06112 Halle/Saale Tel. +49/0345/132 6310 oder +49/345-132 6311 Fax +49/345/132 6313 online: www.qz-halle.de Klinikum Chemnitz Zentrum für Wirbelsäulen- und Rückenmarkverletzte Dresdner Str. 178 D-09131 Chemnitz Tel.: +49/371 333 11600 Fax.: +49/371 333 11602 E-Mail:
[email protected] Unfallkrankenhaus Berlin Behandlungszentrum für Rückenmarkverletzte Warener Str. 7 D-12683 Berlin Tel. +49/30/5681 0 oder +49/30/5861 3401 Fax +49/30/ 5681 3403 Krankenhaus Zehlendorf Bereich Behring Sonderstation für Querschnittgelähmte Gimpelsteig 3-5 D-14165 Berlin Tel. +49/30/81021 oder +49/30/8102 1504 Fax +49/30/8102 1838 Gesundheitspark Neurologische Reha-Klinik Paracelsusring 6a D-14547 Beelitz Tel. +49/33204/223 04 Fax +49/33204 223 03 Fachklinik Hohenstücken Neurologisches Rehabilitationszentrum für Kinder und Jugendliche Brahmsstr. 38 D-14772 Brandenburg a. d. Havel Tel. +49/3381/79 0 Fax +49/3381/79 1119 E-Mail:
[email protected] www.fachklinik-hohenstuecken.de Neurologisches Reha-Zentrum Karl-Liebknecht-Ring 26a D-17491 Greifswald Tel. +49/3834/871 00 oder +49/3834/871 301 Fax +49/3834/871 102 BG-Unfallkrankenhaus Querschnittgelähmten-Zentrum Bergedorfer Str. 10 D-21033 Hamburg Tel. +49/40/7306-0 oder +49/40/7306-2600 Fax +49/40/7306-2620 Werner-Wicker-Klinik Zentrum für Rückenmarksverletzte Am Kreuzfeld 4 D-34537 Bad Wildungen Tel. +49/5621/8030 oder +49/5621/803 207 Fax +49/5621/803 864 Orthop. Klinik u. Reha-Zentrum Abt. für Querschnittlähmungen Am Mühlenberg D-37235 Hessisch Lichtenau
Tel. +49/5602/830 oder +49/5602/83 1380 Fax +49/5602/83 1991 Chir. Univ. Klinik und Poliklinik Abt. für Rückenmarkverletzte »Bergmannsheil Bochum« Hunscheidtstr. 1 D-44789 Bochum Tel. +49/234/3020 oder +49/234/302 6703 Fax +49/234/302 6709 BG-Unfallklinik Spezialabt. für Rückenmarkverletzte Großenbaumer Allee 250 D-47249 Duisburg Tel. +49/203/76881 oder +49/203/7688 3141 Fax +49/203/7688 2283 Neurologisches Rehabilitationszentrum Godeshöhe Waldstr. 2–10 D-53227 Bonn Tel. +49/228/381-299 Fax +49/228/381-353 E-Mail:
[email protected] www.godeshoehe.de/sprache.html Gesundheitszentrum Ev. Stift St. Martin Akademisches Lehrkrankenhaus der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz Johannes-Müller-Str. 7 D-56068 Koblenz Tel. +49/261/1370 oder +49/261/137 1627 Fax +49/261/137 1234 E-Mail:
[email protected] www.gzstift.de oder www.koblenz-stift.de Gemeinnütziges Gemeinschafts-Krankenhaus Klinikum der Uni. Witten Chirurg. Abteilung Beckweg 4 D-59313 Herdecke Tel. +49/2330/621 oder +49/2330/62 3561 Fax +49/2330/62 3995 BG-Unfallklinik Abteilung für Rückenmarkverletzte Friedberger Landstr. 430 D-60389 Frankfurt Tel. +49/69/4750 oder +49/69/475 2020 Fax +49/69/475 2224 BG-Unfallklinik Abteilung für Querschnittgelähmte Ludwig-Guttmann-Str. 13 D-67071 Ludwigshafen Tel. +49/621/6810 0 oder +49/621/6810 2325 Fax +49/621/6810 2604 Stift. Orthop. Univ.-Klinik Abt. f. Orthopädie II Zentrum für Querschnittgelähmte Ludwig-Guttmann-Haus Schlierbacher Landstr. 200 a D-69118 Heidelberg Tel. +49/6221/965 oder +49/6221/966 322 Fax +49/6221/966 345 E-Mail:
[email protected] Klinik Markgröningen Orthop. Reha-Krankenhaus Abteilung für Querschnittgelähmte Nähere Hurst 20 D-71706 Markgröningen Tel. +49/7145/910 oder +49/7145/91 2201 Fax +49/7145/91 2910
55
700
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Kapitel 55 · Querschnittlähmung: Akutbehandlung und Rehabilitation
BG-Unfallklinik Abteilung für Querschnittgelähmte Schnarrenbergstr. 95 D-72076 Tübingen Tel. +49/7071/6060 oder +49/7071/606 1045 Fax +49/7071/606 1048 SRH Klinikum Karlsbad-Langensteinbach gGmbH Akademisches Lehrkrankenhaus der Universität Heidelberg Guttmannstr. 1 D-76307 Karlsbad Tel.: +49 7202/61-3698 www.srh.de/kkl BG-Unfallkrankenhaus Abteilung für Querschnittgelähmte Prof.-Küntscher-Str. 8 D-82418 Murnau Tel. +49/8841/480 oder +49/8841/481 432 Fax +49/8841/482 440 Reha-Krankenhaus Ulm Akadem. Krhs. d. Uni. Ulm Abteilung für Querschnittlähmungen Oberer Eselsberg 45 D-89081 Ulm Tel. +49/731/1770 oder +49/731/177 1116 Fax +49/731/177 1103 Krankenhaus Hohe Warte Reha-Klinik für Querschnittgelähmte Hohe Warte 8 D-95445 Bayreuth Tel. +49/921/2801 oder +49/921/2801 501 Fax +49/921/124 05 Zentralklinik Klinik für Orthopädie, Wirbelsäulenchirurgie und Querschnittgelähmte Robert-Koch-Allee 9 D-99437 Bad Berka Tel. +49/36458/5-0 Fax +49/36458/421 80
55
Rehabilitationszentrum Weißer Hof A-3400 Klosterneuburg
55
Rehabilitationszentrum Häring Schönau 150 A-6323 Bad Häring
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Rehabilitationszentrum Tobelbad Dr.-Georg-Neubauer-Str. 6 A-8144 Tobelbad
55 55 55 55 55 55 55 55
Schweizerisches Paraplegiker-Zentrum Im Burgfelderhof 40 Postfach CH-4025 Basel Tel. +41/61/325 00 00 Fax +41/61/325 00 01
[email protected] Schweizer Paraplegiker Zentrum CH-6207 Nottwil Tel. +41/41/939 54 54 Fax +41/41/939 54 40 E-Mail:
[email protected] www.paranet.ch Paraplegikerzentrum Uniklinik Balgrist Forchstr. 340 CH-8008 Zürich Tel. +41/44/386 39 01 Fax +41/44/386 39 09 E-Mail:
[email protected] www.balgrist.ch
701
Neuromuskuläre Erkrankungen bei Intensivpatienten H.-P. Hartung, B.C. Kieseier, H.C. Lehmann
56.1
Einleitung – 702
56.2
Guillain-Barré-Syndrom – 703
56.3
Akute hepatische Porphyrien – 706
56.4
Hypokaliämie – 706
56.5
Chronische Polyneuropathien – 707
56.6
Störungen der neuromuskulären Übertragung – 707
56.6.1 56.6.2 56.6.3 56.6.4
Myasthenia gravis – 707 Lambert-Eaton-Syndrom – 708 Botulismus – 708 Neuromuskuläre Blockade – 708
56.7
Primäre Myopathien – 708
56.8
Critical-illness-Polyneuropathie (CIP) – 709
56.9
Critical-illness-Myopathie (CIM) – 709 Literatur – 710
H. Burchardi et al. (Hrsg.), Die Intensivmedizin, DOI 10.1007/978-3-642-16929-8_5 6, © Springer Medizin Verlag Berlin Heidelberg 2011,
56
702
56 56 56 56 56 56 56 56 56 56
Kapitel 56 · Neuromuskuläre Erkrankungen bei Intensivpatienten
56.1
Einleitung
Neuromuskuläre Erkrankungen sind Störungen, die das periphere Nervensystem, die neuromuskuläre Endplatte und/oder die quergestreifte Muskulatur betreffen. Sie können sowohl Ursache als auch Folge einer intensivmedizinischen Behandlung sein. Neben den allgemeinen Komplikationen, die aufgrund der Immobilität bestehen (z. B. Infektionen, Thrombosen), stellen insbesondere eine Beteiligung der Atemmuskulatur oder die Beteiligung des autonomen Nervensystems krankheitsspezifische Komplikationen dar, die eine intensivmedizinische Behandlung bei neuromuskulären Erkrankungen erforderlich machen. Pathogenetisch kann hierbei eine Störung der elektrischen Erregungsfortbildung entlang des Axons, eine neuromuskuläre Übertragungsstörung oder eine strukturelle Schädigung von Nervenfasern oder Muskelfasern zugrunde liegen. Die Ursachen sind in . Tab. 56.1 gezeigt. In der Mehrzahl der Fälle ist die Diagnose bei Aufnahme auf der Intensivstation bekannt; Grund der Aufnahme ist dann eine akute Exazerbation oder rasche Progredienz mit manifesten oder
. Tab. 56.1 Ursachen einer akuten schlaffen Paralyse (mit/ohne Ateminsuffizienz) 1
Neuropathien
1.1
Immunvermittelt: Guillain-Barré-Syndrom, chronisch inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie (CIDP), vaskulitische Neuropathien
56
1.2
Infektiöse Neuropathien: Borreliose, diphterische Neuropathie, West-Nil-Virusinfektion
56
1.3
Akute alkoholische Polyneuropathie bei Thiaminmangel
1.4
Toxische Neuropathien (Hexacarbonschnüffler; Organophosphate, Acrylamid, Arsen-/Blei-/Thalliumneuropathie)
1.5
Medikamenteninduzierte Neuropathien (Dapson, Nitrofurantoin, Chloroquin, Gold, INH, Suramin, Zimeldin, Amiodaron)
56
2
Störungen der neuromuskulären Übertragung
2.1
Myasthenia gravis
56
2.2
Lambert-Eaton-myasthenes Syndrom
2.3
Botulismus
2.4
Organophosphatintoxikation
3
Myopathien
3.1
Erworbene Myopathien: Dermatomyositis, Polymyositis, Einschlusskörpermyositis, myoglobinurische Myopathie, toxische Myopathie
3.2
Angeborene Myopathien: myotone Dystrophien, kongenitale (Nemalin-, zentronukleäre) Myopathie, saurer Maltasemangel, mitochondriale Myopathien
4
Elektrolytstörungen
4.1
Hypokaliämische periodische Paralyse
4.2
Hyperkaliämische periodische Paralyse
4.3
Hypokaliämie
4.4
Hyperkaliämie
4.5
Hypophosphatämie
4.6
Hypermagnesiämie
56
56 56
56 56 56 56 56 56 56 56
drohenden vitalen Funktionsstörungen, die intensivmedizinische Überwachung und Behandlung erfordern. Gelegentlich können sich jedoch einige dieser Erkrankungen primär mit lebensbedrohlichen Komplikationen manifestieren. Häufige Ursachen sind hier insbesondere das Guillain-Barré-Syndrom und die sich mit Krise manifestierende Myasthenia gravis. Sehr selten sind dagegen dyskaliämische Paralysen, ein Botulismus oder akut nekrotisierende Manifestationen von Myopathien. Neuromuskuläre Erkrankungen, die im Rahmen einer intensivmedizinischen Behandlung auftreten, sind die Critical-illnessPolyneuropathie und Critical-illness-Myopathie. Eine wesentliche Komplikation dieser Erkrankungen besteht darin, dass sie die Entwöhnung von Respirator und die Rehabilitation ganz erheblich erschweren können. Die Erstversorgung des neuromuskulär Erkrankten folgt den allgemeinen intensivmedizinischen Grundsätzen. Liegen bei Aufnahme auf der Intensivstation keine Vorinformationen über eine neuromuskuläre Erkrankung vor oder handelt es sich um eine Erstmanifestation, so erfolgt, soweit möglich, eine gezielte Anamneseerhebung und eine orientierende neurologische Untersuchung [36, 52].
. Abb. 56.1 Klinisches Vorgehen bei akuter schlaffer Parese
703 56.2 · Guillain-Barré-Syndrom
Anamnestische Hinweise 4 Neuropathien: progrediente Schwäche, Sensibilitätsstörung und Muskelatrophien mit strumpf- und handschuhförmigem Verteilungsmuster 4 Störungen der neuromuskulären Übertragung: belastungsabhängige muskuläre Schwäche, Doppelbilder, Ptose, Dysphagie, Dysarthrophonie 4 Myopathien: Schwierigkeiten beim Aufstehen und Treppensteigen; Schwäche der Kopfbeugung/-streckung evtl. Muskelatrophien mit rumpfnahem Schwerpunkt 4 Motoneuronerkrankung (amyotrophe Lateralsklerose): Schwäche, Faszikulationen, Atrophie, Dysphagie, Dysarthrophonie
Bei der neurologischen Untersuchung soll jener Abschnitt des peripheren Nervensystems und der Muskulatur identifiziert werden, dessen Dysfunktion oder Schädigung dem Krankheitsbild zugrunde liegt (. Abb. 56.1; . Tab. 56.2). In . Tab. 56.3 sind die wegweisenden diagnostischen Zusatzmaßnahmen aufgelistet [52]. Entscheidende Bedeutung in der Differenzialdiagnose kommt der Neurographie und der Elektromyographie zu (. Abb. 56.2).
56.2
Guillain-Barré-Syndrom
. Tab. 56.2 Lokalisation bei Erkrankungen mit muskulärer Schwäche Lokalisation
Klinische Charakteristika
Peripherer Nerv
5 Schwäche und sensible Störungen 5 Gelegentlich assoziierte autonome Funktionsstörungen 5 Hirnnervenbeteiligung möglich 5 Hypo- bis Areflexie
Neuromuskuläre Endplatte
5 Kraniale, Schulter-, Beckengürtel- und proximale Muskulatur betroffen 5 Atemmuskeln können betroffen sein 5 Bei präsynaptischen Störungen vorübergehende Kraftsteigerung nach Übung (Fazilitierung), autonome Auffälligkeiten möglich 5 Bei postsynaptischen Störungen: Ermüdbarkeit
Muskel
5 Befall vornehmlich von Nacken-, Schulter-, Beckengürtel- und proximaler Muskulatur 5 Mögliche assoziierte Kardiomyopathie 5 Gelegentlich Beteiligung der Atemmuskulatur 5 Mögliches Risiko einer Myoglobinurie
Die Inzidenz des Guillain-Barré-Syndroms (GBS, akute Polyneuritis) beträgt etwa 1,5–2 pro 100.000 Einwohner/Jahr [45]. Es handelt sich um ein Syndrom mit verschiedenen pathologisch und pathogenetisch definierten Varianten (. Abb. 56.3 [25, 30]).
. Abb. 56.2 Diagnostischer Algorithmus bei schlaffer Parese (ALS amyotrophe Lateralsklerose, CIM Critical-illness-Myopathie, CIP Critical-illness-Polyneuropathie, GBS Guillain-Barré-Syndrom, LEMS Lambert-Eaton-myasthenes-Syndrom)
56
704
56 56
Kapitel 56 · Neuromuskuläre Erkrankungen bei Intensivpatienten
. Tab. 56.3 Akute neuromuskuläre Schwäche: Zusatzdiagnostik
Unmittelbar bei Aufnahme
56 56 56
Weitere klinischchemische Tests
56 56 56 56 56 56
56 56 56 56 56 56 56 56 56 56 56 56 56
Diagnostik
1
Erforderlich
Blutbild BSG/CRP Blutgasanalyse Urinanalyse, Kreatinin, Myoglobin Serumelektrolyte Muskelenzyme (CK u. a.)
1.1
Progrediente Schwäche mehr als einer Extremität (unterschiedlicher Ausprägungsgrad bis hin zur Tetraplegie)
1.2
Areflexie (bzw. distale Areflexie mit proximaler Hyporeflexie)
2
Unterstützende klinische Kriterien
2.1
Progredienz der Erkrankung mit Erreichen des Maximums innerhalb von 4 Wochen
2.2
Relativ symmetrische Ausprägung der Paresen
2.3
Nur geringe sensible Defizite
2.4
Hirnnervenbeteiligung
2.5
Autonome Funktionsstörungen
2.6
Fehlen von Fieber bei Erkrankungsbeginn
3
Unterstützende Laborbefunde
3.1
Albuminozytologische Dissoziation (normale Zellzahl 300 >16
+-+++
++
++
(p)
Warm
Hyperosmolares Koma
>500 >28
Ø –+
+++
Ø
(p)
Normal
Laktatazidose
Variabel
Ø –+
++
p
Warm
58
Hypoglykämie
Wesentliches Prinzip der Insulintherapie in dieser Situation ist die ausschließliche Gabe von Normalinsulin und hier bevorzugt die i.v.-Gabe.
Die i.v.-Gabe ist der i. m.-Gabe vorzuziehen. Eine subkutane Injektion ist wegen der in Zusammenhang mit der Dehydrierung (zunächst) schlechten Resorptionbedingungen und der nach der Rehydrierung erfolgenden unkontrolliert raschen Resorption obsolet. Die kontinuierliche i.v.-Insulingabe beginnt mit einem Bolus von ca. 8–10 IE (0,15 IE/kg KG), gefolgt von ca. 4–8 IE/h (0,1 IE/ kg KG/h) über eine Infusionspumpe. Wichtig hinsichtlich der Do-
sierung ist hierbei die Berücksichtigung der evtl. prästationär gegebenen Insulindosen. Die weitere Anpassung erfolgt dann je nach Blutglukosewert, der Zielblutzucker liegt bei 250 mg/dl (14 mmol/l) in den ersten 24 h. Wenn dieser Wert erreicht ist, wird Insulin auf ca. 1–4 IE/h (0,05 IE/kg KG/h) reduziert. Um eine weitere Absenkung des Blutzuckers zu verhindern, kann 5- bis 10%ige Glukose im Bypass infundiert werden [12]. Eine Blutglukosesenkung von mehr als 50 mg/dl bzw. 3 mmol/l stündlich sollte zur Prophylaxe eines Disäquilibriumsyndroms (Hirnödem durch Osmolaritätsgradienten) vermieden werden. Eine niedrigdosierte Insulintherapie ist in spezialisierten Zentren mit einer geringen Mortalität assoziiert [24].
Kaliumsubstitution Die kontrollierte Kaliumgabe ist von größter Bedeutung und muss unmittelbar mit der Insulintherapie beginnen. Wesentlich ist, dass Kaliumverluste unter der Therapie direkt ausgeglichen werden; sie entstehen zum einen durch den renalen Verlust, zum anderen über den intrazellulären Shift durch Ausgleich der Azidose und Insulingabe. Bei regelrechter Nierenfunktion muss eine Kaliumsubstitution bereits bei einem Serumkalium von d5,0 mmol/l mit 20–30 mmol/l Infusionsflüssigkeit begonnen werden. Wenn das initiale Serumkalium 12
0
3,0–3,9
20–30
30–40
2,0–2,9
30–40
40–60
Bei Na+ >150 mmol/l bzw. Oligo-/Anurie 0,45%ige NaCl-Lösung.
58
732
58 58 58 58 58 58 58 58 58 58 58 58 58 58 58 58 58 58 58 58 58 58 58 58 58
Kapitel 58 · Diabetisches Koma und perioperative Diabetestherapie
potonie, Atemdepression und Insulinresistenz. Die Gefahren liegen v. a. in einem Abfall des Liquor-pH-Werts, einer Hypokaliämie, einer Linksverschiebung der Hämoglobin-O2-Dissoziationskurve, einer Natriumüberladung und einer Reboundalkalose. Daher gilt, dass sie nur bei vital bedrohlicher Azidose mit pH 7,0 unter 2-stündlichen pHKontrollen Die Infusionsmenge in ml Natriumbikarbonat entspricht etwa dem Körpergewicht in kg.
Da die Bikarbonatgabe bei Kindern zu einem höheren Risiko der Hirnödementwicklung führt, sollte diese nur Ausnahmefällen vor– behalten bleiben und ggf. mit 1–2 mmol NaHCO3 /kg KG über 1 h erfolgen [8,13].
Begleitmaßnahmen Stets muss die Therapie der diabetischen Ketoazidose von der Suche nach auslösenden Ursachen und deren Behandlung begleitet werden. Weiterhin gehören hierzu die Anlage eines zentralvenösen Katheters zur ZVD-Messung und ggf. hochdosierten Kaliumsubstitution in besonderen klinischen Situationen, eine kontinuierliche EKG-Überwachung, eine Antibiotikatherapie bei Infektionsverdacht und die Heparinisierung, v. a. bei älteren Patienten und bei ausgeprägter Dehydratation.
Therapiekontrolle Während der stationären Betreuung müssen folgende Parameter engmaschig überwacht werden: 4 Herz-Kreislauf-Funktion, initial mindestens alle 30 min für 4 h, dann alle 60 min bzw. je nach Befund, 4 Bewusstseinszustand, 4 Atemfunktion, 4 Körpertemperatur, zuerst 2-stündlich, dann später alle 6 h, 4 Flüssigkeitsbilanz mit ZVD-Messung. Hinsichtlich der Laborkontrollen müssen stündlich Blutzuckermessungen durchgeführt werden, bis der Blutzucker bei 250 mg/dl (14 mmol/l) liegt; bei stabilem Verlauf dann 2-stündlich. Die Serumelektrolyte (Kalium und Natrium) müssen mindestens 4-stündlich bestimmt werden, Serumkreatinin je nach Befund. pH-Wert und pCO2 werden bei einem pH von > 7,0 4-stündlich bis zur Normalisierung gemessen, bei einem pH 5 mmol/l) in Kombination mit einer metabolischen Azidose charakterisiert ist. Im Gegensatz zu einer Hyperlaktatämie findet sich hier eine kritische metabolische Dysregulation.
Bei der Typ-A-Laktatazidose besteht ein Ungleichgewicht zwischen O2-Versorgung des Gewebes und Bedarf; dies erklärt, dass die wesentlichen Ursachen eher kardiopulmonale Erkrankungen aber auch regionale Minderperfusionen (Beispiel: akute arterielle Embolie) sind. Bei der Typ-A-Laktatazidose kommt es als Ausdruck der verminderten Gewebeoxygenierung zu einer verminderten Oxidation von Pyruvat im Zitronensäurezyklus. Dies erhöht die Laktatproduktion und die Bildung von ATP über die Glykolyse. Die Laktatkonzentration im Blut ist von prognostischer Bedeutung, da das Ausmaß seiner Produktion mit dem O2-Defizit korreliert.
. Tab. 58.6 Ursachen der Laktatazidose Typ
Ursachen
Typ-A-Laktatazidose
Schock (kardiogen, septisch, hypovolämisch) Schwere Hypoxämie (z. B. Asthma bronchiale) Schwere Anämie CO-Vergiftung
Typ-B-Laktatazidose
B1 (bei typischer Grunderkrankung) 5 Diabetes mellitus 5 Leberzirrhose 5 Tumor 5 Sepsis 5 Phäochromozytom B2 (medikamentös-toxische Einflüsse) 5 Biguanide (früher beobachtet bei Buformin und Phenformin) 5 Ethanol 5 Methanol 5 Fruktose 5 Sorbitol 5 Salicylat 5 Paracetamol 5 Terbutalin 5 Nitroprussid 5 Isoniazid B3 (angeborene Stoffwechselstörungen) 5 Glukose-6-phosphatase-Mangel (von Gierke) 5 Fruktose-1,6-diphosphatase- Mangel 5 Pyruvatcarboxylasemangel 5 Pyruvatdehydrogenasemangel
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Kapitel 58 · Diabetisches Koma und perioperative Diabetestherapie
Eine Laktatazidose tritt als Typ-B1-Laktatazidose beim Diabetes mellitus auf; Biguanide als orale Antidiabetika sind heute nur noch sehr selten Auslöser einer Laktatazidose (Typ B2). Dies war deutlich häufiger unter der Einnahme von Phenformin und Buformin Ende der 1970-er Jahre mit etwa 1 Fall auf 2000 Krankenhauspatienten [21]. In einer aktuellen Metaanalyse, die auch niereninsuffiziente Patienten eingeschlossen hat, ist die Inzidenz von Laktatazidosen mit ca. 9 pro 100.000 Patientenjahre mit und ohne Metformin-Therapie identisch. Aufgrund der aktuellen Datenlage sollten die bisherigen Kontraindikationen für Metformin modifiziert werden [10]. In . Tab. 58.6 sind die Ursachen der Laktatazidose genannt.
58.4.2
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58.5
Hypoglykämie
58.5.1
Ursachen
Klinik und Diagnostik der Laktatazidosen
Labor Die typischen Laborzeichen sind ein Abfall des arteriellen pH-Werts und der Bikarbonatkonzentration im Serum, in der Regel begleitet von einem kompensatorischen Abfall des pCO2. Eine begleitende Hyperkaliämie ist sehr häufig. Ein weiterer richtungsweisender Parameter ist die erhöhte Anionenlücke. Es findet sich außerdem ein Anstieg der Serumchloridkonzentration, etwa in dem Ausmaß, wie Bikarbonat erniedrigt ist. Die Bestimmung der Laktatkonzentration ist zur Ausschlussdiagnostik obligat.
Klinik Die klinischen Zeichen reflektieren in erster Linie den veränderten Zellstoffwechsel bei intrazellulärem pH-Abfall. Verschiebungen des pH-Werts im Extrazellulärraum verändern die Bindung beispielsweise von Liganden an zelluläre membranständige Rezeptoren und verändern die Affinität von Transportproteinen im Plasma. Klinische bedeutsam sind v. a. die Veränderungen der kardiovaskulären Funktionen. So führt eine schwere Azidose zu einer verminderten Myokardkontraktilität, zu Vasodilatation und Hypotonie, einem verminderten hepatischen und renalen Blutfluss, einer Bradykardie und einer erhöhten Rate an ventrikulären Rhythmusstörungen. Weiterhin fallen im Prodromalstadium v. a. Appetitlosigkeit, Übelkeit, abdominelle Schmerzen, zunehmende Adynamie und Unruhe auf, im Vollbild dann Hypothermie und Bewusstseinsveränderungen bis hin zum Koma. Es besteht eine tiefe Kussmaul-Atmung.
58 58
dies betrifft natürlich insbesondere auch oligo-/anurische Patienten. Des Weiteren wird eine Indikation zur Hämodialyse v. a. dann gestellt, wenn der pH unter 7,0 liegt, eine Hypothermie, Azotämie und Oligo-/Anurie bestehen. Ein weiterer Vorteil der Dialyse ist es, dass hierunter eine Bikarbonatinfusion ohne das Risiko einer zu hohen Volumenbelastung möglich ist. Damit korrigiert letztendlich die Dialyse die Azidose nicht über die direkte Elimination von Wasserstoffionen oder Laktat, sondern über den Volumenentzug mit der Möglichkeit, dass Bikarbonat dem Pool an Puffersubstanzen zugeführt werden kann [14].
58.4.3
Therapie
Die Behandlung der Laktatazidosen hängt v. a. von ihrer Ursache und Ausprägung ab; eine leichte Azidose z. B. bei chronischem Nierenversagen erfordert nicht unbedingt eine Behandlung. Bei der diabetischen Azidose muss v. a. die Grunderkrankung behandelt werden, wie im vorausgehenden Abschnitt dargestellt; dies betrifft die Zufuhr von entsprechenden Mengen an Flüssigkeit, Insulin und Elektrolyten. Auf die Problematik der Bikarbonattherapie ist ebenfalls hingewiesen worden; zusätzlich sollte erwähnt werden, dass die Bikarbonatgabe insbesondere bei der tumorassoziierten Laktatazidose die Azidose weiter verschlimmern kann, weil hierdurch die Glykolyse stimuliert wird. Zusätzlich wird durch die Azidifizierung der Hepatozyten die Laktataufnahme weiter beeinträchtigt. Es wird daher diskutiert, ob Puffersubstanzen, die nicht zu einer vermehrten Bildung von Kohlendioxid führen wie eine äquimolare Lösung aus Natriumhydrogenkarbonat und Natriumkarbonat hier bevorzugt eingesetzt werden sollten. Bei einer durch Biguanid induzierten Laktatazidose kann eine Elimination der Substanz durch die Hämodialyse erreicht werden;
Wahrscheinlichkeit und Prädiktoren Der hypoglykämische Schock stellt eine der wichtigsten Akutkomplikationen beim diabetischen Patienten dar. Insbesondere bei der Einstellung mit intensivierter Insulintherapie muss mit dieser Komplikation gerechnet werden. So beträgt die Wahrscheinlichkeit für einen intensiviert behandelten Patienten, eine schwere Hypoglykämie (oft auch mit Koma) zu erleiden, etwa einmal alle 1,5 Jahre. Die Wahrscheinlichkeit für einen konventionell behandelten Patienten liegt bei nur etwa einmal in 5 Jahren. ! Cave Ein besonderes Problem ist, dass die Mehrzahl (etwa 55%) der schweren hypoglykämischen Episoden unbemerkt während des Schlafs stattfindet und dass etwa 35% der Episoden, die im wachen Zustand auftreten, nicht mit Warnsymptomen einhergehen.
Solche unbemerkten Hypoglykämien stellen einen Hauptrisikofaktor für schwere Hypoglykämien bei Typ-1-Patienten dar. Bei Typ-2-Diabetikern scheint die iatrogene Hypoglykämie seltener aufzutreten; so wurde für Typ-2-diabetische Patienten eine Häufigkeit von 2,2% an schweren Hypoglykämien pro Jahr mitgeteilt. Allerdings weisen aktuelle Daten darauf hin, dass bei diesen Patienten nach Umstellung auf eine Insulintherapie mit einer Hypoglykämiehäufigkeit zu rechnen ist, die sich nicht wesentlich von der von Typ-1-Diabetikern unterscheidet. Wesentliche Prädiktoren für das Auftreten einer Hypoglykämie sind eine: 4 vorausgegangene schwere Hypoglykämie, 4 Diabetesdauer von 9–12 Jahren, 4 Erniedrigung des HbA1c um 1%. Allerdings erklären sie gemeinsam nur 8% der Varianz der hypoglykämischen Ereignisse. Weitere individuelle Faktoren spielen eine erhebliche Rolle ebenso wie das komplexe Zusammenspiel von gestörter Gegenregulation und patientenspezifischen Parametern. ! Cave Klinisch bedeutsam ist folgender Zusammenhang: Patienten, bei denen sich bereits eine Hypoglykämie ereignet hat, sind besonders rezidivgefährdet.
Ursachen Als Ursache für eine Hypoglykämie ist prinzipiell ein absoluter oder relativ zu hoher Insulinspiegel im Serum anzusehen. Hierbei hat es sich als sinnvoll erwiesen, zwischen endogenen Ursachen (die überwiegend eine Nüchternhypoglykämie induzieren) und exogenen (überwiegend behandlungsbedingten) zu unterscheiden (. Tab. 58.7).
735 58.5 · Hypoglykämie
Die statistisch mit Abstand führenden Ursachen sind die durch Insulin oder Sulfonylharnstoffe induzierten Hypoglykämien. Bei diabetischen Patienten muss aber im Einzelfall bei begründetem Verdacht nach möglichen endogenen Ursachen gesucht werden. Die wesentlichen Ursachen einer Hypoglykämie bei Patienten, die mit Insulin oder einem Sulfonylharnstoffpräparat behandelt werden, sind in der Übersicht dargestellt.
. Tab. 58.7 Ursachen der Hypoglykämie Endogene Ursachen
Endokrin bedingt 5 Inselzelltumor 5 Inselzellhyperplasie (Kindesalter) 5 Extrapankreatische Tumoren: mesenchymale Tumoren, Sarkom, hepatozelluläres Karzinom 5 Hypophyseninsuffizienz 5 Nebenniereninsuffizienz Metabolisch bedingt 5 Glykogenspeicherkrankheiten (Kindesalter) 5 Störungen der Glukoneogenese (Kindesalter) 5 Carnitinmangel (Kindesalter) 5 Galaktosämie 5 Fruktoseintoleranz Hepatisch bedingt 5 Hepatitis 5 Leberversagen 5 Reye-Syndrom Autoimmun bedingt 5 Antiinsulinantikörpersyndrom (antiidiotypische Antikörper mit Stimulation von Insulinrezeptoren)
Exogene Ursachen
Mangelernährung Alkoholinduzierte Hypoglykämie Extreme Muskelarbeit Medikamente 5 Insulin 5 Sulfonylharnstoffe 5 Paracetamol 5 Disopyramid 5 Pentamidin
Die wichtigsten Ursachen einer Hypoglykämie bei Patienten, die mit Insulin oder einem Sulfonylharnstoffpräparat behandelt werden 4 Fehlende oder zu geringe Mahlzeitenzufuhr nach Injektion oder Tabletteneinnahme 4 Inadäquat erhöhte Muskelarbeit 4 Versehentlich zu hohe Dosis von Insulin und fehlerhafte Injektionstechnik (i. m. statt s. c.) 4 Nicht indizierte Therapie (Insulin und Sulfonylharnstoffe dort, wo Diät ausreicht) 4 Medikamenteninteraktion: Nichtselektive β-Blocker können zu einer Abschwächung der Hypoglykämiewahrnehmung führen, Salizylate oder Tetrazykline verstärken die Wirkung oraler Antidiabetika 4 Alkohol kann über die Hemmung der Glukoneogenese zu einer ausgeprägten Hypoglykämie führen
Neben den oben genannten Konstellationen, die in erster Linie mit der Injektion von Insulin oder der Einnahme von Sulfonylharnstoffen verbunden sind, besteht als weitere typische Risikokonstellation die Entwicklung einer diabetischen Nephropathie, die aufgrund der verminderten renalen Elimination nicht nur zu einer Kumulation von Sulfonylharnstoffen, sondern auch von Insulin führen kann.
Physiologie der gegenregulatorischen Antwort Für das Verständnis der Klinik auf der einen Seite, aber auch der verminderten Wahrnehmung einer Hypoglykämie auf der anderen Seite ist die Physiologie der gegenregulatorischen Antwort von großer Bedeutung. Hier besteht insbesondere hinsichtlich der neuroendokrinen Gegenregulation ein hierarchisches System. So ist der sensitivste Mechanismus die Suppression der Insulinsekretion bei etwa 80 mg/dl (4,4 mmol/l). Glukagon wird gemeinsam mit Adrenalin, Kortisol und Wachstumshormon etwa bei einem glykämischen Schwellenwert von 65 mg/dl (3,6 mmol/l) sezerniert. Die zunehmende Sekretion dieser gegenregulatorischen Hormone ist verantwortlich für die autonome Symptomatik einer Hypoglykämie. Bei rekurrierenden Hypoglykämien diabetischer Patienten verschiebt sich der glykämische Schwellenwert (zunehmend niedrigere Werte), sodass die gegenregulatorische und symptombezogene Antwort auf eine Hypoglykämie abnimmt. Insbesondere bei Patienten mit einem Typ-1-Diabetes bestehen im Vergleich zur endokrinen Gegenregulation bei Normalpersonen typische Störungen der Hormonsekretion. So vermindert sich die Glukagonsekretion in den ersten 5 Jahren nach Manifestation des Typ-1-Diabetes; dies scheint mit dem Insulinmangel verknüpft zu sein. Die Adrenalinsekretion nimmt etwa 5–10 Jahre nach Diabetesmanifestation ab. Damit erhöht sich das Risiko für schwere Hypoglykämien etwa um den Faktor 25. Somit besitzt die Diabetesdauer einen erheblichen prädiktiven Wert für das Auftreten von akuten Hypoglykämien, insbesondere bei wiederkehrenden Hypoglykämien [15].
58.5.2
Diagnostik und klinisches Bild
Das klinische Bild der Hypoglykämie ist außerordentlich heterogen, eine Einteilung in eine asymptomatische, milde und schwere Form aber möglich (. Tab. 58.8). Oft findet sich jedoch ein individueller, typischer Ablauf der Hypoglykämie.
Symptomatik Trotz der komplexen Symptomatik unterscheidet man in Anlehnung an den zugrunde liegenden pathophysiologischen Prozess eine eher vasomotorische Phase mit Zeichen der adrenergen Gegenregulation von einer zerebralen Phase, die durch die neuro-glukopenischen Symptome gekennzeichnet ist. Solche neuroglukopenischen Symptome sind in der Übersicht zusammengefasst. . Tab. 58.8 Einteilung der Hypoglykämiesymptomatik Hypoglykämie
Symptomatik
Asymptomatische Hypoglykämie
5 Klinisch inapparent 5 Nur biochemische Sicherung (Blutglukose Bei Auftreten leichter bis mittelschwerer Hypoglykämien ist es daher wichtig, den Patienten aufzuklären, dass im Falle einer sich ankündigenden Hypoglykämie nur noch Traubenzucker direkt aufgenommen werden kann, andere Kohlenhydrate (Di- und Polysaccharide) dagegen ungeeignet sind.
Akuttherapie Ist der Patient bewusstlos und besteht der Verdacht auf eine Hypoglykämie, müssen unverzüglich mindestens 40–60 ml einer 40%igen Glukoselösung i.v. injiziert werden. Ist eine intravenöse Glukosegabe nicht möglich (kein Arzt anwesend, unruhiger Patient), wird 1 mg Glukagon i.m. injiziert; dies kann nach 10–20 min wiederholt werden. Es ist unbedingt darauf zu achten, dass in jedem Fall anschließend Glukose (i.v. oder oral) zugeführt werden muss, da die Glykogenspeicher in der Leber durch Glukagon entleert werden und es zu protrahierten Hypoglykämien kommen kann. Die Glukagongabe ist wirkungslos bei lang anhaltender, hypoglykämiebedingter Entleerung der Glykogenspeicher in der Leber. Nach Durchführung der beschriebenen Maßnahmen kommt es in der Regel nach 5–10 min zur Besserung der Symptomatik.
Weiterführende Maßnahmen Zeigt sich kein Therapieerfolg, ist die Diagnose zu überprüfen. Insbesondere bei protrahierten Hypoglykämien durch kumulierte Sulfonylharnstoffe oder noch wirkendes Depotinsulin muss mit Rezidiven einer Hypoglykämie gerechnet werden. Unter diesen Bedingungen muss eine stationäre Beobachtung für 2–3 Tage erfolgen. Nach schweren Hypoglykämien sollte intravenös eine kontinuierliche Infusion über 24 h mit 1,5–2,5 l 10%iger Glukoselösung erfolgen und gleichzeitig Elektrolyte substituiert werden. Der Blutzucker ist dabei 4-stündlich zu messen und sollte auf Werten zwischen 180 und 230 mg/dl gehalten werden. Insbesondere bei schwerer durch Sulfonylharnstoff induzierter Hypoglykämie müssen alle 2–3 h Kohlenhydrate in einer Menge von 2 BE verabreicht werden. Bei lang anhaltenden Hypoglykämien, die als Folge exzessiver Insulinzufuhr in suizidaler Absicht auftreten, sind neben der kontinuierlichen Glukosegabe bei persistierender Bewusstlosigkeit eine Hirnödemtherapie mit Dexamethason (3mal 8 mg i.v.) und entwässernde Maßnahmen (Furosemid, ggf. Mannit) einzuleiten. In schwerwiegenden Fällen kann die Exzision des Insulinreservoirs die einzige Möglichkeit zum Schutz vor lang anhaltenden hypoglykämischen Zuständen sein. In jedem Fall ist während des Klinikaufenthalts eine Abklärung der Ursachen, eine Optimierung des Glukosestoffwechsels und eine umfangreiche Beratung und Schulung des Patienten vorzunehmen [16].
Therapie
Milde Hypoglykämien erkennt der mit seiner Krankheit vertraute Diabetiker selbst und kann rechtzeitig eine Therapie in Form einer Kohlenhydratzufuhr (Traubenzucker, kohlenhydrathaltige Getränke) durchführen. Eine Problematik ergibt sich bei den mit Insulin oder Sulfonylharnstoffen und gleichzeitig mit Acarbose behandelten Patienten. Durch diese Medikamentenwirkung kommt es zu einer Hemmung der intestinalen, im luminalen Bürstensaum lokalisierten D-Glukosidase und dadurch zur Hemmung der Resorption von Oligosacchariden.
58.5.4
Prognose
Die Prognose ist meist günstig, verschlechtert sich aber bei über 1 h dauernder Bewusstlosigkeit. Bei protrahierter, mehrstündiger Hypoglykämie beträgt die Letalität bis zu 10%. Insgesamt muss davon ausgegangen werden, dass nach wie vor etwa 4–5% der Typ-1-Diabetiker im hypoglykämischen Schock sterben. Dies bedeutet, dass präventiven Maßnahmen (intensive Schulung, adäquate Insulintherapie) größte Bedeutung zukommt.
737 58.7 · Blutglukosekontrolle bei kritisch kranken Patienten mit Hyperglykämie
58.6
Perioperative Betreuung des Diabetikers
58.6.1
Perioperative Risiken und Diagnostik
Diabetische Patienten sind öfter im operativen Krankengut repräsentiert als es ihrer Prävalenz in der Allgemeinbevölkerung entspricht. Sie müssen sich besonders häufig koronaren Bypassoperationen, peripheren Gefäßeingriffen, Nierentransplantationen, Augenoperationen oder Amputationen unterziehen. Die bedeutsame Problematik besteht in der Insulinresistenz als Ausdruck des Postaggressionsstoffwechsels. Durch die Aktivierung der HypophysenNebennieren-Achse, des sympathischen Nervensystems und der Glukagonsekretion entsteht eine zunehmende Insulinresistenz. Der Gesunde, nicht aber der Typ-1-Diabetiker, kann hierauf mit einer gesteigerten endogenen Insulinsekretion reagieren. Dies bedeutet, dass der diabetische Patient durch eine Hyperglykämie, drohende Ketoazidose, Laktatazidose, Katabolie, aber auch Thromboembolien in hohem Maße gefährdet ist. Das insgesamt deutlich erhöhte Operationsrisiko resultiert darüber hinaus aus begleitenden Spätkomplikationen wie Makroangiopathie und Nephropathie. Noch zu sehr unterschätzt ist die Gefahr der kardialen autonomen Neuropathie. Plötzliche Kreislaufstillstände, am ehesten auf dem Boden maligner Herzrhythmusstörungen und stummer Infarkte, kommen gehäuft bei Patienten mit kardialer autonomer Neuropathie vor. Letztendlich sind auch aufgrund der häufig gestörten zellulären Immunantwort die Infektionsrate erhöht und die Wundheilung verzögert.
58.6.2
Präoperative Therapie
In der präoperativen Situation müssen die Blutzuckerwerte optimiert werden, ein Bereich zwischen 120 und 180 mg/dl (6,6– 10 mmol/l) ist anzustreben. Bei diätetisch gut eingestellten Typ2-Diabetikern ist meist keine Änderung der Behandlung erforderlich. Erst bei Ausgangswerten von 180 mg/dl (10 mmol/l) sollte eine zusätzliche Insulintherapie erfolgen (s. unten). Bei kleineren Eingriffen (z. B. Zahnextraktion, Eingriffe in Lokalanästhesie, aber auch ambulante Operationen) können Patienten, die mit Sulfonylharnstoffen behandelt werden, diese Therapie beibehalten. Insulinotrope Substanzen dürfen nicht verabreicht werden, solange der Patient nüchtern bleibt. Wegen der kurzen Halbwertszeit (1,5–4,9 h) reicht es, Biguanide am Abend vor Operationen in Allgemeinanästhesie abzusetzen; für die Empfehlung einer 2-tägigen präoperativen Pause gibt es keine Evidenz. Nach unkompliziertem Verlauf und bei normalen Nierenfunktionsparametern in der Kontrolle kann Metformin 2 Tage nach dem Eingriff wieder eingesetzt werden [10,21]. Für Acarbose gilt, dass die perioperative Gabe dieses Präparats insbesondere für die Dauer der parenteralen Ernährung aufgrund seines Wirkprinzips nicht sinnvoll ist. Erst nach erfolgtem Kostaufbau kann dieses Präparat wieder eingenommen werden.
Praktisches Vorgehen Präoperativ sollte folgendermaßen vorgegangen werden: Bei guter Stoffwechseleinstellung muss eine Insulintherapie erst am Morgen des Operationstags auf i.v.-Zufuhr umgestellt werden. Das Insulin am Vorabend wird regulär subkutan injiziert. Bei kleineren bis mittelschweren Operationen kann die s. c.-Therapie mit ⅔ der Basalinsulindosis am Morgen des Eingriffs fortgeführt werden. Bei noch nicht ausreichender Stoffwechseleinstellung, aber not-
wendiger Operation wird anstelle der Basalinsulingabe am Vorabend eine kontinuierliche Insulininfusion mit etwa 1/20–1/30 der Gesamttageseinheiten/h beginnend durchgeführt. ! Cave Präoperativ ist bei Patienten mit diabetischer Gastroparese noch eine Besonderheit zu beachten: Hier kann als Folge der verzögerten Magenentleerung die übliche präoperative Nahrungskarenz nicht ausreichen, sodass Aspirationsgefahr besteht.
58.6.3
Intraoperative Therapie
Intraoperativ sollte die Blutglukosekonzentration bei allen Patienten mit Diabetes mellitus, die sich größeren oder länger dauernden Operationen unterziehen, gemessen werden. Blutzuckerwerte über 200 (11,2 mmol/l) mg/dl sollten nicht toleriert, sondern mit kleinen Boli Normalinsulin (4–8 IE) behandelt werden. Alternativ kann ein Insulinperfusor eingesetzt werden: Die Infusionsspritze enthält 50 IE Normalinsulin und wird mit isotoner NaCl-Lösung aufgefüllt, sodass 1 ml Lösung 1 IE Normalinsulin enthält. Begonnen wird mit einer Infusionsrate von 0,5–2(– 3) IE/h, je nach Blutzuckerwert. Erfahrungsgemäß ist bei schweren Infektionen, Sepsis oder Glukokortikoidtherapie eine höhere Dosis erforderlich. Neben dem Blutzucker muss auch regelmäßig die Serumkaliumkonzentration überwacht werden, eine Kaliumsubstitution ist häufig erforderlich. Bei längeren Operationen erfolgt eine Therapie mit 5%iger Glukoseinfusionslösung. Die Anwendung einer Infusion aus 500 ml Glukose (5–10%), Insulin (8–16 IE) und Kalium (10 mmol) kann zweckmäßig sein [3].
58.6.4
Postoperative Therapie und Risiken
Eine engmaschige Überwachung, insbesondere von Problempatienten, muss erfolgen, da sich gerade in der postoperativen Phase, bei vorbestehender kardialer Neuropathie, maligne Arrhythmien und Infarkte ereignen können. Weiterhin muss eine allmähliche Reduktion der Flüssigkeitszufuhr stattfinden: an den ersten Tagen sollte sie ca. 2–3 l/Tag betragen. Das größte Problem (und in dieser Phase häufiger als Folge der Insulinresistenz beobachtet) sind die ketoazidotische bzw. auch die hyperosmolare Entgleisung. Daher werden Patienten mit lange bestehendem oder schwer einstellbarem Diabetes mellitus, insbesondere nach großen Operationen, am besten auf einer Intensivstation betreut (7 Abschn. 58.7). Die parenterale Ernährung ist unter adäquater Insulinsubstitution (als Zusatz zur Infusionslösung oder mittels Perfusorspritze im Bypass) durchzuführen. Mit Beginn der regulären Ernährung erfolgt die Wiederaufnahme der oralen Medikation bzw. üblichen Insulintherapie [19].
58.7
Blutglukosekontrolle bei kritisch kranken Patienten mit Hyperglykämie
Hyperglykämie und Insulinresistenz sind häufig bei kritisch kranken Patienten, auch wenn kein Diabetes vorbesteht. Große Beobachtungsstudien beschreiben einen deutlichen Zusammenhang zwischen Hyperglykämie und Mortalität. Deletäre Effekte der Hyperglykämie sind: Hypovolämie, Inflammation mit prokoagulatorischer Situation, Modulation des NO-Metabolismus, oxidativer Stress, potenzielle Glukosetoxizität
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Kapitel 58 · Diabetisches Koma und perioperative Diabetestherapie
im Zusammenhang mit Ischämie und Reperfusion. Insulin wirkt diesen Veränderungen entgegen, antiinflammatorische, vasodilatatorische und endothelprotektive Eigenschaften sind unumstritten [5]. Interventionsstudien der letzten Jahre wiesen unterschiedliche Resultate einer strengen Blutzuckereinstellung bei Intensivpatienten auf, sodass nach anfänglicher Euphorie die Vorteile nun sehr kontrovers diskutiert werden. DIGAMI 1 bei Patienten mit Myokardinfarkt [17] und die erste Leuwen-Studie an kardiochirurgischen Patienten zeigten eine signifikante Senkung der Mortalität (ca. 4% absolut) in der intensiv behandelten Gruppe (Blutzuckerziel 80–110 vs. 180–210 mg/dl) [22]. Bei anderen internistischen Intensivpatienten konnte eine intensive Insulintherapie nicht die Krankenhausmortalität senken, jedoch wurde eine signifikante Reduktion der Morbidität (u. a. Verhinderung eines Nierenversagens, schnellere Entwöhnung von der Beatmung) festgestellt [23]. Bei Patienten mit schwerer Sepsis erbrachte die intensive Insulintherapie keinen Überlebensvorteil und ging häufiger mit schweren Nebenwirkungen (u. a. Hypoglykämien) einher [4]. NICE-SUGAR, eine Multicenterstudie an 6104 internistischen und chirurgischen Intensivpatienten, ergab, dass eine strikte Normoglykämie sogar die Mortalitätsrate erhöht (2,6% absolut nach 90 Tagen). Ob daran die hohe Hypoglykämierate (6,8% vs. 0,5% in der Kontrollgruppe) beteiligt ist, muss noch nachuntersucht werden [18]. Eine aktuelle Metaanalyse schlussfolgert, dass eine Insulintherapie bei kritisch kranken Patienten mit dem Ziel einer Normoglykämie das Hypoglykämierisiko deutlich erhöht und keinen generellen Überlebensvorteil mit sich bringt. Lediglich Patienten auf chirurgischen Intensivstationen könnten davon profitieren [6].
. Tab. 58.9 Insulinperfusorprotokoll. (Mod nach [9] ) Blutglukose
Anweisungen
180 mg/dl (10 mmol/l) sollte bei schwerkranken Patienten unbedingt vermieden werden. 4 Ziel ist eine moderate Blutglukoseeinstellung (130–150 mg/dl bzw. 7–8,5 mmol/l. Wenn sicher eine Normoglykämie (80–110 bzw. 4,5–6,7) ereicht werden kann, scheint dies bei kardiochirurgischen Patienten von Nutzen zu sein. 4 Das Therapiekonzept ist am besten über eine glukosespiegelgesteuerte kontinuierliche intravenöse Insulin-Infusion umsetzbar, um gefährliche Hypoglykämien zu vermeiden.
Nach Stabilisierung der Situation, ggf. vor Verlegung auf Normalstation, kann eine Umstellung auf eine subkutane Insulintherapie vorgenommen werden. 2–3 h Fortführung der Perfusortherapie nach Injektion der ersten Dosis Basalinsulin ist sinnvoll, um Insulinlücken zu vermeiden.
s.c. Basis-Bolus-Therapie
Auf Intensivstationen werden verschiedenste, häufig klinikintern entwickelte Insulinperfusorprotokolle benutzt. Es sollten dynamische Dosierskalen verwendet werden, um die Änderung des Blutzuckers bezogen auf das Zeitintervall in die Dosisanpassung des i.v. verabreichten Normalinsulins (HWZ 5–9 min) einzubeziehen. Unabdingbar zur Vermeidung von Hypoglykämien ist ein stündliches Blutzuckermessintervall. Nur bei 2 aufeinanderfolgenden Mesungen mit Werten im Zielbereich kann das Intervall auf 2 h verlängert werden. Voraussetzung ist eine konstante Substratzufuhr. Ein Beispielprotokoll, modifiziert nach den aktuellen Zielwerten, wird hier vorgestellt (. Tab. 58.9; [9]). In Abhängigkeit vom Ausmaß der Insulinresistenz (Zunahme durch Katecholamine, Steroide, Adipositas, Sepsis u. a.) kann die benötigte Insulindosis erheblich variieren.
Für die s.c. Basis-Bolus-Therapie multipliziert man die durchschnittliche stündliche Perfusorrate der letzten 3–4 h×24 und erhält damit den Gesamttagesinsulinbedarf. Dieser wird dann zu 50% als basales Insulin und zu 50% als prandiales Insulin appliziert. Das prandiale Insulin wird in einem Verhältnis von 3:1:2 auf die Hauptmahlzeiten verteilt.
Literatur 1 2
3
Adrogue HJ, Wilson H, Boyd AE et al. (1982) Plasma acid-base patterns in diabetic ketoacidosis. N Engl J Med 307: 1603–1610 Althoff PH, Usadel KH, Mehnert H (2001) Akute Komplikationen des Diabetes mellitus. In: Mehnert H, Standl E, Usadel KH (Hrsg) Diabetologie in Klinik und Praxis. Thieme, Stuttgart, S 289–333 Bowen DJ, Nancekievill HL, Proctor EA, Norman WJ (1992) Perioperative management of insulin-dependent diabetic patients: use of a continuous intravenous infusion of insulin-glucose-potassium. Anaesthesia 37: 852–864
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741
Endokrine Störungen beim Intensivpatienten R. Büttner, R. Gärtner
59.1
Einleitung – 742
59.2
Thyreotrope Achse und primäre Störungen der Schilddrüsenfunktion – 742
59.2.1 59.2.2 59.2.3
Nieder-T3-Syndrom (»euthyroid sick syndrome«; NTIS) – 742 Thyreotoxische Krise – 743 Myxödemkoma – 744
59.3
Adrenokortikotrope Achse und primäre Störungen der Nebennierenfunktion – 746
59.3.1 59.3.2 59.3.3
Relative Nebenniereninsuffizienz – 746 Primäre Nebenniereninsuffizienz: Addison-Krise – 747 Phäochromozytomkrise – 748
59.4
Somatotrope Achse – 749
59.4.1
Somatotrope Dysregulation des Intensivpatienten – 749
59.5
Gonadotrope und laktotrope Achse – 749
59.5.1
Dysregulation der Reproduktionsachsen des Intensivpatienten – 749
Literatur – 750
H. Burchardi et al. (Hrsg.), Die Intensivmedizin, DOI 10.1007/978-3-642-16929-8_5 9, © Springer Medizin Verlag Berlin Heidelberg 2011,
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742
59 59 59 59 59 59 59 59 59 59 59 59 59
59.1
Kapitel 59 · Endokrine Störungen beim Intensivpatienten
Einleitung
Die Mehrzahl der kritisch kranken Patienten profitiert in relativ kurzer Zeit von den heutigen Möglichkeiten der Intensivmedizin und kann innerhalb von einigen Tagen in die allgemeinstationäre Therapie überführt werden. Andererseits entwickeln sich in einem erheblichen Prozentsatz Verläufe mit einer komplexen Dysregulation des gesamten Organismus und einer Beeinträchtigung mehrerer Organsysteme, die von der zugrundeliegenden Noxe unabhängig sein können. Während Störungen z. B. der kardialen, pulmonalen oder der Nierenfunktion augenfällig sind, entwickeln sich ebenso häufig auch Imbalancen der endokrinen Regelkreisläufe, deren therapeutische Konsequenz schwerer abzuschätzen ist und die klinisch häufig weniger beachtet werden. Die hypothalamisch-hypophysär-peripheren Hormonachsen werden bei kritisch Erkrankten oft gleichsinnig verändert: Nach einer initialen Aktivierung der zentralen Signalwege mit gleichzeitiger peripherer Hormonresistenz zeigt sich im Verlauf eine zentrale Herunterregulation, deren Schweregrad häufig mit der Mortalität korreliert. Andererseits können primär endokrinologische Erkrankungen bei schweren Verläufen selbst mit der Notwendigkeit einer intensivmedizinischen Therapie einhergehen: Typische Beispiele hierfür sind die thyreotoxische Krise, die Phäochromozytomkrise oder die sog. Addison-Krise. Diese Erkrankungen sind bei adäquater Diagnose und Therapie in aller Regel gut zu behandeln. Die klinisch wichtigen hormonellen Dysregulationen und die die Intensivmedizin betreffenden primär endokrinen Störungen werden in diesem Kapitel, gegliedert nach der jeweils betroffenen endokrinen Achse, dargestellt. Primäre und sekundäre Störungen der Glukosehomöostase und die diabetischen Komata werden in 7 Kap. 58 beschrieben.
59
59.2
Thyreotrope Achse und primäre Störungen der Schilddrüsenfunktion
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59.2.1
Nieder-T3-Syndrom (»euthyroid sick syndrome«; NTIS)
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Die typischen Veränderungen der Schilddrüsenhormonwerte bei schwerer Erkrankung werden im deutschen Sprachraum als Nieder-T3-Syndrom bezeichnet; als Synonyme gelten »euthyroid sick syndrome» (ESS) oder »non-thyroidal illness syndrome» (NTIS) [1]. Bei jedem katabolen Zustand fallen regelhaft innerhalb weniger Stunden zunächst nur die Triiodthyronin (T3)-Serumspiegel, in Abhängigkeit von der Schwere der Erkrankung dann auch die basalen TSH- und in der Folge die Thyroxin (T4)-Spiegel ab. Stirbt der Patient an seiner Erkrankung, so sind alle Schilddrüsenfunktionsparameter niedrig bis nicht mehr messbar. Erholt sich der Patient, so steigen die TSH-Werte als erstes wieder an, können sogar vorübergehend im hypothyreoten Bereich (>4 μU/ml) liegen. Bei schwerkranken, schilddrüsengesunden Patienten ergibt sich im Verlauf die Laborkonstellation einer transienten sekundären Hypothyreose, wobei die Patienten aber nach klinischen Kriterien euthyreot sind (. Abb. 59.1). Diese typischen Veränderungen der Schilddrüsenwerte können als prognostischer Index der Schwere der Erkrankungen verwendet werden. Die TSH-Spiegel korrelieren invers mit dem APACHE-II-Score [2]. Dieser typische Verlauf gilt nicht nur für schwer erkrankte Schilddrüsengesunde, sondern auch für Patienten mit einer primären Funktionsstörung: Erhöhte Schilddrüsenhormone bei Hyperthyreose fallen ab, ebenso wie das erhöhte TSH bei Hypothyreose.
. Abb. 59.1 Typischer Verlauf der Schilddrüsenhormonparameter Triiodthyronin (T3), Thyroxin (T4) und Thyreotropin (TSH) während einer schweren Allgemeinerkrankung und in der Rekonvaleszenzphase. Die Mortalität ist umgekehrt proportional zum Verlauf der Schilddrüsenfunktionsparameter
> Dies bedeutet, dass bei Intensivpatienten die Schilddrüsenparameter in Abhängigkeit von der Schwere der Erkrankung interpretiert werden müssen [3, 4].
Ätiologie Zytokine und Kortisol hemmen die 5´-Deiodase-Aktivität, die 5-Deiodase-Aktivität wird hingegen erhöht. Dadurch wird Thyroxin (T4) weniger zum stoffwechselaktiven T3, sondern zum stoffwechselinaktiven reversen T3 (rT3) abgebaut [5]. Da die Deiodasen Selenproteine sind und Selen bei Schwerkranken erniedrigt ist, wurde spekuliert, dass eine geringere Selenverfügbarkeit ursächlich für eine geringere Deiodaseaktivität verantwortlich sein könnte, was sich aber nicht bestätigt hat [1]. Inhibitoren der Schilddrüsenhormonbindung an die Transportproteine im Serum wie z. B. freie Fettsäuren oder Medikamente wie Furosemid oder Barbiturate können mit zu der T3-Erniedrigung beitragen [1, 3]. Zytokine, v. a. TNF-D und IL-6, aber auch Kortisol und Somatostatin, die meist bei schwerer Allgemeinerkrankung erhöht sind, hemmen die TSH-Sekretion aus der Hypophyse und konsekutiv die verminderte T4-Sekretion [6].
Diagnostik > Die Bestimmung des basalen TSH gilt üblicherweise als der zentrale Parameter zum Ausschluss einer Funktionsstörung. Da aber alle Intensivpatienten, je nach Schweregrad der Erkrankung, ein erniedrigtes TSH haben, müssen immer auch die peripheren Schilddrüsenhormone und die Klinik mit eingeschlossen werden.
Zusätzlich kann der TRH-Test durchgeführt werden, wenn es darum geht, eine Hyperthyreose bei Schwerkranken zu bestätigen [7]: Bei supprimiertem TSH infolge eines NTIS ist TSH durch TRH stimulierbar, nicht aber bei einer Hyperthyreose. Inadäquat zur Schwere der Erkrankung erhöhte periphere Schilddrüsenhormone, die aber durchaus noch im Normalbereich liegen können, deuten bei supprimiertem TSH auf eine Hyperthyreose hin; ein inadäquat zur Schwere der Erkrankung erhöhtes TSH, das ebenfalls noch im oberen Normbereich liegen kann, bei peripher erniedrigten Schilddrüsenhormonwerten auf eine Hypothyreose. Die typischen Symptome einer Hypo- bzw. Hyperthyreose sind somit führend in der Diagnostik einer ‒ zusätzlich zu einer anderen Erkrankung bestehenden ‒ Schilddrüsenfunktionsstörung. Die Re-
743 59.2 · Thyreotrope Achse und primäre Störungen der Schilddrüsenfunktion
ferenzwerte auch für Funktionsstörungen treffen also bei Schwerkranken nur bedingt zu und müssen immer unter Berücksichtigung der Klinik und der verabreichten Medikamente interpretiert werden [4, 6, 7]
mine den Übergang von der Hyperthyreose zur Krise begünstigen. Insbesondere die zentralnervösen Symptome werden verstärkt: psychomotorische Unruhe, Tremor, Agitiertheit gehen über in einen Stupor, begleitet von Schluckstörungen, und enden in Koma und Tod, falls die Erkrankung nicht adäquat behandelt wird.
Therapie Das NTIS wird als normale Reaktion des Organismus auf eine schwere Erkrankung aufgefasst. Eine Schilddrüsenhormonsubstitution ist nicht sinnvoll, wie klinische Studien gezeigt haben. Eine Ausnahme stellen kardiochirurgische Patienten, insbesondere Kinder dar, bei denen gezeigt werden konnte, dass eine postoperative Schilddrüsenhormonsubstitution den Katecholaminbedarf signifikant reduzieren kann [4].
59.2.2
Thyreotoxische Krise
Eine Hyperthyreose tritt bei etwa 3% aller Frauen und 0,3% der Männer auf und wird heute durch die verbesserten diagnostischen Möglichkeiten früher erkannt und behandelt. Dagegen sind thyreotoxische Krisen eher selten; etwa 30‒50 thyreotoxische Krisen werden in Deutschland pro Jahr diagnostiziert. Da thyreotoxische Krisen aber wegen der Schwierigkeit der Diagnosestellung übersehen werden können, ist von einer eher höheren Inzidenz auszugehen. Eine nicht adäquat behandelte thyreotoxische Krise ist mit einer Mortalität von über 50% innerhalb weniger Stunden bis Tage behaftet, Gleiches gilt für das Myxödemkoma. Bei richtiger Behandlung sollte die Mortalität jedoch unter 10% liegen [3].
Ätiologie Voraussetzung für die Entwicklung einer thyreotoxischen Krise ist immer eine länger bestehende, nicht erkannte bzw. nicht behandelte Hyperthyreose. Da gerade bei älteren Patienten eine Hyperthyreose oft monosymptomatisch verläuft, kann sie übersehen werden. Auslöser einer Krise ist nicht die Schilddrüsenhormonwirkung allein. > Die Menge an zirkulierendem Schilddrüsenhormon ist nicht verantwortlich für die Auslösung einer Krise. Patienten mit einer thyreotoxischen Krise weisen keine höheren Schilddrüsenhormonwerte auf als solche mit einer unkompliziert verlaufenden Hyperthyreose. Auslöser einer thyreotoxischen Krise sind vielmehr zusätzliche Stresssituationen, z. B. Unfall, Operation, Infektion, kardiovaskuläres Ereignis oder psychische Belastung und Stress. Diese zusätzlichen Erkrankungen, die ähnliche Symptome wie die Hyperthyreose selbst hervorrufen können, erschweren oft die Diagnose. ! Cave Da gerade in Deutschland infolge des Iodmangels Knotenstrumen mit autonomer Funktion sehr häufig sind – etwa 20–30 % aller über 70-Jährigen mit Struma weisen eine Schilddrüsenautonomie auf –, kann durch die Applikation iodhaltiger Kontrastmittel vor oder während einer anderen Erkrankung eine Hyperthyreose ausgelöst werden, die dann zusammen mit der zugrunde liegenden Erkrankung zur thyreotoxischen Krise führt.
Diagnostik Die Diagnose muss ausschließlich nach klinischen Kriterien gestellt werden. Klinische Symptome, die an eine thyreotoxische Krise differenzialdiagnostisch denken lassen sollten, sind: 4 hyperdynames Herzversagen, 4 Fieber mit inadäquater Tachykardie, 4 unklares septisches Krankheitsbild, 4 unklare gastrointestinale Symptome (Übelkeit, Erbrechen, Diarrhö, Ikterus), 4 zentralnervöse Symptome, von psychomotorischer Unruhe, Agitiertheit, Tremor bis hin zu Apathie und Koma. z Anamnese Aus der Anamnese lassen sich möglicherweise Anhaltspunkte für eine länger bestehende Hyperthyreose erfragen, z. B. Wärmeintoleranz, Gewichtsabnahme, Diarrhöneigung, Verschlechterung einer vorbestehenden Herzinsuffizienz, neu aufgetretenes Vorhofflimmern, Muskelschwäche, Schlaflosigkeit. Kontrastmittelexposition oder die Anwendung iodhaltiger Medikamente (z. B. Amiodaron, Betaisodona). z Untersuchungsbefund Die typischen Zeichen einer schweren Hyperthyreose gehen über in die Leitsymptome einer thyreotoxischen Krise. Diese können alle gemeinsam, aber auch nur teilweise vorliegen.
Leitsymptome einer thyreotoxischen Krise 4 Allgemeinsymptome – warme, gut durchblutete Haut, die – je nach Hydrierungszustand – feucht oder trocken sein kann, Fieber >38,5°C mit inadäquater Tachykardie 4 Schilddrüsenspezifisch – diffus vergrößerte, schwirrende Struma mit oder ohne endokrine Orbitopathie oder nodöse Struma 4 Kardiovaskulär – Sinustachykardie mit verkürzter QT-Zeit oder tachykardes Vorhofflimmern – Zeichen der Rechtsherzdekompensation mit oberer Einflussstauung, Beinödemen, Hepatomegalie, Aszites, seltener Linksherzdekompensation – hohe Blutdruckamplitude 4 Gastrointestinal – gesteigerte Darmmotilität, Diarrhö, subakutes Abdomen 4 Neuromuskulär – psychomotorische Unruhe, Agitiertheit, wechselnd mit Adynamie, Somnolenz und Koma – Pseudobulbärparalyse mit Schluckstörung – verkürzte ASR-Relaxationszeit – ausgeprägte myasthenische Muskelschwäche
Pathogenese Die pathophysiologischen Mechanismen, die zur Auslösung einer Krise führen, können bislang nur teilweise erklärt werden. Schilddrüsenhormone erhöhen u. a. die Expression von β1-adrenergen Rezeptoren [8, 9]. Es kann somit angenommen werden, dass zusätzliche Stressreaktionen und damit eine Erhöhung der Katechola-
z Laborkonstellation Es gibt keine typische Laborkonstellation für eine thyreotoxische Krise. Das basale TSH ist immer supprimiert, die freien Schilddrüsenhormone sind vergleichbar mit denen einer unkompliziert
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Kapitel 59 · Endokrine Störungen beim Intensivpatienten
verlaufenden Hyperthyreose. Sie können sogar, je nach Schwere des Krankheitsbilds oder einer anderen zusätzlichen, möglicherweise die Krise auslösenden Erkrankung im Normbereich liegen.
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> Wichtig ist es daran zu denken, dass diese Patienten, wie alle Schwerkranken, auch ein NTIS aufweisen können!
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Erhöhte Leberwerte einschließlich Bilirubin sind prognostisch ungünstig. Sie können direkte Folge der Schilddrüsenhormonwirkung auf die Leber sein, aber auch Folge einer Rechtsherzdekompensation. Vorwiegend bei jüngeren Patienten kann auch das Serumkalzium erhöht sein, verursacht durch einen gesteigerten Knochenabbau. Die Leukozyten sind meist eher niedrig normal, und es findet sich eine Mikrozytose mit grenzwertig niedrigem Hämoglobin oder eine mikrozytäre Anämie.
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Therapie
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Jeder Patient mit Verdacht auf eine thyreotoxische Krise muss intensivmedizinisch betreut werden [3]. Die kontinuierliche HerzKreislauf- und Lungenfunktionsüberwachung sowie das neurologische Monitoring sind wichtig, weil sich der Zustand des Patienten innerhalb von wenigen Stunden dramatisch ändern kann. Therapeutisch stehen neben den supportiven Maßnahmen die Hemmung der Schilddrüsenhormonwirkung und -freisetzung im Vordergrund (7 Übersicht). z Hemmung der Hormonwirkung Die Schilddrüsenhormonwirkung wird am schnellsten durch β-Blocker gehemmt. Auch bei kardial dekompensierten Patienten steht diese β-Blockade an erster Stelle der Therapie, da der adrenerge Stimulus Ursache der kardialen Dekompensation ist. Für Propranolol ist belegt, dass es zusätzlich die periphere Konversion von T4 zu T3, hemmt. Da nur T3, nicht aber T4 stoffwechselaktiv ist, ist diese periphere Konversionshemmung therapeutisch sinnvoll. Für andere, β1-selektive Blocker ist diese zusätzliche, schilddrüsenspezifische Wirkung nicht nachgewiesen worden. Alternativ zum Propranolol kann aber Esmolol oder Atenolol verwendet werden, wenn diese zusätzliche Wirkung nicht als notwendig erachtet wird. L-Carnitin blockiert die Bindung von T3 an den Kernrezeptor und kann so sehr effizient und nebenwirkungsfrei die Hormonwirkung blockieren. Insbesondere bei hoher Iodkontamination kann dies zusätzlich eingesetzt werden, in Dosen zwischen 2 g und 4 g oral pro Tag. Es ist für diese Indikation zwar nicht zugelassen, in neueren Studien ist die Wirksamkeit aber belegt [10]. z Hemmung der Hormonfreisetzung Die Schilddrüsenhormonfreisetzung wird am besten durch Thiamazol (Methimazol, Favistan) i.v. oder, wenn eine orale Applikation noch möglich ist, durch Propylthiouracil (Thyreostat) gehemmt. Da die meisten Patienten mit einer thyreotoxischen Krise mit Iod kontaminiert sind und die antithyreoidalen Medikamente kompetitiv zum Iod wirken, müssen diese Substanzen hochdosiert eingesetzt werden. Dem Propylthiouracil kommt hierbei eine zusätzliche Bedeutung zu, da es auch die periphere Konversion von T4 zu T3 hemmt und diese Konversionshemmung unabhängig von Iod ist. Glukokortikoide hemmen ebenfalls die periphere Konversion von T4 zu T3, und es ist daher sinnvoll, diese bei schweren Fällen zu geben. Die häufig diskutierte sog. relative Nebenniereninsuffizienz bzw. ein Glukokortikoidmangel sind immer zu belegen, aber in der Krisensituation ist eine Substitution mit 200–300 mg Hydrokortison/Tag möglicherweise sinnvoll (7 unten).
z Weitere Therapiemaßnahmen Die schnellste und effektivste Möglichkeit, die Schilddrüsenhormonsekretion zu hemmen, ist die möglichst frühzeitige Thyreoidektomie. Die früher häufig angewandten Plasmapherese oder Aktivkohle-Hämoperfusion zur Senkung der Schilddrüsenhormonspiegel sind schlechtere Alternativen, da sie wenig effektiv sind – die Schilddrüsenhormonspiegel sind ja nicht exzessiv erhöht – und zusätzliche Komplikationen (Thrombozytenabfall, Volumenverschiebung, Kreislaufbelastung) hervorrufen können [3,4,8].
Behandlung der thyreotoxischen Krise 1.
2.
3.
Supportive Maßnahmen: – hochkalorische parenterale Ernährung – Kreislauf- und Lungenfunktionsüberwachung – evtl. frühzeitige Beatmung, v.a. bei beginnenden zentralnervösen Symptomen mit Schluckstörung und Koma, und/oder bei Lungenstauung – Sedierung (Promethazin 2-mal 25 mg oder Benzodiazepine) Blockade der Schilddrüsenhormonwirkung: – Propranolol 1 mg bis maximal 10 mg i.v./Tag oder – Propranolol 3- bis 4-mal 40–80 mg p.o./Tag alternativ – Esmolol 0,5 mg/kg KG Bolus über 2–3 min, dann 50–200 μg/kg KG/min über Perfusor oder – Metoprolol 100–400 mg p. o./Tag – Prednisolon 100–250 mg/Tag – L-Carnitin 2–4 g p.o./Tag (insbesondere bei Amiodaron-induzierter Thyreotoxikose) Blockade der Schilddrüsenhormonbildung: – Thiamazol (Favistan) 3-mal 40 mg i.v. oder – Propylthiouracil (Thyreostat) 4- bis 6-mal 50 mg p. o. – frühzeitige Thyreoidektomie
Die Mortalität der thyreotoxischen Krise sollte heute bei entsprechender Behandlung unter 10 % liegen. Nicht die Therapie ist die Schwierigkeit, sondern vielmehr die rechtzeitige Diagnosestellung und damit der frühzeitige Behandlungsbeginn.
59.2.3
Myxödemkoma
Das Myxödemkoma tritt bei Patienten mit lange unerkannter Hypothyreose auf. Die Diagnose lässt sich nur klinisch stellen, es gibt hierfür keine typische Laborkonstellation, d. h. sie ist nicht unterschiedlich zu der einer unkomplizierten Hypothyreose. Auslöser ist meist eine zusätzliche Erkrankung wie Infektion, Trauma, Operation oder Stress [11].
Ätiologie und Pathophysiologie Häufigste Ursache einer Hypothyreose ist entweder eine Autoimmun-(Hashimoto)-Thyreoiditis, eine Strahlenthyreoiditis nach externer Radiatio oder nach ablativer Therapie mittels Radioiod oder Operation. Etwa 5 % der Patienten mit Hypothyreose weisen eine sekundäre Hypothyreose infolge einer Hypophyseninsuffizienz auf. Hierbei wird die Symptomatik der Hypothyreose durch die meist begleitende Nebenniereninsuffizienz sowie einen hypogonadotropen Hypogonadismus überlagert. Aber auch bei einer autoimmun bedingten Hypothyreose muss an das gleichzeitige Vorliegen einer anderen organspezifischen Autoimmunerkrankung wie die primäre Nebennierenrindeninsuffizienz (M. Addison) gedacht werden.
745 59.2 · Thyreotrope Achse und primäre Störungen der Schilddrüsenfunktion
Eine Hypothyreose auf dem Boden einer Hashimoto-Thyreoiditis entwickelt sich nahezu immer sehr langsam, oft über Jahre oder Jahrzehnte und kann daher subjektiv unbemerkt zu einer verspäteten Diagnose führen. Durch die verbesserte Diagnostik und die routinemäßige TSH-Kontrolle ist das Vollbild der Erkrankung seltener geworden [10]. Das klinische Erscheinungsbild eines Myxödemkomas unterscheidet sich von einer schweren Hypothyreose durch die zusätzlichen zentralnervösen Störungen, deren pathophysiologische Grundlage nach wie vor unklar ist. Zusätzliche Stressfaktoren, wie z. B. Infektion, Trauma oder Operation, scheinen mitverantwortlich für ein Myxödemkoma zu sein.
Diagnostik Die Leitsymptome des Myxödemkomas sind Hypothermie, Hypoventilation, Bradykardie und Koma. Diese Symptome sind nicht pathognomonisch, können auch z. B. bei Barbituratintoxikation oder Hirnstammläsionen führend sein. Es muss bei diesen Symptomen aber differenzialdiagnostisch immer auch an ein Myxödemkoma gedacht werden. z Anamnese Vorangegangene Schilddrüsenoperation, Strahlentherapie unter Einbeziehung des Halsbereiches, Radioiodtherapie oder das unerklärte Absetzen einer Schilddrüsenhormonsubstitution sind evtl. fremdanamnestisch zu erfragen. Vorangegangene Hypophysenoperation oder -bestrahlung, Blasser-werden der Haut oder weniger Bräunung durch Sonneneinwirkung können Zeichen einer Hypophysenvorderlappeninsuffizienz mit sekundärer Hypothyreose sein. Eine sich langsam entwickelnde Lethargie, Antriebslosigkeit, Gewichtzunahme, Obstipation und Kälteintoleranz können ebenfalls häufig erfragt werden.
– Vergesslichkeit bis Amnesie, Lethargie und schließlich Koma – Kleinhirnsymptome wie Ataxie und Adiadochokinese – Epilepsie
z Laborkonstellation Im Fall einer primären Hypothyreose ist das basale TSH erhöht bei vermindertem freiem T4 (fT4) oder T4-Index. Man muss berücksichtigen, dass im Rahmen des NTIS das basale TSH erniedrigt ist, sodass es im Fall eines Myxödemkomas zwar inadäquat erhöht ist, aber nicht so hoch sein muss, wie man dies bei einer schweren Hypothyreose erwarten würde. Auch ist an die selteneren Fälle einer sekundären Hypothyreose zu denken. Die Diagnose kann sich also nicht allein auf die typischen Schilddrüsenparameter stützen. Zusätzliche typische, aber unspezifische Laborparameter bei schwerer Hypothyreose sind: 4 Hyponatriämie, 4 erhöhte LDH- und CK-Werte [11].
Therapie Die Therapie des Myxödemkomas umfasst – neben dem Ausgleich des Schilddrüsenhormonmangels – die Behandlung der Hypoventilation und Hyperkapnie durch maschinelle Beatmung, den Ausgleich der Hyponatriämie und Hypoglykämie sowie die Behandlung der Hypothermie und Hypotension [7]. Das therapeutische Vorgehen bei Myxödemkoma ist in der Übersicht zusammengestellt.
Behandlung des Myxödemkomas
z Untersuchungsbefund Die üblichen Symptome der schweren Hypothyreose als zugrunde liegende Erkrankung findet man regelhaft bei Patienten mit Myxödemkoma. Befunde und klinisches Bild sind in der Übersicht dargestellt.
Befunde beim Myxödemkoma 4 Allgemeinsymptome: – trockene, raue und kühle Haut, struppige Haare, aufgedunsenes Gesicht, große Zunge und raue Stimme – Hypothermie ( Wie bei den meisten metabolischen Krisen ist nicht die Therapie selbst, sondern die rechtzeitige Diagnosestellung und Einbeziehung einer metabolischen Krise in die differenzialdiagnostischen Überlegungen der wichtigste Schritt [4, 11].
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59.3
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Adrenokortikotrope Achse und primäre Störungen der Nebennierenfunktion
Primäre und sekundäre Störungen der Nebennierenfunktion sind intensivmedizinisch von Bedeutung, da die Nebennierenrinde die lebenswichtigen Steroidhormone Kortisol und Aldosteron produziert. 4 Kortisol aus der Zona fasciculata ist eines der wichtigsten Stresshormone des Körpers. Neben der Bereitstellung von Glukose als Energiesubstrat für Gehirn und periphere Gewebe reguliert es u. a. auch die Katecholaminempfindlichkeit des Gefäßsystems mit und ist so für den Erhalt des Kreislaufs nötig; in hohen Dosen wirkt Kortisol bekanntermaßen immunsuppressiv. Die adrenale Kortisolproduktion wird durch das adrenokortikotrope Hormon (ACTH) aus dem Hypophysenvorderlappen und dieses wiederum durch das hypothalamisch sezernierte CRH (»corticotropine releasing hormone«) gesteuert. 4 Aldosteron aus der Zona glomerulosa ist ein wichtiger Regulator des Flüssigkeits- und Elektrolythaushalts. Durch transkriptionelle Regulation verschiedener renaler Transportproteine in den Hauptzellen des distalen Nephrons bewirkt es eine Rückresorption von Wasser und Natrium sowie eine Sekretion von Kalium und Protonen. Die Aldosteronsekretion wird durch das Renin-Angiotensin-System reguliert, das v. a. durch eine herabgesetzte renale Perfusion sowie eine Hyponatriämie aktiviert wird.
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Das Nebennierenmark ist entwicklungsgeschichtlich ein Teil des sympathischen Nervensystems und produziert im Wesentlichen die Katecholamine Adrenalin und Noradrenalin. Diese entfalten über unterschiedliche Adrenorezeptoren multiple Wirkungen, die kurz zusammengefasst in lebensbedrohlichen Stresssituationen eine Stimulation des Herz-Kreislauf-Systems und der Atemfunktion bewirken. Im Folgenden werden die hypophysär-hypothalamische Nebennierenrindeninsuffizienz des Intensivpatienten, die primäre Nebennierenrindeninsuffizienz und die intensivmedizinisch wichtige Phäochromozytomkrise als Erkrankung des Nebennierenmarks besprochen.
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59.3.1
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Ätiologie, Pathophysiologie und Diagnostik
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Relative Nebenniereninsuffizienz
Kortisol (= Hydrokortison) wird beim Gesunden mit einer charakteristischen Tagesrhythmik mit einem Höhepunkt am Morgen und am frühen Abend sezerniert. Unter der Kontrolle von ACTH steigert die Nebennierenrinde in akuten Stresssituationen die Kortisolsekretion, gleichzeitig nimmt der Anteil an freiem Kortisol durch eine Abnahme der Konzentration an kortisolbindendem Globulin zu. Diese physiologische Stressreaktion der adrenokortikotropen Achse ist bei vielen akut erkrankten Patienten eingeschränkt, sodass relativ zum gesteigerten Bedarf zu wenig freies Kortisol vorliegt. Dies kann zu einer therapierefraktäre Hypotonie und Stoffwechselentgleisungen (Neigung zur Hypoglykämie) beitragen.
Diagnostische Kriterien für die sog. relative Nebenniereninsuffizienz des kritisch Kranken [12] 4 ein basaler Kortisolspiegel von Derzeit ist eine Wachstumshormontherapie bei Intensivpatienten in der katabolen Phase außerhalb von Studien nur in gut begründeten und dokumentierten Einzelfällen im Rahmen eines Heilversuchs denkbar.
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Gonadotrope und laktotrope Achse
59.5.1
Dysregulation der Reproduktionsachsen des Intensivpatienten
Ätiologie und Pathophysiologie
Ätiologie und Pathophysiologie Wachstumshormon (»growth hormone«; GH) ist der wichtigste Regulator des Wachstums im Kindesalter, spielt aber auch im Erwachsenenalter eine wichtige Rolle für die Homöostase verschiedener Körperfunktionen wie z. B. 4 den Lipidstoffwechsel, 4 den Muskelaufbau, 4 den psychischen Affekt. GH wird im Hypophysenvorderlappen gebildet und pulsatil mit einer deutlichen zirkadianen Rhythmik unter der Kontrolle des hypothalamischen GH-RH (»growth hormone releasing hormone«) ausgeschüttet. Die anabolen GH-Effekte werden im Wesentlichen indirekt durch das in der Leber synthetisierte IGF-1 (»insulin-like growth factor 1«) vermittelt, dessen biologische Wirkung wiederum durch die Bindung an ebenfalls hepatisch gebildete IGF-Bindungsproteine gesteuert wird. Beim kritisch kranken Patienten zeigt sich in den ersten Stunden bis Tagen eine periphere GH-Resistenz bei hohen systemischen
Das hypothalamische »gonadotropine releasing hormone« (GnRH) stimuliert physiologischerweise die hypophysäre Produktion der Gonadotropine LH (luteinisierendes Hormon) und FSH (follikelstimulierendes Hormon), die die Bildung der Geschlechtshormone aus den primären Geschlechtsorganen Ovar und Hoden, aber auch aus den Nebennieren regulieren. Die Geschlechtshormone steuern primär die Reproduktionsfunktion. Testosteron ist bei beiden Geschlechtern darüber hinaus ein anaboles Hormon, das z. B. für den Muskelaufbau und die Blutbildung eine große Bedeutung hat. Das laktotrope Hormon Prolaktin gilt als Stresshormon mit immunmodulierender Wirkung. Bei kritisch kranken Patienten zeigt sich – ähnlich wie bei den anderen hypothalamisch-hypophysären Achsen – initial eine Stressreaktion mit erhöhter hypophysärer Sekretion der Gonadotropine und des Prolaktins. Im Verlauf ergibt sich aber innerhalb einiger Tage eine Umkehr hin zu erniedrigten LH- und Prolaktinspiegeln, wobei Letztere auch pharmakologisch deutlich beeinflusst werden (z. B. Erhöhung durch Neuroleptika, Metoclopramid, trizyklische Antidepressiva, Verapamil; Erniedrigung durch Dopamin). Auch die peripheren Geschlechtshormonspiegel sind bei kritisch Erkrankten deutlich verändert. Das zirkulierende Testosteron ist bei Männern regelhaft von Beginn der intensivpflichtigen Er-
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750
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krankung an deutlich erniedrigt [23], während bei älteren Frauen mit septischem Schock ein erhöhtes Testosteron mit gesteigerter Sterblichkeit assoziiert war [24]. Bei beiden Geschlechtern ist eine Erhöhung von Serumestradiol und -17-Hydroxyestradiol als Ausdruck einer vermehrten peripheren Aromatisierung beschrieben worden, die – unabhängig vom Geschlecht – sowohl bei internistischen als auch chirurgischen Intensivpatienten mit der Mortalität korrelierte [24, 25]. Diese Dysregulationen werden multifaktoriell erklärt. Da die pharmakologische Gabe von GnRH die beschriebenen Störungen der Geschlechtshormonspiegel nur unvollständig bessert, wird neben einer zentralen Regulationsstörung auch eine verminderte periphere Geschlechtshormonsekretion vermutet [26]. Zudem tragen ein veränderter Hormonmetabolismus, z. B. durch erhöhte Entzündungsmediatoren, und die vermehrte Stimulation der Nebennierenrinde in Stresssituationen mit einer vermehrten adrenalen Steroidogenese, bei.
Therapeutische Aspekte Die Herunterregulation der gonadotropen Achse wird inzwischen als Versuch des Körpers gesehen, den anabolen Metabolismus und die Reproduktion bei einer lebensbedrohlichen Krankheit zu drosseln und Substrate zu sparen. Ob eine pharmakologische Testosteronsubstitution in der akuten oder chronischen Phase einer kritischen Erkrankung für die Verhinderung eines überschießenden Katabolismus sinnvoll ist, ist in Studien bislang nicht zureichend untersucht. Auch ist der prinzipiell vorstellbare Nutzen einer Hemmung der peripheren Aromatase, die erhöhte (17-Hydroxy-)Estradiolspiegel senken könnte, noch nicht belegt. Ähnlich gilt, dass zwar eine gewisse kausale Bedeutung des niedrigen Prolaktinspiegels in der chronischen Phase einer kritischen Erkrankung für die pathologische Immunsuppression vermutet wird, aber derzeit kein Nachweis für den Nutzen einer therapeutischen Intervention – z. B. durch gezielte Reduktion von Medikamenten, die den Prolaktinspiegel beeinflussen – besteht. > Die therapeutische Beeinflussung der Dysregulation der gonadotropen und laktotropen Achse beim kritisch kranken Patienten kann derzeit außerhalb von Studien nicht empfohlen werden.
Literatur 1 2 3
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4
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5
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6 7
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Kapitel 59 · Endokrine Störungen beim Intensivpatienten
8 9
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751
Säure-Basen Status K. Hofmann-Kiefer, P. Conzen, M. Rehm
60.1
Einleitung – 752
60.2
Physiologische Grundlagen – 752
60.2.1 60.2.2
Definitionen – 752 Puffersysteme – 752
60.3
Pathophysiologie des Säure-Basen-Haushalts – 754
60.3.1 60.3.2 60.3.3
Äthiopathologie von Säure-Basen-Störungen – 754 Physiologisch-analytische Modelle metabolischer Störungen – 755 Respiratorische Störungen – 759
60.4
Therapie der Störungen – 759 Literatur – 760
H. Burchardi et al. (Hrsg.), Die Intensivmedizin, DOI 10.1007/978-3-642-16929-8_60, © Springer Medizin Verlag Berlin Heidelberg 2011,
60
752
60
Kapitel 60 · Säure-Basen Status
60.1
Einleitung –
60
Ein Großteil der kritisch kranken Patienten zeigt ausgeprägte Veränderungen im Milieu der Körperflüssigkeiten. Das intakte Zusammenspiel verschiedener Regulationsmechanismen, kurz Säure-Basen-Haushalt genannt, ist aber für die Wiederherstellung der Homöostase essenziell, denn nahezu alle biochemischen Reaktionen des Körpers sind abhängig von der Aufrechterhaltung einer physiologischen Wasserstoffionenkonzentration. Diese wird daher vom Organismus normalerweise in sehr engen Grenzen konstant gehalten. Größere Veränderungen können weitreichende Organdysfunktionen hervorrufen.
60
60.2
Physiologische Grundlagen
60
60.2.1
Definitionen
60
Nach der Definition von Brönsted-Lowry sind Säuren Protonendonatoren und Laugen Protonenakzeptoren. Als starke Säure bezeichnet man eine Substanz, die schnell und nahezu irreversibel Protonen abgibt, während starke Basen Protonen nahezu irreversibel binden. Schwache Säuren und Basen können dagegen relativ leicht Protonen abgeben und wieder aufnehmen respektive aufnehmen und wieder abgeben. Sie bilden Gleichgewichte, sog. konjugierte Säuren-Basen-Paare:
60 60 60
60 60 60 60 60 60 60
HA lH+ + A
–
(1)
Die meisten biologischen Komponenten sind entweder schwache Säuren oder schwache Basen. Wasser kann sowohl wie eine Säure als auch wie eine Base reagieren, es dissoziiert reversibel zu Hydronium- und Hydroxylionen. 2 H2O lH3O+ + OH
–
(2)
60 Die Gleichgewichtskonstante dieser Reaktion ist:
60 60 60 60 60 60 60 60 60
–
K=
[H3O+] · [OH ] [H2O]2
(3)
Der Anteil der Hydronium- und Hydroxylionen ist jedoch sehr viel kleiner, als der des undissoziierten Wassers, er beträgt jeweils 10–7 mmol/l unter neutralen Bedingungen. Daher kann die Konzentration des undissoziierten Wassers im neutralen Milieu als konstant betrachtet werden. Der pH-Wert einer Lösung wird üblicherweise definiert als der negative dekadische Logarithmus der Hydroniumionenkonzentration. In neutralem Wasser beträgt der pH-Wert demnach –log(10–7)=7. Im arteriellen Blut dagegen liegt eine Hydroniumionenkonzentration von 40 nmol/l vor. Der pH-Wert beträgt dort dementsprechend: –log(40×10–9)=7,40. Hydroniumionenkonzentrationen zwischen 160 und 16 nmol/l sind mit dem Leben vereinbar (pH 7,8–6,8). Für eine Lösung, die die schwache Säure [HA] und die schwache Base [A–] enthält, lässt sich eine Dissoziationskonstante K wie folgt festlegen:
K=
[H+] · [A ] [HA]
[HA] – [A ]
+ , oder [H ] = K
(4)
Der negative dekadische Logarithmus dieser Gleichung wird als Henderson-Hasselbalch-Gleichung bezeichnet:
–
pH = pKs + log
[A ] (5)
[HA]
Nach dieser Gleichung lässt sich der pH-Wert einer Lösung berechnen aus dem pKs einer Säure und den Konzentrationen der Säure und ihrer konjugierten Base. Klinische Veränderungen, die mit einer Verschiebung des Blut-pH-Werts einhergehen, bezeichnet man je nach der Form der Veränderung als Azidosen oder Alkalosen. Unter einer Azidose versteht man ein Absinken des pH-Werts unter 7,36, unter einer Alkalose einen Anstieg des pH-Werts über 7,44. Respiratorische Störungen liegen vor, wenn der pCO2 primär von der Veränderung betroffen ist. Betreffen die Veränderungen im – Säure-Basen-Haushalt v. a. die HCO3 -Konzentration, spricht man von einer nichtrespiratorischen oder auch metabolischen Störung. Hierzu zählen auch Störungen renaler oder intestinaler Ursache. Metabolische Störungen können in der Regel durch respiratorische Kompensationsmechanismen in weiten Grenzen ausgeglichen werden und umgekehrt. (. Tab. 60.1). Zu beachten ist jedoch, dass beim intubierten und beatmeten Intensivpatienten das Atemminutenvolumen als wesentliches Regulativ des pCO2 von den Respiratoreinstellungen und nicht von physiologischen Erfordernissen bestimmt ist.
60.2.2
Puffersysteme
Schon unter physiologischen Bedingungen fallen im Stoffwechsel ca. 50–100 mmol Protonen pro Tag an [1]. Diese entstehen im Proteinstoffwechsel sowie aus der unvollständigen Verbrennung von Kohlehydraten, Fetten und organischen Säuren. Unter pathologischen Bedingungen (z. B. Sepsis) können auch weitaus größere Mengen an Protonen im Organismus entstehen. Um ein konstantes physiologisches Milieu aufrecht erhalten zu können, existieren im Körper daher effiziente Puffersysteme, die die anfallenden Protonen »abfangen«, den pH-Wert der Körperflüssigkeiten in engen Grenzen halten (7,36‒7,44) und damit für ein einwandfreies Funktionieren der Enzyme und Transportsysteme des Organismus sorgen.
Kohlensäure-Bikarbonat-Puffersystem Das Kohlensäure-Bikarbonat-System ist das effizienteste Puffersystem im menschlichen Organismus. Obwohl es im eigentlichen – Sinn nur aus den Komponenten H2CO3 und HCO3 als konjugiertes Säure-Basen-Paar besteht, kann auch der Kohlendioxidpartialdruck (pCO2) in die Puffergleichung eingesetzt werden, denn es gilt: –
H2O + CO2 lH2CO3 lH+ + HCO3
(6)
Die Hydratation des CO2 geschieht hierbei über das Enzym Karboanhydrase, das sich v. a. in den Erythrozyten befindet. Zudem findet entlang der Erythrozytenmembran ein (elektroneutraler) Ionen-
753 60.2 · Physiologische Grundlagen
. Tab. 60.1 Verschiebungen im Säure-Basen-Haushalt und Kompensationsmechanismen Primäre Veränderung
Kompensationsreaktion
Respiratorische Azidose
paCO2 n
[sHCO3 ] n
Respiratorische Alkalose
paCO2 p
[sHCO3 ] p
Metabolische Azidose
[sHCO3 ] p
Metabolische Alkalose
[sHCO3 ] n
Weitere Puffersysteme
–
–
–
paCO2 p
–
paCO2 n
–
[sHCO3 ] = Standardbikarbonatkonzentration: Hierunter versteht man – die [sHCO3 ] einer beliebigen Blutprobe interpoliert auf einen pCO2 von 40 mm Hg, eine Temperatur von 37 °C und eine O2-Sättigung von 100%.
–
austausch statt, bei dem Chloridionen gegen HCO 3 ausgetauscht – werden (Chlorid-Shift). Hierdurch kann die HCO3 -Konzentration im Plasma erhöht werden. Wird der Löslichkeitskoeffizient des CO2 mit in Betracht gezogen, kann die Henderson-Hasselbalch-Gleichung für das Kohlensäure-Bikarbonat-System wie folgt beschrieben werden:
–
pH = pKs + log
[HCO ] 3
[0,03 PaCO2]
(7)
oder –
pH = 6,1 + log
[HCO ] 3 [0,03 PaCO2]
(8)
Man beachte, dass der pKs der Kohlensäure mit 6,1 relativ weit vom pH-Wert des Blutes entfernt ist und das System daher als Puffer grundsätzlich wenig effizient sein sollte. Das Reaktionsgleichge– wicht in Gleichung (6) liegt prinzipiell weit auf Seiten des HCO3. Entscheidend ist jedoch, dass das System nach zwei Seiten offen ist: CO2 wird über die Lungen abgeatmet, hierdurch verschiebt sich das Reaktionsgleichgewicht auf die Seite des CO2 ‒ Protonen können aufgenommen werden. Auf der anderen Seite können Nieren und – Leber aktiv in die Regulation der HCO3 -Konzentration eingreifen. Der Kohlensäure-Bikarbonat-Puffer wird nur wirksam bei metabolischen Störungen des Säure-Basen-Haushalts, auf respiratorische Störungen hat er keinen Einfluss.
Hämoglobin als Puffersystem Neben dem Kohlensäure-Bikarbonat-Puffersystem stellt das Hämoglobin das mengenmäßig bedeutendste Puffersystem dar. Für die Pufferkapazität verantwortlich sind im Wesentlichen Histidinbindungstellen mit einem pK von ca. 6,8. Die Säure-Basen-Gleichung des Hämoglobins kann vereinfacht ausgedrückt werden als Interaktion zwischen dem hydroxylierten Hämoglobin und seinem Kaliumsalz. H+ + KHb lHHb + K+
Desoxygeniertes Hämoglobin hat hierbei eine größere Pufferkapazität als oxygeniertes. Im Gegensatz zum Kohlensäure-BikarbonatPuffersystem wird das Hämoglobinpuffersystem sowohl bei metabolischen als auch bei respiratorischen Störungen wirksam.
(9)
Proteine (v. a. Albumin) und Phosphate spielen eine wichtige Rolle als extrazelluläre Puffersysteme. Daneben hat der Intrazellulärraum bedeutende Pufferkapazitäten. Neben Proteinpuffern spielt v. a. die Pufferung im Knochen eine große Rolle [2]. Karbonate und Phosphate übernehmen hierbei die Funktion von Pufferbasen. Der intrazelluläre Säure-Basen-Haushalt ist sehr komplex und kann daher hier nicht weiter ausgeführt werden. Es bestehen große Unterscheide zum Extrazellulärraum. So beträgt beispielsweise der pH-Wert im Zytoplasma und im endoplasmatischen Retikulum 6,8‒7,2, in den Golgi-Apparaten 5,6 und in den Mitochondrien 8,0 [3]. Sowohl die klassische Analytik als auch das Stewart-Modell des Säure-Basen-Haushalts (7 Abschn. 60.30.2) sollten intrazellulär anwendbar sein. Daten hierzu liegen allerdings noch nicht vor.
Pulmonale Kompensationsmechanismen Im Stoffwechsel entstehen bereits in Ruhe täglich ca. 14.000 mmol CO2, die zu einer Verschiebung des pH-Werts in Richtung auf eine Azidose führen würden. Darüber hinaus fallen durch metabolische Prozesse ständig größere Mengen an nicht flüchtigen Säuren an bzw. werden mit der Nahrung aufgenommen. Ein Abfall des pHWerts im arteriellen Blut stimuliert daher das Atemzentrum sowie periphere Chemosensoren und führt dadurch zu einer Steigerung des Atemminutenvolumens. Die pulmonale Antwort auf Verschiebungen des Säure-Basen Status setzt sehr schnell ein, erreicht aber dennoch erst nach mehreren Stunden ein Gleichgewicht entsprechend der Menge an anfallenden sauren Valenzen. Die alveoläre Ventilation kann hierbei für kurze Zeit auf das 10-fache des Normalwerts gesteigert werden. Dennoch wird durch ventilatorische Kompensation allein der pH-Wert normalerweise nicht vollständig normalisiert. Auch durch maximale Hyperventilation kann der pCO2 nur auf Werte von 10‒15 mm Hg gesenkt werden. Darüber hinaus ist keine respiratorische Kompensation mehr möglich. Metabolische Alkalosen können durch respiratorische Kompensation nur in weitaus geringerem Maße ausgeglichen werden als Azidosen, da die Verminderung der alveolären Ventilation zur Hypoxämie führt. Hierdurch werden sauerstoffsensitive Chemosensoren aktiviert, die wiederum eine Steigerung der Ventilation induzieren. In der Regel kommt es nicht zu einem Anstieg des pCO2 auf mehr als 55 mm Hg.
Renale Kompensationsmechanismen Nach der klassischen Analytik ist die Ausscheidung fixer Säuren (und damit von H+-Ionen) und Ammoniumionen unter normalen Bedingungen eine der Hauptaufgaben der Niere. Die Regulationsmechanismen setzen bei Störungen im Säure-Basen-Haushalt sofort ein. Bis sie klinisch wirksam werden, sind jedoch in der Regel mehrere Stunden erforderlich. Die renale Kompensation findet sowohl bei respiratorischen als auch metabolischen Störungen statt. Die Niere verfügt hierbei über 3 verschiedene effiziente Regelkreise zur Elimination anfallender saurer Valenzen 4 eine Steigerung der Rückresorption von Bikarbonat bei erhöhtem Anfall (I), – 4 die gesteigerte Exkretion fixer Säuren über H2PO4 (II), 4 die gesteigerte Bildung von Ammoniak (III).
60
754
Kapitel 60 · Säure-Basen Status
60.3.1
60
Äthiopathologie von Säure-Basen-Störungen
Bei Intensivpatienten entstehen Störungen im Säure-Basen-Haushalt aus einer Vielzahl von Ursachen. Selbstverständlich sollte hierbei eine kausale Behandlung erstes Therapieprinzip sein. Die wichtigsten Erkrankungen sowie kurze Hinweise zu ihrer Genese sind in . Tab. 60.2 (metabolische Azidosen), . Tab. 60.3 und . Tab. 60.4 (metabolische Alkalosen) zusammengefasst. Oft kann eine metabolische Störung nicht unmittelbar kausal behandelt werden. Eine symptomatische Therapie, z. B. durch Puffern von Azidosen (7 Abschn. 60.4), ist angezeigt. Kenntnisse in der Analytik des Säure-Basen-Haushalts sind deshalb zur Auswahl der optimalen Therapiestrategie sowie prinzipiell zum besseren Verständnis der zugrunde liegenden Erkrankungen von großer Bedeutung.
60 60 60 60 60 60 60
. Tab. 60.2 Ätiopathologie der Azidosen
60
Azidosen
Ätiopathologie
Laktatazidose
5 Mangelnde Sauerstoffversorgung der Gewebe 5 Hochgradige Leberinsuffizienz 5 Alkoholkrankheit 5 Diabetes mellitus (auch ohne Zufuhr von Biguaniden) 5 Thiaminmangel 5 Kurzdarmsyndrom (D-Laktat)
Ketoazidose
5 Relativer oder absoluter Insulinmangel bei Diabetes mellitus 5 Alkoholkrankheit 5 Fasten
Intoxikationen
5 Kohlenmonoxid und Zyanide o Laktatazidose 5 Acetylsalicylsäure o Akkumulation organischer Säuren (u. a. Laktat), oft überlagert durch respiratorische Alkalose bei Hyperventilation 5 Äthylenglykol o Akkumulation von Glykolsäure und Oxalsäure 5 Methanol o Akkumulation von Formaldehyd
Renale Azidosen
5 Fortgeschrittene Niereninsuffizienz (GFR 20 mmol/l) handelt es sich meist um Azidosen, die durch einen starken Anstieg nicht volatiler Säuren im Plasma verursacht werden. Hierfür kommt eine ganze Reihe von Ursachen in Frage: 4 Versagen der renalen Elimination fixer Säuren bei hochgradiger Niereninsuffizienz, 4 gesteigerter Anfall nicht volatiler Säuren, beispielsweise bei Gewebehypoxie (Laktatazidose) oder im diabetischen Koma (Ketoazidose), 4 Intoxikation mit exogen zugeführten Säuren, z. B. Salizylaten. Metabolische Azidosen mit normaler Anionenlücke sind in der Regel verbunden mit einer Hyperchloridämie und treten v. a. bei größeren Verlusten von Darminhalt, Galle oder Pankreassekret auf. Auch die renale tubuläre Azidose (RTA; 7 unten) ist eine hyperchloräme Azidose mit normaler Anionenlücke. Von hoher Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Zufuhr größerer Mengen chloridreicher Volumenersatzlösungen (NaCl-Lösung, Vollelektrolytlösungen, Hydroxyäthylstärkelösungen), die bei Intensivpatienten regelhaft zu einer hyperchlorämen Azidose führen (7 unten). In einer ganzen Reihe von Studien wurde untersucht, ob zwischen der Höhe der Anionenlücke und dem Mortalitätsrisiko kritisch kranker Patienten eine nachweisbare Relation besteht. Die Ergebnisse hierzu sind jedoch uneinheitlich. Einige Autoren sprechen dem »anion gap« durchaus eine prädiktive Bedeutung zu [13], andere fanden Parameter mit höherer prognostischer Aussagekraft, wie z. B. »base excess« oder »strong ion gap« (7 unten).
Standardbikarbonat und »base excess«
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Bereits in den 1940-er Jahren erkannten einige Untersucher, dass eine rein deskriptive Betrachtung, wie sie die Henderson-Hasselbalch-Gleichung und die daraus abgeleiteten Größen bieten, hinsichtlich der Beschreibung von Störungen des Säure-Basen-Haushalts einige Limitationen aufweist. Ein offensichtlicher Nachteil ist, dass Veränderungen des Plasmabikarbonats nur dann eine (semi) quantitative Aussage darüber erlauben, wie viel Säure oder Base dem Plasma zugeführt wurde, wenn der pCO2 konstant gehalten wird. Dies führte zu Entwicklung von Techniken, das Plasmabikarbonat zu standardisieren (7 Abschn. 60.2.1) bzw. die metabolische Komponente einer Säuren-Basen-Störung zu quantifizieren. 1948 prägten Singer u. Hastings [14] den Begriff der »Pufferbase« als Summe des Plasmabikarbonats und der nicht volatilen, schwachen Säure-Basen-Puffer. Dafinition Unter dem Basenüberschuss versteht man die Menge an Pufferbase (oder Säure), die einer Blutprobe bei standardisierten Bedingungen (pCO2 40 mm Hg, Temperatur 37°C) zugeführt werden muss, um einen pH-Wert von 7,4 zu erreichen.
Es existieren zahlreiche Formeln zur exakten Berechnung des »base excess«, in die teilweise unterschiedliche Einflussgrößen (z. B. Hämoglobinkonzentration, Albuminkonzentration, Phosphatkonzentration, O2-Sättigung des Blutes) mit eingehen. Die bekannteste errechnet den sog. genannten Standard-base-excess (SBE). Hierbei wird eine über sämtliche Körperkompartimente gemittelte Hämoglobinkonzentration von 5 g/dl angenommen: SBE = 0,9287 × [HCO–3 – 24,4 + 14,83 ×(pH – 7,4)]
(11)
Der Referenzbereich liegt bei ±3 meq/l. Liegt der SBE unter –3 meql/l, liegt eine metabolische Azidose vor, entweder primär oder kompensatorisch. Mit dem BE ist dem Intensivmediziner ein Instrument an die Hand gegeben, das Ausmaß einer Säure-Basen-Störung auf einen Blick abschätzen zu können. Außerdem kann der SBE zur Berechnung der evtl. notwendigen Menge einer Pufferlösung (z. B. Natriumbikarbonat) herangezogen werden (7 Abschn. 60.4). Daneben wurden, vergleichbar der Anionenlücke, zahlreiche Untersuchungen publiziert, die die prognostische Aussagekraft des Parameters »base excess« hinsichtlich der Mortalität von Intensivpatienten untersuchten. Während einige Autoren dem BE eine hohe prognostische Aussagekraft hinsichtlich des Überlebens insbesondere von politraumatisierten Patienten bescheinigten [15-18], fanden andere keine eindeutige Korrelation [19, 20].
Stewart-Modell des Säure-Basen-Haushaltes Die »moderne quantitative Analytik des Säure-Basen-Haushaltes« [10], wie sie 1983 von Peter Stewart eingeführt wurde, zeigt eine völlig veränderte Sichtweise hinsichtlich der Mechanismen, denen die Veränderungen des Säure-Basen-Haushalts unterliegen, auf. Die wissenschaftliche Diskussion hierüber wird auf breiter Basis geführt und hat bereits zu wichtigen neuen Erkenntnissen und damit einer neuen Sichtweise beigetragen. Das Modell wird daher im Rahmen dieses Kapitels ausführlich dargestellt. z Methodik der quantitativen Analytik Stewarts Ansatz betrachtet Gleichgewichte von Teilchen in Lösungen und die Interaktion dieser Gleichgewichte. Er geht hierbei von 3 Grundprinzipien aus: 4 Dem Prinzip der Elektroneutralität als wichtigster Grundlage: Die Summe der positiven Ladungen im Plasma muss immer der Summe aller negativen Ladungen entsprechen. 4 Die Dissoziationsgleichgewichte aller unvollständig dissoziierten Substanzen müssen immer erfüllt sein. 4 Dem Prinzip von der Erhaltung der Masse. Im Plasma definiert Stewart 3 Komponenten, die zu jeder Zeit diesen Prinzipien unterliegen: 4 Das Wasser, das in nur in geringen Teilen in H+-Ionen und OH–-Ionen dissoziiert vorliegt. 4 »Starke«, d. h. (nahezu) vollständig dissoziierte und damit chemisch nicht mit anderen Substanzen reagierende Ionen, wie Elektrolyte (Na+, K+, Cl–, Ca2+, Mg2+) und körpereigene Substanzen wie Laktat. 4 »Schwache«, d. h. unvollständig dissoziierte Substanzen. Dies sind die volatilen Säure-Basen-Paare Kohlendioxid+Kohlensäure und Ammoniak+Ammonium und die nicht volatilen Paare des Phosphates und der Plasmaproteine.
60
757 60.3 · Pathophysiologie des Säure-Basen-Haushalts
Des Weiteren beschreibt Stewart den pH-Wert und damit die Wasserstoffionenkonzentration, die Hydroxylionenkonzentration – 2– (OH–), aber auch die HCO3 und CO 3 -Konzentrationen als »abhängige« Variablen des Säure-Basen-Haushaltes. Diese sind nicht nur voneinander abhängig, sondern werden von den sog. unabhängigen Variablen vollständig bestimmt:
die Summe aller »starken« (vollständig dissoziierten) Kationen minus der Summe aller »starken« (vollständig dissoziierten) Anionen.
SID = [Na+] + [K+] – [Cl–] – [Lac–] (13) Normalwert: (142 meq/l) + (4 meq/l) – (105 meq/l) – (1 meq/l) = 40 meq/l
Die 1. unabhängige Variable ist der Kohlendioxidpartialdruck (pCO2). Mit der Beschreibung dieser Variablen sind in das Stewart-
Modell die respiratorischen Säure-Basen-Störungen eingeschlossen. Ein Anstieg des pCO2 führt auch hier zu einer Abnahme des pH-Werts und vice versa. Die Henderson-Hasselbalch-Gleichung hat insofern auch in der Theorie Stewarts nach wie vor Gültigkeit, allerdings ist sie keineswegs der einzige Faktor, der das Verhalten von H+-Ionen im Plasma bestimmt oder gar erklären kann. Weitaus interessanter sind die Implikationen des Stewart-Theorems für die metabolischen Veränderungen des Säure-Basen-Haushalts. Die metabolischen Komponenten des Säure-Basen-Haushalts sind im Stewart-Modell in der 2. und 3. unabhängigen Variablen zum Ausdruck gebracht: Die 2. unabhängige Variable ist die Gesamtmenge aller schwachen Säuren [A–] im Plasma. Der von Peter Stewart noch
als »ATOT« bezeichnete Komplex der schwachen negativen Ladungen beinhaltet alle unvollständig dissoziierten und damit chemisch nicht inerten Substanzen des Blutplasmas. Wie man heute weiß, stellen Albumin und Phosphat hierbei die Hauptmenge an schwachen negativen Ladungen dar [21]. So lässt sich [A–] nach Fencl et al. [22] mit Hilfe folgender Formel berechnen:
[A–] = [Alb ×(0,123 ×pH – 0,631)] + [Pi ×(0,309 ×pH – 0,469)] (12)
Die Albuminkonzentration ist hierbei in g/l, die des ionisierten Phosphats in mmol/l anzugeben. Legt man normale Albumin- bzw. Phosphatkonzentration von 45 g/l bzw. 1,2 mmol/l zugrunde, so berechnet sich bei einem pH von 7,4 (der pH-Wert ist hierbei für die Berechnung der Dissoziation des Albumins und des (ionisierten) Phosphats notwendig) ein Normalwert für [A–] von: 12,3 + 2,2 = 14,5 meq/l. Die 3. unabhängige Variable ist die Differenz der starken Ionen, die »strong ion difference« (SID). Unter der SID versteht Stewart
Hier dargestellt ist zunächst die leicht messbare, sog. »Bedside-SID«. Stewart beschrieb Natrium und Chlorid als die Hauptkomponenten der SID, da diese, bezüglich ihrer Konzentrationen im Extrazellu4– lärraum die größte Rolle spielen. K+ und SO2 , Ca2+ und Mg2+ sind zwar als weitere potenziell starke Ionen einzustufen, nicht nur die in vivo niedrige Konzentration, sondern auch die vergleichsweise geringe Schwankungsbreite im Plasma führt jedoch dazu, dass deren Beitrag für Veränderungen des Säure-Basen-Haushaltes begrenzt ist. Laktat ist kein Ion im chemischen Sinn, verhält sich aber zumindest im Plasma- und Extrazellulärraum aufgrund seiner nahezu vollständigen Dissoziation in Lac– wie ein starkes Ion und wurde daher in die SID eingruppiert [10]. . Abb. 60.3 erläutert das Zusammenspiel der verschiedenen Komponenten in Stewarts Model: Aus dem Diagramm ist ersichtlich, dass die Summe der Ladungen aller Kationen im Plasma ([Na+], [Ka+], [Mg2+], [Ca2+]) ca. 150 meq/l beträgt. Auf der negativen Seite stehen zunächst [Cl–] und [Laktat–] mit zusammen ca. 103 meq/l. Als Gesamtdifferenz der Ladungen dieser Ionen ergibt sich die oben beschriebene SID mit ca. 47 meq/l, die auch als »apparente SID« (SIDa) bezeichnet wird. Aus Gründen der Elektroneutralität, dem wesentlichsten Prinzipien des Stewart-Modells (7 oben), müssen aber noch weitere negativ geladene Komponenten im Plasma vorhanden sein: Dies ist – zum einen das [HCO3] (ca. 24 meq/l) und zum anderen die bereits angesprochene Fraktion der schwachen Säuren [A–] (ca.15 meq/l). Figge et al. [21] beschrieben folgerichtig eine »effektive SID« (SIDe), die sich als Funktion der Albumin- und Phosphatkonzentration sowie von pH und pCO2 berechnen lässt. [A–] wird hierbei mit Hilfe der Formel (12) berechnet, die aktuelle Bikarbonatkonzentration über die Henderson-Hasselbalch-Gleichung (5) aus pH-Wert und pCO2. Es gilt: SIDe = f(pH, pCO2, [Alb], [Pi–])
. Abb. 60.3 Normales Ioniogramm
(14)
758
60 60
Kapitel 60 · Säure-Basen Status
Vereinfacht lässt sich SIDe auch darstellen als: SIDe = [A–] + [HCO–3 ] Normalwert: (14,5 meq/l) + (24 meq/l) = 38,5 meq/l
(15)
60 60 60 60 60
Ergänzt man die Summe aus [Cl–] und [Laktat–] um die Summe – aus [A–]+[HCO3] (. Abb. 60.3), zeigt sich, dass zum Erreichen der Elektroneutralität noch weitere negativ geladene Komponenten dargestellt werden müssen. Wiederum Figge et al. [21] wiesen zu Recht darauf hin, dass nicht alle Anionen messtechnisch erfasst werden können. So finden sich im Blutplasma negative Ladungen (Ketonsäuren, Sulfat, Hydroxyproprionat, Oxalat u. a.), die den heutigen Blutgasanalysatoren vollkommen entgehen [23]. Die Fraktion dieser »schwer« messbaren Anionen (»unmeasured anions«) »füllt den Raum« zwischen SIDa und SIDe und wird demzufolge auch als »strong ion gap« (SIG) bezeichnet.
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SIG = SIDa – SIDe Normalwert: (47 meq/l) – (38,5 meq/l) = 8,5 meq/l
(16)
Das SIG ist von den Veränderungen der Plasmaalbuminkonzentration unabhängig. Im Gegensatz hierzu ist die Anionenlücke weitaus weniger spezifisch. Sie erfasst sowohl die Veränderungen der »unmeasured anions« als auch die Veränderungen der Plasmaproteine und des Laktats [24]. Das vollkommen neue Verständnis für die Mechanismen der Veränderungen des Säure-Basen-Status im Stewart-Modell ergibt sich aus folgendem Axiom: > Abhängige Variablen, wie der pH-Wert – damit auch [H+] und [HCO–3] – können sich nur dann im Sinne einer Azidose oder Alkalose ändern, wenn sich zumindest eine der unabhängigen Variablen pCO2, [A–] oder SID verändert. Bei ausschließlich metabolischen Veränderungen (pCO2 konstant) sind der pH-Wert und damit auch die Bikarbonatkonzentration vollkommen determiniert von Veränderungen von [A–] und/oder der SID.
Eine metabolische Azidose wird demnach nur durch einen Anstieg von [A–] oder eine Abnahme der SID verursacht, eine metabolische Alkalose nur durch eine Verminderung von [A–] oder eine Zuname der SID. . Abb. 60.4 verdeutlicht beispielhaft die Entstehung einer metabolischen Azidose durch eine Abnahme der SID bei Hyperchloridä-
mie und die einer metabolischen Alkalose durch Abnahme von [A–] bei Hypalbuminämie. Die Rolle des Bikarbonats als abhängige Größe wird hier klar ersichtlich: Werden dem System starke Anionen zugeführt, z. B. – in Form von Chlorid, verkleinert sich die SID, [HCO3 ] muss aus Gründen der Elektroneutralität abnehmen. Kommt es zu einem Verlust an [A–], beispielsweise durch eine Abnahme des Serumal– bumins, steigt die [HCO3 ] zur Wahrung der Elektroneutralität an. Selbstverständlich verändern sich hierbei auch die Konzentrationen der anderen abhängigen Ionen (z. B. [OH–]), diese sind jedoch aufgrund ihrer geringen Menge für das Gesamtsystem von kleinerer Bedeutung. Sollen die Veränderungen sämtlicher abhängigen Variablen in diesem Zusammenhang berechnet werden, folgt dies mathematisch gesehen einem Polynom 4. Ordnung. SID und [A–] müssen immer im Zusammenspiel betrachtet werden, da sie sich auch voneinander unabhängig verändern können. So sind Konstellationen denkbar, in denen der BE Null ergibt oder das Bikarbonat mit 24 meq/l normal ist, aber dennoch eine hyperchloräme Azidose vorliegt, die jedoch vollständig durch eine hypoalbuminäme Alkalose überlagert wird. Im klinischen Alltag ist diese Situation keineswegs selten, entsteht sie doch z. B. nach der Verabreichung größerer Mengen kochsalzhaltiger Infusionslösungen ([Cl–]) bei gleichzeitiger Verdünnung des Plasmaalbumins. Der klassischen Analytik entgeht eine solche Störung des Säure-BasenHaushaltes vollkommen. z Stewarts Analytik in der wissenschaftlichen Diskussion Der Ansatz von Stewart bietet eine Reihe sehr interessanter Implikationen. So ist etwa die einwandfreie Funktion humaner Enzymsysteme nach Stewart nicht abhängig vom pH-Wert (7 oben), sondern von der SID und damit von den Konzentrationsverhältnissen der starken Ionen. Auch die bereits beschriebenen (7 Abschn. 60.2.2) renalen Kompensationsmechanismen metabolischer Störungen müssen nach den Vorstellungen von Stewart aus einem anderen Blickwinkel betrachtet werden. Nicht die Sekretion von H+-Ionen und die Rückresorbtion von Bikarbonat sind hierbei die Zielgrößen der renalen Regulation, sondern Veränderungen der Plasma-SID durch Sekretion bzw. Rückresorbtion von Na+, Ka+und Cl–. Hier könnte sich möglicherweise ein Widerspruch zu unseren Kenntnissen über Protonenpumpen und Bikarbonattransportsystemen der Zellmembranen ergeben, die aktuell erforscht werden. Die außer Frage stehende Relation zwischen Fehlfunktionen der membranständigen Protonenpumpen und der RTA beispielsweise könnte ein Problem für Stewarts Analytik darstellen. Erste Arbeiten u. a. von Corey et al. [25] und Ring et al. [26] zeigen jedoch auf, dass Stewarts Theorem auch hier anwendbar sein könnte. So korrelierte in der Arbeit von Corey et al., die Patienten mit RTA einer Koch-
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. Abb. 60.4 Entstehung einer metabolischen Azidose durch Abnahme der SID bei Hyperchloridämie und Entstehung einer metabolischen Alkalose durch Abnahme von [A–] bei Hypalbuminämie
60
759 60.4 · Therapie der Störungen
salzbelastung aussetzten, der Plasma-pH-Wert nicht wie erwartet mit der renalen Bikarbonatausscheidung, sondern mit der SID. Für die Intensivmedizin ebenfalls interessant sind die Arbeiten von Scheingraber et al. [27], Rehm et al. [28‒30] und Kellum et al. [31‒35], die sich mit dem Einfluss von Infusionslösungen auf den Säure-Basen-Haushalt befassten. Scheingraber et al. infundierten Patientinnen im »steady state« größere Mengen an NaCl-Lösung ([Na+] und [Cl–] je 154 meq/l; SID = 0) und stellten fest, dass die mit Hilfe des Stewart-Modells prognostizierten Veränderungen im Säure-Basen-Status (hyperchloräme Azidose) exakt eintrafen. Bei Infusion der gleichen Menge Ringer-Laktatlösung ([Na+] = 129 meq/l; [Cl–] = 109 meq/l; SID = 27 meq/l) trat dieser Effekt nicht ein. Hier wurde die metabolische Azidose (Zufuhr von Chloridionen) durch eine metabolische Alkalose (Abnahme des Serumalbumins) vollkommen kompensiert. Die Patientinnen blieben pHstabil. Durch die oben genannten Arbeiten wurde der Begriff der »Dilutionsazidose« relativiert. Hierunter verstand man nach traditioneller Auffassung die Verdünnung von Bikarbonat im Extrazellulärraum durch bikarbonatfreie Elektrolytlösungen und eine sich hieraus ergebende Azidose. Die hier vorgestellten Arbeiten zeigen aber, dass, entsprechend der Terminologie von Stewart, nicht die Dilution von Bikarbonat, sondern Konzentrationsänderungen der Elektrolyte und Plasmaeiweiße als kausal für die Veränderungen im Säure-Basen-Haushalt anzusehen sind. Rehm et. al. [28] beschäftigten sich in ihren Arbeiten u. a. mit dem Einfluss von hydroxyäthylstärke-und albuminhaltigen Infusionslösungen und konnten die Anwendbarkeit von Stewarts Analytik ebenfalls bestätigen. Kellum und andere Autoren untersuchten den Einfluss der hyperchlorämen Azidose auf die Organsysteme und fanden negative Auswirkungen auf Hämodynamik [32], NO-Freisetzung [43], Immunsystem [32], Perfusion der gastralen Schleimhäute [37] und Hämostase [38, 39]. Als Konsequenz dieser Studien werden von der pharmazeutischen Industrie in jüngster Zeit vermehrt sog. balancierte Infusionslösungen angeboten. Balancierte Infusionslösungen enthalten ein verstoffwechselbares Anion (z. B. Laktat oder Azetat). Hierdurch wird die SID der Lösung soweit herabgesetzt, dass die Verdünnung der Plasmaeiweiße und damit die Abnahme von [A–] gerade ausgeglichen wird. Der Säure-Basen-Haushalt des Patienten bleibt daher, auch nach Infusion mehrerer Liter dieser Lösungen, unbeeinflusst. Analog zu Untersuchungen bezüglich der Anionenlücke und des BE finden sich in der Literatur etliche Studien, die den prognostischen Wert des »strong ion gap« hinsichtlich der Mortalität von Intensivpatienten evaluierten. Balasubramanyan et al. [19], Gunnerson et al. [40] und Kaplan u. Kellum [41] sprachen dem SIG hierbei einen besseren prädiktiven Wert zu als den Parametern der klassischen Säure-Basen-Analytik. Andere Untersucher fanden keine Unterschiede [49]. Die Frage nach der klinischen Relevanz des Stewart-Modells kann aus heutiger Sicht noch nicht abschließend beantwortet werden. Es darf aber festgehalten werden, dass Stewarts Analytik ein zunehmendes Maß an Aufmerksamkeit und auch Akzeptanz erhält. Etliche Kritiker verneinen andererseits die Notwendigkeit einer neuen Säure-Basen-Analytik, da aus deren Applikation auch kein zweifelsfreier klinischer Vorteil zu erkennen sei [42]. Fencl et al. [22] konnten jedoch zeigen, dass gerade bei Intensivpatienten eine Vielzahl verschiedener »versteckter« metabolischer Säure-BasenStörungen auftreten, die mit einem normalen BE oder einer normalen Bikarbonatkonzentration einhergehen und damit der traditionellen Analytik entgehen müssen. Etliche weitere Fragen sind bis heute unbeantwortet: Gibt es überhaupt Veränderungen des Säure-Basen-Haushaltes, die nur
mit Hilfe der einen, nicht aber der anderen Analytik erklärt werden können? Lässt sich die Richtigkeit des einen oder anderen Ansatzes beweisen oder sind die Ansätze nicht lediglich komplementär und demzufolge beide, der »klassische« und der »quantitativ analytische«, völlig korrekt? In seiner Arbeit »Reunification of acid-base physiology« [12] zeigt Kellum beispielhaft auf, dass etliche Kenngrößen der »konkurrierenden« analytischen Systeme durch einfache mathematische Umformungen ineinander übergeführt werden können. So kann beispielsweise die SID auch als Maß und damit die Elektrolyte als wichtige Einflussgrößen für die durch Singer und Hastings eingeführte »Pufferbase« verstanden werden. Nimmt die SID ab, führt dies zu einer Azidose und vice versa.
60.3.3
Respiratorische Störungen
Respiratorische Azidose Der arterielle pCO2 repräsentiert prinzipiell das Verhältnis zwischen CO2-Produktion und alveolärer Ventilation:
paCO2 =
[CO2] – Genese
(17)
alveoläre Ventilation
Von wenigen Ausnahmen abgesehen (maligne Hyperthermie, thyreotoxische Krise, unausgewogene parenterale Ernährung) findet sich beim Intensivpatienten fast immer eine reduzierte alveoläre Ventilation als Ursache einer Hyperkapnie. Kausale Therapiemaßnahmen zielen daher selten auf eine verminderte CO2-Produktion (Dantrolene, Thyreostatika), sondern meist auf die Wiederherstellung einer adäquaten Ventilation (Reversion eines Relaxanzien-, Narkotika- oder Opioidüberhangs, evtl. Bronchodilatation). Ist dies nicht in ausreichendem Maß möglich, so ist die maschinelle Beatmung oft die einzig sinnvolle Therapieoption, da renale Kompensationsmechanismen erst verzögert einsetzen und ausgeprägte respiratorische Azidosen grundsätzlich nicht völlig kompensieren können.
Respiratorische Alkalose Auslöser einer respiratorischen Alkalose ist i. Allg. eine im Verhältnis zur CO2-Produktion inadäquat gesteigerte alveoläre Ventilation. Hierfür kommt eine ganze Reihe von Ursachen in Frage (. Tab. 60.4). Die Therapie erfolgt in der Regel durch die Behandlung der auslösenden Erkrankung. In seltenen Fällen (pH>7,6) kann die Gabe von HCL-Lösung notwendig sein.
60.4
Therapie der Störungen
Prinzipiell sollte bei Störungen des Säure-Basen-Haushaltes die Therapie der Grunderkrankung im Vordergrund stehen. Da dies nicht in allen Fällen möglich ist, steht als symptomatische Therapieoption bei metabolischen Azidosen die Gabe alkalisierender Substanzen zur Verfügung. Natriumbikarbonat (NaBic) ist hierbei immer noch das am meisten eingesetzte Medikament, Trometamol (THAM, Trishydroxymethylaminomethan, R-NH2) kann eine Alternative darstellen.
760
60
Kapitel 60 · Säure-Basen Status
. Tab. 60.5 Wirkungsweise und Nebenwirkungen von Pufferlösungen Wirkungsweise nach klassischer Analytik
Wirkungsweise nach dem Stewart-Modell
Unerwünschte Wirkungen
Natriumbikarbonatlösung (8,4%)
Zufuhr von Bikarbonat: – H + HCO3 lH2CO3 lCO2 + H2O
Zufuhr des starken Kations Na+
5 Hypertone Lösung 5 Hypernatriämie 5 Hyperkapnie
THAM-Lösung (36,34%)
Produktion von HCO3 + – R – NH2 + H2O + CO2 l (R-NH 3) + HCO3
Entstehung eines »unmeasured + kation« THAM + (R-NH 3)
5 5 5 5 5
60 60 60
–
60 60 60 60 60
Dosierung von NaBic 4 NaHCO3 [mmol] = SBE × 0,2 × Körpergewicht [kg]
(18)
Dosierung von THAM
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(THAM+), ein mit herkömmlichen Methoden nicht messbares starkes Ion, das ebenfalls den »Kationenpool« vergrößert und so auf der Seite der Anionen »Raum« schafft für eine Vergrößerung der SID. Fazit
Der Faktor 0,2 ergibt sich hierbei aus dem Anteil des EZR am Gesamtkörpergewicht.
60 60
Hypertone Lösung Hyperkaliämie o Hypokaliämie Hypoglykämie, Erbrechen Atemdepression (pCO2 p) Kumulation bei Niereninsuffizienz
4 THAM [mmol] = SBE × 0,3× Körpergewicht [kg]
(19)
Der Faktor 0,3 resultiert hier daraus, dass das THAM-Molekül nur zu 70% in dissozierter (= wirksamer) Form vorliegt, die Dosierung also etwas höher gewählt werden muss. Zu beachten ist, dass sowohl THAM (3000 mmol/l) als auch Nabic (1000 mmol/l) hyperosmolare Lösungen sind! (. Tab. 60.5).
Die Analytik des Säure-Basen-Haushalts hat, seit Erkennung der enormen Bedeutung metabolischer Störungen für den menschlichen Organismus, immer wieder zu teils enthusiastischen, teils sehr kontroversen Diskussionen geführt, wie z. B. im Rahmen der klassischen »Great transAtlantic acid-base debate« oder bei Einführung der Stewart-Analytik. Dem Thema »Säure-Basen-Haushalt« wird in der Zukunft noch viel Aufmerksamkeit zuteil werden. Arbeiten wie die »Reunification of acidbase physiology« [12] stellen wichtige Grundlagen zukünftiger Forschung dar, deren Ergebnisse mit Spannung erwartet werden können.
Literatur 1
> Pufferlösungen sollten nur über einen zentralen Venenkatheter infundiert werden.
2
Substanzunabhängig bestehen bei einer zu hohen Alkalizufuhr folgende Gefahren: 4 Linksverschiebung der Sauerstoffdissoziationskurve mit dadurch erschwerter Sauerstoffabgabe an die Gewebe. 4 Entwicklung einer intrazellulären Azidose: Bei der Pufferung mit NaBic entsteht CO2. Dies kann, insbesondere bei hämodynamischer und/oder respiratorischer Instabilität, evtl. nicht ausreichend eliminiert werden und wird intrazellulär angereichert. Inwieweit diese potenzielle Gefahr im menschlichen Organismus tatsächlich von Bedeutung ist, ist allerdings unklar.
3
! Cave Der intrazelluläre Säure-Basen-Status wird durch eine Blutgasanalyse nicht erfasst.
»Klassische« und »moderne« Analytik gehen von völlig unterschiedlichen Wirkmechanismen einer »Pufferlösung« aus (. Tab. 60.5). Nach Stewarts Terminologie ist die Zufuhr bzw. die Produktion von Bikarbonat – einer abhängigen Variablen – für die Verän– derung von pH und HCO3 völlig irrelevant. Durch die Infusion von NaBic steigen SIDa und SIDe [29], der »Kationenpool« vergrößert sich. Damit ist die Infusion des starken Ions Natrium, nicht aber die Zufuhr von Bikarbonat als Ursache der pH-Wertveränderung anzusehen. Im Falle der THAM- Infusion postulierten Rehm u. Finsterer [29] das Entstehen eines positiv geladenen THAM-Moleküls
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60
763
Akutes Nierenversagen (ANV), extrakorporale Eliminationsverfahren und Plasmaseparation B.K. Krämer, B. Krüger
61.1
Einleitung – 764
61.2
Grundlagen der Nierenfunktion – 764
61.3
Ätiologie und Pathophysiologie – 764
61.3.1 61.3.2 61.3.3
Prärenales ANV – 765 Intrarenales (intrinsisches) ANV – 765 Postrenales ANV – 768
61.4
Diagnostisches Vorgehen – 768
61.4.1 61.4.2 61.4.3
Anamnestische Hinweise – 768 Urinanalytik – 769 Weiterführende Diagnostik – 769
61.5
Verlauf und Komplikationen – 769
61.6
Prognose – 770
61.7
Prophylaxe und Prävention – 770
61.8
Therapeutisches Vorgehen – 771
61.8.1 61.8.2 61.8.3 61.8.4 61.8.5 61.8.6 61.8.7
Allgemeine Therapiemaßnahmen – 771 Medikamentöse Therapie – 772 Indikation für extrakorporale Verfahren – 773 Zugangsmöglichkeiten für extrakorporale Verfahren – 773 Definition und Prinzipien der extrakorporalen Verfahren – 774 Technik der extrakorporalen Nierenersatzverfahren – 776 Extrakorporale Verfahren bei Intoxikationen – 777
Literatur – 777
H. Burchardi et al. (Hrsg.), Die Intensivmedizin, DOI 10.1007/978-3-642-16929-8_61, © Springer Medizin Verlag Berlin Heidelberg 2011,
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61.1
Kapitel 61 · Akutes Nierenversagen (ANV), extrakorporale Eliminationsverfahren und Plasmaseparation
Einleitung
Die akute Einschränkung der Nierenfunktion (=akutes Nierenversagen; ANV) bis zur Dialysepflichtigkeit ist eine häufige Komplikation bei stationären Patienten (3–10%) und besonders bei Intensivpatienten (10–30%). Patienten nach Herzoperation erleiden in ca. 4–5% ein ANV (in 1–2% der Fälle dialysepflichtig), und bei Patienten nach schwerem Trauma (Crushsyndrom), z. B. nach Erdbeben, kommt es in 6,5–54% zu einem dialysepflichtigen ANV. Selbst Nierenschäden, die noch kein Nierenersatzverfahren erfordern, z. B. nach Kontrastmittelgabe, bzw. abhängig vom Schweregrad (RIFLE-Kriterien; 7 unten), haben eine deutliche Auswirkung auf die Mortalität [1, 2]. Bevölkerungsweit nimmt die Zahl von Patienten mit ANV bzw. dialysepflichtigem ANV von 61 bzw. 4 pro 100.000 Einwohner in 1988 auf 288 bzw. 27 pro 100.000 Einwohner in 2002 zu. Die Verteilung der Häufigkeit der Ursachen für ein ANV bei 748 Patienten in Madrid erbrachte in 45% ein intrarenales ANV (»akute Tubulusnekrose«), in 21% ein prärenales ANV, in 10% ein postrenales ANV, in 13% ein »acute on chronic« ANV, Glomerulonephritis/Vaskulitis in 4%, akute interstitielle Nephritis in 2% und Atheroembolie in 1%. In der PICARD-Studie wurden 618 Patienten mit ANV in 6 Intensivstationen in den USA untersucht: Über 70% wurden als ischämisches ANV klassifiziert (einschließlich Sepsis/Hypotonie), der Rest waren prärenale ANV (Hypovolämie, Hämorrhagie), Nephrotoxizität, ANV bei Herzerkrankungen, ANV bei Lebererkrankungen und ANV mit multifaktoriellen Ursachen.
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Serumkreatinin
GFR-Abnahme
Urinmenge
Risk (Grad 1)
1,5–2-facher Anstieg (>0,3 mg/dl)
25%
4 mg/dl, akuter Anstieg ≥0,5 mg/ dl)
75%
4 Wochen
100%
ESRD
Dialysepflicht >3 Monate
100%
Cystatin C ist ein niedermolekulares Protein (Mitglied der Cystatin-Superfamilie von Cysteinproteasehemmern), das relativ konstant von allen kernhaltigen Körperzellen gebildet wird. Cystatin C wird frei filtriert und nicht reabsorbiert, jedoch tubulär metabolisiert. RIFLE-Kriterien
61.2
Grundlagen der Nierenfunktion
Beide Nieren werden von ca. 1,1 l/min Blut durchblutet (ca. 0,6 l Plasma). Etwa 20% des Plasmas (120 ml/min=glomeruläre Filtrationsrate; GFR) wird während der Passage durch die Glomeruli abfiltriert, entsprechend einer Gesamtprimärurinmenge von etwa 175 l/ Tag. Aus dem Primärurin werden 95–99,5% des Wassers, Natriums und Chlorids, 85–95% des Kaliums und nahezu 100% des Bikarbonats rückresorbiert. Die Regulation des renalen Blutflusses (RBF), der GFR und der tubulären Rückresorption unterliegt intrarenalen und extrarenalen (humoral/nerval) Mechanismen. Ein Abfall des effektiv zirkulierenden Blutvolumens, z. B. beim Blutverlust, führt durch Stimulation des Sympathikus und des RAAS, durch Abfall des renalen Perfusionsdruckes und durch volumenabhängige Stimulation der ADH-Sekretion zu einer gesteigerten Natrium- und Wasserrückresorption, sodass nur wenig konzentrierter Urin mit niedriger Natriumkonzentration produziert wird. Die Konzentrationsleistung der Niere setzt eine intakte Funktion der Tubulusepithelien voraus und geht bei Tubuluszellschädigung verloren, sodass die Urinanalytik Hinweise auf die Funktion gibt. Kreatinin, Harnstoff, Cystatin C
61
. Tab. 61.1 Einteilung des ANV nach den modifizierten RIFLEKriterien [36]
Der ideale Indikator der Nierenfunktion wird frei und vollständig in den Primärurin filtriert, aber weder tubulär sezerniert oder reabsorbiert (z. B. Inulin). Kreatinin (aus Kreatinmetabolismus im Skelettmuskel und Zufuhr von Fleisch) und Harnstoff werden frei filtriert, und ihre Konzentration im Primärharn entspricht der Serumkonzentration. Kreatinin wird darüber hinaus im Verlauf der Nephronpassage aus dem Tubulusepithel ins Lumen sezerniert, Harnstoff hingegen zu 35–50% reabsorbiert. Die Harnstoffrückresorption ist an die Natriumrückresorption gekoppelt. Ein im Vergleich zum Serumkreatinin überproportionaler Anstieg der Serumharnstoffkonzentrationen deutet auf eine Stimulation der Rückresorptionsmechanismen hin (oder ist Zeichen der Katabolie).
Die Acute Dialysis Quality Initiative (ADQI) hat die sog. RIFLE(Risk Injury Failure Loss ESRD) Kriterien entwickelt [3, 4]. Diese Kriterien setzen sich aus Anstieg des Serumkreatininwertes oder GFR-Abnahme oder Abnahme der Urinmenge zusammen. »risk« wurde auch als Grad 1, »injury« als Grad 2 und »failure« als Grad 3 definiert. Alle Patienten, die dialysepflichtig sind, werden mindestens dem Grad 3 zugeordnet (. Tab. 61.1).
61.3
Ätiologie und Pathophysiologie
Das ANV wird unter pathophysiologischen Aspekten in 3 Kategorien eingeteilt:
Klassifikation der Ursachen des akuten Nierenversagens Prärenales ANV 4 Hypovolämie – Dehydratation, Fieber, Blutungen, Verbrennungen – externe Flüssigkeitsverluste – gastrointestinal: Erbrechen, Diarrhö – renal: Diuretika, osmotische Diurese (Diabetes mellitus, Mannitol), polyurisches ANV – Sequestration von Flüssigkeit in den 3. Raum – Peritonitis, Pleuritis, Pankreatitis, Trauma, Verbrennungen – schwangerschaftsassoziiert (Hyperemesis, septischer Abort, HUS/TTP) oder peripartale Komplikationen (Präeklampsie) 4 Hypovolämie/Hypotonie – große Operationen: Herzchirurgie, Bauchaortenaneurysmaoperation, Verschlussikterusoperation 6
765 61.3 · Ätiologie und Pathophysiologie
– Sepsis, IL-2-Therapie (»capillary leak syndrome«), Endokarditis – Crushsyndrom 4 Niedriges Herzzeitvolumen – Herzinsuffizienz, Klappenvitien, Herzbeuteltamponade, Tachykardie, Bradykardie – Lungenembolie, PEEP 4 Erhöhter intrarenaler Gefäßwiderstand – Sepsis, Katecholamintherapie, Medikamente (Amphotericin B, Ciclosporin) – Leberzirrhose (hepatorenales Syndrom) 4 Renale Hypoperfusion bei gestörter Autoregulation – ACE-Hemmer, ARB, Cyclooxygenasehemmer (NSAID, COX-2-Hemmer) Intrarenales ANV 4 Ischämisches und/oder toxisches Nierenversagen – Ischämiefaktoren 7 oben bei prärenalem ANV – toxische Faktoren wie Röntgenkontrastmittel – Antibiotika (z. B. Aminoglykoside, Vancomycin, Amphotericin B) – Chemotherapeutika (z. B. Cisplatin, Methotrexat), Ciclosporin A, Äthylenglykol, Myoglobin, Hämoglobin, Harnsäure, Oxalat – Sepsismediatoren, Paracetamol im Rahmen von Überdosierungen 4 Renovaskuläre Erkrankungen – Nierenarterienthrombose oder -embolie mit Niereninfarkten, dissezierendes Aorteneneurysma, Cholesterinemboliesyndrom 4 Primär renale Erkrankungen/renale Beteiligung bei Systemerkrankungen/Infektionen – rapide progressive Glomerulonephritis, Vaskulitis, hämolytisch-urämisches Syndrom (HUS) – thrombozytopenische Purpura (TTP), disseminierte intravasale Gerinnung (DIC), Sklerodermie, Endokarditis, Shuntnephritis – akute interstitielle Nephritis – allergisch: Antibiotika (z. B. β-Laktamantibiotika, Rifampicin, Sulfonamide), Diuretika, Cyclooxygenasehemmer – infektiös: bakterielle Infektionen (Pyelonephritis, Leptospirose), Virusinfekte (Polyoma), Pilzinfektionen 4 Intratubuläre Obstruktion – monoklonale Leichtketten (Myelomniere, häufig multifaktoriell, u. a. Hyperkalzämie, Anfälligkeit für Kontrastmittel/NSAID, Hyperurikämie, Hyperviskosität) – Urat (Tumorlysesyndrom), Oxalat (Äthylenglykol, Vitamin C), Aciclovir, Hochdosis-Methotrexat – Sulfonamide, Indinavir, Hämproteine (Myoglobin, Hämoglobin), Triamteren – Natriumphosphat in Lösungen zur Koloskopievorbereitung (akute Phosphatnephropathie) Postrenales ANV 4 Ureterobstruktion – Nephrolithiasis (beidseitig), Papillennekrosen (beidseitig), Malignome (z. B. Ovarialkarzinom) 4 Obstruktion im Bereich der Harnblase – benigne Prostatahypertrophie, Blutkoagel, neurogene Blase, Nephrolithiasis, Malignome 4 Urethraobstruktion – Striktur, angeborene Urethralklappen
61.3.1
Prärenales ANV
Ein prärenales ANV ist eine funktionelle Nierenfunktionseinschränkung, die nach Normalisierung der renalen Durchblutung prompt reversibel ist. Das Nierentubulusepithel ist dabei (noch) nicht strukturell geschädigt. Ziel ist eine maximale renale Volumenkonservierung zugunsten der Aufrechterhaltung des effektiven zirkulierenden Blutvolumens und der Durchblutung vitaler Organe (Gehirn, Herz). Eine anhaltende, schwere Minderperfusion der Nieren kann im Verlauf aber zu einem intrarenalen ANV führen.
Pathomechanismen Eine Hypovolämie, die ausreichend ist, um ein ANV hervorzurufen, kann sich im Rahmen von Blutverlusten, Dehydratation, gastrointestinalen Flüssigkeitsverlusten oder Sequestration von Flüssigkeit in den Extrazellulärraum entwickeln. Bei großen Operationen besteht häufig eine Kombination aus Hypovolämie und Hypotonie (. Abb. 61.1). Auch eine Verminderung des effektiv zirkulierenden Volumens trotz teilweise normalem oder erhöhtem Extrazellulärvolumen wie bei Herzinsuffizienz, nephrotischem Syndrom oder bei systemischer Vasodilatation (z. B. bei Sepsis) kann ein prärenales ANV verursachen (. Abb. 61.1). Zu einem ANV kommt es, wenn die Autoregulationsmechanismen überfordert werden, die die GFR bei abfallendem Nierenperfusionsdruck zunächst noch aufrechterhalten. Diesbezüglich von Bedeutung sind Prostaglandine (Vasodilatation) und das RAAS (Konstriktion der efferenten Arteriole durch Angiotensin II). Deshalb können die nichtsteroidalen Antiphlogistika, auch die COX2-Hemmer, und ACE-Hemmer/ARB bei schon beeinträchtigter renaler Hämodynamik ein akutes Nierenversagen auslösen. > Besonders wichtig ist eine renale Minderperfusion auch bei Patienten mit akutem Leberversagen.
Die Zunahme der Durchblutung im Splanchnikusgebiet (NOvermittelt) mit systemischer Vasodilatation, gesteigertem HZV und systemischer Hypotonie geht mit der Verschlechterung der Lebererkrankung einher. Eine gegenregulatorisch (RAAS, Sympathikus) bedingte intrarenale Vasokonstriktion und stark stimulierte Natriumrückresorption (16.000 U/l o hohe Wahrscheinlichkeit für ANV, gering bei CK-Werten 15 mg/dl), 4 bei Hyperoxalurie (Äthylenglykol, Vitamin-C-Überdosierung) oder 4 nach intravenöser Gabe von (Hochdosis-) Methotrexat bzw. von Aciclovir, Indinavir, Triamteren und Sulfonamiden. Leichtketten bei monoklonalen Gammopathien sind gleichfalls tubulotoxisch. Intratubuläre Obstruktion und Tubulustoxizität treten ebenfalls auf bei der akuten Phosphatnephropathie (häufig irreversibel!) durch natriumphosphathaltige Lösungen zur Koloskopievorbereitung (Kalziumphosphatpräzipitation und Hypotonie/ Hypovolämie) [6]. Vaskuläre und entzündliche Nierenerkrankungen. Neben den oben genannten Ursachen (prärenal, toxisch) gehen Erkrankungen der Nierengefäße, der Glomeruli und des Niereninterstitiums mit dem klinischen Bild eines ANV einher. Dies trifft auf hochgradige atherosklerotische Nierenarterienstenosen zu (funktionell bei ACE-Hemmergabe, strukturell bei embolischem Verschluss). Das Cholesterinemboliesyndrom meist nach suprarenaler Gefäßmanipulation (z. B. Koronarangiographie, Gefäßchirurgie) geht mit Embolisation tausender 20–40 μm großer Teile atherosklerotischer Plaques in kleine Arterien (Ateriolen) der Niere mit lokaler Entzündung einher; häufig irreversibel. Darüber hinaus kann eine Embo-
767 61.3 · Ätiologie und Pathophysiologie
Ischämie und Reperfusion Kalzium Sauerstoffradikale Purindepletion Phospholipasen
Tubuluslumen
Integrin Integrin
Normales Tubulusepithel mit Bürstensaum
Na+/K+-ATPase
Verlust der epithelialen Zellpolarität und des Bürstensaums
Tage bis Wochen
Proliferation, Differenzierung und Wiederherstellung der Zellpolarität
... weiterhin Komplement + ICAM-1 ↑ Endothelschädigung + Leukozytenrecruitment Apoptose
»Backleak«
Wachstumsfaktoren
Zelltod Ausbreitung mit Dedifferenzierung von vitalen Zellen
Obstruktion Loslösung von abgestorbenen und vitalen Zellen mit nachfolgender Tubulusobstruktion
Nekrose
Integrin Na+/K+-ATPase Nekrose . Abb. 61.2 Mechanismen der Schädigung und Erholung bei intrarenalem ANV
lisation von Plaquematerial >100 μm mit Lokalisation in kleinen/ mittleren Arterien auch spontan auftreten. > Antikoagulation per se scheint nicht mit Cholesterinembolien assoziiert (Konzept der Plaquehämorrhagie) zu sein.
Andere mikrovaskuläre, glomeruläre Erkrankungen der Niere sind akute Glomerulonephritiden (z. B. mit schwerem nephrotischem Syndrom), Vaskulitiden (rapid-progressive, nekrotisierende Glomerulonephritis), das hämolytisch-urämische Syndrom (HUS), die thrombotisch-thrombozytopenische Purpura (TTP), die maligne Hypertonie und die disseminierte intravasale Gerinnung (DIC). Hierbei führt die Obstruktion von Arteriolen und Glomeruluskapillaren zu glomerulärer Hypoperfusion und GFR-Abfall. Pharmaka, insbesondere Antibiotika (z. B. Penizilline, Ciprofloxacin), nichtsteroidale Antiphlogistika (auch COX-2-Hemmer),
ASS, Protonenpumpenhemmer, Cimetidin, Allopurinol, Indinavir und Diuretika (Thiazide, Schleifendiuretika) können ein ANV auch durch eine akute (»allergische«) tubulointerstitielle Nephritis induzieren; gelegentlich auch bei Infektionen (Legionellen, Leptospirose, CMV-Infektion, Polyoma-Infektion) und Autoimmunerkrankungen (Sarkoidose, Sjögren-Syndrom, SLE, Wegener-Granulomatose) [7]. Bei einer bakteriellen Endokarditis findet sich bei 1/3 der Patienten ein ANV mit einer komplementverbrauchenden (Plasma-C3 und -C4 sind vermindert) Poststreptokokken- bzw. Staphylokokkenglomerulonephritis (Differenzialdiagnosen: tubulointerstitielle Nephritis, Aminoglykosid-/Vancomycin-induzierte Nephrotoxizität, Nierenembolisation). Bei der Shuntnephritis bestehen ähnliche Befunde.
61
768
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Kapitel 61 · Akutes Nierenversagen (ANV), extrakorporale Eliminationsverfahren und Plasmaseparation
61.3.3
Postrenales ANV Cockroft-Gault-Formel zur Errechnung der GFR [ml/min]
Eine Obstruktion der ableitenden Harnwege ist die seltenste Ursache eines ANV; dabei betrifft die Obstruktion entweder beide Harnleiter, liegt distal der Blase oder die zweite Niere weist eine relevante Vorschädigung auf. Ursachen für eine Obstruktion der Ureteren sind u. a. Harnleitersteine, retroperitoneale Blutungen, Tumoren, Fibrose und Operationen. In der Blase kann eine Blasentamponade (z. B. Blutung aus der Niere nach Biopsie) zum ANV führen. Eine Blasenhalsobstruktion kann bei einer Prostataerkrankung, bei neurogener Blasenentleerungsstörung oder unter Anticholinergika auftreten.
61.4
Diagnostisches Vorgehen
Ein ANV kann oligurisch (Diurese 1% der Leukozyten; Sensitivität 67%, Spezifität 83%). Ein normales Urinsediment kann sich beim prärenalen, selten intrarenalen, postrenalen ANV, bei der Hyperkalzämie, bei der Myelomniere und bei Nierenarterienstenosen finden. Die Proteinausscheidung beim ANV liegt meist Eine rasche Therapie ist für die Erholung der Nierenfunktion, z. B. bei renaler Vaskulitis, entscheidend.
Bei Verdacht auf Nierenarterien- oder Nierenvenenverschluss muss zumindest eine Dopplersonographie oder ein Angio-CT, ggf. eine Angiographie erfolgen. Diagnostisch für ein Cholesterinemboliesyndrom ist der Nachweis von Hollenhorst-Plaques in der Fundoskopie oder die Haut- oder Nierenbiopsie.
61.5 . Tab. 61.2 Parameter zur Unterscheidung zwischen prärenalem und intrarenalem ANV (Konzentrationsangaben von Harnstoff und Kreatinin in [mg/dl]) Parameter
Prärenales ANV
Intrarenales ANV
Urinvolumen
Niedrig
Kann niedrig sein
(Na+)
40 mmol/l
Urin
OsmolalitätUrin
>500 mosmol/l
40
40
2 mg/dl führt zu einer 6,5-, 11- und 50-fach höheren Krankenhaussterblichkeit. Selbst nach Entlassung haben Patienten mit transientem ANV eine höhere Sterblichkeit. Die Aussicht auf eine Funktionsaufnahme der Niere nach dialysepflichtigem ANV ist günstig (90–95%), allerdings bei vorbestehender chronischer Niereninsuffizienz deutlich schlechter (50–70%). Bei 50% aller Patienten nach ANV findet sich eine fortbestehende Einschränkungen der GFR und der Urinkonzentrierung [12–14].
61.7
Prophylaxe und Prävention
Vorbestehende Niereninsuffizienz (CNI Grad II–IV), hohes Lebensalter, generalisierte Artherosklerose und eine Beeinträchtigung des effektiv zirkulierenden Blutvolumens sind Risikofaktoren für ein ANV und können bei Verschlechterung der Nierendurchblutung bei z. B. vorübergehenden Blutdruckabfällen oder Flüssigkeitsverlusten ein ANV begünstigen. Zudem können forcierte Diurese, Aszitespunktion oder nephrotoxische Medikamente ein ANV auslösen. Solche Maßnahmen sollten deshalb nur nach sorgfältiger Risiko-Nutzen-Abwägung durchgeführt werden. Die wichtigste Maßnahme ist die Schaffung eines »gut hydrierten« Flüssigkeitsstatus, falls klinisch vertretbar. Der Flüssigkeitsstatus sollte bei allen Hochrisikopatienten optimiert werden. Die Einschätzung des Flüssigkeitsstatus erfolgt mit klinischen und apparativen Parametern (u. a. Hautturgor, Blutdruck, ZVD, Sonographie). Die Flüssigkeitssubstitution wird mit Kristalloiden erreicht: 0,9% NaCl- oder Ringer-Lösung; keine Vorteile für Humanalbumin oder Stärkederivate; Letztere sind sogar ungünstig [15–17]. Keine prophylaktische Diuretikagabe, keine Dopamingabe in Nierendosis, keine intensivierte Insulintherapie mit Blutzuckerzielwerten zwischen 80 und 110 mg%, sondern Blutzuckerwerte unter 150 mg% anstreben! Die prophylakische Gabe von ACC vor großen Operationen war erfolglos. 4 Für eine Hydrierung vor Kontrastmittelgabe, Cisplatintherapie (+forcierte Diurese), Methotrexat (+forcierte Diurese+Urinalkalisierung), Amphotericin B und mit Abstrichen bei Hämolyse/Rhabdomyolyse (bei Rhabdomyolyse aggressiver Flüssigkeitsausgleich+zusätzliche Alkalisierung mit Natriumbikarbonatlösung) gibt es gute Daten. 4 Prophylaxe der intratubulären Obstruktion (»kristallinduzierte Nephropathie«) bei Therapie mit Aciclcovir, Sulfonamiden (+Urinalkalisierung), Harnsäure (Allopurinoltherapie oder rekombinante Uratoxidase Rasburicase+Urinalkalisierung), Oxalat, Methotrexat (+Urinalkalisierung; u. U. Methotrexatabbau mit Carboxypeptidase G2 beschleunigen) und Indinavir (häufig auch Nephrolithiasis; Kristalle im sauren Milieu besser löslich) mit ausreichender Hydrierung. 4 Verminderung der Antibiotikatoxizität von Aminoglykosid (ANV in 10–20% nach 5–7 Tagen) durch Einmalgabe und regelmäßige Spiegelkontrollen [18]. Erhöhtes Risiko bei langer Therapiedauer, höherem Lebensalter, reduziertem zirkulierendem Blutvolumen, Sepsis, Komorbidität (z. B. Diabetes mellitus), nephrotoxischer Begleitmedikation, Talspiegel >2,5 μg/ ml, Aminoglykosidsubtyp (fraglich), hoher Dosierungshäufigkeit. Tägliche Serumkreatininmessung bei kritisch Kranken. Aminoglykosidtalspiegel 24 h nach Einmalgabe sind häufig niedrig/nicht messbar und erlauben den Ausschluss einer Akkumulation. Zur Frage wirksamer Aminoglykosidspiegel nach Einmalgabe werden Spitzenspiegel und/oder Talspiegel bereits nach 12 h verwendet. Die Nephrotoxizität von Vancomycin ist deutlich geringer als früher angenommen (verbesserte Qualität der Chargen); nichtsdestotrotz sind Talspiegelkontrollen (Ziel >10 μg/ml und bis zu 15–20 μg/ml bei schwerer Infektion) erforderlich; die Kombination mit Aminoglykosiden sollte vermieden werden. Bei Patienten mit einer Vancomycintherapie >3 Tage, bei hohen Zielspiegeln, Potenzial für Nierenfunktionseinschränkungen und gleichzeitiger Aminoglykosidtherapie ist eine regelmäßige Talspiegelbestimmung sowie tägliche Kontrollen des Serumkreatininwertes erforderlich. Bei HD-Patienten »loading dose« von 1 g i.v. nach HD (15–20 mg/kg KG) und 500 mg i.v.
771 61.8 · Therapeutisches Vorgehen
4
4
4
4
4 4
4
4
nach jeder weiteren HD (höhere Dosis bei Talspiegel 200 ml/h, Urin-pH-Wert >7) ein ANV zu verhindern (Hyperkaliämierisiko!). NSAID oder COX-2-Hemmer bei den oben genannten Risikogruppen möglichst kurz und niedrigdosiert einsetzen, Substanzen mit kurzer Halbwertszeit bevorzugen. COX-2-Hemmer sind bezüglich ANV-Auslösung nicht günstiger als klassische NSAID. Unter Therapie mit ACE-Hemmern bzw. Angiotensinrezeptorblockade kommt es bei 1,9% bzw. 2,0% der Patienten zu Verdopplung des Serumkreatinins. 0,7% der Patienten (1,1% bei Kombination) brechen deshalb die Therapie ab (ONTARGETStudie). Bei Herzoperationen könnte eine Herz-Lungen-Maschine mit pulsatilem Fluss oder die Off-pump-ACVB-Operation vorteilhaft sein. Bei ANV bei Myelomniere rascher Flüssigkeitsausgleich, danach Zufuhr von 3 l Kristalloid/Tag, ggf. Behandlung der Hyperkalzämie mit Bisphosphonaten und u. U. Entfernung der freien Leichtketten mittels Plasmapherese. Zur Vorbereitung einer Koloskopie keine natriumphosphathaltigen Lösungen, besonders nicht bei vorbestehender Einschränkung der Nierenfunktion, Volumendepletion oder ACEHemmer-/ARB-Therapie. Bei spontan bakterieller Peritonitis zusätzliche Gabe von intravenöser Albuminlösung (1,5 g/kg KG bei Diagnosestellung, 1,0 g/kg KG am Tag 3 der Antibiotikatherapie) mit weniger irreversibler Einschränkung der Nierenfunktion und besserem Überleben. Bei Risikopatienten durch prophylaktische Therapie mit täglich 400 mg Norfloxacin deutliche Risikoreduktion für spontan bakterielle Peritonitis (7 vs. 61%), hepatorenales Syndrom (28 vs. 41%) und verbessertes Überleben (94 vs. 62% nach 3 Monaten).
61.8
Therapeutisches Vorgehen
61.8.1
Allgemeine Therapiemaßnahmen
Prärenales und postrenales ANV sind nach rascher Korrektur der primären Störung (z. B. Flüssigkeitsdefizit) bzw. Beseitigung der Obstruktion häufig schnell reversibel (bzw. gehen bei nicht zeitnaher Therapie in ein intrarenales ANV über). > Für das intrarenale (ischämische/nephrotoxische) ANV besteht keine spezifische Therapie.
Deshalb sollte man eine stabile hämodynamische Situation mit ausgeglichenem Volumenstatus anstreben, neue toxische oder hämodynamische Insulte vermeiden, urämische Toxine entfernen und mögliche Komplikationen beherrschen. Beim hepatorenalen Syndrom mit Vasodilatation im Splanchnikusgebiet erhöhen Ornipressin/Terlipressin (=Vasopressinanaloga), häufig kombiniert mit Albumin (ca. 1g/kg KG/Tag), den systemischen Blutdruck, vermindern Plasmarenin und Noradrenalin und führen zu einer Steigerung der GFR und der Na+- und Urinausscheidung. Therapieerfolge sind auch zu verzeichnen mit der Kombination aus Midodrin (α1-adrenerger Agonist, maximal 3-mal 15 mg) und Octreotid (Somatostatin Analogon; hemmt die Freisetzung von endogenen Vasodilatatoren; 3-mal 100–200 μg). In kleineren Fallserien war die Kombination aus Noradrenalin+Albumin erfolgreich. Die Prognose des hepatorenalen Syndroms ist günstig, wenn es gelingt, die Leberfunktion wiederherzustellen, z. B. mittels einer Lebertransplantation oder Alkoholabstinenz [19]. Bei akuter tubulointerstitieller Nephritis lässt sich die Erholung der Nierenfunktion durch eine Steroidgabe (1 mg/kg KG/Tag) häufig beschleunigen. Beim Niereninfarkt erfolgt in der Regel eine Antikoagulation, besonders bei Vorhofflimmern oder bei Vorhofoder Ventrikelthromben. Gegebenenfalls erfolgt die Einleitung einer lokalen oder systemischen Thrombolyse innerhalb von Stunden bis wenigen Tagen nach Symptombeginn mit schlecht vorhersagbaren Erfolgsaussichten. Ebenfalls können interventionelle Verfahren zum Einsatz kommen. Weitere allgemeine Therapiemaßnahmen beim ANV sind Flüssigkeitsvolumenbilanzierung mit Anpassung der Flüssigkeitszufuhr an die Diuresemenge. Beim ANV ist die Dosisanpassung renal eliminierter/metabolisierter Medikamente wichtig (. Tab. 61.3). Viele Medikamente müssen beim ANV reduziert bzw. abgesetzt werden (z. B. Aminoglykoside, Vancomycin, Sotalol, Spironolacton). Gentamycin: Bei zwingender Indikation grundsätzlich als Einmalgabe mit einer »loading dose« von, z. B. 240 mg i.v. und danach z. B. 40 mg täglich i.v. (120 mg nach HD i.v.) unter Talspiegelkontrolle bei schwerem ANV.
. Tab. 61.3 Dosisanpassung einiger wichtiger Antibiotika bei der Niereninsuffizienz HWZ [h] normal vs. Anurie
Startdosis
GFR normal
GFR 30 ml/min
GFR 150 mg/dl erwägen (relative Indikation) und die Serumharnstoffkonzentration 150 mg/dl dialysiert wurden, eine 2-fach gesteigerte Mortalität [26, 27].
Wasser
Elektrolyte
Dialysat
Dialysat-Kompartment . Abb. 61.3 Grundprinzip der Hämodialyse mit Blut- und Dialysatfluss im Gegenstromprinzip und Stoffausgleich durch Diffusion und Konvektion
Diffusion. Transport gelöster Teilchen durch Membran wegen
Konzentrationsunterschieds zwischen beiden Seiten der Membran. Diffusion ist wichtigster Transportmechanismus von kleinmolekularen Substanzen (bis MG 500) bei der HD. Konvektion. Kotransport von gelösten Teilchen mit Plasmawasser.
Mittelgroße Substanzen (bis MG 20.000) werden v. a. durch Konvektion transportiert. Treibende Kraft ist die hydrostatische Druckdifferenz zwischen Kapillarlumen und Dialysat. Die Konvektion ist zentraler Transportmechanismus bei der HF. Ultrafiltration. Transport von Flüssigkeit durch Membran auf-
grund hydrostatischer Druckdifferenz. Ultrafiltration entfernt gelöste Teilchen wie unter Konvektion beschrieben; beide Begriffe werden teilweise synonym gebraucht. Ultrafiltration steht auch für die Flüssigkeitsmenge, die entfernt wird.
Eliminationsverfahren Bei der HD (. Abb. 61.3) sind alle Mechanismen beteiligt, bei der HF nur die Konvektion/Ultrafiltration. Kleinmolekulare Substanzen (MG Auf Intensivstationen sind bei schweren Infektionen die höchstzugelassenen intravenösen Dosierungen indiziert. Selbstverständlich müssen in Abhängigkeit von der Art der Elimination die maximalen Tagesdosierungen an die Organinsuffizienz, beispielsweise von Leber oder Niere, adaptiert werden.
In US-amerikanischen Empfehlungen werden E-Laktamantibiotika (z. B. Penicilline) häufig bis zu 6-mal täglich gegeben. Es ist bekannt, dass die Zeitdauer der Antibiotikakonzentration von E-Laktamantibiotika über der minimalen Hemmkonzentration (MHK) der Bakterien entscheidend ist für die bakterielle Abtötung und damit für die klinische Heilung. E-Laktamantibiotika können daher insbesondere bei schweren lebensbedrohlichen Infektionen oder bei einer persistierenden Bakteriämie trotz adäquater Therapie als Dauerinfusion gegeben werden (z. B. Ceftazidim und Doripenem). Im Gegensatz hierzu entscheidet bei Aminoglykosiden und Gyrasehemmern die maximale Serumkonzentration über das Abtöten von Bakterien. Insbesondere Aminoglykoside werden daher heute – mit Ausnahme bei Endokarditis – nur 1-mal täglich gegeben; so wird bei gleicher Wirkung ein deutlich verbessertes Nebenwirkungsprofil erreicht im Vergleich zur früher üblichen 2 - bis 3-mal täglichen Dosierung.
62.1.7
Erregerspezifische Therapieumstellung
Auf Intensivstationen ist eine Deeskalation von Antiinfektiva im Sinne einer Dosisreduktion, Verringerung der Applikationshäufigkeit oder Umstellung von der initial begonnenen intravenösen Therapie auf eine perorale Gabe in den meisten Fällen nicht indiziert. Eine erregerspezifische Umstellung der Initialtherapie mit einem breiten Erregerspektrum auf ein schmales Spektrum ist jedoch sowohl aus klinisch-infektiologischer Sicht im individuellen Fall wie auch aus epidemiologischer Sicht sinnvoll (. Tab. 62.1). Hierdurch wird eine verzögerte Resistenzentwicklung der Substanzen mit einem breiten Spektrum erzielt; weiterhin besitzen erregerspezifische Substanzen häufig eine bessere In-vitro-Aktivität, können teilweise höher dosiert werden und sind zudem häufig preisgünstiger. Kriterien für eine Umstellung sind, dass das mikrobiologisch nachgewiesene Bakterium ein typischer Erreger der Infektionslokalisation ist (z. B. S. pneumoniae bei Pneumonie oder S. aureus bei katheterinduzierter Infektion). Dieser sollte idealerweise in physiologisch sterilem Material nachgewiesen werden, wie beispielsweise Liquor, Blutkultur oder Punktion steriler Körperhöhlen. Beim Nachweis aus physiologisch kolonisiertem Material, wie beispielsweise respiratorischem Sekret, sollte der Erreger in Reinkultur und
62
784
62
Kapitel 62 · Antibiotika, Prophylaxe und Antimykotika
62.2.3
. Tab. 62.1 Erregerspezifische Therapie Erreger
Wirkstoff
Pneumokokken
Penicillin
62
Streptokokken (z. B. S. pyogenes)
Penicillin
Staphylokokken (S. aureus, CNS)
Oxacillin
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Enterokokken (E. faecalis)
Ampicillin
E. coli
Ampicillin, Cefuroxim
Klebsiella spp.
Cefuroxim
Proteus spp.
Cefuroxim
Moraxella catarrhalis
Cefuroxim
P. aeruginosa
Piperacillin, Ceftazidim
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hoher Konzentration – im optimalen Falle wiederholt – nachgewiesen werden (z. B. P. aeruginosa im Trachealsekret bei nosokomial erworbener Pneumonie).
62.2
Antibiotikastrategien
62.2.1
Antibiotikarestriktion
In mehreren Untersuchungen konnte durch eine Antibiotikarestriktion bestimmter Substanzklassen eine Reduktion der entsprechenden resistenten Erregerspezies gezeigt werden. Häufig wird in solchen Studien jedoch nicht beschrieben, dass alternativ andere Substanzklassen entsprechend häufiger eingesetzt werden, wodurch weitere Resistenzen selektiert und induziert werden. So konnte beispielsweise durch Einschränkung der Applikation von 3.-Generations-Cephalosporinen, Carbapenemen, Clindamycin, Vancomycin und Aminoglykosiden die MRSA-Rate sowie das endemische hohe Niveau von Klebsiella pneumoniae – Ceftazidimresistent über einen 4-Jahres-Zeitraum – deutlich gesenkt werden. Da aber die Antibiotikaanwendungsrate an sich nicht reduziert wurde, kam es zu einem Mehrverbrauch von E-Laktamase-geschützten Penicillinen, sodass zeitgleich ein massiver Anstieg von Acinetobacter spp. gezeigt werden konnte [11]. > Es ist daher nicht sinnvoll, einzelne Substanzklassen zu meiden und andere entsprechend vermehrt einzusetzen mit dem Ziel, das Resistenzniveau zu reduzieren. Es ist sehr viel sinnvoller, die Antibiotikaindikationen strenger zu stellen, um somit die Antibiotikaanwendungsrate insgesamt zu senken. Nur so ist mittelfristig eine Reduktion multiresistenter Erreger erreichbar.
62.2.2
Antibiotika-Cycling
Theoretisch ist vorstellbar, dass durch ein routinemäßiges Rotieren bestimmter Substanzklassen über einen definierten Zeitraum (beispielsweise 3–6 Monate) ein verminderter Selektionsdruck ausgeübt wird, wodurch einer Resistenzentwicklung entgegengewirkt werden soll. So wird beispielsweise empfohlen, periodisch bevorzugt Penicilline, dann Cephalosporine, Gyrasehemmer und anschließend Carbapeneme einzusetzen. Einerseits ist die Compliance mit einem solchen rotierenden System häufig gering, und andererseits konnte eine Senkung der Resistenzentwicklung nicht erreicht werden [12].
Antibiotikaleitlinien
Der Vorteil schriftlich eingeführter Leitlinien zur Antibiotikatherapie und Prophylaxe konnte mehrfach belegt werden; solche Leitlinien wurden als SOPs zur Diagnostik und Therapie der unterschiedlichen Infektionen für eine Intensivstation mit Hilfe eines Computerprogramms weiterentwickelt und vorgestellt [13]. Die Befolgung solcher komplexer und komplizierter SOPs erscheint auf den ersten Blick schwer realisierbar, andererseits kann so auf höchstem Niveau eine Qualität sichergestellt werden. Im Individualfall kann und muss jedoch die Freiheit und Möglichkeit bestehen, von solchen vorgegebenen »pathways« begründet abzuweichen.
62.2.4
Fallkonferenzen
In angloamerikanischen Ländern ist es üblich, anhand von aktuellen Fällen das implementierte diagnostische und/oder therapeutische Vorgehen aufzuzeigen und kritisch zu hinterfragen. Solche »morbidity and mortality conferences« (M&M-Konferenzen) sind in Deutschland unüblich, obwohl sie v. a. für jüngere Kollegen eine ideale Möglichkeit der Wissensvermehrung darstellen und die Möglichkeit bieten, etablierte Regimes zu aktualisieren und optimieren. So könnten auf dem Gebiet der klinischen Infektiologie beispielsweise Patienten mit einer Dreier- oder Viererkombination, einer Therapiedauer >2 Wochen, sowie Patienten, die bereits einen 3. Antibiotikazyklus erhalten oder bei denen eine verlängerte postoperative Prophylaxe über 24 h durchgeführt wird, vorgestellt werden. Fazit Zusammenfassend erscheint eine Strategie, die die unterschiedlichen Instrumente zur adäquaten und indizierten Antibiotikaanwendung kombiniert und diese auf die abteilungsspezifischen Bedürfnisse modifiziert, am sinnvollsten [14].
62.3
Antibiotikaprophylaxe
Das Ziel einer perioperativen Antibiotikaprophylaxe ist die Reduktion postoperativer Wundinfektionen; dies konnte in mehreren Studien in den 1980-er und 90-er Jahren belegt werden und ist heute in sämtlichen Empfehlungen enthalten. Dennoch können nicht alle postoperativen Wundinfektionen auch durch eine adäquat gegebene Prophylaxe vermieden werden, und auch andere nosokomial erworbene Infektionen, wie Pneumonien, Harnwegsinfektionen oder katheterassoziierte Sepsisfälle können nicht verhindert oder reduziert werden. Die Indikationen für eine Prophylaxe sind entweder Operationen in einem physiologisch bakteriell besiedelten Situs, wie beispielsweise Kolonoperationen, bei denen ein erhöhtes Wundinfektionsrisiko bekannt ist, oder Eingriffe, bei denen eine Wundinfektion eine »medizinische Katastrophe« darstellen würde, wie beispielsweise Herzoperationen oder Implantationen großer Fremdkörper (z. B. Knie- und Hüfttotalendoprothese). Die Indikationen sind aktuell übersichtlich für die einzelnen operativen Disziplinen und mit Evidenzgrad bewertet publiziert [15]. Eine Antibiotikatherapie wird in solchen Fällen durchgeführt, bei denen eine bestehende Infektion bekannt ist (z. B. Klappenersatz bei Endokarditis), oder wenn diese erst intraoperativ offensichtlich wird (z. B. Peritonitis bei perforiertem Appendix). Hier wird die initial begonnene Prophylaxe in eine postoperative Therapie umgewandelt.
785 62.4 · Diagnostik und Therapieoptionen invasiver Candidainfektionen
. Tab. 62.2 Perioperative Antibiotikaprophylaxe Ziel
Reduktion postoperativer Wundinfektionen
Indikation
Entsprechend den Empfehlungen der Fachgesellschaft
Antibiotikum
1.-/2.-Generations-Cephalosporine oder Aminopenicilline+β-Laktamaseinhibitor
Dosis
Therapeutische Dosis
Zeitpunkt der Gabe
30–60 min vor Inzision
Applikation
Intravenös
Häufigkeit
»Single shot« (2. intraoperative Gabe bei Operationsdauer >3 h, hohem intraoperativem Blutverlust, Herz-Lungen-Maschine)
Für die Antibiotikawahl stehen überwiegend Basisantibiotika, wie 1.- oder 2.-Generations-Cephalosporine oder E-Laktamase-gestützte Penicilline (z. B. Ampicillin/Sulbactam) zur Verfügung. Bei bekannter Kolonisation/Infektion mit multiresistenten Erregern (z. B. MRSA, VRE oder ESBL) im Operationssitus muss im Einzelfall die Prophylaxe entsprechend modifiziert und adaptiert werden. Es ist bekannt, dass der Zeitpunkt der Gabe der Prophylaxe streng korreliert mit der Effektivität der Infektionsprävention (. Tab. 62.2).
Prophylaxe Optimalerweise wird die Prophylaxe 30–60 min vor Inzision gegeben. So werden während der Operation ausreichend hohe Antibiotikakonzentrationen in den Wundrändern erzielt, um dort Erreger abzutöten. Beträgt die Operationsdauer >3 h oder kommt es intraoperativ zu einer Verdünnung der Antibiotikakonzentration, beispielsweise durch Bluttransfusionen oder durch den Einsatz von Herz-Lungen-Maschinen (insbesondere in der Pädiatrie), ist eine intraoperative 2. Gabe indiziert. Diese Antibiotika sollten ausschließlich intravenös und in therapeutischer Dosierung gegeben werden.
> Jede postoperative Antibiotikagabe, also nach Verschluss der Wundränder, reduziert nachweislich nicht mehr die Wundinfektionsrate, sondern erhöht die Resistenzrate, Nebenwirkungen und Kosten [16, 17].
Entsprechend den Leitlinien zur Antibiotikatherapie konnten auch durch die Einführung hausinterner Empfehlungen zur Prophylaxe die Qualität gesteigert und die Kosten gesenkt werden [18]. Intravasale Katheter, Drainagen oder Liquordrainagen sind keine Indikationen für eine Prophylaxe. Hier käme es bei einer mehrtägigen Gabe von Antibiotika zur Selektion und Kolonisation mit resistenten Erregern, die dann möglicherweise eine Infektion verursachen. Diese Infektionen sind nachgewiesenermaßen mit einer erhöhten Letalität, Liegedauer und Kosten assoziiert.
62.4
Diagnostik und Therapieoptionen invasiver Candidainfektionen
62.4.1
Epidemiologie invasiver Candidainfektionen
In der angloamerikanischen Literatur wird eine Zunahme nosokomial erworbener Candidainfektionen, insbesondere auf Intensivstationen, beschrieben – immer häufiger werden Patienten auf unseren Intensivstationen betreut, die mehrere Risikofaktoren für eine invasive Candidainfektion besitzen [4, 19]. Diese sind trotz adäquater antimykotischer Therapie mit einer Letalität von bis zu 40% assoziiert [20].
Risikofaktoren für invasive Candidainfektionen [20] 4 4 4 4 4
Antibiotikatherapie Intravasale Devices Gastrointestinale Operationen Verbrennungen Ausgeprägte Immunsuppression
Die wichtigsten Infektionsquellen sind intravasale Katheter, Translokation aus dem Gastrointestinaltrakt und Wund- und Urogenitalinfektionen. Trotz häufigen Nachweises von Candida aus respiratorischem Sekret – analog zu koagulasenegativen Staphlyokokken und Enterokokken, insbesondere unter einer Antibiotikatherapie – [21] konnte in einer Untersuchung an 232 Patienten im Rahmen von Obduktionen in keinem einzigen Fall eine Candidapneumonie nachgewiesen werden. Sogar bei 77 Patienten mit einem Nachweis von Candida im respiratorischen Sekret und histologischen Zeichen von Pneumonie konnte in der Autopsie keine Pneumonie erkannt werden. Da nur bei 7 Patienten (9%) mit Candidanachweis im respiratorischen Sekret eine antimykotische Therapie begonnen wurde, war das Risiko einer unerkannten Candidapneumonie aufgrund der erfolgreichen Therapie sehr gering. Die Autoren schlussfolgern daraus, dass es bei Intensivpatienten diese Infektionsentität nicht gibt.
62.4.2
Diagnostik invasiver Candidainfektionen
Beweisend für eine invasive Candidainfektion ist der Nachweis von Candida spp. in Blutkulturen. Der einmalige Nachweis in einer einzigen Blutkulturflasche ist eine Therapieindikation. Es gibt Blutkulturflaschen mit speziellem Nährmedium für Sprosspilze; hierdurch konnte jedoch die Detektionsrate nicht erhöht werden, eine kürzere Detektionszeit wird diskutiert. Neben der Blutkulturdiagnostik ist der histologische Nachweis in Biopsiematerial beweisend. Der Nachweis von Candida aus Peritonealflüssigkeit/intraabdomineller Biopsie – insbesondere bei Zeichen einer Peritonitis – ist ebenfalls pathognomonisch für eine Candidainfektion. Die Bedeutung des Abstrichs bei dieser Infektion ist umstritten und sollte, wenn möglich, durch bioptisch gewonnenes Material ersetzt werden. Der Nachweis aus Urin oder Wundabstrichen kann nur patientenspezifisch interpretiert werden und stellt häufig eine Kolonisation dar, die keiner antimykotischen Therapie bedarf. In der Literatur wird der erhöhte Nachweis von Antikörpern und Antigen sowie ein Titeranstieg im zeitlichen Verlauf sehr kont-
62
786
Kapitel 62 · Antibiotika, Prophylaxe und Antimykotika
62
rovers diskutiert. Es konnte keine Korrelation zwischen Ergebnissen der Serologie und invasiven Candidainfektionen gezeigt werden.
62
62.4.3
62 62 62 62 62 62 62 62 62 62 62 62 62 62 62 62 62 62 62 62 62 62 62
Therapieoptionen invasiver Candidainfektionen
Neben Fluconazol und Amphotericin B gibt es seit wenigen Jahren mit Voriconazol und ein weiteres Azol und mit Caspo-, Anidulaund Micafungin die ersten Vertreter der Echinokandine – neue Therapieoptionen mit einem deutlich erweiterten antimykotischen Wirkspektrum. Diese neuen Antimykotika sind wirksam gegen Fluconazol-resistente Candida-albicans-Stämme und haben eine sehr gute Aktivität gegen andere Candida spp. mit einer intrinsischen Resistenz gegen Fluconazol, wie beipsielsweise C. krusei. In einer Metaanalyse konnte die Gleichwertigkeit von Fluconazol vs. Amphotericin B bei Patienten mit Candidämie gezeigt werden [22]. In den 6 Studien, die dieser Analyse zugrunde lagen, lag der Anteil von Candida albicans zwischen 50 und 70%. Die Nebenwirkungsrate, insbesondere die Nephrotoxizität, war in fast allen Studien signifikant bei Amphotericin B gegenüber Fluconazol erhöht. In einer randomisierten, prospektiven klinischen Untersuchung war Voriconazol bei nicht-neutropenischen Patienten bezüglich Letalität und mikrobiologischer Heilung (sterile Blutkulturen) gleichwertig mit Amphotericin B [23]. Auch Caspofungin war bei Patienten mit invasiven Candidainfektionen der Therapie mit Amphotericin B gleichwertig und zeigte gleichzeitig eine signifikant geringere Nebenwirkungsrate [24]. In einer prospektiven randomisierten doppelverblindeten Studie wurde die antimykotische Aktivität von Anidulafungin vs. Fluconazol bei 245 überwiegend nicht neutropenischen Patienten mit invasiver Candidainfektion untersucht. Mit statistischer Signifikanz war Anidulafungin am Ende der intravenösen Therapie bis zu 2 Wochen nach Beendigung der Gesamttherapie signifikant überlegen. Auch in der Subgruppenuntersuchung mit ausschließlich Candida-albicans-Erregern war die Gruppe mit Anidulafungintherapie sowohl mikrobiologisch wie auch klinisch signifikant der Fluconazolgruppe überlegen. Die Autoren schlussfolgern aus ihren Ergebnissen, dass Anidulafungin nicht unterlegen ist und möglicherweise als primäre Therapie einer Fungämie als Form einer invasiven Candidainfektion effektiver als Fluconazol ist [25]. In einer Phase-III-Studie konnte die Gleichwertigkeit bei Patienten mit Candidämie und invasiver Candidainfektion von Micafungin – ein weiterer Vertreter der Echinokandine – vs. liposomales Amphotericin B nachgewiesen werden. Patienten, die mit Micafungin therapiert wurden, hatten weniger Nebenwirkungen [26]. Entsprechend der empirischen Antibiotikatherapie muss die eigene Antimykotikastrategie an die lokale Nachweisrate der unterschiedlichen Candidasspezies und deren Resistenzmuster adaptiert werden. Stellt beispielsweise der Anteil Fluconazol-sensibler Candida-albicans-Stämme bei invasiven Infektionen mit Abstand den größten Anteil der Candidaspezies dar, kann evtl. auch bei instabilen und schwerkranken Patienten Fluconazol als initiale empirische Therapie gegeben werden. Bei der Gabe von Antimykotika müssen patientenspezifische Risikofaktoren berücksichtigt werden, sodass bei Patienten mit bekannter Besiedlung mit Fluconazol-resistenten Candida spp. oder bei bereits durchgeführter Fluconazol-Therapie eines der neueren Antimykotika wie Voriconazol oder ein Echinokandin gegeben werden sollte. Sind jedoch der Anteil an Candida spp., die intrinsisch gegen Fluconazol resistent sind (z. B. C. crusii), oder der Anteil von Candida albicans mit einer Fluconazol-Resistenz hoch, sollte
emipirisch – insbesondere bei instabilen und kritischen Patienten – kein Fluconazol mehr initial gegeben, sondern sofort mit Voriconazol oder einem Echinokandin therapiert werden. Analog zur erregerspezifischen Therapieumstellung bei Antibiotika kann auch bei initialem Beginn mit Voriconazol oder Caspofungin bei Nachweis fluconazolsensibler Erreger auf Fluconazol umgestellt werden. Ausführlich werden in aktuellen Leitlinien die Therapiestrategien für invasive Candidainfektionen dargestellt [27, 28]. Der Therapieerfolg wird signifikant erhöht, wenn intravasale Katheter (z. B. ZVK) bei Beginn der antimykotischen Therapie gewechselt werden. Eine Kontrolle mit wöchentlichen Blutkulturen wird empfohlen. Komplikationen wie Endokarditis, Osteomyelitis oder Abszedierung in Leber, Milz und Niere sind beschrieben.
62.4.4
Antimykotikaprophylaxe
Entsprechend der perioperativen Antibiotikaprophylaxe wird häufig bei Patienten mit multiplen Risikofaktoren für invasive Candidainfektionen die prophylaktische Gabe von Antimykotika diskutiert. In einer Metaanalyse wurden 6 unterschiedliche randomisierte Placebo-kontrollierte Studien mit einer Azol-Prophylaxe vs. Placebo bei chirurgischen Hochrisikopatienten durchgeführt [29]. Hierbei konnte – analog mehrerer Metaanalysen zur selektiven Darmdekontamination – zwar eine signifikante Reduktion der Candidainfektionen im Prophylaxearm gezeigt werden, die Gesamtletalität konnte jedoch nicht reduziert werden. > Aufgrund der Nebenwirkungsrate, der Resistenz und Kostensteigerung ist daher die Prophylaxe auch bei diesem Hochrisikoklientel kritisch zu hinterfragen und derzeit nicht zu empfehlen.
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62
789
Diagnose und Therapie der Sepsis T. Schürholz, G. Marx
63.1
Einführung – 790
63.2
Epidemiologie der Sepsis – 790
63.3
Langzeitüberleben und Lebensqualität nach Sepsis – 790
63.4
Definition und Diagnose der Sepsis – 790
63.4.1 63.4.2 63.4.3 63.4.4 63.4.5
Procalcitonin – 791 C-reaktives Protein – 791 Zytokine und andere Marker – 791 Monitoring der Mikrozirkulation – 792 Laktatclearance – 792
63.5
Therapie – 792
63.5.1 63.5.2 63.5.3 63.5.4 63.5.5
Kausale Therapie der Sepsis – 792 Supportive Therapie der Sepsis – 794 Adjunktive Therapie der Sepsis – 795 Nicht gesicherte adjunktive Therapien – 797 Weitere adjunktive Therapieansätze – 798
Literatur – 799
H. Burchardi et al. (Hrsg.), Die Intensivmedizin, DOI 10.1007/978-3-642-16929-8_63, © Springer Medizin Verlag Berlin Heidelberg 2011,
63
790
63 63 63 63
63.1
Kapitel 63 · Diagnose und Therapie der Sepsis
Einführung
In der Sepsistherapie wird zwischen den kausalen antimikrobiellen bzw. operativ-interventionellen Maßnahmen zur Herdsanierung, sowie den elementaren supportiven (organbezogenen) intensivmedizinischen Standardmaßnahmen und adjunktiven (potenziell zusätzlichen) therapeutischen Ansätzen unterschieden. Auf die wichtigsten dieser evidenzbasierten supportiven und adjunktiven Therapiemaßnahmen wird im folgenden Beitrag eingegangen.
63
63.2
63
Über Jahrzehnte lagen systematische epidemiologische Studien zur Inzidenz der Sepsis, schweren Sepsis oder des septischen Schocks in Deutschland nicht vor. Unter anderem war dieser fehlende Eingang in die Statistiken der Gesundheitsämter in der mangelnden Wahrnehmung der Sepsis als eigene Entität und damit durch Todesbescheinigungen mit anderer Diagnose begründet. Erst eine Studie des Kompetenznetzwerkes Sepsis (»SepNet«) konnte belegen, dass die Sepsisinzidenz auf deutschen Intensivstationen bei etwa 154.000 Fällen pro Jahr liegt (220 Fälle auf 100.000 Einwohner). Bedeutsam ist diese hohe Inzidenz auch, weil die sepsisbedingte Letalität in den Krankenhäusern mit bis zu 54% unverändert hoch ist. In der gesamten Bundesrepublik Deutschland sterben jährlich etwa 60.000 Menschen an der Sepsis und ihren Folgen. Nach den der Allgemeinbevölkerung gut präsenten Erkrankungen wie akutem Myokardinfarkt und koronarer Herzerkrankung ist Sepsis damit die dritthäufigste Todesursache [1]. Betrachtet man nur die Krankenhäuser, so liegt laut prospektiven Einzelstudien in Westeuropa und den USA die Sepsisinzidenz bei ca. 1–2%. Auf den Intensivstationen dagegen wird ein 10-Faches der an Sepsis Erkrankten diagnostiziert. Je nach vorliegender Studie variieren die Angaben zwischen 9 und 22%. Interessanterweise tritt aber in Krankenhäusern der Maximalversorgung fast die Hälfte der Sepsisfälle nicht auf den Intensivstationen auf. In einer repräsentativen französischen Studie lag die Sepsisinzidenz bei 9%. Etwa 50% der Fälle schwerer Sepsis oder septischen Schocks wurden nicht im Krankenhaus erworben. Von den anderen 50% der septischen Patienten war die Hälfte wiederum auf der Intensivstation an schwerer Sepsis erkrankt [2]. Es ist innerhalb der letzten 20 Jahre gelungen, die Letalität der schweren Sepsis und des septischen Schocks zu senken. Vermutlich auch durch den demographischen Wandel in den industrialisierten Ländern verursacht, zeigt sich aber eine stetige Zunahme der Sepsisinzidenz im gleichen Zeitraum. Es wird daher gerade in den kommenden Jahrzehnten von hoher Bedeutung für die Patienten sein, Fortschritte in der Prophylaxe und Behandlung der Sepsis zu erzielen.
Innerhalb der ersten 6 Monate nach einer Sepsis erhöht sich die Letalitätsrate um ein weiteres Drittel [3, 4]. Die Überlebenden einer schweren Sepsis und eines septischen Schocks sind in den wenigen bisher vorliegenden systematischen Nachuntersuchungen nicht nur durch gesundheitliche Einschränkungen und eine verminderte Lebensqualität charakterisiert, sondern auch durch eine deutlich reduzierte Lebenserwartung. Daraus folgt, dass die an Sepsis erkrankten Patienten rasch und entschlossen behandelt werden müssen, um ein Fortschreiten der Erkrankung und damit die Entwicklung einer schweren Sepsis oder eines septischen Schocks zu verhindern [3, 5].
Epidemiologie der Sepsis 63.4
63 63 63 63 63 63 63 63 63 63 63 63 63 63 63
> Die schwere Sepsis bzw. der septische Schock sind eine der Haupttodesursachen und werden angesichts des demographischen Wandels zu einem sich aggravierenden Problem.
63 63 63 63
63.3
Langzeitüberleben und Lebensqualität nach Sepsis
Sepsis bedingt nicht nur eine hohe Akutletalität, sondern hat darüber hinaus Auswirkungen auf das Langzeitüberleben und die Lebensqualität.
Definition und Diagnose der Sepsis
Machiavelli wird ein Zitat von 1513 zugeschrieben, das das Wesen der schweren Sepsis und des septischen Schocks anschaulich beschreibt.
»
Hektisches Fieber ist zu Beginn schwierig zu erkennen, aber leicht zu behandeln; bleibt es unbehandelt, ist es leicht zu erkennen, aber schwierig zu behandeln.
«
Aber auch die Einsicht, dass die körpereigene Antwort auf eine Infektion verantwortlich für den Tod vieler Patienten ist, traf Sir William Osler schon vor über 100 Jahren. Kritisch kranke Patienten weisen häufig ein systemisches inflammatorisches Response-Syndrom (SIRS) und multiple Organdysfunktionen auf, die nicht immer sicher in Zusammenhang mit einer Infektion zu bringen sind. Sepsis ist eine komplexe inflammatorische Wirtsreaktion auf eine Infektion. Sepsis, schwere Sepsis und septischer Schock definieren ein Krankheitskontinuum, das über eine Kombination aus Vitalparametern, hämodynamischen Daten und Organfunktionen definiert wird. Erst 1992 wurden im Rahmen einer Konsensuskonferenz Definitionen für eine generalisierte Antwort auf einen inflammatorischen Stimulus (SIRS), für Sepsis, schwere Sepsis und den septischen Schock publiziert [6] (7 Definitionen für SIRS, Sepsis, schwere Sepsis und septischer Schock; modifiziert nach [6]). »Systemic inflammatory response syndrome« (SIRS) Körperkerntemperatur ≥38°C oder ≤36°C. 4 Tachykardie ≥90/min. 4 Tachypnoe ≥20/min oder paCO2≤33 mm Hg. 4 Leukozyten ≥12.000/μl, ≤4.000/μl oder ≥10% unreife Neutrophile.
Sepsis SIRS (2 oder mehr Punkte) mit vermuteter oder nachgewiesener Infektion. Schwere Sepsis (Sepsis mit wenigstens einer Organdysfunktion) 4 Akute Enzephalopathie (eingeschränkte Vigilanz, Desorientiertheit). 4 Kardiovaskulär (Hypotension, Katecholaminpflicht). 4 Renal (Diurese ≤0,5 ml/kg KG/h für mindestens 2 h). 4 Respiratorisch (paO2/FiO2 ≤ 250). 4 Hepatisch. 4 Hämatologisch (Thrombozyten ≤80 G/l oder Abfall um >30%). 4 Metabolisch (pH≤7,30 oder Basendefizit ≥5 mmol/l und Laktat >1,5-fach erhöht).
791 63.4 · Definition und Diagnose der Sepsis
Septischer Schock Sepsisinduzierte Hypotension (systolischer arterieller Blutdruck ≤90 mm Hg oder mittlerer arterieller Blutdruck ≤65 mm Hg über wenigstens 1 h trotz adäquater Volumenzufuhr, zusammen mit Veränderungen der Perfusion (Laktatazidose, Oligurie, Verwirrtheit) oder Vasopressoreinsatz.
Einschränkend muss man sagen, dass es keinen Beweis dafür gibt, dass SIRS oder Sepsis einen Beitrag zur Letalität haben. Weiterhin ist die Spezifität des SIRS gering und scheint kein positiver Prädiktor für die Entwicklung einer schweren Sepsis oder eines septischen Schocks zu sein. Dagegen basieren die schwere Sepsis und der septische Schock auf einer gesicherten epidemiologischen und pathophysiologischen Grundlage. Im klinischen Alltag ist die Spezifität der klassischen Diagnosekriterien gering. Für den klinisch weniger erfahrenen Arzt bleibt es also immer noch schwierig, schnell eine für den Patienten angepasste Therapie einzuleiten. Später wurde der (bisher erfolglose) Versuch unternommen, das System zu modifizieren. Das PIROKonzept (»predisposition, infection, response, organ dysfunction«) konnte sich aber in der täglichen Praxis am Krankenbett bisher nicht etablieren und gelangte deshalb nicht in den klinischen Alltag. Neben den klinischen Parametern zur Diagnose wurden und werden Dutzende Biomarker für die Diagnose und Prognose der schweren Sepsis evaluiert. Wenn nicht bereits negative Ergebnisse vorliegen, müssen zahlreiche andere Parameter in weiteren Untersuchungen ihren Nutzen für die Beurteilung der schweren Sepsis und des septischen Schocks noch beweisen. Die in den meisten Kliniken gebrauchten Marker werden im Folgenden behandelt.
63.4.1
Procalcitonin
Procalcitonin (PCT) ist das Prohormon von Calcitonin und liegt im Serum von gesunden Menschen mit PCT erhöht die Sicherheit der Diagnose Sepsis zusätzlich zu den etablierten klinischen und laborchemischen Parametern.
Allerdings können klinische Situationen, bei denen es durch hämodynamische Störungen zu einer potenziellen Translokation von Endotoxinen kommt (nach großen chirurgischen Eingriffen, Polytrauma, kardiogenem Schock) zu einer Erhöhung des PCT im Plasma führen. Trotzdem konnte die Wertigkeit des PCT zur Steuerung einer Antibiotikatherapie gezeigt werden. Die Antibiotikatherapie wurde beendet, falls PCT um >90% vom Ausgangswert reduziert war oder falls PCT 0,25 μg/l unterschritt. Dieses Vorgehen führte zu einer substanziellen Reduktion des Antibiotikaverbrauchs (4 Tage gegenüber der Kontrollgruppe), ohne dass dadurch Nachteile für den Patienten entstehen [7]. PCT erfährt steigende klinische Akzeptanz durch seine höhere Sensitivität und Spezifität verbunden mit einer vorteilhaften Kinetik bei schwerer Sepsis verglichen mit CRP, Zytokinen und konventionellen Infektionsparametern. Die Wertigkeit des PCT wird aktuell in einer multizentrischen Studie (SISPCT) untersucht.
63.4.2
C-reaktives Protein
Das C-reaktive Protein (CRP), ein β-Globulin, ist konstitutiv im Serum Gesunder nur in geringen Konzentrationen vorhanden. Bei akuten und chronischen Inflammationen hat sich CRP klinisch-diagnostisch als wichtiger Entzündungsparameter aus der Klasse der Akut-Phase-Proteine etablieren können. Das CRP bindet an Lysophospholipide in der äußeren Zellmembran geschädigter Zellen, und seine biologische Funktion wird im Zusammenwirken mit der sekretorischen Phospholipase A2 in einer Markierung der geschädigten Zellen und der Förderung ihrer Phagozytose gesehen. CRP hat eine valide Aussagekraft für Diagnosestellung, Verlaufs- und Therapiekontrolle von Entzündungsaktivitäten, wird aufgrund seiner biologischen Funktion aber auch durch vielfältige nichtinfektiöse Stimuli induziert. Im Gegensatz zu PCT, TNF-α und Interleukin-6 erreicht CRP sein Maximum ungefähr 48 h nach Beginn der Inflammation. Dabei wird der Schweregrad der Infektion nicht durch die CRP-Werte widergespiegelt. Die erhöhten Werte können auch nach Beseitigung des Fokus noch erhöht bleiben. Darüber hinaus ist CRP bei nichtinfektiösen Zuständen wie postoperativen Phasen und Autoimmunerkrankungen erhöht. > CRP spiegelt nicht den Schweregrad der Infektion wider.
63.4.3
Zytokine und andere Marker
Während das pro-inflammatorische TNF-α nur wenig Beitrag zur Sepsisdiagnose leisten kann, ist das Interleukin-6 (IL-6) eng verbunden mit Inflammation und der Antwort eines Organismus auf eine Infektion. IL-6 ist jedoch auch deutlich erhöht z. B. nach chirurgischen Eingriffen oder bei Autoimmunerkrankungen und scheint deshalb die Wertigkeit des IL-6 in der Sepsisdiagnostik zu limitieren. Zudem gibt es nicht genug Daten über die Bedeutung des IL-6 in der frühen Sepsis. Ferner gibt es weitere in den letzte Jahren identifizierte Proteine wie den »triggering receptor on myeloid cell-1« (TREM-1), der
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Kapitel 63 · Diagnose und Therapie der Sepsis
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durch Neutrophile und Monozyten exprimiert wird und die Freisetzung proinflammatorischer Mediatoren bei Infektionen mit Bakterien und Pilzen vermittelt. Im Gegensatz zum PCT ist die Prognosequalität für den löslichen TREM-1 (sTREM-1) geringer. Darüber hinaus kann keine Aussage über die Erkrankungsschwere getroffen werden. Das Lipopolysaccharide bindende Protein (LPS-BP) vermittelt die Aktivierung von Monozyten und die darauf folgende IL-6-Freisetzung über den CD14-Rezeptor. Die Plasmaspiegel sind höher bei gram-negativer Bakteriämie, brauchen aber relativ lang bis zu einer signifikanten Erhöhung (etwa 36 h). Breitere Erfahrungen mit diesem Parameter fehlen.
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63.4.4
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Monitoring der Mikrozirkulation
Die Mikrozirkulation ist ein diskretes Organ, welches netzwerkartig in die Gewebe eingebettet ist, mit der Aufgabe, das chemische und physikalische Gleichgewicht als Voraussetzung für das Überleben von individuellen Zellen und Zellverbänden aufrecht zu erhalten. Tritt eine schwere Sepsis oder ein septischer Schock auf, beeinträchtigt die Inflammation die Vasoregulation und Endothelfunktion mit konsekutiver Distributionsstörung in der Makro- und Mikrozirkulation. Der zeitliche Verlauf und die Bedeutung für das Überleben konnte für die sepsisassoziierten Mikrozirkulationsstörungen gezeigt werden [8]. Patienten wurde mit Diagnosestellung septischer Schock bis zur Terminierung des Schocks sublingual die Mikrozirkulation durch orthogonale Polarisationsspektroskopie täglich einmal gemessen. Anfänglich zeigten sowohl überlebende als auch nichtüberlebende Patienten eine vergleichbare Kapillardichte und perfundierte kapilläre Gefäße. Bei den Überlebenden ließen sich die mikrozirkulatorischen Veränderungen im septischen Schock innerhalb der ersten 24 h nach Beginn des Schocks verbessern. Bei den Verstorbenen blieben die verminderte Kapillardichte und die geringere Anzahl der Gefäße bestehen. Parallel dazu waren aber keine Unterschiede in der Makrohämodynamik, der systemischen Oxygenierung und der Katecholamintherapie feststellbar. Die gestorbenen Patienten hatten im Vergleich zu den überlebenden Patienten signifikant geringere perfundierte Kapillaren. Nur die Laktatspiegel im arteriellen Blut wiesen ebenfalls Unterschiede zwischen überlebenden und gestorbenen Patienten auf. Diese Erkenntnisse deuten darauf hin, dass die Verbesserung der mikrovaskulären Perfusion innerhalb der ersten 24 h nach Beginn des Schocks ein für die Prognose der Erkrankung wichtiger Faktor sein könnte. Die Wiederherstellung der mikrovaskulären Perfusion stellt ein lohnendes therapeutisches Ziel dar, und die konsequente Beobachtung der mikrovaskulären Alterierung kann für kritisch kranke Patienten Vorteile bieten [9]. > Die Verbesserung der mikrovaskulären Perfusion innerhalb der ersten 24 h nach Beginn des Schocks ist ein wichtiges Therapieziel.
63.4.5
Laktatclearance
Das im Serum gemessene Laktat ist ein Parameter, der in der klinischen Beurteilung als Maß für die erfolgreiche Wiederherstellung oder Verbesserung der Mikrozirkulation und Gewebsoxygenierung septischer Patienten herangezogen wird. Dabei scheint v. a. der Verlauf der Laktatkonzentration, die Laktatclearance (prozentuale Reduktion bis zur 6. h nach Aufnahme) entscheidend zu sein. In einer prospektiven multizentrischen Observationsstudie wurde überprüft, ob eine frühe Laktatclearance mit einem ver-
besserten Überleben von Patienten mit schwerer Sepsis oder septischem Schock assoziiert ist und ob eine Übereinstimmung zwischen Optimierung der zentralvenösen Sauerstoffsättigung (ScvO2) und früher Laktatclearance besteht. Bei 166 Patienten wurde direkt bei Aufnahme und nach 6 h Laktat gemessen. Von den 166 Patienten wiesen 15 (9%) keine Laktatclearance auf. Bei diesen Patienten betrug die Letalität 60% vs. 19% bei denen, die eine Laktatclearance von 10% und mehr aufwiesen. Ein Zusammenhang zwischen Laktatclearance und Optimierung der ScvO2 wurde nicht gefunden [10]. Damit scheint eine frühzeitige Laktatclearance tatsächlich ein Parameter zu sein, der mit der der Mikrozirkulation und Gewebsoxygenierung im septischen Schock und der Prognose des Patienten korreliert, sodass sich die frühzeitige Laktatclearance als Marker für die Schwere der Erkrankung zu eignen scheint. Eine Optimierung der ScvO2 schließt aber ein Ausbleiben der Laktatclearance nicht aus. > Die Laktatclearance ist eine Marker für die Erkrankungsschwere und das Überleben der Patienten.
63.5
Therapie
63.5.1
Kausale Therapie der Sepsis
Grundsätzlich gilt: Zeit ist der kritische Faktor! Ein schwere Sepsis oder ein septischer Schock müssen ebenso rasch und entschlossen wie ein hämorrhagischer Schock behandelt werden. Die kausale Therapie muss umgehend eingeleitet werden, die supportive Therapie muss innerhalb der ersten 6 h nach Diagnosestellung erfolgen, und die adjunktive Therapie wird zusätzlich und parallel zur kausalen und supportiven Therapie innerhalb der ersten 24 h durchgeführt (. Abb. 63.1). Dieses Vorgehen erhöht die Chancen, die Letalität substanziell zu senken [11]. Mit jeder Stunde, die vergeht, bis der Patient die Intensivstation erreicht, sinken dagegen die Aussichten auf ein Überleben (. Abb. 63.2). ! Cave Die Zeit ist ein kritischer Faktor für die Behandlung der Patienten mit schwerer Sepsis und des septischen Schocks. Jede Verzögerung der Therapie erhöht die Letalität.
Entscheidend für eine erfolgreiche Reduktion der Letalität ist aber ebenfalls die Gesamtheit der getroffenen Maßnahmen. Die »SurviZeitmanagement der Sepsistherapie
Adjunktive Therapie
Supportive Therapie
Antiinfektive Therapie Fokussanierung
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Zeit nach Sepsisdiagnose [h]
. Abb. 63.1 Zeitmanagement der Sepsistherapie nach Diagnosestellung
793 63.5 · Therapie
Diagnoseverzögerung «Sepsis Management Bundle”
prähospital
NOTA
Station
ICU
Therapiebeginn
Zunehmende Organdysfunktion
Prognose
(So schnell wie möglich und innerhalb der ersten 24 h vervollständigen) 1. Niedrig dosierte Steroidtherapie im septischen Schock im Einklang mit den Behandlungsrichtlinien der Klinik. 2. Rekombinantes aktiviertes Protein C im Einklang mit den Behandlungsrichtlinien der Klinik. 3. Blutzuckerkontrolle durch Insulingabe, um den Blutzucker oberhalb des unteren Normwertes, aber 70% anstreben.
Eine Analyse von über 15.000 Patienten aus 165 Studienzentren weltweit konnte die Ergebnisse der Implementierung der Sepsis»Bundles« in den Jahren 2005–2008 eindrucksvoll belegen [14]. Die Daten wurden auf die Häufigkeit der Durchführung der beiden »Bundle«-Sets und deren Zusammenhang mit der Krankenhausletalität verglichen. Die Durchführung des gesamten »resuscitation bundle« wurde anfänglich zu 10,9% befolgt. Nach 2 Jahren war dieser Anteil auf 31,3% gestiegen. Die Durchführung des »management bundle” stieg im gleichen Zeitraum von 18,4% auf 36,1%. Alle Elemente der »bundles« wurden häufiger befolgt. Das Ergebnis war ein Rückgang der Krankenhausletalität von 37,0% auf 30,8%. Auch wenn einzelne Maßnahmen besonders effektiv waren, so ist zu beachten, dass die Reduktion der Letalität nur durch die Durchführung aller Maßnahmen erreicht werden konnte. Die Gabe von Breitspektrumantibiotika, die vorherige Abnahme von Blutkulturen und die Blutzuckerkontrolle hatten einen positiven Effekt auf den Rückgang der Letalität. Ebenso konnten die Gabe von rekombinantem humanem aktiviertem Protein C (rhAPC) in den ersten 24 h und die Einhaltung des Plateaudrucks bei Beatmung die Überlebenschance verbessern. Keinen Einfluss auf die Letalität bei Patienten im septischen Schock hatten dagegen die Laktatmessung, die Gabe von niedrig dosierten Steroiden, die Erreichung eines ZVD von mindestens 8 mm Hg oder eine S cvO2 von 70% oder mehr. Je länger ein Zentrum die »bundles« anwendete, desto deutlicher war der Rückgang der Letalität. Die »surviving sepsis campaign« resultierte damit in einer kontinuierlichen Qualitätsverbesserung. Dies ist ein eindrucksvoller Beleg für die Vorteile einer standardisierten Basistherapie und »standard operating procedures« (SOP) bei septischen Patienten. Das konsequente Training des intensivstationären Personals ist ein grundlegender Faktor, die »bundles« umzusetzen und damit eine Verbesserung der Therapie zu erreichen [15]. > Die Bündelung der Maßnahmen der »surviving sepsis campaign« senkt die Letalität.
Fokussanierung Eine der Grundsäulen der Sepsistherapie (. Abb. 63.3) war und ist immer noch die Sanierung des Infektionsherdes. Eine unterlassene oder unvollständige, aber auch verzögerte Sanierung resultiert in einer erhöhten Letalität. Ein entscheidender Faktor ist der Zeitraum zwischen dem Auftreten der Sepsissymptomatik und der eingeleiteten Sanierung. Dabei kann bei unklarem Fokus die Sanierung auch aus mehreren Maßnahmen bestehen. Zu beachten sind im Besonderen:
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Kapitel 63 · Diagnose und Therapie der Sepsis
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Fokussanierung
Antiinfektiva
Supportive Therapie
Adjunktive Therapie
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4 Ersatz oder wenn möglich Entfernung von jeglicher Art Fremdmaterial (implantierte Katheter, Schrittmacher, Gefäßersatzprothesen, Gelenksendoprothesen etc.). 4 Zeitgerechte Sanierung von insuffizienten Anastomosen oder mechanischem Ileus. 4 Drainage (offen oder via Katheter) von abszessverdächtigen Formationen. 4 Wundbehandlung, Nekroseabtragung bis Amputation (»life before limb«).
Antimikrobielle Therapie Der Fokus der Sepsis kann bestimmend für die Häufigkeit von Organdysfunktionen und die Evolution zum septischen Schock sein. In der Intensivtherapie sind die Pneumonie und der abdominelle Sepsisfokus am häufigsten und mit der schon vorher beschriebenen hohen Letalität verbunden. Bei Beginn einer kalkulierten antimikrobiellen Therapie müssen diese Überlegungen berücksichtigt werden. Die Grundlage bilden dabei die Regeln der »Tarragona-Strategie« (7 unten). Bei der Auswahl der primären antiinfektiven Therapie sind die lokalen Erregerspektren und die Resistenz entscheidend. Regelmäßige Kontrollen und Analysen dieser Parameter sind unabdingbar für die erfolgreiche Therapie und die Eindämmung der zunehmenden Resistenzentwicklung. Ist die initiale Therapie nicht adäquat, wird die Letalität dieser Patienten doppelt so hoch sein wie bei den adäquat behandelten Patienten [16].
Die 5 Regeln der »Tarragona-Strategie« zur Antibiotikatherapie [17] 1.
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2.
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3. 4. 5.
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»Look at your patient« (Beachtung individueller Risikofaktoren). »Listen to your hospital« (Beachtung interner Resistenzlage). »Hit hard« (Früh Breitspektrum- und Hochdosistherapie). »Get to the point« (Effektive Gewebsspiegel erreichen). »Focus, focus, focus« (Deeskalation und kurze Behandlungsdauer, wenn möglich).
Wie auch bei der Fokussanierung ist die Zeit bis zum Beginn der antimikrobiellen Therapie einer der entscheidenden Faktoren zum Erfolg der Sepsistherapie. Die Sterblichkeit nimmt mit jeder Stunde einer nach sepsisbedingter Hypotonie verspätet begonnenen Antibiotikagabe um etwa 7% zu (. Abb. 63.4). Dabei konnte sogar ein Unterschied von etwa 5% zwischen den ersten und zweiten 30 min belegt werden [18]. Um die Antibiotikatherapie ideal zu steuern und das passende Antibiotikum zu verordnen, ist die Kenntnis über die Identität
1,0 0,8 0,6 0,4 0,2 0,0 h h 6 36 ≥3 is < h b 4 24 ≥2 is < b h 2 2 ≥1 48 h) mit Einschränkungen befürwortet, spricht sich die Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention am Robert Koch-Institut gegen die routinemäßige Gabe einer SDD aus [31, 32]. Aufgrund bestehender Daten zur Kosteneffektivität und potenziellen Resistenztriggerung wird die SDD in zahlreichen internationalen Leitlinien derzeit für den Routineeinsatz zur Vermeidung einer VAP nicht empfohlen [27, 30]. Die Diskussion hält an. Eine größere randomisierte Studie aus den Niederlanden, veröffentlicht im New England Journal of Medcine (2009), ergab bei Intensivpatienten mit SDD eine absolute Senkung der 28-Tage-Sterblichkeit um 3,5%. Hieraus folgt, dass man 29 Patienten mit SDD behandeln müsste, um einen Todesfall zu vermeiden [33].
tagonisten scheint Sucralfat mit einem niedrigeren Risiko für eine »VAP«, aber einem höheren gastrointestinalen Blutungsrisiko verbunden zu sein [23]. z
Intubation und invasive Beatmung
> Das Risiko einer nosokomialen Pneumonie ist bei invasiver Beatmung um das 6- bis 20-Fache höher als ohne Beatmung [23]. Die Indikation sollte folglich streng und die nichtinvasive Beatmung als Alternative geprüft werden.
z Lagerung und Ernährung Während der invasiven Beatmung in Rückenlage sollte der Oberkörper 30–45° hochgelagert werden. Dies stellt eine einfache und effektive Methode zur Vermeidung von Regurgitationen von Magensaft mit nachfolgender Aspiration dar [27]. Für Patienten mit akutem Lungenversagen empfiehlt die aktuelle S3-Leitlinie zur Lagerungstherapie eine wiederholte Bauchlagerung, da möglicherweise durch eine Optimierung der pulmonalen Ventilationsverteilung eine Senkung der Pneumonierate zu erwarten ist [34]. Einer frühen enteralen Ernährung wird gegenüber einer parenteralen Ernährung der Vorzug gegeben, da hierdurch die Integrität der intestinalen Mukosa aufrechterhalten bleibt und eine bakterielle Translokation aus dem Darm in die Blutbahn vermieden werden kann [30].
Die nichtinvasive Beatmung führte in verschiedenen Studien an ausgewählten Patientenkollektiven zu einer Reduktion der Pneumonieinzidenz und Senkung der Letalität. Intubation und mechanische Beatmung verhindern den Hustenreflex, beeinträchtigen die mukoziliäre Clearance-Funktion und schädigen das Oberflächenepithel der Trachea. Für die Entstehung einer VAP spielt der endotracheale Tubus als Leitschiene für potenziell infektiöses Sekret die bedeutendste Rolle. Selbst bei optimal geblocktem Cuff kann es zu einer kontinuierlichen Aspiration geringer Mengen von oropharygealem Sekret, insbesonders durch die Längsfurchen des Cuffs, in die Trachea kommen. Bei intubierten Patienten kann in der Folge eine Tracheobronchitis und bei andauernder Aspiration eine Bronchiolitis, Bronchopneumonie und schließlich Pneumonie hervorgerufen werden [30]. Als Präventionsmaßnahme zur Reduktion der Mikroaspiration wird die subglottische Sekretabsaugung oberhalb des Cuffs mittels spezieller Endotrachealtuben gesehen. Trotz fehlender großer randomisierter Studien wird der Einsatz dieser Tuben für Patienten mit einer zu erwartenden Beatmungsdauer von >72 h empfohlen [27, 35]. Die Kombination solcher Spezialtuben mit einem ultradünnen Polyurethan-Cuff, bei dem beim Blocken keine Längsfurchen mehr entstehen und somit ein Eindringen des Sekretes in die tiefen Atemwege verhindert werden kann, scheint sowohl für die Earlyonset- (1.–4. Behandlungstag) als auch für die Late-onset-VAP (>5. Behandlungstag) infektionspräventiv [35]. Leider ist der Einsatz solcher Spezialtuben mit erheblichen Kosten verbunden. Eine Biofilmbildung auf dem Tubus scheint ebenfalls Einfluss auf die Kolonisation der Trachea und die Entwicklung einer späten »ventilator-associated pneumonia« durch resistente Erreger zu haben [36]. Eine Minimierung der durch die mechanische Ventilation verursachten Lungenparenchymschädigung durch die Begrenzung des Tidalvolumens und einen adäquaten PEEP ist infektionspräventiv. Ungeplanten Extubationen und damit evtl. verbundenen Reintubationen kann durch Sedationsprotokolle vorgebeugt werden. Reintubationen gelten für die Early-onset-VAP als wichtigster Risikofaktor. Weaningprotokolle helfen, die Intubations- und Beatmungsdauer des Patienten zu verkürzen [27].
z Stressulkusprophylaxe Kritisch kranke Patienten sind in erhöhtem Maße gefährdet, Stressulzera zu entwickeln, weshalb Maßnahmen zur Anhebung des Magensaft-pH-Wertes in unterschiedlichem Ausmaß empfohlen werden. Ein höherer pH-Wert fördert jedoch wiederum die bakterielle Besiedlung des Magens und kann über den Mechanismus der Regurgitation das Pneumonierisiko erhöhen. Die Ergebnisse entsprechender Studien sind widersprüchlich und rechtfertigen keine Empfehlung zum Management der Stressulkusprophylaxe bei beatmeten Patienten. Besteht jedoch die Indikation für eine Stressulkusprophylaxe, müssen die Vor- und Nachteile von H2-Blockern bzw. Sucralfat abgewogen werden. Im Vergleich zu H2-Rezeptoran-
Beatmungssystem. Die strikte Händedesinfektion vor und nach der Manipulation am Beatmungssystem ist Standard. Das Wechselintervall des Beatmungsschlauches beträgt laut RKI alle 7 Tage. Gemäß CDC muss der Beatmungsschlauch nicht mehr routinemäßig, sondern nur noch zwischen 2 Patienten bzw. bei sichtbarer Verschmutzung oder Defekt gewechselt werden. [37]. Kondenswasser, das sich in Beatmungsschläuchen ansammelt, kann durch Patientensekret kontaminiert sein und darf nicht unbemerkt in den Tubus oder in In-line-Vernebler gelangen. Die Handhabung von In-line-Verneblern erfordert besondere Vorsicht. Sie bieten die idealen Voraussetzungen für die Vermehrung von »Feuchtkeimen« wie Pseudomonas aeruginosa, Acinetobacter spp.
811 64.6 · Ausgewählte nosokomiale Infektionen
. Tab. 64.5 Spezielle Maßnahmen zur Prävention der beatmungsassoziierten Pneumonie. (Nach [27, 32]) Intubation
Indikation für invasive Beatmung täglich überprüfen Anwendung »nicht-invasiver Beatmungsverfahren«, wenn immer möglich Vermeidung von Reintubationen Bevorzugen der orotrachealen Intubation gegenüber der nasotrachealen Intubation, sofern möglich
Lagerung des Patienten
Hochlagerung des Oberkörpers um 30–45°, wenn keine Kontraindikation
Beatmungsfilter (HME-Filter)
Keine Empfehlung für oder gegen die Verwendung eines HME-Filters
Beatmungsschläuche
Kondenswasser ist regelmäßig und vorsichtig aus dem Beatmungskreislauf zu entfernen, dabei Tragen von Einmalhandschuhen und strikte Händedesinfektion Wechselintervall des Beatmungsschlauches auch ohne Einsatz eines Beatmungsfilters alle 7 Tage (RKI), laut CDC kein routinemäßiger Wechsel bei einem Patienten; Wechsel, wenn verschmutzt oder defekt
Absaugsystem
Hygienische Händedesinfektion und Tragen von Einmalhandschuhen Keine Empfehlung hinsichtlich der Favorisierung des geschlossenen oder des offenen Absaugsystems Geschlossene Systeme: Absaugvorgang kann mehrfach mit demselben Katheter wiederholt werden; Entfernung des Sekrets mittels steriler Spüllösung Offenes Absaugsystem: Sterilen Einmalkatheter verwenden; Absaugsystem nach Gebrauch mit Leitungswasser durchspülen. Falls innerhalb eines Absaugvorgangs der Absaugkatheter wiederholt in den Tubus eingeführt werden soll, Spülung mit sterilem Wasser Aufhängen des Ansatzstücks in senkrechter Position
Medikamentenvernebler
Hygienische Händedesinfektion und Tragen von keimarmen Einmalhandschuhen Entfernung des Kondenswassers aus den Beatmungsschläuchen vor Befüllen des Verneblers Verwendung von Medikamenten in Einzelampullen Vernebler nur für die Zeit der Anwendung in Position belassen Thermische oder chemische Desinfektion des In-line-Verneblers nach jedem Gebrauch Nach einer chemischen Desinfektion: Vernebler mit sterilem Wasser zur Beseitigung von Desinfektionsmittelresten ausspülen und trocken lagern
Wiederaufbereitung von Beatmungszubehör
Vor Gebrauch beim nächsten Patienten: Gründliche Reinigung und Desinfektion der Gegenstände, die direkten oder indirekten Schleimhautkontakt haben Bevorzugung thermischer Desinfektionsmaßnahmen Nach einer chemischen Desinfektion: Nachspülen mit sterilem Wasser zur Beseitigung von Desinfektionsmittelresten; trockene Lagerung
Ernährung
Frühzeitiges Anstreben der enteralen Ernährung Kontrolle der korrekten Lage der Ernährungssonde vor jeder Nahrungszufuhr und Anpassung an die Darmtätigkeit
Stressulkusprophylaxe
Keine Empfehlung hinsichtlich der Ulkusprophylaxe
Selektive Darmdekontamination (SDD)
Derzeit keine Empfehlung für den Routineeinsatz der SDD
und Serratia spp., die innerhalb des Beatmungssystems als infektiöse Aerosole ein unmittelbares Risiko für eine Pneumonie darstellen können. Zum Schutz werden deshalb steriles Wasser und Medikamente in Einzelampullen zur Befüllung verwendet. Nach Gebrauch ist eine chemische oder thermische Desinfektion durchzuführen. Eine Alternative zur Applikation von Medikamenten stellen patientenbezogene Dosieraerosole mit Mini-Spacer-Aufsatz dar. Hinsichtlich der Vermeidung einer VAP spielt die Art des Absaugsystems, offen oder geschlossen, keine Rolle. In diesem Fall entscheiden in der Praxis weitere Aspekte wie Kosten und Handlichkeit. Beim Nachweis von infektiösen Erregern wie Mycobacterium tuberculosis ist ein geschlossenes Absaugsystem zum Schutz Dritter zu bevorzugen. Bronchoskope. Nosokomiale Ausbrüche, z. B. mit Pseudomonas
spp., durch defekte oder unzureichend aufbereitete Bronchoskope sind vielfach dokumentiert. Der komplexe Aufbau von Endoskopen verlangt zwingend eine Reinigung und das manuelle Bürsten des Arbeitskanals. Erst danach kann das Bronchoskop manuell, halbmaschinell oder maschinell desinfizierend aufbereitet und getrocknet werden. Gesetzliche Vorgaben existieren und werden durch die Empfehlung »Anforderungen an die Hygiene bei der Aufbereitung
flexibler Endoskope« der Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention beim Robert Koch-Institut konkretisiert [38]. Die Verantwortlichkeit für die Aufbereitung der Bronchoskope sollte auf jeder Intensivstation geklärt sein. Präventionsstrategien. Umfangreiche Studien zu weiteren Einzel-
aspekten der Betreuung invasiv beatmeter Patienten und dem Umgang mit dem Beatmungssystem bilden die Grundlage für die in . Tab. 64.5 als Checkliste zusammengefassten derzeitigen Präventionsstrategien.
64.6.3
Katheterassoziierte Harnwegsinfektionen
Definition Ein symptomatischer katheterassoziierter Harnwegsinfekt (HWI) geht einher mit dem Nachweis einer signifikanten Bakteriurie und mindestens einem klinischen Zeichen eines Harnwegsinfektes (Fieber, Dysurie, Pollakisurie, suprapubische 6
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Kapitel 64 · Nosokomiale Infektionen
Schmerzen, Flankenschmerzen oder ein klopfschmerzhaftes Nierenlager). Mit Ausnahme des Fiebers sind die Symptome eines HWI bei sedierten Patienten kaum zu erheben. Kann das Fieber keiner anderen Infektionsursache zugeordnet werden, und die mikrobiologische Diagnostik erbringt einen Keimnachweis von ≥105 koloniebildenden Einheiten (KBE)/ml Urin mit nicht mehr als 2 unterschiedlichen Keimarten, so kann mit großer Wahrscheinlichkeit von einem symptomatischen HWI ausgegangen werden. Aber auch der Nachweis von niedrigeren Keimzahlen (≥103 bis 105 koloniebildende Einheiten (KBE)/ml erreichen [41]. Viele Keime besitzen die Fähigkeit, über Wochen und Monate im katheterisierten Harntrakt zu persistieren, ohne dass dies mit klinischen Zeichen einhergeht. Bei Patienten mit langliegendem Dauerkatheter entwickelt sich in bis zu 95% der Fälle eine polybakterielle Bakteriurie. Keime wie Proteus spp. und Pseudomonas aeruginosa sind in der Lage, an Oberflächen von nekrotischem Gewebe, Steinen und Fremdmaterialien zu haften und sich in einer Matrix, bestehend aus Exopolysacchariden, einzubetten. Einlagerungen, z. B. von wirtseigenen Proteinen und Urinmineralien, führen zu Inkrustationen und konsekutiv zu Katheterobstruktionen mit der Gefahr einer aufsteigenden Harnwegsinfektion. Die Biofilmbildung wird insbesondere für langliegende Blasenkatheter (>7 Tage) angenommen und betrifft neben der Außenseite auch das Katheterlumen [41, 42]. Die im Katheterurin nachgewiesene Erregerkonzentration stimmt dementsprechend nicht zwangsläufig mit dem Ausmaß der Blasenkolonisation überein [42]. Biofilme stellen eine wirkungsvolle Barriere gegen die wirtseigene Abwehr und Antibiotika dar. Das Infektionsrisiko für einen katheterassoziierten HWI wird zusätzlich erhöht durch endogene Faktoren, wie Obstruktionen im Harntrakt, geringe Diurese, Immunsuppression, Diabetes mellitus, Polytrauma, Immobilität, hohes Lebensalter und chirurgische Eingriffe an den ableitenden Harnwegen [40].
Komplikationen Die häufigsten Komplikationen bei Kurzzeitkatheterisierung (≤ 7 Tage) sind Fieber, akute Pyelonephritis sowie Bakteriämie bzw. klinische Sepsis [41, 42]. Das Risiko für eine Bakteriämie im Rahmen eines Harnwegsinfektes ist mit 2–4% zwar relativ gering, da aber ein so großer Anteil an Patienten katheterisiert wird, gilt die Katheterisierung als häufigste Ursache für eine nosokomiale gramnegative Bakteriämie [41]. Eine prolongierte Katheterisierung birgt zusätzlich die Gefahr lokaler, periurethraler Komplikationen, wie Prostatitis, Epididymitis und Skrotalabszess [45].
Diagnostik und Befundinterpretation Bei liegendem Blasenkatheter erfolgt die Probenabnahme über den entsprechenden patientennahen Abnahmeport, keinesfalls aus dem Urinauffangbeutel. Voraussetzungen für die Diagnostik sind die kontaminationsfreie Abnahmetechnik und der Transport des Nativurins ins Labor innerhalb von 2 h. Ist Letzteres nicht möglich, so sollte der Urin bei Kühlschranktemperatur gelagert werden. Eine Lagerung der Probe bei Raumtemperatur führt zu einer deutlichen Keimvermehrung und damit zu einer falsch-hohen Keimzahlbestimmung. Indikationen für eine mikrobiologische Diagnostik sind gegeben 4 bei symptomatischen Patienten (z. B. Fieber), 4 vor interventionellen Eingriffen im Bereich der Harnwege [45].
813 64.6 · Ausgewählte nosokomiale Infektionen
> Ein routinemäßiges mikrobiologisches Urinmonitoring auf der Intensivstation wird nicht empfohlen.
Nitritteststreifen können zur Detektion von Enterobakterien dienen, da diese Nitrat zu Nitrit reduzieren. Bakterien wie Pseudomonas spp. und Enterokokken entgehen diesem Nachweis. Eine Pyurie kann mikroskopisch, mittels Leukozytenesterase-Teststreifen oder durch Urinflowzytometrie diagnostiziert werden. Leukozytenesterase-Teststreifen weisen jedoch eine niedrige Sensitivität und Spezifität sowie einen niedrigen positiven prädiktiven Wert auf [44]. Eine Pyurie mit ≥10 Leukozyten/mm3 bzw. ≥3 Leukozyten pro Gesichtsfeld kennzeichnet eine Inflammation des Urogenitaltraktes und tritt häufig zusammen mit einer symptomatischen Bakteriurie auf. Erreger von Harnwegsinfektionen entstammen größtenteils der körpereigenen Darmflora. Neben E. coli, dem dominierenden Erreger ambulanter HWI, muss bei nosokomialen Infektionen u. a. mit Proteus spp., Klebsiellen, Enterobacter spp., P. aeruginosa, Citrobacter spp., Acinetobacter spp. und Enterokokken gerechnet werden. > Bei katheterisierten Patienten sind polymikrobielle Infektionen relativ häufig. Der Nachweis mehrerer Erreger in einer Urinprobe kann deshalb nicht, wie bei Mittelstrahlurin, stets im Sinne einer Kontamination interpretiert werden [45]. Zur Abklärung der ätiologischen Bedeutung sollten Kontrolluntersuchungen durchgeführt werden.
Ein Candidanachweis im Urin ist auf Intensivstationen häufig und in der Regel lediglich als Kolonisation der Blase oder des Blasenkatheters ohne Krankheitswert zu sehen. Selten ist eine Candidurie Ausdruck einer lokalen Infektion oder einer Fungämie mit Ausscheidung des Erregers im Urin. Bei immunsupprimierten Patienten sollte jedoch bei einer persistierenden Candidurie an eine Dissemination gedacht werden und mittels Sonographie oder Computertomographie der Nieren weiter abgeklärt werden [11]. Des Weiteren wird die Abnahme von 3 Blutkulturpaaren empfohlen.
Die Interpretation der mikrobiologischen Befunde ist schwierig. Üblicherweise wird bei einem symptomatischem katheterassoziiertem HWI der Nachweis uropathogener Erreger in hoher Keimzahl mit 105 (KBE)/ml Urin erwartet; niedrigere Keimzahlen sind jedoch kein Ausschlusskriterium (7 oben: Definition) [40, 41].
Mit Ausnahme des Fiebers sind die Symptome eines Harnwegsinfektes bei sedierten Patienten kaum zu erheben. Somit stößt die Unterscheidung in symptomatische und asymptomatische Patienten an ihre Grenzen. Intensivmedizinisch betreute Patienten weisen häufig Fieber, eine Pyurie und Bakteriurie auf und werden deshalb therapiert. Bei diesen Patienten sollte zusätzlich an andere Infektionsquellen gedacht werden, bevor die Diagnose eines Harnwegsinfektes gestellt wird. 75–90% aller Patienten mit einer asymptomatischen Bakteriurie entwickeln weder klinische noch systemische Infektionszeichen. Eine Kontrolle der Urinbefunde wird nicht empfohlen. Wird ein Patient im weiteren Verlauf symptomatisch, so geht dies meist mit einem Erregerwechsel einher [41, 45]. Bei nosokomialen katheterassoziierten HWI ist ein Erregernachweis mit Resistogramm immer indiziert, um vor dem Hintergrund hoher Resistenzraten adäquat zu therapieren.
Therapie Antibiotikatherapien bei asymptomatischen Bakteriurien führen nicht zu einer andauernden Keimeliminierung, hingegen aber zu einer Selektion resistenter Erreger. Aufgrund fehlender Evidenz für eine Senkung der Letalitäts- oder Morbiditätsrate bei katheterisierten Patienten wird eine Antibiotikagabe nur empfohlen bei: 4 Patienten mit bevorstehenden urologischen Eingriffen (z. B. transurethraler Resektion der Prostata) oder Implantation von urethralen Prothesen/Stents, 4 bei Immunsupprimierten und Schwangeren [45]. Tipp Ein Katheterwechsel führt in 30–50% der Fälle zu einer spontanen Sanierung [45].
Die häufigste Manifestation eines symptomatischen HWI bei katheterisierten Patienten ist Fieber. Sind andere Ursachen für das Fieber ausgeschlossen, so sollte eine Therapie eingeleitet werden wegen der potenziellen Gefahr einer urogenen Bakteriämie oder Pyelonephritis. Eine Urindiagnostik muss stets vor Antibiotikagabe erfolgen, damit die empirisch begonnene Therapie entsprechend adaptiert werden kann. Aufgrund der Fähigkeit einiger Keime (z. B. P. aeruginosa), sich durch Biofilmbildung vor Antibiotika zu schützen, wird empfohlen, länger liegende Katheter (>7 Tage) vor Therapiebeginn zu ziehen [45]. Zur empirischen parenteralen Therapie des nosokomialen katheterasoziierten HWI sind Cephalosporine der Gruppe 2/3a, Chinolone (Cipro- und Levofloxacin), Aminopenicilline/βLaktamaseinhibitor sowie Carbapeneme geeignet [46]. Trimethoprim-Sulfamethoxazol (TMP-SMX) wird ohne Austestung nicht mehr empfohlen. Bei schweren Infektionen, bei Verdacht auf Pseudomonas spp. oder bei Nichtansprechen der initialen Therapie innerhalb von 1–3 Tagen sollen pseudomonaswirksame Antibiotika eingesetzt werden [46]. Dazu zählen Cephalosporine der Gruppe 3b (Ceftazidim und Cefepim), Fluorochinolone (Cipro- und Levofloxacin) sowie Acylaminopenicilline/β-Laktamaseinhibitoren (z. B. Piperacillin/Tazobactam) und Carbapeneme. Bei Nachweis von Extended-spectrum-β-Lactamase (ESBL)-bildenden Erregern sind Carbapeneme wirksam. Fluorochinolone können Therapieoptionen nach Austestung sein. Bei Urosepsis mit Organdysfunktion kann eine initiale Kombination aus β-Laktamantibiotikum und Fluorochinolon bis zur klinischen Stabilisierung des Patienten sinnvoll sein. Klinik und Resistogramm entscheiden über die weitere kalkulierte Therapie. Insgesamt sollte eine effektive Therapie über 10–14 Tage erfolgen. Bei Verdacht auf Urosepsis sollten auf alle Fälle 2 Blutkulturpaare zusätzlich zur Urindiagnostik entnommen werden. Die Therapiedauer der nosokomialen komplizierten Zystitis oder Urethritis beträgt in der Regel 3‒5 Tage über die Entfieberung bzw. Beseitigung der Ursache hinaus. Eine akute unkomplizierte Pyelonephritis benötigt eine Therapie über 7–14 Tage, bei Komplikationen wie Abszedierung kann eine Gabe über Wochen indiziert sein [41]. > Ein Candidanachweis im Urin ist auf Intensivstationen häufig und in der Regel lediglich als Kolonisation der Blase oder des Blasenkatheters ohne Krankheitswert zu werten. Selten ist eine Candidurie Ausdruck einer lokalen Infektion oder einer Fungämie mit Ausscheidung des Erregers im Urin.
Behandelt werden sollten symptomatische Patienten, neutropene Patienten, Neugeborene mit niedrigem Geburtsgewicht, Patienten
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814
64 64
Kapitel 64 · Nosokomiale Infektionen
. Tab. 64.6 Spezielle Maßnahmen zur Prävention des katheterassoziierten Harnwegsinfektes. (Nach [39]) Indikation
Strenge Indikationsstellung, Indikation für Katheter täglich überprüfen
Katheterwahl
Sorgfältige Auswahl des Katheters je nach Indikation und der Kathetergröße je nach Meatus urethrae Bei Kurzzeitdrainage (≤5 Tage) kann alternativ zwischen transurethralem, suprapubischem Katheter oder streng aseptischem intermittierendem Einmalkatheterismus gewählt werden Bei längerer Katheterisierung (>5 Tage) und nach größeren operativen Eingriffen Anlage eines suprapubischen Katheters unter Beachtung der Kontraindikationen bevorzugen Bei transurethraler Kurzzeitdrainage (≤5 Tage) kann aus Kostengründen ein Latexkatheter verwendet werden (Cave: Latexallergie) Bei längerfristiger Blasendrainage Bevorzugung eines Vollsilikonkatheters
Katheteranlage
Desinfektion der Harnröhrenöffnung und ihrer Umgebung mit einem Schleimhautdesinfektionsmittel (Einwirkzeit beachten) Aseptische Katheteranlage möglichst mittels Katheterset (sterile Einmalhandschuhe, steriles Abdecktuch, ggf. sterile Pinzette, sterile Tupfer, steriles Gleitmittel; steriles Aqua dest. oder vorzugsweise sterile 8- bis 10%ige Glycerin-Wasser-Lösung zur Ballonfüllung)
Ableitungssystem
Verwendung steriler, geschlossener Harnableitungssysteme mit Rückflusssperre, Luftausgleichsventil, Ablassstutzen und Ablassventil Abknicken und Diskonnektion von Katheter und Drainagesystem vermeiden; ist eine Diskonnektion nicht vermeidbar, alkoholische Wischdesinfektion der Konnektionsstelle Spülungen und Instillationen nur bei spezieller urologischer Indikation, nicht zur Infektionsprophylaxe durchführen Lagerung des Katheters ohne Zug am Unterbauch zur Leiste hin Positionierung des Auffangbeutels immer freihängend unterhalb des Blasenniveaus ohne Bodenkontakt Rechtzeitiges Entleeren des Auffangbeutels, bevor der Harn mit der Rückflusssperre in Kontakt kommt, dabei Tragen von Einmalhandschuhen Auf Spritzschutz und Verhinderung des Nachtropfens (Rückstecklasche) achten Kein Kontakt zwischen Ablassstutzen und Auffanggefäß bei der Harnentsorgung; Auffanggefäß desinfizierend reinigen Kein intermittierendes Abklemmen des Katheters als Blasentraining
Pflege des Meatus urethrae und des Katheters
Reinigung des Genitales: Tägliches Waschen mit Wasser und Seife; Tragen von Einmalhandschuhen; Zug am Katheter vermeiden Schonendes Entfernen von Inkrustierungen am Übergang von Katheter und Urethra mit H2O2 (3%-ig) getränkten Tupfern; auf perineale Hygiene achten
Wechselintervall
Kein routinemäßiger Katheterwechsel, sondern nur bei Bedarf (z. B. Obstruktion)
Gewinnung von Proben
Kein routinemäßiges mikrobiologisches Monitoring bei katheterisierten Patienten Abnahme von mikrobiologischen Proben aus patientennaher Abnahmestelle nach vorheriger alkoholischer Wischdesinfektion Abnahme anderer Proben mit Einmalhandschuhen aus dem Ablassstutzen
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nach Nierentransplantation und Patienten, die sich einem urologischen Eingriff unterziehen. Kann bei Candidurie auf den Urinkatheter verzichtet werden, so sollte er als initiale Maßnahme gezogen werden [11]. Ist der Verzicht auf einen Katheter nicht möglich, so kann ein Katheterwechsel evtl. sinnvoll sein. Der Nutzen eines solchen Wechsels bei Candidurie ist ungeklärt. Geht die Candidurie mit lokalen oder systemischen Infektionszeichen einher, so sollte eine i.v. Therapie initiiert werden. Die Wahl des Antimykotikums, Dosis und Dauer richten sich nach der Infektion und der nachgewiesenen Spezies. Antimykotische Blasenspülungen sind obsolet.
Prävention Einen Überblick über die wichtigsten Empfehlungen zur Prävention von Infektionen, assoziiert mit einem Blasenkatheter zeigt . Tab. 64.6.
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Einige wichtige Anmerkungen zur Katheterauswahl [45]. Supra-
pubische Blasenkatheter scheinen im Vergleich zu transurethralen Kathetern mit einem niedrigeren Risiko für einen Harnwegsinfekt assoziiert zu sein. Silikon- und Latexkatheter unterscheiden sich nicht hinsichtlich der Bakteriurieinzidenz. Latexkatheter sind am preiswertesten,
führen aber häufig zu lokalen Irritationen und allergischen Unverträglichkeitsreaktionen. Silikonkatheter neigen zu weniger Inkrustationen und scheinen daher für eine Langzeitkatheterisierung am geeignetsten. Ein regelmäßiger Katheterwechsel wird nicht empfohlen; Indikationen hierfür sind Inkrustationen und Obstruktionen. Silberbeschichtete Katheter vermindern signifikant die Inzidenz von asymptomatischen Bakteriurien, aber nur für einen Zeitraum von Eine klare Empfehlung für den klinischen Einsatz beschichteter Katheter kann aufgrund der aktuellen Datenlage und der Gefahr einer möglichen Resistenzinduktion derzeit nicht gegeben werden.
815 64.6 · Ausgewählte nosokomiale Infektionen
64.6.4
Postoperative Wundinfektionen
. Tab. 64.7 Risikofaktoren für die Entstehung einer postoperativen Wundinfektion. (Nach [48, 49])
Facharztstandard Postoperative Wundinfektion Eine postoperative Wundinfektion ist definiert als eine Infektion im Operationsgebiet innerhalb von 30 Tagen. Bei Implantaten (z. B. Hüftendoprothesen, Kunstklappen) gilt ein Beobachtungszeitraum von 1 Jahr. 6
Risikofaktoren Endogene, patienteneigene Risikofaktoren
5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5 5
Exogene Risikofaktoren
Prä- und intraoperativ 5 Dauer des stationären Aufenthalts präoperativ 5 Präoperative Haarentfernung 5 Verzicht auf eine indizierte perioperative Prophylaxe 5 Notfalloperation 5 Kontaminationsgrad der Wunde 5 Operationsdauer 5 Operationstechnik einschließlich Blutstillung 5 Hypothermie des Patienten während des Eingriffs 5 Hypoxie 5 Implantation von Fremdkörpern 5 Bluttransfusionen (Reduktion der zellulären Abwehr) Postoperativ 5 Drainage (Art und Dauer) 5 Nicht sachgerechte postoperative Wundversorgung 5 Art der postoperativen Ernährung 5 Postoperative invasive Maßnahmen, die eine Bakteriämie auslösen
Entsprechend der Infektionslokalisation wird eingeteilt in: 4 oberflächliche Infektion, umfasst ausschließlich die Kutis und Subkutis, 4 tiefe Infektion, greift auf Faszien und Muskeln über, 4 Infektion im Operationsgebiet (Organ, Körperhöhle). Als Infektionskriterien gelten: 4 eitrige Sekretion aus der Inzisionsstelle oder aus der Drainage, 4 mikrobiologischer Keimnachweis aus aseptisch entnommenem Wundsekret oder Gewebe, 4 Rötung, Schwellung, Schmerz oder Druckempfindlichkeit bei oberflächlichen Infektionen, 4 Abszess oder weitere Infektionszeichen der tieferen Schichten, des operierten Organs bzw. der operierten Körperhöhle bei tiefen Infektionen [14].
Epidemiologie Postoperative Wundinfektionen stellen die dritthäufigste nosokomiale Infektionsart dar. Nach den Daten des deutschen Surveillance-Systems KISS wurden im Zeitraum 1997‒2004 bei 274.050 erfassten Operationen insgesamt 5500 postoperative Wundinfektionen ermittelt, d. h. bei 2% der Operierten traten Wundinfektionen auf. Diese Infektionen verlängern die Hospitalisationsdauer im Mittel um 7–8 Tage. Für Deutschland rechnet man mit ca. 1 Mio. zusätzlichen Krankenhausverweiltagen pro Jahr, die durch postoperative Wundinfektionen verursacht werden [47].
Risikofaktoren und Wundinfektionsraten Das Risiko, eine Wundinfektion zu entwickeln, hängt von zahlreichen endogenen und exogenen Faktoren ab (. Tab. 64.7). Als wesentliche Einflussfaktoren gelten das Alter, der ASA-Score, die Operationsdauer und die Wundkontaminationsklasse (sauber, sauber kontaminiert, kontaminiert und schmutzig). Nach abdominalchirurgischen Eingriffen kommen aufgrund des häufiger kontaminierten oder infizierten Operationssitus mehr Wundinfektionen vor als bei aseptischen extraabdominellen Eingriffen. Endoskopische Eingriffe sind in der Regel mit niedrigeren Infektionsraten assoziiert.
Erregerspektrum Wie aus . Tab. 64.8 ersichtlich, sind grampositive Keime wie S. aureus, koagulasenegative Staphylokokken (z. B. S. epidermidis) oder Enterokokken die häufigsten Erreger von postoperativen Wundinfektionen. Bei abdominellen Eingriffen dominieren gramnegative Erreger wie E. coli, Pseudomonas aeruginosa und Klebsiellen. Im Einzelfall können auch Enterokokken und anaerobe Bakterien, wie z. B. Bacteroides spp., am Infektionsgeschehen beteiligt sein. In den meisten Fällen handelt es sich um Bakterien der patienteneigenen Haut- oder Darmflora, die zum Zeitpunkt der Inzision oder während der Operation in die Wunde gelangen.
Hoher ASA-Scorea Hohes Lebensalter Nasale Besiedlung mit S. aureus Infektion an anderer Stelle Komorbiditäten Adipositas permagna Diabetes mellitus Mangelernährung Nikotinkonsum Maligne Grunderkrankung Immunsuppression Anämie (prä- und postoperativ)
a
ASA-Score der amerikanischen Gesellschaft für Anästhesie, beschreibt den präoperativen Gesundheitszustand des Patienten, Einteilung in 5 Kategorien.
Der Nachweis von koagulasenegativen Staphylokokken bei oberflächlichen Wundinfektionen muss kritisch bewertet werden, da bei nicht korrekter Probenabnahme häufig Hautkeime angezüchtet werden. Unbestritten ist ihre Bedeutung als Erreger bei Implantatinfektionen (z. B. Knie- oder Hüft-TEP, künstliche Herzklappe) oder Wundinfektionen nach thoraxchirurgischen Bypassoperationen. Viren (z. B. HIV, Hepatitis B oder C) können zwar während einer Operation übertragen werden, führen aber nicht zu Wundinfektionen.
Diagnostik und Therapie Die meisten Wundinfektionen treten zwischen dem 3. und dem 8. postoperativen Tag nach primärem Wundverschluss auf. Eine primär heilende Wunde ohne Drainage gilt in der Regel nach 24 h als verschlossen und ist nicht mehr exogen kontaminationsgefährdet. Infektionen im Zusammenhang mit Implantaten können jedoch bis zu 1 Jahr nach Operation manifest werden. Die Kennzeichen einer postoperativen Wundinfektion sind vereinfacht in der eingangs genannten Definition zusammengefasst. Die je nach Infektionsloka-
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Kapitel 64 · Nosokomiale Infektionen
. Tab. 64.8 Anteil der häufigsten nachgewiesenen Erreger [%] bei postoperativen Wundinfektionen je nach Fachgebiet. (Nach [4]) Erreger
Abdominalchirurgie
Traumatologie/ Orthopädie
Herzchirurgie (n=714)
Gefäßchirurgie (n=413)
Geburtshilfe (n=653)
S. aureus (% Anteil von MRSA an S. aureus)
43,4 (36,3)
39,0 (18,0)
37,4 (19,7)
36,9 (32,5)
24,6 (10,0)
Enterokokken
21,0
12,0
8,5
16,5
8,5
E. coli
27,2
4,5
3,6
10,8
7,4
P. aeruginosa
6,2
3,0
2,7
6,0
1,7
Klebsiella spp.
4,5
0,9
2,8
1,6
1,3
64
Koagulasenegative Staphylokokken
2,9
11,9
16,9
7,7
7,1
Enterobacter spp.
4,9
3,0
5,2
1,9
1,2
64
Streptokokken
1,4
0,3
0,2
1,2
1,6
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Daten des Krankenhausinfektions-Surveillance-Systems (Modul OP-KISS) aus dem Zeitraum 2004–2008.
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lisation spezifischen Definitionen des RKI bzw. der CDC können unter www.nrz-hygiene.de oder www.cdc.gov nachgelesen werden. Die Diagnose einer Wundinfektion kann im Einzelfall schwierig sein, da Symptome wie Rötung, Schwellung, Schmerz und Druckempfindlichkeit im Operationsgebiet sowohl bei Wundheilungsstörungen als auch bei Infektionen vorliegen können. Eine eitrige Sekretion aus der Inzisionsstelle oder einer Drainage, die Zugang zum Operationsgebiet hat, ist beweisend für eine Wundinfektion. Eine mikrobiologische Diagnostik durch sterile Entnahme eitrigen Sekretes ist indiziert, um eine gezielte Antibiotikatherapie durchführen zu können. Tiefe Wundinfektionen oder Infektionen in einer Körperhöhle, z. B. Mediastinitis, verursachen meist Fieber. Eine Blutkulturdiagnostik sollte immer durchgeführt werden. Postoperative Wundinfektionen erfordern in der Regel eine chirurgische Revision. Eine mechanische Wundreinigung zur Entfernung sämtlicher Nekrosen und Beläge und eine lokale antiseptische Behandlung, ggf. in Kombination mit einer systemischen Antibiotikatherapie, sind die wichtigsten Maßnahmen. Abszesse müssen eröffnet, antiseptisch gespült und häufig mit einer Drainage versorgt werden. Organinfektionen bzw. Infektionen in einer Organhöhle müssen immer chirurgisch revidiert und mit Antibiotika therapiert werden. Bei der empirischen Antibiotikagabe sind die am häufigsten nachgewiesenen Wundinfektionserreger der jeweiligen Indikatoroperation (. Tab. 64.8) zu berücksichtigen. Die mikrobiologische Untersuchung von intraoperativ gewonnenem Material aus dem Wundgebiet (Gewebe, Punktat, Abstrich) ermöglicht eine erregerspezifische Therapie.
Prävention Die Surveillance postoperativer Wundinfektionen, z. B. im Rahmen des KIS-Systems, gilt als wichtiges Instrumentarium zur Reduktion der Infektionsraten [4]. Es wird geschätzt, dass bei Patienten ohne Risikofaktoren ca. 20% der postoperativen Wundinfektionen vermeidbar sind [50]. Vermutlich liegt dieser Anteil bei sog. »sauberen Eingriffen« noch höher.
Wichtigste Eckpfeiler der Prävention von postoperativen Wundinfektionen sind: 4 Kontrolle endogener Risikofaktoren durch optimale Operationsvorbereitung, 4 adäquate perioperative Antibiotikaprophylaxe (7 Kap. 62), 4 saubere und aseptisch ausgeführte Operationstechnik, 4 Vermeidung exogener Kontaminationsquellen [50].
Zahlreiche der in . Tab. 64.7 genannten Risikofaktoren sind beeinflussbar. Eine verlängerte präoperative Verweildauer bzw. eine Verzögerung des Operationszeitpunktes bei Verletzungen erhöhen das Risiko einer postoperativen Wundinfektion. Die Ursachen hierfür sind meist multifaktoriell, z. B. Abhängigkeit der präoperativen Verweildauer von Erkrankungsschwere und Komorbiditäten, Kolonisation mit resistenten Erregern (z. B. MRSA) [49]. Zeitpunkt und Art einer präoperativen Haarentfernung haben einen erheblichen Einfluss auf die Wundinfektionsrate. Kann auf eine Haarkürzung nicht verzichtet werden, sollte sie vorzugsweise kurz vor der Operation mit einem elektrischen Haarclipper erfolgen. Eine Haarrasur am Vortag mit einem scharfen Einmalrasierer kann Mikroläsionen verursachen, welche Infektionen durch die residente Flora und Krankenhauskeime begünstigen. Eine Haarentfernung mit chemischen Mitteln ist ebenfalls möglich, sollte aber wegen häufiger Hautreizungen einen Tag vor der Operation durchgeführt werden [50]. Bei allen Eingriffen im OP ist die generelle Einhaltung aseptischer Arbeitsmethoden/-techniken und der adäquate Umgang mit sterilen Medizinprodukten Standard. Die Erfahrung und die Operationstechnik des Operateurs nehmen wesentlich Einfluss auf die postoperativen Infektionsraten. Als wichtigste Maßnahmen bei der postoperativen Wundversorgung gelten: 4 Unverzüglicher Verbandswechsel bei Verdacht auf eine Wundinfektion, bei Durchfeuchtung/Lageverschiebung des Verbandes oder anderen Komplikationen. 4 Entfernung des Verbandes, des Nahtmaterials sowie der Drainagen unter Anwendung aseptischer Arbeitstechniken. 4 Wunddrainagen so früh wie möglich entfernen [49]. Die kompletten und nach Evidenzgraden bewerteten Präventionsmaßnahmen sind u. a. in der Leitlinie »Prävention postoperativer
817 64.6 · Ausgewählte nosokomiale Infektionen
Infektionen im Operationsgebiet« des Robert Koch-Institutes zusammengefasst [49].
64.6.5
Clostridium-difficile-assoziierte Diarrhö und Kolitis
Infektionen mit Clostridium difficile (CDI) sind eine der häufigsten Ursachen von nosokomialen Diarrhöen bei Erwachsenen. Seit 2003 wird weltweit nicht nur über eine Zunahme der Inzidenz der CDI, sondern auch der Schwere der Erkrankungen berichtet. In Deutschland wurde in den Jahren 2000–2004 ein Anstieg von 7 auf 39 Fälle pro 100.000 stationäre Patienten ermittelt, in den Jahren 2004–2006 kam es nochmals zu einer Verdopplung [51]. . Im Zusammenhang mit nosokomialen Ausbrüchen, die zunächst in Nordamerika, dann aber auch in Europa einschließlich Deutschland auftraten, wurde ein neuer Epidemiestamm, der sich durch eine erhöhte Virulenz auszeichnet, nachgewiesen [51]. Entsprechend molekularbiologischer Typisierungsergebnisse wird dieser Stamm als Ribotyp 027, nordamerikanischer Pulsfeld-Typ NAP 1 und Toxinotyp III bezeichnet.
Erreger Clostridium difficile (CD) ist ein anaerobes, grampositives sporenbildendes Stäbchenbakterium, das ubiquitär in der Umwelt (Boden, Oberflächenwasser), aber auch im Darm von Tier und Mensch nachgewiesen werden kann. Die Sporen sind nicht nur verantwortlich für die hohe Umweltresistenz, sondern auch für die Toleranz gegen zahlreiche chemische Substanzen, einschließlich vieler Desinfektionsmittel. CD gilt als Erreger von ca. 15–20% aller antibiotikaassoziierten Durchfallerkrankungen und von mehr als 95% aller pseudomembranösen Kolitisfälle (PMC) [51]. Krankheitsauslösend wirken die Virulenzfaktoren Enterotoxin A und das Zytotoxin B, die zu einer Schädigung der Intestinalzellen und somit zu Diarrhö oder Kolitis führen können. Pathogene Stämme bilden zumeist beide Toxine, selten jedoch ausschließlich Toxin B. Stämme, die keine Toxine bilden, gelten als apathogen. Einige virulente Stämme bilden zusätzlich ein sog. binäres Toxin (CDT), dessen Rolle in der Pathogenese der Erkrankung bisher noch nicht geklärt ist. Die Toxinexpression von Enterotoxin A und Zytotoxin B wird durch einen positiven (TcdR) und einen negativen Regulator (TcdC) gesteuert. Als Ursache der erhöhten Virulenz des Epidemiestammes (NAP1/027) wird eine in vitro nachgewiesene Toxinhyperproduktion, als Folge einer 18-bp-Deletion im TcdC, vermutet [52]. Bis zu 80% der Kleinkinder und 5% der Erwachsenen sind mit CD im Darm asymptomatisch kolonisiert. Obwohl neuere Daten auf eine Zunahme im ambulanten Bereich hindeuten, ist eine stationäre Aufnahme in Abhängigkeit von der Hospitalisationsdauer ein klarer Risikofaktor für eine Kolonisation. Clostridium difficile wurde bei 20–40% der stationären Patienten nachgewiesen, größtenteils jedoch ohne Krankheitswert. Bei 1 von 100 mit Antibiotika behandelten Patienten muss mit einer CDI gerechnet werden [51].
Übertragungsweg Neben dem endogenen Infektionsweg stellt die nosokomiale Übertragung ein zunehmendes krankenhaushygienisches Problem dar. Klinisch symptomatische Patienten scheiden mit ihrem flüssigen Stuhl eine große Menge an Bakterien/Sporen aus, was zu erheblichen Umgebungskontaminationen führen kann. Eine Weiterverbreitung des Erregers erfolgt durch direkten oder indirekten Kontakt über Hände oder kontaminierte Gegenstände (Toiletten, Steckbecken, Bett, Telefon etc.). Aufgrund der Sporenbildung kann
der Erreger lange Zeit außerhalb des Wirtes persistieren, sodass der indirekte Übertragungsweg eine erhebliche Rolle spielt. Ob der Mensch nach der Kolonisation erkrankt oder asymptomatischer Träger bleibt, ist abhängig von der individuellen Disposition und der Virulenz/Toxigenität des CD-Stammes.
Risikofaktoren Eine Alteration der normalen Gastrointestinalflora durch 4 Antibiotikatherapie, 4 Immunsuppression oder 4 Operation begünstigt eine Infektion mit Clostridium difficile. Zusätzlich gefährdet sind Patienten mit langen Hospitalisationszeiten, schweren Grundkrankheiten, Intensivaufenthalt, Therapie zur Senkung des Magensäure-pH-Wertes und ältere Patienten (>60 Jahre) [54].
Patienten mit gastrointestinalen Grunderkrankungen und Antibiotikatherapie scheinen generell ein höheres Erkrankungsrisiko zu haben [53]. Prinzipiell kann eine CDI durch jedes Antibiotikum ausgelöst werden, am häufigsten werden in diesem Zusammenhang Clindamycin, Breitspektrumpenicilline, Cephalosporine und Chinolone genannt. Aber auch unter Vancomycin und Metronidazol treten entsprechende Infektionen auf. Die Absenkung des Magensäure-pH-Wertes durch H2-Blocker oder Protonenpumpenhemmer scheint CD einen Überlebensvorteil zu ermöglichen. Aktueller Diskussionsgegenstand ist auch die Sondenkost, welche als potenzielle Keimquelle bei hygienisch nicht adäquater Zubereitung gesehen wird [54].
Klinik Virulente C.-difficile-Stämme sind in der Lage, zum einen eine sekretorische Diarrhö, zum anderen eine Kolitis auszulösen. Unspezifische klinische Zeichen sind wässrige Diarrhö, abdominelle Krämpfe, ggf. Fieber und eine ausgeprägte Leukozytose. Hypalbuminämie und Ödeme deuten auf eine Proteinverlustenteropathie hin. Differenzialdiagnostisch ist an Infektionen mit Noro-, Adenound Rotaviren zu denken.
Bei der fulminanten Kolitis besteht die Gefahr der Entwicklung eines toxischen Megakolons, eines Ileus und einer Perforation. Diffuse abdominelle Schmerzen, Leukozytose, Fieber, Hypotonie und Oligurie sind mögliche Kennzeichen einer schweren systemischen Infektion. Die richtungweisende Diarrhö kann bei toxischer Dilatation des Kolons oder paralytischem Ileus fehlen. Bei einer fulminanten Kolitis ist eine entschlossene Diagnostik und rasche Prüfung gastroenterologischer und chirurgischer Therapieoptionen entscheidend.
Lebensbedrohliche Verläufe einer C.-difficile-Kolitis werden bei 1–3% der Patienten erwartet [53]. Für schwere CDI-Fälle besteht gemäß § 6 Abs.1 Nr.5a IfSG eine Meldepflicht. Die Definition ist unter www.rki.de abrufbar.
Diagnostik Bei Verdacht auf eine pseudomembranöse Kolitis (PMC) kann die Endoskopie mit dem Nachweis von typischen Pseudomembranen (. Abb. 64.4) rasch zur Diagnosesicherung führen. Bei Patienten
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Kapitel 64 · Nosokomiale Infektionen
64
. Tab. 64.9 Basismaßnahmen zur Prävention device-assoziierter Infektionen. (Nach [26, 32, 39])
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Infektionskontrolle
Personalschulung Erfassung und Bewertung nosokomialer Infektionen Erkennung und Isolation von Patienten mit multiresistenten Erregern
Händedesinfektion
Vor und nach Patientenkontakt Vor und nach Kontakt mit invasiven »devices« Vor dem Anziehen und nach dem Ausziehen der Einmalhandschuhe
Einmalhandschuhe
Bei Kontakt mit potenziell infektiösem Material
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. Abb. 64.4 Koloskopisches Bild einer pseudomembranösen Kolitis durch C. difficile. [Abb. von Priv.-Doz. Dr. med. R. Winograd, früher Med. Klinik III, Universitätsklinikum Aachen, mit frdl. Genehmigung]
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mit gastroenteralen Grundkrankheiten wie M. Crohn oder Colitis ulcerosa können diese pathognomonischen Zeichen fehlen [54]. In den meisten Fällen ist zur Abklärung einer CDI eine mikrobiologische Diagnostik erforderlich. Diese basiert in der Regel auf dem Nachweis der Toxine A und/oder B mittels ELISA. Aufgrund der niedrigen Sensitivität sollten bei negativem Ergebnis erneut 1 oder 2 Stuhlproben untersucht werden. Auf kurze Transportzeiten ( Die Fähigkeit von C. difficile Sporen zu bilden, ist der Grund für eine ausgeprägte Umweltresistenz. Da Sporen alkoholresistent sind, ist es notwendig, die Hände mit Wasser und Seife zu waschen.
Die in . Tab. 64.9 zusammengefassten derzeitigen Empfehlungen zur Infektionsprävention sollen dem Stationsteam als praxisnahe Anleitung und Checkliste im Umgang mit den verschiedenen »devices« dienen.
Literatur 1 2
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Kapitel 64 · Nosokomiale Infektionen
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Spezifische Infektionen C. Dierkes, E. Bernasconi
65.1
Einleitung – 822
65.2
Bakterielle Infektionen – 822
65.2.1 65.2.2 65.2.3 65.2.4
Tuberkulose – 822 Hämolytisch-urämisches Syndrom (HUS) – 823 Nekrotisierende Fasziitis – 825 Gasbrand – 825
65.3
Virale Infektionen – 826
65.3.1 65.3.2 65.3.3 65.3.4 65.3.5
Influenza – 826 Varizella zoster – 827 Zytomegalovirus (CMV) – 828 Tollwut – 830 Virale hämorrhagische Fieber – 830
65.4
Parasitäre Infektionen – 831
65.4.1
Malaria – 831
65.5
Infektionen unter iatrogener Immunsuppression – 833
65.5.1 65.5.2
Infektionen nach Organtransplantation – 833 Infektionen bei Patienten mit Autoimmunerkrankungen/ rheumatologischen Erkrankungen – 833 Infektionen bei hämato-onkologischen Erkrankungen/ Knochenmarkstransplantation – 834
65.5.3
Literatur – 834
H. Burchardi et al. (Hrsg.), Die Intensivmedizin, DOI 10.1007/978-3-642-16929-8_65 , © Springer Medizin Verlag Berlin Heidelberg 2011,
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65.1
Kapitel 65 · Spezifische Infektionen
Einleitung
In diesem Kapitel wird auf die Infektionen eingegangen, die nicht im Rahmen der einzelnen Erkrankungsentitäten in den übrigen Kapiteln behandelt werden. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den Infektionen bzw. Erregern, die auch dem Intensivmediziner häufiger begegnen können. Fragestellungen außerhalb dieser Gruppe sollten mit Hilfe spezieller Literatur beantwortet werden, Hilfestellungen geben auch die Verweise auf Webseiten am Ende des Kapitels.
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65.2
Bakterielle Infektionen
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65.2.1
Tuberkulose
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Epidemiologie Die Tuberkulose ist eine der Infektionserkrankungen, die trotz effektiver Behandlungsmöglichkeiten eine hohe Sterblichkeit verursachen. Trotz der Infektion von vermuteten 30% der Weltbevölkerung betreffen allerdings nur 5% aller Erkrankungen Europa, hier insbesondere Osteuropa, sodass bei zunehmender Migration die Bedeutung auch in Deutschland wächst. Im Jahr 2007 wurden ca. 5000 Neuerkrankungen diagnostiziert, davon waren 43% aller Neuerkrankten nicht in Deutschland geboren [1]. Der Hauptmanifestationsort bleibt die Lunge, insbesondere bei Patienten auf der Intensivstation, wenn auch nur 3% aller Tuberkuloseinfizierten eine intensivmedizinische Therapie benötigen. Die Rate der gefürchteten Multiresistenzen bleibt mit ca. 2% in Deutschland niedrig. Besorgniserregend sind Fälle von extrem multiresistenten Erregern, sog. XDR-Tuberkulose, die auch in Deutschland bereits in Einzelfällen beschrieben wurden.
Erreger Der wichtigste Erreger der Tuberkulose ist Mycobacterium tuberculosis. Das säurefeste, schwach grampositive Bakterium ist kulturell sehr langsam wachsend und daher mittels dieser Methode meist nur verzögert nachweisbar. Spezielle Färbungen wie die Ziehl-Neelsen-Färbung helfen bei der Visualisierung in Ausstrichpräparaten, sofern eine ausreichende Zahl von Erregern vorhanden ist. Andere Mykobakterien des Mycobacterium-tuberculosis-Komplexes wie M. bovis, spielen in Deutschland fast keine Rolle. Atypische Mykobakterien sind selten und lediglich im Kontext stark immunsupprimierter Patienten z. B. nach Knochenmarktransplantation, von Bedeutung.
Klinische Präsentation
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Prinzipiell lassen sich 2 Patientengruppen unterscheiden, die mit Tuberkulose auf einer Intensivstation behandelt werden: 4 Patienten mit nachgewiesener Tuberkuloseinfektion, die im Rahmen der Infektion oder der Therapie eine Komplikation entwickeln. Hierzu zählen die tuberkulösen Perikarditiden, Meningitiden sowie postoperative Patienten nach thoraxchirurgischen Eingriffen, eine insgesamt seltene Patientengruppe; 4 Patienten mit Sepsis oder respiratorischer Insuffizienz, bei denen erst im Verlauf der Erkrankung die Diagnose gestellt werden kann. Hier sind insbesondere immunsupprimierte Patienten betroffen, unter anderem HIV-positive Patienten, bzw. Patienten mit iatrogener Immunsuppression, bei denen auch disseminierte Infektionen vorkommen können (LandouzySepsis). Insbesondere die 2. Gruppe weist eine sehr heterogene Präsentation auf, sodass die Identifikation schwierig sein kann. Bei den Ri-
. Tab. 65.1 Diagnostik bei Verdacht auf Tuberkulose Methode
Einschränkungen
Sputum/BAL-Kultur
Ergebnisse bis zu 4 Wochen später
Nukleinsäureamplifikation
Ergebnis nach wenigen Stunden, keine Unterscheidung vital/avital (Sensitivität)
Hauttest nach MendelMantoux
Abhängig vom Immunstatus des Patienten
Interferon-γ-Essays
Ebenfalls vom Immunstatus abhängig, aber in geringerem Ausmaß
sikogruppen sollte stets eine Tuberkulose differenzialdiagnostisch erwogen werden, um so frühzeitig therapeutische Maßnahmen ergreifen zu können, da insbesondere die verspätete Therapie zur erhöhten Mortalität bei Patienten auf Intensivstationen beiträgt. Die Erfragung möglicher Tuberkuloseexpositionen oder positiver Hauttests sollte erfolgen.
Diagnostik Nach wie vor ist der kulturelle bzw. direkte Nachweis von Mykobakterien aus Atemwegsmaterial die wichtigste diagnostische Methode (. Tab. 65.1). Diese kann auch bei beatmeten Patienten angewendet werden, sei es gezielt in Form einer bronchoalveolären Lavage bei nachweisbaren Konsolidierungen oder tuberkulosespezifischer Veränderungen im Röntgenbild, ansonsten typischerweise aus den Oberlappen. Werden hier Bakterien gefunden, so muss die Diagnose einer offenen Tuberkulose gestellt werden, und entsprechende Isolationsmaßnahmen müssen ergriffen werden. Neben Atemwegsmaterialien kann der Direktnachweis auch aus allen anderen Materialien bei vermuteter lokaler Infektion geführt werden. Kulturelle Nachweise gelingen derzeit meist nach 5–14 Tagen. In der Akutdiagnostik unabdingbar sind daher Nukleinsäureamplifikationstechniken (NAT), die innerhalb weniger Stunden Ergebnisse liefern, jedoch nicht zwischen vitalen oder avitalen Pathogenen unterscheiden können und somit in der Verlaufskontrolle nur bedingt verwertbar sind. Zur Resistenztestung sind zudem weiterhin kulturelle Methoden notwendig. Die Sensitivität der NAT liegt bei 80–90% und ist ähnlich der kulturellen Diagnostik. Zum sicheren Ausschluss einer offenen Tuberkulose sollten Proben mindestens 3-mal hintereinander untersucht werden. Sollte keine Bronchoskopie verfügbar sein, so kann Magennüchternsekret auch beim intubierten Patienten mittels Magensonde gewonnen werden. Die indirekten Nachweismethoden wie Tuberkulinhauttests nach Mendel-Mantoux oder neuere Methoden mit Nachweis von Interferon-γ produzierenden spezifischen Zellen spielen auf der Intensivstation meist keine Rolle, da die begleitende intrinsische Immunsuppression der schweren Erkrankung die Sensitivität deutlich erniedrigt. Eine Übersicht über die Möglichkeiten der Diagnostik bietet . Tab. 65.1. > Bei Erstdiagnose besteht eine Meldepflicht laut § 7 Infektionsschutzgesetz.
Therapie Die medikamentöse Therapie der Tuberkulose ist immer eine Kombinationstherapie, die von der Resistenzlage beeinflusst wird. Da diese in der Regel beim Intensivpatienten nicht bekannt ist, wird mit der Standardtherapie begonnen. Diese besteht aus der Kom-
823 65.2 · Bakterielle Infektionen
. Tab. 65.2 Medikamentöse Therapie der Tuberkulose Medikament
Dosierung
Besonderheiten
Adjustierung bei Dialyse
Isoniazid (INH)
5 mg kg KG/Tag (max. 300 mg)
Oral und intravenös
Ja
Rifampicin
10 mg kg KG/Tag (max. 600 mg)
Oral und intravenös, multiple Interaktionen
Nein
Prognose Die Mortalität der Tuberkulose liegt weltweit bei 24%, in den Industrienationen bei 5–7%. Diese ist bei Patienten mit Notwendigkeit einer intensivmedizinischen Behandlung mit 25–67% deutlich erhöht. Risikofaktoren, die mit erhöhter Mortalität assoziiert werden, sind ein verzögerter Therapiebeginn, akutes Nierenversagen, Sepsis, ARDS, Beatmungspflicht sowie begleitende nosokomiale Pneumonie [3].
Prävention
Pyrazinamid
15–30 mg/ kg KG/Tag (maximal 2000 mg)
Oral, hepatotoxisch
Ja (Therapie nicht empfohlen)
Ethambutol
15–25 mg/ kg KG/Tag (maximal 1600 mg)
Oral
Ja
bination von Isoniazid, Rifampicin, Pyrazinamid und Ethambutol für 2 Monate, gefolgt von 4 Monaten Isoniazid und Rifampicin. Die Dosierungen können . Tab. 65.2 entnommen werden. > Beachtung der Ergebnisse der Resistenztestung, die oft erst nach mehreren Wochen verfügbar sind! Besondere Situationen. Bestehen Bedenken bezüglich der oralen
Resorption, so kann auf ein parenterales Therapieschema ausgewichen werden. Hier bietet sich die Gabe von Streptomycin in einer Dosis von 15 mg/kg KG i.v. an, bei Niereninsuffizienz muss eine Dosisanpassung erfolgen. Andere Zweitlinientherapeutika sollten nur nach Erhalt der Resistenztestung eingesetzt werden. Bei primär verzögertem Ansprechen muss eine Verlängerung der Gesamttherapiedauer erfolgen; dies gilt ebenfalls für Fälle von Miliartuberkulose und tuberkulöser Meningitis. Nebenwirkungen. Sowohl Isoniazid, Ethambutol, Pyrazinamid als
auch Rifampicin können zu Leberwerterhöhungen führen. Im Umfeld einer intensivmedizinischen Behandlung ist es oft schwierig, die Ursache einer solchen Leberschädigung abzugrenzen. Aufgrund der Gefahr einer fulminanten Hepatitis sollte aber im Fall einer Erhöhung auf das mehr als 3-Fache der Norm die Therapie unterbrochen und erst nach Normalisierung wieder begonnen werden. Visus- und Farbsehprüfungen sind bei sedierten Patienten meist nicht möglich, sollten aber so rasch wie möglich nachgeholt werden und insbesondere in der oft schwierigen Aufwachphase nicht in Vergessenheit geraten. Die Sehstörungen sind normalerweise vollständig reversibel. Adjuvante Therapie. Die Gabe von Steroiden ist bei erhöhtem in-
trakraniellem Druck bei tuberkulöser Meningitis empfohlen [2]. Bei Patienten mit erhöhtem Vitaminbedarf (Alkoholabhängige, Schwangere, Mangelernährte) sollte eine Substitution von Pyridoxin (Vitamin B6) erfolgen. Hinsichtlich der Behandlung von Komplikationen unterscheidet sich die Tuberkulose nicht von anderen Infektionen, die zur respiratorischen Insuffizienz führen. So können auch bei diesen Patienten überbrückende Therapien mit Organersatzverfahren bis zum extrakorporalen Lungenersatz erfolgreich eingesetzt werden.
Bei nachgewiesener offener Tuberkulose muss eine Isolation des Patienten möglichst in einem Zimmer mit separater Luftführung erfolgen. Besucher und medizinisches Personal müssen Schutzkittel, Mundschutz nach Schutzklasse FFP3 sowie bei direktem Kontakt auch Handschuhe tragen. Dies gilt auch für invasiv beatmete Patienten, insbesondere bei Tätigkeiten wie Absaugung oder Bronchoskopie. Meist nach 2–3 Wochen korrekter Therapie sind Patienten nicht mehr infektiös, bei multiresistenten Keimen kann die Zeit verlängert sein. Eine Kontrolle mittels Lichtmikroskopie ist möglich, diese kann aber bei Nachweis avitaler Pathogene ohne Möglichkeit der Unterscheidung in die Irre führen.
65.2.2
Hämolytisch-urämisches Syndrom (HUS)
Das hämolytisch-urämische Syndrom ist eine Systemerkrankung, die mit Organversagen und einer hohen Mortalität einhergeht. Das Entscheidende in der Behandlung der Erkrankung ist die rechtzeitige Diagnosestellung. Gekennzeichnet ist die Erkrankung durch das Auftreten einer thrombotischen Mikroangiopathie, die die Folgeerscheinungen Anämie, Nierenversagen und Thrombopenie verursacht.
Epidemiologie Insgesamt ist das HUS eine seltene Erkrankung, die in der Allgemeinbevölkerung eine Inzidenz von ca. 5 Erkrankungen/106 Einwohner pro Jahr aufweist. Bei Kindern Die Diagnose einer nekrotisierenden Fasziitis wird hauptsächlich durch das klinische Bild bestimmt. Die rasche mikrobiologische Diagnostik und chirurgische Intervention bestimmen das Überleben maßgeblich.
65.2.4
Gasbrand
Ähnlich der nekrotisierenden Fasziitis ist die Krankheit durch eine rasche bakterielle Invasion und Destruktion von Gewebe gekennzeichnet. Auch hier sind eine rasche Diagnosestellung und chirurgische Versorgung wegweisend für den weiteren Ablauf der Erkrankung
Epidemiologie Der häufigste Erreger der Gasbrandinfektion ist Clostridium perfringens, ein obligat anaerobes, sporenbildendes Bakterium. Es ist ubiquitär z. B. im Erdreich vorhanden, sodass Infektionen jederzeit auftreten können. Seltener finden sich Clostridium septicum, Clostridium novyi sowie weitere Clostridienspezies. Therapeutisch ergeben sich hieraus keine Konsequenzen, wenn auch die Pathogenität teilweise differiert. Bedingt durch die Verbreitung des Erregers finden sich Infekte meist nach Verletzungen, die die Invasion der Sporen in das Gewebe ermöglichen. Hier sind z. B. Messerstichverletzungen oder schwere Verkehrsunfälle zu nennen. Bei postoperativen Infektionen nach z. B. orthopädischer Versorgung stammen die Sporen meist aus dem endogenen Erregerreservoir des Patienten, da diese auch über mehrere Jahre nach Verschleppung in das Gewebe noch zur Infektion führen können.
. Abb. 65.1 Nekrotisierende Fasziitis
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826
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Kapitel 65 · Spezifische Infektionen
Pathogenese
Prognose
Clostridium perfringens erhält seine Pathogenität durch die Bildung von Toxinen. Mehrere Studien haben die Gefährlichkeit des α-Toxins nachgewiesen, das mit einer Wirkung als Phospholipase C sowie Sphingomyelinolase zur lokalen Gewebsdestruktion führt. Das Θ-Toxin bildet zudem Lysine, die z. T. Granulozyten zerstören. Werden die Toxine in den Blutkreislauf aufgenommen, kommt es zur systemischen Reaktion im Sinne einer septischen Kreislaufsituation. Die Aggregation von Thrombozyten in den infizierten Arealen führt zum Bild der fehlenden Blutung bei der operativen Versorgung [8].
Die Mortalität der Gasbrandinfektion ist hoch und wird in Studien zwischen 67–100% angegeben. Meist führt die Infektion über das Multiorganversagen innerhalb von 24 h zum Tod. Ist der primäre Befall an den Extremitäten nachweisbar, so ist das Überleben besser als bei Stamminfektionen.
Klinik und Diagnostik
Epidemiologie
Ist eine Weichteilinfektion mit stärksten Schmerzen mit einem Hautemphysem verbunden, so muss an eine Gasbrandinfektion gedacht werden. Es lassen sich typischerweise Krepitationen im Gewebe palpieren, die teilweise auch radiologisch nachweisbar sind. Typischerweise treten die Beschwerden zunehmend nach einem initialen Trauma mit einer Inkubationszeit von wenigen Stunden bis zu 3 Tagen auf. Es kommt zur ödematösen Hautschwellung, teilweise mit bronzener Verfärbung; zudem treten systemische Infektionszeichen wie Somnolenz, Tachykardie, Tachypnoe, im weiteren Verlauf dann auch Hypotonie auf. Laborchemisch lassen sich Zeichen der disseminierten intravasalen Gerinnungsstörung nachweisen, es kommt zum septischen Schock oft in Kombination mit einem Multiorganversagen. Im Gegensatz zur Fasziitis greift die Infektion auch die tieferliegenden Muskelschichten an und führt hier über die Toxinwirkung zur Destruktion des Gewebes. Innerhalb weniger Stunden breitet sich die Infektion in der Tiefe weiter aus. Die Magnetresonanztomographie kann sehr sensitiv das Befallsmuster im Gewebe nachweisen, ist jedoch bei schwerkranken Patienten oft nur mit Schwierigkeiten einzusetzen, zudem nicht überall zeitnah verfügbar. Die Computertomographie kann daher ebenfalls zur Eingrenzung des Weichteilschadens eingesetzt werden. Sonographisch lassen sich das Gewebsödem sowie Lufteinschlüsse und Flüssigkeitsverhalte nachweisen.
Infektionen mit dem Influenzavirus unterliegen einer saisonalen Schwankung. In Mitteleuropa kommt es alljährlich im Winter zu einem Anstieg der Infektionen. Besonders gefährdet sind Patienten mit Herzerkrankungen, Lungenerkrankungen, Immunsuppression, hohem sowie sehr jungem Alter (Säuglinge). In Deutschland wird die Zahl der jährlichen Todesfälle, die mit Influenza assoziiert sind, auf etwa 13.000 geschätzt. Noch höhere Zahlen finden sich in Jahren, in denen neue Virustypen zirkulieren, gegen die nur eine geringe Kreuzimmunität besteht. Neben der saisonalen Influenza treten immer wieder neue Virusstämme auf, die von tierischen Wirten auf den Menschen übergreifen. Bekannte Wirte für das Influenza-A-Virus sind Vögel, Schweine, Pferde sowie kleinere Säugetiere. Gelegentlich kommt es zur Vermischung von humanen mit tierspezifischen Virusstämmen, sodass neue Antigene in die Zirkulation eintreten (sog. Antigen-Shift). Sobald sich diese Stämme durch Anpassung im Menschen dann von Mensch zu Mensch übertragen können, besteht die Gefahr einer stärkeren Epidemie oder gar Pandemie, da für diese Virusstämme kaum Immunität vorhanden ist. In den letzten Jahren wurde zunächst die aviäre Influenza, seit 2009 die »Schweinegrippe« bzw. »Neue Grippe« als Pandemierisiko eminent. Der derzeitigen aviären Influenza ist der Sprung zur weitverbreiteten Menschzu-Mensch Übertragung bisher jedoch nicht gelungen.
65
> Stärkste Schmerzen trotz äußerlich wenig auffälligem Hautbefund sollten an eine Gasbrandinfektion denken lassen.
65
Therapie
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Wichtigste therapeutische Maßnahme ist auch hier die chirurgische Versorgung des infizierten Areals mit großzügigem Débridement. Oft kann eine Amputation einer betreffenden Extremität bei weitreichendem Befall nicht verhindert werden. Flankierend wird eine antibiotische Therapie mit hochdosiertem Penicillin G bis zu 20–30 Mio. Einheiten empfohlen. Auch hier gilt, dass eine adjuvante Therapie mit Clindamycin zu empfehlen ist. Kann eine Mischinfektion nicht ausgeschlossen werden, so sollte die Therapie wie bei der nekrotisierenden Fasziitis mit einem begleitenden Breitbandantibiotikum durchgeführt werden. Ansonsten gelten die gleichen Regeln zur Versorgung eines Patienten im septischen Schock mit Flüssigkeitssubstitution sowie weiterer adjuvanter Therapie. Der Einsatz der hyperbaren Sauerstofftherapie hat in experimentellen Studien einen sehr positiven Effekt gehabt, die klinische Studienlage bleibt aber kontrovers. Sollte eine hyperbare Sauerstofftherapie logistisch ohne die Gefahr längerer Transportwege, die bei Intensivpatienten stets risikobehaftet sind, möglich sein, so sollte sie durchgeführt werden.
65.3
Virale Infektionen
65.3.1
Influenza
Neue Grippe H1N1. Im Jahr 2009 trat im Rahmen eines AntigenShifts eine neue Grippevariante in die Zirkulation ein. Aufgrund fehlender Immunität entwickelte sich hieraus eine weltweite Pandemie mit insgesamt geringer Mortalität, die höchste Warnstufe der World Health Organization konnte im August 2010 wieder aufgehoben werden. Im Rahmen dieser neuen Influenza zeigten sich andere Risikofaktoren im Vergleich zur saisonalen Influenza, die mit einer erhöhten Mortalität einhergehen. So sind jüngere Personen, Schwangere sowie Übergewichtige besonders gefährdet. In einer kanadischen Studie lag das Durchschnittsalter der Personen, die intensivmedizinisch betreut werden mussten, bei 32 Jahren, die 90-Tage-Mortalität bei 17,3%, die Rate der invasiven Beatmung bei 81%. Ähnliche Zahlen werden auch aus anderen Regionen gemeldet [9].
Klinik Die klassische Präsentation einer Influenza stellen plötzlicher Krankheitsbeginn, hohes Fieber, schwere Allgemeinsymptome (Kopfschmerzen, Muskelschmerzen) sowie respiratorische Beschwerden wie Husten, Schnupfen und Heiserkeit dar. Die wichtigste Komplikation ist die Pneumonie, je nach Virustyp dominiert hier entweder die Influenzapneumonie oder bakterielle Superinfektionen. Bei respiratorischem Versagen kann dann eine Intensivtherapie notwendig sein. Bei der neuen Influenza H1N1 sind diese Komplikationen selten, jedoch eher bei jüngeren Menschen aufge-
827 65.3 · Virale Infektionen
treten. Primäre Influenzapneumonien waren zu ca. 66% Ursache des respiratorischen Versagens.
. Tab. 65.5 Medikamentöse Therapiemöglichkeiten bei Influenza
Diagnostik
Medikament
Dosierung Kinder
Erwachsene
Besonderheiten
Amantadin
5 mg/kg KG bis 150 mg in 2 Dosen
2×100 mg
Nur oral verfügbar Schnelle Resistenzentwicklung Wirkung nur gegen Influenza A
Oseltamivir
2×2 mg/ kg KG bis 40 kg, sonst 2×75 mg
2×75 mg
Nur oral verfügbar
Bei wachen, kooperationsfähigen Patienten kann der Nachweis des Virus aus Rachenspülwasser durchgeführt werden. Alternativ kann ein hoher Nasen-Rachen-Abstrich durchgeführt werden. Hierzu stehen verschiedene Schnelltests zur Verfügung, die jedoch bei einer Sensitivität zwischen 40% und 80% den Ausschluss einer Influenza nur eingeschränkt ermöglichen. Insbesondere bei niedriger Viruslast versagen diese Tests. Eine sensitivere Methode ist der Nachweis mittels Nukleinsäureamplifikation, die nicht nur aufwendiger, sondern auch teurer und nicht überall zeitnah verfügbar ist. Beim intubierten Patienten kann die Diagnostik aus einer bronchoalveolären Lavage durchgeführt werden, jedoch kann auch hier Rachenspülwasser oder Trachealsekret verwendet werden.
Rimantadin
Nur oral verfügbar Schnelle Resistenzentwicklung Wirkung nur gegen Influenza A
> Bei einem Direktnachweis der klassischen Influenzaerreger ist der Erkrankungsfall meldepflichtig nach § 7 Infektionsschutzgesetz, zudem der Tod bei H1N1-Infektion.
Therapie Antivirale Substanzen gegen Influenza A und B sind Neuraminidasehemmer wie Oseltamivir und Zanamivir, gegen Influenza A auch Amantadin und Rimantadin. Aufgrund einer schnellen Resistenzentwicklung gegen Letztgenannte wird der Einsatz nur bei fehlender Verfügbarkeit von Neuraminidasehemmern empfohlen. Oseltamivir ist nur oral verfügbar, während Zanamivir als inhalative Therapie angewendet wird. Die Anwendung bei invasiv beatmeten Patienten als Verneblung ist derzeit nicht evaluiert. Eine gute Wirksamkeit ist bei Einsatz innerhalb der ersten 48 h nach Symptombeginn nachgewiesen, sodass bei begründetem Verdacht mit entsprechender Exposition eines Risikopatienten die Therapie auch kalkuliert begonnen werden sollte. Hierdurch kann eine Reduktion der Krankheitsdauer erreicht werden; der Nachweis der Reduktion von schweren Komplikationen ist bisher aufgrund der geringen Fallzahl in Studien nicht gesichert. Bei schweren Verläufen mit respiratorischer Insuffizienz sollte immer eine Kombinationstherapie mit einer antibiotischen Therapie erfolgen. Die Details zeigt . Tab. 65.5. Neuere Substanzen, die auch eine intravenöse Therapie erlauben, sind derzeit in der klinischen Erprobung. Resistenzen gegen Neuraminidasehemmer wurden beobachtet, sodass wie bei konventionellen Antibiotika der Einsatz rational und zeitlich begrenzt erfolgen sollte. Die normale Therapiedauer liegt bei 5 Tagen, kann in schweren Fällen aber verlängert werden. Nebenwirkungen der Therapie sind meist gering und betreffen v. a. den Gastrointestinaltrakt.
Prävention Jedes Jahr wird ein neuer Impfstoff gegen die saisonale Influenza im Herbst zur Verfügung gestellt. Aufgrund der Kinetik der Impfantwort und Dauer sollte die Impfung möglichst im Oktober/November stattfinden. Im Umfeld des Gesundheitswesens dient die Impfung nicht primär dem Schutz des Personals, sondern soll die Infektion Gefährdeter verhindern. Dies sollte sowohl dem ärztlichen als auch dem pflegerischen Personal vermittelt werden, um einer geringen Impfrate zu begegnen. Sollte es zur Exposition mit infektiösem Material kommen, so kann eine medikamentöse Prophylaxe mit Oseltamivir durchgeführt werden; dies sollte jedoch gegen die möglichen Nebenwirkungen abgewogen werden.
Zanamivir
Nicht verfügbar
2×10 mg
Nur inhalativ verfügbar
Bei nachgewiesener Influenzainfektion muss eine Isolation des Patienten erfolgen, möglichst sollte eine eigene Belüftung zur Verfügung stehen. Der individuelle Schutz sollte in Form von Schutzkittel, Atemmaske und Handschuhen erfolgen. Bei Influenzastämmen, die ein Pandemierisiko beinhalten, sollte eine Atemmaske der Schutzklasse FFP3 verwendet werden. Die Versorgung des Patienten sollte möglichst nur durch geimpftes Personal erfolgen. Die Infektiosität eines Patienten besteht in der Regel bis zu 7 Tage nach Erkrankung, jedoch sind bei Immunsupprimierten auch längere Virusausscheidungen beobachtet worden.
65.3.2
Varizella zoster
Epidemiologie Während die Varizelleninfektion bei Kindern meist ohne Komplikationen verläuft, kann die Erstinfektion im Erwachsenenalter zu schwerwiegenden Komplikationen führen. Vermutlich 3–5% aller Erwachsenen bis 40 Jahre besitzen keine Immunität. Für den Intensivmediziner sind die zerebralen Beteiligungen mit Enzephalitis, aber auch die Varizellenpneumonie von Bedeutung, die mit hoher Frequenz zur Beatmungspflicht führt und bei bis zu 20% der Erwachsenen auftritt. Als Risikofaktoren für eine Varizellen-Pneumonie konnten männliches Geschlecht sowie Nikotinkonsum in mehreren Studien identifiziert werden [10].
Erreger Das Varizella-zoster-Virus gehört zur Gruppe der Herpesviren und wird auch als humanes Herpesvirus 3 (HHV3) bezeichnet. Das Virus ist doppelsträngig, membranumhüllt und sehr eng mit dem Herpes-simplex-Virus verwandt.
Diagnose Wichtiges Instrument in der Diagnose der Varizelleninfektion ist eine genaue Anamnese, in der eine fehlende Varizelleninfektion in der Kindheit erfragt werden muss, zudem sollte der Kontakt zu erkrankten Kindern erfragt werden. Die zweite Komponente stellt
65
828
Kapitel 65 · Spezifische Infektionen
65
die körperliche Untersuchung dar, bei der ein makulopapulöses bis vesikuläres Exanthem Anlass zur spezifischen Diagnostik geben sollte. Die Kombination einer Pneumonie mit virustypischen Veränderungen in der Bildgebung der Lunge (noduläre Veränderungen sowie Zeichen der interstitiellen Pneumonie) sowie Virusnachweis z. B. mittels Nukleinsäureamplifikation aus einer bronchoalveolären Lavage (oder auch Liquor bei Verdacht auf Enzephalitis) sichern die Diagnose. Die serologische Antwort ist in der akuten Phase der Erkrankung meist nicht schnell genug, der Nachweis spezifischer IgG kann jedoch eine vorangegangene Varizelleninfektion anzeigen und somit die Erstinfektion und eine dadurch bedingte Pneumonie unwahrscheinlich machen.
65
> Die rasche Diagnose gelingt mit Nachweis der Hautveränderungen sowie einer genauen Anamnese.
65
Therapie
65 65 65 65
65
Die Therapie der komplizierten Varizelleninfektion im Erwachsenenalter sollte mit Aciclovir erfolgen, eine intravenöse Therapie sollte mit 5–10 mg/kg KG über 7–10 Tage verabreicht werden. Die Datenlage bezüglich einer zusätzlichen Gabe von Kortikosteroiden ist widersprüchlich, mehrere retrospektive Studien konnten eine schnellere Verbesserung der Beatmungsparameter zeigen, während andere Studien keinen Vorteil nachweisen konnten [11–12]. Die Entscheidung sollte daher situativ erfolgen. Bei immunsupprimierten Personen sollte die Gabe von Varizella-zoster-Immunglobulinen erwogen werden, dies gilt auch für schwer erkrankte Erwachsene in der Frühphase. Randomisierte Studien liegen hierzu jedoch nicht vor. Die Gabe von Acetylsalicylsäure sollte aufgrund der Gefahr eines Reye-Syndroms vermieden werden.
65
Prävention
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65
Die Impfung von seronegativen Personen ist die beste Methode, die Erkrankung im Erwachsenenalter zu verhindern. Eine spezielle Isolation eines Patienten mit Varizellenpneumonie muss nicht erfolgen; es sollte jedoch sichergestellt werden, dass nur Personen mit nachgewiesener Immunität die Behandlung übernehmen, da die Kontagiosität sehr hoch ist. Zudem sollten bei direktem Kontakt mit dem Patienten Schutzhandschuhe getragen werden, da nosokomiale Epidemien beschrieben und immunsupprimierte Patienten besonders gefährdet sind. Postexpositionell sollte bei diesen Patienten die Gabe von Varizella-zoster-Immunglobinen erfolgen.
65
65.3.3
65 65 65
65 65 65 65 65 65 65
Zytomegalovirus (CMV)
Zytomegalovirus (CMV), das größte Virus, das Menschen infizieren kann, gehört zur Betaherpesgruppe. Die CMV-Primärinfektion verläuft meistens asymptomatisch, wobei bei jungen Erwachsenen ein mononukleoseähnliches Krankheitsbild beobachtet werden kann. Die Prävalenz der Infektion in der allgemeinen Bevölkerung wird auf 60–70% in den westlichen Ländern und bis 100% in einigen Gebieten von Afrika geschätzt. Sowohl die Primärinfektion als auch die Reaktivierung aus der latenten Infektion können bei Patienten mit zellulärer Immundefizienz zu schweren klinischen Manifestationen führen. In den ersten Monaten nach Organtransplantation weist die CMV-Pneumonie eine hohe Mortalität auf [13]. Bei Patienten mit fortgeschrittener und unbehandelter HIV-Infektion stehen dagegen CMV-Retinitis, Darm- und Zentralnervensystembefall als Krankheitsmanifestationen im Vordergrund.
Erreger Das CMV-Genom besteht aus einer linearen doppelsträngigen DNA. Die 230 vom Virus kodierten Proteine dienen sehr unterschiedlichen Zwecken, zur Virusaufnahme in die Zellen, zur viralen Replikation, zur Downregulierung des menschlichen Immunsystems und Latenzbildung. Im Gegensatz zu γ-Herpesviren (EpsteinBarr-, humanes Herpesvirus 8) besteht für CMV kein Hinweis auf ein onkogenes Potenzial, da CMV in vitro weder Zellen immortalisieren noch die DNA-Proliferation stimulieren kann.
Klinik Die klinische Manifestation der CMV-Infektion hängt v. a. vom Schweregrad der Immundefizienz ab. Vor einem spezifischen Organbefall können über Tage oder Wochen Abgeschlagenheit, Fieber, leichte Anämie, Thrombozytopenie und Erhöhung der Transaminasen im Vordergrund stehen. Akute CMV-Infektion. Die Primärinfektion im frühen Erwachsenenalter kann wie eine Mononukleose mit Fieber, Halsschmerzen, Lymphadenopathien, Splenomegalie, Lymphozytose im peripheren Blutbild und Erhöhung der Lebertransaminasen verlaufen. Beim immunkompetenten Individuum sind interstitielle Pneumonie, schwere Hepatitis, Meningoenzephalitis, Guillain-Barré-Syndrom, Myokarditis und hämolytische Anämie seltene Komplikationen. CMV-Infektion und HIV. In der Ära der kombinierten antiretroviralen Therapie ist eine schwere Reaktivierung der CMV-Infektion selten geworden. Diese opportunistische Infektion tritt typischerweise als späte Komplikation von Aids bei einer CD4-Zellzahl 40° C) 5 Extreme Schwäche
Laborparameter
5 5 5 5 5 5 5 5
Parasitämie >5 % Disseminierte intravasale Gerinnung Hämoglobinurie (intravasale Hämolyse) Blutglukose 3 mg/dl) Hämoglobin 40 μmol/l (>3 mg/dl) arterieller pH-Wert 2% sollte eine engmaschige, d. h. 6-stündliche Kontrolle der Parasitendichte durchgeführt werden. Schnelltests, die den Nachweis von Plasmodiumantigenen ermöglichen, erleichtern das Screening, ersetzen aber die morphologische Diagnostik nicht. Die Differenzialdiagnose der Malaria erfasst v. a. Influenza, Typhus, bakterielle Sepsis, Dengue, akute Schistosomiase, Leptospirose, Infektion durch Rickettsia sp., Borrelia recurrentis und Gelbfieber.
Therapie Die in der 7 Übersicht dargestellten allgemeinen Behandlungsrichtlinien gelten für Patienten mit schwerer Malaria.
Allgemeine Behandlungsempfehlungen für Patienten mit schwerer Malaria 4 Verlegung des Patienten auf die Intensivstation. 4 Lumbalpunktion bei klinischem Verdacht auf Beteiligung des Zentralnervensystems. 4 Berechnung der Medikamentendosierung aufgrund des Körpergewichts und schnellstmöglicher Beginn mit einer Antimalariachemotherapie. 4 Regelmäßige Kontrolle der Laborparameter, insbesondere Blutglukose und arterielle Blutgasanalyse, Laktatkonzentration, Parasitämie, Thrombozyten, Gerinnungsparameter und Nierenfunktion. 6
833 65.5 · Infektionen unter iatrogener Immunsuppression
4 Sorgfältige Überwachung des intravasalen Volumenstatus; hier ist oft die Anlage eines zentralvenösen Katheters (oder eines Pulmonalarterienkatheters) erforderlich. Vorsichtige Flüssigkeitszufuhr, um das Auftreten eines Lungenödems zu verhindern. 4 Überwachung der Körpertemperatur: Einsatz von physikalischen Mitteln, kombiniert mit Antipyretika bei schwerer Hyperthermie. 4 Blutkulturen zum Ausschluss einer begleitenden Bakteriämie oder Sepsis anderer Ursache, frühzeitiger Einsatz von Breitspektrumantibiotika bei Verdacht auf Sepsis. 4 Kontrolle der Urinproduktion, meist durch Einlage eines Urinkatheters. 4 Kontrolle des spezifischen Gewichts und der Natriumkonzentration im Urin.
Die Behandlung einer komplizierten Malaria, bei der entweder Plasmodium falciparum nachgewiesen wurde oder die Artdiagnose noch nicht erfolgte, wird in der Regel parenteral mit Chinin durchgeführt. Für Chinindihydrochlorid wird das in der 7 Übersicht dargestellte Dosierungsschema empfohlen.
Empfohlenes Dosierungsschema für Chinindihydrochlorid 4 Initialdosis 7 mg/kg KG Chinindihydrochlorid (Salz) über 30 min in 100 ml Glukose 5% i. v. 4 Unmittelbar anschließend 10 mg/kg KG über 4 h in 250 ml Glukose 5% i. v. 4 Die Maximaldosis von 2,5 g Chinindihydrochlorid sollte am 1. Tag nicht überschritten werden. 4 Danach 10 mg/kg KG i. v. in 250 ml Glukose 5% über 4 h, 3× pro Tag, d. h. alle 8 h. 4 Nach 48–72 h und günstigem Verlauf kann die Tagesdosis auf 1,8 g, d. h. 3× 600 mg pro Tag, reduziert werden. 4 Bei günstigem Verlauf kann auf eine perorale Behandlung mit Chininsulfat 3× 600 mg/Tag p. o. für 7 Tage, kombiniert mit Doxicyclin 200 mg/Tag p. o., gewechselt werden.
Austauschtransfusion. Bei sehr hoher Parasitämie (>15%) und bei
schwerer disseminierter intravasaler Gerinnung muss eine Austauschtransfusion erwogen werden. Die von der World Health Organisation publizierten Richtlinien für die Behandlung der schweren Malaria können unter http://apps. who.int/malaria/treatmentguidelines.html heruntergeladen werden.
Prävention Die Malariaprävention basiert auf dem Vermeiden eines Kontakts mit dem Moskitovektor und der medikamentösen Prophylaxe. Verschiedene Impfpräparate sind zurzeit in klinischer Prüfung.
65.5
Im Rahmen des zunehmenden Einsatzes von potenten Immunsuppressiva nehmen auch die Komplikationen dieser Therapien zu. Neben malignen stehen infektiöse Erkrankungen im Vordergrund. Diese weichen im Erregerspektrum häufig von denjenigen des vorab »gesunden« Patienten ab, sodass eine besondere Diagnostik notwendig ist. Auch die klinische Symptomatik eines immunsupprimierten Patienten ist oft weniger ausgeprägt oder vollständig divergierend. > Die klinische Symptomatik von immunsupprimierten Patienten ist initial oft milde, bevor dann eine rasche Dekompensation stattfindet. Fieber und andere Zeichen der Infektion können vollständig fehlen.
Im Folgenden wird auf die Diagnostik bzw. die zu erwartenden Infektionsarten eingegangen, die in verschiedenen Szenarien typisch sind. Hierbei bleiben Infektionserreger unberücksichtigt, gegen welche keine spezifische Therapie vorhanden ist und bei denen sich aus der Diagnostik somit keine therapeutische Relevanz ergibt. Auch wird der Schwerpunkt auf solche Infektionen gelegt, die auf der Intensivstation zu finden sind. Bezüglich der spezifischen Therapie wird auf die entsprechenden weiterführenden Kapitel verwiesen. Es wird die Immunsuppression nach solider Organtransplantation, bei hämatoonkologischen Erkrankungen sowie bei Autoimmunerkrankungen im weitesten Sinne unterschieden.
65.5.1 Als Alternative zur Chinindihydrochlorid können Artemisininderivate (Artesunate, Artemether) zuerst parenteral und per os, nach Angaben des Herstellers eingesetzt werden. Schwangerschaft. Die Therapie erfolgt bevorzugt mit Chinin; zu-
sätzlich sollte ein Gynäkologe in die Betreuung einbezogen werden. Anstelle von Doxycyclin wird bei Schwangeren Clindamycin 5 mg/ kg KG 3× pro Tag angewandt. ! Cave Die Behandlung in der Schwangerschaft ist besonders risikoreich, da vermehrt schwere Hypoglykämien, ein Lungenödem oder ein Abort auftreten können. Nebenwirkungen. Die wichtigsten Nebenwirkungen von Chinin
sind: Tinnitus, Sehstörungen, Kopfschmerzen, Übelkeit, Herzrhythmusstörungen und Krämpfe. Bei Überdosierung kann Aktivkohle per os gegeben werden.
Infektionen unter iatrogener Immunsuppression
Infektionen nach Organtransplantation
Je nach der Zeitspanne, die seit der Organtransplantation vergangen ist, wandelt sich das erwartete Erregerspektrum abhängig vom Grad der Immunsuppression (. Tab. 65.9; [13]). ! Cave Bei Patienten, die Abstoßungsreaktionen durchgemacht und somit eine Intensivierung der immunsuppressiven Therapie erhalten haben, kann sich dieser Zeitrahmen entsprechend verschieben.
65.5.2
Infektionen bei Patienten mit Autoimmunerkrankungen/ rheumatologischen Erkrankungen
Im zunehmenden Maße werden immunsuppressive Therapien bei Patienten mit rheumatologischen, autoimmunen oder anderen Erkrankungen eingesetzt, z. B. bei Patienten mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen, rheumatoider Arthritis oder Kollageno-
65
834
65 65
Kapitel 65 · Spezifische Infektionen
. Tab. 65.9 Infektionen nach Organtransplantation Zeitraum
Infektionen/Erreger
1. Monat
Nosokomiale Infektionen (7 Kap. 64) 5 Multiresistente Erreger (MRSA, VRE) 5 Wundinfektion 5 Katheterinfektionen Vom Fremdspender übertragene Infektionen (sehr selten) 5 HIV, HSV, Tollwut, West-Nil-Virus, Trypanosomen, Rabies, LCMV
65 65 65
65 65 65 65
65 65 65 65 65 65 65
Herpes simplex
Enzephalitis, Meningitis
Toxoplasmose
Vigilanzminderung, neurologische Symptomatik
Tuberkulose
Landouzy-Sepsis, Miliartuberkulose
Reaktivierung latenter Infektionen: 5 CMV 5 HSV Pneumonien
Literatur 1 2
sen. Gemeinsam ist allen Erkrankungen, dass eine zunehmende immunsuppressive Therapie durchgeführt wird. Hierzu zählen sowohl die Substanzen, mit denen bereits langjährig Erfahrung besteht wie z. B. Steroide, Cyclophosphamid, Azathioprin oder auch Methotrexat, als auch neue insbesondere antikörperbasierte Therapien. Zunehmende Bedeutung erlangt derzeit die Pneumocystis-jiroveci-Pneumonie, die insbesondere in diesem Patientenkollektiv mit hoher Mortalität verbunden ist. Diese sollte somit differenzialdiagnostisch immer in Erwägung gezogen werden. Bezüglich weiterer Pneumonien unter Immunsuppression 7 Kap. 39. Neben der Infektion mit opportunistischen Erregern kann es auch in diesem Risikokollektiv zur Reaktivierung latenter Infektionen kommen. Fatale Ausgänge sind z. B. im Rahmen einer fulminanten Hepatitis B oder auch einer Tuberkulosesepsis beschrieben (. Tab. 65.10).
65.5.3
65
Leberversagen
>6 Monate
65 65
Hepatitis B
In der weiteren Diagnostik Nachweis von säurefesten Stäbchen und Diagnose einer Landouzy-Sepsis mit Befall von Darm, Nieren und der Lunge. Ein Tuberkulin-Hauttest vor Beginn der immunsuppressiven Therapie war negativ geblieben.
65
65
Komplikation
Pneumocystis jiroveci Hepatitis-B/C-Infektion Virale Infektionen (HSV, CMV, VZV, EBV) Listerien Nokardien Toxoplasmose
65
65
Erkrankung
2.–6. Monat
65
65
. Tab. 65.10 Komplikationen bei chronischen Erkrankungen unter Immunsuppression
Infektionen bei hämatoonkologischen Erkrankungen/ Knochenmarkstransplantation
Insbesondere bei Patienten nach Knochenmarktransplantation in der Phase der Neutropenie können bakterielle Infektionen mit der Folge einer Sepsis auftreten. Das Erregerspektrum ist hier selbst im Vergleich zu anderen immunsupprimierten Personen deutlich erweitert. Neben ZNS-Infektionen stehen Pneumonien im Vordergrund. Es wird auf den entsprechenden Abschnitt im 7 Kap. 39 verwiesen.
3
4
5
6
7 8 9 10
11 12 13 14 15 16
Beispiel. Vorstellung einer 34-jährigen Patientin in der Notaufnah-
me mit Husten, Dyspnoe und zunehmender Allgemeinzustandsverschlechterung. Vor wenigen Wochen Beginn einer Therapie mit Prednisolon sowie Chloroquin bei Verdacht auf Kollagenose mit positiven antinukleären Antikörpern (ANA) bei Gelenkbeschwerden und Hautveränderungen. Trotz rascher Einleitung einer antibiotischen Therapie bereits wenige Stunden nach Aufnahme weitere respiratorische Verschlechterung und Beginn einer invasiven Beatmung. Bei rascher Eskalation der Beatmungsparameter Verlegung in ein Zentrum, bei Lungenversagen Beginn einer extrakorporalen Membranoxygenierung (ECMO) sowie Hochfrequenzbeatmung.
17
Institut, R.K., Bericht zur Epidemiologie der Tuberkulose in Deutschland für 2007. 2009, Robert Koch Institut Prasad, K. and M.B. Singh, Corticosteroids for managing tuberculous meningitis. Cochrane Database Syst Rev, 2008 (1): CD002244 Erbes, R., et al., Characteristics and outcome of patients with active pulmonary tuberculosis requiring intensive care. Eur Respir J, 2006. 27 (6): 1223–8 Scheiring, J., S.P. Andreoli, and L.B. Zimmerhackl, Treatment and outcome of Shiga-toxin-associated hemolytic uremic syndrome (HUS). Pediatr Nephrol, 2008. 23 (10): 1749–60 Mukherjee, J., et al., Human Stx2-specific monoclonal antibodies prevent systemic complications of Escherichia coli O157:H7 infection. Infect Immun, 2002. 70 (2): 612–9 Scheiring, J., A. Rosales, and L.B. Zimmerhackl, Clinical practice. Today‘s understanding of the haemolytic uraemic syndrome. Eur J Pediatr, 2010. 169 (1): 7–13 Golger, A., et al., Mortality in patients with necrotizing fasciitis. Plast Reconstr Surg, 2007. 119 (6): 1803–7 Stevens, D.L., The pathogenesis of clostridial myonecrosis. Int J Med Microbiol, 2000. 290 (4–5): 497–502 Kumar, A., et al., Critically ill patients with 2009 influenza A (H1N1) infection in Canada. JAMA, 2009. 302 (17): 1872–9 Jones, A.M., N. Thomas, and E.G. Wilkins, Outcome of varicella pneumonitis in immunocompetent adults requiring treatment in a high dependency unit. J Infect, 2001. 43 (2): 135–9 Adhami, N., et al., Effect of corticosteroids on adult varicella pneumonia: cohort study and literature review. Respirology, 2006. 11 (4): 437–41 Mer, M. and G.A. Richards, Corticosteroids in life-threatening varicella pneumonia. Chest, 1998. 114 (2): 426–31 Fishman, J.A., Infection in solid-organ transplant recipients. N Engl J Med, 2007. 357 (25): 2601–14 Plotkin, S.A., Rabies. Clin Infect Dis, 2000. 30 (1): 4–12 Willoughby, R.E., Jr., et al., Survival after treatment of rabies with induction of coma. N Engl J Med, 2005. 352 (24): 2508–14 From the Centers for Disease Control and Prevention. Update: management of patients with suspected viral hemorrhagic fever–United States. JAMA, 1995. 274 (5): 374–5 Pasvol, G., Management of severe malaria: interventions and controversies. Infect Dis Clin North Am, 2005. 19 (1): 211–40
Internetadressen Robert Koch-Institut [www.rki.de] Bernhard-Nocht-Institut [www.bni-hamburg.de/] Paul-Ehrlich-Gesellschaft [www.pei.de ] World Health Organization [www.who.gov]
835
Intensivtherapie bei HIV-Infektion B. Salzberger
66.1
Einleitung – 836
66.2
Diagnostik und Stadien der HIV-Infektion – 836
66.2.1 66.2.2
Diagnostik – 836 Stadieneinteilung – 836
66.3
Antiretrovirale Therapie auf der Intensivstation – 836
66.3.1 66.3.2 66.3.3
Einleitung und Fortsetzung der antiretroviralen Therapie – 836 Inflammatorisches Immunrekonstitutionsyndrom (IRIS) – 838 Postexpositionsprophylaxe der HIV-Infektion – 838
66.4
Pulmonale Manifestationen der HIV-Infektion – 838
66.4.1 66.4.2
Pneumocystis-jirovecii-Pneumonie – 838 Bakterielle Pneumonien und andere pulmonale Manifestationen – 839
66.5
ZNS-Manifestationen bei HIV-Infektion – 840
66.5.1 66.5.2 66.5.3
Zerebrale Toxoplasmose – 840 Kryptokokkenmeningitis – 840 Andere – 840
66.6
Gastrointestinale Komplikationen – 840
66.7
Andere Komplikationen – 841 Literatur – 841
H. Burchardi et al. (Hrsg.), Die Intensivmedizin, DOI 10.1007/978-3-642-16929-8_66, © Springer Medizin Verlag Berlin Heidelberg 2011,
66
836
66 66 66 66 66 66 66 66 66 66
66.1
66.2
Diagnostik und Stadien der HIV-Infektion
66.2.1
Diagnostik
66
66 66 66 66 66 66
Einleitung
In den ersten Jahren der AIDS-Epidemie war die Behandlung von HIV-assoziierten Komplikationen mit einer ICU-Mortalität von 80–90% verknüpft [6]. Mit der rascheren Diagnose und besseren Therapie zuerst der opportunistischen Erkrankungen und der HIVInfektion verbesserte sich die Prognose deutlich [9]. Heute ist die Langzeitprognose HIV-infizierter Patienten mit einer wirksamen antiretroviralen Therapie am ehesten vergleichbar mit der anderer chronischer Erkrankungen [1]. Damit hat sich auch das Spektrum der zum Intensivaufenthalt führenden Erkrankungen geändert: Opportunistische Erkrankungen sind seltener und nicht-HIV-assoziierte, wie z. B. kardiovaskuläre Erkrankungen, häufiger geworden. Da sich die intensivmedizinische Betreuung von HIV-infizierten Patienten bei diesen Erkrankungen nicht von denen anderer Patienten unterscheidet, werden hier nur die spezifisch HIV-assoziierten Erkrankungen behandelt. Opportunistische Erkrankungen sind durch die moderne antiretrovirale Therapie sehr viel seltener geworden, sie treten jedoch immer noch als Primärmanifestation der HIV-Infektion auf und führen dann auch häufig zu einem schweren und intensivpflichtigen Verlauf [12]. Patienten, deren HIV-Infektion erst durch schwere Komplikationen oder bei weit fortgeschrittenem Immundefekt entdeckt wird, machen einen Anteil von ca. 25% aller Erstdiagnosen der HIV-Infektion aus.
66
66
Kapitel 66 · Intensivtherapie bei HIV-Infektion
Die Diagnose der HIV-Infektion kann durch Nachweis von Antikörpern oder Virusbestandteilen erfolgen. Sie wird in der Regel gestellt mittels eines ELISA-Tests, der HIV-1- und HIV-2-Antikörper sowie HIV-Antigen nachweisen kann. Die sehr hohe Sensitivität des ELISA bedingt eine niedrige Spezifität, deshalb ist eine Bestätigung im Immunfluoreszenz- bzw. Western-Blot-Test notwendig. Ein direkter Virusnachweis mittels PCR, besonders bei unklarer Serologie und Verdacht auf Primärinfektion, kann ebenfalls die Diagnose sichern. ! Cave Patienten mit einer HIV-Infektion haben v. a. während der oft langjährigen klinischen Latenzzeit ein völlig unauffälliges Routinelabor. Ein normales Labor schließt eine HIV-Infektion nicht aus! Mögliche Hinweise (meist spät) sind eine Lymphopenie und eine polyklonale Gammopathie.
66 66.2.2
66
Die Stadieneinteilung erfolgt nach der Klassifikation der CDC (. Tab. 66.1). Hierzu gehört die Messung der CD4-Zellzahl im peripheren Blut als wichtigster Marker des Immunstatus. Im natürlichen Verlauf der HIV-Infektion schließt sich an eine symptomatische (7 unten.) oder asymptomatische primäre HIV-Infektion häufig eine langjährige klinische Latenzphase an. Erst bei deutlicher Verminderung der CD4-Zellzahl kommt es dann zum Auftreten von opportunistischen Erkrankungen.
66 66
Eine symptomatische primäre HIV-Infektion tritt etwa bei 20–30% aller Infizierten auf. Dabei kommt es 3–6 Wochen nach Erstinfektion zu einem mononukleoseähnlichen Krankheitsbild mit sehr unterschiedlicher Ausprägung. Neben Fieber, einem generalisierten makulopapulösem Exanthem und schwerem Krankheitsgefühl können auch generalisierte Lymphknotenschwellungen vorhanden sein. Im Labor findet sich eine Lymphozytose mit Reizformen, eine mäßige Erhöhung der Transaminasen und LDH sowie eine Thrombopenie. Zur Intensivaufnahme können v. a. die neurologischen Komplikationen (Meningitis oder Guillain-Barré-Syndrom), seltener eine Blutungsneigung bei Thrombopenie, führen [11]. Bei schweren Komplikationen durch eine primäre HIV-Infektion kann eine antiretrovirale Therapie erwogen werden, eine Verbesserung der Langzeitprognose durch einen derart frühen Therapiebeginn ist bisher jedoch nicht nachgewiesen [4].
66.3
Antiretrovirale Therapie auf der Intensivstation
66.3.1
Einleitung und Fortsetzung der antiretroviralen Therapie
Eine Therapie der HIV-Infektion ist mit dem Auftreten einer opportunistischen Erkrankung klar indiziert, ebenso beim Auftreten HIV-assoziierter Symptome. Eine weitere Indikation ist bei asymptomatischen Patienten beim Unterschreiten der Grenze von 350 CD4/mcl gegeben [4]. So ist praktisch immer bei einer HIVassoziierten Erkrankung als Ursache des Intensivaufenthalts die Notwendigkeit einer antiretroviralen Therapie gegeben. Diese muss nicht notfallmäßig sofort, sollte aber rasch, d. h. innerhalb von ca. 10 Tagen nach Auftreten der Komplikation begonnen werden. Die einzige Ausnahme ist hier die Tuberkulose. Gerade bei der Tuberkulose ist das Risiko einer paradoxen Reaktion (IRIS, 7 Abschn. 66.3.2) besonders hoch. Deshalb sollte hier in aller Regel die antiretrovirale Therapie frühestens nach ca. 8 Wochen Therapie der Tuberkulose eingesetzt werden. Für die Initialtherapie sind mehrere Kombinationen sinnvoll und empfohlen (. Tab. 66.2). Eine einmal eingeleitete antiretrovirale Therapie wird auch auf der Intensivstation fortgeführt. Eine Unterbrechung birgt das Risiko für eine Resistenzentwicklung bzw. ein Therapieversagen und sollte nur in gut begründeten Ausnahmesituationen (z. B. schwere Nebenwirkungen) erfolgen. Auf die entsprechenden Neben- und Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten muss dabei geachtet werden [7, 10] (. Tab. 66.3). . Tab. 66.1 Staging der HIV-Infektion nach dem Schema der Centers of Disease Control (CDC), USA
66
66
Primäre HIV-Infektion
Stadieneinteilung
Klinische Manifestationen/ CD4-Zellzahl
A=Asymptomatisch oder Lymphadenopathie oder primäre HIV-Infektion
B=Mindere klinische Manifestation, z. B. oraler Soor
C=Definitive opportunistische Erkrankung, z. B. PcP oder KaposiSarkom
1≥500 CD4/mcl
A1
B1
C1
2=200–500 CD4/ mcl
A2
B2
C2
3≤200 CD4/mcl
A3
B3
C3
837 66.3 · Antiretrovirale Therapie auf der Intensivstation
. Tab. 66.2 Antiretrovirale Therapie: Indikationen, Kombinationen und Postexpositionsprophylaxe
a
Indikationen zur Therapie [4]
Klare Indikation: 5 Alle Patienten mit symptomatischer HIV-Infektion, z. B. alle mit klinischem Stadium C, nahezu alle mit klinischem Stadium B 5 Asymptomatische Patienten mit eingeschränktem Immunsystem, definiert durch CD4-Zellzahl ≤350 CD4/ mcl Indikation nicht sicher: 5 Primäre HIV-Infektion 5 Asymptomatische Patienten mit CD4-Zellzahl > 350 CD4/mcl
Primär empfehlenswerte Kombinationen [4]
Kombination zweier Nukleosidanaloga, z. B. Fixkombinationen 5 Tenofovir + Emtricitabin oder 5 Abacavir a+Lamivudin plus 5 Nichtnukleosidaler Inhibitor der RT, z. B. Efavirenz oder 5 mit Ritonavir pharmakologisch geboosteter Proteaseinhibitor, z. B. Lopinavir, Fosamprenavir, Darunavir, Atazanavir
Postexpositionsprophylaxe [5]
Indikation: 5 Parenteraler oder Schleimhautkontakt mit potenziell HIV-infiziertem Material, z. B. Nadelstichverletzung, Blutspritzer ins Auge oder auch ungeschützter sexueller Kontakt mit sicher HIV-infizierter Person Durchführung: 5 Tenofovir + Emtricitabin oder 5 Zidovudin + Lamivudine Jeweils plus 5 Lopinavir/r (Kombinationspräparat) oder 5 Efavirenz
Vorherige Bestimmung von HLA-B5701 zur Vermeidung des Hypersensitivitätssyndroms.
. Tab. 66.3 In der Intensivmedizin relevante Neben- und Wechselwirkungen einer antiretroviralen Therapie der wichtigsten Substanzen Substanz/-Gruppe
Relevante NW
Metabolismus
Potenzielle Interaktionen (Beispiele)
Tenofovir
CK n, Kreatinin n (selten)
Renale Elimination
Potenziell: Cotrimoxazol, Aciclovir, Cidofovir Ganciclovir, Amphotericin B über renale Elimination
Abacavir
Hypersensitivitätssyndrom (HLAB5701 assoziiert)
Hepatische Elimination (keine Induktion oder Hemmung von CYP-Enzymen)
Potenziell: Rifampicin, Ganciclovir
Zidovudin
Anämie, Leukopenie
Renale Elimination
Mögliche Verstärkung von Nebenwirkungen mit Ganciclovir, Zytostatika
Emtricitabin
NW sehr selten, Schlafstörungen
Renale Elimination
Kaum Interaktionen
Lamivudin
NW sehr selten, Schlafstörungen
Renale Elimination
Kaum Interaktionen
Efavirenz
Schlafstörungen, Hautausschlag, Depression (selten), Leberenzyme n
Hepatisch metabolisiert durch CYP 3A4 u. a. (Induktion und Inhibition)
Rifampicin, Statine, Coumarine u. a.
Nevirapin
Hautausschlag, Leberenzyme n
Hepatisch metabolisiert durch CYP 3A4 u. a. (Induktion und Inhibition)
Rifampicin, Statine, Coumarine u. a.
Diarrhö Triglyzeride n Cholesterin n Leberenzyme n
Hepatisch metabolisiert, v. a. durch CYP 3A4, starke Inhibition
Rifampicin, Statine, Coumarine, Azole, Ciclosporin u. a.
Nukleosid/Nukleotidanaloga
NNRTI
Proteaseinhibitorena Lopinavir/r
66
838
Kapitel 66 · Intensivtherapie bei HIV-Infektion
. Tab. 66.3 Fortsetzung
66
Substanz/-Gruppe
Relevante NW
Metabolismus
Potenzielle Interaktionen (Beispiele)
Fosamprenavir/r
Diarrhö Triglyzeride n Cholesterin n Leberenzyme n
Hepatisch metabolisiert, v. a. durch CYP 3A4, starke Inhibition
Rifampicin, Statine, Coumarine, Azole, Ciclosporin u. a.
Darunavir/r
Diarrhö (seltener) Triglyzeride n Cholesterin n Leberenzyme n
Hepatisch metabolisiert, v. a. durch CYP 3A4, starke Inhibition
Rifampicin, Statine, Coumarine, Azole, Ciclosporin u. a.,.
Atazanavir/r
Diarrhö (seltener) Triglyzeride n Cholesterin n (seltener) Leberenzyme n
Hepatisch metabolisiert, v. a. durch CYP 3A4, starke Inhibition
Rifampicin, Statine, Coumarine, Azole, Ciclosporin u. a., Inhibition von Adsorption bei gleichzeitiger PPI-Gabe
66 66 66 66 66 66 a
66 66 66 66 66 66 66 66 66 66 66 66 66 66 66 66 66 66
Jeweils mit pharmakologischer Boosterung. Für potenzielle Interaktionen Interaktionsdatenbanken konsultieren [7].
66.3.2
Inflammatorisches Immunrekonstitutionsyndrom (IRIS)
Kurz nach Einführung der antiretroviralen Kombinationstherapie wurden bei einigen Patienten unübliche klinische Verläufe von opportunistischen Erkrankungen unter einer eingeleiteten antiretroviralen Therapie beobachtet. Mittlerweile sind solche Verläufe für nahezu alle opportunistischen und sogar für Autoimmunerkrankungen beschrieben. Allen diesen Verläufen ist eine paradoxe klinische Verschlechterung nach Beginn einer antiretroviralen Therapie gemein, z. B. einer Verschlechterung einer Tuberkulose oder auch das Auftreten einer neuen opportunistischen Infektion bzw. einer Autoimmunerkrankung. Alle diese Verläufe werden unter dem Begriff des inflammatorischen Immunrekonstitutionssyndroms (IRIS) zusammengefasst. Das Risiko eines IRIS ist besonders hoch, wenn der initiale Immundefekt schwer war und der Zeitpunkt des Auftretens mit einem raschen Anstieg der CD4-Zellzahl im Blut korreliert. Nach dem Verlauf und den gemessenen Zytokinmustern muss am ehesten von einer Aktivierung des angeborenen Immunsystems ausgegangen werden. Welcher genaue Pathomechanismus diesem Syndrom zugrunde liegt, ist aber bisher ungeklärt. Am häufigsten ist eine solche paradoxe klinische Verschlechterung beim Vorliegen einer Tuberkulose, sie kann jedoch auch die Therapie einer PcP komplizieren [2]. Eine prophylaktische Therapie mit Glukokortikoiden reduziert das Risiko und den Schweregrad des IRIS bei gleichzeitiger Tuberkulose, kann aber nicht generell empfohlen werden. ! Cave Bei einer Verschlechterung einer opportunistischen Infektion im zeitlichen Zusammenhang mit der Einleitung einer antiretroviralen Therapie muss neben einem Therapieversagen auch das Auftreten eines IRIS in Betracht gezogen werden.
66.3.3
Postexpositionsprophylaxe der HIV-Infektion
Routinemaßnahmen zur Vermeidung von Infektionen durch Blutbestandteile sind Bestandteil der Hygienemaßnahmen auf jeder Intensivstation. Diese Maßnahmen verhindern auch die Übertragung des HIV mit hoher Sicherheit. Unfälle mit einem parenteralen oder Schleimhautkontakt mit HIV-kontaminiertem Material stellen ein Risiko für eine HIV-Übertragung dar (Übertragung in ca. 0,03% von Fällen mit parenteralem Kontakt). Die Art der Verletzung, das kontaminierte Material und vermutlich auch die Höhe der VirusRNA im Blut haben dabei Einfluss auf das Risiko. So ist z. B. eine perkutane Verletzung mit einem höheren Risiko als ein Schleimhautkontakt verbunden, eine Verletzung mit einer Hohlnadel gefährlicher als eine mit einer Nahtnadel. Aus Kohortenstudien ist bekannt, dass eine Postexpositionsprophylaxe mit antiretroviralen Substanzen das Risiko einer Infektion um ca. 80% mindert, deshalb sollte nach lokalen Maßnahmen eine solche, bestehend aus einer antiretroviralen Dreifachkombination nach entsprechendem Kontakt, angeboten und für 4 Wochen appliziert werden [5] (. Tab. 66.2). Tipp Bei beruflicher HIV-Exposition sollte dringend ein BG-Verfahren eingeleitet werden, damit eine Dokumentation des Unfalls erfolgt und entsprechende Nachuntersuchungen durchgeführt werden. Dies dient v. a. der Sicherheit der Beschäftigten.
66.4
Pulmonale Manifestationen der HIV-Infektion
66.4.1
Pneumocystis-jirovecii-Pneumonie
Die häufigste pulmonale Manifestation der HIV-Infektion ist die Pneumocystis-jirovecii-Pneumonie (PcP). Sie ist außerdem der häufigste Grund für eine Intensivaufnahme bei HIV-Infizierten. Sie tritt auf bei fortgeschrittenem Immundefekt (35 mm Hg): 5 2×40 mgTag 1–5, 5 40 mg Tag 6–10, 5 20 mg Tag 11–15 Beatmung mit niedrigem Tidalvolumen (wie bei ARDS)
Rezidivprophylaxe
Cotrimoxazol (verschiedene Optionen der Dosierung), bis CD4 >200 und HIV-RNA unter der Nachweisgrenze für 3 Monate
Therapie der 1. Wahl
Pyrimethamin 50–100 mg/Tag + Sulfadiazin 4×1–1,5 g/Tag
Alternative
Pyrimethamin 50–100 mg/Tag + Clindamycin 4×600 mg/Tag für 42 Tage
Adjuvante Therapiemaßnahmen
Folinsäure 10–30 mg/Tag
Rezidivprophylaxe
Pyrimethamin 50 mg/Tag + Sulfadiazin 4×0,5–1 g
Zerebrale Toxoplasmose
66
840
66 66
Kapitel 66 · Intensivtherapie bei HIV-Infektion
. Tab. 66.4 Fortsetzung Manifestation
Therapieschema
Kryptokokkenmeningitis
Therapie der 1. Wahl
Amphotericin B 0,7 mg/kg KG/Tag + Flucytosin 4×25 mg/kg KG/Tag für 14 Tage
Alternative
Fluconazol 400–800 mg + Flucytosin 4×25 mg/kg KG/Tag für 14 Tage Danach jeweils Fluconazol 400 mg für 8 Wochen
Adjuvante Therapiemaßnahmen
Entlastung Liquordruck nach Monitoring (bis Öffnungsdruck 200 und HIV-RNA unter der Nachweisgrenze für 3 Monate
Therapie der 1. Wahl
Jeweils für 21 Tage 5 Ganciclovir 2×5 mg/kg KG/Tag i.v.
Alternative
Foscarnet 2×90 mg/kg KG/Tag i.v.
Adjuvante Therapiemaßnahmen
–
Rezidivprophylaxe
Nicht etabliert, möglich: Valganciclovir 480 mg/Tag, bis CD4 >100 und HIV-RNA unter der Nachweisgrenze für 3 Monate
66 66 66 66
CMV-Enzephalitis/ Gastroenteritis/ Kolitis
66 66 66 66
eine HIV-assoziierte pulmonale Hypertonie oder eine kardiale Dekompensation bei HIV-assoziierter Kardiomyopathie darstellen.
66
66.5
ZNS-Manifestationen bei HIV-Infektion
66
66.5.1
Zerebrale Toxoplasmose
66 66 66 66 66 66
Die zerebrale Toxoplasmose entsteht durch eine Reaktivierung intrazerebraler Toxoplasmoseherde. Eine solche Reaktivierung kann vorkommen bei deutlich erniedrigter CD4-Zellzahl (in der Regel 55 Jahre
ISS
>24 Punkte
Laktat
>2,5 mmol/l
Basenüberschuss (BE)
>8 mmol/l
Transfusionsbedarf
>5 Konserven innerhalb 12 h
67 67
67.3.2
Intensivtherapie nach Polytrauma
67
Die Besonderheiten der Intensivtherapie des Polytraumatisierten werden durch die lokalen, insbesondere aber durch die systemischen Folgen der Gewebetraumatisierung mit schwerem SIRS, hämodynamischer Instabilität und schließlich MODS geprägt. Entscheidend ist das auf die pathophysiologischen Besonderheiten des Polytraumatisierten und auf die jeweilige Stufe der operativen Versorgung abgestimmte intensivmedizinische Vorgehen.
67
67.3.3
67 67
67 67 67 67 67
Infusions-, Transfusions- und kardiozirkulatorische Therapie
Jeder polytraumatisierte Patient ist vom Volumenmangel bedroht, der zur Herz-Kreislauf-Insuffizienz und schließlich zum hypovolämischen Schock bzw. – zusammen mit der Gewebetraumatisierung – zum traumatisch-hämorrhagischen Schock führen kann (Einzelheiten 7 Kap. 21). Der Volumenmangel mit nachfolgender Minderperfusion der Organe entsteht durch traumainduzierte Blutungen, weiterhin durch Vasodilatation und das Kapillarlecksyndrom im Rahmen des schweren posttraumatischen SIRS. Das wesentliche Ziel besteht im Ausgleich des Volumenmangels, der Verbesserung der Gewebeperfusion und der Verhinderung des Ischämie-Reperfusions-Schadens.
67
! Cave Voraussetzung für eine intensivmedizinische Volumentherapie beim polytraumatisierten Patienten ist jedoch die schnellstmögliche chirurgische Versorgung großer bzw. sich nicht selbst tamponierender Blutungsquellen, da eine aggressive Infusionstherapie mit O2-Träger-freien Lösungen bei unstillbarer Blutung das Ausbluten des Patienten fördern und damit die Prognose verschlechtern kann.
67
Infusionstherapie
67 67 67
67 67 67 67 67
Bis heute ist der Streit, ob kristalloide gegenüber kolloidalen Volumenersatzlösungen zu bevorzugen seien, auch für den Volumenersatz beim des Schwerverletzten nicht entschieden (7 Kap. 22). Einerseits gibt es Hinweise, dass die ausschließliche Verwendung kristalloider Lösungen (z. B. Ringer-Laktat oder Ringer-Acetat) sich ungünstig auf die Mikro- und Makrozirkulation auswirkt, Leukozyten aktiviert und möglicherweise mit einer höheren Inzidenz an Organversagen (Lungenveragen, abdominelles Kompartmentsyndrom) einhergeht. Andererseit gibt es mittlerweise Studien und Metanalysen, die entweder für die gesamte intensivmedizinische Population oder aber für operative und traumatisierte Patienten eine schlechtere Prognose bei Verwendung kolloidaler Lösungen aufzeigen oder keine günstigen Einflüsse nachweisen konnten.
In der klinischen Praxis hat sich der Einsatz kristalliner Lösungen kombiniert mit kolloidalen Lösungen etabliert, wobei bei Letzteren das Nebenwirkungsprofil, insbesondere allergische Reaktionen, und bei Hydroxyethylstärken auch die Dosisbegrenzungen und eine mögliche Nephrotoxizität zu beachten sind.
Transfusionstherapie Beim polytraumatisierten Patienten wird meist ein Hämoglobinwert von 9‒10 g/dl angestrebt. Allerdings ist ungeklärt, in welchen Situationen von diesen Zielwerten nach oben oder unten abgewichen werden kann oder soll. Bei hämodynamisch stabilen Patienten mit isolierter Organverletzung scheinen niedrigere Hb-Werte vertretbar zu sein, nicht jedoch bei Polytraumatisierten, denn die Dynamik des Blutungsverlaufs ist bei multiplen Blutungsquellen und einer durch das Trauma und die Blutverluste induzierten Gerinnungsstörung nur schwer abschätzbar. Wird bei diesen Patienten lediglich bis zur empfohlenen Untergrenze des Hb-Werts transfundiert, kann sich rasch ein hämorrhagischer Schock entwickeln. Zudem stehen häufig Folgeoperationen in der Sekundär- und Tertiärphase an, die ebenfalls mit Hb-relevantem Blutverlust einhergehen. Es bleibt allerdings zu berücksichtigen, dass Bluttransfusionen ein unabhängiger Risikofaktor für die Entwicklung eines Multiorganversagens sind und außerdem immunsuppressive Effekte aufweisen.
Messparameter zur Volumenund Infusionstherapie Es gibt keinen einfachen Parameter zur Beurteilung des intravasalen Volumenstatus. Meist werden folgende Variablen, allein oder in Kombination, zur Diagnose eines Volumenmangels oder zur Effizienzkontrolle einer Volumentherapie herangezogen: 4 systemischer Blutdruck, 4 Herzfrequenz, 4 Schlagvolumenvarianz 4 Urinausscheidung, 4 zentraler Venendruck (ZVD), 4 Herzzeitvolumen, extravaskuläres Lungenwasser, gesamtenddiastolischer Volumenindex.
Zielgrößen der Volumen- und Infusionstherapie Eine anhaltende, verborgene Mangeldurchblutung von Geweben ist von großer Bedeutung für die Prognose polytraumatisierter Patienten. Daher sind nicht nur die oben genannten physiologischen Variablen wichtige Endpunkte der Volumentherapie, sondern auch das Laktat als Produkt des anaeroben Stoffwechsels in den hypoxischen Geweben. Ein erhöhter Serumlaktatspiegel und/oder ein zunehmendes arterielles Basendefizit sind Zeichen der ungenügenden Volumentherapie bzw. der anhaltenden Blutverluste (7 Kap. 22). ! Cave Physiologische Marker der Volumentherapie wie z. B. systolischer Blutdruck und Urinproduktion sind nur dann verlässliche Zielgrößen der Volumentherapie, wenn auch die biochemischen Marker wie Serumlaktat und Basendefizit ausgeglichen sind.
Je mehr Zeit vergeht, um das Serumlaktat zu normalisieren, desto höher ist die Letalität: Gelingt die Normalisierung innerhalb von 24 h, beträgt die Letalität weniger als 1%; vergehen hingegen mehr als 48 h, steigt die Letalität auf über 85% an [29, 7].
849 67.4 · Operative Therapie
Gerinnungstherapie Die allgemeinen Grundzüge der Gerinnungstherapie sind in 7 Kap. 24 dargestellt. Die Besonderheiten der Gerinnungsstörung beim polytraumatisierten Patienten ergeben sich aus der Kombination von Verlust- und Verdünnungskoagulopathie, häufig verbunden mit Hypothermie und Azidose, aus der sich die „letale Triade» von Hypothermie, Azidose und Koagulopathie ergibt [10]. Durch Weichteilverletzungen werden außerdem große Mengen des subendothelialen »tissue factor” freigesetzt, die zusätzlich zum Verbrauch von Gerinnungsfaktoren führen. Entscheidend ist eine frühe und vorausschauende, quantitativ ausreichende Substitution von Gerinnungsfaktoren und Thrombozyten. Einzelheiten zur Optimierung der Blutgerinnung bei Polytraumatisierten sind in 7 Kap. 24 dargestellt.
Lunge Das Thoraxtrauma wird umfassend in 7 Kap. 70 abgehandelt. Zu beachten bleibt, dass im Rahmen eines Schockgeschehens auch die initial nicht verletzte Lunge einem Ischämie-Reperfusions-Geschehen mit nachfolgender Entzündungsreaktion bis hin zum ARDS unterliegt. Aber auch ohne Thoraxtrauma kann die Sauerstoffversorgung des Organismus durch verschiedene Faktoren beeinträchtigt werden, z. B. durch abdominelles Kompartmentsyndrom, neurogenes Lungenödem nach Schädel-Hirn-Trauma, Störungen des Atemantriebs, z. B. bei zervikaler Querschnittslähmung, pulmonale Aspiration oder durch eine Fettembolie im Zusammenhang mit multiplen Extremitätenfrakturen. Bei traumaassoziiertem Lungenversagen kann durch eine kinetische Therapie (intermittierende Bauchlage, Rotationsbett) die Oxygenierung oft signifikant verbessert werden [31].
Gastrointestinaltrakt und Leber Anhaltende gastrointestinale Perfusionsstörungen, auch nach erfolgreicher Schocktherapie, sind maßgeblich an Mukosaschäden des Darms beteiligt. Diese Schäden ermöglichen den Übertritt von Darmbakterien in die lymphatische und portale Strombahn (Translokation). Der Nachweis von zirkulierendem Endotoxin ist beim polytraumatisierten Patienten allerdings nur teilweise gelungen. Ein aktiviertes, darmassoziiertes lymphatisches Gewebe (GALT) kann zudem eine Vielzahl von Entzündungsmediatoren als Reaktion auf eine Bakterientranslokation sezernieren; entsprechend kann das Darmsystem als bedeutende Quelle einer Phagozytenaktivierung angesehen werden. Schwere Verletzungen intraabdomineller Organe, insbesondere der Leber und der Milz, bedingen aufgrund des akuten Blutverlusts immer eine hochgradige Bedrohung des Patienten durch Hypoxie und Ischämie, aber auch durch die Belastung des Gerinnungssystems. Verletzungen der Bauchspeicheldrüse können zu einem prognosebestimmenden Faktor werden, wenn eine Berstung oder ischämische Nekrose zum Austritt von Pankreassekret führt. Eine Steigerung der Katecholamintherapie führt über eine Vasokonstriktion der gastrointestinalen Gefäße zu einer zunehmenden Low-flow-Hypoxie des Gastrointestinaltraktes mit weiterer Schädigung der Barrierefunktion der Darmmukosa. Der Einsatz oder die Steigerung einer Katecholamintherapie ist daher immer erst nach erschöpfender Volumentherapie sinnvoll.
Ursache des akuten Nierenversagens ist v. a. eine ischämische Mikrozirkulationsstörung, wobei der hohe Energiebedarf der Tubuluszellen für ischämische Schädigungen prädisponiert. Maßgeblich für den Grad renaler Funktionsstörungen ist die Aktivierung des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems sowie die Konzentration vasokonstringierender Substanzen wie Noradrenalin, Thromboxan A2, Leukotrien C und Endothelin. Ist jedoch ein Nierenversagen eingetreten (Anstieg des Serumkreatinins um 0,5–2 mg/dl/Tag), sollten rechtzeitig extrarenale Eliminationsverfahren eingesetzt werden, da sie der traditionellen intermittierenden Dialyse überlegen sind [4]. Einzelheiten 7 Kap. 61. Crushsyndrom. Diese Sonderform des akuten Nierenversagens ent-
steht bei der Zerstörung großer Muskelmassen mit Myoglobinämie und Myoglobinurie. Myoglobin kann, besonders bei saurem UrinpH, in den Nierentubuli ausfallen und diese verlegen; zusätzlich spielen O2-Radikal-induzierte Nierenschäden eine große Rolle. Zur Prophylaxe eines Nierenversagens ist in dieser Situation eine forcierte Diurese (Urinausscheidung über 2 ml/kg KG/h) unter Einsatz von Elektrolytinfusionen, Mannit und Furosemid bei gleichzeitiger Alkalisierung des Urins (Urin-pH ≥7) durch vorsichtige Infusion von Natriumbikarbonat indiziert. Die günstigen Effekte des Mannits beim Crushsyndrom könnten durch seine kombinierte Wirkung als Osmodiuretikum und Antioxidans bedingt sein.
Polytrauma und Schädel-Hirn-Trauma Als nach wie vor limitierende Verletzung der die Klinik erreichenden polytraumatisierten Patienten gilt das schwere Schädel-HirnTrauma (SHT). Die Prognose eines SHT hängt neben der primären morphologischen Hirnschädigung maßgeblich von der sekundären ischämisch-entzündungsbedingten Hirnschädigung ab. Einzelheiten 7 Kap. 68.
Antiinfektiöse Therapie Da zahlreiche nichtinfektiöse Stimuli nach Polytrauma (Weichteilund Knochenverletzungen, SHT u. a.) ein der Sepsis ähnliches klinisches Bild bis hin zum Multiorgandysfunktionsyndrom hervorrufen können, ist ein durch Erreger ausgelöstes Krankheitsgeschen nicht immer leicht zu erkennen. Eine empirische antibiotische Therapie sollte bei Verdacht auf schwere Sepsis oder septischen Schock so schnell wie möglich initiiert und dann bei diagnostischer Sicherung des Fokus und Nachweis des Erregers entsprechend angepasst werden. Neben einer Pneumonie ist bei Polytraumapatienten insbesondere auf das Vorliegen von Weichteil- und Wundinfekten zu achten, da avitale Gewebeanteile von einer bakteriellen Besiedelung besonders betroffen sind. Daher ist eine regelmäßige sorgfältige Untersuchung des Patienten unabdingbar, bei unklaren septischen Zeichen insbesondere die wiederholte klinische und bildmorphologische Einschätzung des Abdomens und des restlichen Körperstammes sowie des Schädels (»Pan-CT«). Einzelheiten 7 Kap. 63.
67.4
Operative Therapie
67.4.1
Allgemeine Aspekte
Niere Die Häufigkeit des akuten Nierenversagens beim Polytraumatisierten ist seit Einführung der frühzeitigen Volumentherapie erheblich zurückgegangen. Ein Nierenversagen kann durch Einsatz extrakorporaler Eliminationsverfahren weitgehend kompensiert werden.
Hämorrhagischer Schock, Schädel-Hirn-Trauma und Multiorganversagen (MOV) stehen als Haupttodesursachen polytraumatisierter Patienten im Mittelpunkt therapeutischer Interventionen. Zur Verkürzung blutungsbedingter Ischämiezeiten steht in der präklinischen Phase, mit der Ausnahme schwerer Blutverluste aus offenen
67
850
67 67 67 67
Kapitel 67 · Polytrauma
oder geschlossenen Verletzungen, die Volumentherapie mit kolloidalen und/oder kristalloiden Lösungen im Vordergrund. Schwere Gefäß- oder Organzerreißungen führen häufig vor einer definitiven chirurgischen Blutstillung zum Verbluten, sodass hier die Letalität nur durch schnellsten Transport in ein geeignetes chirurgisches Zentrum gesenkt werden kann. Die Primärdiagnostik einer abdominellen Blutung (7 Kap. 71) kann vielfach bei gegebenen technischen Voraussetzungen bereits präklinisch mit Ultraschall erfolgen („prehospital focused abdominal sonography for trauma»; p-FAST; [32]).
67
Frühstabilisierung – Damage Control vs. Early Total Care
67
Im Vergleich zu einem abwartenden Verhalten mit initialer Gipsund Extensionsbehandlung der Frakturen langer Röhrenknochen oder mit einer sofortigen Rundumversorgung sämtlicher Frakturen im Sinne der »early total care« hat sich das Stufenkonzept zur operativen Versorgung des Polytraumatisierten mit seinem zentralen Element der Primärversorgung am Unfalltag (»day 1 surgery«) unter Miteinbeziehung lebensrettender Sofortoperationen als günstiger erwiesen. Das Damage-Control-Konzept weicht dabei klar von den etablierten Standardversorgung isolierter Verletzungen ab. Patienten die nur unter kontinuierlicher, intensiver Therapie zu stabilisieren sind oder Patienten mit einer hohen Gesamtverletzungsschwere, mit einem schweren SHT oder schweren Thoraxtrauma (jeweils AIS≥3), instabilem Becken, Koagulopathie, Hypothermie oder einer antizipierter OP-Zeit über 6 h sollten nach dem Damage-Control-Konzept behandelt werden [19, 17]. Die Traumaschwere sowie die individuellen biologischen Gegebenheiten sind vorgegeben, allerdings muss die operative Versorgung die zusätzliche Gesamtbelastung im Sinne des »second hit« möglichst gering halten, aber eine suffiziente »Schadensbegrenzung” anstreben. Am Beispiel einer penetrierenden Abdominalverletzung mit Hämorrhagie wurde das Konzept entwickelt, und in der 7 Übersicht wird das etappenweise Vorgehen exemplarisch dargestellt.
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Phasen des Damage-Control-Konzepts am Beispiel penetrierender Abdominalverletzungen 4 Phase I: Initiale Damage-Control-Laparatomie mit 5 Komponenten: – Blutungskontrolle (Packing, Kompression, Gefäßversorgung) – Exploration – Kontaminationskontrolle (Abstaplen von verletzten Darmabschnitten: »source control«, spätere Rekonstruktion) – definitives Packing – rascher, temporärer Bauchdeckenverschluss 4 Phase II: Transfer auf die Intensivstation zur Stabilisierung und Behandlung der letalen Trias Hypothermie, Azidose und Gerinnunsstörung 4 Phase III: Reexploration und definitive Versorgung der Verletzungen (z. B. Darmanastomosen) Dieses Versorgungsprinzip lässt sich zwanglos auch auf andere Organsysteme übertragen
Weitere typische Eingriffe nach dem Damage-Control-Prinzip sind z. B. die Versorgung von Hohlorganverletzungen, Versorgung offener Frakturen mit radikalem Débridement von nekrotischem Gewebe, Spaltung von Kompartmentsyndromen sowie rasche Stabilisierung von Frakturen des Beckens (Beckenzwinge) und der Röhrenknochen mit externen Fixateuren und Versorgung von instabilen Verletzungen der Wirbelsäule. Diese dringlichen Primäreingriffe sollten nach initialer Stabilisierung der Vitalfunktionen im Rahmen der »day 1 surgery« durchgeführt werden und fallen in die Primärphase der operativen Therapie. Die Damage-control-Chirurgie ermöglicht eine weichteilgerechte Behandlung von Frakturen (kein Gips), reduziert Schmerz und Stress und verringert fortdauernde Blutverluste. Vor allem aber wird hierdurch die Voraussetzung für eine effiziente Intensivbehandlung geschaffen, wozu z. B. bei Hirn- und/oder Thoraxverletzungen die Lagerung mit erhöhtem Oberkörper sowie die freie Drehlagerung gehören.
Indikationen zur Durchführung von Damage-control-Chirurgie 4 Damage Control Orthopedics [18]: – ISS≥16 und/oder – Schweres SHT (AIS≥3) – Schweres Thoraxtrauma (AIS≥3) – Instabile Beckenfraktur – Multiple Frakturen langer Röhrenknochen (Femur, Tibia, Humerus) – Persistierend instabiler Kreislauf (Blutdruck An die Schockraumphase schließt sich, abhängig von den vorliegenden Verletzungen, entweder eine operative oder eine intensivmedizinische Phase an.
Prinzipien der Primärversorgung Für die Gesamtkoordination der operativen Polytraumaversorgung sollte ein erfahrener Unfallchirurg zuständig sein, der, in Absprache mit dem Anästhesisten, zusätzliche Fachdisziplinen hinzuzieht. In der dringlichen 1. Operationsphase sind als lebenserhaltende Maßnahmen v. a. die Blutstillung und Entlastung intrazerebraler Hämatome indiziert.
Zielvorgaben der 1. Operationsphase („day 1 surgery») 4 Reduktion der Systembelastung durch: – Ausgedehntes Débridement nekrotischen und minderdurchbluteten Gewebes – Stabilisierung der großen Skelettabschnitte (Schaftfrakturen, Becken, Wirbelsäule) 4 Erhaltung der verletzten Strukturen durch: – Revaskularisation – Versorgung offener Frakturen – Reposition und Primärstabilisierung von Luxationen oder Frakturen 4 Anstreben von: – Lagerungsstabilität für pflegerische Maßnahmen – Schmerzreduktion
67 67
. Tab. 67.5 Stufenkonzept der operativen Versorgung des Polytraumas
67
Primärphase
67
5 Blutungskontrolle: Abdomen, Thorax, Gefäße 5 Dekompression: epi-/subdurale Hämatome, Hemikraniektomie, (Spannungs)Pneumo-thorax, Rückenmarkdekompression 5 Weichteildebridement, Nekrosektomien 5 Kompartmentsyndrome 5 Frakturen langer Röhrenknochen 5 Instabile Becken- und Wirbelsäulenfrakturen 5 Luxationen 5 (Revaskularisation)
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Operative Verfahren Bei der Primärversorgung des Schwerverletzten müssen das Versorgungskonzept, Operationsdauer, Lagerung und supportive Medikation zwischen den beteiligten Fachdisziplinen abgesprochen und koordiniert werden. Meist wird bei paralleler operativer Versorgung [z. B. Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie (MKG), Neurochirurgie] in Rückenlage, teilweise mit erhöhtem Oberkörper vorgegangen. Einer progredienten Hypothermie sollte durch Verwenden einer Wärmematte und Erwärmung von Infusionslösungen vorgebeugt werden. Die Verwendung eines maschinellen Autotransfusionssystems (»cell saver«) bei »sauberen« Verletzungen und die rechtzeitige Substitution von Plasmakomponenten (v. a. Frischplasma) vor Manifestation einer DIC müssen eingeplant werden.
Schädel-Hirn-Trauma (SHT) Extra- und intradurale Schädel-Hirn-Verletzungen werden morphologisch-strukturell durch die CT-Diagnostik unterschieden. Die Erhebung der Glasgow Coma Scale ab der notärztlichen Versorgung zeigt bei einem Wert von 2000 ml initial
–
Thorakotomie bei Blutungen und persistierenden Leckagen
Bronchusverletzung
Intubation, Thoraxdrainagen
Bei Hämatopnoe und nach Bronchoskopie: Thorakotomie, Naht
–
Thorakotomie
Herzverletzungen
Perikardpunktion Schockraum: Notfallthorakotomie
Notfallthorakotomie: Perikardfensterung, definitive Versorgung
–
Thorakale Aortenruptur
Thoraxdrainage links bei Hämotothorax
Vollständige Ruptur: Notfallthorakotomie; interventionelle Stentung Partielle Ruptur mit Hämatom (Intima/Media): Thorakotomie
–
Bei Diagnostik und Entwicklung eines Aneurysmas
Ösophagusverletzung
Thorakotomie mit Direktnaht (kleine Verletzungen), kollare Ausleitung
–
Ösophagusersatzoperation: Magenhochzug zug oder Koloninterponat
Zwerchfellruptur
Zwerchfellnaht in der Regel über Laparotomie
–
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auch bei größeren retroperitonealen Blutungen kann sich ein abdominelles Kompartmentsyndrom entwickeln. Die Diagnose wird klinisch oder anhand der Druckmessung in der Blase über einen transurethralen Katheter gestellt: ein Druck >25 mm Hg zusammen mit zunehmender Organdysfunktion (Urinausscheidung 40 Punkte) ist auch hier die externe Fixation durchzuführen, die bei Gelenkfrakturen im Kniebereich (diakondyläre Femurfrakturen, Tibiakopffrakturen) oder Knieluxationen häufig als gelenkübergreifender Fixateur mit Transfixation montiert werden kann. In gleicher Weise können distale Unterschenkelfrakturen (Pilon tibiale, OSG, Rückfuß) durch Transfixation des OSG und Montage des »fixateur externe« auf den 1. Mittelfußknochen oder auf den Rückfuß primär stabilisiert werden.
Gefäßverletzungen und Amputationen Verletzungen großer Gefäße der Extremitäten erfordern in der dringlichen Operationsphase eine umgehende Revaskularisation. Analog muss bei Amputationsverletzungen oder drittgradig offenen Frakturen mit prolongierter Ischämie eine Wiederdurchblutung nach spätestens 5 h erfolgen. Eine länger dauernde Ischämiephase führt neben erheblicher lokaler Schwellung, Perfusionsstörungen und Kompartmentsyndrom zu einer vital bedrohlichen systemischen Belastung, die zu einem akuten Lungen- und Organversagen führen kann. ! Cave Je stammnaher die Ischämiegrenze liegt, desto ausgeprägter entwickelt sich die systemische Reaktion. Daher muss die Indikation zur Replantation und Revaskularisation beim Polytrauma besonders kritisch gestellt werden.
Übersehene Verletzungen, Patientenübergabe und Folgeoperationen
Offene Frakturen und Weichteilverletzungen. Für die Versorgung
67.4.3
offener Frakturen der oberen und unteren Extremität gelten die Prinzipien des sorgfältigen Débridements, der ausgiebigen Spülung (Jetlavage) sowie der großzügige Einsatz temporärer Hautersatzmaterialien. Ein geplanter »second look« muss bei allen drittgradigen Weichteilschäden und Verschmutzungen vorgesehen werden. Die Weichteildeckung sollte nicht erzwungen, sondern durch großzügigen Einsatz von temporären Hautersatzmaterialien oder Vorlage dynamischer Hautnähte erreicht werden. Die Druckentlastung von Faszienlogen sollte möglichst präventiv erfolgen, da eine druckrelevante Schwellung sich häufig erst in den folgenden Stunden nach Primärversorgung, im Rahmen der sich entwickelnden Reperfusionsschädigung, etabliert. Luxationen bzw. Luxationsfrakturen des Handgelenks oder der Handwurzel müssen erkannt, eingerichtet und temporär ruhiggestellt werden.
Trotz etablierter Diagnostik werden einige Verletzungen (Hand, Fuß) erst während der Intensivtherapie oder bei wiedererlangtem Bewusstsein des Patienten diagnostiziert. Alle therapierelevanten Maßgaben für die Nachbehandlung [Stabilität, Lagerung, Antibiotikatherapie, geplante Folgeoperationen oder Diagnoseschritte (Kontroll-CCT)] müssen mündlich und schriftlich angeordnet werden. Gerade die Unsicherheit über die Stabilität bereits versorgter Frakturen oder evtl. noch bestehende Instabilitäten verhindern die während der Intensivbehandlung erforderlichen Lagewechsel zur Verbesserung der Lungenfunktion und Prävention von Druckulzera.
67.4.4
Untere Extremitäten Prinzipiell müssen in der ersten Versorgungsphase Gefäßverletzungen behandelt und Extremitätenverluste durch Ischämie vermieden werden. Zur Reduktion der Systembelastung und verbesserten Intensivbehandlung müssen in der dringlichen 2. Versorgungsphase Schaftfrakturen von Femur und Tibia stabilisiert werden. In Anbetracht der hohen systemischen Belastung bei Femurmarknagelung (Fettembolie, vasokonstringierende Mediatoren bis hin zum akuten Lungenversagen) sollte jedoch bei Polytraumatisierten mit einem hohen ISS (>25 Punkte) eine zeitraubende primäre Femurmarknagelung, v. a. bei kurzen Schräg- und Querfrakturen oder engem Markraum, nicht durchgeführt werden. Stattdessen kann beim Polytrauma (ISS >25 Punkte) die schnelle Primärstabilisierung des Femurs mit einem »fixateur externe« durchgeführt werden, gefolgt vom Wechsel auf einen Marknagel in der 3. Operationsphase [15]. Auch für Unterschenkelschaftfrakturen ist dieses Vorgehen prinzipiell anzuwenden, wobei die systemische Belastung durch die Marknagelung als wesentlich geringer ‒ verglichen mit der Oberschenkelmarknagelung ‒ anzusehen ist. Hier hängt die Vorgehens-
Immun- und metabolismusmodulierende Therapiemaßnahmen
Entscheidend für die Minimierung der ungünstigen Auswirkungen der Gewebetraumatisierung und Voraussetzung für eine erfolgreiche Intensivtherapie des Polytraumas ist die rechtzeitige und adäquate chirurgische Versorgung. Als adjuvante medikamentöse oder apparative Verfahren werden darüber hinaus eine Reihe therapeutischer Ansätze diskutiert, die auf pathophysiologischen Überlegungen und erfolgreichen tierexperimentellen Untersuchungen beruhen und z. T. in kleineren klinischen Studien untersucht wurden. Hierzu gehören u. a. die frühzeitige, hochdosierte Gabe verschiedener Antioxidanzien sowie Modulationen der Zytokinantwort des Organismus auf das Trauma. Bislang gehört jedoch keines dieser medikamentösen Verfahren zur etablierten Therapie des Polytraumas oder des polytraumainduzierten Organversagens. Die trauma- oder sepsisinduzierte Katabolie ist ein Hauptgrund für Morbidität und Mortalität. Hier hat eine frühe enterale Ernährung mit speziellen Zusätzen (Arginin, Glutamin oder ungesättigten ω3-Fettsäuren, Wachstumsfaktoren) und/oder der Einsatz
857 Literatur
4 Vermeidung bzw. frühzeitige Therapie eines Schockzustands durch chirurgische Blutstillung, Infusionsund Transfusionstherapie sowie begleitende Katecholamintherapie. 4 Gestuftes operatives Behandlungskonzept zur Reduktion der posttraumatischen Inflammation. 4 Vermeidung eines iatrogenen »second hit« durch ausgedehnte operative Maßnahmen in der vulnerablen Phase an Tag 2–5 nach Trauma. 4 Vermeidung von Hypoventilation und Hypotension bei Patienten mit schwerem Schädel-Hirn-Trauma. 4 Ausreichende Schmerzbekämpfung und Sedierung durch Analgetika und Sedativa. 4 Frühzeitige enterale Nahrungszufuhr. 4 Supportive Maßnahmen bei schweren Funktionsstörungen oder Ausfall einzelner Organe: Beatmung bei Lungenversagen (druckkontrollierte Beatmung mit permissiver Hyperkapnie) und extrakorporale Eliminationsverfahren wie CVVH bei Nierenversagen. 4 Rechtzeitige, adäquate Antibiotikatherapie bei Infektionsnachweis.
. Abb. 67.2 Etablierte Maßnahmen zur Prävention des posttraumatischen Organversagens
bestimmter Hormone (anabole Androgene) bei Schwerbrandverletzten ermutigende Ergebnisse gebracht; die Validierung bei polytraumatisierten Patienten steht noch aus.
Hämofiltration Die Auswirkungen einer kontinuierlichen Hämofiltration auf den Verlauf einer Sepsis werden insgesamt kontrovers, von einigen Autoren jedoch insbesondere wegen der Möglichkeit einer proinflammatorischen Zytokinelimination günstig beurteilt. Möglicherweise führt die frühzeitige kontinuierliche venovenöse Hämofiltration (CVVH) zu einer Abschwächung des hyperdynamen Kreislaufversagens und zu einer Verbesserung der O2-Extraktionsrate; der Stellenwert des Verfahrens ist jedoch außerhalb der Organersatztherapie im Rahmen eines akuten Nierenversagens zzt. nicht validiert [4].
Literatur 1 2 3
Bewertung Abgesehen von der Sicherstellung bzw. möglichst frühzeitigen Wiederherstellung einer ausreichenden Oxygenierung und Zirkulation zur Begrenzung ischämischer bzw. hypoxischer Schäden ist eine gesicherte, spezifische intensivmedizinische Therapie der Auswirkungen des Gewebeschadens und der unkontrollierten systemischen Entzündungsreaktion zzt. nicht bekannt. Hier scheint das Monitoring der Immunsituation in zeitlicher, örtlicher und quantitativer Hinsicht noch nicht ausreichend genau, um Schlüsse für eine gezielte Therapie ziehen zu können. Zusammenfassung der Intensivtherapie bei Polytrauma Polytraumatisierte Patienten entwickeln häufig eine systemische Entzündungsreaktion, die zum Multiorganversagen führen kann. Zur Modulation dieser Entzündungsantwort mit dem Ziel einer Prognoseverbesserung des Polytraumapatienten stehen derzeit ergänzende Therapiemaßnahmen mit immunmodulierenden und zytoprotektiven Substanzen im Mittelpunkt des wissenschaftlich-therapeutischen Interesses.
4
5
6
7 8 9 10 11 12
Anerkannte Therapieprinizipien Zu den anerkannten Therapieprinzipien des polytraumatisierten Intensivpatienten zählen derzeit (. Abb. 67.2): 4 Vermeidung bzw. frühzeitige Therapie einer Hypoxämie durch O2-Zufuhr, CPAP oder Beatmung mit ausreichend hohem PEEP sowie Transfusion von Erythrozytenkonzentraten bei inadäquat niedriger Hämoglobinkonzentration. 6
13
14
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67
858
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Kapitel 67 · Polytrauma
16 Maier M, Wutzler S, Lehnert M, Szermutzky M, Wyen H, Bingold T, Henrich D, Walcher F, Marzi I (2009) Serum procalcitonin levels in patients with multiple injuries including visceral trauma. J Trauma 66: 243–249 17 Marzi I, Mutschler W (1996) [Strategy of surgical management of polytrauma]. Zentralbl Chir 121: 950–962 18 Nast-Kolb D, Ruchholtz S, Waydhas C, Schmidt B, Taeger G (2005) [Damage control orthopedics]. Unfallchirurg 108: 804, 806–804, 811 19 Pape HC, Tornetta P, III, Tarkin I, Tzioupis C, Sabeson V, Olson SA (2009) Timing of fracture fixation in multitrauma patients: the role of early total care and damage control surgery. J Am Acad Orthop Surg 17: 541–549 20 Pape HC, van GM, Rice J, Gansslen A, Hildebrand F, Zech S, Winny M, Lichtinghagen R, Krettek C (2001) Major secondary surgery in blunt trauma patients and perioperative cytokine liberation: determination of the clinical relevance of biochemical markers. J Trauma 50: 989–1000 21 Perel P, Roberts I (2007) Colloids versus crystalloids for fluid resuscitation in critically ill patients. Cochrane Database Syst RevCD000567 22 Pfitzenmaier J, Buse S, Haferkamp A, Pahernik S, Djakovic N, Hohenfellner M (2009) [Kidney injuries]. Unfallchirurg 112: 317–325 23 Regel G, Grotz M, Weltner T, Sturm JA, Tscherne H (1996) Pattern of organ failure following severe trauma. World J Surg 20: 422–429 24 Rose S, Marzi I (1998) Mediators in polytrauma--pathophysiological significance and clinical relevance. Langenbecks Arch Surg 383: 199–208 25 Rotstein OD (2003) Modeling the two-hit hypothesis for evaluating strategies to prevent organ injury after shock/resuscitation. J Trauma 54: S203–S206 26 Sauaia A, Moore FA, Moore EE, Norris JM, Lezotte DC, Hamman RF (1998) Multiple organ failure can be predicted as early as 12 hours after injury. J Trauma 45: 291–301 27 Stahel PF, Smith WR, Moore EE (2007) Role of biological modifiers regulating the immune response after trauma. Injury 38: 1409–1422 28 Staib L, Aschoff AJ, Henne-Bruns D (2004) [Abdominal trauma. Injury oriented management]. Chirurg 75: 447–466 29 Tisherman SA, Barie P, Bokhari F, Bonadies J, Daley B, Diebel L, Eachempati SR, Kurek S, Luchette F, Carlos PJ, Schreiber M, Simon R (2004) Clinical practice guideline: endpoints of resuscitation. J Trauma 57: 898–912 30 Visser T, Pillay J, Koenderman L, Leenen LP (2008) Postinjury immune monitoring: can multiple organ failure be predicted? Curr Opin Crit Care 14: 666–672 31 Voggenreiter G, Aufmkolk M, Stiletto RJ, Baacke MG, Waydhas C, Ose C, Bock E, Gotzen L, Obertacke U, Nast-Kolb D (2005) Prone positioning improves oxygenation in post-traumatic lung injury--a prospective randomized trial. J Trauma 59: 333–341 32 Walcher F, Weinlich M, Conrad G, Schweigkofler U, Breitkreutz R, Kirschning T, Marzi I (2006) Prehospital ultrasound imaging improves management of abdominal trauma. Br J Surg 93: 238–242 33 Westhoff J, Laurer H, Wutzler S, Wyen H, Mack M, Maier B, Marzi I (2008) [Interventional emergency embolization for severe pelvic ring fractures with arterial bleeding. Integration into the early clinical treatment algorithm]. Unfallchirurg 111: 821–828 34 Wutzler S, Maegele M, Marzi I, Spanholtz T, Wafaisade A, Lefering R (2009) Association of preexisting medical conditions with in-hospital mortality in multiple-trauma patients. J Am Coll Surg 209: 75–81 35 Wutzler S, Maier M, Lehnert M, Henrich D, Walcher F, Maegele M, Laurer H, Marzi I (2009) Suppression and recovery of LPS-stimulated monocyte activity after trauma is correlated with increasing injury severity: a prospective clinical study. J Trauma 66: 1273–1280
859
Schädel-Hirn-Trauma J. Piek
68.1
Einleitung und Definition – 860
68.2
Epidemiologie – 860
68.3
Pathophysiologisches Konzept – 860
68.4
Klassifikation und Einteilung – 861
68.4.1 68.4.2
Morphologische Einteilung – 861 Verletzungsschwere – 862
68.5
Erstversorgung – 863
68.5.1 68.5.2 68.5.3 68.5.4 68.5.5 68.5.6
Untersuchung des Verletzten, Dokumentation der Befunde – 863 Stabilisierung der Vitalfunktionen – 863 Medikamentöse Behandlung – 863 Wundversorgung/Wundbehandlung – 864 Sichtung, Transport – 864 Übergabe des Patienten durch den Notarzt – 864
68.6
Erstversorgung im Krankenhaus – 864
68.6.1 68.6.2 68.6.3 68.6.4 68.6.5 68.6.6 68.6.7
Orientierende neurologische Untersuchung – 864 Leichtes und mittelschweres SHT – 864 Schweres SHT – 865 Verweilkatheter – 866 Monitoring – 866 Operative Behandlung der Verletzungsfolgen – 867 Hirnödem und intrakranielle Drucksteigerung: intensivmedizinische Behandlung – 870
68.7
Spätfolgen des Schädel-Hirn-Traumas – 870
68.7.1 68.7.2 68.7.3
Posttraumatische und postoperative Meningitis – 870 Posttraumatischer Hydrozephalus – 870 Carotis-Sinus-cavernosus-Fistel – 871
68.8
Prognose – 871 Literatur – 871
H. Burchardi et al. (Hrsg.), Die Intensivmedizin, DOI 10.1007/978-3-642-16929-8_68, © Springer Medizin Verlag Berlin Heidelberg 2011,
68
860
68
Kapitel 68 · Schädel-Hirn-Trauma
68.1
Einleitung und Definition
Definition
68 68 68 68 68 68 68 68 68 68 68 68 68 68 68 68 68 68 68 68 68 68 68 68
Wirkt eine Gewalt auf den Kopf ein, führt sie, je nach Ausmaß und Richtung der einwirkenden Kraft, zu Verletzungen von Kopfschwarte, Schädelskelett und Gehirn, die unter dem Begriff Schädel-Hirn-Trauma (SHT ) zusammengefasst werden.
Intensivstationen, in denen Patienten mit schweren Kopfverletzungen behandelt werden, stellen das jeweilige regionale Zentrum dar, in dem Erstversorgung und -behandlung derartiger Patienten in Kooperation mit den zuständigen Stellen organisiert und strukturiert werden. Daher wird nachfolgend auch auf die Aspekte der Primärversorgung am Unfallort und auf die Erstversorgung im Krankenhaus eingegangen.
68.2
Epidemiologie
Das SHT ist in industrialisierten Ländern ein erhebliches gesundheitspolitisches und ökonomisches Problem. Es spielt bei etwa 60–70% aller tödlich verlaufenden Unfälle die verlaufsbestimmende Rolle. Exakte epidemiologische Daten für Deutschland wurden erstmals von Rickels et al. für den Zeitraum 2002–2003 erhoben [31]. Nach dieser Erfassung ist in Deutschland jährlich mit einer Zahl von etwa 330 Patienten pro 100.000 Einwohnern zu rechnen, die wegen eines SHT stationär behandelt werden müssen. Hierbei wird, wie in allen industrialisierten Ländern, ein stetiger Rückgang der Unfallzahlen beobachtet. Dies ist vorwiegend auf den Erfolg präventiver Maßnahmen (Helm- und Anschnallpflicht, Verbesserung der passiven Sicherheitseinrichtungen an Fahrzeugen usw.) zurückzuführen. Hinsichtlich der Häufigkeit finden sich der Risikostruktur entsprechend 3 Altersgipfel: 4 Bei Kindern unter 11 Jahren verunglücken Mädchen und Jungen gleich häufig. Häufige Ursachen des Schädel-HirnTraumas sind in dieser Altersgruppe Stürze, Freizeit- und Verkehrsunfälle. 4 Ein zweiter Gipfel findet sich im Alter von 20–30 Jahren. Hier überwiegen eindeutig Männer, die nahezu 3-mal häufiger als Frauen ein Schädel-Hirn-Trauma erleiden. 4 In hohem Alter sind wiederum Stürze die häufigste Ursache eines SHT; Frauen sind häufiger betroffen als Männer. Die Verbesserung der Erstversorgung von Unfallopfern sowie die flächendeckende Versorgung mit neurochirurgischen Abteilungen
und mit Zentren für die Frührehabilitation haben in den letzten Jahrzehnten entscheidend zur Senkung von Letalität und Morbidität beigetragen.
Unfallursachen Regionale und sozioökonomische Gegebenheiten haben entscheidenden Einfluss auf die Unfallursachen. Umfangreiche Datenbanken, wie sie in vielen Ländern angelegt wurden, lassen sich nur bedingt mit eigenen Zahlen vergleichen, was die Notwendigkeit regionaler Analysen unterstreicht (. Abb. 68.1). Etwa 25% aller Patienten mit SHT sind Opfer eines Verkehrsunfalls. In der Hauptsache sind Insassen von PKWs, Radfahrer und Fußgänger betroffen. Bei Stürzen in Haus und Garten, die mittlerweile mit über 50% die Verkehrsunfälle als führende Unfallursache abgelöst haben, handelt es sich fast immer um Stürze aus größerer Höhe (von Leitern, Treppen und Bäumen). Freizeit- und Sportunfälle führen ebenfalls oft zu Schädel-Hirn-Verletzungen; besonders schwer verlaufen erfahrungsgemäß Reitunfälle, die nicht selten mit schweren Wirbelsäulenverletzungen einhergehen. Arbeitsunfälle sind fast immer durch Sturz aus großer Höhe (Dachdecker, Bauarbeiter) bedingt, selten werden sie durch herabfallende Gegenstände verursacht. Gewalttaten (14%) und Suizide ( Das Behandlungskonzept beim Schädel-Hirn-Trauma besteht in einer Vermeidung bzw. Minimierung des zerebralen Sekundärschadens.
68.4
Klassifikation und Einteilung
Je nach Zielsetzung lassen sich Schädel-Hirn-Verletzungen unterschiedlich einteilen und klassifizieren. Ziele der gewählten Klassifikation sind z. B.: 4 morphologische Einteilung der Verletzungsfolgen (chirurgische Behandlung), 4 pathophysiologische Einteilung (Definition von Patientenkollektiven als mögliche Zielgruppen einer spezifischen Behandlung), 4 Analyse von Unfallursachen und Risikofaktoren, 4 Erstellung einer Prognose, 4 Vergleich von Behandlungsergebnissen. . Abb. 68.3 Extrakranielle Komplikationen nach schwerem Schädel-HirnTrauma. Komplikationen, die einen signifikanten Einfluss auf die Prognose haben, sind blau gekennzeichnet.
Sekundäre Hirnschäden entstehen im Verlauf und bestimmen entscheidend die weitere Prognose. Da sie einer Behandlung prinzipiell zugänglich sind, gilt ihnen besonderes Interesse. Sekundäre Komplikationen können intra- und extrakraniell bedingt sein. Zu den wesentlichen intrakraniellen Ursachen gehören die posttraumatischen Hämatome (7 Abschn. 68.6.6) und das posttraumatische Hirnödem mit nachfolgender Steigerung des intrakraniellen Druckes. Nur einige der zahlreichen extrakraniellen Faktoren sind von prognostischer Bedeutung ([30] . Abb. 68.3). Am ungünstigsten wirken sich Hypotension und Hypoxämie auf die Prognose aus [7, 14, 26, 30]. Durch eine optimale Erstversorgung und Intensivbehandlung kann zumindest ein Teil dieser sekundären Komplikationen vermieden werden.
68.4.1
Morphologische Einteilung
Morphologisch unterscheidet man offene und gedeckte Verletzungen. Direkt offene Verletzungen sind solche, bei denen es durch Verletzung von Kopfschwarte, Schädelknochen und Dura zu einer Verbindung des intrakraniellen Raums mit der Außenwelt kommt. Sichere Zeichen einer derartigen Verletzung sind der Austritt von Liquor oder Hirnsubstanz aus der Wunde. Bei indirekt offenen Verletzungen erfolgt die Verbindung über basale Frakturen mit gleichzeitiger Eröffnung der Nebenhöhlen (frontobasale Verletzungen) oder der Mastoidzellen (otobasale Verletzungen). Klinische Zeichen sind der Austritt von Liquor oder Hirnsubstanz aus Nase oder Gehörgang. Da die intakte Dura einen guten Schutz gegen Infektionen darstellt, führen offene Verletzungen besonders häufig zu intrakraniellen Infektionen (aszendierende Meningitis, Hirnabszess usw.). Sie bedürfen stets der neurochirurgischen Abklärung und Behandlung. Für die morphologische Klassifikation der intrakraniellen Verletzungsfolgen hat sich die Einteilung nach Marshall [28] bewährt (. Tab. 68.1), die ebenfalls eine hohe prognostische Aussagekraft
68
862
68
Kapitel 68 · Schädel-Hirn-Trauma
. Tab. 68.1 Computertomographische Klassifikation des Schädel-Hirn-Traumas. (Nach [28]). Diffuses SHT Typ I:
Keine computertomographisch fassbaren Läsionen
68
Diffuses SHT Typ II
Basale Zisternen abgrenzbar mit einer Mittellinienverschiebung von maximal 5 mm; sämtliche im Computertomogramm fassbaren Läsionen unter 25 ml
68
Diffuses SHT Typ III
Basale Zisternen komprimiert oder fehlend mit einer Mittellinienverschiebung von maximal 5 mm; sämtliche im Computertomogramm fassbaren Läsionen unter 25 ml
68
Diffuses SHT Typ IV
Mittellinienverschiebung über 5 mm; sämtliche im Computertomogramm fassbaren Läsionen unter 25 ml
68
Raumfordernde Blutung, operiert
Alle Verletzungstypen, bei denen eine raumfordernde intrakranielle Blutung operativ entfernt wurde
Raumfordernde Blutung, nicht operiert
Alle Verletzungstypen, bei denen eine raumfordernde intrakranielle Blutung nicht operativ entfernt wurde
68 Hirnstammverletzung
68 68
. Tab. 68.2 Glasgow Coma Scale (GCS) [40]
68
Augenöffnen
(1–4 Punkte)
68 68 68 68 68 68 68 68 68 68 68 68 68
Motorische Antwort
(1–6 Punkte)
Auf Aufforderung
6 Punkte
Auf Schmerz gezielt
(1–5 Punkte)
5 Punkte
Voll orientiert
5 Punkte
Spontan
4 Punkte
Auf Schmerz ungezielt
4 Punkte
Unzureichend orientiert
4 Punkte
Auf Anruf
3 Punkte
Beugesynergismen
3 Punkte
Äußert einzelne Wörter
3 Punkte
Auf Schmerzreiz
2 Punkte
Strecksynergismen
2 Punkte
Unverständliche Laute
2 Punkte
Kein Augenöffnen
1 Punkt
Keine Schmerzabwehr
1 Punkt
Keine Antwort
1 Punkt
Auswertung 7 Übersicht.
hat. Sie beruht auf der Unterscheidung zwischen »diffusen« und »fokalen« Hirnschäden. Als fokale Hirnschäden werden all solche bezeichnet, bei denen eine umschriebene (oft operativ zu behandelnde) Hirnverletzung oder Raumforderung vorliegt (epidurale, subdurale, intrazerebrale Hämatome sowie umschriebene Kontusionen; 7 Abschn. 68.6.6). Der diffuse Hirnschaden bezeichnet hingegen Verletzungen, die das Gehirn insgesamt betreffen, oft multilokulär sind, keine operativ behandelbare Raumforderung zur Folge haben und bei genügender Schwere zur sofortigen Bewusstlosigkeit des Patienten führen (z. B. diffuser Axonschaden). Die meisten Schädel-Hirn-Traumata bestehen in einer Kombination von fokalen mit diffusen Hirnschäden. Von besonderer prognostischer Bedeutung ist ferner die Frage, ob die primäre Hirnschädigung tiefer gelegene Hirnarele wie z. B. Pons und Medulla betroffen hat [12, 43]. Derartige Schädigungen lassen sich besonders gut im Kernspintomogramm nachweisen. Beidseitige pontomedulläre Schädigungen werden so gut wie nie überlebt. Auch der Nachweis einer posttraumatischen Subarachnoidalblutung verschlechtert die Prognose zusätzlich [22].
Verletzungsschwere
68
68.4.2
68
Die Einteilung der Verletzungsschwere erfolgt international nach der Glasgow Coma Scale (GCS; . Tab. 68.2 [40]). Bei ihr werden die drei Grundfunktionen des Bewusstseins (Augenöffnen, motorische und verbale Reaktion) untersucht und durch Punktzahlen ei-
68
Verbale Antwort
ner halbquantitativen Skala zugeordnet. Je nach erreichter Leistung kann eine Punktzahl zwischen 1 und 6 erreicht werden. Die jeweils erreichten Ergebnisse werden addiert. Aus dem Verlauf können Änderungen der Bewusstseinslage rasch erkannt werden. Unter den Aspekten des modernen Rettungswesens ist diese Einteilung jedoch nicht unproblematisch, da Sedativa usw. das Ergebnis verfälschen können. Auch müssen zur genauen Beurteilung die Vitalfunktionen stabilisiert sein, um Einflüsse von Hypoxämie und Hypotonie auszuschließen. Die Untersuchung der Bewusstseinslage des Schädel-Hirn-Verletzten erfolgt nach der Glasgow Coma Scale (GCS).
Auswertung der GCS Die Einteilung der Verletzungsschwere richtet sich nach der schlechtesten innerhalb von 48 h erreichten Punktzahl und wird wie folgt vorgenommen: 4 3–8 Punkte = Schweres Schädel-Hirn-Trauma 4 9–12 Punkte = Mittelschweres Schädel-Hirn-Trauma 4 13–15 Punkte = Leichtes Schädel-Hirn-Trauma
Für Kinder wurde die GCS durch die sog. »Children´s Coma Scale« (. Tab. 68.3) modifiziert.
863 68.5 · Erstversorgung
68.5.2
. Tab. 68.3 Children’s Coma Scale (Kinder-GCS)
Die rasche Stabilisierung der Vitalfunktionen dient der Prävention von Hypoxämie und Hypotonie zur Minimierung des sekundären Hirnschadens.
Augenöffnen Score
>1 Jahr
8 Punkten und zusätzlichen Verletzungen, die eine rasche Verschlechterung der Spontanatmung befürchten lassen (z. B. Mittelgesichtsverletzungen, Querschnittslähmung), ist die Indikation zur Intubation und Beatmung ebenfalls großzügig zu stellen. Primär nicht intubationspflichtigen Patienten mit leichteren Verletzungen sollte Sauerstoff verabreicht werden (6 l/min über Maske oder 3 l/min über Nasensonde). Bei der obligaten pulsoxymetrischen Überwachung sollte die O2-Sättigung >95% betragen. Beim normotonen Erwachsenen wird eine Normoventilation angestrebt.
Beste motorische Antwort Score
>1 Jahr
5 Jahre
2–5 Jahre
0–23 Monate
5 Punkte
Orientiert
Verständliche Worte
Plappernde Sprache
4 Punkte
Verwirrt
Unverständliche Worte
Schreien, aber tröstbar
3 Punkte
Unzusammenhängende Worte
Persistierendes, untröstbares Schreien
Persistierendes, untröstbares Schreien
2 Punkte
Unverständlich
Stöhnen oder unverständliche Laute
Stöhnen oder unverständliche Laute
1 Punkt
Keine
Keine
Keine
Aus intensivmedizinischen Daten lässt sich extrapolieren, dass der zerebrale Perfusionsdruck (CPP) um 60 mm Hg liegen sollte. Therapieziel zu seiner Aufrechterhaltung ist daher ein mittlerer arterieller Blutdruck von 80‒90 mm Hg, der so rasch wie möglich erreicht werden sollte. Daher werden Patienten mit schwerem und mittelschwerem SHT zwei, mit leichtem SHT ein großlumiger peripherer Zugang angelegt. Die Anlage eines zentralvenösen Zugangs am Unfallort bzw. vor der Krankenhauseinlieferung ist fast nie indiziert. Eine Hypertonie ist zumeist Folge einer nicht ausreichenden Analgesierung bzw. Sedierung. Ist diese Ursache ausgeschlossen, sollten erhöhte Blutdruckwerte nicht durch die Gabe vasoaktiver Substanzen gesenkt werden (Cave: CPP-Abfall!). Die Kombination von Hypotonie mit Bradykardie weist oft auf eine Verletzung des Rückenmarks hin. Ein hämorrhagischer Schock ist beim Erwachsenen praktisch immer durch eine extrakranielle Blutungsursache bedingt. Bei Neugeborenen, Säuglingen und Kleinkindern können intrakranielle Blutungen und Hämatome der Galea dagegen kreislaufwirksam sein.
68.5.3
Medikamentöse Behandlung
Auswertung 7 Übersicht.
Volumentherapie 68.5
Erstversorgung
68.5.1
Untersuchung des Verletzten, Dokumentation der Befunde
Besondere Sorgfalt ist der zeitlich genauen Dokumentation der Glasgow Coma Scale, der motorischen Funktion aller Extremitäten und der initialen Bewusstseinslage zu widmen. Anamnese und Befund werden anhand des Notarzteinsatzprotokolls der DIVI erhoben und dokumentiert. Hinsichtlich der Vorgeschichte ist insbesondere auf den Unfallhergang und auf die Medikamentenanamnese zu achten, da zum einen bestimmte Unfallabläufe mit typischen Verletzungsmustern einhergehen, zum anderen die Einnahme gerinnungshemmender Substanzen (insbesondere Cumarinderivate und Thrombozytenaggregationshemmer) die Entstehung intrakranieller Blutungen begünstigt [11].
Ein hämorrhagischer Schock erfordert die sofortige Volumensubstitution. Isotone Lösungen (z. B. Ringerlösung, NaCl 0,9%) und Kolloide sind Mittel der Wahl. Hypotone kristalloide Lösungen (Glukose 5%, Ringerlaktatlösung) begünstigen ein Hirnödem.
Analgetika, Sedativa Die ausreichende Sedierung und Analgesie ist besonders bei intubierten und beatmeten Patienten sicherzustellen. Sedativa und Analgetika sind nach Wirkung zu titrieren, weil eine Überdosierung ‒ speziell bei hypovolämischen Patienten ‒ eine Hypotonie bewirken kann. Zur Intubation empfiehlt sich die Kombination eines Opioids mit einem Hypnotikum, für die Analgosedierung während des Transportes die Gabe eines Opioids mit einem Benzodiazepin von kurzer Wirkungsdauer. Ist die Analgosedierung eines nicht intubierten Patienten indiziert (z. B. Agitiertheit, Schmerzen), sollte ebenfalls ein Opioid mit einem Benzodiazepin verabreicht werden;
68
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Kapitel 68 · Schädel-Hirn-Trauma
u. U. ist hierbei auch eine Intubation in Kauf zu nehmen. Differenzialdiagnostisch ist zuvor Sauerstoffmangel bzw. ein hämorrhagischer Schock als Ursache der Agitiertheit auszuschließen.
. Tab. 68.4 Checkliste für die Übergabe des Patienten mit schwerem SHT im Schockraum
Vasoaktive Substanzen
Unfallzeitpunkt/-hergang 5 Art des Unfalls 5 Rettungs-/Auffindesituation
Kann die arterielle Hypotonie nicht innerhalb weniger Minuten durch Volumengabe behoben werden, sind vasoaktive Substanzen indiziert. Die Überlegenheit eines bestimmten Präparates ist nicht erwiesen.
68.5.4
68
Fremdkörper in perforierenden Verletzungen sind zu belassen: durch das Entfernen kann eine bislang tamponierte Blutung verstärkt werden. Offene Verletzungen mit Austritt von Hirnsubstanz werden feucht und steril abgedeckt. Bei spritzend blutenden Kopfschwartenwunden sollte wegen des erheblichen Blutverlustes eine provisorische Blutstillung (z. B. Fassen des blutenden Gefäßes mit einer Klemme) erfolgen.
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68.5.5
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Wundversorgung/Wundbehandlung
Sichtung, Transport
> Es sollte stets dem Transportmittel der Vorzug gegeben werden, das den Patienten auf dem schnellsten und schonendsten Wege in die nächste geeignete Klinik transportiert.
Die Inzidenz von Verletzungen der Halswirbelsäule beträgt bei schwerem SHT bis zu 10%. Daher ist für den Transport bis zum endgültigen radiologischen Ausschluss einer derartigen Verletzung bei allen Patienten mit SHT die Halswirbelsäule gesondert zu immobilisieren (Zervikalorthese, »stiff neck«). Bei stabilen Kreislaufverhältnissen empfiehlt sich die Hochlagerung des Oberkörpers bis 30°. Bei instabilem Kreislauf wird der Patient flach gelagert. Eine effektive und schnellstmögliche Versorgung von Patienten mit SHT wird durch die primäre Einlieferung in das nächste geeignete Krankenhaus gewährleistet. Hier sollten Patienten mit schweren und mittelschweren Traumata jederzeit computertomographisch untersucht werden können.
68 Übergabe des Patienten durch den Notarzt
68
68.5.6
68
Die Übergabe des Patienten in der Notaufnahme ist wesentlicher Schnittpunkt der Behandlungskette. Bei Eintreffen sind daher die weiterbehandelnden Ärzte mündlich und schriftlich ausführlich über den Patienten zu informieren (. Tab. 68.4).
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Verletzungsmuster Verdachtsdiagnosen (z. B. Blutungen, Aspiration, Intoxikation)
68
68
Eigen-, Fremdanamnese (Medikamentenanamnese, Vorerkrankungen)
68.6
Untersuchungsergebnisse 5 Atmung 5 Kreislauf 5 initialer neurologischer Befund (Bewusstseinslage, Pupillenbefund, Motorik) 5 periphere Durchblutung 5 Schmerzlokalisation Therapie 5 Beatmung (Intubation, Respiratordaten) 5 Lagerung (Vakuummatratze) 5 Immobilisierung (HWS, Extremitäten) 5 Thoraxdrainage 5 Venenzugänge 5 Medikation (Dosis, Zeitpunkt) Sonstige Daten 5 Patientendaten (Name, Anschrift, Angehörige) 5 Transport 5 vergebliche Punktionsversuche
68.6.1
Orientierende neurologische Untersuchung
Anschließend erfolgt die orientierende neurologische Untersuchung mit 4 Erhebung des Lokalbefunds an Kopf und Wirbelsäule, 4 Prüfung der Tiefe der Bewusstseinsstörung (GCS), 4 Prüfung von Pupillenweite und -lichtreaktion, 4 Untersuchung der wichtigsten Hirnstammreflexe, 4 Prüfung der Schmerzabwehr und des Muskeltonus, 4 Untersuchung der Kennreflexe der zervikalen und lumbalen Wurzeln, 4 Prüfung auf pathologische Reflexe. Diese Untersuchung ermöglicht eine Einschätzung der Verletzungsschwere und bestimmt Umfang und Dringlichkeit der weiteren neuroradiologischen Diagnostik. Im Rahmen dieses Kapitels soll auf die Versorgung leichter und mittelschwerer Traumata nur kursorisch eingegangen werden, da diese zumeist keiner intensivmedizinischen Behandlung bedürfen.
Erstversorgung im Krankenhaus 68.6.2
Auf die Versorgung mehrfachverletzter Patienten wird in 7 Kap. 67 eingegangen, sodass nachfolgend nur die Versorgung isolierter Schädel-Hirn-Traumata beschrieben wird. Zunächst sind die Stabilisierung der Vitalfunktionen und der Ausschluss lebensbedrohlicher Begleitverletzungen durchzuführen.
Leichtes und mittelschweres SHT
Liegt ein leichtes SHT vor, so sind Röntgenaufnahmen des Schädels überflüssig. Zwar ist unstrittig, dass das Vorhandensein einer Schädelfraktur mit einem erhöhten Risiko einhergeht, eine operationsbedürftige intrakranielle Blutung zu erleiden. Der direkte Nachweis der Blutung gelingt jedoch nur mittels der kraniellen Computertomographie (cCT). Diese sollte daher immer durchgeführt werden, wenn bestimmte Risikofaktoren vorliegen. Die Indikation hierzu besteht bei den in . Tab. 68.5 dargestellten Befundkonstellationen.
865 68.6 · Erstversorgung im Krankenhaus
. Tab. 68.5 Indikationen zur CT-Untersuchung nach leichtem Schädel-Hirn-Trauma. (Nach [10, 11, 15, 18, 23, 29, 37, 44])
. Tab. 68.6 Erstversorgung des Patienten mit schwerem SHT Maßnahme
Patientengruppe
Leichtes SHT: 5 Patient mit Kopfverletzung, 5 nicht oder kurzfristig bewusstlos, 5 GCS-Score 13–15 Punkte bei Erstuntersuchung
CT indiziert bei
5 GCS Score 13 oder 14 Punkte noch 2 h nach Trauma 5 Anamnestisch Anhalt für Gerinnungsstörung oder Einnahme gerinnungshemmender Medikamente 5 Anisokorie, Aphasie oder motorische Halbseitenzeichen 5 Krampfanfall nach Trauma 5 Klinisch Verdacht auf Schädelfraktur 5 Alter >65 Jahre 5 Mehr als einmaliges Erbrechen nach dem Unfall
Sicherung der Vitalfunktionen Anamnese
Unfallzeitpunkt Unfallhergang Medikamentenanamnese Vorerkrankungen
Klinische Untersuchung
Lokal Neurologischer Befund 5 Bewusstseinslage (GCS) 5 Pupillenbefund 5 Motorik
Verweilkatheter
2–3 großlumige periphervenöse Zugänge Arterielle Kanüle Zentraler Venenkatheter Blasenkatheter Magensonde
Laborbestimmungen
Kleines Blutbild (Hämoglobin, Hämatokrit, Leukozyten, Thrombozyten) Arterielle Blutgasanalyse Elektrolyte (Natrium, Kalium, Kalzium) Blutgruppe Gerinnungsstatus (mit Quick, PTT, PTZ als Minimum) Harnstoff, Kreatinin, Blutzucker GOT, GPT, γ-GT, LDH, CK
Basismonitoring
EKG Pulsoxymetrie Kapnometrie Blutdruck
Außerdem sollte jeder Patient mittels CT untersucht werden, der aufgrund externer Einflüsse (z. B. Sedierung, Alkoholintoxikation) neurologisch nicht beurteilbar ist.
Obligat sind ferner Röntgenaufnahmen der HWS (bis BWK 1!) zum Frakturausschluss. Bei Patienten mit mittelschwerem SHT wird so rasch wie möglich ein CT angefertigt. Diese Patienten sind klinisch engmaschig zu überwachen, um eine Verschlechterung der Bewusstseinslage rasch erkennen zu können. > Bei jedem Patienten schwerem und mittelschwerem SHT oder bei entsprechendem Unfallmechanismus sind Röntgenaufnahmen der HWS in 2 Ebenen (bis BWK 1) oder ein Spiral-CT der HWS mit sagittaler und koronarer Rekonstruktion anzufertigen, da etwa 10% aller Verletzten eine begleitende Halswirbelsäulenverletzung aufweisen.
Ist die Versorgung in einer neurochirurgischen Abteilung nicht möglich, sollte zumindest der konsiliarische Kontakt (z. B. über Telekonsil) mit einer neurochirurgischen Fachabteilung aufgenommen werden. Auch bei diesen Patienten ist der radiologische Frakturausschluss der HWS obligat.
68.6.3
Schweres SHT
Bewusstlose Patienten, d. h. solche mit schwerem SHT, bedürfen stets der intensivmedizinischen Versorgung und der Behandlung in einer neurochirurgischen Fachabteilung. Auch bei ihnen ist ein CT so rasch wie möglich nach Klinikaufnahme und Erstversorgung anzufertigen. Die notwendige Erstversorgung ist in . Tab. 68.6 zusammengefasst und sollte sich primär (vor Durchführung des CT) auf das Notwendigste beschränken. Sie sollte mit der Erstuntersuchung nur wenige Minuten in Anspruch nehmen.
Neuroradiologische Diagnostik Die zerebrale Computertomographie ist die Methode der Wahl zum Nachweis knöcherner und intrakranieller Verletzungsfolgen. Die Untersuchung dient zunächst dem Ausschluss raumfordernder intrakranieller Hämatome und von Parenchymverletzungen. In Abteilungen ohne Spiral-CT beginnt sie mit Schichten in Ventrikelhöhe, um im Fall einer intrakraniellen Blutung die notwendigen Operationsvorbereitungen zu veranlassen. Wird eine raumfordernde intrakranielle Blutung nachgewiesen, ist diese baldmöglichst operativ zu versorgen.
Erst danach bzw. in einer Folgeuntersuchung sollten nicht nur die parenchymatösen Verletzungen erfasst werden. Durch entsprechende Untersuchungstechnik (»Knochenfenster«) ist eine genaue Darstellung der knöchernen Strukturen anzustreben, wobei besonders auf Traumafolgen im Bereich der knöchernen Augenhöhlen, der Fronto- und Otobasis und am kraniozervikalen Übergang zu achten ist. ! Cave Ein früh nach dem Trauma durchgeführtes, unauffälliges Computertomogramm schließt ein intrakranielles Hämatom nicht endgültig aus, da sich viele Hämatome erst mit zeitlicher Verzögerung entwickeln. Im initialen CT nachgewiesene Kontusionen können sich in den nachfolgenden Stunden und Tagen vergrößern. Bei schweren und mittelschweren Traumata muss daher die Untersuchung nach spätestens 8–12 h wiederholt werden, bei klinischem Verdacht auch früher.
Besondere Risikogruppen für derartige verzögerte Hämatome sind Patienten mit vorbestehender Hirnatrophie (ältere Menschen, Alkoholiker), für die Vergrößerung primärer Kontusionen Patienten mit Störungen der Blutgerinnung (z. B. Massentransfusion). Die Durchführung eines kranialen MRT ist in der Frühphase des SHT so gut wie nie indiziert. Im weiteren Verlauf lassen sich jedoch insbesondere diffuse Hirnschäden im T2- oder Flair-gewich-
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Kapitel 68 · Schädel-Hirn-Trauma
68.6.5
68
Monitoring
Basismonitoring
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. Abb. 68.4 Typisches Kernspintomogramm bei schwerer diffuser Hirnschädigung. Gut erkennbar sind die kontusionellen Läsionen der mesialen Anteile beider Temporallappen (solide Pfeile), des Kleinhirnwurms (gestrichelter Pfeil) und der dorsolateralen Brücke (unterbrochener Pfeil)
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teten Kernspintomogramm gut darstellen (. Abb. 68.4) und ermöglichen eine bessere Abschätzung der Prognose [12, 43]. Die Darstellung der intra- und extrakraniellen Gefäße mittels zerebraler Angiographie ist beim typischen SHT nur selten indiziert. Hauptindikationen ist die Abklärung von Gefäßverletzungen (z. B. extrakranielle traumatische Dissektionen, Carotis-Sinus-cavernosus-Fistel).
Klinisch-neurologische Überwachung
68
68.6.4
68
Routinemäßig sollten allen Patienten mit schwerem SHT ein zentraler Zugang, Magensonde, Blasenableitung und arterielle Kanüle angelegt werden, sobald dies ohne Gefährdung des Patienten und Verzögerung der notwendigen Diagnostik möglich ist. Als Punktionsort für den zentralen Venenkatheter ist aus neurochirurgischer Sicht die Punktion der V. jugularis interna wegen der Gefahr der versehentlichen Karotispunktion mit nachfolgender Hämatomentstehung und venöser Abflussbehinderung zu vermeiden. Die Anlage einer arteriellen Kanüle sollte bei Patienten mit bestehenden Paresen grundsätzlich auf der paretischen Seite erfolgen. Zum einen ist so die Gefahr der Diskonnektion geringer, zum anderen wird bei einem Gefäßverschluss nicht die noch funktionstüchtige Gliedmaße betroffen.
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Liegen keine Begleitverletzungen vor, kann bei leichten und mittelschweren Schädel-Hirn-Verletzungen der arterielle Blutdruck unblutig gemessen werden, bei schwerem SHT sollte eine kontinuierliche blutige Messung erfolgen. Zur Bestimmung des zerebralen Perfusionsdrucks erfolgt der Nullpunktabgleich in gleicher Höhe wie der zur ICP-Messung, d. h. in Höhe des Foramen Monroi (grob: in Höhe des äußeren Gehörgangs). Die Überwachung der Oxygenierung erfolgt für mittelschwere und schwere Traumata kontinuierlich mittels Pulsoximetrie. Beim schweren SHT werden zusätzlich diskontinuierliche Kontrollen der Blutgase durchgeführt. Als Schwellenwerte gelten: SaO2 >95%, paO2>100 mm Hg, paCO2 >35 mm Hg. Die Überwachung der Körpertemperatur sollte ebenfalls kontinuierlich erfolgen. Sie ist allgemein etwas geringer als die eigentliche Hirntemperatur [19]. Es ist noch nicht definitiv geklärt, ob eine moderate Hypothermie die neurologische Erholung nach SHT verbessert [8, 25, 38]. Hypertherme Zustände sollten jedoch auf jeden Fall vermieden werden, denn Hyperthermie bedeutet eine zusätzliche Belastung des vorgeschädigten Gehirns durch erhöhten zerebralen Metabolismus und Substratbedarf. Der Hämoglobingehalt sollte nicht unter 10 g/dl abfallen. Störungen der Serumelektrolyte sind die häufigsten Komplikationen nach Schädel-Hirn-Trauma [30]. Besonderer Aufmerksamkeit ist den bekannten zentralen Störungen des Wasser- und Elektrolythaushaltes zu widmen, auf deren Behandlung an anderer Stelle eingegangen wird. Besondere Aufmerksamkeit erfordern weiterhin mögliche Gerinnungsstörungen [30], da diese das verzögerte Auftreten intrakranieller Hämatome begünstigen und zur Vergrößerung vorbestehender Kontusionsblutungen beitragen können [11, 15, 23, 44].
Verweilkatheter
! Cave Wegen der Gefahr der Perforation in das Schädelinnere sollten Patienten mit frontobasalen Verletzungen keine transnasale Magensonde erhalten.
Trotz einer Vielzahl additiver Verfahren des Monitoring, die Aussagen über den zerebralen Stoffwechsel, die Durchblutung und Oxygenierung des Gehirns geben, ist die neurologische Untersuchung des Patienten die einzige Möglichkeit der Funktionsüberprüfung des geschädigten Gehirns und damit der von Behandlungserfolg oder -misserfolg. Zu erfassen sind Bewusstseinslage (nach der GCS), Pupillenweite und -lichtreaktion sowie die seitengetrennte Prüfung der Motorik. Obwohl die Erhebung der GCS beim sedierten, intubierten und beatmeten Patienten mit schwerem SHT erschwert ist, lässt sich zumindest als prognostisch bedeutsamste Komponente der GCS die motorische Antwort neben der obligaten Pupillenkontrolle erfassen. Eine Verschlechterung des GCS-Scores von 2 oder mehr Punkten, neu aufgetretene Störungen des Pupillenverhaltens oder das Neuauftreten fokaler neurologischer Zeichen sind hochgradig verdächtig auf eine intrakranielle Komplikation und erfordern fast immer ein Kontroll-CT.
Intrakranieller Druck Die Messung des intrakraniellen Druckes (ICP) dient der Sicherung der zerebralen Perfusion und der Oxygenierung. Die gezielte Behandlung des erhöhten intrakraniellen Drucks setzt seine kontinuierliche Messung voraus. In einer Vielzahl von Untersuchungen wurde der Zusammenhang zwischen erhöhtem ICP und Prognose nachgewiesen (Literatur in [6, 26]). Anhaltspunkte für einen erhöhten intrakraniellen Druck ergeben sich aus der Bewusstseinslage des
867 68.6 · Erstversorgung im Krankenhaus
Patienten, dem Verlauf des neurologischen Befundes und dem Läsionstyp im CT. Die Indikationen zur intrakraniellen Druckmessung sind in . Tab. 68.7 dargestellt. Parallel ist der zerebrale Perfusionsdruck zu bestimmen, der sich als Differenz zwischen mittlerem arteriellem Druck und ICP errechnet. Als Schwellenwert sollte bei einem ICP von 40 Jahre und beste motorische Antwort Beugesynergismen oder systolischer Blutdruck 20 mm Hg, 4 bestimmte intrakranielle Verletzungsmuster (diffuse Verletzung mit Schwellung oder Mittellinienverlagerung, akutes Subduralhämatom), 4 Auftreten extrakranieller Komplikationen (Hypoxämie, Hypotension).
Zur Bewertung des Behandlungserfolgs hat sich die Glasgow Outcome Scale (. 68.11; [2]) international durchgesetzt. Hierbei werden zur weiteren Vereinfachung die Outcome-Klassen »verstorben«, »vegetativ« und »schwer behindert« als »schlechtes Outcome«, die Klassen »leichte Behinderung« und »keine/minimale Behinderung« als »gutes Outcome« zusammengefasst. Mortalität und Morbidität von Patienten mit schwerem SchädelHirn-Trauma sind in den letzten Jahren gesunken. Grob geschätzt kann von einer Senkung der Sterblichkeit von etwa 40% auf 30% ausgegangen werden [27, 31]. Die Ursache hierfür scheint in einer besseren Primärversorgung und einer Optimierung der allgemeinintensivmedizinischen Behandlung zu liegen. Für Deutschland ist ferner darauf hinzuweisen, dass in den letzten Jahren zunehmend Zentren der Frührehabilitation geschaffen wurden, in die die Patienten unmittelbar nach Abschluss der intensivmedizinischen Akutbehandlung verlegt werden sollten.
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Kapitel 68 · Schädel-Hirn-Trauma
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873
Verletzungen der Kieferund Gesichtsregion S. Reinert
69.1
Grundlagen – 874
69.2
Verletzungen der Gesichtsweichteile – 874
69.2.1 69.2.2
Diagnostik – 874 Primärversorgung – 874
69.3
Einteilung der Gesichtsschädelfrakturen – 875
69.4
Unterkieferfrakturen – 875
69.4.1 69.4.2 69.4.3 69.4.4
Symptomatik und Diagnostik – 875 Einteilung – 875 Therapie – 875 Operationszeitpunkt – 876
69.5
Mittelgesichtsfrakturen – 876
69.5.1 69.5.2 69.5.3 69.5.4 69.5.5
Nasenbeinfrakturen – 876 Jochbeinfrakturen (laterale Mittelgesichtsfrakturen) – 876 Le-Fort-I-, -II- und -III-Frakturen – 877 Orbitafrakturen – 879 Panfaziale Frakturen – 879
69.6
Frontobasisfrakturen – 879
69.6.1 69.6.2
Symptomatik und Diagnostik – 879 Therapie – 879
69.7
Kombinierte Weichteil-Knochen-Verletzungen des Gesichtsschädels – 880
69.7.1 69.7.2
Diagnostik und Besonderheiten der Anästhesie – 880 Therapie – 880
69.8
Sekundäre rekonstruktive Chirurgie im kraniomaxillofazialen Bereich – 880 Literatur – 880
H. Burchardi et al. (Hrsg.), Die Intensivmedizin, DOI 10.1007/978-3-642-16929-8_69, © Springer Medizin Verlag Berlin Heidelberg 2011,
69
874
69 69 69 69 69 69 69 69 69 69 69 69 69 69 69 69 69
69.1
Kapitel 69 · Verletzungen der Kiefer- und Gesichtsregion
Grundlagen
Die herausragende Bedeutung des Gesichts für die Persönlichkeit eines Menschen bedingt, dass Verletzungen der Kiefer- und Gesichtsregion für den betroffenen Patienten nicht nur von funktioneller, sondern auch von ästhetischer Bedeutung sind: Funktionen wie Sprache, Sehen, Riechen, Kaufunktion und Schlucken können durch ein Trauma im Gesichtsschädelbereich beeinträchtigt werden, aber auch das Gesicht als Ausdruck der Persönlichkeit kann in seiner Integrität zerstört werden. Diese Gesichtspunkte sind bei der Therapie zu berücksichtigen und erfordern eine sorgfältige Diagnostik, eine zeitgerechte, anatomisch exakte Reposition und Fixation aller frakturierten Skelettabschnitte sowie eine subtile Weichteilversorgung. Wegen der aus ästhetischen Gründen begrenzten Zugangswege im sichtbaren Bereich wird die Exposition der Frakturen von intraoral, kleinen periorbitalen Inzisionen und bei komplexen Mittelgesichtsfrakturen über einen Bügelschnitt bevorzugt. Auch im Rahmen der Primärversorgung, die spätestens ca. 7–10 Tage nach dem Trauma erfolgen soll, kann eine primäre Knochentransplantation von autologen Rippen-, Beckenkamm- oder Tabula-externa-Kalottentransplantaten notwendig werden. Die Weichteilversorgung erfolgt mit feinstem atraumatischem Nahtmaterial. Wegen der besonderen Bedeutung der Schädel- und Gesichtstraumatologie für die Intensivmedizin sollen diese Aspekte im Folgenden besonders herausgestellt werden. Einerseits haben moderne Anästhesieverfahren der Kiefer- und Gesichtschirurgie die Anwendung fortschrittlicher chirurgischer Techniken ermöglicht, andererseits wird durch die Osteosyntheseverfahren die postoperative Intensivbehandlung v. a. des polytraumatisierten Patienten wesentlich verbessert. Während früher Ober- und Unterkiefer häufig für mehrere Wochen gegeneinander immobilisiert wurden (mandibulomaxilläre Fixation, früher intermaxilläre Fixation genannt), ist dies heute meist nur kurzfristig erforderlich oder vermeidbar. Auf diese Weise werden Mundhygiene und Bronchialtoilette erleichtert und nichtintubierten Patienten die verbale Kommunikation ermöglicht.
69.2
Verletzungen der Gesichtsweichteile
69.2.1
Diagnostik
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Verletzungen der Gesichtsweichteile treten nicht selten in Kombination mit Frakturen auf. In solchen Fällen werden, unter Nutzung der Weichteilwunden als Zugang, zunächst die knöchernen Verletzungen nach dem Prinzip »von innen nach außen« versorgt. Da die Primärversorgung zugleich auch die definitive Versorgung sein sollte, kommt der Beurteilung des Erstbehandlers große Bedeutung zu: Lässt sich eine knöcherne Verletzung nicht ausschließen, sollte möglichst auf eine Weichteilversorgung zunächst verzichtet und eine exakte Frakturdiagnostik, zumeist mit Hilfe einer Computertomographie, durchgeführt werden. Dies kann bedeuten, dass der Patient in eine Klinik mit mund-, kiefer- und gesichtschirurgischer Fachabteilung verlegt werden muss. Sind knöcherne Verletzungen ausgeschlossen, sollten Weichteilverletzungen des Gesichts sofort versorgt werden, wenn nicht vital bedrohliche andere Verletzungen im Vordergrund stehen.
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69.2.2
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Kleinere Wunden im Gesichtbereich lassen sich in Lokalanästhesie versorgen, ausgedehnte und tiefere Verletzungen sollten in Intubati-
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Primärversorgung
onsnarkose versorgt werden, wobei die Lokalisation der Weichteilverletzungen die Art der Intubationsnarkose bestimmt. ! Cave Generell muss bei allen Operationen im Gesicht der Befestigung des Tubus und einer sicheren Konnektion mit dem Narkosegerät besondere Sorgfalt gewidmet werden. Da sich der Tubus im Operationsgebiet befindet, ist eine ungewollte Dislokation während des Eingriffs nicht sicher auszuschließen.
Schürfwunden Großflächige, wenn auch oberflächliche Schürfwunden im Gesicht sind eine Indikation zur Versorgung in Intubationsnarkose, wenn sie durch Fremdkörper, beispielsweise Schmutz, Steine oder Lacksplitter, verunreinigt sind. Solche Wunden müssen in Narkose mit einer sterilen Bürste, steriler Kochsalz- und 3%iger H2O2-Lösung ausgebürstet werden. Erfolgt dies nicht primär, resultieren ästhetisch störende Schmutztätowierungen, die sekundär nur sehr schwer zu entfernen sind, da auch durch hochtouriges Hautschleifen die tiefer im Gewebe liegenden Pigmentpartikel nicht erfasst werden.
Operationstechnik Generell gilt für die Wundversorgung im Gesichts- und Halsbereich, dass eine atraumatische Operationstechnik mit schichtweisem Wundverschluss, unter Verwendung von feinem Nahtmaterial, erforderlich ist. Alle Wunden müssen sorgfältig bis in die Tiefe und in voller Ausdehnung inpiziert und möglicherweise eingesprengte Fremdkörper (Glassplitter, Holz, Metall, Geschossteile und Schmauchspuren) entfernt werden. Bei gequetschten Wundrändern sind wegen der sehr guten Blutversorgung und hohen Infektionsresistenz der zervikofazialen Weichteile Wundrandexzisionen nicht oder nur äußerst sparsam durchzuführen. Sie sollten auf nekrotische oder extrem schmutztätowierte Gewebeabschnitte beschränkt bleiben. Zur Vermeidung von Gewebeverlusten sollten auch kleine, schmalbasig gestielte Haut- und Schleimhautanteile erhalten werden. Ist bei ausgedehnten Quetschwunden oder Explosionsverletzungen ein Débridement erforderlich oder liegen echte Hautdefekte vor, ist eine plastischchirurgische Rekonstruktion, beispielsweise durch Nahlappenplasik, anzustreben. Aus den genannten Prinzipien geht hervor, dass ausgedehnte Weichteilverletzungen des Gesichts nur von in der Gesichtschirurgie erfahrenen Operateuren versorgt werden sollten. Weichteilverletzungen des Gesichts in der Umgebung von Mund, Nase und Augenlidern sollten in speziellen Zentren behandelt werden. Hier kann auch der Transport mit einem Rettungshubschrauber indiziert sein.
Verletzungen des N. facialis Eine Besonderheit stellt die Verletzung von Ästen des N. facialis dar. Eine Primärversorgung sollte nur dann erfolgen, wenn die Nervdurchtrennung gesichert ist und die Voraussetzungen für eine mikrochirurgische Rekonstruktion günstig sind. Ist dies nicht gegeben, müssen die Nervenenden im Rahmen der Primärversorgung durch farbige, nicht resorbierbare Fäden markiert werden, um ihr Aufsuchen bei einer baldestmöglichen posttraumatischen frühen sekundären Versorgung zu erleichtern. Ist die Nervdurchtrennung unsicher oder nur partiell, kann ebenfalls ein abwartendes Verhalten vorteilhaft sein, da in solchen Fällen häufig keine Parese eintritt und daher eine Fazialis-Rekonstruktion nicht notwendig ist.
875 69.4 · Unterkieferfrakturen
Komplikationen
69.4
Unterkieferfrakturen
Postoperative Komplikationen sind bei Gesichtsweichteilverletzungen vom Lokalbefund her in der Regel nicht zu erwarten. Die Extubation kann kurz nach Ende des Eingriffs erfolgen.
69.4.1
Symptomatik und Diagnostik
69.3
Einteilung der Gesichtsschädelfrakturen
Der Gesichtsschädel reicht anatomisch vom Haaransatz bis zum Unterkieferrand und wird in die Regionen Ober-, Mittel- und Untergesicht gedrittelt. Da bei transversalen Abrissfrakturen des Mittelgesichts der große Keilbeinflügel, die Flügelfortsätze, die Gehörgangsvorderwand und die Wände des Sinus frontalis ohne begleitende Hirnverletzungen gebrochen sein können, erstrecken sich die klinischen Grenzen des Mittelgesichts auch in die frontale Region. Anatomisches Substrat des Untergesichts ist der Unterkiefer, der als einziger beweglicher Knochen des Gesichtsschädels über das Kiefergelenk mit der Schädelbasis artikuliert. Frakturen des Unterkiefers folgen wegen seiner kompakten Knochenstruktur in Klinik und Therapie anderen Prinzipien als Frakturen im Mittelgesicht. Es werden folgende Formen unterschieden: 4 Frakturen im bezahnten Kiefer, 4 Frakturen im zahnlosen oder zahnarmen Kiefer, 4 Frakturen im Milch- und Wechselgebiss. Das Mittelgesicht besteht im Gegensatz zum Unterkiefer aus einer Vielzahl dünnwandiger, pneumatisierter Knochen. Die durch den Unterkiefer vermittelten hohen statischen Druckkräfte werden durch Stützpfeiler (Trajektorien) auf die Schädelbasis fortgeleitet (. Abb. 69.1). Man unterscheidet: 4 Nasenbeinfrakturen, 4 Jochbeinfrakturen, 4 Le-Fort-I-, -II- und -III-Frakturen, 4 Orbitafrakturen, 4 panfaziale Frakturen, 4 Frontobasisfrakturen.
. Abb. 69.1 Trajektoriensystem des Gesichtsschädels. 1 Stirn-Nasen-Pfeiler, 2 Jochbeinpfeiler, 3 Flügelgaumenpfeiler. (Nach [7])
Ein sicheres Frakturzeichen im Bereich des Unterkiefers ist die Deformierung, die jedoch aufgrund der Weichteilschwellung maskiert sein kann, sich aber intraoral als Stufenbildung innerhalb der Zahnreihe mit Einriss der angrenzenden Schleimhaut und als Okklusionsstörung manifestiert. Eine pathologische Beweglichkeit ist bei Unterkieferfrakturen innerhalb der Zahnreihe meist nachweisbar, bei Frakturen des aufsteigenden Astes oder Infrakturen nicht. Auf eine Prüfung der ohnehin häufig nicht auslösbaren Krepitation sollte im Gesichtsschädelbereich verzichtet werden. Die unsicheren Frakturzeichen wie Hämatom, Ödem, Druckund Stauchungsschmerz sowie die gestörte Funktion sind allenfalls diagnostische Hinweise. Auch für den Gesichtsschädelbereich gilt, dass die bildgebende Diagnostik immer in 2 Ebenen erfolgen muss. Sie umfasst bei isoliertem Verdacht auf eine Unterkieferfaraktur mindestens eine Panoramaschichtaufnahme und eine kaudalexzentrische Schädelp.-a.-Aufnahme (nach Clementschitsch).
69.4.2
Einteilung
Die Unterkieferfrakturen lassen sich einteilen in: 4 Frakturen im bezahnten Kiefer, 4 Frakturen im zahnlosen oder zahnarmen Kiefer, 4 Frakturen im Milch- und Wechselgebiss. Klinisch von großer Bedeutung ist innerhalb dieser Gruppen die Abgrenzung von Frakturen des Collum mandibulae, die als gelenknahe Fraktur, nach einer Ruhigstellung von ca. 1 Woche, einer frühfunktionellen Behandlung bedarf.
69.4.3
Therapie
Die Therapie der Unterkieferfrakturen hängt von der Frakturlokalisation, dem Frakturtyp, den Begleitverletzungen, dem Gebisszustand, dem Allgemeinzustand und dem Alter des Patienten ab. Grundsätzlich werden die konservative Therapie, die operative Therapie und Kombinationsformen unterschieden. Frakturen im Milch- und Wechselgebiss werden meist konservativ, d. h. durch eine Oberkiefer- und Unterkiefer-Schienung mit mandibulomaxillärer Fixation für ca. 3–4 Wochen behandelt. Frakturen innerhalb der Zahnreihe gelten wegen des Kontakts zur Mundhöhle definitionsgemäß als offene Frakturen und werden daher baldmöglichst geschient und unter antibiotischer Prophylaxe ruhiggestellt. Dislozierte Frakturen werden mit besonders zierlichen Osteosyntheseplatten monokortikal, von intraoral versorgt. Dieser Zugang vermeidet zusätzliche äußere Narben und eine Schädigung des Ramus marginalis des N. facialis. Wegen der Prüfung und Einstellung der Okklusion, d. h. des korrekten Zusammenbisses, muss die Intubation nasotracheal erfolgen. Gelegentlich werden postoperativ Gummizüge zwischen Oberkiefer- und Unterkieferschiene eingehängt, um auch wegen der Wundheilung eine gewisse Ruhigstellung zu bewirken. Weitere Vorteile der operativen Frakturversorgung sind die verbesserte Mundhygiene und orotracheale Absaugung sowie die Möglichkeit einer schnellen Reintubation während der Intensivtherapie. Dies betrifft v. a. polytraumatisierte Patienten.
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Kapitel 69 · Verletzungen der Kiefer- und Gesichtsregion
Einfache, gering dislozierte Frakturen im voll bezahnten Unterkiefer können auch heute noch konservativ, d. h. durch dentale Schienenverbände und mandibulomaxilläre Immobilisation, behandelt werden. Eine Schienung kann meist in Lokalanästhesie erfolgen. Dislozierte Frakturen und Frakturen im zahnlosen oder zahnarmen Kiefer werden operativ versorgt. Die starre mandibulomaxilläre Fixation kann meist unmittelbar postoperativ entfernt werden. Die mandibulomaxilläre Fixation ist besonders ungünstig während einer Intensivtherapie, da sie die Mundhyggiene erschwert und die verbale Kommunikation behindert. Erschwert wird auch eine Notintubation, da zunächst die mandibulomaxillären Drähte mit einer Drahtschere durchtrennt werden müssen.
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! Cave Bei Intensivpatienten, die mandibulomaxillär fixiert sind, muss eine Drahtschere sofort verfügbar sein; am besten wird die Schere gut sichtbar am Bett befestigt.
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69.4.4
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Operationszeitpunkt
Besteht eine Indikation zur operativen Frakturversorgung, sollte diese baldmöglichst erfolgen, da durch die dauernde Bewegung mobiler Knochenfragmente über kleinste Schleimhauteinrisse oder die Alveolen von im Bruchspalt stehenden Zähnen die Infektionsgefahr erhöht. Ferner ist eine Sofortversorgung von Unterkieferfrakturen bei unstillbarer Blutung im Frakturbereich oder größeren begleitenden intra- oder extraoralen Weichteilverletzungen indiziert. Ist wegen des Allgemeinzustands des Patienten eine definitive Versorgung nicht möglich, muss zumindest eine Ruhigstellung durch dentale Schienen erfolgen und die Osteosynthese möglichst in den ersten 2–3 Tagen nach dem Unfall durchgeführt werden (sog. verzögerte Primärversorgung). Bei beginnender Infektion ist eine antibiotischeTherapie bis zur operativen Versorgung sinnvoll. Nach operativer Versorgung von Unterkieferfrakturen sind intraorale Schwellungen mit Behinderung der Atmung allgemein nicht zu erwarten, sodass postoperativ eine frühzeitige Extubation erfolgen kann. Geschlossene Unterkieferfrakturen, z. B. Collum-mandibulaeFrakturen, werden umgehend durch dentale Schienenverbände ruhiggestellt.
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69.5
Mittelgesichtsfrakturen
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Mittelgesichtsfrakturen werden heute ausschließlich operativ reponiert und mit Hilfe unterschiedlich dimensionierter Osteosyntheseplatten (Mini- und Mikroplatten) aus Titan fixiert. Diese gewährleisten eine dreidimensional stabile Fixation der operativ reponierten Skelettabschnitte und stellen im Vergleich zu den früher erforderlichen intra-extraoralen Frakturverbänden eine erheblich geringere Belastung des Patienten dar.
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69.5.1
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Symptomatik und Diagnostik
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Nasenbeinfrakturen
Wegen ihrer exponierten Lage sind die Nase und ihre äußeren und inneren Weichteile besonders häufig Traumen ausgesetzt. Es handelt sich meist um geschlossene Frakturen, jedoch sind etwa in der Hälfte der Fälle die bedeckenden Weichteile, das knorpelige oder knöcherne Septum oder die Naenmuscheln ebenfalls betroffen.
Frakturen des Nasenbeins sind vor Eintreten der Weichteilschwellung oft an der außeren Deformität der Nase erkennbar. Hämatome können sich in die paranasalen Weichteile, aber auch nach endonasal ausbreiten und führen dann zu einer Behinderung der Nasenatmung. Diese Patienten berichten oft auch über eine einseitige Hyposmie infolge einer Einengung des Riechspalts. Komplikationen von Nasentraumen sind begleitende Verletzungen der Rhinobasis sowie Blutungen aus den Aa. ethmoidales oder der A. maxillaris mit Aspirationsgefahr. Die Diagnostik umfasst die innere und äußere Inspektion nach Abschwellen der Nasenschleimhaut mit Nasentropfen sowie die Palpation zur Aufdeckung von Stufen oder einer pathologischen Beweglichkeit.
Therapie Die Behandlung von Weichteil- und Knorpelverletzungen folgt den bereits oben dargestellten Prinzipien. Nasenbeinfrakturen werden in der Regel geschlossen – vom Naseninneren her ‒ reponiert und durch Nasentamponade und äußere Schienung stabilisiert. Bei offenen Frakturen wird die Reposition bereits im Rahmen der Primärversorgung vorgenommen, wobei möglichst alle Knochenfragmente erhalten und durch Drahtnähte oder Mikroplatten fixiert werden.
69.5.2
Jochbeinfrakturen (laterale Mittelgesichtsfrakturen)
Symptomatik und Diagnostik Jochbein- und Jochbogenfrakturen gehören zu den häufigsten Gesichtsschädelfrakturen. Die Frakturlinien der Jochbeinfraktur verlaufen durch die Sutura frontozygomatica entlang der lateralen Orbitawand nach kaudal, durch den Orbitaboden zum Infraorbitalrand, über die faziale Kieferhöhlenwand zur Crista zygomaticoalveolaris und über die dorsolaterale Kieferhöhlenwand zurück zur Fissura orbitalis inferior (. Abb. 69.2). Darüberhinaus ist der Jochbogen frakturiert. Klinisch fällt initial eine Abflachung der Jochbeinprominenz auf, die jedoch bald durch die eintretende Weichteilschwellung mit Lidödem und Monokelhämatom maskiert wird. Schwellungen erheblichen Umfangs sind jedoch auch durch ein Luftemphysem möglich, wenn der Patient geschneuzt hat. Durch Traumatisierung des N. infraorbitalis besteht häufig eine Hyp- oder Parästhesie im Ausbreitungsbereich dieses Nervs. Ein nach medial dislozierter oder im Sinne einer Jochbogenfraktur isoliert eingeknickter Jochbogen kann durch mechanische Behinderung der Muskelfortsatzexkursion eine Kieferklemme verursachen. Da der Orbitaboden bei der Jochbeinfraktur mitbetroffen ist, können Doppelbilder oder, nach Abklingen der Schwellung, auch ein Enophthalmus auftreten. Aus diesem Grund ist parallel immer ein augenärztliches Konsil erforderlich. Da klinisch kein Frakturausschluss möglich ist, sind eine halbaxiale bzw. Nebenhöhlenaufnahme und eine axiale Schädelaufnahme (sog. Henkeltopfaufnahme) erforderlich. Da mit diesen Summationsaufnahmen Blow-out-Frakturen nicht sicher dargestellt werden können, ist ein Gesichtsschädel-CT in axialer und koronarer Schichtführung indiziert. Liegt gleichzeitig ein Schädel-Hirn-Trauma vor und somit eine Indikation für ein kraniales CT, kann auch die Nativröntgendiagnostik entfallen und unmittelbar ein Gesichtsschädel-CT zur Frakturdiagnostik angefertigt werden.
877 69.5 · Mittelgesichtsfrakturen
. Abb. 69.2 Jochbeinfraktur mit Darstellung der zur Repositionskontrolle relevanten Punkte: 1 Sutura frontozygomatica, 2 Infraorbitalrand, 3 Crista zygomaticoalveolaris, 4 Jochbogen, 5 Innenfläche der lateralen Orbitawand. (Nach [7])
Therapie Dislozierte Jochbeinfrakturen werden über einen Zugang in der lateralen Augenbraue, subziliar und eine Stichinzision im Bereich der Wange mit Hilfe des Einzinker-Hakens offen reponiert und durch Miniplattenosteosynthese fixiert. Bei entsprechender Trümmerungszone und zur Kontrolle des Repositionsergebnisses wird häufig auch die Crista zygomaticoalveolaris freigelegt. Der frakturierte Orbitaboden wird revidiert und mit Ethisorb oder PDS-Folie rekonstruiert. Jochbeintrümmerfrakturen werden über einen Bügelschnitt versorgt. Der Eingriff erfolgt in Allgemeinnarkose mit orotrachealer Intubation oder nasotrachealer Intubation auf der kontralateralen Seite.
69.5.3
Le-Fort-I-, -II- und -III-Frakturen
Die Le-Fort-I- und Le-Fort-II-Fraktur werden auch als zentrale Mittelgesichtsfrakturen und die Le-Fort-III-Fraktur als zentrolaterale Mittelgesichtsfraktur bezeichnet.
Symptomatik und Diagnostik
z Le-Fort-I-Fraktur Bei der Le-Fort-I-Fraktur handelt es sich um eine horizontale Fraktur, die von der Apertura piriformis durch die faziale Kieferhöhlenwand bis zur Crista zygomaticoalveolaris, die dorsale Kieferhöhlenwand und die Flügelfortsätze, die laterale Nasenwand bis wieder zur Apertura piriformis verläuft (. Abb. 69.3). Der Vomer und das knorpelige Nasenseptum sind ebenfalls betroffen. Klinisch fällt entweder eine Einstauchung oder eine pathologische Mobilität des Oberkiefers auf. Durch die Dislokationstendenz des Oberkiefers nach dorsal-kaudal besteht häufig ein Frühkontakt im distalen Seitenzahngebiet mit frontal offenem Biss.
. Abb. 69.3 Le-Fort-I-Fraktur; schematische Darstellung. (Nach [7])
z Le-Fort-II-Fraktur Bei der Le-Fort-II-Fraktur wird das Mittelgesicht pyramidenförmig zentral ausgesprengt. Die Bruchlinie verläuft durch die Nasenwurzel im Bereich der Sutura frontonasalis, über das Tränenbein und den Orbitaboden zum Infraorbitalrand, durch die faziale Kieferhöhlenwand, die Crista zygomaticoalveolaris, die dorsale Kieferhöhlenwand, die Flügelfortsätze und die laterale Nasenwand zur Fissura orbitalis inferior (. Abb. 69.4). Klinisch ist neben der Mobilität v. a. die Okklusionsstörung mit noch stärkerer Abflachung des Mittelgesichts (»dish face«) auffällig (. Abb. 69.5). Nasenbluten, Luftemphysem und periorbitale Hämatome sind ebenfalls häufig. z Le-Fort-III-Fraktur Bei der Le-Fort-III-Fraktur handelt es sich um einen vollständigen Abriss des Gesichts- vom Hirnschädel, sodass die Frakturlinie durch die frontonasalen und frontomaxillären Suturen über die mediale Orbitawand zum hinteren Anteil der Fissura orbitalis inferior verläuft. Von dort zieht die Frakturlinie durch die Flügelfortsätze, die Sutura zygomaticosphenoidalis, die Sutura frontozygomatica und den lateralen Orbitarand. Darüber hinaus sind die Jochbögen und das kraniale Nasenseptum frakturiert (. Abb. 69.6). Die Le-Fort-III-Fraktur ist i. Allg. mit einer erheblichen Weichteilschwellung durch Einblutung in die Weichteile verbunden, die oft das Gesicht grotesk entstellt. Durch begleitende Sehnervverletzungen kann eine Erblindung resultieren, und bei größeren Blutverlusten über den Nasenrachen ist u. U. eine vitale Bedrohung mit Aspirationsgefahr möglich.
Therapie In der Regel sind geschlossene Mittelgesichtsfrakturen ohne größere Weichteilverletzungen keine Indikationen zur Sofortversorgung. Wegen des oft nicht mit Sicherheit auszuschließenden begleitenden Schädel-Hirn-Traumas und des sehr schnell einsetzenden, oft extremen posttraumatischen Ödems und Hämatoms im Gesichtsbereich
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Kapitel 69 · Verletzungen der Kiefer- und Gesichtsregion
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. Abb. 69.4 Le-Fort-II-Fraktur mit Dislokation des dorsalen Oberkiefers nach kaudal und frontal offenem Biss; schematische Darstellung. (Nach [7])
. Abb. 69.6 Le-Fort-III-Fraktur, Dislokation wie bei Le-Fort-II-Fraktur. (Nach [7])
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. Abb. 69.5 Seitliche Darstellung der Le-Fort-Frakturen mit Darstellung der typischen Dislokation durch Zug des M. pterygoideus medialis nach kaudal. (Nach [7])
sollte eine verzögerte Primärversorgung zwischen dem 4. und 7. postraumatischen Tag durchgeführt werden. In dieser Zeit kann die präoperative Diagnostik, beispielsweise eine Gesichsschädel-CT und neurochirurgische sowie augenärztliche Untersuchungen, erfolgen. Die umgehende Versorgung von Mittelgesichtsfrakturen ist bei unstillbaren Blutungen aus Mund bzw. Nase und zusätzlichen äußeren Weichteilverletzungen oder ausgedehnten intraoralen Schleimhautverletzungen indiziert. In diesen Fällen ist meist mangels ausreichender Diagnostik und in Anbetracht der erforderlichen Narkosedauer eine endgültige Frakturversorgung nicht möglich.
Dislozierte oder mobile Le-Fort-Frakturen werden i. Allg. operativ durch intraorale Zugänge und Schnittführungen im Bereich der lateralen Augenbraue sowie unter der Unterlidkante freigelegt, reponiert und durch Miniplattenosteosynthese fixiert. Komplexe Frakturen werden über einen bikoronaren Schnitt angegangen (. Abb. 69.7). Da ein Hauptkriterium der regelrechten Reposition die korrekte Verzahnung von Oberkiefer und Unterkiefer ist, wird während der Operation eine mandibulomaxilläre Immobilisation durch dentale Schienenverbände durchgeführt. In diesen Fällen ist somit eine nasotracheale Intubation erforderlich. Postoperative Ödeme im Oropharynxbereich mit Verlegung der Atemwege sind bei Mittelgesichtsfrakturen nicht zu erwarten. Bei ausreichend stabiler Osteosynthese der Mittelgesichtsfrakturen wird die mandibulomaxilläre Immobilisation am Ende der Operation gelöst. Der frei zugängliche Mund- und Rachenraum erlaubt dann eine baldige Extubation. Kann eine hinreichende Stabilität im Rahmen der osteosynthetischen Versorgung, beispielsweise bei schwersten komplexen Mittelgesichtstrümmerfrakturen, nicht erzielt werden, ist eine weitere mandibulomaxilläre Immobilisation erforderlich. In solchen Fällen sollte der nasotracheale Tubus zur Sicherheit während der ersten postoperativen Nacht belassen werden. Die Extubation kann dann meist am nächsten Tag – in Abstimmung mit dem Operateur – erfolgen. Zur Erleichterung der behinderten Mundatmung, insbesondere bei zusätzlich tamponierter Nase, können 2 Wendl-Tuben in beide Mundwinkel zwischen Wange und Zahnreihen eingebracht werden. Bei voraussehbar längerer Beatmungspflichtigkeit kommt alternativ eine Tracheotomie in Betracht.
879 69.6 · Frontobasisfrakturen
tät des Gesichtsschädels muss mit langen Operationszeiten und der Notwendigkeit einer postoperativen intensivmedizinischen Betreuung gerechnet werden. Nicht selten ist in solchen Fällen das Zusammenwirken mehrerer Fachgebiete wie Kiefer- und Gesichtschirurgie, Neurochirurgie, HNO und Ophthalmologie erforderlich. Perioperativ ist in Abhängigkeit vom Blutbild die Bereitstellung von Blutkonserven erforderlich. Wegen der zu erwartenden ödematösen Schwellung ist bereits intraoperativ eine antiphlogistische Therapie mit Kortisonpräparaten zu diskutieren.
. Abb. 69.7 Zugangswege zum Gesichtsschädel (Bl=bikoronare Inzision, NS=N. supraorbitalis, FS=Foramen supraorbitale, NF=Stirnast des N. facialis, TCI=transkonjunktivale Inzision, NI=N. infraorbitalis, GI=GlabellaInzision, AI=Augenbraueninzision, OB=Oberlid-Blepharoplastik-Inzision, UB=Unterlid-Blepharoplastik-Inzision, SI=Subziliarinzision, II=infraorbitale Inzision, JB=Jochbogen, SI=Stichinzision). (Nach [7])
69.5.4
Orbitafrakturen
Orbitafrakturen treten einerseits im Rahmen von Jochbein-, LeFort-II- und Le-Fort-III-Frakturen auf, kommen aber andererseits auch als isolierte Frakturen vor. Am häufigsten sind isolierte Orbitabodenfrakturen ohne Beteiligung des Infraorbitalrandes, sog. Blow-out-Frakturen, und Frakturen der medialen Orbitawand. Beide Formen sind wegen der Weichteilschwellung oder der geringen initialen Symptomatik klinisch schwer nachweisbar und werden auch auf konventionellen Röntgenaufnahmen leicht übersehen. Da v. a. isolierte Orbitabodenfrakturen mit Dislokation von Orbitaweichteilen in Richtung Kieferhöhle ohne adäquate Therapie zu erheblichen funktionellen Spätfolgen wie Bulbusmotilitätsstörung mit Diplopie und Enophthalmus führen können, ist bei Verdacht eine Computertomographie erforderlich. Der Patient darf vor dem Frakturausschluss nicht schneuzen und erhält abschwellende Nasentropfen. Die Therapie besteht in der operativen Revision mit Reposition der prolabierten Orbitaweichteile. Da eine Reposition und Fixation der meist multiplen Knochenfragmente nicht möglich ist, wird der Defekt in der Orbitawand beispielsweise durch ein Ethisorb-Patch, spezielle Titanplatten oder autologe Knochentransplantate von der Tabula externa rekonstruiert. > Bei umfangreichen Maßnahmen an den Orbitawänden ist in Absprache mit dem Operateur postoperativ eine regelmäßige Visuskontrolle notwendig.
69.5.5
Panfaziale Frakturen
Sind mehrere Regionen des Gesichtsschädels frakturiert, spricht man von panfazialen Frakturen. Diese werden wegen der initialen Gefährdung des Patienten und der erheblichen Schwellung meist nach 7–10 Tagen verzögert primär versorgt. Wegen der Komplexi-
69.6
Frontobasisfrakturen
69.6.1
Symptomatik und Diagnostik
Der vordere Anteil der Schädelbasis wird vom Orbitadach, der Stirnhöhlenhinterwand, der Lamina cribrosa, den Dächern von Siebbein und Keilbeinhöhle sowie der Keilbeinhinter- und Seitenwand gebildet. Wegen der damit verbundenen, sehr unterschiedlichen Festigkeit zeigen frontobasale Frakturen oft unerwartete Verlaufsrichtungen. Von klinisch großer Bedeutung ist, dass die Dura im Bereich der Rhinobasis dünn und mit dem Knochen fest verwachsen ist. Sie ist daher relativ unelastisch mit der knöchernen Unterlage verbunden und reißt bei Frakturen besoders leicht ein. Klinisch sind frontobasale Frakturen, mit Ausnahme offener Verletzungen, wegen ihrer verdeckten Lage nicht unmittelbar erkennbar. Charakteristische Symptome sind Blutungen aus Nase und Nasenrachen, Brillenhämatom, Hämatosinus, Rhinoliquorrhö, eine uni- oder bilaterale Riechstörung und Schleimhautunterblutungen des Rachendachs und der Rachenhinterwand. Oft wird am Patienten mit vermuteter Rhinoliquorrhö eine Bestimmung des Zuckergehalts mit Teststreifen gegenüber dem normalen Nasensekret durchgeführt. Für sie gilt: Der Zuckergehalt des Liquor cerebrospinalis ist halb so groß wie der des Blutes und doppelt so groß wie der des Nasensekrets. Sind klinische Hinweise auf eine frontobasale Fraktur gegeben, ist wegen der schwerwiegenden Spätkomplikationen wie Meningitis oder Hirnabszess in jedem Fall eine bildgebende Diagnostik indiziert. Methode der Wahl ist die Computertomographie, mit deren Hilfe nicht nur die knöchernen Verletzungen, sondern gleichzeitig auch intrakranielle Komplikationen wie Blutungen, Fremdkörper oder Hirnsubstanzdefekte dargestellt werden können.
69.6.2
Therapie
Die Versorgung frontobasaler Frakturen ist eine interdisziplinäre Aufgabe und hängt vom Dislokationsgrad und den Begleitverletzungen ab. Oft stellt sich bei der Versorgung eine größere Ausdehnung der Verletzungen heraus als erwartet. Absolute Operationsindikationen sind: 4 massive Blutungen aus Nase und Nasenrachen, 4 intrazerebrale Blutungen mit Anstieg des Hirndrucks, 4 offene Hirnverletzungen, 4 Liquorrhö, 4 Pneumatozephalus, 4 Pfählungs- und Schussverletzungen, 4 Früh- und Spätkomplikationen wie Meningitis, Enzephalitis, Hirnabszess, Osteomyelitis, Nebenhöhleneneiterungen sowie posttraumatische Muko- und Pyozelen. Zugangsweg der Wahl ist der Bügelschnitt, der auch als Zugang zum supra- und lateroorbitalen Rand genutzt werden kann.
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Kapitel 69 · Verletzungen der Kiefer- und Gesichtsregion
69.7.2
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. Abb. 69.8 Intraoprative Situation nach Bügelschnitt: Zustand nach Osteosynthese einer komplexen Mittelgesichtsfraktur mit Beteiligung des Os frontale
Besondere Bedeutung kommt der adäquaten Versorgung der Stirnhöhle zur Sicherstellung ihrer postoperativen Funktion zu. Diese hängt entscheidend von der Integrität des Ductus nasofrontalis ab. Ist der Ductus nicht durch eine dislozierte Fraktur verlegt, kann die Stirnhöhle, nach Revision und Osteosynthese der Vorderwand (. Abb. 69.8), meist erhalten werden; ist der Ductus nasofrontalis mit der Stirnhöhlenhinterwand zertrümmert, kommt die Kranialisierung der Stirnhöhle mit Entfernung ihrer Rückwand und mit Verschluss des Ductus zur Nase in Betracht. Allgemein scheint eine invasivere operative Therapie von Stirnhöhlenfrakturen langfristig zu besseren Ergebnissen zu führen.
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69.7
Kombinierte Weichteil-KnochenVerletzungen des Gesichtsschädels
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69.7.1
Diagnostik und Besonderheiten der Anästhesie
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Bei den kombinierten Weichteil-Knochen-Verletzungen des Gesichtsschädels handelt es sich oft um schwerste Gesichtsschädelverletzungen. Wegen der vorgegebenen Weichteilzugänge ist in diesen Fällen auch die Versorgung der knöchernen Verletzungen indiziert, sofern nicht vital bedrohliche anderweitige Verletzungen im Vordergrund stehen. Voraussetzung ist allerdings der Ausschluss intrakranieller Verletzungen und eine ausreichende Frakturdiagnostik, sodass i. Allg. umgehend eine Computertomographie des Hirnund Gesichtsschädels durchgeführt werden muss. > Bei profusen Blutungen und/oder Aspirationsgefahr kann jedoch zuvor eine notfallmäßige Blutstillung, z. B. durch Bellocq-Tamponade, und eine Intubation erforderlich sein.
Letztere kann extrem schwierig sein, sodass der Anästhesist entsprechende Erfahrung besitzen sollte. Der Intubationsweg sollte mit dem Operateur abgestimmt sein. Meist besteht wegen der erforderlichen mandibulomaxillären Fixation eine Indikation für eine nasotracheale Intubation. Bei Vorliegen komplexer nasoorbitoethmoidaler Frakturen kann intraoperativ, nach Osteosynthese des Ober- und Unterkiefers, eine orotracheale Umintubation nach Lösung der mandibulomaxillären Fixation erforderlich werden.
Therapie
Kombinierte Knochen- und Weichteilverletzungen werden nach dem Prinzip »von innen nach außen« versorgt, d. h. dass zunächst alle dislozierten Skelettabschnitte freigelegt, reponiert und fixiert werden. Erst im Anschluss erfolgt der mehrschichtige Wundverschluss der Weichteilverletzungen. Bestehen Trümmerungen oder Knochendefekte, ist eine primäre Rekonstruktion mit autologen Knochentransplantaten, meist von der Tabula externa, indiziert. Dies gilt insbesondere für die Wiederherstellung der nasoorbitalen Region, da die anderenfalls eintretenden Spätfolgen wie narbige Schrumpfung der Weichteile, Telekanthus, Enophthalmus, vertikaler Bulbustiefstand und Doppelbilder auf diese Weise am effektivsten gemindert weden können. Alle Sekundärkorrekturen sind einer optimalen Primärversorgung erheblich unterlegen. Wegen des u. U. hohen operativen Aufwandes sind für Primärversorgungen allerdings Operationszeiten von 8–10 h keine Seltenheit. Postoperativ sollte der Patient nach umfangreichen Interventionen intubiert bleiben und für die Nacht einer intensivmedizinischen Überwachung zugeführt werden. In diesem Rahmen ist insbesondere der neurologische Status zur frühen Erfassung sich anbahnender intrakranieller Komplikationen von Bedeutung. Ernste lokale Komplikationen sind unter perioperativer antibiotischer Prophylaxe selten, jedoch kann der Patient für mehrere Tage durch eine erhebliche Schwellung beeinträchtigt sein.
69.8
Sekundäre rekonstruktive Chirurgie im kraniomaxillofazialen Bereich
Sekundäre rekonstruktive Operationen im kraniomaxillofazialen Bereich sind frühestens nach ca. 6 Monaten möglich. In der Regel befindet sich der Patient zu diesem Zeitpunkt wieder in einem guten Allgemeinzustand. Da es sich jedoch nicht selten ebenfalls um langdauernde Eingriffe mit nicht unerheblichem Blutverlust handelt, ist präoperativ die Frage einer Eigenblutspende zu klären. Der Intubationsweg sollte wiederum mit dem Operateur abgestimmt werden, allerdings ist eine mandibulomaxilläre Fixation meist nicht mehr zu erwarten. Bei komplexen endonasalen oder intraoralen Rekonstruktionen sollte die mögliche Verletzungsgefahr durch postoperatives Absaugen geklärt sein. Werden Beckenkammtransplantate gehoben, steht oft der Schmerz an der Entnahmestelle im Vordergrund, sodass eine effektive analgetische Therapie erforderlich ist.
Literatur 1
2 3 4
5 6 7
Austermann, KH (2002) Frakturen des Gesichtsschädels. In: Schwenzer N, Ehrenfeld M (Hrsg) Spezielle Chirurgie, Bd 2. Thieme, Stuttgart, S 275–366 Booth, PW, Schendel SA, Hausamen JE (2007) Maxillofacial surgery, vol 1. Churchill Livingstone, St. Louis Ernst A, Herzog M, Seidl RO (2004) Traumatologie des Kopf-Hals-Bereichs. Thieme, Stuttgart Ewers, R, Wild K, Wild M, Ensilidis G (1995) Traumatologie. In: Hausamen JE, Machtens E, Reuther J (Hrsg) Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie. Springer, Berlin Heidelberg New York, S 211–298 Fonseca RJ, Walker RV, Betts NJ (2004) Oral and maxillofacial trauma, vol 1, 2. Saunders, Philadelphia London Härle F, Champy M, Terry BC (1999) Atlas of craniomaxillofacial osteosynthesis. Thieme, Stuttgart New York Prein J (1998) Manual of internal fixation in the craniofacial-skeleton. Springer, Berlin Heidelberg New York
881
Thoraxtrauma R. Stocker
70.1
Einleitung – 882
70.2
Diagnostik – 882
70.3
Stumpfes Thoraxtrauma – 882
70.3.1 70.3.2 70.3.3 70.3.4 70.3.5 70.3.6
Rippenfrakturen – 882 Lungenkontusion – 883 Pneumothorax, Hämatothorax – 883 Zwerchfellruptur – 884 Tracheobronchiale Verletzungen – 884 Allgemeine Probleme nach stumpfem Thoraxtrauma – 885
70.4
Penetrierendes Thoraxtrauma – 885
70.5
Herzverletzungen – 885
70.5.1 70.5.2 70.5.3 70.5.4
Herzkontusion – 885 Verletzungen der Koronararterien – 886 Herztamponade – 886 Anatomische Läsionen des Herzens – 886
70.6
Verletzung der Aorta und der großen Gefäße – 887
70.7
»Damage Control« beim Thoraxtrauma – 888
70.7.1 70.7.2 70.7.3
Packing – 888 Wundverschluss – 889 Postoperative Behandlung – 889
Literatur – 890
H. Burchardi et al. (Hrsg.), Die Intensivmedizin, DOI 10.1007/978-3-642-16929-8_70, © Springer Medizin Verlag Berlin Heidelberg 2011,
70
882
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70.1
Kapitel 70 · Thoraxtrauma
Einleitung
Thoraxtraumen sind in den meisten Fällen potentiell lebensbedrohliche Verletzungen, die eine sach- und zeitgerechte Erstbeurteilung mit entsprechender Primärversorgung und Akuttherapie erfordern. Hauptursachen vermeidbarer Todesfälle sind in diesem Zusammenhang v. a. die inadäquate Sicherung der Atmung und die Tatsache, dass Thoraxverletzungen unzureichend erkannt oder behandelt werden [15]. Auch in der Notaufnahme spielt die Unterschätzung bzw. das Nichterkennen von Thoraxverletzungen eine wesentliche Rolle für die Morbidität und Mortalität nach Trauma [15]. Folgende Maßnahmen sind möglicherweise schon bei der präklinischen Versorgung von Patienten mit Thoraxtrauma erforderlich: 4 Intubation und Beatmung, 4 Anlage einer Thoraxdrainage, z. B. beim Spannungspneumothorax oder beim »einfachen« Pneumothorax mit begleitender Hypoxie [11].
70
70.2
70
Die Diagnostik umfasst neben Inspektion (Hautkolorit, Atemmechanik, Atemexkusrsionen, Asymetrien) die Auskultation (bereits am Unfallort), bei der v. a. das Fehlen von Atemgeräuschen einen hohen Stellenwert bei der Diagnose des Pneumothorax hat [52]. Nach Eintreffen in der Notaufnahme erfolgt die Routineuntersuchung des Schwerverletzten auf der Suche nach Thoraxverletzungen in der Regel durch eine Thoraxröntgenaufnahme. Diese muss fast immer im Liegen angefertigt werden, was die Interpretation erschwert. Verletzungen wie Hämatothorax, Pneumothorax und Lungenkontusionen kommen häufig nicht ausreichend zur Darstellung [51]. Die eine deutlich präzisere Evaluation der Verletzungsfolgen erlaubende Computertomographie hat den Nachteil, dass sie den Transport des z. T. sehr instabilen Patienten erforderlich macht. Mit den modernen Multislice-Spiral-Computertomographiegeräten lassen sich kontrastmittelverstärkte Aufnahmen nicht nur des Thorax in Minuten anfertigen, die Auskunft über Skelett-, Lungenparenchym- und Gefäßverletzungen geben. Sowohl ein Pneumothorax wie auch ein Hämatothorax werden mittels CT deutlich besser detektiert als mit konventionellen Röntgenaufnahmen. So zeigten Plurad et al. die Detektion von okkultem Pneumothorax in 14,5% und von auf Röntgenaufnahmen nicht sichtbarem Hämatothorax in 21,4% [40]. Für den Nachweis von Lungenkontusionen ist die Computertomographie der klassischen Röntgenuntersuchung noch stärker überlegen; so werden Lungenkontusionen mit diesem Verfahren doppelt so häufig diagnostiziert wie auf der Röntgenaufnahme [49]. Eine valable Alternative zur Ergänzung der Röntgenuntersuchung bei Patienten, die nicht transportiert werden können bzw. müssen, stellt die Sonographie des Thorax dar. Sie ist eine rasch verfügbare, bettseitig einsetzbare Methode, die heute in jeder Notfallaufnahme zur Verfügung steht. Obwohl sie in der Thoraxuntersuchung beim Thoraxtrauma nicht allgemein etabliert ist, zeigt die Literatur, dass Rippenfrakturen [5, 19, 24, 30, 51, 54], Sternumfrakturen [5, 30], Pneumothorax [14, 26, 45], Pleuraergüsse bzw. Hämatothorax [1, 7] mit diesem Verfahren diagnostiziert werden können. In einer aktuellen systematischen Arbeit konnte gezeigt werden, dass bei Patienten mit stumpfem Thoraxtrauma mittels Ultraschall häufiger Rippenfrakturen und Pleuraergüsse diagnostiziert werden als in der konventionellen Radiographie [42]. Zudem konnten
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Diagnostik
auch Lungenkontusionen (unregelmäßig, oft polzyklisch begrenzte echoarme, subpleurale Infiltration im Bereich der traumatisierten Region) dargestellt werden, welche durch das Fehlen der typischen Lufteinschlüsse von der Pneumonie abgrenzbar sind.
70.3
Stumpfes Thoraxtrauma
Nichtpenetrierende Verletzungen des Thorax können in der Notaufnahme bei polytraumatisierten Patienten leicht übersehen werden. ! Cave Zeichen eines stumpfen Thoraxtraumas sind ein Warnsignal für evtl. begleitende Herz- und Lungenverletzungen.
Statistisch gesehen sind Hypoxie, Verbluten sowie mit dem Thoraxtrauma verbundene extrathorakale Zusatzverletzungen die häufigsten Todesursachen beim stumpfen Thoraxtrauma. Das Thoraxtrauma selbst stellt die Hauptursache von Todesfällen aufgrund thorakaler Störungen bei Personen unter 45 Jahren dar. Je nach Krafteinwirkung können verschiedene intrathorakale Verletzungen auftreten:
70.3.1
Rippenfrakturen
Rippenfrakturen stellen eine häufige Manifestation von Thoraxverletzungen dar. Das Risiko für wesentliche Komplikationen steigt mit der Anzahl verletzter Rippen, als Ausdruck der größeren Krafteinwirkung einerseits und der posttraumatischen Auswirkungen andererseits. Rippenserienfrakturen gehen in 5–7% mit schwersten kardiorespiratorischen Komplikationen einher. Rippenserienfrakturen schließen meistens Frakturen der 7.–10. Rippe ein und sind deshalb oft mit Verletzungen der Milz und/oder der Leber verbunden. Hohe Rippenfrakturen können auf schwere innere Verletzungen hinweisen, wobei v. a. die Fraktur der ersten Rippe nach früheren Untersuchungen als Warnzeichen für potentielle Gefäßverletzungen (Ruptur der A. subclavia, traumatische Aortenruptur) gegolten hat. In der Untersuchung von Lazrove [27] wurde allerdings gezeigt, dass Frakturen der ersten Rippe nicht notwendigerweise mit einer erhöhten Inzidenz von inneren Verletzungen einhergehen.
Thoraxwandinstabilität Der Begriff »flail chest« bezieht sich auf die paradoxe inspiratorische Retraktion bzw. exspiratorische Expansion eines instabilen Thoraxwandanteils durch Mehrfragmentrippenserienfrakturen. Bei gleichzeitig schlechter Lungencompliance wird die paradoxe Thoraxwandbewegung durch den erhöhten pleuroatmosphärischen Duckgradienten verstärkt. Störungen des Gasaustausches wurden früher v. a. den mechanischen Störungen der Thoraxwand mit dem Auftreten von sog. »Pendelluft« zugeschrieben. Eine größere Relevanz der »Pendelluft» konnte allerdings, außer vielleicht bei massivster Thoraxwandinstabilität, weder klinisch noch experimentell bewiesen werden. Aus verschiedenen Untersuchungen ist bekannt, dass die alveoläre Ventilation und die O2Aufnahme auf der Seite der Instabilität sogar größer sein können, sodass heute die Störungen des Gasaustausches v. a. auf Lungenkontusionen zurückgeführt werden. Aus diesem Grund sollte von externen (Traktion) oder internen (Beatmung) Stabilisierungsversuchen der mobilen Thoraxwand abgesehen werden. Die Ventilations-/Perfusionsstörung ist v. a. durch regionale Hypoventilation von perfundierten Alveolen bedingt, v. a.
883 70.3 · Stumpfes Thoraxtrauma
. Abb. 70.1 a, b Schwere beidseitige Lungenkontusionen bei Polytrauma mit stumpfem Thoraxtrauma (a). Die Computertomographie (b) zeigt die rechtsseitigen Verdichtungen in den abhängigen Lungenabschnitten, die u. a. für eine Zunahme des Rechts-links-Shunts mit Verschlechterung des O2-Transports verantwortlich sind und darauf hinweisen, dass diese Patienten u. U. von einer Lagerungstherapie, z. B. intermittierende Bauchlage, profitieren können
durch Lungenkontusionen oder schmerzbedingte Thoraxbewegungseinschränkung.
70.3.2
Lungenkontusion
Bei der Lungenkontusion bewirkt die auf den Thorax einwirkende Energie eine Erhöhung des intraalveolären Drucks mit Ruptur der alveolokapillären Membran. Dies führt zur intraalveolären Blutung gefolgt von einem interstitiellen und alveolären Ödem mit Surfactant-Schaden, auch wenn eine größere Gewebszerreißung fehlt. Pathophysiologische Folge ist ein Ventilations-Perfusions-Missverhältnis mit resultierender Hypoxie. Lungenkontusionsbedingte schwere Gasaustauschstörungen stellen die Hauptindikation zur Intubation und Beatmung mit positiv endexspiratorischem Druck dar. Schwere einseitige Kontusionen können dabei zu stark unterschiedlicher Lungendehnbarkeit führen und in Einzelfällen eine differenzierte, seitengetrennte Beatmung über einen Doppellumentubus erfordern. Auch hier gilt jedoch der Grundsatz, so kurz und so schonend wie möglich zu beatmen, da gezeigt werden konnte, dass nicht beatmete, optimal analgetisch behandelte Patienten einen
günstigeren Verlauf hinsichtlich Behandlungsdauer und pulmonaler Infektionen aufweisen können ([6]; . Abb. 70.1). Patienten mit ausgedehnten Lungenkontusionen benötigen eine sorgfältige hämodynamische Behandlung. Einerseits kann eine übermäßige Volumenzufuhr zu einer vermehrten Ödembildung führen, nicht nur in den kontusionierten Arealen, sondern auch in normalen Lungenanteilen. Andererseits begünstigt eine protrahierte Hypovolämie die Gewebeischämie und insbesondere eine Splanchnikusminderperfusion und kann damit Wegbereiter für ein Multiorganversagen sein. Aus diesem Grund ist ein sorgfältiges hämodynamisches Monitoring unabdingbar; entsprechend kann auch die Indikation für die Überwachung mittels Pulmonaliskatheter großzügiger gestellt werden. Eine der schwerwiegensten Folgen der Lungenkontusion ist das posttraumatische ARDS, dessen Behandlung auch heute noch eine große Herausforderung darstellt. Als ultimative Rescuetherapie bei konventionell nicht beherrschbaren Gasaustauschstörungen kommen in jüngerer Zeit vermehrt extrakorporale Gasaustauschverfahren (ECMO) und »pumpless extracorporal lung assist«; pECLA) zum Einsatz, beides Verfahren, die eine extrem lungenschonende Beatmung erlauben, ohne große Kompromisse bezüglich Gasaustausch einzugehen. Technische Entwicklungen wie Membranlungen mit extrem tiefem Flusswiderstand als AV-Shunt angelegt oder aber die Langzeitanwendung von Zentrifugalpumpen mit moderner Membranlungentechnologie, welche hohe Flüsse und eine relativ niedrige Antikoagulation erlaubt, haben zu deren Popularisierung beigetragen. Als neuestes Device wird zur Zeit an verschiedenen Orten ein extrakorporales, rollerpumpengetriebenes, Low-flowSystem (Decap) eingeführt, das lediglich einen zentralvenös oder femoral eingelegten Hämofiltrationskatheter benötigt und den arteriellen CO2-Gehalt um 15–20% zu reduzieren vermag, wobei größere Studien über dessen Effektivität bislang noch fehlen. Gerade bei Patienten mit akuter Hirnverletzung kann die aus der lungenprotektiven Beatmung resultierende permissive Hyperkapnie wegen deren Auswirkungen auf den intrakraniellen Druck nicht toleriert werden, weshalb eine extrakorporale CO2-Elimination unabdingbar werden kann. Das Konzept der extrakorporalen CO2-Elimination konnte an einer kleinen Fallserie von 5 Patienten erfolgreich gezeigt werden [4]. Kleinere Fallserien von ECMO-Behandlungen über die letzten 10 Jahre zeigen ebenfalls, dass diese Verfahren einen zunehmend festen Platz in der Behandlung des hypoxisch-hyperkapnischen posttraumatischen ARDS einnehmen könnte ( [33,29].
70.3.3
Pneumothorax, Hämatothorax
Sowohl stumpfe als auch penetrierende Verletzungen des Thorax können mit einem Pneumo- und/oder Hämatothorax einhergehen, selbst dann, wenn keine Rippenfrakturen vorliegen. ! Cave Fehlende Rippenfrakturen schließen ein schweres Thoraxtrauma nicht aus! Dies gilt insbesondere für Kinder und Jugendliche, bei denen das elastische Thoraxskelett die gesamte Verletzungsenergie an die intrathorakalen Organe weitergeben kann.
Klinisch sensitive, allerdings nicht sehr spezifische Zeichen für einen Pneumothorax sind ein subkutanes Emphysem, abgeschwächte oder fehlende Atemgeräusche und asymmetrische Thoraxexkursionen. Die größte Gefährdung geht von einem Spannungspneumothorax aus: Er kann zum einen zur Kompression der gegenseitigen Lunge mit weiterer Verschlechterung des Gasaustausches führen,
70
884
Kapitel 70 · Thoraxtrauma
Hämatothorax
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Blutungen, die zu einem Hämathothorax führen, können aus der Brustwand, dem Lungenparenchym, den großen Gefäßen oder dem Herzen stammen. In der Regel werden die Patienten primär lediglich mit einer großlumigen Thoraxdrainage versorgt, die über eine Minithorakotomie ohne Verwendung des Mandrains eingeführt werden sollte. Hierdurch wird das Risiko iatrogener Lungenverletzungen vermindert und eine genauere Plazierung nach dorsobasal ermöglicht. Die Technik der Thoraxdrainage wird ausführlich in Kap. 21 dargestellt. Bei einem starken Blutverlust über die Drainage muss eine Notfallthorakotomie erwogen werden.
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70.3.4
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Zwerchfellruptur
Traumatische Zwerchfellrupturen treten in etwa 2–3% der stumpfen Thoraxverletzungen auf und werden häufig verspätet diagnostiziert. Die verzögerte Diagnose trägt zu einer erhöhten Morbidität und Mortalität bei. In 70–75% der Fälle ist das linke Zwerchfell betroffen [3]. Radiographisch findet man ein höherstehendes linkes Zwerchfell, eine intrathorakale Verschiebung von Abdominalorganen (Magen, Darm) mit Verschwinden der Zwerchfellkontur und einer atypischen Lage der Magensonde [3]. Falls der Patient beatmet ist, können diese Zeichen schwerer zu erkennen sein. Dann sollte eine Thoraxröntgenaufnahme endexspiratorisch in Kopftieflage angefertigt werden. Die Diagnose wird durch die Computertomographie erleichtert; hierbei wird nach einem der folgenden Zeichen gesucht: 4 Unterbrechung der Zwerchfellkontur, 4 Fett, Magenanteile und/oder Darmschlingen im Thorax [50].
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70
> Viele Zwerchfellrupturen werden allerdings erst bei einer aus anderen Gründen erforderlichen Laparotomie oder wegen Komplikationen entdeckt, und ein Teil wird sogar längerfristig übersehen. Bei Problemen der Respiratorentwöhnung nach entsprechenden Verletzungen sollte deshalb an eine übersehene Zwerchfellruptur gedacht werden.
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70.3.5
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. Abb. 70.2 Spannungspneumothorax beidseits nach stumpfem Thoraxtrauma. a Zu beachten ist der beidseitige Zwerchfelltiefstand. b Die Computertomographie zeigt die ausgeprägten Verdichtungen der abhängigen Lungenabschnitte beidseits
zum anderen, v. a. bei doppelseitigem Spannungspneumothorax, das Herz und die großen Gefäßen komprimieren und so die HerzKreislauf- Funktion bis hin zum Kreislaufstillstand beeinträchtigen (. Abb. 70.2).
Pneumothorax Bei jedem Traumpatienten sollte ein Thoraxröntgenbild zum Ausschluss eines Pneumothorax oder anderer Thoraxverletzungen angefertigt werden. In der Regel ist auf dem gewöhnlichen a.-p.Röntgenbild jeder drainagebedürftige Pneumothorax zu sehen; sicherer ist allerdings die Diagnostik mittels Computertomographie. Falls Intubation und Beatmung notwendig werden, sollte auch ein kleiner Pneumothorax drainiert werden.
Tracheobronchiale Verletzungen
Verletzungen des Tracheobronchialbaumes sind selten, ihre Erkennung aber sehr wichtig. Sie können sowohl bei stumpfem als auch bei penetrierendem Thoraxtrauma vorkommen. Eine plötzliche, heftige Thoraxkompression ist die häufigste Ursache beim stumpfen Trauma. Obwohl über tracheobronchiale Rupturen auf jedem Niveau des Tracheobronchialbaums berichtet wurde, kommt die überwiegende Zahl im Abstand von 2,5 cm von der Carina vor. Hauptsymptome sind Dyspnoe, Husten, schmerzhafte Hämoptoe und Subkutan-, Mediastinal- und Kollaremphysem, wobei immerhin in ca. 10% der Fälle nur wenige Symptome vorliegen. Falls die Rupturstelle frei durch die Pleura mediastinalis kommuniziert, tritt ein Pneumothorax auf, der charakteristischerweise durch eine Thoraxdrainage nicht behoben werden kann. Besteht keine Verbindung mit dem Pleuraraum, tritt kein oder nur ein kleiner Pneumothorax auf, der drainierbar ist [25].
Thoraxröntgenbefund Bei vollständiger Ruptur befindet sich der obere Rand der kollabierten Lunge unterhalb der Rupturstelle, da die kraniale Fixation durch den Tracheobronchialbaum wegfällt [35]. Dies grenzt die Tra-
885 70.5 · Herzverletzungen
cheobronchialruptur vom unkomplizierten Pneumothorax ab, bei dem der Oberrand der kollabierten Lunge oberhalb des Niveaus des ipsilateralen distalen Hauptbronchus liegt.
Trachealruptur Bei einer Trachealruptur sollte der Patient, wenn immer möglich, fiberoptisch intubiert werden, wobei das Fiberskop als Führung verwendet wird. Von einer blinden endotrachealen Intubation ist abzuraten, da sie meist nicht erfolgreich ist und zudem weitere Verletzungen und bei Fehllage eine Atemwegsobstruktion verursachen kann. Bei hochliegenden, vollständigen Rupturen muss über eine zervikale Inzision die distale Trachea direkt intubiert werden. Bei Bronchialrupturen wird der Patient am besten einseitig auf die Gegenseite oder mittels eines Doppellumentubus intubiert. Falls notwendig, kann intraoperativ die betroffene Seite zur Verbesserung des Gasaustausches direkt intubiert werden.
70.3.6
Allgemeine Probleme nach stumpfem Thoraxtrauma
Thoraxverletzungen werden in der überwiegenden Zahl der Fälle höchstens mit Einlage von Thoraxdrainagen, sonst aber nicht-chirurgisch behandelt. In weniger als 0,1% ist eine chirurgische Intervention erforderlich, die in Abhängigkeit vom Traumamechanismus (penetrierend vs.stumpf) sowie vom Ausmaß der Resektion (Wedgeresektion, Lobektomie, Pneumonektomie) mit einer hohen Mortalität zwischen 20% (Wedgeresektion bei isoliertem stumpfem Thoraxtrauma) bis 60% (Pneumonektomie beim Mehrfachverletzten) vergesellschaftet ist [31]. Neben den Begleitverletzungen besteht das Hauptproblem nach Thoraxtraumen im hohen, v. a. schmerz- und atemmechanikbedingten Risiko für schwerwiegende pulmonale Komplikationen. Die schmerzbedingte Hypoventilation führt dabei zur Sekretretention, die zusammen mit einer Beeinträchtigung des Hustenstoßes eine wesentliche Vorbedingung für das Auftreten von Atelektasen und Pneumonien darstellt. Dabei ist das Risiko umso größer, je stärker die Lunge chronisch vorgeschädigt ist. > Eine ausreichende Analgesie, die damit mögliche Atemund Physiotherapie und die Möglichkeit, den Patienten zu mobilisieren, spielen deshalb eine Schlüsselrolle bei der Versorgung von Thoraxverletzungen.
Dabei ist es weniger wichtig, welches Analgesieverfahren gewählt wird oder wie die Verfahren kombiniert werden; wichtig ist vielmehr, dass der Patient – nicht nur in Ruhe, sondern auch bei der Atemtherapie und beim Husten – weitgehend schmerzfrei ist. Um dies zu erreichen, hat sich die thorakale Periduralanalgesie, allenfalls kombiniert mit systemischen Analgetika, sehr bewährt. Viele Patienten, auch mit schweren Verletzungen v. a. des Thoraxskeletts, können damit vor der Intubation und Beatmung bewahrt werden. Dabei muss zwischen dem 2. und 4. posttraumatischen Tag mit der schwersten Einschränkung der Lungenfunktion gerechnet werden, sodass während der ersten 5 Tage nach Trauma eine sorgfältige Überwachung, Analgesie und Atemtherapie erforderlich sind.
70.4
Penetrierendes Thoraxtrauma
Die meisten Patienten mit offenen Thoraxverletzungen benötigen in der Regel nur eine Thoraxdrainage, sofern damit die Reexpansion der Lunge und die Drainage eines Hämatothorax sichergestellt werden können. Parenchymverletzungen erfordern selten ein chirurgisches Vorgehen [23]. ! Cave Das Hauptrisiko für diese Patienten besteht im Auftreten von systemischen Luftembolien unter Husten, ValsalvaManöver und mechanischer Beatmung durch traumatisch bedingte bronchovenöse Fisteln.
Das Risiko ist umso größer, je höher die angewendeten Spitzendrücke sind [16]. Subklinische Luftembolisierungen sind häufig unspezifisch. Wichtige Zeichen sind Hämoptysis und der plötzliche Kreislaufzusammenbruch nach Beginn der mechanischen Beatmung oder Drainage eines Pneumothorax [16]. Die definitive Diagnose kann häufig erst nach Thorakotomie durch sichtbare Luft in den Koronararterien oder durch Luftaspiration aus dem linken Ventrikel gestellt werden. Die Mortalität und Morbidität, z. B. durch hypoxische Hirnschädigung nach systemischer Luftembolisierung, ist hoch und steigt auf 100%, wenn weder am Unfallort noch bei der Notaufnahme ein spontaner Kreislauf vorhanden ist [34]. Damit ein Überleben möglich ist, muss die Diagnose schnell gestellt und die Embolisationsquelle sofort ausgeschaltet werden. Bei Verdacht auf Luftembolisierung muss der Patient sofort in Kopftieflage gebracht und mit 100% O2 und niedrigen Drücken beatmet werden [20]. Bei der Notthorakotomie muss die betroffene Lunge am Hilus ausgeklemmt und die Embolisierungsquelle gesucht und ausgeschaltet werden. Gleichzeitig soll versucht werden, möglichst viel Luft aus dem linken Herzen und der Aorta abzusaugen [20].
70.5
Herzverletzungen
Klinisch relevante Verletzungen des Herzens nach stumpfem Thoraxtrauma sind insgesamt nicht sehr häufig, tragen aber wesentlich zur Mortalität nach stumpfem Thoraxtrauma bei. Über die eigentliche Inzidenz von Herzverletzungen herrscht weitgehend Unklarheit; sie wird in der Literatur zwischen 5 und 78% angegeben [37]. Stumpfe Verletzungen des Herzens können als Folge eines direkten Schlages auf den Thorax oder einer schnellen Dezeleration, bei der das Herz auf das Sternum aufprallt, entstehen. Das Spektrum der Verletzungen reicht dabei von der asymtomatischen Herzkontusion bis zur Herzruptur. Die überwiegende Zahl von Herzverletzungen ist den Herzkontusionen zuzuordnen. Anatomische Läsionen des Herzens sind üblicherweise klinisch (oder post mortem) erkennbar und erfordern oft ein schnelles und rigoroses Eingreifen, während Diagnosestellung und klinische Einschätzung der Herzkontusion sehr schwierig sind.
70.5.1
Herzkontusion
Die Häufigkeit von Herzkontusionen nach stumpfem Thoraxtrauma, in der Literatur mit bis zu 76% angegeben, ist abhängig von den Kriterien, die zur Diagnostik verwendet werden [36]. Als diagnostische Methoden wurden die Untersuchung von Herzenzymen, das EKG, Radionukliduntersuchungen und die Echokardiographie eingesetzt. Einige Arbeiten der letzten Jahre
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Kapitel 70 · Thoraxtrauma
haben gezeigt, dass Laboruntersuchungen, so auch die 5–7%-Grenze des Verhältnisses CK-MB zu Gesamt-CK, EKG-Veränderungen und auch echokardiographische Befunde schlecht mit der klinischen Relevanz korrelieren [8, 39]. Auch erhöhte Serum-TroponinSpiegel sind eher mit der Gesamtschwere der Verletzung und physiologischen Parametern korreliert als mit der mechanischen Krafteinwirkung auf den Thorax und somit nicht als spezifischer Hinweis auf eine Herzkontusion zu werten [32]. Komplikationen nach Herzkontusion sind selten und bestehen v. a. in Rhythmus- und Überleitungsstörungen, sodass eine Intensivüberwachung bei Patienten mit leichtem stumpfem Thoraxtrauma und normalem oder minimal pathologischem EKG aufgrund der Diagnose Herzkontusion allein nicht mehr notwendig scheint [10]. Bei Patienten mit signifikanter, d. h. symptomatischer Herzkontusion (deutliche EKG-Veränderungen, Schmerzen) genügen eine EKG-Überwachung sowie die symptomatische Therapie von relevanten Herzrhythmusstörungen [39]. Bei Verdacht auf Störungen der Herzfunktion müssen andere kardiale Verletzungen oder Erkrankungen, z. B. mittels Echokardiographie, ausgeschlossen werden. Hier kann die Indikation für einen Pulmonaliskatheter eher großzügig gestellt werden; die Korrektur der hämodynamischen Parameter erfolgt symptomatisch.
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70.5.2
Verletzungen der Koronararterien
Traumatische Läsionen der Koronararterien sind selten und verlaufen klinisch wie ein akuter Myokardinfarkt. Eine direkte Ruptur der Koronararterie wie auch Intimaläsionen sind sehr selten. In einzelnen Fällen wurde auch über akute Koronarverschlüsse ohne vorbestehende Koronarsklerose berichtet [46]. Verschiedene Mechanismen können am Auftreten eines akuten Myokardinfarktes nach Thoraxtrauma beteiligt sein: 4 Ablösen einer vorbestehenden Plaque, 4 Einblutung in eine Plaque, 4 traumainduzierter Koronarspasmus, 4 Koronarthrombose aufgrund der Gefäßverletzung, 4 direkte Durchtrennung/Ruptur einer Koronararterie, 4 Koronarembolie, 4 disseziierendes Aneurysma. Neben der symptomatischen Therapie sollten bei Verdacht auf eine Koronargefäßläsion, sofern möglich, frühzeitig eine Koronarangiographie mit der Möglichkeit der Angioplastie oder Stenteinlage oder evtl. ein koronarchirurgisches Vorgehen diskutiert werden.
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70.5.3
Herztamponade
Die beiden häufigsten Gründe für den sofortigen Tod bei Patienten mit penetrierender Thoraxverletzung sind das Verbluten und die Herztamponade [47]. Da über einen gewissen Zeitraum beide Situationen durch Volumenzufuhr/-ersatz verbessert werden können, besteht die Gefahr, dass insbesondere die Herztamponade zu spät erkannt wird. Lewis et al. empfehlen deshalb die Notthorakotomie bei allen Patienten mit penetrierendem Thoraxtrauma, bei denen ein Kreislaufkollaps oder -stillstand auftritt, sofern 3 min vorher noch Lebenszeichen vorhanden waren [28]. Die Diagnose ist, je nach kardialen oder anderen Begleitverletzungen, schwierig zu stellen. Die klassische Beck-Trias mit Halsvenenstauung, Hypotension und abgeschwächten Herztönen ist bei weniger als 50% der Patienten vorhanden. Andere Zeichen wie kalte
Extremitäten, Agitiertheit, Pulsus paradoxus können auch bei Patienten im hypovolämischen Schock gesehen werden. Andererseits kann ein Pulsus paradoxus trotz Herztamponade wegen anderer anatomischer Läsionen des Herzens wie Vorhofseptumdefekt, Linksherzversagen oder Aorteninsuffizienz fehlen. Im EKG können eine ST-Hebung, eine »low voltage« und ein elektrischer Alternans Hinweise auf die Tamponade geben, auch wenn diese Zeichen nicht spezifisch sind. Die zuverlässigste Diagnostik kann mit der Echokardiographie erzielt werden, allerdings darf hierdurch im Notfall die relativ einfache Therapie (Perikardiozentese, Perikardiotomie) nicht hinausgezögert werden. Bis zur Entlastung der Tamponade müssen die Füllungsdrücke und die Herzfrequenz hoch gehalten werden, um wenigstens ein minimales Herzzeitvolumen und einen minimalen Druck aufrechtzuerhalten.
70.5.4
Anatomische Läsionen des Herzens
Herzruptur Die Herzruptur stellt ein nicht ungewöhnliches Ereignis bei Patienten dar, die nach Thoraxtrauma sofort sterben. Dezelerierende Kräfte beim Aufprall üben eine signifikante Überdehnung der Wand aus, die zu einer Herzruptur führen kann. Die Vorhöfe, da dünnwandig, sind dabei häufig involviert. Penetrierende Thoraxverletzungen führen allerdings häufiger zur Herzruptur. Falls das Perikard miteröffnet wird, führt die Herzruptur zum exsanguinierenden Hämatothorax, anderenfalls zur Herztamponade.
Ventrikelseptumruptur Die meisten Ventrikelseptumrupturen entstehen im Bereiche des apikalen Anteils des Septums [12]. Klinisch zeigen die Patienten die Zeichen des kongestiven Herzversagens mit einem lauten Holosystolikum über dem linken Sternumrand.
Klappenverletzungen Klappenverletzungen stellen einen seltenen und meist unerwarteten Grund des Herzversagens bei Traumapatienten dar. Unglücklicherweise kann eine akute Dyspnoe auch durch die begleitenden Thoraxverletzungen wie Lungenkontusion, Rippenfrakturen und »flail chest« erklärt werden. Dies gilt auch für verspätet auftretende, z. B. durch eine Papillarmuskelruptur bedingte Klappeninsuffizienzen [17]. Die Aortenklappe ist am häufigsten betroffen, gefolgt von der Mitral- und der Trikuspidalklappe. Die klinischen Zeichen sind von der Größe des Regurgitationsvolumens und von der Compliance der vorgeschalteten Kammer abhängig [12]. In der Regel kommt es dort aufgrund der fehlenden Adaptationszeit zu einem akuten Druckanstieg. Dieser kann, z. B. im Fall der Aorteninsuffizienz, zu einem vorzeitigen Schluss der Mitralklappe mit entsprechendem Rückstau in die Lungenstrombahn führen, womit andererseits eine Erhöhung des Schlagvolumens über den Frank-Starling-Mechanismus verhindert wird. Zusätzlich kommt es über eine reflektorische Erhöhung des Sympathikotonus zur Tachykardie und peripheren Vasokonstriktion. Bei der traumatischen Mitralinsuffizienz führt die Regurgitation zu einem akuten Anstieg des linken Vorhofdrucks mit fulminantem Lungenödem. In Abhängigkeit vom Regurgitationsvolumen kann eine traumatische Trikuspidalinsuffizienz relativ symptomarm verlaufen, sofern keine pulmonale Hypertension (z. B. durch das Auftreten eines ARDS) auftritt [12], da rechter Vorhof und V. cava sehr dehnbar sind. Beim Anstieg des rechtsventrikulären Afterloads nimmt die Regurgitation zu Ungunsten des transpulmonalen Flusses und
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damit der Linksherzfüllung zu; hierdurch fällt das Herzzeitvolumen ab. Therapeutisch genügt in der Regel die Normalisierung des pulmonalarteriellen Druckes; eine akute kardiochirurgische Intervention ist selten notwendig.
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Verletzung der Aorta und der großen Gefäße
Beim stumpfen Thoraxtrauma werden erhebliche Scherkräfte durch die abrupte Dezeleration auf die Aortenwand übertragen, die im Bereiche der Mündung der A. subclavia sowie im aszendierenden Anteil auf der Höhe der Koronararterien am größten sind [36]. Dabei kann es an der Aufhängung der thorakalen Aorta im Isthmusbereich, durch die geringe Elastizität des Lig. pulmonale, zum Einriss der Aortenwand kommen (häufigste Lokalisation: Aortenisthmus; ca. 85%). Die traumatische Aortenruptur verläuft bei vollständiger Ruptur in ca. 85% der Fälle sofort tödlich [12]. Bei einem kleinen Prozentsatz der Fälle kommt es entweder zur gedeckten Ruptur mit Einriss der Intima und Media bei kontinuitätserhaltender intakter Adventitia und nachfolgender Ausbildung eines Aneurysma spurium und Mediastinalhämatom – oder zur gedeckten Ruptur mit kleinem Intima-/Mediaeinriss und Ausbildung eines chronischen Aneurysmas nach Monaten oder Jahren. Die vollständige Ruptur kann im späteren Verlauf auftreten. Penetrierende Thoraxverletzungen können ebenfalls mit Verletzungen der großen Gefäße einhergehen. Je nachdem ob die Verletzung intraperikardial oder extraperikardial liegt, führt sie entweder zur akuten Tamponade oder zum massiven Hämatothorax [12].
Symptome und Diagnostik Die klinischen Befunde der Aortenruptur weisen eine diagnostische Trias auf, die in mehr als 50% der Fälle zu finden ist [12]. Klinische Symptome der Aortenruptur sind thorakale Schmerzen zwischen den Schulterblättern, Puls- und Blutdruckdifferenz zwischen oberen und unteren Extremitäten, Atemnot und radiologisch ein verbreitertes Mediastinum [43]. Allerdings sind diese Zeichen nicht immer sehr zuverlässig, sodass einerseits spezifisch nach ihnen gesucht und andererseits im Zweifelsfall eine erweiterte Diagnostik angeschlossen werden muss. Als Screeningmethode, v. a. auch bei instabilen, schlecht transportierbaren Patienten, gewinnt die transösophageale Echokardiographie zunehmenden Stellenwert, vorausgesetzt, sie wird von einem erfahrenen Untersucher durchgeführt ([43]; . Abb. 70.3). Die intravenöse, kontrastmitteloptimierte CT-Angiographie in Spiraltechnik hat heute die konventionelle transfemorale, intraarterielle Aortographie als Primärdiagnostik weitgehend verdrängt [18]. Ihre Sensitivität für das Screening nach Aortenverletzungen liegt bei 96–99%. In der normalen Computertomographie des Abdomens gilt ein zwerchfellnahes periaortales Hämatom (PH) als indirektes Zeichen für eine mögliche thorakale Aortenruptur. Die Sensitivität des PH für die Diagnose der Aortenverletzung betrug in einer Untersuchung von Wong et al. [53] 70%. Die Spezifität lag sogar bei 94%. Falsch-positive PH-Befunde kamen lediglich bei Zwerchfellrupturen und Wirbelkörperfrakturen vor.
Therapie Wenn die Diagnose einer Aortenruptur gestellt worden ist, sollte die Versorgung baldmöglichst erfolgen. Die Therapieoptionen sind offen-chirurgisch oder minimalinvasiv mittels Stentgraftimplantation (EAP).
. Abb. 70.3 Transösophageale Echokardiographie der thorakalen Aorta descendens (Ao) unmittelbar nach Abgang der A. subclavia links: Im Querschnitt durch die Aorta stellt sich der lokale Intimariss mit Membran (dicker Pfeil) dar; intramurales Hämatom (kleine Pfeile), semizirkuläres periaortales Hämatom (H)
Bei der Direktnaht ohne kardiopulomonalen Bypass besteht, in Abhängigkeit von der Abklemmdauer der Aorta, das Risiko einer spinalen Ischämie mit nachfolgender Querschnittsläsion (Inzidenz 5–20%) sowie einer Ischämie der Abdominalorgane, insbesondere der Nieren. Darüber hinaus führt das herznahe Abklemmen der Aorta zu einer beträchtlichen Steigerung des linksventrikulären Afterloads mit Anstieg des pulmonalkapillären Verschlussdrucks bis hin zur Linksherzdekompensation und zu einer u. U. massiven Drucksteigerung in der oberen Körperhälfte, die den Einsatz von Vasodilatatoren erfordert. Andererseits erfordert der Einsatz eines partiellen (z. B. venoarteriellen) Bypasses eine systemische Antikoagulation, die v. a. beim frischen, schweren Polytrauma und/oder speziell beim akuten Schädel-Hirn-Trauma kontraindiziert ist. Die Mortalität des offenen chirurgischen Vorgehens wird in der Literatur ebenfalls zwischen 5 und 20% beziffert [38]. In den letzten Jahren hat sich die transkutane, endovaskuläre Stentgraftimplantation mehr und mehr durchgesetzt [41]. Bei dieser liegt die technische Erfolgsrate bei 90–100%, und das Risiko für eine Paraplegie zwischen 0 und 6% [38]. In einer neueren Multizenterstudie an 193 Patienten konnte eine signifikant geringere Mortalität, weniger Bluttransfusionen und weniger systemische und lokale Komplikationen sowie ein kürzerer Krankenhausaufenthalt im Vergleich zur offenen Versorgung gezeigt werden [13]. Damit kann zunehmend davon ausgegangen werden, dass dieses Verfahren zum Goldstandard wird, obwohl Langzeitresultate, v. a. bei jungen Patienten, immer noch fehlen. Aufgrund der Risiken mag es in einigen Fällen sinnvoll sein, die Versorgung während der ersten Tage nach Trauma aufzuschieben. Um das Risiko einer Spontanruptur zu reduzieren, müssen während dieser Zeit Blutdruck und Druckamplitude streng kontrolliert und ggf. reduziert werden, z. B. durch Anwendung eines kurzwirksamen £-Blockers (Esmolol) mittels Dauerinfusion. Um nachteilige Effekte der negativ inotropen Wirkung auf die systemische Zirkulation in der Frühphase nach Trauma zu mini-
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mieren, sollte der Einsatz mit einem pulmonalarteriellen Katheter überwacht werden. In etwa 10% aller Aortenverletzungen ist die aszendierende Aorta betroffen. Meist wird eine solche Verletzung von einer Herztamponade und in einem Teil von Koronarläsionen begleitet. Eine chirurgische Intervention kann nur am kardiopulmonalen Bypass vorgenommen werden. Verletzungen im Bereich des Aortenbogens mit seinen Gefäßabgängen sind sehr selten. Die Symptomatologie hängt vom Ausmaß und den betroffenen Gefäßen ab. Eine Versorgung ist in der Regel nur am kardiopulmonalen Bypass in tiefer Hypothermie möglich.
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Chirurgische Interventionen, abgesehen von Drainagen, sind beim Thoraxtrauma selten indiziert. Trotzdem kann es in gewissen Fällen notwendig werden, beim Thoraxtrauma zur Blutstillung einen sog. Damage-control-Ansatz zu wählen. Dieser zielt darauf ab, primär Voraussetzungen für eine überlebbare Physiologie zu schaffen und erst, wenn dies erreicht ist, in den Operationssaal für die definitive Versorgung zurückzukehren [9, 21]. Dieses Vorgehen wurde in erster Linie für Verletzungen von soliden Abdominalorganen und abdominelle Gefäßverletzungen beschrieben, wo die Austamponierung der Bauchhöhle bzw. des Retroperitoneums, evtl. zusammen mit einem perihepatischen, perisplenischen oder perirenalen Packing, über den Aufbau eines Gegendrucks zur vorläufigen Blutstillung angewendet wird. »Damage control« beim Thoraxtrauma hat sich etwas verschieden entwickelt. Hier wurde zu Beginn eine zentrale Thorakotomie mit dem Ziel einer physiologischen Stabilisierung beim Patienten in extremis vorgenommen. Im Gegensatz zur »damage control« beim Abdominaltrauma mag der schnelle Verschluss, z. B. mittels Ethi-Zip oder VAC-System, v. a. bei diffusen muskulären Blutungen nicht anwendbar sein. Zudem kann das Packing in der Thoraxhöhle wegen der daraus resultierenden Kompression von Lunge, Herz und großen Gefäßen nicht im selben Maß angewendet werden wie in der Bauchhöhle. Aus diesem Grund zielen Damage-control-Verfahren im Thoraxbereich eher auf Techniken zu Vereinfachung und Verkürzung des Eingriffs ab und sind zudem eine Art Triage-Tool, da Patienten mit letalen Verletzungen nicht zwingend in den Operationsaal verbracht werden müssen. Thoraxdrainagen sind dabei neben der Therapie ein diagnostisches Manöver, und es kann bei deren Einlage z. T. gleichzeitig das Perikard und das Zwerchfell palpiert werden, um die Diagnose einer Perikardtamponade oder Zwerchfellverletzung zu stellen. Der Zugang zur Einlage der Drainagen kann dabei so gewählt werden, dass diese Diagnostik erleichtert wird. Neue Verfahren wie die Thorakoskopie erlauben in den Händen sehr Geübter eine schnelle Inspektion von Blutungsquellen, Perikardtamponade oder des Mediastinums in der Region der großen Gefäße (periaortales Hämatom) und können in geeigneten Fällen die unverzügliche explorative Thorakotomie ersetzen bzw. erlauben es, einen optimalen Zugang zu wählen.
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Zugang Der klassische Damage-control-Zugang ist eine zentrale Thorakotomie über einen anterolateralen Zugang ausgehend von der Mitte des Sternums entlang der V. Rippe bis zur mittleren bzw. posterioren Axillarlinie. Die Interkostalmuskulatur sollte dabei nur in einem Gebiet aufgespalten werden, um einen Zugang zur Thoraxhöhle zu schaffen und eine Verletzung der Lunge durch die Inzision zu vermeiden. Der Retraktor sollte so positioniert werden, dass er bei einer evtl. notwendigen Thorakotomieerweiterung auf die Gegenseite nicht im Weg ist. Der Hilus der Lunge wird dann durch die Hand gefasst und die Aorta gerade distal vom Abgang der A. subclavia abgeklemmt. Nun kann die primäre Pathologie gesucht werden.
Beim Vorliegen einer Perikardtamponade soll das Perikard anterior von N. phrenicus eröffnet werden. Bei Herzverletzungen soll ohne Verzögerung eine Sternotomie zur weiteren Exposition vorgenommen werden. Eine frühe Abklemmung des Hilus kann helfen, Luftembolien, die bei Überdruckbeatmung wahrscheinlich unterschätzt werden, zu vermeiden, weshalb sie wahrscheinlich häufiger indiziert wäre. Wenn keine geeigneten Klemmen vorhanden sind oder der Zugang zum Hilus erschwert ist, kann das Lig. pulmonale inferior durchtrennt und die Lunge um 180° in sich gedreht werden. Das erlaubt die Kontrolle der Gefäße und des Bronchus, um Zeit zu haben, dringlichere Verletzungen anzugehen. Wenn eine größere Blutungsquelle nicht zu finden ist, kann ein Finger anterior vom Perikard hinter dem Sternum in die gegenseitige Pleurahöhle vorgeschoben werden, um eine relevante Blutung dort auszuschließen. Ziele dieses Vorgehens sind 4 Entlastung einer evtl. vorliegenden Perikardtamponade und 4 Blutstillung. Nachdem dies erreicht ist, kann die Thorakotomie in Ruhe, ggf. nach Transfer in den Operationssaal, verschlossen werden, nachdem die A. mammaria interna und die Interkostalgefäße sorgfältig exploriert worden sind und ggf. die Blutstillung erfolgt ist. > Vor allem bei linkseitiger Thorakotomie ist die Lunge häufig im Wege, weshalb die einseitige Intubation nach rechts, ein Bronchusblocker oder seltener (Zeitfaktor!) ein Doppellumentubus verwendet werden muss.
Formale Lungenresektionen sind v. a. in den Händen des weniger Erfahrenen zeitraubend und deshalb gefährlich. Tipp Die Verwendung von großen Staplern bei nichtanatomischen Wedgeresektionen erlaubt eine schnelle Blutstillung und Leckagebehebung.
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Packing
Das Packing solider Abdominalorgane ist ein akzeptierter Standard bei Verletzungen solider Abdominalorgane oder von Gefäßen. Im Thoraxbereich hat das Packing wegen der speziellen kardiopulmonalen Bedingungen (Herzfüllung, Lungenexpansion) nicht dieselbe Bedeutung. Das Packing wurde u. a. zur temporären Blutungskontrolle im Thoraxapex und im Mediastinum beschrieben, bei Letz-
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terem, bevor die intraoperative proximale und distale Blutstillung durchgeführt werden kann. Allerdings toleriert v. a. das kalte, irritable Herz keinen externen Druck auf Vorhöfe oder Ventrikel, da dadurch die passive Füllung kompromittiert wird. Das obere Mediastinum weg von Herz und Lungen ist ein Ort, an dem das Packing zur Stillung von Sickerblutungen angewendet werden kann. Das Verfahren wird zudem als Utima ratio zur Stillung von Sickerblutungen aus der Interkostalmuskulatur und Rippenfrakturen beim kalten, azidotischen Patienten mit multiplen Thoraxverletzungen angewendet, wobei ein Tamponadeeffekt ohne wesentliche Nebeneffekte schwierig zu erzielen ist und natürlich die endotracheale Intubation erfordert. Zusätzlich brauchen diese Patienten oft hohe Beatmungsdrücke, was durch das Packing noch verstärkt werden kann. Aus all diesen Gründen kann ein Packing am ehesten im Apex, im oberen Mediastinum oder subpulmonal weg von Herz und Lungenhilus durchgeführt werden und wird oft mit der Anwendung von Kollagenvlies oder Fibrinkleber kombiniert.
70.7.2
Wundverschluss
Im Abdominalbereich werden heute als Standard zum raschen Wundverschluss nach dem Damage-control-Konzept sog. Towelclip- oder Vakuumsyteme verwendet. Dies ist möglich, weil die abdominale Mittellinie avaskulär ist. Dieselben Verfahren können bei muskulösen Patienten im Thoraxbereich kaum angewendet werden, da die Durchtrennung der Thoraxwandmuskulatur zu einem signifikanten Blutverlust führen kann. Deshalb ist die bevorzugte Methode heute ein Einzelnaht-en-masse Verschluss (»single en mass closure«) von Thoraxwand, Muskeln und Haut, um eine Blutstillung zu erreichen. Die spezielle Physiologie des Herzens macht u. U. andere Vorgehensweisen erforderlich: Nach einer hypotensiven Periode kann häufig eine myokardiale Dysfunktion beobachtet werden, die in einer Dilatation des Herzens mit dem Ziel, einen höheren Punkt in der Starling-Kurve zu finden, resultiert. Da die diastolische Füllung des Herzens vorwiegend passiv geschieht, wird jeder Druck auf das Herz zu einer Abnahme von Schlag- und Herzzeitvolumen führen. Aus diesem Grund werden Techniken, die von der Herzchirurgie abgeleitet wurden, beim versagenden Herzen nach Damagecontrol-Thorakotomie angewendet. Die Thorakotomie wird durch einen Spreizer offengehalten und die Wunde z. B. mittels BogotaBag oder Plastikfolie provisorisch verschlossen. Dies erlaubt die Expansion des Herzens und die venöse Füllung. Wenn der Patient überlebt und sich die Myokardfunktion erholt, kann die Thorakotomie sekundär verschlossen werden. In einzelnen Fällen wird ein formaler Wundverschluss trotz allen Stabilisierungsmaßnahmen und Flüssigkeitsentzug nicht toleriert, weshalb eine Thoraxwandrekonstruktion mit Omentum- oder Muskelflaps mit Hautdeckung u. U. nach Wochen vorgenommen werden muss.
70.7.3
Postoperative Behandlung
Der Damage-control-Ansatz hat 2 Hauptstoßrichtungen: 4 Die erste ist, Vorgehensweisen und Prozeduren zu wählen, die einfacher und schneller sind und es erlauben, eine überlebbare Physiologie in einem einzigen Operationsschritt wiederherzustellen. 4 Der zweite Ansatz ist eine abgekürzte Thorakotomie zur Wiederherstellung einer überlebbaren Physiologie, bei der die
definitive Versorgung in einer zweiten chirurgischen Intervention vorgenommen wird. Die postoperative Behandlung der ersten Gruppe ist vergleichbar mit einer Standardbehandlung nach jeder Thorakotomie: Der Patient wird aufgewärmt, die Hämodynamik stabilisiert und die Gerinnung korrigiert. Es kommt sehr häufig vor, dass der Patient signifikante Kontusionen entweder vom Unfall direkt und/oder von den notwendigen Manipulationen für die Blutstillung hat. Deshalb muss versucht werden, eine Flüssigkeits-/Volumenüberladung zu vermeiden und den Patienten so trocken wie möglich zu fahren, damit einerseits weitere pulmonale Komplikationen vermieden, andererseits aber die Organperfusion nicht kompromittiert wird. Dabei ist zudem darauf zu achten, dass der Blutdruck an der untersten Grenze bleibt, um Nachblutungen nicht zu begünstigen. Manchmal sind Bronchoskopien zur Bronchialtoilette repetitiv notwendig, wobei berücksichtigt werden muss, dass die dabei häufig auftretende PEEP-Reduktion bzw. die Applikation eines Sogs die intrapulmonale Blutung begünstigen und den Gasaustausch weiter gefährden kann. Einige Patienten bluten in dieser Phase alarmierend weiter. Eine der schwierigsten Entscheidungen ist dann festzulegen, wann der Patient wieder in den Operationssaal zur Blutstillung zurückkehren muss. Diese Entscheidung sollte sinnvollerweise unter Einbezug des primär operierenden Chirurgen getroffen werden, der am ehesten weiß, wie die Blutstillung bei der primären Intervention adäquat durchgeführt werden konnte. Gerade im massivtransfundierten, kalten und koagulopathischen Patienten ist es oft schwierig, alle potenziellen Blutungsquellen zu finden und eine suffiziente Blutstillung durchzuführen weshalb der Patient zur Aufwärmung und Gerinnungskorrektur auf die Intensivstation verlegt wird, sobald relevante Blutungen gestillt sind. Dies erlaubt dann eine chirurgische Revision unter deutlich besseren Bedingungen, auch wenn selbst dann die Blutung nicht immer gestillt werden kann, was zur hohen Letalität beiträgt. Über die Schwellenwerte der Blutungsmengen, bei denen die Rückkehr in den Operationssaal notwendig ist, schweigt die Literatur. Vorbedingung für die chirurgische Reintervention ist – exsanguinierende Blutungen ausgeschlossen – die Korrektur von Körpertemperatur und Gerinnung. Besonderes Augenmerk ist dabei auf Serumfibrinogenspiegel und ggf. den Faktor XIII zu richten, da diese – auch bei der großzügigen Gabe von FFP – häufig untersubstituiert sind. Zudem sollten Thrombozytenwerte sicher über 80.000 mm3 angestrebt werden. > Bleibt nach diesen Maßnahmen die Blutung über z. B. 300 ml/h ohne klar abnehmende Tendenz, ist nach 3–4 h eine chirurgische Reintervention oder ggf. eine Angiographie mit Embolisationsintention in Erwägung zu ziehen.
Bei anhaltendem Volumenbedarf ohne Drainage nach außen oder bei plötzlichem Sistieren einer Blutung durch die Drainage muss zudem daran gedacht werden, dass entweder die Drainage ungünstig liegt oder das Blut im Thorax koaguliert. Letzteres gibt erst recht den Hinweis auf eine chirurgische Blutung und ist eine Indikation für eine niederschwellige Reintervention, sofern der tamponierende Effekt des Hämatothorax mit Abnahme des Transfusionsbedarfs – ohne den Patienten bezüglich Gasaustausch schwer zu kompromittieren – nicht vorübergehend erwünscht ist. In die zweite Gruppe von Patienten fallen diejenigen nach abgekürzter Thorakotomie. Dieser Ansatz hat zum Ziel, die Blutung zu stoppen und eine überlebbare Physiologie wiederherzustellen. Das Timing für die Rückkehr in den Operationsaal hängt von den
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Befunden ab, die beim Ersteingriff erhoben wurden [22]. Sofern eine Ligatur vorgenommen oder Shunts angelegt wurden, kann der Patient in den OP zurückgebracht werden, sobald er aufgewärmt und nicht mehr koagulopathisch ist. Oft beeinflussen Verletzungen außerhalb des Thorax die Entscheidung für die Rückkehr in den Operationssaal mit.
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Komplikationen
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Spezielle Komplikationen, die in der postoperativen Phase antizipiert werden müssen, sind die Tamponade oder bronchopleurale Fisteln.
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Perikardtamponade. Die Zeichen der klassischen Perikardtam-
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ponade sind gestaute Halsvenen, gedämpfte Herzgeräusche und Hypotension, ggf. mit ausgeprägtem Pulsus paradoxus. Allerdings sind diese Zeichen postoperativ nicht immer einfach zu interpretieren. Insbesondere die lokalisierte Kompression von rechtem oder linkem Vorhof präsentiert sich oft nicht in klassischer Art und Weise, weshalb bei Verdacht großzügig eine Echokardiographie durchgeführt werden soll. Dabei muss berücksichtigt werden, dass die transthorakale Untersuchung durch Luft und andere Überlagerungen z. T. keine konklusiven Resultate ergibt, weshalb in diesen Fällen eine transösophageale Untersuchung notwendig werden kann. Bronchopleurale Fistel. Bronchopleurale Fisteln sind ebenfalls häu-
fige Komplikationen nach pulmonalen Eingriffen. Deshalb müssen adäquate Drainagen mit der notwendigen Sorgfalt platziert werden, bevor der Thorax verschlossen wird. Signifikante parenchymatöse Verletzungen oder gar Resektionen benötigen in der Regel mindestens 2 dicklumige Drainagen, wobei die zweite tief posterior platziert werden sollte. Das Management von Fisteln bei expandierten Lungen ist deutlich einfacher zu erzielen. Wenn ein adäquater Gasaustausch ohne hohe Beatmungsdrücke sichergestellt werden kann, können bronchopleurale Fisteln meist konservativ behandelt werden. Nur in Fällen mit hohem Gasverlust oder wenn die Lunge wegen der starken Fistelung nicht expandiert werden kann, ist evtl. eine chirurgische Sanierung angezeigt. Vorübergehend muss u. U. eine einseitige oder seitengetrennte Ventilation vorgenommen oder gar ein Bronchusblocker eingesetzt werden. Bei seitengetrennter Ventilation kann die leckende Lunge asynchron über ein zweites Beatmungsgerät mit sehr tiefen Beatmungsdrücken behandelt werden, bis die Fistel im Idealfall verklebt. Zusammenfassung Die Morbidität und Mortalität des schweren Thoraxtraumas konnte in den letzten Jahren durch neue chirurgische Vorgehensweisen (videaoassistierte Thorakoskopie, Damage-control-Ansatz), durch extrakorporale Lungenunterstützung/Lungenersatz zur CO2-Elimination bzw. Oxygenierung unter lungenprotektiver Beatmung, durch optimierte Analgesie und durch frühe Physiotherapie und Patientenmobilisation gesenkt werden. Alle diese Techniken sind andererseits an der zunehmenden Komplexität der akuten und intensivmedizinischen Behandlung des schweren Thoraxtraumas mitbeteiligt.
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70
893
Abdominalverletzungen C. Hierholzer, A. Woltmann
71.1
Vorbemerkung – 894
71.2
Präklinik – 894
71.3
Anamnese – 894
71.4
Diagnostik – 894
71.4.1 71.4.2 71.4.3 71.4.4 71.4.5 71.4.6 71.4.7 71.4.8
Klinische Diagnostik – 894 Apparative Diagnostik – 895 Laboruntersuchung – 895 Nativröntgen – 896 Computertomographie – 896 Weiterführende radiologische Kontrastmitteluntersuchungen – 897 Messung des intraabdominellen Drucks – 897 Invasive Diagnostik – 897
71.5
Therapie – 899
71.5.1 71.5.2 71.5.3 71.5.4 71.5.5 71.5.6 71.5.7 71.5.8
Konservative Therapie – 899 Operative Therapie – 900 Klassifikation – 901 Zusammenfassung der Prioritäten und Laparotomieprinzipien – 901 »Damage Control« – 902 Abdominales Kompartmentsyndrom – 902 Parenchymatöse Organe – 903 Hohlorgane – 905
71.6
Postoperative Behandlung – 908
71.7
Folgeeingriffe – 908
71.7.1 71.7.2
Anus-praeter-Rückverlagerung – 908 Bauchdeckenrekonstruktion – 908
Literatur – 909
H. Burchardi et al. (Hrsg.), Die Intensivmedizin, DOI 10.1007/978-3-642-16929-8_71, © Springer Medizin Verlag Berlin Heidelberg 2011,
71
894
71
71.1
Kapitel 71 · Abdominalverletzungen
Vorbemerkung
71
Stumpfe Abdominalverletzungen treten überwiegend im Rahmen einer Polytraumatisierung auf. Daher muss bei jedem Polytrauma in Abhängigkeit von der Verletzungsschwere mit einer zunehmenden Häufigkeit von Rumpfverletzungen und damit auch von Abdominaltraumata gerechnet werden. Im Traumaregister der DGU wurde im Jahr 2008 bei 6369 polytraumatisierten Patienten mit einem ISS-Wert ≥16 in 24% der Fälle ein Abdominaltrauma diagnostiziert, die in 95% der Fälle durch eine stumpfe Verletzungen verursacht wurden. Das Abdominaltrauma kann zur Sofortletalität führen, wenn Rupturen der Aorta, anderer großer Gefäße oder von parenchymatösen Organen am Unfallort auftreten. Neben diesen schicksalhaften primär tödlichen Verläufen wird eine Frühsterblichkeit innerhalb der ersten 24 h durch Verletzungen des Körperstamms mit thorakalen und pelvinen Verletzungen oder Massenblutungen im Bereich des Abdomens verursacht. Generell gilt, dass polytraumatisierte Patienten mit Abdominalverletzungen eine höhere Gesamtverletzungsschwere aufweisen im Vergleich zu Patienten ohne Abdominalverletzungen. Das Frühversterben kann z. T. durch ein sofortiges Erkennen, eine zielgerichtete Diagnostik und schnellstmögliche Einleitung einer adäquaten Therapie reduziert werden. Daher kommt der Diagnostik des Abdominaltraumas innerhalb der ersten 1–2 h nach dem Unfall eine ganz entscheidende Bedeutung zu. Besondere Bedeutung für das Überleben und das Outcome des Polytraumapatienten hat die primär übersehene Abdominalverletzung, die eine sekundäre Gefährdung durch Blutung oder Infektion darstellt und sich negativ auf die Spätletalität auswirkt. Einfache Verletzungen, wie die der Milz oder des Darms, können bei verspäteter Behandlung durch Verbluten oder Sepsis schnell zum Tod des Patienten führen. Daher besitzen Abdominalverletzungen in der Unfallchirurgie höchste Behandlungspriorität. Man unterscheidet stumpfe von penetrierenden Traumata. Bei den stumpfen Gewalteinwirkungen sind die parenchymatösen Organe durch direkten Anprall, Scherkräfte und Dezeleration gefährdet. Penetrierende Stich-, Schuss- oder Pfählungstraumata führen v. a. zu Verletzungen der Hohlorgane. Die operative Therapie einer abdominalen Monoverletzung wird in der Regel in einer Sitzung vorgenommen. Ist die Abdominalverletzung Teil einer Mehrfachverletzung, ist es günstiger, die chirurgische Versorgung in Etappen durchzuführen. Für komplexe abdominelle Verletzungen hat sich deswegen, parallel zum Versorgungskonzept der Frakturstabilisierung durch Fixateur externe und späterem Verfahrenswechsel, beim Polytrauma das Prinzip der »damage control« durchgesetzt.
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71.2
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Präklinik
Ein Abdominaltrauma mit der Gefahr eines sich rasch entwickelnden Schockzustands muss bei jedem Patienten mit entsprechendem Unfallmechanismus, wie z. B. eine direkte oder indirekte Gewalteinwirkung auf Bauchwand, Becken, untere Thoraxapertur, Flanken oder Rücken, vermutet werden. Die primäre Untersuchung am Unfallort beinhaltet neben dem Überprüfen der Vitalfunktionen das Erfassen von Hinweisen auf perforierende Verletzungen, wie Schuss-, Stich- oder Pfählungswunden, das Erkennen von Prell- oder Gurtmarken und Schürfwunden im Bereich des Abdomens sowie weitere Hinweise auf schwere Verletzungen des Rumpfes. Dazu gehören neben der prall extendierten Bauchwand alle weiteren Auffälligkeiten im Bereich
des Thorax und des Beckens, insbesondere Hinweise auf eine knöcherne Instabilität in der manuellen Überprüfung. Nach initialer notärztlicher Versorgung zur Sicherung der Vitalfunktionen sollte ein schnellstmöglicher Transport in eine geeignete Klinik erfolgen.
Präklinische Therapie des Abdominaltraumas 4 Anlage von 2 großlumigen peripher venösen Zugängen. 4 Bei penetrierenden Verletzungen Belassen der eingedrungenen Fremdkörper (Pfählungsverletzung, Stichverletzung). 4 Abdecken von offenen Wunden oder prolabierten Intestinalorganen mit sterilem Verbandsmaterial. 4 Bei Verdacht auf Abdominaltrauma mit entsprechender Schmerzsymptomatik können Analgetika verabreicht werden. Dies kann jedoch die klinische Symptomatik verschleiern und muss in der anschließenden Diagnostik berücksichtigt werden. 4 Bei Abdominaltrauma mit Schock: Einleitung einer Schocktherapie über 2 großlumige periphere Zugänge. Ziel der Volumentherapie ist die Aufrechterhaltung eines systolischen Blutdruckes von 80–100 mm Hg, Analgesie und Sedierung, ggf. Intubation und Beatmung 4 Bei arteriellen Verletzungen ggf. Drucktamponade von starken Blutungen. 4 Schnellstmöglicher Transport in ein geeignetes Krankenhaus.
71.3
Anamnese
Eine detaillierte Anamneseerhebung ist wichtig, um die Art und Intensität der Gewalteinwirkung zu erfassen und Hinweise auf eine mögliche abdominale Verletzung zu erhalten. Stumpfe Bauchverletzungen nach Hochrasanztraumata (Sturzverletzungen nach Motorradunfällen, Risikosportarten und Berufsunfälle), Tritt- oder Schlagverletzungen sowie Dezelerationstraumata, z. B. bei Auffahrunfällen mit primär einsetzenden Rückenschmerzen (Abschertrauma) sind typische Verletzungsabläufe, die zu Abdominalverletzungen führen.
71.4
Diagnostik
71.4.1
Klinische Diagnostik
Bei einem stumpfen oder penetrierenden Abdominaltrauma kann sich jederzeit und sehr schnell eine Schocksituation mit akuter Lebensbedrohung ausbilden. Daher sollte der Patient mit dem entsprechenden Meldebild in der aufnehmenden Klinik angekündigt und im Schockraum behandelt werden. Die etablierten und standardisierten Algorithmen der Schockraumbehandlung werden angewendet [20]. Die Schockraumphase umfasst: 4 therapeutische Maßnahmen zur Sicherung und Wiederherstellung der Vitalfunktionen, 4 standardisierte klinische, prioritätenorientierte Untersuchung. Hierzu wird der Patient initial komplett entkleidet. Nach Beurteilung von Schockzeichen und Bewusstseinslage wird eine komplette Inspektion des gesamten Patienten inklusive des Rumpfbereichs durchgeführt und nach perforierenden Verletzungen, nach Prell-
895 71.4 · Diagnostik
marken, Hämatomausbildung und Schürfwunden untersucht. Die Bauchwand wird palpatorisch beurteilt und zwischen einem weichen und prall gespannten Abdomen unterschieden. Der wache und ansprechbare Patient wird nach Schmerzen befragt und die angegebene Lokalisation genau untersucht. Ein deutlich extendiertes Abdomen mit oder ohne Schmerzangabe stellt einen wegweisenden Befund dar, der eine weitere apparative und ggf. invasive Diagnostik erfordert. Um Mitverletzungen der angrenzenden Thorax- und Beckenregion zu erfassen, ist eine primäre Stabilitätsprüfung von Thorax und Becken erforderlich. Bei der rektalen Untersuchung wird auf eine Prostataluxation und Blut am Fingerling geachtet. Bei primärer Bewusstlosigkeit des Patienten wird das therapeutische Vorgehen nach der klinischen Untersuchung des Patienten vorwiegend an den Ergebnissen der apparativen Diagnostik festgelegt. Für das weitere Vorgehen bei stabilem oder gut stabilisierbarem Kreislauf müssen das penetrierende und das stumpfe Abdominaltrauma getrennt betrachtet werden. Im Folgenden werden die klinischen Befunde mit den apparativen Untersuchungsergebnissen korreliert und zeitgerecht der Bedarf an weiterführenden Untersuchungen oder akuten Therapiemaßnahmen festgelegt. ! Cave Unterscheide stumpfes vom perforierenden Abdominaltrauma.
Vorgehen bei perforierendem vs. stumpfem Bauchtrauma Im europäischen Raum ist die perforierende abdominale Verletzung deutlich seltener als die stumpfe abdominale Verletzung. Bei perforierenden Verletzungen ist die sofortige operative Revision des Abdomens erforderlich, um eine mögliche Hohlorganperforation auszuschließen und zu behandeln. Beim stumpfen Bauchtrauma kann nach Stabilisierung der Vitalfunktion entsprechend eines allgemeingültigen Schockraumalgorithmus vorgegangen werden.
er abdomineller Flüssigkeit mit einer relativen Quantifizierung der Volumenausdehnung. Es sollten folgende 3 Kategorien unterschieden werden: 4 nicht vorhanden, 4 wenig nachweisbar, 4 viel nachweisbar. Liegt keine freie abdominelle Flüssigkeit vor, ist ein Verbluten in die freie Bauchhöhle wenig wahrscheinlich, eine Organverletzung aber nicht ausgeschlossen. Wenig freie abdominelle Flüssigkeit weist auf eine intraabdominelle Verletzung hin, die weiter abgeklärt werden muss (z. B. Leberkapselruptur ohne hämodynamische Instabilität, Hohlorganverletzung). Die notfallmäßige Ultraschalluntersuchung des Abdomens erfolgt mit standardisiertem Vorgehen und überprüft das Vorhandensein von freier Flüssigkeit perisplenisch, perihepatisch, perikardial sowie im Bereich des kleinen Beckens bei möglichst gefüllter Harnblase. Zusätzlich können Pleuraergüsse und eine Perikardtamponade orientierend und sehr schnell erkannt werden. > Die FAST-Sonographie ist geeignet, den Nachweis und die Menge freier Flüssigkeit zu kontrollieren.
In mehreren prospektiv kontrollierten Studien [24] konnte gezeigt werden, dass diese wiederholten sonographischen Untersuchungen zu einer Verbesserung der Sensitivität und zu einer Reduktion von falsch-negativen Ergebnissen führte. Blackbourne et al. zeigten in einer prospektiven Studie, dass die Sensitivität der Untersuchung auf 72% und die Spezifität auf fast 97% verbessert werden konnte [3]. Die Sonographie kann sequenziell als Verlaufskontrolle eingesetzt werden, um eine Zunahme der klinischen Symptomatik, eine neu auftretende Kreislaufinstabilität oder auch eine konservative Therapie zu evaluieren. Gegebenenfalls muss eine unmittelbare Konsequenz für eine bestehende oder im Verlauf auftretende Schocksymptomatik mit Volumenbedarf gezogen und die Indikation zur sofortigen Notfalllaparotomie gestellt werden.
71.4.3 71.4.2
Laboruntersuchung
Apparative Diagnostik
Sonographie Parallel und überlappend zur Stabilisierung der Vitalfunktionen und zur klinischen Untersuchung wird eine »focused assessment sonography for trauma« (FAST) innerhalb der ersten Minuten durchgeführt, um eine unmittelbare Beurteilung der intrathorakalen und intraabdominellen Verletzungsschwere zu erhalten [31].
Zur orientierenden Untersuchung werden mit »focused assessment sonography for trauma« (FAST) die 4 standardisierten Schnitte durchgeführt: 4 Rechtslateraler Längsschnitt zur Beurteilung des Morrison-Pouch (zwischen rechtem Leberlappen und rechter Niere) und der Pleura. 4 Linkslateraler Längsschnitt zur Beurteilung des Koller-Pouch (zwischen Milz und linker Niere) und der Pleura. 4 Epigastrischer Querschnitt (Perikard, große Gefäße). 4 Suprapubischer Querschnitt (Douglas-Raum).
Im Vordergrund steht nicht die differenzierte Darstellung der Pathomorphologie einzelner Organe, sondern der Nachweis von frei-
Folgende Laboruntersuchungen sind bei einer Abdominalverletzung hilfreich: 4 Blutgruppe, 4 Kreuzprobe (Kreuzung und Bereitstellung von 6 Erythrozytenkonzentraten), 4 Hämoglobin, Hämatokrit, 4 Thrombozyten, 4 Quick-Wert, 4 Blutgasanalyse, 4 Laktat, 4 Amylase, Lipase, 4 Urinstatus. Ein erniedrigter Hämatokrit weist bis zum Beweis des Gegenteils auf eine Blutung, nicht auf »eine Verdünnung« hin. Hohe Laktatund negative Base-exzess-Werte zeigen eine drohende oder manifeste Schocksituation an. Verschlechtern sich diese Werte innerhalb der Diagnostik-/Therapiephase, kann dies ein Warnhinweis sein, dass die eingeschlagene Strategie geändert werden muss.
71
896
71 71 71 71 71 71
71.4.4
Kapitel 71 · Abdominalverletzungen
Nativröntgen
Wurde durch die vorgenannten Untersuchungen eine intraabdominelle Blutung ausgeschlossen, können folgende weiterführende Röntgenuntersuchungen indiziert sein. 4 Thoraxübersicht (. Abb. 71.1), 4 Abdomenübersicht und Linksseitenlage, 4 Wirbelsäule in 2 Ebenen, 4 Becken a.-p. In der Abdomenübersicht können Fremdkörper (z. B. Projektile) geortet, in der Linksseitenlage freie Luft nachgewiesen werden. Die übrigen Aufnahmen dienen zum Nachweis von Begleitverletzungen, die auf eine abdominelle Verletzung hinweisen.
71
71.4.5
71
Die CT-Untersuchung stellt in der Diagnostik des Bauchtraumas den Goldstandard dar und wird nach der Abdomensonographie eingesetzt und in der Regel als Polytrauma-Multislice-CT durchgeführt. Voraussetzung hierfür ist, dass der Patient kreislaufstabil ist und die Vitalfunktionen gesichert sind. Die CT-Diagnostik bietet im Rahmen der einsetzbaren Bildgebungsverfahren die beste Organdiagnostik und weist mit hoher Sensitivität und Spezifität freie Flüssigkeit nach und ermöglicht die Darstellung von Organverletzungen [33]. Durch die Verwendung von i.v.-Kontrastmittel lassen sich frische Blutungen und Gefäßverletzungen lokalisieren und die Durchblutungssituation einzelner Organe beurteilen (Beispiel: Nierenarterienverletzung mit Ischämie der abhängigen Parenchymareale). Mit der CT-Diagnostik können Verletzungen von parenchymatösen Organen, wie z. B. der Leber und der Milz, klassifiziert und damit therapeutische Entscheidungshilfen gegeben werden (. Abb. 71.2, . Abb. 71.3).
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Computertomographie
CT-Dichte-Messungen können weiterhin zur Differenzierung der Qualitäten freier Flüssigkeit beitragen (Blut/Aszites). Insbesondere eignet sich die CT zum Nachweis von Zwerchfellrupturen mit traumatischer Hernierung von abdominalen Organen in den Thorax (. Abb. 71.4). Das Retroperitoneum kann sicher dargestellt werden, die Ausdehnung von retroperitonealen oder Rektusscheidenhämatomen bestimmt und freie Luft nachgewiesen werden. Luftüberlagerungen, z. B. durch ein Hautemphysem oder starken Meteorismus, schränken die Beurteilbarkeit im Gegensatz zur Sonographie nicht ein. Die Untersuchung sollte nativ und mit Kontrastmitteln (enteral und intravenös) gefahren werden. Der Zeitaufwand einer abdominalen CT-Diagnostik beträgt heute wenige Minuten. Die Diagnostik von Hohlorganverletzungen ist auch unter Verwendung von i.v.- und oralem Kontrastmittel schwierig und kann nicht immer eine Verletzung nachweisen. Neben dem Nachweis eines direkten Kontrastmittelaustrittes ist das Vorhandensein von freier intraabdominaler oder retroperitonealer Luft mit freier Flüssigkeit ein diagnostisches Kriterium für eine Hohlorganverletzung (. Abb. 71.5). Die Indikation für eine sonographische und auch computertomographische Kontrolluntersuchung sollte bei den folgenden Organpathologien erfolgen [36]:
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. Abb. 71.2 Zentrale Leberruptur
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. Abb. 71.1 Linksseitige Zwerchfellruptur
. Abb. 71.3 Milzruptur und freie intraabdominelle Flüssigkeit
897 71.4 · Diagnostik
4 Neu auftretende Druckschmerzhaftigkeit, peritoneale Reizung des Abdomens oder Kreislaufinstabilität, 4 veränderte oder fehlende Peristaltik, 4 Anstieg von Infektparametern (Leukozyten, CRP, Laktat, Temperaturerhöhung), 4 Nachweis von freier Flüssigkeit ohne erkennbare sonstige Organläsionen, 4 freie Flüssigkeit mit Darmwandverdickung.
71.4.6
Weiterführende radiologische Kontrastmitteluntersuchungen
Die retrograde Urethrozystographie dient zum Nachweis einer Harnröhren- und Harnblasenruptur. Um eine etwaige Harnblasenruptur differenziert bilanzieren zu können, sollte immer eine Füllungs-(intraperitoneale Ruptur!) und Ablaufphase (extraperitoneale Ruptur!), angefertigt werden [23] (. Abb. 71.6).
71.4.7 . Abb. 71.4 Zwerchfellruptur
Messung des intraabdominellen Drucks
Die regelmäßige Messung des intraabdominellen Druckes wird eingesetzt, um die Entwicklung eines abdominellen Kompartmentsyndroms rechtzeitig zu erkennen. Die abdominelle Druckmessung erfolgt mit kontinuierlicher Druckbestimmung über eine liegende Blasenmesssonde. Der normale intraabdominelle Druck sollte die Grenze von 10 mm Hg nicht überschreiten. Eine pathologische Druckerhöhung besteht für den Druckbereich von >25 mm Hg. Ab dieser Druckerhöhung ist mit einer deutlichen Zunahme von posttraumatischem Organversagen, auch im Sinne eines Multiorganversagens, zu rechnen.
71.4.8
Invasive Diagnostik
Proktorektoskopie Insbesondere bei Pfählungsverletzungen und posttraumatischem peranalen Blutabgang ist diese Untersuchung indiziert, um Beckenboden- und Rektumverletzungen nachzuweisen und ggf. auch lokal zu behandeln.
Peritoneallavage Die Einführung der Peritoneallavage durch Root et al. (1965) stellte für die Diagnostik des Abdominaltraumas einen entscheidenden Fortschritt dar [25]. Abdominalverletzungen, die einer Laparotomie bedurften, konnten früher erkannt werden. Die Rate der übersehenen Verletzungen nahm ab. Gleichzeitig nahm jedoch die Zahl der unnötigen Laparotomien zu. Mit der Peritoneallavage kann lediglich die Qualität freier abdomineller Flüssigkeit geklärt werden. Bereits geringe Mengen Blut färben die Flüssigkeit rot, ohne dass sich hierdurch eine echte Entscheidungshilfe für das weitere Vorgehen ergibt. Der wesentliche Nachteil der Peritoneallavage ist die Invasivität mit einer Komplikationsrate von ca. 1% [11]. Zusätzlich bestehen Kontraindikationen. Insbesondere bei vorausgegangenen abdominalen Operationen ist die Gefahr der iatrogenen Organverletzung durch vorbestehende Verwachsungen erhöht. Im Vergleich zur Sonographie ermöglicht die Peritoneallavage keine differenzierte Organdiagnostik. Insofern wird die Methode heute nur noch selten eingesetzt.
. Abb. 71.5 Freie intra- und retroperitoneale Luft
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898
Kapitel 71 · Abdominalverletzungen
Laparoskopie
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a
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Explorative Laparotomie Als Indikationen gelten: 4 freie abdominelle Flüssigkeit und Kreislaufinstabilität nach Trauma, 4 typische Begleitverletzungen und Kardinalsymptome für ein Abdominaltrauma (Beispiel: Slice-Fraktur thorakolumbal und Bauchdeckenekchymosen; . Abb. 71.7), 4 posttraumatischer Peritonismus, 4 posttraumatische freie abdominelle Luft, 4 penetrierende, (insbesondere Schuss-) Verletzung.
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Bei thorakoabdominellen Stichverletzungen kann die Indikation zur Laparoskopie bestehen, um eine Differenzierung zwischen thorakaler und abdomineller Verletzung vorzunehmen und die Durchstichverletzung im Peritoneum zu lokalisieren. Befindet sich der Einstich an der vorderen, unteren Thoraxapertur unterhalb der Brustwarzenlinie, kann durch die Laparoskopie geklärt werden, ob der Stichkanal im Abdomen mündet. Nach einer Stichverletzung des Abdomens liegt bei ca. 30% der Patienten keine peritoneale Läsion und bei weiteren 30% trotz Perforation des Peritoneums kein therapiebedürftiger Befund vor. Daher empfiehlt sich die Laparoskopie zur Diagnostik einer abdominalen Stichverletzung [15], und es lassen sich nichttherapeutische Laparotomien, die eine messbare Morbidität aufweisen, vermeiden [8]. In der Laparoskopie lassen sich intraabdominale Läsionen solider Organe und des Zwerchfells erkennen und nicht nur die Qualität, sondern auch die Quelle freier abdomineller Flüssigkeit klären. Organe ohne Mesenterium sind jedoch nur eingeschränkt beurteilbar. Die subtile Untersuchung des gesamten Dünndarms »hand-byhand« ist anspruchsvoll und zeitintensiv. Liegt eine Läsion des Peritoneums vor, wird in der Regel laparotomiert, weil die Sensitivität der Laparoskopie für den Nachweis gastrointestinaler Verletzungen gering ist (25%) [2] und retroperitoneale Verletzungen nicht zuverlässig laparoskopisch abgeklärt werden können. Daher ist die Indikation zur Laparoskopie kritisch zu stellen. Es wird empfohlen, durch Minilaparotomie paraumbilikal den Kameratrokar einzuführen. Die Exploration geschieht optisch und mit Haltezangen sowie der Saug-Spül-Sonde. Begrenzte Monoverletzugen, z. B. der Leber oder Milz, können bilanziert und behandelt werden (z. B. Blutstillung durch Klebung mit Fibrin oder Kollagenvlies). Wird bei einer explorativen Laparoskopie eine rekonstruktiv zu behandelnde Verletzung diagnostiziert oder bleiben Zweifel, sollte die Indikation zur Laparotomie gestellt werden. Eine Voraussetzung für die Durchführung einer Laparoskopie ist Kreislaufstabilität. Bei kompromittierten Beatmungssituationen und erhöhtem Hirndruck ist die Laparoskopie kontraindiziert. Im Gegensatz zu den perforierenden Abdominaltraumata hat die Laparoskopie bei stumpfen Bauchtraumata, insbesondere beim polytraumatisierten Patienten, keinen gesicherten Stellenwert [30].
c . Abb. 71.6a–c Überrolltrauma mit C-Verletzung des Beckens und retroperitonealer Ruptur der Harnblase. a 3-D-Rekonstruktion der C-Verletzung des Beckens. b, c Urethrozystographie: Intakte Füllungsphase – kein Hinweis auf intraperitoneale Ruptur (b). In der Ablaufphase Nachweis einer extraperitonealen Ruptur (c)
Endoskopische retrograde Cholangiopankreatikographie (ERCP) Die ERCP ist bei Verdacht auf Gallengang- oder Pankreasgangverletzungen indiziert. Sie kann therapeutisch sinnvoll sein, um durch Papillotomie oder Einlage eines Stents in den Gallen- oder Pankreasgang den Abfluss von Galle oder Pankreassekret in das Duodenum zu verbessern.
899 71.5 · Therapie
a
c . Abb. 71.7 Verletzung der Wirbelsäule als typische Begleitverletzung des Abdominaltraumas, mit monosegmentaler dorsaler Spondylodese versorgt
b
71.5
Therapie
71.5.1
Konservative Therapie
Therapieziel Ziel der Behandlung ist die komplikationslose Heilung der Verletzungen unter Erhalt der Organe und ihrer Funktionen sowie Vermeidung von operationsbedingten Komplikationen nach Laparotomie, wie z. B. Platzbauch oder Narbenhernien.
Therapiemaßnahmen Verletzungen parenchymatöser Organe werden mit 10 Tage Bettruhe behandelt. Die Bauchlagerung sollte vermieden werden. Bei Pankreasverletzungen wird eine parenterale Therapie durchgeführt.
Therapieentscheidungen Die Entscheidung, ob konservativ behandelt oder operiert wird, ist abhängig vom Gesamtverletzungsmuster, von der Kreislaufstabilität und dem Schweregrad der parenchymatösen Verletzung. Die vermehrt eingesetzte diagnostische Laparoskopie könnte dazu führen, dass der Anteil an konservativen Behandlungen bei parenchymatösen Verletzungen ansteigt [14].
Fehler, Gefahren und Komplikationen Gerade beim konservativen Vorgehen fehlt die visuelle Kontrollmöglichkeit des intraabdominalen Lokalbefunds. Insofern besteht die Gefahr, Verletzungen zu unterschätzen, Begleitverletzungen zu übersehen und Komplikationen, wie z. B. erneute Blutung (Beispiel:
71
900
Kapitel 71 · Abdominalverletzungen
71
zweizeitige Milzruptur) oder Auftreten einer Peritonitis, zu spät zu erkennen.
71
Indikation
71 71 71 71 71 71 71 71 71 71 71 71 71 71 71 71 71 71 71 71 71 71 71
Die Indikation zur konservativen Therapie bei stumpfem Bauchtrauma kann dann gestellt werden, wenn das Ausmaß der intraabdominellen Verletzung mit einer Computertomographie diagnostisch abgeklärt wurde und Hohlorganverletzungen und Zwerchfellrupturen ausgeschlossen wurden. Leber und Milz sind nach stumpfen Traumata am häufigsten betroffen und machen zusammen 60–70% der Organläsionen aus [30]. Insbesondere Milz- und Leberverletzungen der Grade I und II (intrakapsuläres Hämatom bzw. kleine Lazeration) können erfolgreich konservativ mit Bettruhe behandelt werden [29]. Bei Verletzungen von parenchymatösen Organen (Milz, Leber, Niere, Pankreas) muss immer an eine begleitende Hohlorganverletzung gedacht werden. In einer retrospektiven Studie von 3089 Patienten mit stumpfen Organverletzungen fanden Nace et al. bei ca. 10% der Patienten eine zusätzliche Hohlorganverletzung [19]. Aufgrund der diagnostischen Unsicherheit sind begleitende Hohlorganverletzungen beim primär konservativen Vorgehen mit einer erhöhten Morbidität und Mortalität belastet. In der Regel ist eine intensivmedizinische Überwachung und engmaschige sonographische Befundkontrolle erforderlich. Bei höhergradigen parenchymatösen Verletzungen ist eine erneute CT-Kontrolle im Verlauf durchzuführen.
Operationsvorbereitung Die Nüchternheitsgrenze muss nicht abgewartet werden. Bei penetrierenden Verletzungen ist die Tetanusprophylaxe zu überprüfen, ggf. aufzufrischen. Ein mikrobiologischer Abstrich sowie die Photodokumentation werden vorbereitet. 6 Blutkonserven sind zu kreuzen. Wenn dies nicht abgewartet werden kann, werden Erythrozytenkonzentrate der Gruppe 0 negativ vorgehalten. Eine Antibiotikaprophylaxe, z. B. die Kombination eines 3.-Generations-Cephalosporins mit Metronidazol, wird gegeben, wenn die Laparotomie therapeutisch ist. Es wird eine Magensonde gelegt. Ein Blasenkatheter ist sinnvoll, kann aber auch intraoperativ als Cystofixkatheter unter Sicht und digitaler Kontrolle gelegt werden. Warme Decken oder Luftheizdecken (»warm-touch«) wirken der Auskühlung des Patienten entgegen. Als Saugung wird ein Cellsaver vorbereitet.
Anästhesie und Lagerung 4 Vollnarkose, Relaxierung. 4 Rückenlage, linken Arm nach Möglichkeit anlagern. 4 Der Operateur steht rechts, zwei Assistenten stehen links vom Patienten. 4 Ist eine Rektumverletzung zu vermuten, werden die Beine auf Beinhaltern gelagert, damit jederzeit die Möglichkeit zu Steinschnittlagerung und transanalem Zugang gegeben ist.
Operatives Vorgehen 71.5.2
Operative Therapie
Indikation zur Notfalllaparotomie Die Indikation zur Notfalllaparotomie (7 Übersicht) muss gestellt werden, wenn trotz suffizienter Volumensubstitutionstherapie keine ausreichende Kreislauffunktion wiederhergestellt werden kann und die klinische Symptomatik sowie sonographische Befunde eine intraabdominale Verletzung wahrscheinlich machen. Eine instabile Kreislaufsituation liegt vor, wenn der systolische Blutdruck unter 80 mm Hg beträgt bzw. wenn sich keine Stabilisierung des arteriellen Blutdrucks über 80 mm Hg erzielen lässt.
Indikation zur Notfalllaparotomie 4 4 4 4
Vermutete Hohlorganverletzung Fortgesetzt aktive intraabdominelle Blutung Prolabierte Viszera Schwere Verletzungen des Pankreas insbesondere mit Verdacht auf Gangruptur 4 Jede abdominale Schussverletzung und Stichwunde mit Penetration der Faszie
Als auffällige klinische Befunde gelten ein gespanntes Abdomen, Peritonismus, Prellmarken oder der Nachweis von Hämatomen. Der sonographische Nachweis von freier Flüssigkeit gilt als entscheidender diagnostischer Wegweiser. Gerade im Fall einer Polytraumatisierung mit hohem ISS-Score dient die rechtzeitige Laparotomie der Vermeidung von Komplikationen, wie Gerinnungsstörung, Infektion und Ausbildung eines SIRS. Selten kann hier eine diagnostische Laparoskopie eingesetzt werden.
Als Standardzugang für die notfallmäßige Laparotomie wird die mediane Laparotomie verwendet. Sie kann bei Bedarf zu einer Sternotomie erweitert werden. Nach Eröffnung des Abdomens werden die Ligg. teres und falciforme hepatis durchtrennt und alle 4 Quadranten tamponiert. Danach wird die Bauchhöhle systematisch und quadrantenweise exploriert. In der Regel beginnt die Exploration im linken oberen Quadranten, da die Milz am häufigsten betroffen ist [31]. Bei einer Milzruptur wird eine direkte Blutstillung durch die Splenektomie erreicht. Hat man eine Blutungsquelle bzw. Hohlorganverletzung entdeckt, werden diese zunächst gestillt bzw. provisorisch übernäht, bevor weiter exploriert wird. Bei Ruptur großer stammnaher Gefäße (z. B. bei Beckenfraktur) kann eine Blutungskontrolle durch eine temporäre Aortenabklemmung oder durch eine direkte manuelle Kompression erzielt werden. Die Intaktheit des Zwerchfells wird überprüft. Der MagenDarm-Trakt wird von oral nach aboral »hand-by-hand« abgesucht. Eine Mobilisierung von Darmabschnitten ist nur erforderlich, wenn Verwachsungen vorliegen. Ein Kocher-Manöver zur Mobilisierung und Exploration des Duodenums ist bei Verdacht auf eine Duodenalverletzung indiziert. Zuletzt sollte immer auch die Bursa omentalis eröffnet und exploriert werden, um Pankreas und Magenhinterwand einzusehen. Dies geschieht am besten durch Lösen der Verklebungen zwischen Colon transversum und Omentum majus, wo man entlang des Mesotransversums in die Bursa omentalis gelangt. Bei penetrierenden Verletzungen sollten alle retroperitonealen Hämatome exploriert werden, da Projektile bei Schussverletzungen typischerweise einen unberechenbaren Zickzack-Verlauf durch das Abdomen nehmen und multiple Organläsionen hervorrufen können. Bei schweren diffusen Blutungen aus parenchymatösen Organen, aber auch bei Ausbildung eines retroperitonealen Hämatoms bei Beckenfraktur und Zerreißung des sakralen Plexus, stellt die
71
901 71.5 · Therapie
Kompression und Tamponade durch das Packing mit Bauchtüchern eine schnelles und sicheres Verfahren zur Blutungskontrolle dar.
versagen sowie nach Verletzungsschweregrad und entsprechender notwendiger Therapie mit Punkten (»Scoring«) von 1= minimal, 2= gering, 3= mäßig, 4= schwer oder 5= maximal, bewertet.
Packing Beim Packing erfolgt die Kompression der Blutungsregion oder des verletzten Organs durch eine zirkuläre Tamponade mit Bauchtüchern. Bei der Leber ist zunächst die vollständige Mobilisation durch Durchtrennung der Ligg. falciforme, triangulare und coronare erforderlich. Bei Leberverletzungen stellt das Packing oftmals die initiale Behandlung dar. In der weiteren Folge ist nach Stabilisierung der Allgemeinsituation und Restitution der plasmatischen Gerinnung die Entfernung der Bauchtücher nach 2–3 Tagen erforderlich. Gelingt ein direkter Verschluss der Bauchdecke nach Packing des Bauchraums nicht, wird der temporäre Verschluss unter Vakuumtherapie erreicht.
Sondersituation perforierendes Bauchtrauma Bei perforierenden Verletzungen im kranialen Abschnitt des Bauchraums können begleitende Verletzung des Thorax und des Perikards auftreten. Insbesondere muss ein Pneumothorax und eine Perikardtamponade ausgeschlossen werden. Bei abdominellen Schussverletzungen wird die Indikation zur notfallmäßigen Laparotomie auch beim kreislaufstabilen Patienten gestellt. Auch bei Stichverletzungen wird die Indikation zur operativen Inspektion des Bauchraums gestellt. In Abhängigkeit vom Verletzungsausmaß kann eine Laparoskopie oder eine Laparotomie durchgeführt werden. Sowohl beim stumpfen wie beim penetrierenden Trauma kann nach einem Stufenschema vorgegangen werden (. Abb. 71.8).
71.5.3
Klassifikation
Nach Borlase u. Moore [4] kann das Abdominaltrauma nach dem Abdominal Trauma Index klassifiziert werden. Die einzelnen Organe werden nach Risikofaktoren für Komplikationen wie Abszedierung, Darmfistel, Wundinfektion, Pneumonie oder Multiorgan-
71.5.4
Zusammenfassung der Prioritäten und Laparotomieprinzipien
> Erste Priorität bei der explorativen Laparotomie hat die Blutungskontrolle.
Die Blutungskontrolle kann erreicht werden: 4 direkt: 5 Koagulation, 5 Klebung, 5 Ligatur, 5 Umstechung, 5 Naht, 5 Wrapping, 5 Omentoplastik, 4 indirekt: 5 temporäre Einstromdrosselung, 5 Tamponade, 5 Entfernung des blutenden Organs. Die Einstromdrosselung funktioniert über die zuführenden Hauptgefäße: 4 Leber: Lig. hepatoduodenale (Pringle-Manöver), 4 Mesenterium, Milz, Niere: subdiaphragmale Aorta, 4 Becken: infrarenale Aorta. Ziele der Einstromdrosselung sind: 4 Kreislaufstabilität wiederzuherstellen, 4 Zeit zur Bilanzierung der Verletzung zu gewinnen, 4 über Organerhalt, Teil- oder Komplettresektion entscheiden zu können.
Bauchtrauma
penetrierend
Stumpf
Schock, freie abdominelle Flüssigkeit
Kreislaufinstabil, freie abdominelle Flüssigkeit
Schock
Kreislaufinstabil
Stich
Schuss/Pfählung
CT, ggf. Kontrollsonographie CT
Laparatomie
Laparoskopie/ Laparatomie
Laparatomie
. Abb. 71.8 Algorithmus für stumpfe und penetrierende Bauchtraumata
Laparoskopie/ Laparatomie
Laparatomie
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71 71 71 71 71 71 71 71 71 71 71 71 71 71 71 71 71 71
Kapitel 71 · Abdominalverletzungen
Gerade bei Patienten im Volumenmangelschock ist das sicherste Verfahren zur Blutstillung anzuwenden. In der Regel bedeutet dies die Entfernung der Milz bei Milzverletzung. Ist man sich sicher, dass eine zweite Niere vorhanden ist, die eine normale Durchblutung aufweist, kann in dieser chirurgischen Notsituation auch die verletzte Niere zugunsten einer suffizienten Blutstillung geopfert werden.
Im Rahmen einer »Second-look-Operation« werden 24–48 h später die Verletzungen definitiv chirurgisch versorgt, d. h. die Komplettierung der Blutstillung, erweiterte Resektionen, die Wiederherstellung der Darmpassage und ggf. die Anlage von Stomata und Drainagen vorgenommen [27].
> Zweite Priorität hat die Beseitigung der Kontamination.
71.5.6
Hohlorganverletzungen werden verschlossen. Bei verletzten Darmabschnitten gilt die Regel, so viel wie nötig und so wenig wie möglich zu resezieren. Prinzipiell ist auf eine ausreichende Mobilisation für eine gute Übersicht, genaue Beurteilbarkeit und eine spannungsfreie Anastomosentechnik zu achten. Ist der Patient kreislaufstabil, kann die Darmpassage durch einfache Anastomosen primär wieder hergestellt werden.
Das abdominale Kompartmentsyndrom tritt am häufigsten nach Abdominaltrauma auf. Die Inzidenz wird mit ca. 6% nach einem Abdominaltrauma angegeben [12]. Besonders gefährdet für die Entwicklung eines Kompartmentsyndroms sind Patienten, die nach Abdominaltrauma mit einer »Damage-control-Operation« behandelt wurden. Ätiologisch kommt ein abdominales Kompartmentsyndrom häufig nach Packing von schweren intraabdominellen Blutungen sowie bei ausgedehnten Hämatomen im Retroperitoneum und Becken vor (7 Übersicht). Es kann sich auch bei Massentransfusion und Volumentherapie zur Behandlung von Volumenmangelschock als generalisiertes Ödem des Gastrointestinaltrakts entwickeln.
71.5.5
»Damage Control«
Bei der Notfallversorgung von mehrfachverletzten Patienten mit Abdominaltrauma steht die Wiederherstellung stabiler Verhältnisse mit einem minimalen operativen Trauma im Zentrum der Versorgungsstrategie [27]. Die Polytraumapatienten sind durch Hypovolämie, Koagulopathien und Hypothermie vital gefährdet. Die chirurgischen Aufgaben bestehen in der Blutungskontrolle, der Dekontamination und dem provisorischen Bauchdeckenverschluss (. Tab. 71.1). Das bedeutet: In kürzest möglicher Zeit werden aktive Blutungsquellen zuverlässig verschlossen, z. B. durch Splenektomie bei Milzblutung und durch Packing von blutenden Leberläsionen oder diffusen Blutungsquellen mit Tamponade der parakolischen Rinnen und des Beckens. Aufwendige und langdauernde intraabdominale Rekonstruktionen werden nach Stabilisierung des Patienten auf einen sekundären Zeitraum verschoben. Nach der Lavage aller 4 Quadranten werden Organläsionen nur dann repariert, wenn dies ohne großen Aufwand zur kurzfristigen Stabilisierung der Gesamtsituation beiträgt. Hohlorganverletzungen werden reseziert. Transmurale Läsionen des Gastrointestinaltrakts werden im Sinne eines Resektions-Débridements behandelt. Auf eine Rekonstruktion der Darmpassage wird verzichtet und die Darmenden durch Klammernähte ohne Anastomosierung oder Stomaanlage blind verschlossen. Das tamponierte Abdomen wird ohne Drainageneinlage temporär verschlossen. Ziel dieser Maßnahmen ist es, den Allgemeinzustand des Patienten zu stabilisieren.
71 71
. Tab. 71.1 Damage-control-Konzept Indikationen
71 71
Polytraumapatienten, die an mehreren Körperregionen Verletzungen aufweisen, die primär versorgt werden müssen Drohender oder manifester Schock Hypothermie
71 71 71
Gerinnungsstörung Chirurgische Aufgaben
Blutungskontrolle Dekontamination Provisorischer Bauchdeckenverschluss
Abdominales Kompartmentsyndrom
Ätiologie des abdominalen Kompartmentsyndroms 4 Nach Packing von intraabdominellen Blutungen 4 Bei ausgedehnten Blutungen und Hämatomen im Retroperitoneum und Becken 4 Nach Massentransfusion als generalisiertes Ödem des Gastrointestinaltrakts 4 »capillary-leak-syndrome« mit diffuser Vermehrung der subperitonealen interstitiellen Flüssigkeit 4 Peritonitis
Definition Das abdominale Kompartmentsyndrom ist als intraabdominale Druckerhöhung >25 mm Hg definiert.
Die abdominale Druckmessung wird kontinuierlich über einen Druckabnehmer im Blasenkatheter vorgenommen. Das abdominale Kompartmentsyndrom tritt klinisch häufig in Kombination mit weiteren Organdysfunktionen in Erscheinung. Typischerweise werden eine respiratorische Insuffizienz mit erhöhten Beatmungsdrücken, eine Reduktion des Herzminutenvolumens, prärenales Nierenversagen sowie Hypoxie und Hyperkapnie beobachtet [7]. Zur Prävention eines Multiorganversagens muss rechtzeitig eine entlastende Laparotomie vorgenommen werden und ein temporäres Laparostoma angelegt werden. Der passagere Bauchdeckenverschluss wird unter Verwendung von Folienverbänden in Kombination mit Vakuumversiegelung vorgenommen. Die Bauchhöhle wird bis zum definitiven Verschluss etappenlavagiert, d. h. in 2- bis 3-tägigen Intervallen revidiert. Vakuumverbände werden auf ein folienarmiertes Bauchtuch gelegt, das mit seiner Folienseite dem großen Netz aufliegt. Die Versiegelung erfolgt ebenfalls mit Folie (. Abb. 71.9). Der negative Vakuumsog soll 20 cm Wassersäule nicht übersteigen. Kann das Abdomen nach multiplen Etappenlavageoperationen nicht mehr direkt verschlossen werden, wird der Bauchdeckenverschluss durch Meshgraft, die auf eine Netzblombe oder auf ein Vicrylnetz zwischen den Faszien platziert wird, sekundär herbeigeführt [5].
903 71.5 · Therapie
Konservative Therapie. Bei limitierten Milzverletzungen, wie z. B.
oberflächlichen Rissbildungen oder subkapsulären Hämatomen, sollte möglichst ein konservativer Therapieversuch unternommen werden, der bei ca. 90% der Patienten erfolgreich zum Abschluss gebracht werden kann. Bei etwa 10% der primär konservativ behandelten Patienten muss bei Therapieversagen eine sekundäre Laparotomie, meist innerhalb der ersten 24 h, vorgenommen werden. Operative Therapie. Ziel der Laparotomie ist die schnellstmög-
. Abb. 71.9 Passagerer Bauchdeckenverschluss mit Vakuumverband beim abdominalen Kompartmentsyndrom
liche Kreislaufstabilisierung, die am einfachsten durch eine totale Splenektomie zu erzielen ist. Wenn der Blutverlust 25% der Milz (Grad V) werden in ca. 25% aller Milzläsionen beobachtet. z Therapie Bei ca. der Hälfte der Patienten mit einer Milzruptur erfordert die Zunahme von freier Flüssigkeit mit initialem Verbrauch von mehr als 2 Blutkonserven oder instabile Kreislaufverhältnisse eine notfallmäßige Laparotomie.
Die Leber ist beim stumpfen Bauchtrauma in 15% verletzt. In Anlehnung an Moore et al. 1995 [18] wird eine eingängige Klassifikation vorgeschlagen (. Tab. 71.3). Der rechte Leberlappen ist in 70%, der linke in 15% betroffen, in weiteren 15% beide Leberlappen. Die operative Versorgung ist ab Grad II relativ, ab Grad III absolut indiziert. Die Letalität nach stumpfem Lebertrauma ist deutlich höher als die nach perforierender Verletzung [29] und von der Schwere und der Ausdehnung des Traumas abhängig. Liegt nach einem stumpfen Bauchtrauma eine Monoverletzung der Leber vor, ist mit einer Letalität von ca. 10% zu rechnen, die nach Verletzung von 3 intraabdominalen Organen auf bis zu 60% ansteigt. Schwere Leberrupturen kommen v. a. beim Polytrauma vor und weisen innerhalb der ersten 48 h eine hohe Letalität auf, die . Tab. 71.3 Schweregradeinteilung von Leberverletzungen
. Tab. 71.2 Schweregradeinteilung von Milzverletzungen
Schweregrad
Kennzeichen
Schweregrad
Kennzeichen
I
Kapselriss Subkapsuläres Hämatom
I
Subkapsuläres Hämatom Kapselriss (nicht blutend)
II
Stichverletzung (wenig blutend)
II
blutender Kapselriss
III
III
Ruptur von Trabekelgefäßen
Blutende Ruptur Verletzung von Gallengängen Nekrosen
IV
Ruptur von Segment- und Hilusgefäßen
IV
Verletzung von Pfortaderästen
V
Hilus- oder Totalruptur
V
Verletzung von V.-cava-Ästen
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Kapitel 71 · Abdominalverletzungen
im Wesentlichen durch das Ausmaß der Parenchymzerstörung und zentralen Gefäßbeteiligung, dem Blutungsschock und Koagulopathien, aber auch durch Begleitverletzungen verursacht ist. Große Parenchymeinrisse in nur einem Leberlappen (Grad IV) weisen eine Letalität von 30% auf. Bei einer ausgedehnten beidseitigen Parenchymzerstörung oder bei Verletzungen der Lebervenen oder retrohepatischen V. cava (Grad V) steigt die Letalität auf bis zu 66% an [6, 1]. Bei den Begleitverletzungen stehen thorakale und pulmonale Verletzungen im Vordergrund sowie schwere Verletzungen weiterer intraabdomineller Organe, wie z. B. eine Milzruptur. z Therapie Schwere Leberrupturen haben wegen des hohen Blutverlustes höchste Dringlichkeit in der Versorgung. Zur übersichtlichen Exposition von Leberrupturen empfiehlt sich die mediane Laparotomie, damit auch intraabdominelle Begleitverletzungen beurteilt und therapiert werden können. Zunächst wird das Hämatom ausgeräumt und die Leber adäquat mobilisiert. Hierfür werden die Ligg. teres hepatis und falciforme bis auf die suprahepatische V. cava, die Ligg. triangularia und coronarium durchtrennt. Es werden sowohl der linke als auch der rechte Leberlappen so weit mobilisiert, dass eine suffiziente Tamponade möglich ist. Einfache Dekapsulierungen und oberflächliche Einrisse machen 70–80% aller Leberverletzungen aus und können durch temporäre Kompression, Parenchymnaht, Infrarot- oder Argonplasmakoagulation sowie Aufbringen von Hämostyptika (Kollagenvlies, Fibrinkleber) lokal behandelt werden. Große Rupturen bedürfen der temporären Tamponade mit Bauchtüchern, die Leber sollte möglichst zirkulär komprimiert werden. Wenn sich die Blutungssituation nicht stabilisieren lässt, kann mit dem Pringle-Manöver der gesamte arterielle und portalvenöse Zustrom durch Okklusion des Lig. hepatoduodenale mit einem Zügel abgeklemmt werden. Auf diese Weise kann es gelingen, Blutungen aus Pfortaderoder Leberarterienäste zu stillen, Nekrosen zu débridieren und Parenchymverletzungen selektiv zu versorgen. Hierbei sollten tiefe Parenchymdurchstechungen vermieden werden, um ischämisch bedingte Lebernekrosen sowie Abflussstörungen von Lebervenen und Gallengängen zu verhindern. Lassen sich Blutungen durch das Pringle-Manöver (maximal 60 min) und die Tamponade nicht beherrschen, dann sind Verletzungen der Lebervenen oder der retrohepatischen V. cava anzunehmen (Grad V). Die Blutstillung erfordert dann das Ausklemmen der suprahepatischen und infrahepatischen V. cava inferior, um einen Überblick zu bekommen. Die V. cava wird unterhalb der Leber nach einem Kocher-Manöver angezügelt und abgeklemmt. Oberhalb der Leber kann sie nach vollständiger Durchtrennung der Ligg. falciforme und triangulare dexter sowie ihres peritonealen Überzugs unterfahren und abgeklemmt werden. Danach wird die Leber von rechts so weit mobilisiert, dass eingerissene V.-cava-Äste zur Darstellung kommen und übernäht werden können. Ausgedehnte Resektion, wie z. B. die anatomische Hemihepatektomie oder atypische Leberresektionen sollten nur in Ausnahmefällen bei ausgedehnten Parenchymzerstörungen eingesetzt werden. Das Leber-Packing setzt eine vollständige Mobilisation des Organs voraus (7 oben). Dabei wird die Hauptmasse der Bauchtücher dorsal parakaval beidseits sowie zwischen Leberunterfläche und rechter Kolonflexur eingelegt. Es ist darauf zu achten, dass das Packing die retrohepatische V. cava und den Lebervenenabstrom nicht kompromittiert. Bei hilusnahen Verletzungen der großen Gefäße ist diese Methode nicht anwendbar. Die Letalität liegt je nach Schweregrad der Verletzung bei 10–60%. Die Operation wird im Sinne
. Tab. 71.4 Schweregradeinteilung von Pankreasverletzungen Schweregrad
Kennzeichen
I
Kontusion Oberflächlicher Organeinriss
II
Tiefe Rissverletzung Keine Gangbeteiligung
III
Distale Ruptur mit Gangbeteiligung
IV
Proximale Ruptur mit Beteiligung der Ampulla Vateri
V
Massive Pankreasdestruktion
der »damage control« mit einem Leber-Packing und temporärem Bauchdeckenverschluss abgeschlossen [6]. Second-look-Operationen sind in zweitäglichen Intervallen vorzusehen. Nach Entfernen der Bauchtücher und Bluttrockenheit können Kollagenvliese auf die Leberläsionen zur Abdichtung aufgelegt werden. Sehr effektiv gegen Nachblutungen und Infektionen ist die Omentoplastik. Hierzu wird das Omentum majus soweit mobilisiert, dass ein Omentum-Flap in die Leberläsion platziert werden kann. Dieser dichtet die Leberwunde binnen kürzester Zeit ab. Das Abdomen wird dann nach Platzierung von Zieldrainagen verschlossen. z Komplikationen Nachblutungen kommen vorwiegend nach Grad-III- bis -V-Verletzungen vor. Des Weiteren können sich postraumatische Nekrosen, Abszesse und Biliome, v. a. in intrahepatischen Hohlräumen, ausbilden. Die chirurgische Therapie besteht im Débridement, Einlage von Zieldrainage, ERCP und Papillotomie sowie ggf. Einlage einer nasobiliären Sonde, um den Galleabfluss zu erleichtern. Gallefisteln treten mit einer Inzidenz von bis zu 20% auf. Die Therapie umfasst die Punktion sowie die externe oder interne Drainage. Unter verbesserten Galleabflussbedingungen zeigt die Gallefistel eine gute Abheilungstendenz [22]; ggf. ist eine zusätzliche Stenteinlage in die Gallenwege erforderlich.
Pankreas Das Pankreas liegt retroperitoneal und ist aufgrund dieser Lokalisation vor Verletzungen relativ geschützt. Durch die Lage ventral der Wirbelsäule ist das Pankreas nach lokalisiertem stumpfem Anpralltrauma (Pferdetritt, Fahrradlenker), insbesondere bei schlanken Patienten, gefährdet. Es bedarf jedoch einer erheblichen Gewalteinwirkung, damit es zu Pankreasverletzungen kommt. Die Inzidenz der Pankreasverletzung ist beim stumpfen Abdominaltrauma mit ca. 1–4% relativ gering. Daneben können penetrierende Verletzungen zu Pankreasverletzungen führen. Patienten mit Pankreasverletzung weisen in einem hohen Prozentsatz abdominale Begleitverletzungen auf. Pankreasverletzungen können nach Moore in die in . Tab. 71.4 dargestellten Schweregrade eingeteilt werden. Neben Kontusionen und Rissverletzungen ohne Gangbeteiligung (entsprechend Grad I–II, etwa 70%) können Organrupturen und Parenchymdestruktionen mit Gangbeteiligung entstehen (Grad III–V). z Diagnostik In der CT-Untersuchung kann der Nachweis einer ödematösen Pankreasschwellung oder einer Flüssigkeitsansammlung peripankreatisch oder in der Bursa omentalis ein radiologischer Hinweis auf
905 71.5 · Therapie
eine Pankreasverletzung sein. Oftmals ist die CT-Diagnostik nicht eindeutig und lässt keine Aussage über das Verletzungsausmaß treffen oder sogar die Pankreasverletzung nicht detektieren. In einer Studie von Ilahi et al. wurde bei 80% der Patienten die Pankreasverletzung nicht erkannt und erst intraoperativ nachgewiesen und bei 30% die Schwere der Pankreasverletzung unterschätzt [13]. Typische intraoperative Befunde sind das subkapsuläres Hämatom, Fettnekrosen, Pankreasödem, gallige Inhibierung des peripankreatischen Weichgewebes. In der Primärdiagnostik ist die Bestimmung der Serumamylase nicht als Indikator einer Pankreasverletzung geeignet, da die Serumamylase nicht mit der Verletzungsschwere korreliert. z
. Tab. 71.5 Schweregradeinteilung von Nierenverletzungen nach American Association of Surgical Trauma (AAST)
Therapie
Schweregrad
Kennzeichen
I
Kontusion Oberflächliches Hämatom
II
Oberflächlicher Riss Keine Beteiligung des Kelchsystems
III
Riss >1 cm Keine Urinextravasation
IV
Durchgehende Parenchymläsion Verletzung von Kelchen und Hilusgefäßen
V
Massive Nierendestruktion Nierenstielabriss
Konservative Therapie. Die Indikation für eine konservative The-
rapie wird bei Pankreasverletzungen Grad I–II ohne Peritonitiszeichen und ohne klinische Verschlechterung gestellt. Der Patient wird parenteral ernährt unter gleichzeitiger Antibiotikaabschirmung. Zur Sekretreduktion wird Somatostatin appliziert. Operative Therapie. Die Operationsindikation ergibt sich aus dem
klinischem Bild des akuten Abdomens oder dem computertomographischen Nachweis einer Pankreasverletzung mit parapankreatischem Paravasat, das die Fascia Gerota nicht respektiert. Der Zugang erfolgt über die Bursa omentalis entlang des Mesocolon transversum, wobei das Netz am Magen belassen wird. Kontusionen oder oberflächliche Rupturen des Organs ohne Ruptur des Ductus Wirsungianus werden gezielt drainiert. Die Linksresektion ist indiziert, wenn eine Komplettruputur links von der Mitte des Organs vorliegt. Liegt die Ruptur rechts von der Mitte, wird das Pankreas nach proximal übernäht. Das distale Pankreas wird über eine Pankreatikoileostomie an die Darmpassage angeschlossen. Damit kann der Pankreasschwanz und die Insulinkompetenz erhalten werden. Bei einer vollständigen Zerstörung des Organs kann auch die Duodenopankreatektomie notwendig werden. z Komplikationen An Komplikationen müssen vorwiegend Abszesse (75%), Pankreasfisteln (31%) und die Pankreatitis (19%) behandelt werden [32]. Klinisch am relevantesten ist die Pankreasfistel, die mit einer externen Drainage behandelt werden kann und hierunter spontan ausheilt. Nur selten ist ein Sekundäreingriff mit interner Drainage (Pankreatikojejunostomie) erforderlich. Pankreaspseudozysten entstehen als Folge einer inadäquaten Drainage oder übersehener Gangverletzungen.
Niere Die meisten Nierenverletzungen werden durch ein stumpfes Trauma verursacht und treten am häufigsten nach Verkehrs- und Sportunfällen auf. Der Anteil der Nierenverletzungen an der Gesamtzahl der Traumapatienten beträgt ca. 2–5%. Schuss- und Stichverletzungen sind die häufigsten Ursachen für eine perforierende Verletzung. Die Nierenverletzungen werden nach der Klassifikation der American Association of Surgical Trauma (AAST) in 5 Schweregrade eingeteilt (). Nach stumpfem Trauma treten schwere Nierenverletzungen relativ selten auf. Vorerkrankte Nieren sind mit einem höheren Verletzungsrisiko assoziiert. Ein wichtiges klinisches Zeichen einer Verletzung des harnableitenden Systems kann eine Makro- oder Mikrohämaturie oder Blutaustritt aus dem Meatus sein. z Diagnostik Diagnostisch wird neben der Urindiagnostik die Sonographie eingesetzt, um freie intraabdominale Flüssigkeit oder Verletzungen des
Nierenparenchyms zu erkennen. Die Sonographie dient der ersten Evaluierung des Nierentraumas, ist aber nicht geeignet, den Schweregrad der Verletzung oder die Nierenfunktion abzuschätzen. Eine genaue Beurteilung der Nierenverletzung wird mit der CTUntersuchung unter Verwendung von i.v.- Kontrastmittel vorgenommen und die Lokalisation und Tiefe der Verletzung bestimmt. In der Kontrastmittelphase ist eine Gefäßverletzung mit konsekutiver Ischämie von abhängigen Parenchymarealen erkennbar. In der Ausscheidungsphase können Verletzungen des Hohlsystems sowie eine Urinextravasation diagnostiziert werden. z
Therapie
Konservative Therapie. Der Großteil der Nierenverletzungen
kann konservativ behandelt werden [23]. Ziel der Behandlung ist es, so viel Nierenfunktion wie möglich zu erhalten. Verletzungen des Hohlsystems mit Ausbildung eines Urinoms, die nicht vom Nierenbecken ausgehen, heilen in der Regel konservativ aus. Gegebenenfalls ist eine vorübergehende Schienung und Harnableitung erforderlich. Operative Therapie. Eine absolute Operationsindikation besteht
nur bei einem massiven renalen Blutverlust sowie bei Nierenstielverletzungen, insbesondere, wenn ein pulsierendes und expandierendes Hämatom beobachtet wird [23]. Es sollte ein ausreichendes Débridement von devaskularisiertem Gewebe erfolgen und das Hohlsystem und Parenchymdefekte verschlossen werden. Die Indikation zur Nephrektomie kann bei schwerer Nierenverletzung eines kreislaufinstabilen polytraumatisierten Patienten gegeben sein.
71.5.8
Hohlorgane
Magen Eine Verletzung des Magens nach stumpfem Abdominaltrauma ist selten, da der linke Rippenbogen und die muskelstarke Magenwand einen guten mechanischen Schutz vor Verletzung und Perforation bieten. Magenwandverletzungen werden im Rahmen von Anpralltraumata mit Kompression des Magens gegen die Wirbelsäule und bei Einwirkung von Scherkräften beobachtet. Bei perforierenden Abdominalverletzungen wird eine Verletzung der Magenwand mit 20% wesentlich häufiger beobachtet [21]. z Therapie Die Magenperforation stellt eine Indikation zur Laparotomie dar. Für den Magen gilt, dass die gesamte Hinterwand exploriert wer-
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Kapitel 71 · Abdominalverletzungen
den muss. Hierfür ist die Eröffnung der Bursa omentalis vom Colon transversum her erforderlich. Perforationen werden im Gesunden exzidiert und dann vorzugsweise quer übernäht. Liegt die Perforationsstelle an der großen Kurvatur, wird das Netz vom Magen abpräpariert und am Colon transversum belassen. Derartige Perforationen lassen sich leicht keilexzidieren (Wedge-Resektion). Der Magen wird zweireihig fortlaufend mit einem monofilen, resorbierbaren Faden der Stärke 3-0 genäht. Die innere Naht fasst die Mukosa zur Blutstillung mit, die äußere Naht soll die Lefzen invertierend verschließen. Eine doppellumige Magensonde sollte einerseits den Magen, andererseits das Duodenum drainieren. Liegt eine subtotale Zerstörung des Magens vor, wird die Diskontinuitätsresektion vorgenommen und sekundär die Passage durch eine hochgezogene Jejunumschlinge nach Y-Roux wiederhergestellt. z Komplikationen Nach stumpfen Magentraumata können subphrenische Abszesse und Pleuraempyeme bei Begleitverletzungen des Zwerchfells auftreten.
Duodenum Das Duodenum liegt überwiegend retroperitoneal und ist durch die damit verbundene Ummantelung beim stumpfen Bauchtrauma relativ geschützt. Das Duodenum weist eine unmittelbare anatomische Nähe zum Pankreas und zum Ductus choledochus auf und wird in 4 Duodenalabschnitte (intraperitoneal, Papillenregion, Pars horizontalis, Pars ascendens) eingeteilt. Klinisch ist die abdominale Schmerzsymptomatik, die durch die retroperitoneale Reizung verursacht ist, durch eine uncharakteristische Schmerzlokalisation und -ausstrahlung sowie eine typische zeitliche Verzögerung gekennzeichnet. Neben den Zeichen des Peritonismus kann ein galliges Erbrechen auftreten und sich bei einer Duodenalperforation im weiteren Verlauf eine Peritonitis mit Anstieg der Entzündungsparameter entwickeln. Der diagnostische Nachweis von freier intraabdominaler oder retroperitonealer Luft kann mit einer konventionellen Abdomen- und Thoraxübersichtsaufnahme oder besser mit einem Computertomogramm gelingen. Die Duodenalverletzungen werden nach Moore in 5 Grade eingeteilt [31] (). z Therapie Intraoperativ sind eine gallige Imbibition, Luftblasen anterolateral des Duodenums und im Mesocolon transversum sowie retroperitoenales Blut oder Ödem verdächtig auf eine Duodenalperforation. Die meisten Duodenalverletzungen werden nach perforierendem
71 71
. Tab. 71.6 Schweregradeinteilung von Verletzungen des Duodenums Schweregrad
Kennzeichen
I
Hämatom Serosaverletzung
II
Transmurale Läsionen 50% der Zirkumferenz
IV
Transmurale Läsion mit Verletzung von Papille und Choledochus
71
V
Devaskularisierung und Pankreasverletzung
71 71 71
Trauma oder Gurtverletzungen mit begleitenden Wirbelsäulenfrakturen beobachtet. Einfache Lazerationen, die in ca. 80% der duodenalen Verletzungen auftreten, können übernäht werden. Einblutungen in die Duodenalwand resorbieren sich spontan und können konservativ behandelt werden. Bei Duodenalverletzungen wird das Duodenum zunächst nach Kocher mobilisiert. Die Perforation wird längs exzidiert und quer, einreihig und fortlaufend vernäht. Ist eine direkte Naht nicht möglich, wird in den Defekt eine hochgezogene Jejunumschlinge eingenäht (Rekonstruktion nach Y-Roux mit End-zu-Seit- oder End-zuEnd-Anastomose).
Dünndarm und Dickdarm Verletzungen des Dünn- und Dickdarms treten nach einem stumpfen Abdominaltrauma relativ selten auf (Inzidenz 2–3,6%) [10] und sind schwer zu diagnostizieren, da die initiale Symptomatik klinisch inapparent ist. Vorwiegend ist der Dünndarm betroffen (93%), Verletzungen des Kolons und Rektums sind weniger häufig (30%) [35]. Dezelerationstraumata führen überwiegend zu Abscherverletzungen. Nach einem perforierenden Abdominaltrauma sind Dünndarm- und Magenwandverletzungen die häufigsten Organverletzungen des Gastrointestinaltrakts. In der radiologischen Diagnostik lassen sich ggf. freie intraabdominale Luft, Raumforderungen und Flüssigkeitsansammlungen nachweisen. z
Therapie
Konservative Therapie. Die Indikation zur konservativen Therapie
von Dünndarmverletzung kann bei unkomplizierten Wand- oder Mesenterialhämatomen gestellt werden. Operative Therapie. Verletzungen des GI-Traktes werden meist im Rahmen einer Laparotomie oder Laparoskopie aufgrund anderer dominierender Begleitverletzungen festgestellt oder erst im Rahmen der weiterführenden Diagnostik (CT mit oraler und/oder rektaler Kontrastmittelgabe) bei klinischer Verschlechterung des Patienten nach primär konservativem Vorgehen entdeckt. In der Mehrzahl besteht der intraoperative Befund in einer muralen Hämatombildung oder Deserosierung (Grad I) und in 1/4 der Fälle in einer traumatischen Perforation des Lumens (Grad II) [26]. Bei stumpfen Abdominalverletzungen können multiple Darmläsionen mit unterschiedlichen Lokalisationen auftreten, die bei ca. 1/4 der Patienten mit Dünn- oder Dickdarmverletzungen vorkommen. Operative Therapie von Jejunum- und Ileumverletzungen. Ein-
blutungen in die Dünndarmwand oder kleinere Deserosierungen (Grad I) können übernäht werden. Transmurale Läsionen (Grad II/ III, 50% der Zirkumferenz) können je nach lokaler Ausdehnung des Defekts durch Einzelknopfnaht quer verschlossen oder kurzstreckig mit primärer Anastomose reseziert werden. Ausgedehnte Mesenterialeinrisse in Kombination mit Perfusionsstörungen des Darms erfordern eine primäre Resektion mit oder ohne Anastomose. Bei einer Perforation wird der Defekt längs exzidiert und allschichtig extramukös quer vernäht (fortlaufend, einreihig, monofil, 4-0). Größere Wanddefekte werden reseziert. Die Anastomose muss im gut durchbluteten Gewebe spannungsfrei angelegt werden. Blutungen aus dem Mesenterium werden übernäht. Ischämische Darmabschnitte werden reseziert. Bestehen Zweifel an der Vitalität von Darmabschnitten oder ist der Patient in einem kritischen Schockzustand, werden die Darmenden nach der Resektion mit Klammernähten blind verschlossen (»damage control«). Bei einer Second-look-Operation nach 1–2 Tagen kann dann die Durchblu-
907 71.5 · Therapie
tung der belassenen Abschnitte geprüft und die Anastomose (wie oben beschrieben) angelegt werden. Für reine Dünndarm- und Dünndarm-Dickdarm-Anastomosen ist keine orthograde intraoperative Darmspülung (»wash-out«) erforderlich. Wichtig aber sind das sorgfältige Entfernen von Blut und Darminhalt aus der Peritonealhöhle und die ausführliche Spülung des Abdomens. Typisch für die abdominelle Stichverletzung ist die Eventeration und Inkarzeration von Dünndarmanteilen, die durch die Bauchpresse durch den Stichkanal nach außen gedrückt werden. Diese Situation muss möglichst schnell aufgehoben werden. Ohne weitere Diagnostik wird die Laparotomie durchgeführt, die eventerierten Dünndarmanteile werden reponiert, da sonst die Inkarzeration und Strangulation in kürzester Zeit zur Dünndarmnekrose führen.
Loop-Stoma oder ein terminales Stoma mit Blindverschluss des aboralen Stumpfs, anzulegen. Die Prognose der Dickdarmverletzung ist von der rechtzeitigen Diagnose und Einleitung der Therapie abhängig, da durch die Perforation eine Peritonitis und damit Infektion mit Multiorganversagen ausgelöst werden kann. Die Letalität und das Risiko für septische Komplikationen steigt bei perforierenden Kolonverletzung deutlich an und wird durch eine verzögerte Versorgung nach >12 h nochmals verschlechtert. Diese Patienten weisen ein 3-fach erhöhtes Risiko auf, nach Kolonperforation zu sterben [16]. Eine weitere Gefährdung geht von einer Anastomoseninsuffizienz aus, die typischerweise zwischen dem 5. und 7. postoperativen Tag manifest wird.
Kolon
Rektum, Anorektum
Nur etwa 10–20% der Kolonverletzungen treten isoliert auf. Sie gehören zu den häufigsten «missed injuries« [9]. Ursachen dieser initialen Fehleinschätzung sind die geringe Sensitivität der radiologischen Notfalldiagnostik, die Maskierung durch schwerwiegende Begleitverletzungen, die erschwerte klinische Einschätzung des intubierten Patienten sowie zweizeitige Hohlorganperforationen. Aufgrund der größeren Mobilität ist das linke häufiger als das rechte Hemikolon betroffen.
Intraperitoneale Verletzungen des Rektums werden entsprechend den Therapieprinzipien des Kolons behandelt. Bei extraperitonealen Verletzungen des Rektums und des Anus ist in der Regel keine Resektion erforderlich. Sie werden entweder von abdominal oder transanal übernäht und drainiert. Es empfiehlt sich dann die Anlage eines doppelläufigen protektiven Anus praeter, der auch vor den Komplikationen der Anastomoseninsuffizienz und Ausbildung einer Stuhlfistel schützt. Zur Ausleitung sind das Sigma oder terminale Ileum geeignet. Wichtig ist, dass dabei das protektive Stoma die Stuhlpassage in den abführenden Schenkel komplett blockiert.
z
Therapie
Operative Therapie. Alle intraperitoneal lokalisierten Kolonverlet-
zungen müssen operativ versorgt werden. Die Dickdarmwand ist dünner als die Dünndarmwand. Bei einer traumatischen Perforation sind deshalb die an den Defekt angrenzenden Wandanteile im Dickdarmbereich immer so mitverletzt, dass eine einfache Exzision und die direkte Übernähung sehr risikoreich und die Wundheilung gefährdet sind. Sicherer ist es deshalb, den Dickdarmabschnitt im gesunden Segment zu resezieren und den Defektverschluss mit primärer Anastomose in einem vitalen Bereich auszuführen. Vor der Anastomosierung sollte eine intraoperative, orthograde Darmspülung (»wash-out«) erfolgen. Zu diesem Zweck wird appendektomiert und über den Appendixstumpf ein großlumiger Katheter eingeführt. Das gesamte Kolon wird soweit mobilisiert, dass man bis zur Resektionsstelle den Darm (zuführenden Schenkel) mit warmer Ringer-Lösung orthograd sauber spülen kann. Die Spüllösung wird über einen großlumigen Ablauf, der im Resektionsstumpf wasserdicht verankert ist, abgeleitet. Der abführende Schenkel wird ebenfalls entweder orthograd oder retrograd nach anal hin oder von anal her gespült. Am so vorbereiteten Darm wird die Dickdarmanastomose in fortlaufender, einreihiger Nahttechnik oder mit dem von rektal eingeführten Zirkular-Stapler spannungsfrei und gut durchblutet angelegt. Verschlechtert sich der Kreislaufzustand intraoperativ, ist es wiederum günstiger, die Darmenden nach der Resektion blind zu verschließen und die Passage bei einer Second-look-Operation wiederherzustellen. Ist auch dies mit einer zu großen Belastung für den Patienten verbunden, wird der Dickdarm über ein endständiges Stoma ausgeleitet. Das therapeutische Vorgehen wird vom Allgemeinzustand des Patienten, der Verletzungsschwere, den Risikofaktoren sowie den intraoperativen Befunden abhängig gemacht und individuell angepasst. Bei Polytraumatisierung, bei Kreislaufinstabilität, Blutverlust von >1 l, Katecholaminpflichtigkeit, fortgeschrittenem Patientenalter, kardiopulmonalen Begleiterkrankungen, langer Latenzzeit bis zur Versorgung sowie bei ungünstigen intraoperativen Voraussetzungen (Stuhlkontamination, Kontusionen, Hämatombildung und Peritonitis) ist die Anlage eines Stomas, wie z. B. ein protektives
Zwerchfell Zwerchfellverletzungen kommen mit einer Inzidenz von 4–6% bei stumpfen Abdominal- und Thoraxtraumata vor. Die linke Seite ist 10-mal häufiger als die rechte Seite betroffen. Für die Zwerchfellruptur typisch ist, dass sie meist erst verzögert diagnostiziert wird, wenn nicht primär eine Laparotomie aus anderer Indikation notwendig ist. Die nicht erkannte Zwerchfellruptur, die mit einer Inkarzeration von abdominalen Organen kompliziert sein kann, ist mit einer hohen Letalität behaftet [28]. z Diagnostik Diagnostisch ist die konventionelle Röntgenaufnahme wenig aussagekräftig, und der radiologische Nachweis der linksseitigen Zwerchfellruptur gelingt nur in 25–40%, obwohl in 85% die Thoraxaufnahme pathologisch ist [34]. Der Nachweis einer Zwerchfellruptur ist auch mit der CT-Diagnostik nicht immer eindeutig und kann bei kleinen Rupturen ohne Enterothorax übersehen werden. z Therapie Die Zwerchfellruptur stellt eine absolute Operationsindikation dar. Es können pulmonale Beeinträchtigungen, sekundäre Organschäden durch Verlagerung in den Thorax mit Inkarzeration, Strangulation und Blutungen resultieren. Wenn das Perikard zerrissen ist, kann es auch vice versa zur Subluxation des Herzens in das Abdomen kommen. Durch Zug an den Koronarien resultiert ein Gefäßspasmus, der zum kardialen Schock führen kann. Linksseitige Rupturen sind besser von abdominal, rechtsseitige Rupturen von thorakal anzugehen. Linksseitig müssen in der Regel prolabierte Organe reponiert werden, rechtsseitig verhindert die Leber eine abdominale Naht des Zwerchfells. Bei der frischen Ruptur kann das Zwerchfell in der Regel direkt genäht werden (Einzelknopf, kräftiger, resorbierbarer Faden). Ist der Defekt nicht verschließbar, kann ein Kunststoffnetz (Vicryl-Prolene) eingenäht werden. Vor Beendigung des Eingriffes wird eine Thoraxdrainage eingelegt.
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908
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Kapitel 71 · Abdominalverletzungen
71.6
Postoperative Behandlung
Offene Bäuche im Etappenlavageprogramm indizieren eine parenterale Ernährung, bis eine suffiziente Peristaltik einsetzt. Bauchlagerung ist in dieser Phase nicht möglich. Zieldrainagen nach Bauchdeckenverschluss können nach 2–3 Tagen entfernt werden. Besteht besonders nach Splenektomie der Verdacht auf Pankreassekretion in die Drainage, kann man Amylase und Lipase aus dem Sekret bestimmen. Bestätigt sich der Verdacht, sollte die Drainage bis zur Selbstabdichtung des Pankreaslecks belassen werden. Retroperitoneale Zieldrainagen nach Rektumverletzungen bleiben 7 Tage vor Ort, um eine Nahtinsuffizienz frühzeitig zu erkennen und ggf. auf diesem Weg zu behandeln. Das Risiko einer Postsplenektomiesepsis beträgt beim Traumapatienten 1,4%. Perioperativ ist deshalb eine einmalige Antibiotikaprophylaxe mit einem Breitspektrumpenicillin oder 3. Generation Cephalosporin sinnvoll. Zur Vermeidung von Sekundärinfektionen durch Pneumokokken kann die Impfung (Pneumovax 23) durchgeführt werden. 3 Wochen nach Splenektomie werden die Patienten mit einem polyvalenten Pneumokokken-Polysaccharid-Impfstoff immunisiert. Alle Patienten mit parenchymatösen intraabdominellen Organläsionen sollten zunächst für 10 Tage Bettruhe einhalten, um die Gefahr einer zweizeitigen Ruptur oder Rezidivblutung zu minimieren, es sei denn, das Organ wurde entfernt. Nach Naht am Gastrointestinaltrakt wegen perforierender Verletzung wird zunächst über 3–5 Tage parenteral ernährt. Setzen dann Darmgeräusche ein, kann mit dem vorsichtigen Kostaufbau (Tee, Suppe, Flüssignahrung, Joghurt, Zwieback) über mehrere Tage stufenweise begonnen werden. Nach Anlage eines Stomas ohne Anastomose kann die Ernährung zügiger aufgebaut werden. Abführende Maßnahmen sollten vorzugsweise mit Klysmen und Einläufen starten. Erst sekundär werden peristaltikstimulierende Medikamente (Neostigmin, Metoclopramid, Ceruletid) eingesetzt. Nicht selten durchbricht eine diagnostische Gastrographinpassage den Obstipationszustand. Gegen Blähungen helfen warme Bauchwickel und Sab-simplex. Tipp Die Stuhlregulation gelingt am besten über eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr. Nach einer Abdominalverletzung sollte der Stuhlgang weich gehalten werden. Neben viel Flüssigkeit kann hierfür etwas Rizinusöl oder Laktulose zugesetzt werden.
71 71 71 71 71 71 71 71
Durchfälle, die auf ein Kurzdarmsyndrom zurückzuführen sind, können medikamentös durch antiperistaltische Medikamente (z. B. Loperamid, ggf. Opioide) beeinflusst werden. Gegen den Gallesäureverlust können gallesäurebindende Substanzen wie Cholestyramin eingesetzt werden. Zudem müssen der Vitaminmangel, insbesondere B12, und der Eisenmangel, behoben werden. Bei bakterieller Überwucherung werden Antibiotika, insbesondere Tetracyclin und Metronidazol, eingesetzt. Pankreasfermente und H2-Antagonisten können die Situation weiter verbessern. Ein Kurzdarmsyndrom stellt eine Indikation zur stationären Weiterbehandlung in einer geeigneten Reha-Klinik zur medikamentösen Einstellung dar.
. Abb. 71.10 Bauchdeckenrekonstruktion bei großer Narbenhernie nach medianer Laparotomie durch Netzimplantation in Sublay-Technik
71.7
Folgeeingriffe
71.7.1
Anus-praeter-Rückverlagerung
Die Anus-praeter-Rückverlagerung nach protektivem Stoma oder endständiger Ausleitung (z. B. Hartmann-Operation) kann frühestens 6 Wochen nach der Primäroperation erfolgen. Besser ist es, einen längeren Zeitraum, z. B. 6 Monate, abzuwarten, bis die Verwachsungen besser gelöst werden können. Vor der Anus-praeterRückverlagerung sollten Stenosen im abführenden Schenkel, z. B. durch Kontrasmitteleinlauf, ausgeschlossen werden. Darüber hinaus muss die Sphinkterfunktion überprüft werden (Tonus, Manometrie, Quarkeinlauf).
71.7.2
Bauchdeckenrekonstruktion
Resultierende Hernien, seien es kleine Narbenhernien oder große Abdominalhernien nach offen gelassenem Abdomen, sind eine absolute Indikation zur operativen Reparation. Kleine Hernien können direkt oder durch Doppelung, große Hernien durch Bauchdeckenplastiken, Kunststoffnetze oder Cutisplastik verschlossen werden (. Abb. 71.10). Zusammenfassung Abdominalverletzungen gefährden den Patienten vital und erfordern ein standardisertes Management. Stumpfe Abdominalverletzungen treten überwiegend im Rahmen einer Polytraumatisierung auf. Neben der klinischen Untersuchung sind die Multislice-CT und die Sonographie die Säulen der Diagnostik. Die rechtzeitige Behandlung bestimmt die Prognose. Zur Senkung von Mortalität und Morbidität sowie Organ- und Funktionserhalt werden konservative und operative Therapieverfahren differenziert eingesetzt. Die operative Strategie berücksichtigt den Gesamtzustand des Patienten, extraabdominelle Begleitverletzungen und zielt auf die Vermeidung von Komplikationen: Verbluten, Sepsis, Kompartment- und Kurzdarmsyndrom. Bei Komplexverletzungen wird nach dem Prinzip der »damage control« vorgegangen. Daher ergibt sich häufig die Indikation zur Second-look-Operation. Im eigenen Krankengut ist die Milz (53%) gefolgt von der Leber (24%) am häufigsten betroffen. Hohlorganverletzungen fanden sich bei 14% der Patienten. Die Mortalität betrug nach Polytraumatisierung bei gleichzeitiger Abdominalverletzung 18%.
909 Literatur
Literatur 1 2 3
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9 10 11
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71
911
Brandverletzungen N. Pallua, E. Demir
72.1
Grundlagen und allgemeine Aspekte – 912
72.1.1 72.1.2 72.1.3 72.1.4 72.1.5 72.1.6 72.1.7 72.1.8
Einleitung – 912 Pathophysiologie der Verbrennungswunde – 912 Evaluation der Verbrennungstiefe und Flächenausdehnung – 912 Systemische Auswirkungen einer Verbrennung – 914 Begleitverletzungen – 916 Chemische Verbrennungen und Stromverletzungen – 917 Erstversorgung am Unfallort – 918 Aufnahme und Primärversorgung im Verbrennungszentrum – 919
72.2
Intensivmedizinisch relevante plastisch-chirurgische Aspekte – 920
72.2.1 72.2.2
Oberflächliche Verbrennungen – 920 Tiefgradige Verbrennungen – 921
72.3
Intensivmedizinische Therapie bei Verbrennungen – 924
72.3.1 72.3.2 72.3.3 72.3.4 72.3.5 72.3.6 72.3.7 72.3.8
Schmerztherapie und Sedierung – 924 Flüssigkeitsmanagement – 925 Temperaturmanagement – 925 Respiratorisches Management bei Verbrennungen – 925 Grundlagen in der Behandlung von Infektionen – 925 Ernährungstherapie – 927 Besonderheiten in der Behandlung von Kindern mit Verbrennungen – 928 Besondere Aspekte in der Behandlung von geriatrischen Patienten – 929
Literatur – 930
H. Burchardi et al. (Hrsg.), Die Intensivmedizin, DOI 10.1007/978-3-642-16929-8_72, © Springer Medizin Verlag Berlin Heidelberg 2011,
72
912
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Kapitel 72 · Brandverletzungen
72.1
Grundlagen und allgemeine Aspekte
72.1.1
Einleitung
Verbrennungsverletzungen in ihrer gesamten Bandbreite benötigen grundsätzlich eine adäquate Erstbehandlung vor Ort und im Anschluss eine kompetente Folgebehandlung. Das Überleben, die private und berufliche Rehabilitation mit Wiederherstellung von Funktion und Ästhetik sind eine große Herausforderung für das gesamte Kompetenzteam, das sich aus Spezialisten für Plastische und Rekonstruktive Chirurgie, Anästhesie und Intensivmedizin, besonders spezialisiertem Pflegepersonal sowie Physio- und Ergotherapie, Psychologie und Ernährungstherapie zusammensetzt [19]. Brandverletzungen sind Folge einer traumatischen Schädigung der Haut durch Hitzeeinwirkung. Die Bandbreite von thermischen Verletzungen reicht von Verbrennungen, Verbrühungen über chemische Verätzungen bis zu Elektroverbrennungen. Während Verbrennungen durch Flammen oder durch Kontakt mit heißen Gegenständen entstehen, werden Verbrühungen durch heiße Flüssigkeiten oder heißen Dampf verursacht. Nichtthermische Noxen wie z. B. elektrischer Strom oder Strahlung können analoge Hautschäden hervorrufen. Die chemische oder toxische Hautschädigung wird schließlich aufgrund ihrer pathophysiologischen Ähnlichkeit zu Verbrennungen als Paraverbrennung bezeichnet [11]. Die klinischen Verläufe nach Verbrennungen reichen von leichten Bagatellverletzungen bis hin zu lebensbedrohlichen Traumata mit der Notwendigkeit einer Intensivtherapie und operativen Maßnahmen. Die adäquate Behandlung einer thermischen Verletzung erfordert die genaue initiale Beurteilung der Brandwunden und eventueller Begleitverletzungen. Zum einen wird die Verbrennungstiefe abgeschätzt, daraus erfolgt die Indikation zur konservativen oder operativen Behandlung. Zum anderen ist die Ausdehnung des thermischen Schadens bezogen auf die gesamte Körperoberfläche und die Lokalisation der Verletzung von Bedeutung. Das Vorliegen eines Inhalationstraumas und anderer Begleittraumata (z. B. Augenverletzungen, Schädel-Hirn-Trauma, Knochenbrüche, innere Verletzungen) müssen genau diagnostiziert bzw. ausgeschlossen werden. Wichtige therapeutische Entscheidungen in dieser ersten Behandlungsphase beeinflussen den Therapieverlauf und schließlich das Outcome in entscheidendem Ausmaß [9, 16–18].
Pathophysiologie der Verbrennungswunde
72
72.1.2
72
Die Tiefenausdehnung der Hautschädigung ist bei Verbrennungen abhängig von 4 der Höhe der einwirkenden Temperatur und 4 der Zeitdauer der Hitzeeinwirkung.
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Ab einer Temperatur von 40°C treten Störungen von Enzymen und Strukturproteinen durch Denaturierung auf. Reparaturmechanismen können diese zwar zunächst noch kompensieren, bei zunehmender Temperatur kommt es allerdings zu irreversiblen Zellschädigungen. Die kritische Temperatur irreversibler Schädigungen der Zellen wird mit 50–53°C angegeben. Bei Temperaturen über 65°C genügt bereits eine Expositionsdauer von weniger als 1 s, um eine Koagulationsnekrose mit Proteindenaturierung hervorzurufen. Das hitzetransportierende Medium beeinflusst die Einwirkdauer der Wärme dabei erheblich. Luft beispielsweise speichert bei gleicher Temperatur weniger Wärme als Wasser. Im Vergleich hierzu ist heißes Fett ein sehr potenter Wärmespeicher [6].
. Abb. 72.1 Verbrennungszonen nach Jackson: Hyperämie (A), Zone der Stase (B), Koagulationszone (C)
Verbrennungszonen nach Jackson Wenngleich das Übergangsareal von Brandwunde zu ungeschädigter Haut bei der Inspektion oft als scharfe Grenze erscheint, so spiegelt dies nicht die tatsächliche Wundsituation wider. Im Zentrum der Brandwunde findet sich die sog. Koagulationszone, hier ist die Gewebeschädigung am größten. Eine zelluläre Regeneration ist aufgrund von Proteindenaturierung und dadurch bedingter Koagulationsnekrose in dieser Zone nicht möglich. Konzentrisch um die Koagulationszone herum schließen sich Zellen aus der Zone der Stase an. Diese die zentrale Nekrosezone umgebenden Zellen sind nicht irreversibel geschädigt. Als Folge einer progressiven Durchblutungsverminderung kann die Nekrose in diese Zone fortschreiten. > Es gilt, die Perfusion und damit den Sauerstofftransport in diesen Arealen zu verbessern und somit weitere Zelluntergänge (sog. »Nachbrennen«) zu verhindern.
In der äußeren Zone der Hyperämie findet sich nur eine minimale Zellschädigung bei Vasodilatation und Hyperämie aufgrund freigesetzter Entzündungsmediatoren [6, 9]. Diese Einteilung der Verbrennungswunde in 3 konzentrische Zonen nach Jackson aus dem Jahr 1953 ist unerlässlich, um eine korrekte chirurgische Therapie durchführen zu können (. Abb. 72.1).
72.1.3
Evaluation der Verbrennungstiefe und Flächenausdehnung
Verbrennungstiefe Die Einteilung der Verbrennungstiefe erfolgt in 3 Schweregrade (I– III). In der englischsprachigen Literatur ist die 2002 von der European Burn Association (EBA) vorgeschlagene Klassifikation zu finden, die sich an dem anatomischen Aufbau der Hautstrukturen orientiert und Verbrennungen nach ihrer histopathologischen Ausdehnung einteilt (. Tab. 72.1). z Verbrennung I. Grades Bei Verbrennungen I. Grades ist nur die oberflächliche Hautschicht, die Epidermis (Oberhaut), betroffen (. Abb. 72.2). Die Haut ist aufgrund der ausgeprägten Vasodilatation gerötet, überwärmt und weist ein oberflächliches Ödem auf. Eine Blasenbildung ist nicht zu beobachten. Innerhalb von wenigen Tagen erfolgt eine spontane Abheilung ohne Narbenbildung.
913 72.1 · Grundlagen und allgemeine Aspekte
. Tab. 72.1 Klassifikation der Verbrennungstiefe nach der European Burn Association (EBA) EBA-Klassifikation
Geschädigte Hautstruktur
„superficial burns»
Nur die Epidermis betroffen
»superficial partial thickness burns«
Epidermis und papilläre Dermis sind geschädigt
„deep dermal partial thickness burns»
Epidermis und die retikuläre Dermis betroffen
»full thickness burns«
Epidermis und gesamte Dermis betroffen, ggf. sind zusätzlich das subkutane Fettgewebe, Faszien, Muskeln oder Knochen durch die Verbrennung geschädigt
. Abb. 72.3 Verbrennung Grad IIa
. Abb. 72.4 Verbrennung Grad IIb, typisches Mischbild mit IIa-gradigen Anteilen nach dem Aufnahme-Débridement
Grad IIa. Bei oberflächlich II.-gradigen Verbrennungen sind die Epi-
. Abb. 72.2 Verbrennung Grad I
z Verbrennung II. Grades Verbrennungen II. Grades stellen keine einheitliche Entität dar, es besteht zumeist ein Mischbild aus oberflächlicher und tief dermaler Schädigung der Lederhaut. Aufgrund der dermatohistopathologischen Veränderungen ist eine Einteilung in oberflächliche (IIa) und tiefe (IIb) II.-gradige Läsionen sinnvoll. Klinisch ist diese Differenzierung von großer Bedeutung, da oberflächlich II.-gradige Verbrennungen unter kontrollierter konservativer Therapie zumeist narbenfrei abheilen können. Tiefere, IIb-gradige Läsionen hingegen stellen in Abhängigkeit von der betroffenen Körperregion eine Operationsindikation dar und können nicht ohne Narbenbildung abheilen.
dermis und die oberflächliche Koriumschicht geschädigt (. Abb. 72.3). Die Durchblutung der Haut wird über den subdermalen Gefäßplexus gewährleistet. Die Hautanhangsgebilde wie Haarwurzeln und Hautdrüsen sowie Nervenendigungen bleiben weitgehend erhalten. Klinisch zeigt sich eine erythematöse Hautveränderung mit Blasenbildung. Nach Abtragung der Blasen bleibt ein rötlicher gut perfundierter Wundgrund, der schmerzhaft ist, zurück. Beim sog. Ritztest finden sich auf Anritzen der Haut mit einer Kanüle kapilläre Blutungen aus der papillären Dermis. In der Regel heilen oberflächliche II.-gradige Verbrennungen innerhalb von 2–3 Wochen unter einer kontrollierten topischen Therapie ohne Narbenbildung ab. Nach Abschluss der Epidermisregeneration endet die Schmerzhaftigkeit der Wunde. Rötungen oder livide Verfärbungen können noch über mehrere Wochen persistieren. Erfolgt nur eine protrahierte inkomplette Abheilung des Epitheldefektes, so ist von einer Schädigung im Sinne einer tiefdermalen Verbrennung oder Verbrühung auszugehen [9]. Grad IIb. Bei tief II.-gradigen Verbrennungen reicht die Schädigung
bis in die tiefe Koriumschicht. Das klinische Erscheinungsbild ist variabel (. Abb. 72.4). Einerseits können sich dickwandige Blasen mit weißlichem Wundgrund finden, andererseits kann die Blasenbildung auch wegen der aufliegenden Nekroseschicht fehlen. Charakteristisch für die tiefe Verbrennung II. Grades ist die beginnende
72
914
Kapitel 72 · Brandverletzungen
geschlagen, welche eine sehr genaue altersabhängige Berechnung der verbrannten Areale ermöglichen.
72
> Die Prognose eines Verbrennungsopfers hängt wesentlich vom flächenhaften Ausmaß der Verbrennung und der Verbrennungstiefe ab. Ab einer Schädigung von 25%VKOF wird von einer schweren Brandverletzung gesprochen.
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Die Ausdehnung der betroffenen Wundfläche und die Wundtiefe beeinflussen neben den Begleiterkrankungen signifikant die Überlebensprognose [18, 19].
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72.1.4
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. Abb. 72.5 Tiefe Verbrennung mit den Graden IIb und III, (* = Grad III mit Beteiligung von Faszien, Sehnen, Muskelgewebe und Knochen)
Zirkulationsstörung im subkorialen dermalen Gefäßnetz. Die Wunden erscheinen weiß bis elfenbeinfarben. Die Sensibilität ist durch die Zerstörung der sensiblen Nervenendigungen deutlich vermindert. Im Ritztest finden sich nur verzögert und vereinzelt kapilläre Blutungen. Die spontane Abheilung von Verbrennungen Grad IIb erfolgt stark verlangsamt über mehrere Wochen. Neben einer verlängerten Heilungsperiode ist die Gefahr von unvorteilhaften hypertrophen und instabilen Narben bei einem konservativen Vorgehen erhöht. Daher besteht eine absolute Operationsindikation. z Verbrennung III. Grades Die bei III.-gradigen Verbrennungen entstehende Nekrose umfasst sämtliche Hautschichten und kann das subkutane Fettgewebe sowie tiefere Schichten und Strukturen mit einbeziehen. Klinisch zeigen diese Verletzungen eine blasse bis bräunliche oder dunkelrote Kolorierung (. Abb. 72.5). Die Haut ist dabei trocken und lederartig. Der Ritztest fällt negativ aus, und die Sensibilität ist vollständig aufgehoben. Es besteht eine absolute Indikation zur Operation mit Nekrektomie der verbrannten Haut und definitiver autologer oder temporärer allogener Defektdeckung, in Abhängigkeit von der betroffenen Körperregion und dem Allgemeinzustand des Patienten [9].
Ausdehnung der Verbrennung Das Flächenausmaß einer Brandverletzung wird angegeben als prozentualer Anteil der verbrannten Areale an der gesamten Körperoberfläche, der sog. verbrannten Körperoberfläche (VKOF in%). Eine einfache, direkt am Unfallort grob orientierende Methode zur Ermittlung des Verbrennungsausmaßes ist die Flächenabschätzung mit Hilfe der gesamten Handinnenfläche des Patienten, die ca. 1% der Gesamtkörperoberfläche ausmacht. Die genauere 1951 von Wallace aufgestellte »Neuner-Regel« teilt den Körper eines Erwachsenen in jeweils 9% der Körperoberfläche umfassende Regionen. Kopf, Thorax, Bauch, obere und untere Rückenpartie, 2× ein Arm, 2× ein Bein ventral und 2× ein Bein dorsal mit je 9% ergeben 99% und werden um 1% Anteil für den Genitalbereich vervollständigt. Für die Berechnung der VKOF bei Kindern ist diese Regel modifiziert und an die veränderten Körperproportionen angepasst, so u. a. an den relativ größeren Anteil des Kopfes mit relativ geringerem Anteil der Extremitäten. Bei Kleinkindern wird die Gesamtfläche der Beine um 9% auf 27% (36–9%) zugunsten des Kopfes 18% (9+9%) reduziert. Zur exakten klinischen Berechnung der VKOF eignen sich Tabellen, wie beispielsweise von Lund und Browder vor-
Systemische Auswirkungen einer Verbrennung
Verbrennungsverletzungen stellen eine traumatische Schädigung des größten Organs des menschlichen Organismus dar – der Haut. Diese schützt den Menschen vor physikalischen Umwelteinflüssen wie Hitze, Kälte und Strahlung. Die Thermoregulation des Körpers läuft wesentlich über die vasomotorische Regulation des Kapillarnetzes der Haut. Erhalt von Homöostase, Schutzbarriere gegenüber Parasiten und pathogenen Mikroorganismen, Initiierung humoraler und zellulärer Abwehrmechanismen, sensorische Interaktion mit der direkten Umgebung und Vitamin-D-Produktion sind weitere essenzielle Funktionen dieses Organs. Diese Hautfunktionen werden bei Verbrennungsverletzungen wesentlich beeinträchtigt. Teilweise sind die Schädigungen reversibel, sodass die Integrität der Haut komplett wiederhergestellt werden kann. Bei schweren Verletzungen allerdings ist eine Restitutio ad integrum nicht mehr möglich – es findet eine Defektheilung statt. ! Cave Bei ausgedehnten Verbrennungen >20% verbrannter Körperoberfläche (VKOF) ist die Schädigung so groß, dass es zu systemischen Störungen mit lebensbedrohlichen oder gar tödlichen Verläufen kommt.
Die lokale Aktivierung der Gewebsmakrophagen führt zur gesteigerten Freisetzung von Entzündungsmediatoren und proinflammatorischen Zytokinen. Eine systemische Entzündungsreaktion, systemic inflammatory response syndrome (SIRS), und die Ausbildung eines sog. »capillary leak« sind die Folge [6, 19]. Die Flüssigkeitsverschiebungen können derartig hohe Volumenverluste verursachen, dass es zu einem hypovolämischen Verbrennungsschock kommt. Ein Verbrennungsschock resultiert aus dem Zusammenspiel von Hypovolämie und der Ausschüttung verschiedener Mediatoren [20].
Ödeme Im Rahmen des »capillary leak« findet eine Extravasation von Plasma in die Verbrennungswunden und das umliegende Gewebe statt. Die Menge der Ödembildung hängt von der Flächenausdehnung der Verbrennung sowie der Art und Menge der Volumenersatztherapie ab. Der Wassergehalt im brandverletzten Organismus zeigt in der ersten Phase einen plötzlichen raschen Anstieg in den ersten Stunden nach thermischem Trauma, gefolgt von einer zweiten Phase mit stufenweise ablaufender Ödembildung in den ersten 12–24 h. Dabei führt die Volumenersatztherapie zu einem erhöhten Blutfluss und einem Druckanstieg im Kapillarbett, welches zu einem weiteren Flüssigkeitsaustritt beiträgt. Ohne Volumenersatz limitiert sich die Ödembildung durch fallendes Plasmavolumen und absinkende Kapillardrücke, da unter normalen physiologischen Bedingungen der Blutdruck in den Kapillaren eine Filtration von Flüssigkeit in das Interstitium bewirkt.
915 72.1 · Grundlagen und allgemeine Aspekte
Zur physiologischen Ödembildung kommt es, wenn der transvaskuläre Flüssigkeitsstrom die Drainagekapazität des Lymphsystems überschreitet. Bei einer Brandverletzung kommt es zu einer direkten oder zu einer über Mediatoren induzierten Veränderung in der Gefäßpermeabilität für Wasser und kleinmolekulare Substanzen. Eine begleitend erhöhte Proteinpermeabilität der Kapillarendothelien führt über eine Reduzierung des resorptiven onkotischen Gradienten zu einer Erhöhung der Nettoflüssigkeitsfiltration. Weitere Faktoren stellen ein hydrostatischer Druckanstieg in den Kapillaren in den ersten Stunden nach einer Verbrennung und die Entwicklung eines stark negativen interstitiellen hydrostatischen Druckes mit einer Saugkraft für Flüssigkeit vom intravaskulären zum interstitiellen Raum hin dar. Da proteinreiche Flüssigkeit in den Brandwunden verloren geht, sinkt der kolloidosmotische Druck bei Verbrennungspatienten erheblich (bis zu 50% der Norm). Ödeme werden nicht nur in direkt verbrannten Weichteilen beobachtet. Großflächige Verbrennungen führen auch zu einem erhöhten Wassergehalt im gesamten Organismus, bereits ab 10% VKOF. Ursachen hierfür liegen ebenfalls in einer Steigerung des transkapillären Flüssigkeitsflusses, einem Anstieg der Kapillarpermeabilität und als Folgen einer anhaltenden Hypoproteinämie. Neben einer Schädigung der endothelialen Kapillarwände verursacht eine Brandverletzung auch Veränderungen in den Zellmembranen mit Rückgang der Membranpotenziale. Direkt verletzte Zellen, mit zerstörter Zellmembran, schwellen durch Natrium- und Flüssigkeitseinstrom an. Die Anschwellung von Zellen, die nicht direkt von einer Verbrennung betroffen sind, ist vergleichbar mit den Veränderungen eines hämorrhagischen Schocks [18, 19, 21].
Immunantwort auf eine Brandverletzung Ein ausgedehntes Verbrennungstrauma hat neben der lokalen Schädigung der Haut auch weit reichende systemische Auswirkungen, die insbesondere das Immunsystem betreffen und damit eine multifaktorielle Schädigung des Körpers bewirken. Durch das thermische Trauma werden – ausgehend von den hitzegeschädigten Hautarealen – zelluläre und humorale Mechanismen in Gang gesetzt. Initial entwickelt sich eine lokal begrenzte Entzündungsreaktion, die klinisch einhergeht mit einer Hyperämie und Gewebeschwellung. Gewebsmakrophagen, durch Zelldetritus und Toxine angelockt, setzen ihrerseits proinflammatorische Zytokine frei, die weitere zelluläre Entzündungsreaktionen aktivieren. Diese Mediatoren spielen eine wichtige, komplexe Rolle in der Pathogenese von Ödemen und kardiovaskulären Störungen. Die gesteigerte vaskuläre Permeabilität nach einem thermischen Trauma wird von Histamin und vasoaktiven Substanzen wie z. B. dem Serotonin, Bradykinin, den Prostaglandinen und Leukotrienen beeinflusst. Der Hypermetabolismus wird durch Hormone wie z. B. Glukagon, Cortisol und Katecholamine reguliert. Histamin verursacht nach dessen Freisetzung von Mastzellen thermisch verletzter Gewebe Lücken zwischen den Endothelzellen. Es ist wahrscheinlich verantwortlicher Mediator für eine erhöhte Gefäßpermeabilität in der frühen Phase der Verbrennung. Prostaglandine sind Gewebshormone, die aus verbranntem Gewebe und Entzündungszellen freigesetzt werden und zur inflammatorischen Reaktion infolge einer Verbrennung beitragen. Thromboxane, lokal in der Verbrennungswunde produziert, können durch eine Senkung des Blutflusses eine Zunahme der Ischämiezone in der Verbrennungswunde begünstigen. Kinine, wie das Bradykinin, sind wichtige Mediatoren im Rahmen der Ödembildung und entzündlichen Reaktion. Katecholamine werden in hoher Konzentration nach einer Brandverletzung freigesetzt und bewirken u. a. eine Vasokonstriktion via α1-Rezeptoren. In Kombination mit der Hypovolämie
wird eine Senkung des Kapillardruckes und damit eine Reduktion der Ödembildung erreicht. Nachteilig wirkt sich die Beeinträchtigung der mikrovaskulären Durchblutung in der bereits vorgeschädigten Zone der Stase aus. Es besteht die Gefahr eines »Nachbrennens« sowie einer renalen Minderperfusion. Unterstützt werden die zellulären Mechanismen durch enzymatische Reaktionskaskaden des Komplementsystems und der Blutgerinnung. Alle diese beschriebenen Vorgänge dienen grundsätzlich der erleichterten Migration von Entzündungszellen in Richtung des Fokus sowie dem Abbau von nekrotischem bzw. infiziertem Gewebe [20–23, 25]
Akute hämodynamische Folgen von Brandverletzungen Die hämodynamischen Veränderungen einer Brandverletzung äußern sich in einem verminderten Plasmavolumen, reduziertem Herzzeitvolumen und sinkender Harnproduktion begleitet von einem erhöhten systemischen Widerstand und konsekutiv reduzierter peripherer Perfusion. Herz. Eine Verminderung der Herzleistung findet bereits vor ei-
ner feststellbaren Reduktion im Plasmavolumen statt. Diese Verminderung der Herzleistung korreliert nicht mit einem möglichen Volumendefizit. Dieser Umstand und eine direkte Einschränkung der kardialen Kontraktilität deuten auf eine neurogene Reaktion oder eine gesteigerte vasokonstriktorische Mediatorwirkung im Blutkreislauf hin. Hypovolämie und sympathische Stimulation setzen vasoaktive Substanzen wie Katecholamine, Vasopressin und Angiotensin II frei. Diese bewirken einen erhöhten systemischen Gefäßwiderstand und eine Steigerung des Afterloads. Beachtenswerterweise kann es bei Verbrennungen, trotz adäquater Flüssigkeitstherapie, zu einer Erhöhung des Hämatokritwertes und der Hämoglobinkonzentration kommen. Der erhöhte systemische Widerstand ist teilweise auf diese Erhöhung der Blutviskosität infolge der Hämokonzentration zurückzuführen. Niere. Die Nieren gehören zu den Organen, die besonders anfällig
für eine Minderperfusion und Fehlfunktionen sind, falls die Volumenersatztherapie inadäquat erfolgt. Eine Nierenischämie als direkte Folge einer Hypovolämie und Sympathikusstimulation wird bei verspäteter Therapie oder einer ausgeprägten Hypotension im Rahmen von Verbrennungen beobachtet. Erhöhungen im serumfreien Hämoglobin und Myoglobin verstärken ein Nierenversagen. Gastrointestinaltrakt. Durch eine Vasokonstriktion kann es im
Magen-Darm-Trakt zu einer Hypoxie kommen. Die Folgen einer viszeralen Ischämie können zu einer Dislokation von Bakterien mit Endotoxinfreisetzung und der Ausbildung einer Sepsis führen. Das therapeutische Ziel besteht in der Wiederherstellung des intravasalen Volumens, um die Gewebeperfusion aufrechtzuerhalten und das Auftreten einer Organischämie zu verhindern. Dies kann bei ausgedehnten Verbrennungen sehr große Mengen von Volumenersatzlösungen erfordern, um das vaskuläre Volumen aufrechtzuerhalten. Dabei sollte einer frühzeitigen Volumenersatztherapie mit kolloiden Lösungen kritisch gegenübergestanden werden. Die Initialtherapie kann mit kristalloiden Lösungen begonnen werden, die Infusion von Kolloiden und Proteinen sollte erst 12–24 h nach dem Trauma eingesetzt werden, da zunächst eine Stabilisierung der mikrovaskulären Permeabilität im verletzten Gewebe eintreten sollte.
72
916
72
Kapitel 72 · Brandverletzungen
Lunge. Patienten mit großflächigen Verbrennungen zeigen einen
72
Anstieg des Lungengefäßwiderstandes. Neben einer Hypoproteinämie begünstigt ein erhöhter Kapillardruck infolge des erhöhten Lungengefäßwiderstandes die Ausbildung von Lungenödemen [18, 20].
72
SIRS und Sepsis
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Nach schweren Verbrennungen kommt es zu einer überschießenden Antwort des Immunsystems, so dass innerhalb kürzester Zeit der gesamte Organismus in die Entzündungsreaktion mit einbezogen wird. Auf diese Weise werden ganze Organsysteme, die ursprünglich nicht von der Verbrennung betroffen waren, geschädigt. Diesen Zustand der überschießenden dysregulierten Immunreaktion bezeichnet man als »systemic inflammatory response syndrome« (SIRS) . Die Dauer des SIRS, das für den Betroffenen eine vitale Gefährdung darstellt, beträgt 3–7 Tage. Die Übergänge eines SIRS zur Sepsis mit Multiorganversagen sind fließend. Zwei Theorien werden für die Sepsisentstehung bei Verbrennungen diskutiert: Two-hit-Konzept. Beim »Two-hit-Konzept« wird neben der eigentlichen Verbrennungsverletzung ein zweites Trauma postuliert (z. B. Wundinfektion oder das Einschwemmen von Endotoxinen), das dann zu einer überschießenden Immunantwort mit hoher Letalität führt. Eine Reduzierung der Mortalität nach einem Verbrennungstrauma kann durch eine frühzeitige radikale operative Entfernung des geschädigten Gewebes erreicht werden. Posttraumatische Immunsuppression. Dieses Modell geht davon aus, dass nach einer initialen Immunstimulation eine Immunsuppression eintritt, die schwere invasive Infektionen begünstigt. Da im Stadium der Immuninkompetenz Hypersensitivitätsreaktionen vom verzögerten Typ supprimiert sind, werden beispielsweise zur temporären Deckung nach früher Nekrektomie eingesetzte allogene Hauttransplantate (z. B. glyzerolkonservierte Fremdhaut) vom Immunsystem nicht als fremd erkannt [20, 23, 25, 29]
72 72
72.1.5
Begleitverletzungen
72
Aufgrund der hohen Aufmerksamkeit, die Verbrennungsverletzungen in der Primärversorgung binden, können potenziell lebensbedrohliche Verletzungen bisweilen übersehen werden. Neben einem Inhalationstrauma und Brandgasvergiftungen muss auch an Verletzungen von inneren Organen (z. B. Milzrupturen, freie Flüssigkeit im Abdomen, Organhämatome), Wirbeltraumata und Frakturen, Sehnenausrisse sowie an die Beteiligung von Augen oder Ohren gedacht werden [19]. Alle Patienten mit Begleitverletzungen müssen in ein Schwerstverbrannten-Zentrum verlegt werden.
72
Inhalationstrauma
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72 72 72 72
Ein Inhalationstrauma (IHT) entsteht durch Schädigung des Atemtraktes (vom pharyngealen Trakt bis zu den Aleveolen reichend) durch direkte thermische Einwirkung bei Brandopfern oder durch chemische Noxen. Die Inzidenz im Kollektiv der Brandverletzten wird zwischen 18% und 35% angegeben. Die Letalität kann bei Vorliegen eines IHT um bis zu 20% und bei Entwicklung einer Pneumonie um weitere 40% erhöht sein. Die Unfallanamnese (z. B. geschlossener Raum, Stichflamme) kann erste Hinweise für das Vorliegen eines IHT ergeben. Zu beachten ist dabei, dass bis zu 25% aller IHT bei Unfällen außerhalb geschlossener Räume entstehen, da durch Inhalation von Hitze eine
. Tab. 72.2 Klassifikation des Inhalationstraumas Grad
Kennzeichen
1
Schleimhautrötung und Ödem
2
Blasenbildung
3
Nekrosen und Ulzerationen der Schleimhaut
lokale thermische Schädigung der Luftwege entstehen kann. Rauch und trockene Gase schädigen eher die oberen Luftwege, da Rauch einen frühzeitigen reflektorischen Glottisschluss auslöst, und trockene Gase nur eine geringe Wärmeleitungskapazität haben. Die Inhalation von Dämpfen hingegen führt zu Verletzungen bis in tiefere Bereiche des Respirationstraktes [4, 5]. Klinische Hinweise für ein IHT sind Verbrennungen im Gesichtsbereich, angesengte Gesichtshaare (Wimpern, Augenbrauen, Nasenhaare), Ruß im Mund-Rachen-Bereich, ein inspiratorischer Stridor oder Husten [16,17]. Eine Sicherung der Diagnose erfolgt mit einer Treffsicherheit von 80% durch eine frühzeitige fiberoptische Bronchoskopie. Im Verlauf eines IHT sind weitere bronchoskopische Kontrollen indiziert. Der COHb-Wert wird als Parameter zur Orientierung (COHb >10%) und zur Verlaufskontrolle bestimmt. > Die Diagnose eines Inhalationstraumas erfolgt nach Aufnahme in das Verbrennungszentrum durch eine fiberoptische Bronchoskopie.
Die Klassifikation des Inhalationstraumas zeigt . Tab. 72.2. Das Inhalationstrauma verläuft in 3 Phasen: 4 In der exsudativen Phase während der ersten 2 Tage bestimmt ein Alveolar- und Lungenödem das klinische Bild. Die Alveolaroberfläche besteht zu etwa 93% aus Typ-I-Pneumozyten. Nach Schädigung lösen sich diese Zellen von der Basalmembran ab und bilden ein intraalveoläres Exsudat. 4 Die degenerative Phase der folgenden beiden Tage zeichnet sich durch eine Reduktion in der Produktion des Anti-Atelektasefaktors Surfactant durch die Typ-II-Pneumozyten aus. Dieser Umstand begünstigt die Entstehung eines Lungenödems. 4 In der proliferative Phase zwischen dem 5. und 10. Tag nach Inhalationstrauma infiltrieren Entzündungszellen das Lungengewebe. Dadurch besteht eine erhöhte Gefahr für die Ausbildung eines ARDS (»acute respiratory distress syndrome«) und einer Superinfektion. Behandlung des Inhalationstraumas Durch Hitzeeinwirkung kann es zu einem raschen Anschwellen der Atemwege kommen. Es sollte daher bei Verdacht auf ein stattgehabtes Inhalationstrauma eine frühzeitige Intubation erfolgen. Nach abgeschlossener fiberoptischer Diagnostik wird in der Frühphase des Inhalationstraumas nach Intubation eine Beatmung mit 100% FIO2 kurzzeitig indiziert, insbesondere, wenn eine Kohlenmonoxidoder Zyanwasserstoffvergiftung besteht. Zur Beatmung von Verbrennungspatienten und Lagerungstherapie beatmeter Patienten sei auf 7 Kap. 41 („Maschinelle Beatmung und Entwöhnung von der Beatmung») und 7 Kap. 38 („Akutes Lungenversagen») in diesem Buch verwiesen. Da bei langzeitbeatmeten Verbrannten Fibrinbeläge und Nekrosen nicht abgehustet werden können, ist bei diesen Patienten eine temporäre Bauchlagerung sinnvoll. In Einzelfällen ist die frühe intrabronchiale Applikation von Surfactant nach Bronchiallavage erfolgreich angewandt worden, für deren Wirksamkeit allerdings
917 72.1 · Grundlagen und allgemeine Aspekte
keine belastbaren Daten vorliegen [24]. Die regelmäßige Inhalation von Heparin als Aerosol in Kombination mit N-Acetylcystein kann zur Sekretreduktion in den Atemwegen verwandt werden und dadurch Atelektasen vorbeugen. Eine inhalative Kortisonapplikation wird kontrovers diskutiert und sollte kritisch gesehen werden. Hämodynamisch gilt es zu beachten, dass ein IHT den Flüssigkeitsbedarf eines verbrannten Patienten signifikant steigert [2]
Brandgasvergiftung Das Einatmen von toxischen Gasen, die bei Bränden entstehen, z. B. Chlorwasserstoff, Zyanwasserstoff, Aldehyde oder Schwefeldioxid, bewirkt eine Entzündungsreaktion der Atemwege. Andere Gase, wie z. B. Kohlenstoffmonoxid oder Zyanid, rufen keine lokale Reaktion hervor, behindern jedoch den Sauerstofftransport und führen so zu Vergiftungen. Kohlenstoffmonoxid (CO). Die Vergiftung mit CO ist die häufigste
frühe Todesursache nach einem stattgehabten Inhalationstrauma. Aufgrund der im Vergleich zu O2 200- bis 250-fach höheren Hämoglobinaffinität blockiert CO den Sauerstofftransport. Die Patienten erscheinen gut oxygeniert, die Pulsoxymetrie zeigt falsch-hohe Werte an. Eine Carboxyhämoglobinkonzentration (CoHb) über 10% ist symptomatisch mit neurologischen Symptomen wie Kopfschmerz und Verwirrung. Bei Werten >20% werden Übelkeit, Desorientierung und Sehschwächen befundet. Konzentrationen >40% können neben Halluzinationen und Krämpfen zu einem Schockzustand führen. CoHb-Werte >60% enden mit kompromittierter Atmungs- und Kreislaufsituation oftmals in einem Koma letal. Eine rasche Intubation und Beatmung mit 100%igem Sauerstoff ist indiziert. Besteht die Möglichkeit einer hyperbaren Sauerstoffbeatmung in einer HBO-Druckkammer, sollte diese sofort initiiert werden. Zyanwasserstoff (HCN). Eine Vergiftung mit HCN lässt sich durch
Beatmung mit 100%igem Sauerstoff allein nicht verbessern. Die Patienten zeigen eine Hyperventilation mit Azidose. HCN blockiert die Zytochromoxidase der Atemkette, die Sauerstoffabgabe aus dem Blut an das Gewebe ist reversibel unterbunden. Zur Behandlung einer HCN-Vergiftung wird die i.v.-Gabe von 250 mg/kg KG Natriumthiosulfat und 4 g Hydroxycobalamin (Vitamin B12) sowie eine Beatmung mit 100%igem Sauerstoff empfohlen. Eine Behandlung mit Methämoglobinbildnern (z. B. 4-DMAP) wird bei ausschließlichen HCN-Vergiftungen empfohlen. Sie ist bei einem Inhalationstrauma mit zusätzlichen Verbrennungen kontraindiziert, da die Sauerstofftransportkapazität des Blutes durch die Methämoglobinbildung noch weiter herabgesetzt wird und so die Verbrennungstiefe zunehmen kann.
72.1.6
Chemische Verbrennungen und Stromverletzungen
Chemische Verbrennungen Verbrennungen durch Chemikalien bilden eine komplett unterschiedliche Gruppe mit großen Variationen in den pathologischen Auswirkungen. Hierbei führen nicht die thermische Energiefreisetzung der jeweiligen Substanz, sondern extreme pH-Werte, oxidative Potenziale oder Zellvergiftungen zur Hautschädigung. Begleitend kann allerdings Hydratationshitze bei exothermer Reaktion der Substanz das Ausmaß der chemischen Verbrennung verstärken. Eine systemische Auswirkung mit behandlungsbedürftigen Folgen ist dabei nicht selten. Alle Patienten mit chemischen Verbrennungen müssen sofort dekontaminiert werden. Hierbei ist das Entfernen der Kleidung und
eine kurze Dusche oder das Spülen der betroffenen Areale für 5 min zumeist ausreichend. Augen sollten noch am Unfallort sofort mit Augenspülungen (im besonderen bei alkalischen Substanzen) behandelt werden. > Ein sofortiger Transfer in ein Zentrum für Schwerstbrandverletzte unter Mitnahme aller Informationen bezüglich der beteiligten chemischen Substanzen ist essenziell [11, 18].
Stromverletzungen Zumeist haben Stromverletzungen schwerwiegende Folgen und erfordern zahlreiche chirurgische Interventionen unter begleitender stadiengerechter Intensivtherapie. Sie zeichnen sich durch eine teilweise erhebliche verlängerte Rehabilitationsperiode mit deutlich reduzierter Funktion der betroffenen Körperregion aus. Die Dimension der Schädigung wird durch die Stromstärke (Ohm᾽sches Gesetz: Stromstärke = Spannung/Widerstand), Beschaffenheit der Kontaktfläche (Hautdicke und Feuchtigkeit), Einwirkdauer, Stromart (Wechselstrom, Gleichstrom) sowie den Weg des Stroms durch den Körper bestimmt. Die direkten Folgen entstehen durch die Interaktion des Stroms mit dem Körpergewebe oder nach dessen Umwandlung in thermische Energie. Indirekte Schäden sind zumeist als systemische Folge der Stromverletzung in Form von Nierenversagen oder Herzrhythmusstörungen zu beobachten. > Gemäß dem Ohm‘schen Gesetz ist der durch den Strom verursachte Schaden proportional zur Spannung und umgekehrt proportional zum Gewebewiderstand.
Nervengewebe und Blutgefäße beispielsweise zeigen einen geringeren Widerstand im Gegensatz zu Knochengewebe mit einem sehr hohen Widerstandspotenzial. Grundsätzlich sind im Niederspannungsbereich (1000 V) ist dieser Unterschied zwischen Gleich- und Wechselstrom ohne wesentliche Bedeutung. Eine Verletzung im Niedrigspannungsbereich ist durch den Stromfluss zwischen dem Eintrittspunkt und dem Austrittspunkt durch den Körper mit Beteiligung der entsprechenden Organsysteme bestimmt. Bei Hochspannungsverletzungen ist ein direkter Stromkontakt, mit schweren tiefen Verbrennungen am Kontaktpunkt mit der Hochspannungsquelle, von einer Lichtbogenverletzung mit schwerer thermischer Schädigung ohne Stromfluss durch den Körper, zu unterscheiden [15, 19]. Das Herz kann neben einer direkten Myokardschädigung mit schweren Herzrhythmusstörungen reagieren. Gefäße leiten den elektrischen Strom v. a. in der Schicht der Gefäßmuskulatur sehr gut. In Abhängigkeit vom Gefäßkaliber kommt es zur Ausbildung von Aneurysmen und im Falle von kleinen Gefäßen zu Koagulationsnekrosen. Diese Vorgänge sowie eine reaktive Schwellung der Gefäßintima beeinträchtigen die Perfusion der distalen Abschnitte und können im Bereich der Extremitäten zu Ausfällen in den Muskelgruppen mit ischämiebedingter Schwellung und Ausbildung eines akuten Kompartmentsyndroms führen. Eine sofortige Fasziotomie kann die Schädigung der Muskulatur begrenzen. Dennoch verbleiben die Amputationsraten nach Starkstromverbrennungen aufgrund der Gefäß- und Nervenschädigung sowie der massiven Muskelnekrosen relativ hoch. Eine Myoglobinurie nach Muskelzerfall kann zu einem Nierenversagen durch Myoglobinablagerung in den Nierentubuli führen.
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Kapitel 72 · Brandverletzungen
72
Eine frühzeitige Alkalisierung des Harns, z. B. mit i.v.-Gabe von Mannitol und Natriumbicarbonat oder enteraler Gabe von KaliumNatrium-Hydrogencitrat (Uralyt-U) unter einer forcierten Diurese (Urinausscheidung >200 ml/h), sollte durchgeführt werden. Der Flüssigkeitsbedarf eines Verletzten mit Stromverbrennung ist deutlich erhöht. Bei diesen Patienten kann daher – neben der Anwendung der gängigen Substitutionsformeln – zur Steuerung der Volumensubstitution ein invasives Monitoring erwogen werden. Durch eine direkte Schädigung des Atemzentrums oder bei Lähmung der Atemhilfsmuskulatur ist der Atemstillstand eine häufige Todesursache bei Stromunfällen. Weitere Schädigungen des Nervensystems äußern sich durch Krampfanfälle, Querschnittslähmungen bei beispielsweise horizontalem Arm-zu-Arm-Stromfluss oder durch tetanische Muskelfibrillationen. Weitere Organsysteme wie das periphere Nervensystem, die Augen (Katarakte) oder das Trommelfell können ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen worden sein.
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72.1.7
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Erstversorgung am Unfallort
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Eine möglichst rasch eingeleitete Akutbehandlung verbessert den Heilungsverlauf und das Behandlungsergebnis nach allen Verbrennungstraumata. Am Unfallort wird der Patient zuerst abgelöscht und aus der Gefahrenzone des Brandherdes geborgen. Sofern möglich, sollte eine Kaltwasserbehandlung (15°–20°) der Brandwunden begonnen werden, die Mindestdauer beträgt hierbei 10 min. Auch bei verzögertem Therapiebeginn ist die Kaltwasserbehandlung noch sinnvoll, da sie die lokale Gewebsüberhitzung vermindert und zusätzlich einen schmerzlindernden Effekt hat. Eine großflächige Kühlung kann allerdings auch zum Auskühlen des Patienten führen, dies muss verhindert werden, da eine stark erniedrigte Körpertemperatur die operative Notfallversorgung verzögert und einem Schockgeschehen sowie einer gestörten Blutgerinnung Vorschub leistet.
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> Daher ist eine zeitliche Begrenzung der Kühlung auf maximal 20 min einzuhalten.
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Im Rettungsdienst werden zunehmend spezielle sterile Gelfolien eingesetzt, die einen kühlenden Effekt besitzen und sich gut als Wundabdeckung für den Transport ins Krankenhaus eignen. Neben der lokalen Hautschädigung können die bei ausgedehnten Verbrennungen beobachteten generalisierten Reaktionen bereits am Unfallort anbehandelt werden. Eine Volumenverschiebung im Rahmen des Kapillarlecks kann in kurzer Zeit zum hypovolämischen Schock führen. Zur Prävention bzw. Therapie des Schockgeschehens sollten ausschließlich kristalloide Lösungen (balancierte Lösungen) verwendet werden [3]. Der Volumenbedarf eines Schwerbrandverletzten lässt sich mit Hilfe der Parkland-Formel nach Baxter errechnen.
Parkland-Formel nach Baxter 4 Für Erwachsene: (4 ml z. B. Ringer-Laktat ×% VKOF × kg KG)/24 h. 4 Für Kinder: (4–6 ml z. B. Ringer-Laktat ×% VKOF × kg KG)/24 h. 6
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Die Hälfte des errechneten Infusionsvolumens wird in den ersten 8 h infundiert, die zweite Hälfte über die folgenden 16 h. Zu beachten ist, dass in der 1. Stunde nach erfolgter Verbrennungsverletzung die Infusionsgeschwindigkeit deutlich höher liegen muss. Hier wird folgende Dosis empfohlen: 4 0,5 ml, z. B. Ringer-Laktat ×% VOKF × kg KG.
Neben dieser klassischen Berechnungsformel nach Baxter existieren zahlreiche alternative Infusionsschemata wie z. B. die Cincinnati-Formel. Das Infusionsregime bei Kindern muss angepasst erfolgen und ist in 7 Abschn. 72.3.7 aufgeführt. Grundsätzlich handelt es sich bei allen Infusionsformeln um Richtwerte. > Eine entscheidende Richtgröße ist die ausreichende Diurese, die durch suffiziente Flüssigkeitszufuhr ohne Gabe von Diuretika erreicht wird: 5 0,5–1 ml/kg/h.
> Bei Verbrennungen durch elektrischen Strom oder bei gleichzeitig vorliegendem Inhalationstrauma kann der Flüssigkeitsbedarf bis zu 50% höher liegen.
Noch am Unfallort muss der Verletzte 2 großlumige intravenöse Zugänge erhalten. Eine suffiziente Analgesie ist unerlässlich, zu bevorzugen sind Opioide. Besteht der Verdacht auf ein Inhalationstrauma, sollte die Indikation zur Intubation großzügig gestellt werden. Die Kriterien für die Zuweisung eines Brandverletzten in ein Verbrennungszentrum sind klar definiert.
Kriterien für die Zuweisung eines Brandverletzten in ein Verbrennungszentrum Diese Kriterien orientieren sich an den von der American Burn Association definierten Burn Unit Referral Criteria: 4 tiefe Verbrennungen >Grad IIb unabhängig von der VKOF, 4 oberflächliche Verbrennungen (I–IIa) >20% VKOF, 4 oberflächliche Verbrennungen (I–IIa) >10% bei Patienten >50 Jahre, 4 alle Verbrennungen bei Kindern 80
5
Inhalationstrauma
1
III.-gradige Verbrennung
1
% VKOF 1–10
1
11–20
2
21–30
3
31–40
4
41–50
5
51–60
6
61–70
7
71–80
8
81–90
9
91–100
10
Auswertung: Gesamtpunktzahl
Sterbewahrscheinlichkeit
2–3
11
>90%
b
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920
Kapitel 72 · Brandverletzungen
72
stiefe und das Vorliegen eines Inhalationstraumas. Anhand der Gesamtpunktzahl wird eine Sterbewahrscheinlichkeit ermittelt [28].
72
Indikationen zur Operation
72 72 72 72 72 72 72 72 72 72 72 72 72 72 72 72
Unmittelbar im Anschluss an die Erstversorgung sollte mit der Planung der chirurgischen Interventionen gemäß der Prioritäten begonnen werden. > Eine absolute sofortige Operationsindikation stellen tief dermale oder drittgradige zirkuläre Verbrennungen dar. Derartige Verbrennungen am Thorax oder an den Extremitäten können durch die entstehende Gewebeverhärtung und -kontraktur die Atmung bzw. die periphere Durchblutung behindern.
Der starre Wundschorf muss sofort durch eine Inzision, die sog. Escharotomie, entlastet werden. Diese geschwungenen Inzisionen erfolgen in der Regel nur durch die verbrannte Haut. Ist eine Escharotomie jedoch nicht ausreichend, muss eine tiefere Inzision in Form einer Fasziotomie erfolgen. Hierbei wird die Muskelfaszie zur Druckentlastung in den Muskellogen gespalten. Bei zirkulärer Verbrennung der Hände ist neben einer Escharotomie über den Mittelhandmuskeln und der Finger sowie neben einer prophylaktischen Karpaltunnelspaltung eine Schienenbehandlung indiziert. Der Erfolg einer kompletten Escharotomie zeigt sich unmittelbar in verbesserter Atmung (bzw. Erniedrigung der Beatmungsdrücke) und einem Wiederauftreten oder Erstarken peripherer Extremitätenpulse an den betroffenen Gliedmaßen. Die elektive Planung zur Abtragung von verbranntem Gewebe kann begonnen werden, sofern der Patient kreislaufstabil ist und eine ausreichend hohe Körpertemperatur (>33°C) aufweist. Allerdings ist ein Patient mit Verbrennungen grundsätzlich als instabil anzusehen. > Eine frühzeitige Abtragung der Verbrennungswunden bietet gegenüber einer zuwartenden konservativen Haltung bei großflächigen Verletzungen einen hohen Überlebensvorteil.
72.2
Intensivmedizinisch relevante plastisch-chirurgische Aspekte
Es erfolgt nun eine kurze Darstellung der plastisch-chirurgischen Prinzipien in der Verbrennungschirurgie unter Berücksichtigung ihrer intensivmedizinischen Relevanz für den Behandlungsablauf [26, 27].
72 72
72.2.1
Oberflächliche Verbrennungen
Grad-I-Verbrennungen
72 72 72 72 72
Verbrennungen I. Grades beschädigen nur die Epidermis. Innerhalb von einer Woche kommt es zur narbenlosen Abheilung. Zur Behandlung sind kühlende Maßnahmen und eine intensive Hautpflege, Schmerzmittel jedoch selten notwendig. Eine Ausnahme bilden großflächige I.-gradige Verbrennungen nach Ganzkörperexposition durch z. B. Solarien. Hierbei kann es zu erheblichen Schmerzen und einem erhöhten Flüssigkeitsbedarf in den 1. Tagen kommen. Eine stadiengerechte Schmerztherapie und intravenöse Flüssigkeitssubstitution verbessern den Zustand des Patienten innerhalb kurzer Zeit [22].
Grad-IIa-Verbrennung Für oberflächlich II.-gradige Verbrennungen gibt es generell 2 Methoden der Wundbehandlung: die Okklusions- und die veraltete Expositionsmethode. Die Okklusionsmethode schützt besser gegen Auskühlung, ist aber aufgrund der Verbände, die mindestens einmal täglich gewechselt werden müssen, arbeitsintensiv. Allen okklusiven Behandlungsmethoden ist gemeinsam, dass die Wundverbände den Wundgrund feucht halten. Die Austrocknung einer Verbrennung führt zu einem Tieferschreiten der Nekrose mit einem ungünstigen Heilungsverlauf. In trockeneren, heißeren, südlichen Gegenden wird oft noch der Expositionsmethode (z. B. Verfahren zur Gerbung) der Vorzug gegeben. Dieses Verfahren hat für den mitteleuropäischen Raum nur historische Bedeutung [22].
Topische antimikrobielle Lösungen und Salben als Wundauflagen Oberflächlich II.-gradige Verletzungen müssen mit antimikrobiellen Lösungen oder Salben behandelt werden. Hiermit lässt sich der Gefahr begegnen, dass mikrobielle Wundbesiedelungen in eine invasive Wundinfektion übergehen und so den Epithelschaden verschlimmern bzw. zu einer Bakteriämie oder Sepsis führen. Nur die Kombination von täglicher Reinigung der Wunden und dem erneuten Auftragen der antibakteriellen Substanz sichert eine niedrige Keimzahl auf der Wundoberfläche und reduziert das Infektionsrisiko. Außerdem erlauben die Verbandswechsel eine engmaschige Wundinspektion. Die gebräuchlichsten topischen antibakteriellen Substanzen sind Silbersulfadiazin, Mafenid, Polyhexanid und Essigsäure. Silbersulfadiazin (Silbernitrat und Natriumsulfadiazin) wird in Form einer Emulsion 2–3 mm dick einmal täglich auf die Wunden aufgetragen. Es kühlt, wirkt schmerzlindernd und reduziert die bakterielle Besiedelung. Die Substanz wirkt nur oberflächlich und kann Nekrosen nicht durchdringen. Die Anwendung bei tieferen Verbrennungen oder auf Wundschorf ist daher nicht sinnvoll. Nach dem Auftragen entsteht ein gelblich-grauer Belag. Hierbei liegt eine Reaktion des Silbersulfadiazins mit dem Wundsekret vor. Nach einigen Tagen sollte sich der Schorf leicht ablösen und darunter eine beginnende Epithelisierung aufzeigen. In 5–15% der Fälle kann 2–3 Tage nach der Sibersulfadiazin-Anwendung eine passagere Leukopenie auftreten, die sich spontan – auch bei Fortsetzen der Therapie – wieder normalisiert. Als Ursache dafür wird eine toxische Knochenmarksuppression angenommen. Mafenid-Acetat wird entweder als wässrige 5%ige Lösung als Feuchtverband oder als 11%ige Emulsion eingesetzt. Mafenid kann durch Wundschorf und Nekrosen hindurch diffundieren. Gegen grampositive und gramnegative Keime zeigt es eine gute antibakterielle Wirkung. Dagegen besteht keine Wirkung gegen multiresistente Staphylokokken bzw. nur eine geringe gegen Hefen oder Pilze. Mafenid sollte, wenn möglich, 2-mal täglich in Kombination mit einer Fettgaze appliziert werden, da es rasch die Wunde penetriert und vom Körper resorbiert und abgebaut wird. Mafenid wird zur topischen Behandlung von tiefgradigen Verbrennungen bis zum Zeitpunkt einer operativen Intervention oder postoperativ nach einer Nekrektomie für den Verband von biologischen Transplantaten (z. B. allogene Spenderhaut) verwendet. Da Mafenid ein Karboanhydrasehemmer ist, kann es bei größeren Wundflächen zu einer metabolischen Azidose, u. U. mit einer kompensatorischen Hyperventilation, kommen. Polyhexanid penetriert Wunden oder exponiertes Knorpelgewebe sehr gut und kann z. B. im Bereich des Gesichtes als Feuchtverband eine gute lokale antimikrobielle Wirkung entwickeln. Der
921 72.2 · Intensivmedizinisch relevante plastisch-chirurgische Aspekte
a
b
c
. Abb. 72.7 Einsatz eines synthetischen Wundverbands (Biobrane) bei einer II.-gradigen Verbrennung des Gesichts und des Halses. a Initialer Befund mit typischer Blasenbildung. b 1 Woche nach Wundsäuberung, Blasenentfernung und Applikation von Biobrane-Folie. c Resultat nach 3 Monaten
große Vorteil liegt in einer ausbleibenden Schorfbildung, sodass der Wundheilungsverlauf stets sehr gut beurteilt werden kann. Essigsäure findet als 1%ige Lösung Anwendung bei einer Kolonisation der Wunde mit Pseudomonas aeruginosa. Da keine breite antibakterielle Wirkung besteht, empfiehlt sich die alternierende Anwendung mit den zuvor genannten Substanzen, z. B. durch Abwechseln mit Mafenid oder Polyhexanid [22, 26].
mit der von Biobrane. Zunehmend wird Suprathel auch bei großflächigen IIa- bis IIb-gradigen Verbrennungsarealen eingesetzt. Suprathel ermöglicht eine permanente Wundabdeckung bis zur Reepithelisierung bei geringer Narbenbildung. Eine durch Suprathel bewirkte Verkleinerung der mit Spalthaut zu deckenden Restwundflächen ist gerade bei IIb-gradigen Verbrennungen von Vorteil [26]. Zu neueren Verbandsmaterialien wie z. B. dem Suprasorb X+PHMB stehen Langzeitergebnisse bei Verbrennungen noch aus.
Einsatz biosynthetischer Folien als Wundauflagen Als Alternative zum Salbenverband bei oberflächlichen Verbrennungen (Grad IIa) existiert mittlerweile eine Vielzahl biosynthetischer Foliensysteme. Diese Produktgruppe zeichnet sich durch einfache Handhabung und Anwendung, gute Schmerztoleranz sowie durch eine hohe Patientencompliance (besonders bei Kindern) und Vermeidung zusätzlicher Wundflächen aus. Nachteilig verbleibt der relative hohe Preis dieser Produkte. Nach einem kompletten Débridement wird die sorgfältig gereinigte Wunde mit dem synthetischen Folienmaterial im Sinne einer Ersatzhaut bedeckt. Die bedeckten Wunden werden regelmäßig einer Inspektion unterzogen, wobei schmerzhafte Verbandswechsel entfallen. Die Folienverbände lösen sich mit beginnender Epithelisierung vom Wundrand ausgehend zunehmend ab. Nach etwa 2 Wochen ist mit einem Abschluss der Wundheilung zu rechnen. Das semipermeable Biobrane besteht aus einer inneren NylonKollagen-Schicht und einer äußeren Silikonschicht, ist durchsichtig, wasserabweisend und durchlässig für Wundsekret (. Abb. 72.7). Gerade bei Kindern ist dieser synthetische Wundverband ideal und zeigt gute kosmetische und funktionelle Ergebnisse. Suprathel, chemisch zusammengesetzt aus D,L-Lactid, Trimethylencarbonat und ε-Caprolacton, ist ein degradierbarer avitaler Epithelersatz. Die Indikation und Anwendung überschneidet sich
72.2.2
Tiefgradige Verbrennungen
Kommt es bei zunächst als oberflächlich II.-gradig beurteilten und konservativ therapierten Verbrennungen innerhalb von 2 Wochen zu keiner ausreichenden Epithelisierung, muss von einer tieferen dermalen Schädigung ausgegangen werden. Bei diesen tief dermalen Verbrennungen (Grad IIb) besteht eine Operationsindikation [18, 22]. > Verbrennungen Grad I werden mit rückfettenden Salben wie Dexapanthenol-Salbe behandelt. Oberflächliche Grad II-Verbrennungen, z. B. mit SilbersulfazidinCreme oder mit biosynthetischen Foliensystemen. Tief dermale und III.-gradige Verbrennungen stellen eine Operationsindikation dar. Die operative Abtragung der tief verbrannten Haut wird bereits innerhalb der ersten 24 h nach Trauma begonnen. Die Deckung der Wunden erfolgt bei kleinflächigen Verbrennungen 15% VKOF) empfiehlt sich ein zweizeitiges Vorgehen mit zunächst temporärer Wundabdeckung. Zu bedenken ist, dass postoperativ instabile Kreislaufverhältnisse mit Katecholaminpflichtigkeit ein Nachbrennen verursachen können. Ein massives Ödem mit signifikanter Transsudation kann die Einheilung der Hauttransplantate gefährden. Eine temporäre Weichteildeckung verkürzt die Operationszeit erheblich, verringert den Blutverlust durch Wegfall der Hebestellen, erlaubt die Stabilisierung des Patienten und eine Konditionierung der Wunden. Diese allogenen Hauttransplantate werden kommerziell kryooder glyzerolkonserviert angeboten. Eine Alternative stellen konservierte xenogene Hauttransplante aus z. B. Schweinehaut dar. Im Stadium der Immuninkompetenz sind Hypersensitivitätsreaktionen vom verzögerten Typ supprimiert. > Allogene Hauttransplantate werden vom Immunsystem nicht als fremd erkannt und können so nach früher
Nekrektomie zur temporären Wunddeckung eingesetzt werden [18].
Endgültige Defektdeckung Die permanente Deckung erfolgt mit Eigenhaut. Es können dabei Vollhaut, Spalthaut, Keratinozytensuspensionen oder Zellkulturen je nach Befundausdehnung, Lokalisation und Allgemeinzustand des Patienten Verwendung finden. Essenzielle Substanzverluste in der Dermis werden mit Dermisersatzmaterialien (z. B. Integra oder Matriderm) wiederhergestellt. Spalthauttransplantate Spalthauttransplantate werden in einer Dicke von 0,2–0,4 mm an gesunden Hautarealen entnommen und auf die Wunden aufgebracht und fixiert (. Abb. 72.8). Bei großen Wundflächen muss die Spalthaut nach Entnahme zunächst expandiert werden. Dies kann in Form von sog. »Mesh-Grafts« als Gitternetzmuster oder mit dem Verfahren nach Meek durch auf Seide fixierte kleine quadratische Hautinseln erfolgen. Es können mit diesen Verfahren Expansionen zwischen 1:1,5 bis zu 1:12 erreicht werden (. Abb. 72.9). Mit zuneh-
a
b
d
c
. Abb. 72.9a–d Oberflächenvergrößerung durch Meek-Technik. a Die Spalthaut wird auf sterile Träger ausgebreitet und maschinell in kleine Quadrate zerteilt. b Die Hautquadrate werden auf spezielle Seidenmembranen übertragen; die Seide wird auseinandergezogen. c Die Seide wird auf gut perfundiertem Wundgrund nach Nekrektomie appliziert. d Eingeschränkt ästhetisches Ergebnis nach Einsatz der Meek-Technik (mit Ausschnittsvergrößerung)
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Kapitel 72 · Brandverletzungen
mender Oberflächenexpansion wird das kosmetische Ergebnis unbefriedigender. An exponierten Arealen wie dem Gesicht oder den Händen kommen daher keine expandierten Transplantate zum Einsatz. Unabhängig von der Oberflächenvergrößerung erfolgt die Ernährung der transplantierten Haut in den ersten 48 h über eine Diffusion vom Wundgrund. In den ersten Tagen nach einer Hauttransplantation sind diese Hauttransplantate daher sehr empfindlich gegenüber Scherkräften, wie sie z. B. bei der Mobilisation des Patienten entstehen. Die aufgebrachten Transplantate werden durch dicke, leicht komprimierende Überknüpfverbände gesichert, um diese Scherkräfte zu vermeiden und den Kontakt zum Wundgrund sicherzustellen. > Der erste Verbandswechsel nach einer Spalthauttransplantation erfolgt in der Regel am 5. postoperativen Tag [21, 22].
Vollhauttransplantate Vollhaut hat eine stabilere Qualität als Spalthaut und neigt weniger zur Kontraktur. Als nachteilig kann sich die anfangs eingeschränkte Ernährung der dickeren Vollhauttransplantate vom Wundbett aus erweisen. Als Folge davon kann es zu einem Nichtanwachsen der transplantierten Haut kommen. Vor allem kleinere Defekte eignen sich für eine Behandlung mit Vollhaut, z. B. an den Augenunterlidern. Die Entnahmestellen, z. B. an der Oberarminnenseite, retroaurikulär, supraklavikulär oder aus der Leiste können primär verschlossen werden. Keratinozytensuspensionen und Kulturen Autologe Keratinozyten werden in zertifizierten Labors kultiviert und dort für die Transplantation vorbereitet. Durch die Züchtung von Eigenhaut kann eine Expansion von bis zu 1:5000 erreicht werden. Aus einer eingesandten Hautspindel des Patienten wird eine Primärkultur in einem Zellkulturmedium hergestellt. Kultivierte Keratinozyten können schließlich in Suspension mit Fibrinkleber oder als konfluierende Zellkultur auf Trägerfolien aufgebracht werden. Mit 3 cm2 entnommener Vollhaut z. B. lässt sich nach etwa 3–4 Wochen eine Fläche von 1,7 m2 decken. Da es sich hierbei um ein äußerst teures Verfahren handelt, kommt es nur bei Patienten mit ausgedehnten tiefen Verbrennungen (VKOF >70%) zur Anwendung.
72 72 72 72 72
. Tab. 72.4 Beispielhaftes Schema der Analgosedierung für Verbrennungspatienten Form Analogsedierung
Substanzen
Kurzzeitanalgosedierung ( Eine adäquate und differenzierte Analgosedierung kann die Beatmungs- und Behandlungsdauer signifikant verkürzen.
925 72.3 · Intensivmedizinische Therapie bei Verbrennungen
72.3.2
Flüssigkeitsmanagement
Der tägliche Flüssigkeitsbedarf, der beim verbrannten Erwachsenen nach der initialen Schocktherapie zu substituieren ist, lässt sich anhand folgender Formel berechnen:
Flüssigkeitsbedarf 4 Täglicher Flüssigkeitsbedarf = Grundbedarf (1500 ml/ m2 KOF)+evaporativer Wasserverlust [(25% VKOF)×KOF in m2×24] Diese Flüssigkeitsmenge ist täglich beim schwerbrandverletzten Intensivpatienten enteral oder parenteral zu applizieren [3].
Transfusionen Bei Schwerverbrannten sollte der Hämatokrit bei etwa 30% gehalten werden. Nur durch eine ausreichende Organperfusion lässt sich eine Hypoxie mit nachfolgender Gefahr eines Multiorganversagens (MOV) vermeiden. Vor anstehenden größeren Nekrektomien sollte der Hämatokrit auf diesen Zielwert angehoben werden. Intraoperativ empfiehlt es sich, bei Massivtransfusion Erythrozytenkonzentrate und Frischplasmakonserven (FFP) im Verhältnis 1:1 zu transfundieren.
Eine frühzeitige Substitution von Proteinen beginnt spätestens 24 h nach dem Trauma. Hierbei kommt 5% Albumin zur Anwendung. Die modifizierte Formel nach Brooke empfiehlt 4 5% Humanalbumin in der Dosis von 0,3–0,5 ml×kg KG pro % VKOF
Des Weiteren kommt in Abhängigkeit von den Laborparametern der Gerinnung und der Blutungsneigung FFP zum Einsatz. Ausgedehnte tangentiale Nekrektomien gehen mit einem hohen Blutverlust einher. Hierbei darf das gesamte Blutvolumen maximal einmal ausgetauscht werden, danach steigt die Gefahr von Gerinnungsstörungen mit Blutungskomplikationen dramatisch an.
72.3.3
Temperaturmanagement
Inflammatorische Mediatoren und Schmerzen führen nach einer schweren Brandverletzung durch eine hypothalamische Regulationsstörung zu einer erhöhten Körpertemperatur. Dabei ist von einer regulativ angestrebten Zieltemperatur von ca. 38°C auszugehen. Eine Normothermie ist bei diesen Patienten als Zeichen einer beginnenden Sepsis oder als Signal der reduzierten physiologischen Ressourcen zu werten. Die Patientengruppe der brandverletzten Kleinkinder und Säuglinge ist aufgrund des erhöhten Oberflächen-Volumen-Verhältnisses, der geringeren Muskelmasse und einem geringeren Anteil an isolierendem Fett für eine Hypothermie anfälliger als Erwachsene. Aufgrund der unzähligen Folgen u. a. für das kardiopulmonale System, den Stoffwechsel, die Blutgerinnung, das Zentralnervensystem, das Immunsystem, die medikamentösen Therapien und die Wundheilung ist eine erfolgreiche Wärmeregulierung bei den betroffenen Patienten essenziell.
> Eine Umgebungstemperatur zwischen 30 und 33°C und eine Luftfeuchtigkeit von 80% unter Vermeidung von jeglicher Zugluft kann Temperatur und Wasserverluste durch Konvektion und Evaporation verhindern und den Energiebedarf erheblich reduzieren.
Im Rahmen der plastisch-chirurgischen Interventionen wird durch moderne Verbandsmaterialien (z. B. biosynthetische Foliensysteme) mit geringeren Feuchtanteilen oder durch reduzierte Verbandswechselfrequenzen, sowie durch Einsatz von Wärmelampen einer Auskühlung der Patienten effektiv vorgebeugt.
72.3.4
Respiratorisches Management bei Verbrennungen
Die Kriterien einer Indikation zur maschinellen Beatmung und zur Intubation sind in 7 Kap. 41 in diesem Buch nachzulesen Bei manifestem Inhalationstrauma sowie bei thermischem Trauma der oberen Atemwege muss die Indikation frühzeitig gestellt werden [2]. Die Indikation zu einer operativen plastischen Tracheostomie ist bei einem schweren Inhalationstrauma oder bei einem beatmungspflichtigen Schwerstbrandverletzten frühzeitig zu stellen. Die Tubusgröße kann deutlich vergrößert werden und damit eine Reduktion der Atemarbeit unter Spontanatmung ermöglichen, und die möglicherweise geschwollene und thermisch geschädigte Stimmbandebene wird mechanisch nicht alteriert. Ein plastisches Tracheostoma kann darüber hinaus nach Reduktion der Sedierung sicher für eine Spontanatmung genutzt werden, und es stellt einen sicheren Zugang zum Atemweg der Patienten bei rezidivierend nötigen Narkosen dar [2, 4]. Zu den Beatmungformen und adjuvanten Therapien des ARDS inklusive Lagerungstherapien sei auf 7 Kap. 38 dieses Buches verwiesen. Alle Therapieprinzipien der Behandlung des ARDS gelten auch für Patienten mit Inhalationstrauma und ARDS. Als alternative Beatmungsmethoden kann bei Verbrennungspatienten eine kombinierte Hochfrequenzbeatmung, z. B. in Form einer »percussive diffusive convective ventilation« mit z. B. einem VDR4-Beatmungsgerät durchgeführt werden. Diese Methode ermöglicht es, eine druckkontrollierte Beatmung mit einer simultanen Spontanatmung auf dem oberen und unteren Druckniveau am Respirator unter effizienter Sekretmobilisation zu kombinieren [2].
72.3.5
Grundlagen in der Behandlung von Infektionen
Infektionen zählen neben dem Inhalationstrauma zu den führenden Todesursachen bei Schwerstbrandverletzten. Es konnte gezeigt werden, dass bei Verbrennungen >40% VKOF in 75% der Fälle die Letalität durch eine Infektion bedingt ist. Die Wahrscheinlichkeit einer Infektion wird durch das Patientenalter, den Immunstatus, Umfang und Schwere des thermischen Traumas beeinflusst [7, 13].
Wundinfektionen Die Verbrennungswunde bietet aufgrund ihrer feuchten und warmen Umgebung einen idealen Nährboden für eine Kolonisation mit Bakterien. Die tägliche plastisch-chirurgische Beurteilung der Brandwunden bildet dabei einen Grundpfeiler in der Prophylaxe und Behandlung von Infektionen. Durch die Einführung des Konzepts der frühzeitigen Exzision und Einleitung einer Lokaltherapie sowie der frühzeitigen Defektdeckung der nekrektomierten Areale konnte die Infektionsrate und somit die Letalität deutlich gesenkt werden. Von einer prophylaktischen Antibiotikagabe sollte grund-
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Kapitel 72 · Brandverletzungen
sätzlich abgesehen werden, um eine Selektion und Resistenzentwicklung zu vermeiden. Stattdessen sollte bei ersten Anzeichen einer Infektion neben einer chirurgischen Lokaltherapie eine begleitende Breitspektrumantibiotikatherapie eingeleitet werden. Anhand der regelmäßigen Wundabstriche und Kulturen kann im Verlauf eine zielgerichtete Antibiotikatherapie erfolgen. Dabei stellt eine Anzahl von ca. 105 Organismen pro Gramm Gewebe einen Grenzwert für eine Gewebeinvasion dar. Eine histopathologische Beurteilung einer Gewebeprobe kann entscheidend zur Diagnostik verhelfen. Die systemische antimikrobielle Therapie kann ein aggressives chirurgisches Vorgehen nicht ersetzen. Die Antibiotikatherapie sollte nach Keimnachweis und Vorliegen der Resistenzbestimmung angepasst werden [7]. Eine Veränderung der Keimflora in der Verbrennungswunde im Verlauf von grampositiv (besonders: Enterokokken, β-hämolytische Streptokoken der Gruppe A, Methicillin-resistenter Staphylococcus aureus, Koagulase-negative Staphylokokken) zu gramnegativ (im Wesentlichen: Pseudomonas aeruginosa, Acinetobacter sp., Klebsiellen, Enterobaktergruppe, Proteus mirabilis et vulgaris) ist typisch. Ergänzend zu beachten ist, dass eine Infektion mit Anaerobiern (z. B. Bacteroides oder Fusobakterien) bei schlecht perfundierten Muskeln (z. B. nach Stromverletzungen), Frostbeulen oder begleitenden Quetschwunden häufig auftritt [7, 13]. Pilzinfektionen stellen bei Schwerbrandverletzten eine lebensbedrohliche Situation dar. Candida-Infektionen sind die häufigsten nichtbakteriellen Ursachen und treten entweder lokal oder systemisch auf. Sporenpilze, z. B. Aspergillus spp., finden sich lokal im Respirationstrakt oder in Wunden und haben ein hohes invasives Potenzial. Da Wundinfekte mit Sporenpilzen eine hohe Mortalität besitzen, besteht die primäre Therapie – soweit möglich – in der radikalen, weiträumigen Exzision der betroffenen Region. Manifeste Pilzinfektionen müssen generell mit systemischen Antimykotika behandelt werden. Als potenzielle Pforten einer invasiven Infektion sollten neben der Brandwunde die Atemwege, das Tracheobronchialsystem (Cave: Inhalationstrauma), der Magen-Darm-Trakt, die Harnwege und externe Zugangspforten wie z. B. katheterassoziierte Infektionen Beachtung finden. Eine septische Eskalation geht zumeist von der Verbrennungswunde oder dem Tracheobronchialsystem aus [13].
SIRS und Sepsis Wie bereits ausgeführt, hat das ausgedehnte Verbrennungstrauma neben der lokalen Schädigung der Haut auch weitreichende systemische Auswirkungen (7 Abschn. 72.1.4). Die Dauer eines SIRS („systemic inflammatory response syndrome»), welches für den Verbrennungspatienten eine vitale Gefährdung darstellt, beträgt je nach dem Unfallschweregrad bis weit über 7 Tage. Ein SIRS kann fließend in eine Sepsis mit Multiorganversagen übergehen [23, 25] Eine Sepsis kann als Ursache eine systemische Einschwemmung von Bakterien oder ihrer Zerfallsprodukte – den Endotoxinen – aus der Brandwunde, von den Atemwegen, aus dem Gastrointestinaltrakt, den Harnwegen, dem Zahn-Mund- und Kieferhöhlenbereich oder aus externen Zugangspforten nach Anlage von zentralen oder peripheren Kathetern haben. Hierbei ist eine passagere Bakteriämie ohne signifikante Morbidität von einer folgenreichen Sepsis mit Organdysfunktion zu unterscheiden [8, 9, 20]. Bei Schwerstbrandverletzten überwiegt die Sepsis durch gramnegative Erreger. Dabei gilt es zu beachten, dass die Standardkriterien für die Diagnose einer Sepsis auf das Kollektiv der Brandverletzten nicht angewendet werden können. Die Verbrennung führt zu einem Hautverlust unter Schädigung der primären Schutzbarriere
. Tab. 72.5 Curreri-Formel zur Berechnung des Energiebedarfs schwerbrandverletzter Erwachsener Alter
Kalorienbedarf
16–59 Jahre
Kalorien [kcal/Tag]= (25×kg KG) + (40×% VKOF)
>60 Jahre
Kalorien [kcal/Tag] = (20×kg KG) + (65×% VKOF)
kg KG: Kilogramm Körpergewicht, VKOF: Prozent der verbrannten Körperoberfläche
gegen eindringende Mikroorganismen aus der mittelbaren Umwelt. Das immunreaktive metabolische Profil ist durch Freisetzung von Entzündungsmediatoren bereits vor Therapiebeginn verändert. Ein Patient mit großflächigen Verbrennungen befindet sich in einem Zustand des Hypermetabolismus; gängige Leitlinien zur Definition einer Sepsis, z. B. Fieber, Tachykardie oder eine Leukozytose, sind daher nahezu immer zu befunden. Ein erhöhter Volumenbedarf bei adäquater Infusionstherapie kann neben einer Blutung auch auf den Beginn einer Sepsis hinweisen. Zeichen einer beginnenden Sepsis sind Fieber oder Hypothermie, Leukozytose oder Leukopenie, Thrombopenie, Hyperglykämie, ein Ileus, eine veränderte Bewusstseinslage und ein beginnendes Organversagen. Im Labor finden sich erhöhte Entzündungsparameter wie z. B. Tumornekrosefaktor α (TNF-α), Interleukin-6 (IL-6), CRP und Prokalzitonin (PCT) [5, 20, 23, 25, 29]. Die Kriterien zur Definition von Infektionen und Sepsis bei Verbrennungspatienten sind in der 7 Übersicht zusammengestellt.
Kriterien der American Burn Association Consensus Conference zur Definition von Infektionen und Sepsis bei Verbrennungspatienten Eine Sepsisquelle wird angenommen im Fall von: 4 Brandwundenbiopsien mit >105 Organismen/g Gewebe oder histologischen Hinweisen einer Gewebeinvasion, 4 positiven Blutkulturen, 4 Harnwegsinfekten mit über 105 Organismen/ml Urin, 4 Pneumonie. Zusätzlich zu einer Sepsisquelle sollten mindestens 5 der folgenden Kriterien erfüllt sein: Tachypnoe (Atemfrequenz >40/min), paralytischer Ileus, Hyper- oder Hypothermie (Temperatur 38,5°C), Vigilanzveränderungen, Thromobozytopenie (150 mg% vorliegen. > In einem optimalen Ernährungsplan beträgt das Verhältnis von Kalorien zu Stickstoff 100–150:1.
Der wesentliche Anteil der Ernährung besteht aus Kohlenhydraten mit einem Kaloriengehalt von 4,5 kcal/g. Eiweiß sollte mit ca. 1–2 g/ kg KG/Tag substituiert werden. Bei Kleinkindern wird aufgrund der relativ größeren Körperoberfläche ein Eiweißanteil von 3 g/ kg KG/Tag benötigt. Wenngleich alle Aminosäuren in ausgewogenem Verhältnis in der Ernährung enthalten sein sollten, nehmen die Aminosäuren Glutamin und Arginin eine besonders wichtige Rolle bei Schwerverbrannten ein. Arginin ist von zentraler Bedeutung für die Wundheilung. Glutamin fungiert als Energielieferant für Lymphozyten, Makrophagen und Enterozyten, als Radikalenfänger und nicht zuletzt als Regulator im Proteinstoffwechsel [18, 19]. Schwerverbrannte weisen einen gestörten Fettstoffwechsel auf. Nach schweren Verbrennungen werden die Fettdepots rasch aufgelöst, dabei findet eine Umverteilung und weniger eine Verwertung der Lipide statt. Unter Umständen verstärken dabei erhöhte Katecholaminspiegel die Lipolyse unter gleichzeitiger Blockade der Fettsäureoxidation. Als Folge resultiert eine Verfettung der Leber. Als Konsequenz daraus sollte der Fettanteil der Diät gering bei ca. 30% Fett bzw. bei 1 g Fett/kg KG/Tag gehalten werden. Bei Kindern sollte die Fettzufuhr mit 10% Fett noch geringer ausfallen. Die Nahrung kann entweder enteral (kurzfristig über nasogastrale oder nasoenterale Tuben und langfristig über eine interventionelle Gastrostomie oder Jejunostomie) oder auf intravenösem Weg zugeführt werden. Studien konnten aufzeigen, dass bei einer enteralen Nahrungszufuhr die Rate von Infektionen und Sepsis und somit die Letalität signifikant niedriger ist als bei parenteraler Ernährung. Wahrscheinlich wirkt die enterale Ernährung einer Atrophie des Darmepithels entgegen und vermindert so das Risiko einer bakteriellen Translokation von Darmflora ins Blut. Auch obere gastrointestinale Blutungen treten unter enteraler Ernährung deutlich seltener auf. Oft geht eine schwere Verbrennung mit einer Magenatonie einher. Da es bei oraler Nahrungszufuhr rasch zu Erbrechen kommen kann, empfiehlt es sich, eine Magensonde zu legen, um eine vorliegende Magenentleerungsstörung frühzeitig erkennen und entlasten zu können. Bei einer Magenatonie kann die Ernährung über eine Duodenalsonde sicher erfolgen. Eine parenterale Ernährung ist nur bei kompletter Dysfunktion des Gastrointestinaltraktes indiziert und sollte zeitlich so kurz wie möglich gehalten werden. Eine geringe Menge enteraler Sondenkost sollte parallel beigeführt werden. Bei parenteraler Ernährung sollte der berechnete Energiebedarf durch Glukose gedeckt werden. Darüber hinaus werden, analog zur enteralen Ernährung, 1–2 g/
kg KG/Tag Aminosäuren appliziert. Aufgrund der Fettverwertungsstörung ist der Fettanteil gering zu halten (1 g/kg KG/Tag Fette) [1].
Elektrolyte In der Akutphase der Verbrennungsbehandlung ist Natrium ein wichtiger Bestandteil der Infusionstherapie. Ungenügende Na-Substitution führt zu schwerwiegenden Komplikationen. Bei ausreichender renaler Funktion wird ein eventueller infusionsbedingter Na+-Überschuss wieder ausgeschieden. Nicht nur Wundsekretion, sondern auch eine Wundbehandlung mit silberhaltigen Präparaten wie z. B. Silbersulfadiazin führt zu einem Natriumverlust durch Ausfallen von Silberchlorid (AgCl). Bei Kindern sind Hyponatriämien etwa 48 h nach der Verbrennung häufiger zu beobachten und müssen unbedingt ausgeglichen werden. Ein Verlust an Kalium erfolgt zum einen über die Wundfläche und zum anderen über die renale Ausscheidung. Beim Verbrennungspatienten ist eine solche Hypokaliämie wesentlich häufiger als eine Hyperkaliämie. Eine Hyperkaliämie kann neben einer beginnenden Niereninsuffizienz auf einen vorliegenden Zellzerfall hinweisen. Bei persistierender Hyperkaliämie sollten tiefer liegende Gewebenekrosen in Betracht gezogen werden; insbesondere nach Stromverletzungen. In den ersten Wochen nach Verbrennungsverletzungen finden sich stets erniedrigte Serumkalziumspiegel. Diese sind teilweise durch die niedrigen Serumalbuminkonzentrationen bedingt, da Kalzium nur teilweise ionisiert und großteils proteingebunden im Serum vorliegt. Eine genauere Aussage erlaubt die Bestimmung der Konzentration an ionisiertem Kalzium. Initial erniedrigte Kalziumspiegel werden zum einen über Verluste im Wundsekret erklärt, zum anderen durch Kalziumverschiebungen nach intrazellulär. Begleitend spielt der verminderte Knochenstoffwechsel eine Rolle. Phosphat verhält sich ähnlich wie Kalzium und ist ebenfalls nach Verbrennungen erniedrigt. Beide Elektrolyte, sowohl Kalzium als auch Phosphat, sind im Stoffwechsel von hoher Wichtigkeit. So sind diese beiden Elektrolyte im Knochenaufbau und Phosphat darüber hinaus in der ATP-Synthese bedeutsam. Wichtig ist deshalb eine adäquate – allerdings seperat erfolgende – Substitution [18, 21].
Vitamine und Spurenelemente Vitamin A (Retinol) spielt eine Rolle in der Fibroblastendifferenzie-
rung und der Neusynthese von Kollagen. Bei Schwerverbrannten findet sich eine erniedrigte Vitamin-A-Konzentration. Vitamin B1 (Thiamin) und Vitamin B2 (Riboflavin) sind an der Wundheilung durch Kollagenvernetzung beteiligt. Bei Verbrennungsverletzungen besteht ein erhöhter Bedarf. Insbesondere Vitamin B2 sollte über einen längeren Zeitraum substituiert werden, um den Bedarf von 10–20 mg pro Tag zu decken. Vitamin B6 (Pyridoxin) ist am Aminosäurestoffwechsel beteiligt und wird daher bei erhöhtem Proteinstoffwechsel in stärkerem Maße benötigt. Die Rolle von Vitamin C (Ascorbinsäure) im Rahmen der Verbrennungstherapie ist vielseitig. Als Radikalenfänger und Antioxidans reduziert dieses Vitamin den Gewebeschaden und wirkt gleichzeitig über die Aktivierung von Leukozyten an der Immunreaktion mit. Insbesondere von Bedeutung ist die maßgebliche Unterstützung der Kollagensynthese im Rahmen der Wundheilung. Vitamin E (Tocopherol) ist als Antioxidans noch potenter als Vitamin C. Auch Tocopherol wird eine gewebeprotektive Wirkung zugeschrieben. Die Substitution der Spurenelemente Zink, Selen und Kupfer erscheint im Rahmen der Verbrennungsbehandlung sinnvoll. Ein Zinkmangel hat schwerwiegende Folgen für die Wundheilung. Die Epithelisierung der Wundareale ist beeinträchtigt, sodass sich als Folge instabile Narben entwickeln können. Zink wirkt darüber hin-
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Kapitel 72 · Brandverletzungen
aus als Radikalenfänger wie Vitamin C und Vitamin E gewebeprotektiv. Eine Substitution ist indiziert, da die körpereigenen Reserven bei Schwerverbrannten innerhalb einiger Tage aufgebraucht sind. Selen schützt Zellen vor oxidativem Stress und toxischen Medikamentenwirkungen. Da Selen auch protektiv gegenüber Silber wirkt, schützt die Gabe vor den Nebenwirkungen einer topischen Silbersulfadiazin-Therapie. Kupfer ist wichtig für den Erhalt diverser Enzymfunktionen im Rahmen der Immunregulation und der Wundheilung. Initial steigt nach schweren Verbrennungen die Serumkupferkonzentration für 10 Tage an, danach fällt der Spiegel jedoch unter die Norm. Hauptsächlich verantwortlich für den Abfall des Kupferspiegels ist der Verlust dieses Spurenelements über die Wundfläche [1, 18, 19, 21].
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Beispiel einer Substitution von Spurenelementen und Vitaminen bei Schwerverbrannten 4 4 4 4 4
Multivitaminpräparat, mit den Vitaminen A, B1, B2, B6, D, E Vitamin C, 2- bis 4-mal pro Tag, jeweils 0,5–1 g Selen 100 μg bis zu 3-mal täglich Zink 30 mg bis zu 3-mal täglich Folsäure 1- bis 2-mal 10 mg täglich
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72.3.7
Besonderheiten in der Behandlung von Kindern mit Verbrennungen
72
Die Behandlung von Kindern nach Verbrühungs- oder Verbrennungstrauma nimmt eine Sonderstellung in der Intensivtherapie ein. Nach der Erstversorgung am Unfallort gemäß den obigen Ausführungen sollte ein Verbrennungszentrum mit Spezialisierung auf Kinderverbrennungen die weitere Therapie gemeinsam mit den federführenden Plastischen Chirurgen oder einem spezialisiertem Kinderchirurgen übernehmen [14].
72
Volumenersatztherapie und Beurteilung
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Eine verzögerte oder ungenaue Volumenersatztherapie des »capillary leak« in der akuten Behandlungsphase hat gerade bei brandverletzten Kindern schwerwiegendere Folgen als beim Erwachsenen mit vergleichbarem Verletzungsausmaß. 2 großlumige periphere und ein zentralvenöser Zugang gewährleisten die Verabreichung großer Flüssigkeitsmengen bei Säuglingen und Kleinkindern mit großflächigen Verbrennungen. Eine intraossäre Punktion, z. B. in der proximalen Tibia stellt ein relativ sicheres Reserveverfahren dar. Der Flüssigkeitsverlust nach einer Verbrennung fällt bei Kindern aufgrund des veränderten Verhältnisses zwischen geringerem Körpergewicht zur Körperoberfläche gravierender aus. Ein Erwachsener hat ein Blutvolumen von etwa 70 ml/kg KG im Vergleich zu einem Säugling mit einem Blutvolumen von 90 ml/kg KG. Entsprechend betrifft der Flüssigkeitsverlust nach einer Verbrennung mit vergleichbarer Ausdehnung bei Kindern einen größeren Anteil des Blutvolumens, als dies bei einem Erwachsenen der Fall wäre. Die Berechnung der Volumenersatztherapie bei Kindern basiert auf Formeln unter Berücksichtigung der Körperoberfläche. Die genaue Dubois-Formel oder die einfachere Jacobson-Formel erlauben die schnelle Berechnung der Körperoberfläche (7 Übersicht).
. Tab. 72.6 Flüssigkeitssubstitution bei brandverletzten Kindern nach der Galveston-Shriners-Burns-Hospital-Formel Zeitraum post Trauma
Schema
Substanzen
Tag 1 (0–24 h)
5000 ml/m2 VKOF + 2000 ml/m2 KOF
Ringer-Laktat + 12,5 g Albumin (davon 50% 0–8 h, 50% 9–24 h)
Tag 2 (24–48 h)
3750 ml/m2 VKOF + 1500 ml/m2 KOF
Ringer-Laktat und Kolloide (Albumin >2,5 g/dl)
Tag 3 (48–72 h)
3750 ml/m2 KOF offener Wunden + 1500 ml/m2 KOF
Ringer-Laktat und Kolloide (Albumin >2,5 g/dl)
KOF=Körperoberfläche; VKOF=verbrannte Körperoberfläche.
Berechnung der Körperoberfläche bei Kindern 4 Dubois-Formel: KOF [m2] = Länge [cm] 0,725×Gewicht [kg] 0,425×0,007184 4 Jacobson-Formel: KOF [m2] = (Länge [cm] + Gewicht [kg] – 60)/100
Die Galveston-Shriners-Burns-Hospital-Formel (Beispiel in . Tab. 72.6) errechnet sich in den ersten 24 h aus 5000 ml/m2 VKOF und zusätzlichen 2000 ml/m2 KOF Ringer-Laktat mit 12,5 g Albumin versetzt. Dabei werden 50% in den ersten 8 h und die verbleibende Hälfte in den folgenden 16 h transfundiert. Am folgenden Tag werden 3750 ml/m2 VKOF zuzüglich einer Erhaltungsmenge von 1500 ml/m2 KOF verabreicht. Neben dem isotonen Ringer-Laktat werden Kolloide nach Bedarf zur Optimierung des Albuminwertes über 2,5 g/dl verabreicht. Am Tag 3 werden 3750 ml/m2 KOF offener Wunden und zusätzliche 1500 ml/m2 KOF gegeben. Die Cincinnati-Shriners-Burns-Hospital-Formel kombiniert die Baxter-Parkland-Formel mit einer zusätzlichen Menge an Erhaltungsflüssigkeit.
Flüssigkeitstherapie nach der Cincinnati-Shriners-BurnsHospital-Formel 4 In den ersten 24 h werden 4 ml pro kg KG pro % VKOF Ringer-Laktat mit einem Zusatz von NaHCO3 und weiteren 1500 ml/m2 KOF Flüssigkeit ergänzt.
Grundsätzlich handelt es sich bei diesen Formeln wie bei den Erwachsenen nur um orientierende Richtlinien. Die klinischen Verlaufsparameter und im Besonderen die Diurese des kleinen Patienten bestimmen die Flüssigkeitssubstitution. Kinder können am 2. posttraumatischen Tag eine Hyponatriämie entwickeln. Diese ist auf die renale Minderleistung in der Entwicklungsphase mit hohen Natriumverlusten im Urin zurückzuführen. Eine regelmäßige Kontrolle ist empfehlenswert. Der Ausgleich eines Kaliumdefizits kann über Kaliumphosphatgaben erfolgen. Bei Kindern 2,5 g/dl) aufrechterhalten werden.
929 72.3 · Intensivmedizinische Therapie bei Verbrennungen
. Tab. 72.7 Galveston-Shriners-Formel für Säuglinge, Kinder und Jugendliche Alter
Kalorienbedarf
0–1 Jahre
2100 kcal/m2 KOF + 1000 kcal/ m2 VKOF
1–11 Jahre
1800 kcal/m2 KOF + 1300 kcal/ m2 VKOF
>12 Jahre
1500 kcal/m2 KOF + 1500 kcal/ m2 VKOF
KOF=Gesamtkörperoberfläche, VKOF=% der verbrannten Körperoberfläche.
Damit kann das intravasale Volumen positiv reguliert werden. Humanalbumin (20%) kann auf 3 Einzeldosen verteilt über 24 h verabreicht werden. Die Bewertung einer Volumenersatztherapie bedarf bei verbrannten Kindern besonderer Überlegungen. Bei Kindern erlauben klinische Zeichen einer Hypotonie, reduzierten Diurese oder Tachykardie keine sichere frühzeitige Beurteilung einer Hypovolämie. Eine vollständige kardiale Dekompensation mit konsekutivem Schockzustand tritt meist erst nach Verlust von bis zu 25% des Blutkreislaufvolumens auf. Des Weiteren verdeutlicht die nach rechts verlagerte Frank-Starling-Kurve ein gering dehnbares Myokard, sodass das Herzminutenvolumen überwiegend durch die Herzfrequenz reguliert wird. Bei Verbrennungen >20% KOF wird nach Legen eines Blasenkatheters die Harnbilanz berechnet. In den ersten Stunden nach dem Trauma wird mindestens alle 15 min die Diurese bestimmt und entsprechend der Bilanz eine Anpassung der Substitutionsmengen durchgeführt. Bei Kindern liegt der Zielwert der Harnproduktion bei 1 ml/kg KG/h und bei Säuglingen bei bis zu 2 ml/kg KG/h. Eine Übertransfusion kann bei Kindern schnell zu Lungen- und Hirnödemen führen und sollte vermieden werden. Zusätzliche Indikatoren des kindlichen Volumenstatus sind neben dem mentalen Zustand und der Körpertemperatur die Rekapillarisationszeit der gesunden Haut, die arteriellen Blut-pH-Werte, Laktatwert und Basendefizite. Diese Parameter sollten ebenfalls in die Bewertung der Volumentherapie mit eingehen. Daneben existieren gering invasive Möglichkeiten des Volumenersatzmonitorings mittels transpulmonaler Thermodilution (TPTD) z. B. als PiCCO-System. Diese Methoden erlauben die Messung des Herzzeitvolumens, des systemischen Gefäßwiderstandes, des globalen enddiastolischen Volumens und des intrathorakalen Blutvolumens und erlauben eine zielgerichtete Volumentherapie.
Atemwege Die Ödembildung mit einem Höhepunkt am 3. und 4. posttraumatischen Tag hat schwere Auswirkungen auf die relativ engen oberen und unteren Atemwege von Säuglingen und Kindern. Im Vergleich zum Erwachsenen findet sich bereits bei geringen Ödemen eine überproportionale Erhöhung des Atemwegswiderstands aufgrund des geringen Durchmessers der Trachea. Eine frühzeitige Intubation mit adäquater Fixierung sollte die Atemwege sichern. Liegt ein Inhalationstrauma (Bronchoskopie, COHb-Werte) vor, so ist aufgrund der hohen Sterblichkeitsrate durch eine Kohlenmonoxidvergiftung neben einer sofortigen Sauerstofftherapie mit einem FIO2 von 1,0 auch eine HBO-Therapie einzuleiten, sofern die technischen Voraussetzungen dazu gegeben sind. Die Therapie des Inhalationstraumas beinhaltet wie beim Erwachsenen eine Sicherung der Atemwege (Intubation, Tracheostomie), die Sekretmo-
bilisation (Lagerung, Lavage, Physiotherapie, Mobilisation) und die medikamentöse Therapie (Bronchodilatation, Heparin und Acetylcystein-Vernebelung).
Hypermetabolismus und Ernährung Nach einer kindlichen Brandverletzung ist der Grundumsatz in Abhängigkeit von der Dimension des Traumas im Sinne eines Hypermetabolismus hochreguliert. Die Auswirkungen dieser hyperdynamen Reaktion äußern sich in einer gesteigerten Herz-Kreislauf-Reaktion mit erhöhtem Energie- und Sauerstoffverbrauch, Proteolysen, Lipolysen und Glykogenolyse. Der Verlust an Muskelmasse, Beeinträchtigung der Wundheilung und Immunschwäche bedingen eine gesteigerte Morbidität mit einem Anstieg der Mortalität. Selbst in einem Intervall nach einem Verbrennungstrauma werden weiterhin Hypermetabolismus und Muskelproteinabbau mit Muskelmassenverlust bei den Patienten beobachtet. Ein gestörtes Nagel-, Haar- und Knochenwachstum mit der Gefahr einer Osteopenie ist nicht selten. Diese Veränderungen beeinträchtigen den Wachstumsverlauf der kleinen Patienten nach großflächigen Verbrennungsverletzungen über Jahre hinweg. Der Katabolismus kann durch Einsatz von Hormonen (z. B. Anabolika, Wachstumshormone, Insulin) und Medikamente geringer gehalten werden. Es steht außer Frage, dass auch bei brandverletzten Kindern eine frühzeitige enterale Ernährung mit proteinreicher hochkalorischer Diät sehr viele Vorteile bietet. Die Berechnung der Kalorienzufuhr erfolgt über Formeln, welche die Körperoberfläche und die Verbrennungsflächen mitberücksichtigen z. B. Galveston-Shriners(. Tab. 72.7) oder Curreri-Junior-Formeln.
72.3.8
Besondere Aspekte in der Behandlung von geriatrischen Patienten
Die Patientengruppe der älteren Patienten muss weniger in rigiden Altersklassen als vielmehr in einer individuellen Betrachtung des Allgemeinzustandes unter besondere Berücksichtigung der gesundheitlichen und sozialen Situation gesehen werden. Neben dem zumeist von jüngeren Patienten abweichenden Verbrennungsmuster und Unfallmechanismus ist eine physiologisch verminderte Reservekapazität in den meisten Organsystemen für die Therapie und Prognose der Verbrennung von Bedeutung [12]. Die reduzierte kardiale Belastbarkeit und damit eingeschränkte funktionelle Anpassungsfähigkeit auf eine Volumenverschiebung bedingt eine erhöhte Mortalitätswahrscheinlichkeit. Komorbiditäten wie eine Herzinsuffizienz oder eine koronare Herzkrankheit können diese noch erheblich erhöhen. Die kardiale Hausmedikation (z. B. β-Blocker oder Kalziumantagonisten) kann die physiologische Adaptation auf Volumenveränderungen oder die Empfindlichkeitsraten auf Katecholamine negativ beeinflussen. Die notwendige Volumentherapie kann in diesem Patientenkollektiv schnell zu einer kardiopulmonalen Dekompensation infolge relativen Volumenüberschusses führen. Die reduzierte pulmonale Compliance durch einen altersbedingt rigiden Brustkorb, ein erschwerter Sauerstoffaustausch bei verminderter Diffusionskapazität und eine reduzierte pulmonale Clearance erschweren eine Atemtherapie. Bei einer notwendigen maschinellen Beatmung ist die eingeschränkte Vitalkapazität zu beachten. Ein manifestes Inhalationstrauma wirkt sich daher prognostisch besonders negativ aus. Daher sollte eine frühzeitige Indikation zur plastischen Tracheostomieanlage gestellt werden. Die Nierenfunktion ist mit zunehmendem Alter aufgrund der reduzierten Anzahl funktioneller Nephrone reduziert. Die Volu-
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930
Kapitel 72 · Brandverletzungen
72
menverschiebungen und die notwendige Volumentherapie muss diesem Umstand Rechnung tragen. Zu beachten ist neben einer reduzierten Kreatinin-Clearance auch die Tatsache einer verringerten Muskelmasse mit verringerter Kreatininproduktion, was in der Labordiagnostik im Serum durch einen normwertigen Kreatininwert eine gute Nierenfunktion vortäuschen kann. Weitere bedeutende Aspekte stellen die reduzierte Glukosetoleranz, eine verlangsamte Regeneration und Wundheilung sowie eine Degenerationen des muskuloskelettalen Systems mit reduzierter Körperkraft dar. Einem evtl. veränderten psychischen Zustand einschließlich einer Demenz der älteren Patienten ist ebenfalls Rechnung zu tragen. Von intensivmedizinischer Bedeutung ist ebenfalls das Konzept der Wundsanierung bei älteren Verbrennungspatienten. Die individuell unterschiedlich eingeschränkten kardiopulmonalen Kapazitäten limitieren die Dauer einer Nekrektomie und einer temporären bzw. autologen Defektdeckung. Auch wenn die aktuelle Datenlage der Studien keinen eindeutigen Vorteil in einer frühzeitigen Nekrektomie und Defektdeckung sieht, kann eine prolongierte konservative Therapie durch Wundinfekte mit systemischer Bakteriämie einschließlich der Gefahr einer Sepsis den vorbelasteten Patienten vital gefährden.
72
> Auch bei älteren kreislaufinstabilen Patienten sollte eine frühzeitige Nekrektomie angestrebt werden.
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Die Wundflächendeckung erfolgt bei Verbrennungsflächen >15– 20% VKOF zweizeitig, zunächst mit Fremdhaut (z. B. glyzerolkonservierte Spenderhaut). Eine autologe Deckung mit Eigenhaut erfolgt im Intervall bei stabilen kardiovasukulären und pulmonalen Verhältnissen sowie in einer günstigeren weniger katabolen Phase der Heilung.
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931
Tauchunfälle, Ertrinken, Unterkühlung C.-M. Muth
73.1
Tauchunfall – 932
73.1.1 73.1.2 73.1.3
Pathophysiologie – 932 Symptomatik des schweren Tauchunfalls – 932 Therapie des schweren Tauchunfalls – 934
73.2
Ertrinken – 936
73.2.1 73.2.2 73.2.3 73.2.4
Ursachen und Abläufe beim Ertrinken – 936 Pathophysiologie des Ertrinkungsunfalls – 936 Therapie – 938 Prognose nach Ertrinken – 939
73.3
Unterkühlung (Hypothermie) – 939
73.3.1 73.3.2 73.3.3 73.3.4
Pathophysiologie – 939 Notfallmaßnahmen bei Hypothermie – 940 Klinische Maßnahmen bei Hypothermie – 942 Prognose – 942
Literatur – 943
H. Burchardi et al. (Hrsg.), Die Intensivmedizin, DOI 10.1007/978-3-642-16929-8_73, © Springer Medizin Verlag Berlin Heidelberg 2011,
73
932
73
Kapitel 73 · Tauchunfälle, Ertrinken, Unterkühlung
73.1
Tauchunfall
Definition
73 73 73 73 73
Der schwere Tauchunfall ist ein potenziell lebensbedrohliches Ereignis, das bei Tauchern und anderweitig überdruckexponierten Personen in der Dekompressionsphase auftreten kann. Durch einen raschen Abfall des Umgebungsdruckes kommt es zur Bildung freier Gasblasen in Blut und Geweben und dadurch zur Dekompressionserkrankung (DCI, von engl. »decompression illness« oder auch »decompression injury«). Abhängig vom Entstehungsmechanismus werden Dekompressionskrankheit (DCS: »decompression sickness«) und arterielle Gasembolie (AGE) unterschieden [1, 2].
73
73.1.1
73
Dekompressionskrankheit
73 73 73 73 73 73 73 73 73 73 73 73 73 73 73 73 73
Pathophysiologie
Mit dem Abtauchen nehmen der Umgebungsdruck und damit entsprechend dem Dalton-Gesetz auch die inspiratorischen Partialdrücke der Atemgase zu. Dies führt (bei Verwendung von Luft als Atemgas) zu einem Anstieg des Stickstoffpartialdruckes auch im Blut und somit zur Ausbildung von Diffusionsgradienten in Richtung der Gewebe. Während des Tauchens werden die Körpergewebe nach dem Gesetz von Henry mit Stickstoff aufgesättigt, und zwar umso mehr, je höher der inspiratorische Partialdruck des Stickstoffs ist. Neben weiteren Faktoren spielen die im Überdruck verbrachte Zeit und die Gewebeperfusion eine wesentliche Rolle bei der Aufsättigung [3]. Die Menge des überschüssig aufgenommenen Inertgases nimmt also mit der Tauchtiefe und der Tauchzeit zu. Beim Auftauchen und der damit verbundenen Druckabnahme bildet sich ein umgekehrter Diffusionsgradient aus. Es kommt zu einer relativen Inertgasübersättigung der Gewebe, die jedoch in einem gewissen Bereich toleriert wird. Bei zu rascher Druckabnahme kommt es hingegen zu einer kritischen Übersättigung mit der Bildung von Gasblasen im Blut und im Gewebe und dadurch zum Dekompressionsunfall [4].
Arterielle Gasembolie (AGE) Die häufigste Ursache für eine arterielle Gasembolie beim Tauchen ist ein pulmonales Barotrauma (PBT) [1, 2]. Das pulmonale Barotrauma entsteht durch die vom Gesetz von Boyle und Mariotte beschriebene Ausdehnung des Atemgases in der Lunge bei nachlassendem Umgebungsdruck während der Dekompression und inadäquater Exspiration (willentliches Luftanhalten, Air-Trapping, Laryngospasmus). Die Folge ist eine Überdehnung der Lunge oder regionaler Bezirke mit der Ruptur von Alveolarabschnitten. Da bereits ein Druckgradient von nur 7,4‒9,8 kPa ‒ entsprechend 75‒100 cm H2O ‒ zur Ruptur von Lungengewebe führen kann [5], sind pulmonale Barotraumen auch beim Tauchen in sehr geringen Wassertiefen (z. B. Schwimmbad) möglich.
Pathophysiologie der Gasblasen Bei massiver Blasenbildung können die Gasblasen direkt im betroffenen Gewebe und im Gefäßsystem entstehen. Gasblasen im Gewebe bedingen durch Verdrängung und mechanische Irritation eine Schmerzsymptomatik, gleichzeitig aber auch durch Kompression von benachbarten Kapillargebieten eine Behinderung der Mikrozirkulation und nachfolgend eine Versorgungsstörung. Gasblasen im Gefäßsystem können zum direkten Gefäßverschluss führen [6]. Die Gasblase bewirkt nicht nur eine mechanische Irritation, sondern als Fremdoberfläche auch erhebliche Schäden am Gefäßendothel, und
löst verschiedene biochemische Reaktionen im Blut [6, 7] aus, v. a. Aktivierung der plasmatischen Gerinnung und von Immunglobulinen [8–10]. Darüber hinaus führt die Aktivierung von Faktoren des Komplementsystems zur Zunahme der Perfusionsstörung und somit des Gewebeschadens. Neben diesen allgemeinen Mechanismen, die sowohl für die DCS als auch für die AGE gelten, führt der Verschluss der hirnversorgenden Arterien zu einer zerebralen Ischämie. Insgesamt ähneln die Pathomechanismen nach zerebraler arterieller Gasembolie denen anderer embolischer Verschlüsse der hirnversorgenden Arterien.
73.1.2
Symptomatik des schweren Tauchunfalls
Die Symptomatik des schweren Tauchunfalls hängt unmittelbar mit der Verteilung der Gasblasen und dem Befall der jeweils betroffenen Gewebe zusammen. Die Symptomatik kann dabei ausgesprochen mild sein, mit nur sehr diskreten Beschwerden, aber auch mit neurologischen Ausfällen einhergehen, die bis zur Para- oder Hemiplegie reichen können (. Tab. 73.1; [1, 2]).
Dekompressionskrankheit (DCS) Die DCS ist vornehmlich auf Blasenbildung im Gewebe und im venösen System zurückzuführen und kann in eine milde und eine schwere Verlaufsform untergliedert werden. Die milde Form, DCS Typ 1, ist durch Hauterscheinungen, Pruritus und Schmerz gekennzeichnet. Die schwere Verlaufsform, DCS Typ 2, umfasst hingegen zusätzlich eine neurologische und/oder pulmonale Symptomatik [1, 2].
DCS Typ 1 Bei dieser Form tritt die Symptomatik in der Regel mit einer deutlichen Latenz auf und kann sich dann langsam weiter entwickeln. Die Latenz für das Auftreten von Symptomen kann mehrere Stunden betragen (in der Regel bis 24 h, Fälle nach bis zu 72 h sind beschrieben) [4, 11]. Die möglichen Erscheinungsformen sind vielfältig. Relativ häufig ist die kutane Symptomatik, die mit fleckig-marmorierter Haut und Pruritus einhergeht. Diese als Taucherflöhe bekannte Erscheinungsform ist Ausdruck eines Blasenbefalls der Kutis und Subkutis mit Reizung entsprechender Nervenendigungen. In selteneren Fällen kann das Lymphsystem betroffen sein. Dann finden sich schmerzhaft geschwollene Lymphknoten, gelegentlich auch umschriebene ödematöse Schwellungen der Haut. Relativ häufig ist die muskuloskelettale Symptomatik, die mit Muskel- und Gelenkschmerzen einhergeht und in der Tauchmedizin als »bends« bezeichnet wird. Die muskuloskelettale Symptomatik entwickelt sich häufig rasch nach dem Auftauchen, meist innerhalb von 6 h nach einem Tauchgang. Neben diesen klassischen Symptomen gibt es auch unspezifische Beschwerden, die an einen Tauchunfall denken lassen sollten. Dazu zählt z. B. eine auffällige Müdigkeit des Betroffenen, die sich nicht aus der Belastung durch den Tauchgang oder das persönliche Verhalten vor dem Tauchgang erklären lässt oder schmerzhaft geschwollene Mammae bei weiblichen Tauchern.
DCS Typ 2 Bei der schweren Verlaufsform der Dekompressionskrankheit können alle unter DCS Typ 1 beschriebenen Symptome auftreten. Erschwerend kommen hier jedoch eine neurologische und/oder auch eine pulmonale Symptomatik hinzu [1, 2].
933 73.1 · Tauchunfall
. Tab. 73.1 Übersicht über die Pathogenese und Symptomatik des schweren Tauchunfalls. (Mod. nach [1]) Dekompressionskrankheit
Arterielle Gasembolie
Aktuelle Nomenklatur
Dekompressionskrankheit, DCS, »decompression sickness
Arterielle Gasembolie, AGE
Synonyme
Caisson-Krankheit, Caisson-Unfall, Druckunfallkrankheit
–
Pathogenetische Faktoren
Größere Tauchtiefe/hohe Umgebungsdrücke 5 Lange Expositionszeit 5 Aufsättigung der Körpergewebe mit Inertgas 5 Zu rasches Auftauchen nach längeren und/oder tiefen Tauchgängen mit hoher Aufsättigung
Übertritt von Gasblasen in die arterielle Strombahn beim Tauchen durch: 5 Pulmonales Barotrauma (PBT) mit Überblähung von Alveolarabschnitten 5 Paradoxe Embolie durch: a) Übertritt venös entstandener Gasblasen über die Lungengefäße b) Übertritt venös entstandener Gasblasen über ein offenes Foramen ovale (PFO)
Zeit bis zum Auftreten von Symptomen
Minuten bis Stunden (in der Regel innerhalb von 24 h, selten bis zu 72 h)
Minuten
Symptomatik
DCS Typ 1: nur Schmerz
Hautsymptome (»Taucherflöhe«): 5 Juckreiz 5 Punktförmige Rötung 5 Schwellung 5 Marmorierung der Haut Muskel- und Gelenkschmerzen (»bends«): 5 Große Gelenke (belastungsabhängig) Skelettmuskulatur 5 Selten: Hand- und Fußgelenke Lymphsystem: 5 Geschwollene, druckdolente Lymphknoten 5 Brustschwellung bei weiblichen Tauchern Sonstiges: 5 Extreme Müdigkeit, Apathie
Benommenheit, Schwindel Verwirrtheit, Desorientiertheit Sprach- und/oder Sehstörungen Nervenausfälle unterschiedlicher Ausprägung: von leichten Empfindungsstörungen über hängendes Augenlid und/oder Taubheit in einzelnen Gliedmaßen bis zur kompletten Halbseitenlähmung und Bewusstlosigkeit Bei Mitbeteiligung des Atemzentrums: 5 Blutdruckabfall 5 Atemstörungen 5 Herzstillstand Pupillenasymmetrie möglich: einseitig weite Pupille
DCS Typ 2: wie Typ 1, zusätzlich mit neurologischer und/ oder pulmonaler Symptomatik
Muskel-/Gelenkschmerzen u. U. schon beim Auftauchen (Verteilung wie bei Typ 1) Schwindel/Erbrechen Hör-/Seh-/Sprachstörungen Gestörte Muskelkoordination Häufig vom Nabel abwärts: 5 Sensibilitätsstörungen, Paresen, Paraplegie 5 Blasen- und Mastdarmschwäche Akute Dyspnoe (»Chokes«) mit Brustschmerz, Husten, Erstickungsgefühl Bei paradoxer Embolie auch Halbseitensymptomatik möglich
Die pulmonale Symptomatik beruht auf einer massiven Verlegung der pulmonalen Strombahn mit venösen Gasblasen und ähnelt pathophysiologisch der venösen Gasembolie anderer Ursache. Die Symptomatik entwickelt sich unmittelbar bzw. sehr rasch nach dem Auftauchen und ist gekennzeichnet durch retrosternale Schmerzen, flache, rasche Atmung sowie die typischen trockenen Hustenattacken, die dieser Erscheinungsfom den Namen (»chokes«) gegeben haben. Differenzialdiagnostisch ist stets auch an ein pulmonales Barotrauma zu denken. Die neurologische Symptomatik betrifft v. a. das Rückenmark, aber auch andere Manifestationsorte des Nervensstems. Die Symptomatik tritt innerhalb von Minuten bis zu wenigen Stunden nach dem Tauchgang auf. Sie kann ausgesprochen mild sein und lediglich mit umschriebenen Parästhesien einhergehen; sie kann aber auch
einen kompletten Querschnitt verursachen. Ist das Gehirn der Manifestationsort, so kann die Erscheinungsform von leichten kognitiven Störungen bis zum Koma reichen [11, 12]. Eine Sonderform der neurologischen DCS ist der Befall des Innenohrs, der zu Schwindel, Übelkeit, Erbrechen führen kann, oft verbunden mit einem Nystagmus sowie Hörverlust und Tinnitus.
Pulmonales Barotrauma (PBT) Beim pulmonalen Barotrauma kann es zur Ruptur von Alveolarabschnitten mit unterschiedlichen Folgen kommen (. Abb. 73.1; [1, 2]). Eine Ruptur pleuranaher Abschnitte kann zum Eindringen von Luft in den Pleuraspalt und somit zum Pneumothorax führen. Findet die Ruptur noch unter Überdruckbedingungen statt und ist die Dekompression nicht völlig abgeschlossen, kommt es zur weiteren
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Kapitel 73 · Tauchunfälle, Ertrinken, Unterkühlung
anfalls. Die Symptomatik kann von leichten Paresen und motorischen Schwächen bis hin zur Hemiplegie reichen. Bei Befall des Hirnstamms mit Ausfall entsprechender Zentren sind auch akute Kreislaufreaktionen und Störungen der Atemregulation möglich [6]. Die Symptomatik einer AGE tritt meist innerhalb von Sekunden bis Minuten nach dem Auftauchen auf [1, 2]. Nicht selten werden zerebrale arterielle Gasembolien von zerebralen Krampfanfällen begleitet, die ausgesprochen therapieresistent sein können. Da diese Form des Krampfanfalls in der Regel nur unzureichend auf die Gabe von Benzodiazepinen anspricht, sollten hierfür Barbiturate eingesetzt werden [6].
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73.1.3
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Die Behandlung des schweren Tauchunfalls erfolgt nach empirischen Grundsätzen. Von unbestreitbarem Nutzen sind v. a. die normobare Sauerstoffgabe und die Infusionstherapie für die Akutbehandlung sowie die schnellstmögliche Rekompression und Therapie mit hyperbarem Sauerstoff in einer Therapiedruckkammer. Entsprechend besteht auch für diese Maßnahmen internationaler Konsens und Einigkeit bei den Leitlinien der jeweiligen Fachgesellschaften (. Abb. 73.2; [2,14]).
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Notfallmaßnahmen
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. Abb. 73.1 Symptomtrias bei pulmonalem Barotrauma. Darstellung der klassischen Trias der möglichen Folgen eines pulmonalen Barotraumas mit nachfolgender Lungenüberdehnung. Willentliches oder unwillkürliches Luftanhalten beim Auftauchen kann zur Lungenüberdehnung führen. Mögliche Folgen sind eine arterielle Gasembolie z. B. in zerebralen Gefäßen (1), ein Pneumothorax (2), der sich zum Spannungspneumotharax entwickeln kann, und ein Mediastinalemphysem (3). Zu beachten ist, dass jede Folgeerscheinung allein, aber auch in jeder beliebigen Kombination auftreten kann!
73
Ausdehnung des Gases mit Ausbildung eines Spannungspneumothorax. Erfolgt die Ruptur in der Nähe der Hili, entwickelt sich ein Mediastinalemphysem, gelegentlich begleitet von einem kollaren Emphysem. In sehr schweren, aber seltenen Fällen kann die mediastinale Gasmenge zu einer Kompression des Herzens, hier v. a. des rechten Herzens, und über Rückflussbehinderungen und Arrhythmien zu Kreislaufstörungen führen. Am meisten gefürchtet ist jedoch das Eindringen von Gas in das Gefäßsystem, speziell in die arterielle Strombahn. Die Folge ist eine arterielle Gasembolie, wobei die Gasbläschen dem Blutstrom folgend in alle Endarterien gelangen können. Besonders gefürchtet ist die zerebrale arterielle Gasembolie, die mit einer schlaganfallähnlichen Symptomatik unterschiedlichster Ausprägung einhergeht und für ca. 15% aller tödlich verlaufenden Tauchunfälle verantwortlich ist [13].
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Arterielle Gasembolie (AGE)
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Therapie des schweren Tauchunfalls
Hier sind grundsätzlich alle Erscheinungsformen denkbar, abhängig von den betroffenen Versorgungsgebieten. Da die arteriellen Blasen dem Blutstrom folgen, ist ein Befall der hirnversorgenden Arterien sehr wahrscheinlich. Auch hier ist die Symptomatik von der Menge des eingedrungenen Gases sowie von den betroffenen Versorgungsgebieten abhängig und ähnelt der des akuten Schlag-
Wie bei jedem Notfall steht die Sicherung der Vitalfunktionen im Vordergrund. Neben einer kurzen Eigen- oder Fremdanamnese, in der nach den Tauchgangsdaten, vor allem Tiefe und Tauchgangszeit, sowie Besonderheiten während des Tauchgangs gefragt werden sollte, muss der Zeitverlauf der Symptome dokumentiert werden. Des Weiteren muss unbedingt eine sorgfältige Erhebung des neurologischen Status sowohl für periphere Nervenfunktionen als auch Hirnnerven und ZNS erfolgen. Die Befunde müssen gut dokumentiert und dem weiterbehandelnden Arzt zur Verfügung gestellt werden. Da die Ursache für die Symptomatik stets auch ein pulmonales Barotrauma sein kann, muss eine sorgfältige Auskultation der Lungen zum Ausschluss eines Pneumothorax erfolgen, der bei Vorliegen entlastet werden muss. Normobare Sauerstoffgabe. Die wichtigste Sofortmaßnahme beim Tauchunfall ist die schnellstmögliche Gabe von Sauerstoff [1, 2, 14]. Die inspiratorische Sauerstoffkonzentration muss so hoch wie möglich sein (angestrebte FIO2 1,0!). Ziel ist die rasche Inertgaselimination bei gleichzeitiger Minimierung der durch die Gasblase hervorgerufenen Hypoxie. Die rasche Gabe von Sauerstoff mit möglichst hoher FIO2 kann zu einem Rückgang der Symptomatik führen. Zudem ist erfahrungsgemäß die Effektivität der weiterführenden Therapiemaßnahmen bei jenen Tauchern verbessert, die mit normobarem Sauerstoff vorbehandelt wurden [2, 14]. Flüssigkeitsgabe zum Ausgleich eines Volumendefizits. Jeder
Taucher hat nach einem Tauchgang ein Volumendefizit, weil es während des Tauchens zu einer überschießenden Urinproduktion gekommen ist. Dieses Flüssigkeitsdefizit ist ungünstig, da nicht nur die Rheologie des Blutes verändert, sondern auch die Inertgasabgabe reduziert ist. Die Gabe von Flüssigkeit stellt daher bei der Akutbehandlung des schweren Tauchunfalls einen wesentlichen Therapiepfeiler dar. Zum Volumenausgleich eignen sich sowohl kolloidale als auch kristalloide Infusionslösungen. Der empfohlene Flüssigkeitsersatz beträgt als Initialdosis 1000‒2000 ml in der ersten Stunde mit einer Erhaltungsdosis von bis zu 500 ml/h in der Folge, ggf. abhängig von den klinischen Parametern [1, 2, 14].
935 73.1 · Tauchunfall
. Abb. 73.2 Flussdiagramm der Tauchunfallbehandlung. (Mod. nach [16])
Lagerung. Aktuelle Therapievorschläge empfehlen sowohl für die
DCS als auch für die AGE die flache Rückenlagerung des Patienten, bei bewusstlosen Patienten auch die stabile Seitenlage [1, 2]. Transport. Der Transport von verunfallten Tauchern sollte mög-
lichst erschütterunsfrei erfolgen, weil bei stärkeren Erschütterungen mit weiterer Freisetzung von Gasblasen gerechnet werden muss. Ist ein Lufttransport vorgesehen oder unumgänglich, muss bedacht werden, dass jede weitere Druckreduktion die Symptomatik verschlechtern kann.
Weiterführende Therapiemaßnahmen Hyperbare Sauerstofftherapie (HBO). Die Therapie mit hyperba-
rem Sauerstoff stellt die einzig sinnvolle weiterführende Therapiemaßnahme dar [1, 2, 11, 14], denn hierdurch werden die Gasblasen aufgelöst. Aus diesem Grund sollten alle Patienten mit der klinischen Symptomatik einer Dekompressionserkrankung schnellstmöglich einer Rekompressionsbehandlung mit hyperbarem Sauerstoff zugeführt werden. Obwohl die unverzügliche Rekompression die besten Ergebnisse bringt, ist eine Druckkammerbehandlung auch nach längerem Verzug noch indiziert, um eine Verbesserung des Zustands zu erreichen. Für die Therapie der arteriellen Gasembolie und für die schwere DCS steht ein bestimmtes Behandlungkonzept zur Verfügung, das mit Therapiedrücken von 280 kP (2,8 bar) nach einer initialen
Behandlung, je nach klinischem Verlauf, noch über 1‒3 weitere Behandlungen durchgeführt wird [2]. Ist danach noch eine Restsymptomatik vorhanden, erfolgt die Weiterbehandlung nach dem Therapieschema für Spätbehandlungen bei niedrigeren Therapiedrücken. Diese Behandlungen werden so lange durchgeführt, bis es zu einer Stagnation kommt. Sind über 2‒3 Behandlungseinheiten keine klinischen Fortschritte mehr zu erzielen, kann die HBO-Therapie beendet werden. Als für den Therapieerfolg außerordentlich günstig haben sich therapiebegleitende rehabilitative Maßnahmen und krankengymnastische Übungen erwiesen. Hierbei scheinen sich deutlich bessere Fortschritte im Heilungsverlauf erzielen zu lassen, wenn die Physiotherapie schon während der laufenden HBO-Therapie begonnen wird [2].
Intensivmedizinische Besonderheiten Es gibt außer den oben erwähnten Therapiemaßnahmen keine spezifischen Therapieoptionen oder speziellen medikamentösen Einflussmöglichkeiten. Andererseits sind sämtliche intensivmedizinischen Standardverfahren, soweit der Umstand sie erfordert, möglich und statthaft (z. B. Heparinisierung des immobilen Patienten). Bei massivem Gasblasenbefall im Rahmen einer AGE oder einer sehr schweren DCS Typ 2 kann es zur Rhabdomyolyse kommen, so dass nierenprotektive Maßnahmen und eine forcierte Diurese notwendig werden [15, 16].
73
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Kapitel 73 · Tauchunfälle, Ertrinken, Unterkühlung
73
Bei intubierten Patienten muss vor Beginn der Druckkammerbehandlung ein Pneumothorax sicher ausgeschlossen sein. Darüber hinaus sollte wegen der Unfähigkeit zum Druckausgleich eine Parazentese beidseits durchgeführt werden. Für den Intensivmediziner ist wichtig, dass der Tubuscuff während der Druckkammerbehandlung in der Regel mit Flüssigkeit geblockt werden muss (Aqua dest. oder NaCl 0,9%), um physikalisch bedingte Größenveränderungen eines luftgefüllten Cuffs während der Kompression (Undichtigkeit) oder Dekompression (Cuffruptur, Trachealruptur) zur vermeiden. Die Flüssigkeit muss nach den Behandlungen jeweils entfernt und der Cuff wieder mit Luft geblockt werden [11, 16, 17].
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73.2
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Definition Die klassische Differenzierung der Begriffe Ertrinken und Beinahe-Ertrinken ist international durch eine neue Nomenklatur ersetzt worden, bei der nur noch der Begriff »Ertrinken« Verwendung findet. Gemäß des International Liaison Committee on Resuscitation (ILCOR) wird demnach Ertrinken als »Prozess der primären Atmungsstörung durch Ein-/Untertauchen in Flüssigkeit« definiert.
73 73.2.1
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Ertrinken
Ursachen und Abläufe beim Ertrinken
Das Ertrinken ist weltweit ein Problem v. a. der jüngeren Lebensjahre, von dem Kleinkinder besonders betroffen sind. Daneben zeigt sich eine statistische Häufung in der späten Pubertät und im jüngeren Erwachsenenalter, häufig mit Alkohol als Kofaktor, sowie in der Altersgruppe zwischen 40 und 50 Jahren, hier im Zusammenhang mit kardialen Ereignissen [19, 20]. Wird der Beginn des Ertrinkens bei noch vollem Bewusstsein erlebt, kommt es zu einer initialen Panikreaktion, verbunden mit heftigsten, automatisch einsetzenden Schwimmbewegungen. Während des vollständigen Untertauchens erfolgt ein reflektorisches Atemanhalten, gleichzeitig werden häufig größere Mengen Flüssigkeit geschluckt. Infolge dessen kann es zum Erbrechen kommen, einhergehend mit einer unwillkürlichen Inspiration. Dies, oder die unwillkürliche Inspiration infolge eines maximalen Atemreizes nach längerem Luftanhalten, führt zur Aspiration zunächst kleinster Flüssigkeitsmengen, wodurch in der Regel ein Laryngospasmus ausgelöst wird. Der zunehmende Sauerstoffmangel mündet in eine Bewusstlosigkeit. In dieser Phase kann es erneut zur Aspiration kommen, weil der Laryngospasmus sich löst. Schließlich kommt es zu hypoxischen Konvulsionen und zum Tod [18, 19].
73
73.2.2
73
Beim Ertrinken ohne Aspiration, das in ca 15% der Fälle zu beobachten ist, ist die wahrscheinlichste Ursache ein Herzstillstand, der u. U. noch während des bestehenden Laryngospasmus eintritt. In der überwiegenden Zahl der Fälle kommt es jedoch während des Ertrinkens zur Aspiration zumindest kleiner Mengen an Flüssigkeit (in der Mehrzahl der Fälle deutlich weniger als 22 ml/kg KG; [18, 20, 21])
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Pathophysiologie des Ertrinkungsunfalls
Salzwasserertrinken und Süßwasserertrinken Salzwasser ist im Vergleich zum Blut eine hypertone Flüssigkeit. Aufgrund dieser Unterschiede in der Osmolarität bildet sich bei Anwesenheit von Salzwasser im Alveolarraum ein Diffusionsgradient aus, der zum Einstrom von Plasma aus dem Gefäß in die Alveolen führt. So kommt es in den betroffenen Alveolarabschnitten zu einem intraalveolären Lungenödem (. Abb. 73.3; [18, 20]). Süßwasser ist hingegen im Vergleich zum Blut hypoton. Auch hier bildet sich daher nach Aspiration ein Diffusionsgradient zwischen Alveole und Blutgefäß aus, allerdings entgegengerichtet. Der Ausstrom von Süßwasser aus den betroffenen Alveolarabschnitten hat ein Auswaschen von Surfactant mit Ausbildung von Atelektasen in den betroffenen Abschnitten zur Folge [18, 21]. Gleichzeitig kann sich aber beim Ertrinken in Süßwasser ein Lungenödem ausbilden [22]. Es ist noch nicht vollständig geklärt, warum es dazu kommt. Mögliche Ursachen sind eine Verletzung der Integrität der Alveolarwand durch das Auswaschen des Surfactants, eine initiale, vorübergehende Hypervolämie der pulmonalen Strombahn und möglicherweise auch ein entzündliches Lungenödem [23].
Weitere Pathophysiologie und klinisches Erscheinungsbild Obwohl der Unterscheidung in Süß- und Salzwasserertrinken für längere Zeit größte Wichtigkeit zugeordnet wurde, konnten die ursprünglich postulierten Veränderungen (z. B. ausgeprägte Elektrolytverschiebungen, massive Hämolyse u. a.) bei Klinikaufnahme, bis auf wenige Ausnahmen, nie in dem postulierten Maße beobachtet werden. Eine Unterscheidung in Süßwasser- und Salzwasserertrinken ist daher aus heutiger Sicht, zumindest für die Therapie, von geringer Bedeutung. Tatsächlich ist bei allen Betroffenen eine mehr oder minder stark ausgeprägte Hypoxie nachweisbar [18, 20, 21]. Eine solche Hypoxie tritt unmittelbar nach Aspiration von Flüssigkeit ein. Schon bei der Aspiration einer kleinen Menge von nur 1–2,2 ml/kg KG Flüssigkeit in die Lunge sind ausgeprägte Veränderungen des arteriellen Sauerstoffgehalts zu beobachten. Im Gegensatz zum Ablauf ohne Aspiration, bei der eine Hypoxie relativ rasch durch Beatmung und Wiederherstellung eines Kreislaufs beseitigt wird, persistiert die Hypoxie bei Zustand nach Aspiration über längere Zeit [24]. Die Ursache liegt in der Ausbildung pulmonaler Rechts-links-Shunts, die eine venöse Beimischung im arteriellen System zur Folge haben. Die Ursache ist der beschriebene Verlust von Gasaustauschfläche als Folge der Flüssigkeitsaspiration. In jedem Fall ist am Ende ein Lungenödem, ein Verlust von Gasaustauschfläche, ein Rechts-links-Shunt und eine Abnahme der Compliance der Lunge zu beobachten (. Abb. 73.3; [18, 25]).
Hypothermie In vielen Fällen von Ertrinken findet sich begleitend eine mehr oder minder stark ausgeprägte Hypothermie. Die Ursache dafür liegt in der, verglichen mit Luft, höheren Wärmeleitfähigkeit von Wasser, die beim Opfer zu einer vermehrten und beschleunigten Auskühlung führen kann [20]. Eine Absenkung der Körpertemperatur erhöht jedoch die Wiederbelebungszeit, sodass bei einer notwendigen Herz-Lungen-Wiederbelebung mit scheinbarer Erfolglosigkeit keinesfalls mit den Maßnahmen aufgehört werden darf, ehe der Patient normotherm ist, da bei niedrigen Körpertemperaturen auch nach längerer Zeit noch erfolgreich wiederbelebt werden kann [21]. Dies betrifft v. a. Kinder, die wegen des Verhältnisses von Körperoberfläche zu Körpervolumen besonders rasch auskühlen und bei denen erfolgreiche Wiederbelebungsmaßnahmen nach Submersionszeiten von bis zu 66 min beschrieben werden [22]. Unter besonders günstigen Bedingungen gilt dies auch für Erwachsene.
937 73.2 · Ertrinken
Allerdings hängt das Ausmaß einer solchen Unterkühlung von vielen Faktoren ab. Ganz wesentlich für den Grad der Hypothermie ist die Temperatur des Wassers, aber auch die Menge der aspirierten und geschluckten kalten Flüssigkeit, das Verhältnis von Körperoberfläche zu Körpervolumen (s. oben) [20] sowie die Isolation der betreffenden Person.
Wirbelsäulenverletzungen Bei Badeunfällen, die mit der Symptomatik Ertrinken einhergehen, ist an die Möglichkeit knöcherner Verletzungen der Wirbelsäule, speziell der Halswirbelsäule, zu denken. Gerade bei jüngeren Menschen und einem Unfallgeschehen in Ufernähe ist dem Ereignis nicht selten ein (Kopf-)sprung ins Wasser vorausgegangen, der zu der typischen Verletzung geführt haben kann. Hier ist zu bedenken, dass es sowohl primär zur Schädigung von Nerven und Rückenmark gekommen sein kann, die dann zum Ertrinken führten, oder aber dass es zur irreversiblen Nervenschädigung erst durch Luxationen der Fraktur gekommen ist, die die Folge zu starker Manipulationen bei der Rettung waren. Bei Verdacht (Geschehen ufernah, anamnestisch Sprung oder Sturz ins Wasser) ist daher entsprechende Vorsicht angezeigt, und es sollte eine Stabilisierung der Halswirbelsäule erfolgen [28].
Neurologische Störungen
. Abb. 73.3 Pathophysiologie der Abläufe beim Ertrinken. Obwohl initial pathophysiologisch völlig unterschiedlich, ist die endgültige Konsequenz sowohl des Ertrinkens im Süsswasser als auch im Salzwasser ein Verlust von Gasaustauschfläche und eine Oxygenierungsstörung mit Ausbildung einer mehr oder minder schweren Hypoxie, die in schweren Fällen zum hypoxisch bedingten Multiorganversagen führt
Neben den bislang beschriebenen pathophysiologischen Veränderungen tritt bei zahlreichen Ertrunkenen ein mehr oder weniger schweres Hirnödem auf [29], sehr wahrscheinlich als Reaktion auf eine zerebrale Hypoxie. Abhängig vom Ausmaß und der Dauer der zerebralen Hypoxie, aber auch von der Körpertemperatur während der hypoxischen Episode, kann daher eine Hirnschädigung unterschiedlichster Ausprägung die Folge sein. Insgesamt kann der neurologische Zustand eines Patienten nach Ertrinken über einen weiten Bereich variieren. Um hier eine gewisse Vergleichbarkeit und Systematik zu ermöglichen, wurde u. a. eine Klassifizierung vorgeschlagen, die den neurologischen Zustand in die Kategorien A, B und C einteilt und praktikabel ist (. Tab. 73.2; [30]).
. Tab. 73.2 Klassifikation des neurologischen Status bei Ertrunkenen Kategorie
Subkategorie
Entspricht Glasgow Coma Scale
Beschreibung
A
Keine
15
»Awake« (= wach)
B
Keine
10–13
»Blunted« (= eingetrübt) 5 Lethargie 5 Desorientiertheit 5 Agitiertheit 5 Gerichtete Schmerzabwehr
C
Abhängig von motorischer Antwort
3–5
»Comatose« (= komatös)
C1
5
5 Dekortiziert 5 Beugesynergismen auf Schmerzreiz 5 Cheyne-Stokes-Atmung
C2
4
5 Dezerebral 5 Strecksynergismen auf Schmerzreiz
C3
3
5 Keine Reaktionen auf Reizung
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Kapitel 73 · Tauchunfälle, Ertrinken, Unterkühlung
Ertrinken Als Folge eines zunächst überlebten Ertrinkens kann sich der Zustand des Patienten rasch verschlechtern, zum einen bedingt durch den beschriebenen Sachverhalt (früher auch sekundäres Ertrinken genannt), aber auch durch eine entzündliche Reaktion der Lunge, die in ein ARDS und in ein Multiorganversagen münden kann [22].
73.2.3
Therapie
Präklinische Maßnahmen Wichtig ist schnelle Rettung! Dazu müssen Verunfallte rasch an die Wasseroberfläche gebracht werden. Der Transport an Land bzw. in ein Boot muss ebenfalls schnellstmöglich erfolgen. Falls nötig, muss dort umgehend mit der kardiopulmonalen Reanimation begonnen werden. Wegen des beschriebenen Verlustes von Gasaustauschfläche und der vermehrten venösen Beimischung sollte die Beatmung des Verunfallten mit einer FIO2 von 1,0 erfolgen [18–20]. Die Indikation zur Intubation sollte möglichst großzügig gestellt werden, weil zum einen mit einer plötzlichen drastischen Verschlechterung des Zustands gerechnet werden muss und zum anderen die Beatmung mit erhöhten endexspiratorischen Drücken (PEEP) einen günstigen Einfluss auf den Verlauf hat (. Abb. 73.4). Keinesfalls soll Zeit mit dem Versuch vergeudet werden, Wasser aus der Lunge des Verunfallten zu entfernen, wobei eine Absaugung des Rachenraums vor der Intubation jedoch sehr häufig notwendig
ist, da u. U. nur so geeignete Intubationsbedingungen geschaffen werden können. Darüber hinaus sollte nach Intubation und initialer Blähung der Lunge intratracheal abgesaugt werden, um evtl. vorhandenen Schaum oder auch Aspirat aus der Trachea und den Bronchien zu entfernen. Neben der frühzeitigen Intubation sollte rasch ein venöser Zugang geschaffen werden. Des Weiteren sollte so bald wie möglich eine kontinuierliche EKG-Überwachung und v. a. eine pulsoxymetrische Überwachung erfolgen. Im Verlauf des Ertrinkens werden regelhaft größere Flüssigkeitsmengen verschluckt. Entsprechend ist mit einem prall gefüllten Magen zu rechnen. Dadurch wird einerseits die Aspirationsgefahr erhöht und andererseits eine adäquate Beatmung behindert. In vielen Fällen ist es zwar schon vor Beginn der Rettungsmaßnahmen zur Aspiration auch von Erbrochenem gekommen, dies kann jedoch auch während der Rettungsmaßnahmen wiederholt geschehen. Nach adäquater Primärversorgung, Sicherung der Atemwege und Stabilisierung des Zustandes sollte daher der Magen über eine Sonde entlastet werden. Die medikamentöse Wiederbelebung erfolgt nach den Empfehlungen des European Resuscitation Council (ERC) [31]. Hierbei ist jedoch zu bedenken, dass bei stärkerer Unterkühlung die Wirkung der Notfallmedikamente verzögert einsetzen kann und dass unter den Bedingungen der Hypothermie die Flimmerschwelle des Herzens verschoben ist.
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. Abb. 73.4 Flussdiagramm bei Ertrinken. Neben einer raschen Rettung sind bei allen Patienten nach Ertrinken die Sauerstoffgabe und die stationäre Überwachung erforderlich. In Fällen mit objektivierbarer pulmonaler Beeinträchtigung ist eine frühe Intubation gerechtfertigt, der Sauerstoffgehalt des Inspirationsgases sollte hier höchstmöglich sein. Schwere Fälle benötigen eine intensivmedizinische Überwachung und Versorgung
939 73.3 · Unterkühlung (Hypothermie)
! Cave Wegen der bereits beschriebenen Neigung zur plötzlichen Verschlechterung des Zustandes müssen die Geretteten ständig überwacht werden.
Es gilt daher für jeden Fall von Ertrinken, dass neben einer guten und v. a. raschen Erstversorgung für einen ebenso raschen Transport in ein Krankenhaus gesorgt werden muss. Dies gilt sowohl für Verunfallte, bei denen Herz-Lungen-Wiederbelebung notwendig war, als auch bei jenen, die spontan atmend, evtl. sogar neurologisch und pulmonal unauffällig gerettet werden konnten. In jedem Fall ist die stationäre Überwachung angezeigt, bei entsprechender Symptomatik auf einer Intensivstation, da es wegen der Lungenschädigung noch Stunden bis Tage nach dem Ereignis zu einer plötzlichen Verschlechterung des Zustandes kommen kann.
Klinische Versorgung Die klinische Versorgung richtet sich ganz wesentlich nach dem Zustand des Patienten. Während bei problemlosen Verläufen bei Patienten der Kategorie A (. Tab. 73.2) eine reine Überwachung angezeigt sein kann, erfordern Patienten der Kategorie B zumindest die intensivmedizinische Überwachung und Patienten der Kategorie C eine forcierte intensivmedizinische Behandlung. Bei diesen komatösen Patienten ist neben einer effektiven Wiedererwärmung und der Behandlung der pulmonalen Störungen auch der Versuch der zerebralen Wiederbelebung angezeigt. In diesem Zusammenhang ist jedoch nicht die Normothermie anzustreben, sondern eine milde Hypothermie hat sich als günstig erwiesen [31]. Unter klinischen Bedingungen sollten die Patienten der Kategorien B und C ein erweitertes Monitoring erhalten, so dass sich die Therapie an den damit erhobenen Parametern orientieren kann. Dazu gehört je nach klinischer Situation eine arterielle Kanülierung, so dass Blutgase und Elektrolyte regelmäßig bestimmt und der Blutdruck kontinuierlich gemessen werden können, weiterhin ein zentraler Venenkatheter zur Applikation von Katecholaminen und zur Abschätzung der Volumensituation. Da bei ausgeprägter zerebraler Hypoxie mit einem Hirndruckanstieg zu rechnen ist, sollte v. a. beim komatösen Patienten das Anlegen einer Hirndrucksonde erwogen werden [32]. Darüber hinaus sollte eine möglichst genaue Überwachung der Körpertemperatur mit Einhaltung einer milden Hypothermie (32– 34°C entsprechend den aktuellen Empfehlungen des ERC) in der frühen Phase erfolgen [31], ebenso das Legen eines Blasenkatheters. Als weitere diagnostische Maßnahme ist die Röntgenkontrolle der Lunge angezeigt; CT- oder NMR-Untersuchungen sind in der Frühphase hingegen nicht zwingend notwendig. Bei ungeklärter Ursache für das Ertrinken, z. B. bei lautlosem Untergehen im Wasser, ist zum Ausschluss internistischer oder neurologischer Erkrankungen ggf. die Diagnostik mittels EKG, EEG sowie abdomineller Sonographie angezeigt. Die Infusionstherapie richtet sich nach dem klinischen Bild und der Hämodynamik. Initial kann es notwendig sein, ein gewisses Flüssigkeitsdefizit auszugleichen, weil, wie oben beschrieben, durch Flüssigkeitsverschiebungen in das Gewebe und in die Lunge eine relative Hypovolämie vorliegen kann [33]. In der Folge sind jedoch häufig eine Volumenrestriktion und die Gabe von Diuretika oder osmotisch wirksamen Infusionslösungen notwendig, um das Hirn- und Lungenödem zu behandeln. Auch die respiratorische Therapie richtet sich nach dem klinischen Bild. Hier ist sowohl die alleinige supplementäre Gabe von Sauerstoff beim spontan atmenden Patienten als auch die Behandlung eines schweren ARDS denkbar. Es sei auf die entsprechenden
Kapitel zur Respiratortherapie verwiesen (7 Kap. 37–42). Die Gabe von Surfactant nach Ertrinken ist wegen der sehr widersprüchlichen Datenlage derzeit allenfalls als Ultima ratio in sehr schweren Fällen in Betracht zu ziehen [34]. Die medikamentöse Therapie richtet sich ebenfalls nach den klinischen Erfordernissen und allgemeinen intensivmedizinischen Therapieprinzipien. Nicht selten entwickelt sich infolge eines Ertrinkens eine Pneumonie, die entsprechend antibiotisch behandelt werden muss. Es sollte jedoch keine blinde Prophylaxe erfolgen, sondern erst bei positivem Erregernachweis gezielt behandelt werden [35].
73.2.4
Prognose nach Ertrinken
Die Prognose nach Ertrinken hängt ganz wesentlich von der Dauer der Hypoxie und der Ausprägung der neurologischen Schädigung ab. Während Patienten, die mit Kategorie A (. Tab. 73.2) klassifiziert wurden, das Ereignis in der Regel ohne bleibende Ausfälle überleben, ist die Überlebensrate bei Patienten der Kategorie B schon leicht verringert, auch kann es bei den Überlebenden zu neurologischen Dauerschäden kommen. Von den mit C klassifizierten Patienten sterben trotz initialem Überleben 30–40%; bei den Überlebenden ist eine bleibende neurologische Beeinträchtigung durchaus wahrscheinlich. > Die Dauer der Hypoxie gehört zu den wichtigsten prognostischen Faktoren. Bei Ertrunkenen ist daher absolute Eile bei der Behebung einer Hypoxie geboten. Wegen der spezifischen pathophysiologischen Veränderungen sollte dabei die initiale FIO2 so hoch wie möglich sein [36].
73.3
Unterkühlung (Hypothermie)
Definition Der menschliche Körper hat die Fähigkeit, seine Körpertemperatur auch bei Schwankungen der Umgebungstemperatur konstant bei etwa 37°C zu halten. Unterkühlung (Hypothermie) ist daher streng genommen definiert als Abfall der Körperkerntemperatur unter diesen Bereich, der aber naturgemäß in Grenzen Schwankungen unterliegt. Klinisch wird daher dann von Hypothermie gesprochen, wenn die Körperkerntemperatur des Patienten unter 35°C liegt [37–40].
73.3.1
Pathophysiologie
Ursachen der akzidentellen Hypothermie Zur Hypothermie kommt es dann, wenn die Wärmeabgabe des Körpers für längere Zeit die Wärmeproduktion übersteigt, oder die Wärmeabgabe so rasch erfolgt, dass eine Aufrechterhaltung der Homöostase nicht möglich ist (z. B. Eiswasserertrinken) [37, 40]. Wesentliche Kofaktoren sind bei diesem in Mitteleuropa eher seltenen Krankheitsbild Alkohol- und Drogenmissbrauch, psychiatrische Erkrankungen, Ertrinkungsunfälle, Lawinenunglücke, Bootsunfälle im Küstenbereich und schwere Traumen. Bei Erwachsenen ist der Alkohol- und Drogenmissbrauch die führende Ursache, während bei Kindern häufiger als Auslöser Ertrinkungsunfälle vorliegen [26].
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Kapitel 73 · Tauchunfälle, Ertrinken, Unterkühlung
Pathophysiologische Veränderungen bei Hypothermie
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Eine Hypothermie wirkt sich auf alle wesentlichen Organsysteme aus. Im frühen Stadium versucht der Körper, weitere Wärmeverluste zu minimieren und die endogene Wärmeproduktion zu erhöhen. Es kommt daher zunächst zur Sympathikusaktivierung mit peripherer Vasokonstriktion, Tachykardie und einer Steigerung des Herzzeitvolmens (HZV) sowie einer Zunahme der Atemfrequenz. In diesem frühen Stadium tritt zudem häufig eine Kältediurese auf [26, 37, 39]. Sinkt die Körpertemperatur weiter ab, stehen wärmekonservierende Maßnahmen im Vordergrund. Es kommt nun zu einer Bradykardie und einem Abfall des HZV, bei weiteren Wärmeverlusten zur Asystolie und Kammerflimmern. Unter bereits moderater Hypothermie können atriale und ventrikuläre Arrhythmien und typische EKG-Veränderungen (»J-Wellen«) beobachtet werden. Die PQ- und QT-Zeiten sind verlängert, der QRS-Komplex ist verbreitert [37–40]. Atemfrequenz, Atemzugvolumen und das Sauerstoffangebot nehmen ab, und es bildet sich eine zunehmende Azidose aus. Außerdem kann es zu einer ödematösen Schwellung des Alveolarepithels bis hin zur Entwicklung eines Lungenödems kommen, das den Gasaustausch weiter erschwert. Gleichzeitig besteht eine Reduktion der Stoffwechselvorgänge, die einerseits die protektive Wirkung einer Hypothermie erklärt, andererseits wird u. a. die Abbaurate von Medikamenten vermindert [26, 37–40]. Bei höhergradigem Abfall der Körpertemperatur entwickelt sich eine zunehmende Bewusstseinstrübung bis hin zum Koma. Hierdurch wird bei intoxikierten und/oder traumatisierten Patienten die neurologische Einschätzung erschwert. Durch eine verminderte Freisetzung von Insulin und eine periphere Insulinresistenz kommt es außerdem regelhaft zur Hyperglykämie, die unter Wiedererwärmungsmaßnahmen aber meist rückläufig ist, so dass eine Insulingabe im hypothermen Zustand beim wiedererwärmten Patienten zur Hypoglykämie führen kann. Daher sollte die Gabe von Insulin bei hypothermen Patienten unterbleiben [37–40]. Darüber hinaus ist auch die Gerinnung gestört, wobei einerseits die Thrombozytenfunktion vermindert ist, es andererseits aber zu einer disseminierten intravasalen Gerinnung (DIC) kommen kann. Da die entsprechenden laboranalytischen Methoden meist bei 37°C durchgeführt werden, ist eine Detektion im Kliniklabor nicht immer möglich [26]. Schließlich führt die schwere Hypothermie über einen Abfall der glomerulären Filtrationsrate und des renalen Blutflusses zu einer Oligo- oder Anurie.
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Stadieneinteilung der Hypothermie
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Je nach Grad der Unterkühlung kommt es entsprechend den beschriebenen pathophysiologischen Veränderungen zu unterschiedlichen Reaktionen, so dass in ein Erregungsstadium (milde Hypothermie), Erschöpfungsstadium (moderate Hypothermie) und Lähmungsstadium (tiefe Hypothermie) unterschieden werden kann [37–40]. 4 Beim Erregungsstadium mit milder Hypothermie (Körperkerntemperatur 37‒34°C) kommt es zu psychischer Erregung und unwillkürlichem Muskelzittern. Die Atmung ist vertieft, die Haut wegen einer Vasokonstriktion in der Peripherie blass. Durch Kälte und verminderte Durchblutung sind Schmerzen an den Akren möglich, im weiteren Verlauf bei persistierender Kälteexposition auch Erfrierungen. 4 Fällt die Körpertemperatur weiter, kommt es bei moderater Hypothermie zum Erschöpfungsstadium (Kerntemperatur 27‒34°C), mit Bewusstseintrübung bis zur Bewusstlosigkeit,
Bradykardie unterschiedlicher Ausprägung, Muskelsteife ohne Muskelzittern und zu einer flachen, unregelmäßigen Atmung. Diese Symptome sind umso ausgeprägter, je tiefer die Körpertemperatur ist, und stellen bereits eine ernste Lebensbedrohung dar. Bei einem ausgeprägten Erschöpfungsstadium ist der Unterkühlte unter keinen Umständen mehr zur Selbstrettung in der Lage, muss also gerettet werden. 4 Bei schwerer Hypothermie kommt es zum Lähmungsstadium (Kerntemperatur unter 27°C) mit Bewusstlosigkeit, Muskelstarre, Sistieren der Atembewegungen und (u. U. auch zentral) nicht mehr tastbarem Puls.
73.3.2
Notfallmaßnahmen bei Hypothermie
In allen Fällen sind eine rasche Rettung und die Vermeidung weiterer Wärmeverluste wichtig. Kernpunkte der präklinischen Behandlung sind v. a. die Überwachung und Stabilisierung der Vitalfunktionen sowie die Verhinderung weiterer Auskühlung (. Abb. 73.5; [41]). Einen entscheidenden Einfluss auf die Prognose hat auch der Bergevorgang an sich, denn bei fehlerhafter Rettung kann es zum plötzlichen Kreislaufstillstand (»Bergetod«) kommen. Die Hauptursache ist hier der sog. Afterdrop mit einem weiteren Abfall der Körpertemperatur nach beendetem Kälteaufenthalt durch Zustrom kalten Blutes aus der Peripherie und Abstrom vergleichsweise warmen Blutes aus dem Kern. Dieser Mechanismus wird durch falsche Lagerung beim und nach dem Bergen und durch falsche Wiedererwärmungsmaßnahmen hervorgerufen. Außerdem kann es beim Afterfall zum Kreislaufzusammenbruch während und nach dem Bergen kommen. Bei sämtlichen Rettungs- und Transportmaßnahmen sind die Verunfallten daher streng waagerecht zu lagern und möglichst wenig zu bewegen [37–41]. Obwohl die exakte Bestimmung der Körpertemperatur in dieser Phase wünschenswert wäre, ist dies in der Praxis kaum durchführbar. Zum einen werden dafür spezielle, auch niedrige Körpertemperaturen messende Thermometer benötigt, zum anderen sind die zur Verfügung stehenden Verfahren nicht genau genug. Speziell bei Ertrinkungsopfern ist zudem das Verfahren der tympanalen Temperaturmessung systembedingt ungeeignet [42].
Notfallmaßnahmen entsprechend dem Unterkühlungsstadium Bei Unterkühlten im Erregungsstadium steht die rasche Wiedererwärmung im Vordergrund. Nasse Kleidung muss ggf. schnellstmöglich gegen trockene und warme ausgetauscht werden; zusätzlich werden wärmende Decken angewandt (passive externe Wiedererwärmung). »Warm-packs« oder Hiebler-Packungen am Körperstamm sind sinnvoll, bedürfen aber der Überwachung, da lokale Verbrennungen unbedingt vermieden werden müssen. In jedem Fall sollten die Verunfallten dieses Stadiums, wenn bewusstseinsklar, heiße Getränke verabreicht bekommen, keinesfalls jedoch Alkohol! Wegen des erhöhten Sauerstoffverbrauchs beim unwillkürlichen Muskelzittern ist Unterkühlten im Vollbild des Erregungsstadiums (heftigstes, unkontrolliertes Zittern) zusätzlich zu den Wärmeerhaltungsmaßnahmen Sauerstoff per Nasensonde oder Maske zu applizieren. Bei den Verunfallten mit ausgeprägterer Hypothermie ist, wie erwähnt, größtmögliche Vorsicht insbesondere bei allen Manipulationen und Lagerungen geboten, da sich anderenfalls der Zustand verschlechtern kann. Nasse Kleidung ist daher nur dann zu entfernen, wenn es ohne starke Manipulationen (z. B. durch
941 73.3 · Unterkühlung (Hypothermie)
Hypothermiebehandlung Bei allen Patienten: • Nasse Kleidung vorsichtig entfernen • Heftige Bewegungen und Manipulationen vermeiden • Patient vor weiteren Wärmeverlusten und Zugluft schützen (Decken, isolierende Materialien) • Patient in der Waagerechten lagern • Überwachung der Körper(kern)temperatur • EKG-Überwachung, wenn möglich (möglicherweise Nadelelektronen erforderlich)
Überprüfung von Vigilanz, Ansprechbarkeit, Atmung und Puls Puls und Atmung vorhanden
Puls und Atmung nicht vorhanden • Umgehend mit CPR beginnen • Bei Kammerflimmern/-flattern maximal 3 Defibrillationsversuche • Intubation und Beatmung mit (möglichst erwärmtem) Sauerstoff • Infusionstherapie mit erwärmten Infusionslösungen
• Schonender Transport in Klinik • Engmaschig überwachen
Wie ist die Körperkerntemperatur?
< 30°C
> 30°C
Wie ist die Körperkerntemperatur?
< 30°C Wiedererwärmung mit konvektiver Luftwärmung
Wiedererwärmung mit konvektiver Luftwärmung und venovenösem Bypass
• Mit CPR fortfahren • Zunächst keine weitere Gabe von Notfallmedikamenten • Defibrillationsversuche auf insgesamt 3 begrenzen
> 30°C
• Mit CPR fortfahren • Weitere Gabe von Notfallmedikamenten in verlängerten Intervallen • Erneute Defibrillation mit steigender Körpertemperatur
Nein Transport in Klinik Dort weiter hämodynamisch instabil / reanimationspflichtig?
Ja Wiedererwärmung mit Herz-Lungen-Maschine
Fortführung der Maßnahmen bis: • Kerntemperatur >34°C, oder • Einsetzen von Spontanatmung und Kreislauferholung, oder • Versagen der CPR mit Einstellung aller Maßnahmen . Abb. 73.5 Flussdiagramm der Hypothermiebehandlung. (Mod. nach den Empfehlungen der AHA)
73
942
73
Kapitel 73 · Tauchunfälle, Ertrinken, Unterkühlung
Aufschneiden) möglich ist. Diese Patienten können aber durch Einhüllen in Rettungsfolie (Dampfsperre) und dann in Decken vor weiterer Auskühlung geschützt werden.
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Eine kardiopulmonale Reanimation darf keinesfalls wegen scheinbarer Erfolglosigkeit zu früh beendet werden, da bei niedrigen Körpertemperaturen auch nach längerer Zeit noch erfolgreich wiederbelebt werden kann. Allerdings ist bei einer Hypothermie unter 28°C Zurückhaltung mit Defibrillationsversuchen geboten, da sie meist frustran bleiben. Darüber hinaus ist zu beachten, dass auch das Ansprechen auf Notfallmedikamente nur zeitverzögert und deutlich abgeschwächt erfolgt [26, 31, 41].
Im Vordergrund steht daher der schnellstmögliche Transport (ggf. unter Fortführung der mechanischen Wiederbelebungsmaßnahmen) in ein Krankenhaus mit Intensivstation bzw. bei kreislaufinstabilen Patienten in ein Zentrum mit kardiochirurgischer Abteilung.
73.3.3
Klinische Maßnahmen bei Hypothermie
In der Klinik stehen die Stabilisierung des Patienten und die schonende Wiedererwärmung im Vordergrund, wobei insbesondere nach Kreislaufstillstand und Reanimation nicht die Normothermie, sondern initial eine milde Hypothermie von 32–34°C angestebt wird [31]. Eine Hyperthermie ist unbedingt zu vermeiden.
Die weitere Behandlung erfolgt nach den üblichen intensivmedizinischen Prinzipien, wobei eine kontinuierliche Kreislaufüberwachung und ggf. eine entsprechend angepasste Katecholamin- und Volumentherapie von besonderer Bedeutung sind. Hierbei ist auch an nierenprotektive Maßnahmen und an eine forcierte Diurese zu denken. Außerdem sind engmaschig Blutgasanalysen und Elektrolytbestimmungen durchzuführen, u. a. weil es durch Zelluntergang zu massiven Anstiegen des Serumkaliumwertes kommen kann (was prognostisch sehr ungünstig ist) [40]. Die Körperkerntemperatur ist engmaschig und möglichst exakt zu überwachen. Hierfür eignen sich z. B. Temperatursonden, die im unteren Ösophagusdrittel platziert werden, Blasenkatheter mit Thermistor oder, bei entsprechender Indikation, auch ein Pulmonaliskatheter.
decken bzw. Warmluftgebläse eingesetzt. Auf diese Weise ist eine Wiedererwärmungsrate von ca. 0,5–1,0°C/h zu erreichen [43]. Die früher stattdessen durchgeführten Warmwasserbäder werden hingegen nicht mehr empfohlen, weil es hierdurch häufiger zu kardiovaskulären Komplikationen kommen kann [44]. Es ist zu beachten, dass die aktive externe Wiedererwärmung eine periphere Vasodilation mit Abfall des Systemgefäßwiderstandes und des arteriellen Blutdrucks auslöst, sodass eine entsprechende Volumen- und/oder Katecholamintherapie notwendig werden kann. Der Patient ist daher engmaschig zu überwachen. Ergänzend sollte erwärmtes und wasserdampfgesättigtes Atemgas zugeführt werden [45] und, obgleich nur gering effektiv, erwärmte Infusionslösungen [46]. Invasive Verfahren zur Wiederwärmung. Bei höhergradiger Hypothermie werden invasivere Verfahren angewandt. Hierzu gehört die komplikationsträchtige (Aspirationsgefahr) wiederholte Magenspülung mit warmer Kochsalzlösung, bzw. die Anwendung spezieller Erwärmungssonden, die in den Ösophagus eingeführt werden. Traditionell ist auch die Peritonealspülung mit warmen Flüssigkeiten möglich, die zwar sehr invasiv, aber mit Wiedererwärmungsraten von bis zu 4°C/h recht effektiv sein kann [26]. > Als bei Patienten mit spontanem Kreislauf besonders effektiv und v. a. für Intensivstationen problemlos durchzuführen hat sich die Wiedererwärmung mit venovenösem Bypass und Apparaten zur Hämodialyse/ Hämofiltration erwiesen [47].
Diese können zur Effizienzsteigerung zudem noch mit einem leistungsfähigen Infusionswärmer für hohe Flussraten gekoppelt werden, mit dessen Hilfe das zum Patienten zurückfließende Blut erwärmt wird. Es steht bei der Anwendung dieser Geräte zwar die Erwärmung im Vordergrund, dennoch ist simultan bei Bedarf (z. B. lebensbedrohliche Hyperkaliämie) auch die Hämodialyse bzw. -filtration möglich. > Bei Patienten mit hypothermiebedingtem Kreislaufstillstand ist hingegen die Wiedererwärmung mit der Herz-Lungen-Maschine die Behandlungsmethode der Wahl [48].
Gerade bei extremer Hypothermie mit therapierefraktärem Kammerflimmern oder Asystolie ist der Einsatz der Herz-Lungen-Maschine trotz des hohen Aufwands indiziert und kann zum Überleben des Betroffenen führen. Deshalb sollten solche Patienten primär in Zentren mit dieser technischen Möglichkeit transportiert werden.
73.3.4
Prognose
Verfahren zur Wiederwärmung Als sinnvolle Wiedererwärmungsmethoden kommen nur solche in Frage, die effektiv Wärme übertragen, ohne bei Patienten mit Körperkerntemperaturen unter 30°C die Gefahr eines Afterdrops zu erhöhen. Sie sollten zudem möglichst breit verfügbar, einfach anzuwenden und so wenig invasiv wie möglich sein. Abhängig von der Ausprägung der Hypothermie, aber auch von der Bewusstseinslage und der Kreislaufsituation kommen die im Folgenden dargestellten Verfahren in Betracht.
73
Nichtinvasive Verfahren zur Wiederwärmung. Bei milder bis mä-
73
ßig ausgeprägter Hypothermie und kreislaufstabilen Patienten kann eine nichtinvasive aktive externe Wiedererwärmung erfolgen. Bei diesem Verfahren werden v. a. konvektive Systeme, also Wärme-
Die Prognose ist für Patienten mit milder, aber auch mit moderater Hypothermie mit Temperaturen über 32°C, abhängig von Begleitverletzungen oder -erkrankungen, durchaus als gut zu bezeichnen. Bei Patienten mit schwererer Hypothermie und speziell mit Kreislaufstillstand ist die Prognose jedoch insgesamt sehr schlecht. Die Problematik liegt v. a. darin, dass vor Ort nicht festgestellt werden kann, ob ein kausaler Zusammenhang zwischen Hypothermie und Herz-Kreislauf-Stillstand besteht, oder ob primär der Tod eingetreten und es dann sekundär zur Auskühlung gekommen ist.
943 Literatur
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73
945
Operative Intensivmedizin Kapitel 74
Abdominalchirurgische Eingriffe
Kapitel 75
Herzchirurgische Eingriffe
Kapitel 76
Thoraxchirurgische Eingriffe
Kapitel 77
Gefäßchirurgische Eingriffe
Kapitel 78
Intensivtherapie nach neurochirurgischen Eingriffen – elektive Kraniotomie, intrakranielle Blutung, Schädel-Hirn-Trauma, Rückenmarkverletzung
XI
947
Abdominalchirurgische Eingriffe G. Peterschulte, W.T. Knoefel
74.1
Einleitung – 948
74.2
Ösophaguschirurgie – 948
74.2.1 74.2.2 74.2.3 74.2.4
Ösophaguskarzinom – 948 Überwachung des Ösophaguspatienten – 950 Postoperative Bilanzierung und Ernährung – 950 Komplikationen der Ösophaguschirurgie – 951
74.3
Pankreaschirurgie – 954
74.3.1 74.3.2 74.3.3 74.3.4
Indikation und operatives Vorgehen – 954 Überwachung des Pankreaspatienten – 954 Postoperative Ernährung und Bilanzierung – 955 Komplikationen der Pankreaschirurgie – 955
74.4
Leberchirurgie – 956
74.4.1 74.4.2 74.4.3 74.4.4
Indikation und operatives Vorgehen – 956 Überwachung des Leberpatienten – 956 Postoperative Ernährung und Bilanzierung – 957 Komplikationen der Leberchirurgie – 957
74.5
Septische Chirurgie – 958
74.5.1 74.5.2 74.5.3 74.5.4 74.5.5 74.5.6 74.5.7 74.5.8
Akutes Abdomen – 958 Weichteilinfektionen des Abdomens – 959 Cholezystitis (Schockgallenblase) – 960 Pankreatitis – 961 Hohlorganperforation – 962 Intraabdominelle Abszesse – 963 Platzbauch – 963 Abdominelles Kompartment – 963
Literatur – 964
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948
74 74 74 74 74 74 74 74 74 74 74 74 74 74 74 74
74.1
Kapitel 74 · Abdominalchirurgische Eingriffe
Einleitung
Die Abdominalchirurgie ist geprägt durch ein breites Erkrankungsund Eingriffsspektrum. Die enge Nachbarschaft parenchymatöser Organe und Hohlorgane bedingt prä-, aber auch postoperativ multiple Wechselwirkungen, die zu ausgesprochen komplexen Erkrankungsmustern führen können. Neben der Verdauungsfunktion aller Organe bestehen ausgeprägte systemische, endokrine, immunologische und gerinnungsphysiologische Effekte. Das Austreten von Verdauungssäften und Stuhl kann zu schwerwiegenden Arrosionsblutungen oder schweren septischen Krankheitsverläufen führen. „Reducing mortality means avoiding complications, but also minimize failure to rescue once complications occurr [5].« Insbesondere die Vermeidung septischer Erkrankung und septischer Komplikationen ist eines der wichtigsten Ziele der allgemeinchirurgischen Intensivmedizin. Hieraus ergeben sich besondere Anforderungen an das Monitoring abdominalchirurgischer Patienten. Neben der kontinuierlichen Überwachung von Vitalparametern, insbesondere bei blutungsgefährdeten Patienten, gilt ein besonderes Augenmerk den Drainagesekreten und dem Monitoring der abdominellen Organfunktionen.
74 74 74
74
4 4 4 4 4 4 4 4
Alkoholabusus (besonders Spirituosen) Nikotinabusus Barettösophagus Refluxösophagitis Verätzungen Verbrennungen Sklerodermie Endobrachyösophagus
Im Gegensatz zu zahlreichen anderen chirurgischen Disziplinen tritt die Entwicklung von Komplikationen bei abdominalchirurgischen Patienten häufig erst in einem späteren Zeitfenster auf. So ist bei der Planung der Verweildauer abdominalchirurgischer Patienten auf der Intensivstation zu berücksichtigen, dass neben der akuten Kreislauf- und respiratorischen Kontrolle auch bei stabilen Patienten noch schwerwiegende Organfunktionsstörungen zu erwarten sein können. Die postoperative Verweildauer auf der Intensivstation umfasst daher nicht nur die akute Überwachungsphase, sondern auch den Zeitraum, in dem mit derartigen Störungen zu rechnen ist. Ziel dieses Kapitels ist es, diese besonderen intensivmedizinischen Anforderungen in Bezug auf die einzelnen Organsysteme zu erläutern. Neben diesen elektiven Eingriffsarten werden spezifische und abdominelle Notfallsituationen und typische postoperative intensivmedizinisch relevante Erkrankungsbilder dargestellt.
Abhängig vom Staging eines Ösophaguskarzinoms kann eine kombinierte neoadjuvante Radiochemotherapie präoperativ bereits durchgeführt worden sein. Diese kann die operative Präparation durchaus erschweren und zu einer erhöhten postoperativen, insbesondere pulmonalen, Morbidität führen. Eine umfangreiche präoperative Anamnese gehört daher unbedingt zur präoperativen Diagnostik, um eine adäquate Risikostratifizierung für den Ösophaguspatienten durchführen zu können. In Abhängigkeit der Erkrankung, des Stagings und der Lokalisation der Raumforderung oder Stenose kommen unterschiedliche operative Verfahren zum Einsatz. Häufigste Lokalisation des Ösophaguskarzinoms ist der obere und mittlere Anteil des Ösophagus (. Tab. 74.1). Peptische Stenosen und Kardiakarzinome finden sich zumeist im distalen Bereich des Ösophagus. Verletzungen durch verschluckte scharfkantige Fremdkörper finden sich in den physiologischen Engstellen des Ösophagus gehäuft. Therapie der Wahl beim Ösophaguskarzinom ist die vollständige Ösophagektomie über einen thorakoabdominellen Zugang. Zur Rekonstruktion der Kontinuität kann entweder der Magen als Ösophagoplastik hochgezogen oder ein Kolonanteil interponiert werden. Bei peptischen Stenosen ist nur eine inkomplette Resektion des Ösophagus notwendig. Hier wird in der Regel eine intrathorakale Anastomose zwischen Ösophagus und Magen angelegt. Aufgrund der Anatomie des Ösophagus sind derartige resektive Verfahren für den Patienten stark traumatisierend [17].
74.2
Ösophaguschirurgie
Die chirurgisch behandelbaren Krankheitsbilder umfassen gutartige und bösartige Raumforderungen, Divertikel und zu einem geringeren Teil auch traumatische Ösophagusverletzungen. Während gutartige Tumoren und Divertikel in der Regel einem lokalresektiven Verfahren zugeführt werden und keine aufwendigen rekonstruktiven Maßnahmen erfordern, stellt die Behandlung der bösartigen Raumforderung und traumatischen Ösophagusverletzung eine schwere Traumatisierung des Patienten dar.
. Tab. 74.1 Lokalisationen des Ösophaguskarzinoms
74.2.1
74
Risikofaktoren des Ösophaguskarzinoms
> Patienten mit Ösophaguskarzinom stellen sich daher mit einer Anzahl von Begleiterkrankungen vor, die für den weiteren postoperativen Verlauf relevant werden können.
74 74
Hauptrisikofaktoren für die Entstehung eines Ösophaguskarzinoms sind der Missbrauch von Alkohol, Nikotin und die Refluxösophagitis (7 Übersicht).
> Dieses spezielle Monitoring erfordert ein besonderes personelles Engagement, da diese Parameter nicht automatisiert erhoben und dargestellt werden können.
74 74
4 mittlere Karzinome (50%), die in der Regel Plattenepithelkarzinome darstellen, und 4 tiefsitzende Ösophaguskarzinome (35%); diese sind in über 50% Adenokarzinome.
Ösophaguskarzinom
Das häufigste Erkrankungsbild in der Chirurgie ist das Ösophaguskarzinom. Mit einer Inzidenz von 3–5/100.000 ist das Ösophaguskarzinom die achthäufigste Todesursache [1]. Man unterscheidet gemäß der Lokalisation des Tumors 4 hochsitzende pharynxnahe Karzinome (15%),
Lokalisation
Art
Oberes Ösophaguskarzinom
Plattenepithelkarzinom
Mittleres Ösophaguskarzinom
Plattenepithelkarzinom Adenokarzinom
Distales Ösophaguskarzinom
Adenokarzinom Plattenepithelkarzinom
949 74.2 · Ösophaguschirurgie
Ösophagektomie Die Ösophagektomie kann als Ein- oder Zweihöhleneingriff durchgeführt werden. In Abhängigkeit der Höhe des Befundes und dem Staging des zu resezierenden Tumors wird präoperativ die Wahl des operativen Verfahrens festgelegt. Zur Durchführung einer transthorakalen Ösophagektomie ist eine Intubation durch einen Doppellumentubus erforderlich. Dieser ist bei der von abdominell durchgeführten transhiatalen Ösophagusresektion verzichtbar. z Transthorakale Ösophagektomie Zur Durchführung einer transthorakalen Ösophagektomie wird der Patient in Linksseitenlage gelagert. Zur Darstellung des thorakalen Anteils des Ösophagus wird nun eine rechtsseitige Thorakotomie im 5.–7. ICR durchgeführt. Anschließend wird die Lunge nur noch linksseitig beatmet und die rechte Lunge zur Seite gedrängt. Unter Mitresektion der Pleura mediastinalis wird dann der Ösophagus »en bloc« mit dem hinteren Mediastinum reseziert. Nun wird die rechtsseitige Lunge wieder beatmet. Dabei ist auf vollständige Entfaltung der Lunge zu achten. Anschließend erfolgt der Verschluss des Thorax mit Einlage von Drainagen, und der abdominelle Teil der Operation wird begonnen. Hierbei wird durch eine Oberbauchlaparotomie die Kardia und der abdominelle Anteil des Ösophagus dargestellt und reseziert. Nun wird der Magenschlauch präpariert. Die kleine Kurvatur wird hierbei vollständig reseziert (. Abb. 74.1). Der verbliebene Magenschlauch wird nun ausschließlich über die A. gastroepiploica dextra versorgt. Anschließend erfolgt die zervikale Präparation des Ösophagus über einen Schrägschnitt im Bereich des linken M. sternocleidomastoideus. Hier liegt der Ösophagus in enger Nachbarschaft zur Trachea. Zwischen Ösophagus und Trachea verlaufen die Nn. recurrentes (. Abb. 74.2). Anschließend erfolgen das Hochziehen des Magenschlauches und die Anlage der zervikalen Anastomose. ! Cave Die Nn. recurrentes können hierbei beschädigt werden.
. Abb. 74.1 Schematische Darstellung eines Mageninterponates. (Aus [18])
z Transmediastinale abdominelle Ösophagektomie Bei der transhiatalen, transmediastinal durchgeführten Ösophagektomie wird auf eine thorakale Präparation des Ösophagus verzichtet. Durch eine Oberbauchlaparotomie wird der untere mediastinale Anteil des Ösophagus direkt aufgesucht und von dort stumpf manuell präpariert. Die Anlage des Magenschlauchs und die zervikale Präparation des Ösophagus sowie die Anlage der zervikalen Anastomose verlaufen in gleicher Weise. z Intrathorakale Anastomose Unabhängig von der Art der Ösophaguspräparation kann bei weit distal sitzenden Ösophaguskarzinomen auf eine komplette Resektion des Ösophagus verzichtet werden. Hierbei wird nach Absetzen des distalen Anteils des Ösophagus transhiatal oder transthorakal der Magenschlauch mit dem intrathorakal liegenden proximalen Anteil des Ösophagus anastomosiert. Eine gute Drainage im Bereich der Anastomose ist dringend erforderlich! . Abb. 74.2 Anatomie des Ösophagus. Zu beachten ist die enge Lagebeziehung zu den Nn. recurrentes. (Aus [15])
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Kapitel 74 · Abdominalchirurgische Eingriffe
74
. Tab. 74.2 Postoperative Überwachungsparameter nach Ösophaguschirurgie
74
Blutung
Tachykardie Hypotonie Hb-Abfall
Lungenödem
aSO2 pO2 pCO2
Trachealverletzung
Hautemphysem Fistelvolumen der Thoraxdrainagen Luft in zervikaler Easy-Flow-Drainage Messbares Luftleck am Beatmungsgerät
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. Abb. 74.3 Schematische Darstellung eines Koloninterponates. (Aus [18])
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z Alternative Rekonstruktionsverfahren Gelegentlich ist der Magen zur Rekonstruktion des Ösophagus nicht geeignet oder muss mitreseziert werden. Hierbei kommt als rekonstruktives Verfahren die Interposition eines Kolonanteils in Betracht. Unter Schonung der Arkaden wird das Transplantat präpariert und spannungsfrei transmediastinal nach kranial vorgezogen. Es erfolgt eine Seit-zu-Seit-Anastomose auf den proximalen Dünndarm sowie eine End-zu-Seit-Anastomose im zervikalen Bereich. Anschließend wird die Kontinuität des Dickdarms wieder hergestellt (. Abb. 74.3). Bei kurzstreckigen Veränderungen im Bereich der Speiseröhre, insbesondere bei peptischen Stenosen, ist die Durchführung einer Merendino-Operation angezeigt. Hierbei wird ein gestieltes Dünndarmtransplantat zwischen distalem Ösophagus und Fundus interponiert.
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74.2.2
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Überwachung des Ösophaguspatienten
Die postoperative Überwachung des Ösophaguspatienten umfasst neben der Überwachung der Vitalparameter weitere eingriffsspezifische Überwachungsaspekte. Aufgrund der Schwere des postoperativen Traumas, insbesondere im thorakalen Bereich, wird der Ösophaguspatient in der Regel beatmet auf die Intensivstation verlegt. Neben der Überwachung der Beatmungsparameter und der Elektrolyte gilt hier das besondere Augenmerk einer möglichen Tracheal- oder Bronchialverletzung. Eine sorgfältige Kontrolle der einliegenden Thoraxdrainage, ein Aufnahmethorax sowie die Kontrolle eines Gasverlustes über das Beatmungsgerät gehören daher zum postoperativen Standard (. Tab. 74.2). Aufgrund der präparationsbedingten Traumatisierung der Lunge neigt der Ösophaguspatient zur Bildung von Atelektasen, Pleuraergüssen und einem Lungenödem. ! Cave Auch wenn in Ausnahmefällen die linksseitige Pleurahöhle nicht eröffnet wird und in diesem Bereich nicht präpariert wird, kann es hier durchaus zu einem linksseitigen Pleurareizerguss kommen.
Eine sorgfältige Überwachung der Ein- und Ausfuhr sowie der Bilanz sollten daher ebenfalls erfolgen (7 Abschn. 74.2.3). Die Kont-
rolle der Infektparameter (Leukozyten, CRP, Procalcitonin) sowie die Körpertemperatur dienen dem Monitoring einer möglichen Infektion. Hier gilt das besondere Augenmerk auf die zervikale oder intrathorakale Anastomose. Post extubationem sollte auf jeden Fall die Stimmbandfunktion kontrolliert werden. Präparationsbedingt kommt es nicht selten zu einer Verletzung des linksseitigen N. recurrens mit entsprechender Stimmbandparese.
74.2.3
Postoperative Bilanzierung und Ernährung
Intra- und postoperative Flüssigkeits- und Blutverluste führen bei dem Ösophaguspatienten häufig zu einer postoperativen Hypotonie. Während bei zahlreichen anderen Eingriffsformen eine kausale Therapie im Sinne einer Volumensubstitution angezeigt ist, muss der Ösophaguspatient aufgrund der intraoperativen Traumatisierung der Lunge eine äußerst schonende Volumensubstitution erfahren. Zur Kreislaufoptimierung ist daher der medikamentösen Blutdrucktherapie durch Adrenalin oder Noradrenalin der Vorzug zu geben. ! Cave Der Ösophaguspatient entwickelt unter einer positiven Bilanz rasch ein Lungenödem o Katecholamine vor Volumensubstitution zur Kreislaufoptimierung.
In den ersten postoperativen Tagen ist eine positive Bilanzierung des Patienten auf jeden Fall zu vermeiden. Die postoperative Ernährung sollte aufgrund des Postaggressionsstoffwechsels zunächst mit einer 20%igen Glukoselösung durchgeführt werden. Ab dem 3. Tag kann mit einer komplett parenteralen Ernährung angefangen werden. Insbesondere bei der Rekonstruktion durch Magenhochzug ist die rasche enterale Ernährung anzustreben. Hierzu sollte der Patient bereits intraoperativ mit einer Jejunalsonde, die entweder transnasal oder als perkutane Enterojejunostomie angelegt wurde, ernährt werden. Diese enterale Ernährung kann in der Regel spätestens ab dem 3. postoperativen Tag begonnen werden. Der Patient sollte mit einer gastralen Magensonde versorgt werden, um einen paralytisch bedingten Reflux von der intrathorakalen oder zervikalen Anastomose fernzuhalten.
951 74.2 · Ösophaguschirurgie
. Abb. 74.5 Stent-Versorgung in situ bei zervikaler Anastomoseninsuffizienz
. Abb. 74.4 Endoskopische Darstellung einer Insuffizienz der zervikalen Anastomose
74.2.4
len Drainagesekretes. Nicht selten zeigt sich bereits eine ausgeprägte Rötung im Bereich der zervikalen Wunde. Plötzlich auftretende Herzrhythmusstörungen in diesem Zusammenhang weisen auf eine beginnende Mediastinitis hin (7 Übersicht).
Komplikationen der Ösophaguschirurgie
Die enge anatomische Lagebeziehung zu Nachbarorganen, Gefäßen und Nerven und die schwierige Perfusionssituation der Rekonstruktion können zu Minderbelüftung der Lunge, Ergussbildung im Bereich des Thorax, bronchialem Sekretverhalt und Anastomoseninsuffizienz und damit konsekutiv zu Pneumonie und Sepsis führen. Die frühzeitige Diagnose dieser Komplikationen kann die Morbidität und Mortalität des Ösophaguspatienten deutlich senken. Nicht selten kündigen sich derartige Probleme zunächst durch eine unspezifische Vigilanzminderung oder kardiorespiratorische Verschlechterung an. Der Arzt sollte daher in dem kritischen Intervall der ersten 7 postoperativen Tage auch bei unklaren kardialen oder respiratorischen Symptomen an ösophagusspezifische Ursachen denken.
Anastomoseninsuffizienz Die Anastomoseninsuffizienz in der Ösophaguschirurgie tritt in 7,5–22,2% der Fälle auf [13]. > Bedingt durch eine schwierige Perfusionssituation des Interponates, einer frühen Belastung der Anastomose durch den Speichelfluss und einer gewissen Histoinkompatibilität kommt es im Bereich der Ösophagusanastomose nicht selten zu Wundheilungsstörungen.
Die Anastomoseninsuffizienz führt unbehandelt zu einer schweren Sepsis und Mediastinitis. Ziel der postoperativen Überwachung muss daher die frühzeitige Diagnose einer Anastomoseninsuffizienz sein. In Abhängigkeit von der Lokalisation der Ösophagusanastomose unterscheidet man die zervikale von der intrathorakalen Anastomoseninsuffizienz. z Zervikale Anastomoseninsuffizienz Neben einem schweren septischen Krankheitsbild mit zumeist hohem Fieber kommt es zu einer deutlichen Veränderung des zervika-
Typische Zeichen einer zervikalen Anastomoseninsuffizienz 4 4 4 4 4
Luft über zervikale Drainage Rötung der zervikalen Wunde Eintrübung des zervikalen Drainagesekretes Herzrhythmusstörungen Schweres septisches Krankheitsbild
> Wichtigstes Ziel nach Diagnose einer zervikalen Anastomoseninsuffizienz ist die schnelle und vollständige Drainage des Sekretes aus der Wundhöhle.
Hierzu ist in jedem Fall die linkslaterale Halswunde in voller Breite zu eröffnen. Die Wunde wird saubergespült mit einer Spüllösung (z. B. NaCl 0,9%) und digital ausgetastet. Hierbei sollte die Wunde soweit eröffnet werden, dass der insuffiziente Ösophagusstumpf sicher getastet wird. Zur Behandlung der Sepsis wird der Patient breit antibiotisch abgedeckt. Geeignete Mittel sind u. a. Carbapeneme, Chinolone und Penicilline + Clavulansäure. Im Anschluss sollte eine Endoskopie der Anastomose und des Magenschlauchs durchgeführt werden, um umfangreichere Nekrosen auszuschließen und das Ausmaß der Anastomoseninsuffizienz abschätzen zu können (. Abb. 74.4). Kleinere Anastomoseninsuffizienzen können konservativ zur Ausheilung gebracht werden, große Anastomoseninsuffizienzen sollten, sofern die Höhe der Anastomose das zulässt, überstentet werden (. Abb. 74.5). Eine Computertomographie des Thorax und Abdomens sollten in jedem Fall bei einem schweren septischen Krankheitsbild zum Ausschluss einer Mediastinitis durchgeführt werden. Die zervikale Wunde wird in den nächsten Tagen regelmäßig ausgespült und mit sterilen feuchten Kompressen offen gehalten (7 Übersicht).
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Kapitel 74 · Abdominalchirurgische Eingriffe
Maßnahmen bei zervikaler Anastomoseninsuffizienz 4 4 4 4 4
Eröffnen und Ausspülen der zervikalen Wunde Endoskopie Gegebenenfalls Stent CT Thorax/Abdomen (bei septischem Krankheitsbild) Diskontinuitätsresektion
z Intrathorakale Anastomoseninsuffizienz Kommt die Anastomose intrathorakal zu liegen, sind die lokalen Wundverhältnisse selbstverständlich nicht zu beurteilen. Hier gilt es insbesondere, auf allgemeinseptische Verschlechterungen rasch mit einer umfangreichen Diagnostik zu reagieren. Einliegende Drainagen zeigen häufig eine entsprechende Sekretveränderung an. ! Cave Bei partieller Verklebung der Wundhöhle können die Drainagen auch über längere Zeit noch unauffällig erscheinen, obwohl sich bereits ein septischer Verhalt intrathorakal oder intramediastinal ausgebildet hat.
Plötzlich auftretende Herzrhythmusstörungen, Fieber und ein Anstieg der Infektparameter müssen in jedem Fall an eine intrathorakale Anastomoseninsuffizienz denken lassen. Zeitnahe CT-Diagnostik ist zum Ausschluss einer intrathorakalen Anastomoseninsuffizienz unerlässlich. Aufgrund der Lage der Anastomose ist eine ausreichende Drainage in der Regel nicht herzustellen. Falls nicht vorhanden, sollten Thoraxdrainagen eingelegt werden, um die Sekrete gut zu drainieren und der Bildung eines Pleuraempyems vorzubeugen. Hierüber sollte eine intermittierende Spülung erfolgen. Die Anastomoseninsuffizienz sollte mit einem Stent überbrückt werden. Führt dies nicht zu einer raschen Besserung des Patienten, ist in diesem Fall die operative Exploration und Komplettierung der subtotalen Ösophagektomie die Therapie der Wahl. Eine Rekonstruktion der Anastomose ist aufgrund der schweren Entzündungsreaktionen im Mediastinum in der Regel nicht mehr durchführbar. Der Ösophagusstumpf wird daher zervikal als Speichelfistel ausgeleitet, der Magenschlauch oder das Dünndarminterponat werden reseziert und blind nach kranial verschlossen. Zur Ernährung sollte eine Jejunalkatheter angelegt werden. Auch in diesem Fall wird eine breite antibiotische Abdeckung zur Behandlung der septischen Komplikationen durchgeführt.
74 Maßnahmen bei intrathorakaler Anastomoseninsuffizienz
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4 4 4 4 4
Anlage von Thoraxdrainagen (falls nicht vorhanden) Spülen der Pleurahöhle 4–6× tgl. mit 100 ml Spüllösung Überbrückung des Defektes durch einen Stent Breite antibiotische Abdeckung Diskontinuitätsresektion
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. Abb. 74.6 Röntgenbild einer Stent-in-Stent-Versorgung eines langstreckigen Defektes
Zur Behandlung der Magenschlauchnekrose ist ein großzügiges Überstenten des nekrotischen Bereichs erforderlich. Hierzu kann auch eine Stent-in-Stent-Versorgung notwendig werden. Nicht selten erfordert in dieser Situation das septische Krankheitsbild und die Ausdehnung der Nekrose die Resektion des Magenschlauchs. Der Stent sollte nach 6 Wochen entfernt werden, da sonst eine Überwucherung mit Granulationsgewebe die Bergung des Stents verhindern kann.
Trachealverletzung Aufgrund der engen Lagebeziehung des Ösophagus zur Trachealhinterwand kann es präparationsbedingt, aber auch im Rahmen von Anastomoseninsuffizienzen zu einer Ausbildung einer Tracheal- oder Bronchialfistel kommen. Beim beatmeten Patienten lässt sich eine Trachealverletzung eindrucksvoll durch die luftgefüllten Drainagebeutel (. Abb. 74.7), ein erhöhtes Fistelvolumen über die Thoraxdrainage sowie ein durch das Beatmungsgerät angezeigtes Luftleck diagnostizieren. Kleinere Trachealfisteln können beim nichtbeatmeten Patienten häufig über längere Zeit subklinisch bleiben und fallen in der Regel durch rezidivierende Aspirationspneumonien auf. Plötzlich einsetzende Rhythmusstörungen zeigen auch hier die beginnende Mediastinitis an und zwingen zu raschem Handeln. Die Therapie der Wahl ist die Versorgung einer möglichen Insuffizienz der zervikalen Anastomose oder des Magenschlauches (s. oben) und die plastische Deckung der Trachealfistel. Hierzu erfolgt nach Übernähung der Trachealverletzung und Abdichtung durch einen Azygos- oder Perikardlappen die Versorgung mit einem Latissimus-dorsi- oder Sternocleidomastoideus-Schwenklappen. Die Sepsis wird mit einer breiten antibiotischen Abdeckung behandelt.
Recurrensparese z Magenschlauchnekrose Gelegentlich kommt es neben einer Anastomoseninsuffizienz zu einer weitergehenden Perfusionsstörung zumeist im Bereich der ehemaligen kleinen Kurvatur. Die Magenschlauchnekrose stellt sich in aller Regel zunächst wie eine zervikale Anastomoseninsuffizienz dar. Die weitergehende Perfusionsstörung fällt dann während der endoskopischen Beurteilung auf. Gelegentlich kommt es hierbei zu weiteren Insuffizienzen und Ausbildung von Trachealfisteln (7 unten).
Bei der Mobilisation des zervikalen Ösophagus kommt es gelegentlich zu einer Verletzung oder Irritation des N. laryngeus recurrens, der an der Hinterwand der Trachea in enger Nachbarschaft zum Ösophagus verläuft (. Abb. 74.2). Die Wahrscheinlichkeit für eine Recurrensparese im Rahmen einer Ösophagusresektion wird in der Literatur mit 7,4–15,3% angegeben [6]. Operationstechnisch bedingt ist zumeist der linke N. laryngeus recurrens betroffen. Wache Patienten fallen nach Extubation durch eine heisere Stimme auf. Weniger vigilante Patienten zeigen oft im Verlauf rezidivierende Sekretverhalte und Bronchopneumonien. Besteht bei einem Patienten der Verdacht auf eine Recurrensparese, so sollte das
953 74.2 · Ösophaguschirurgie
. Abb. 74.7 Luftgefüllter zervikaler Drainagebeutel bei postoperativem Trachealleck . Abb. 74.8 Postoperative Stenose der zervikalen Anastomose nach Magenhochzug
Ausmaß des Stimmbandstillstandes durch eine endoskopische Diagnostik gesichert werden. Die Weite der Stimmritze und das Ausmaß der Minderbeweglichkeit sollten exakt dokumentiert werden. > Die Therapie der Wahl beim wachen und vigilanten Patienten ist die logopädische Behandlung.
Kommt es infolge eines persistierenden Sekretverhaltes zu rezidivierenden Aspirationspneumonien, so sollte eine zeitige Tracheotomie erwogen werden. Kommt es auch nach Monaten nicht zu einer Rückbildung der Recurrensparese, so kann eine Laterofixation des betroffenen Stimmbandes Erleichterung verschaffen.
Postoperative Anastomosenstenose Die zervikale Anastomose nach Ösophagusrekonstruktion (. Abb. 74.8), im geringeren Maße auch die intrathorakale Anastomose, neigen insbesondere nach stattgehabter Anastomoseninsuffizienz zu einer stenosierenden Narbenbildung. Diese Komplikation, die zumeist erst im ambulanten Bereich relevant wird, kann beim langzeitbeatmeten Ösophaguspatienten mit kompliziertem septischem Krankheitsverlauf in der Weaning-Phase relevant werden. Im Rahmen der Beatmungsphase und parenteralen Ernährung wird die Anastomosenstenose zunächst kaum bemerkt. Der Patient wird jedoch im Rahmen des Weanings durch rezidivierende Aspirationspneumonien auffällig. Es sollte daher im Rahmen einer prolongierten Weaning-Phase immer auch an das Vorliegen einer postoperativen Anastomosenstenose gedacht werden. Zur Diagnosesicherung sollte eine endoskopische Kontrolle der Anastomose durchgeführt werden. Therapie der Wahl ist die sukzessive Bougierung der Anastomosenstenose, bis die Schluckfähigkeit wiederhergestellt ist. ! Cave Auch nach suffizienter Bougierung neigt der Narbenring der Anastomose zur erneuten Stenosierung.
Begleitend zur Bougierung sollte in jedem Fall eine logopädisch begleitete Schluckübung durchgeführt werden.
Postoperative Pneumonie Im gesamten postoperativen Verlauf ist der Ösophaguspatient durch die Ausbildung einer Pneumonie gefährdet. Während es in seltenen Fällen direkt postoperativ, häufig nach stattgehabter Radiochemo-
therapie, zu einer Reaktivierung einer radiogenen Pneumonitis kommen kann, führen im weiteren Verlauf die Minderbelüftungen, insbesondere basaler Lungenabschnitte durch externe Kompression oder rezidivierende Aspirationen zu einer Pneumonie und konsekutiver Sepsis. Trachealverletzungen und postoperative Anastomosenstenosen führen zu Aspirationspneumonien, Zwerchfellparesen und Pleuraergüssen, häufig zu Atelektasen und konsekutiven Pneumonien infolge der Minderbelüftung. Recurrensparesen können zu Sekretverhalten führen, die ebenfalls zu Bronchopneumonien führen können. Juninger et al. fanden bei einer retrospektiven Untersuchung eine signifikant höhere Pneumonierate (27,4 vs. 41,3%) [6]. Es sollte daher bei einer postoperativen Pneumonie nach Ösophagusresektion eine umfangreiche Ursachenabklärung erfolgen. Neben der kausalen Behandlung der oben beschriebenen Ursachen einer Pneumonie sollte eine breite antibiotische Abdeckung durchgeführt werden. Gelegentlich ist die Durchführung einer Tracheotomie zur Verbesserung der Bronchialtoilette unerlässlich.
Der langzeitbeatmete Ösophaguspatient Schwerwiegende septische Komplikationen aufgrund von Pneumonien oder Anastomoseninsuffizienzen führen häufig zu einer prolongierten Beatmungssituation. Hier wird in der Regel eine frühzeitige Tracheotomie die Prognose des Patienten entscheidend verbessern. Nach Ösophagusresektion ist die Durchführung einer Tracheotomie jedoch nicht unproblematisch. Durch die enge Nachbarschaft des Tracheostomas zur zervikalen Anastomose kann die Versorgung des Tracheostomas deutlich erschwert werden. Die Drainage von Sekret aus der zervikalen Wunde bei einer Anastomoseninsuffizienz kann zu einer Andauung der benachbarten Haut führen. Die dünne Hautbrücke zwischen Tracheostoma und zervikaler Wunde kann daher komplett nekrotisch werden, und es entsteht so eine gemeinsame Wundhöhle von Tracheostoma und Anastomoseninsuffizienz. > Die Indikation zur Tracheostomie sollte daher besonders kritisch gestellt werden.
Nach Abheilung der Anastomose oder weitgehender Ausheilung einer Anastomosenstenose kann das Weaning des Patienten in jedem Fall durch eine Tracheostomie unterstützt werden. Diese sollte dann etwas rechtslateral angebracht werden.
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Kapitel 74 · Abdominalchirurgische Eingriffe
74.3
Pankreaschirurgie
74.3.1
Indikation und operatives Vorgehen
Die wichtigsten Indikationen zur Pankreaschirurgie sind 4 die chronische Pankreatitis und 4 das lokalisierte Malignom. Der am häufigsten befallene Anteil ist bei beiden Erkrankungen der Pankreaskopf. Mit einer Inzidenz von 10/100.000 Einwohnern [14] gehört das Pankreaskopfkarzinom zu den häufigsten soliden Tumoren. Die chronische Pankreatitis mit Ausprägung von Pseudozysten ist mit einer Inzidenz von 110–280/1 Mio. Einwohnern [14] bei Alkoholabhängigen die häufigste Erkrankungsursache. Häufig führt in beiden Fällen die Kompression des Ductus choledochus zu einer ausgeprägten Bilirubinämie. In seltenen Fällen führt diese Bilirubinämie zu Leberfunktionsstörungen. Während die Patienten mit Pankreasmalignom in aller Regel aus völliger Gesundheit heraus erkranken, haben Patienten mit einer chronischen Pankreatitis eine längere Vorgeschichte. Bedingt durch den Alkoholmissbrauch sind Patienten mit einer chronischen Pankreatitis in der Regel bereits vorerkrankt. Hier muss also perioperativ und postoperativ mit einer erhöhten Inzidenz von operationsunabhängigen Begleitkomplikationen gerechnet werden. Das operative Vorgehen ist bestimmt durch die Hauptlokalisation der Erkrankung im Pankreaskopf. Bei beiden Erkrankungen ist in diesen Fällen die Resektion des Pankreaskopfes erforderlich. Bei der chronischen Pankreatitis mit Pseudozysten ist eine onkologische Radikalität nicht indiziert. Hier wird daher in aller Regel auf die Resektion des Duodenums und der damit verbundenen Lymphabflussgebiete verzichtet. Eine duodenumerhaltende Pankreaskopfresektion ermöglicht hier eine organerhaltende und effektive Therapie. Bei Patienten mit einem Pankreaskopfkarzinom muss in jedem Fall mit onkologischer Radikalität reseziert werden, so prognostische Operabilität besteht. Da der Pankreaskopf und das Duodenum das gleiche Lymphabflussgebiet speisen, ist eine Resektion des Duodenums zusammen mit dem Pankreaskopf zwingend erforderlich.
Duodenumerhaltende Pankreaskopfresektion Nach Eröffnung des Abdomens durch eine quere Oberbauchlaparotomie wird das große Netz vom Colon transversum abpräpariert. Anschließend werden das Duodenum und der Pankreaskopf vollständig nach Kocher mobilisiert. Die Vv. mesenterica superior und porta werden identifiziert. In Abhängigkeit der Ausdehnung des Befundes und des genau gewählten Verfahrens wird der Pankreaskopf und Proc. uncinatus ausgeschält, ggf. auch das Pankreas am Übergang zwischen Kopf und Corpus mit dem Elektrokauter durchtrennt. Der Pankreaskopf wird bis zur distalsten Stenose breit eröffnet und der distale Ductus choledochus dekomprimiert. Anschließend erfolgt die Rekonstruktion durch eine Pankreatojejunostomie.
Whipple-Operation Auch hier wird zunächst das große Netz vom Colon transversum abpräpariert und das Duodenum und der Pankreaskopf nach Kocher mobilisiert. Die A. gastrica dextra wird ligiert. Die AA. hepaticae und V. porta werden dargestellt; und die A. gastroduodenalis wird nahe ihrem Abgang aus der A. hepatica unterbunden und durchtrennt. Pankreaskopf und Duodenum werden soweit mobilisiert, dass die V. cava freiliegt. Anschließend wird das Duodenum knapp hinter dem Pylorus mit einem Klammernahtgerät durchtrennt, der
Ductus choledochus abgesetzt, der distale Anteil des Duodenums ebenfalls mit Klammernahtgerät durchtrennt und das Pankreas im Bereich des Übergangs des Kopfes zum Corpus mittels Diathermie durchtrennt. Anschließend erfolgt in der Regel eine 2- oder 3-Schlingen Rekonstruktion. Hierzu werden Dünndarmschlingen ausgeschaltet und als Pankreatojejunostomie und als biliodigestive Anastomose verwendet. Die gastrointestinale Kontinuität wird mit einer Duodenojejeunostomie kurz hinter dem Pylorus oder einer Gastrojenunostomie, falls der Pylorus nicht erhalten wird, hergestellt. Schließlich werden die Dünndarmschlingen der biliodigestiven Anastomose und der Pankreatikojejunostomie durch eine Fußpunktanastomose mit dem verbleibenden Jejunum reanastomosiert. Easy-Flow-Drainagen werden standardmäßig im Bereich der Pankreasanastomose platziert [9].
74.3.2
Überwachung des Pankreaspatienten
Direkt postoperativ steht die Blutungskontrolle und damit die Überwachung der Vitalparameter an erster Stelle. Gelegentlich ist es im Rahmen von onkologischen Resektionen erforderlich, Teile der V. porta zu resezieren und zu ersetzen. In diesem Fall sollte postoperativ in jedem Fall eine Duplexsonographie der die Leber versorgenden Gefäße erfolgen. Bei Rekonstruktion der V. porta oder der V. mesenterica superior sowie bei arteriellen Rekonstruktionen (A. mesenterica superior, Truncus coeliacus, A. hepatica) ist eine besonders engmaschige duplexsonographische Kontrolle erforderlich, um ggf. frühzeitig revidieren zu können. Die Kontrolle des Laktatwertes und des Blutzuckerspiegels sind zum Monitoring der Leberfunktion ebenfalls unerlässlich. Die Kontrolle der Leberenzyme gehört selbstverständlich ebenfalls zum täglichen Monitoring (7 Übersicht).
Kotrollparameter der postoperativen Leberfunktion 4 Duplexsonographie der A. hepatica, der V. portae und der V. hepaticae 4 Leberenzyme 4 Quick-Wert 4 Laktatwert 4 Blutzuckerspiegel
Nach einem freien Intervall von ca. 5 Tagen steigt die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von Anastomoseninsuffizienzen. In diesem Zeitraum gilt das besondere Augenmerk der Easy-Flow-Drainagen. Galliges oder grau-braunes trübes Drainagesekret deutet auf eine Insuffizienz der biliodigestiven Anastomose bzw. der Pankreatikojejunostomie hin. Auch wenn diese Überwachung in der Regel nicht auf der Intensivstation stattfindet, ergeben sich aus diesen Anastomoseninsuffizienzen durchaus intensivrelevante Komplikationen (7 Abschn. 74.3.4). Insbesondere können sie Ursache für eine schwere septische Erkrankung des Patienten mit bisher unklarem Fokus sein. > Die Kontrolle der Easy-Flow-Drainagen gehört daher bei Wiederaufnahme eines Pankreaspatienten auf die Intensivstation im Rahmen einer septischen Erkrankung zu den ersten Maßnahmen.
955 74.3 · Pankreaschirurgie
74.3.3
Postoperative Ernährung und Bilanzierung
Aufgrund perioperativ freigesetzter Zytokine neigt der Pankreaspatient zu einer Vasoplegie, die einen relativen Volumenmangel verursacht. Postoperativ sollte daher auf eine ausreichende Volumensubstitution geachtet werden. In den ersten 2 postoperativen Tagen ist eine moderate Plusbilanz anzustreben. Zur Minimierung einer postoperativen Darmparalyse sollte auf einen ausgeglichenen Elektrolythaushalt geachtet werden. Eine enterale Ernährung sollte aufgrund der komplexen Rekonstruktion in den ersten 3–5 postoperativen Tagen erst langsam begonnen werden. Ein eventueller Reflux sollte durch eine Magensonde suffizient abgeleitet werden. Größtes Problem postoperativ ist der Rückstau der Verdauungssäfte in die zuführenden Schlingen. Hierdurch kann es zu einer Druckbelastung der ohnehin vulnerablen Anastomosen kommen und damit eine Anastomoseninsuffizienz provoziert werden. Stellt sich in den ersten Tagen keine ausreichende Darmperistaltik ein und kommt es nicht zum Abführen, so sollte rasch eine umfangreiche propulsive Medikation sowie lokale Abführmaßnahmen eingeleitet werden (7 Übersicht).
Drainage eines trüben Sekretes, insbesondere aus den pankreasnah gelegenen Easy-Flow-Drainagen. Eine Bestimmung der Amylase aus dem Drainagesekret sichert die Diagnose einer Insuffizienz der Pankreatojejunostomie, ist aber ohne therapeutische Konsequenz, da diese Drainagen ohnehin belassen werden, bis die Fördermenge sehr gering ist oder ein sauberes Sekret gefördert wird. Die Quantität des Drainagesekretes erlaubt eine Einschätzung der Größe der Anastomoseninsuffizienz. Fieber und ein schweres septisches Krankheitsbild sind in der ersten Phase der Insuffizienz der Pankreatojejunostomie selten und deuten in der Regel auf einen infektiösen Verhalt hin. In diesem Fall sollte zur Fokussuche ein Abdomen-CT mit Kontrastmittel durchgeführt werden. Gut zugängliche Verhalte sollten punktiert und interventionell drainiert werden. Das so gewonnene Sekret sollte in jedem Fall einer mikrobiologischen Untersuchung zugeführt werden. Nicht selten kommt es, im Rahmen einer bei Oberbaucheingriffen sehr häufigen Darmparalyse, zu einem Rückstau von Stuhl in die abführenden Schlingen. Hierdurch kann die Pankreatojejunostomie aufgrund der erhöhten Druckbelastung ebenfalls insuffizient werden. Dann ist statt der typischen trüben Drainagesekretion die Drainage von Dünndarmstuhl zu verzeichnen.
Abführende Maßnahmen
Insuffizienz der biliodigestiven Anastomose
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Auch die biliodigestive Anastomose wird durch die frühzeitige Passage von Galle direkt nach Anlage belastet. Auch wenn die Anlage der biliodigestiven Anastomose technisch unproblematischer ist, kann eine zu stark geknüpfte Anastomose oder ein zu lang belassener Gallengang ebenfalls leicht Nekrosen entwickeln. Die Insuffizienz der biliodigestiven Anastomose tritt mit einer Wahrscheinlichkeit von 0,8–7% auf [7]. Klinisch auffällig wird der Patient in der Regel durch einen Oberbauchperitonismus. Da die Galle nicht selten eine Keimbesiedlung aufweist, ist häufig die Insuffizienz mit einem Fieberschub oder einem schweren septischen Krankheitsbild verbunden. Über die insbesondere im Bereich der biliodigestiven Anastomose einliegenden Easy-Flow-Drainagen kommt es rasch zu einer deutlich gelblich-grünlichen Einfärbung des Drainagesekretes. Die Bestimmung des Bilirubinwertes aus dem Drainagesekret sichert die Diagnose. Auch hier sollten bei Fieber und schwerem septischem Krankheitsbild ein Abdomen-CT zur Fokussuche durchgeführt werden und ggf. Verhalte punktiert sowie interventionell drainiert werden. Die digestive Aktivität der Galle kann, wenn auch in geringerem Ausmaß im Vergleich zum amylasehaltigen Pankreassekret, zu Arrosionen der benachbarten Strukturen führen.
Klysma Hebe-Senk-Einlauf Erythromycin 100 mg 3× tgl. i.v. MCP 3× 1Amp. i.v. Prostigmin über Perfusor oder als Kurzinfusion 2 ml/h
Erst bei suffizientem Abführen kann mit der enteralen quantitativen Ernährung begonnen werden. Unproblematisch ist jedoch die moderate Zufuhr von Wasser oder Tee, die der Patient schluckweise trinken kann.
74.3.4
Komplikationen der Pankreaschirurgie
Die Anastomosen von Gallengang und Pankreas werden bereits kurz nach der Anastomosenanlage durch verdauungsaktive Sekrete belastet. Insbesondere die Pankreatojejunostomie stellt eine operative Herausforderung dar. Die Nahtverbindungen zu dem oft sehr weichen Pankreasgewebe müssen mit aller Vorsicht geknüpft werden, um einerseits eine Dichtigkeit der Anastomose zu gewährleisten, andererseits ein Einreißen oder Durchschneiden der Fäden in das Pankreasgewebe zu vermeiden. Kleinste Undichtigkeiten können hier zu Wundheilungsstörungen führen und durch die verdauungsaktiven Sekrete erweitert werden. Das Auftreten einer Anastomoseninsuffizienz ist daher mit einer Wahrscheinlichkeit von 10–29% [8] eine häufige Komplikation. Kommt es erst einmal zum Übertritt der verdauungsaktiven Sekrete in die Bauchhöhle, können hier weitere Arrosionskomplikationen die Folge sein. Besonders gefürchtet sind die Arrosionsblutungen aus den viszeralen Arterien, Truncus coeliacus und A. mesenterica superior.
Insuffizienz der Pankreatojejunostomie Die Pankreatojejunostomie ist sicherlich die problematischste Anastomose. Eine Insuffizienz tritt mit einer Wahrscheinlichkeit von 9,6–29,1% auf [8]. Nach zunächst freiem Intervall in den ersten postoperativen Tagen findet sich häufig eine sukzessive Eintrübung der Drainagesekrete. Zusätzlich kann ein oberbauchbetonter Peritonismus auftreten. Zumeist im Verlauf eines Tages kommt es dann zur
Therapie der Anastomoseninsuffizienzen Die Neuanlage insuffizient gewordener Anastomosen weist aufgrund der hohen Entzündungsaktivität des umliegenden Gewebes eine hohe Rezidivquote auf. Dies gilt insbesondere für die Pankreatojejunostomie, die nicht nur durch Entzündungsmediatoren, sondern auch durch die digestive Aktivität der passierenden Sekrete eine deutlich schlechtere Wundheilung aufweist. Die Präparation in bereits entzündetem Gebiet kann zusätzlich zu erheblichen Schäden bereits gut verheilter und verklebter Anteile der Anastomosen führen und die Situation zusätzlich verschlechtern. Die Behandlung der Anastomoseninsuffizienz der Pankreatojejunostomie sollte daher zunächst konservativ erfolgen. > Die rasche Drainage der austretenden Sekrete sollte zur Verminderung der digestiven Aktivität im freien Abdomen jederzeit sichergestellt sein. Hierbei ist eine interven-
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Kapitel 74 · Abdominalchirurgische Eingriffe
tionelle, in der Regel CT-gesteuerte Drainage einer operativen Freilegung eines Verhaltes vorzuziehen.
Gelegentlich kann die Einlage einer Spüldrainage zu einer Verdünnung der Sekrete und damit der Verdauungsaktivität führen. Hierbei sollte intermittierend gespült werden, um die Ausbildung von Spülstraßen zu vermeiden. Übersteigt die aus den Easy-Flow-Drainagen drainierte Flüssigkeitsmenge den 24-h-kumulativen Wert von 200 ml, so muss von einer größeren Anastomoseninsuffizienz ausgegangen werden. Hier ist eine konservative Ausheilung der Defekte fraglich und eine operative Revision zu erwägen. Die Neuanlage der insuffizienten Anastomosen muss dann versucht werden. Gelegentlich kann eine Restpankreatektomie erforderlich werden. Bei einer Insuffizienz der biliodigestiven Anastomose, so sie nicht innerhalb der ersten 24 h nach Operation auftritt und in dieser kurzen Zeit auch wieder sistiert, empfiehlt sich dagegen die operative Revision mit Neuanlage der Anastomose.
Arrosionsblutung Bedingt durch die operativ unvermeidbare Freilegung der Viszeralgefäße kommt es bei einer Insuffizienz der Pankreatojejunostomie zu einer kontinuierlichen Benetzung der Gefäße mit verdauungsaktiven Sekreten. Dies führt zu einer sukzessiven Andauung der Gefäßwände. Ist hier die kritische Wandstärke unterschritten, so kommt es plötzlich zur Ruptur des so arrodierten Gefäßes und zu einer fulminanten intraabdominellen Blutung. Klinisch wird der Patient, häufig aus völligem Wohlbefinden, durch einen plötzlichen Druckabfall auffällig. Die, sofern noch vorhanden, intraabdominellen Easy-Flow-Drainagen fördern instantan Blut. Bei hinreichend großer Anastomoseninsuffizienz der Pankreatojejunostomie wird ein Teil des Blutes auch in das Darmlumen gepresst, und der Patient erbricht frisch blutig. Ein Abfall des systemischen Hb-Wertes lässt sich in dieser frühen Phase der Blutung nicht beobachten. > Aufgrund der akuten vitalen Gefährdung und der häufig interventionell schwierigen Versorgung im Rahmen einer Angiographie sollte die operative Revision im Vordergrund stehen.
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Der Patient muss daher unter fortlaufender Volumensubstitution sofort in den OP verbracht und das Abdomen exploriert werden. Intraoperativ sollte die Blutung zunächst durch manuelle Kompression kontrolliert werden, um eine ausreichende Stabilisierung des Patienten für die nun folgende Rekonstruktion des arrodierten Gefäßes zu erreichen. Lässt sich ein Übernähen oder eine direkte Endzu-End-Anastomose des betroffenen Gefäßes nicht durchführen, kann eine arterielle Transposition der A. lienalis die Durchblutung der kritischen Viszeralorgane sicherstellen.
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74.4
Leberchirurgie
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74.4.1
Indikation und operatives Vorgehen
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Die Indikationsstellung zur Durchführung intensivmedizinisch relevanter, umfangfangreicher resektiver Leberverfahren erfolgt weitgehend bei primärem und sekundärem Malignom der Leber. Ziel der operativen Verfahren ist die Entfernung des betroffenen Leberareals mit größtmöglichem Sicherheitsabstand unter Erhaltung einer ausreichenden Leberfunktion. Entsprechend dem Umfang des resezierten Lebergewebes spricht man von einer rechtsseitigen oder erweiterten rechtsseitigen Hemihepatektomie sowie korrespondierend von einer linksseitigen Hemihepatektomie.
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Hemihepatektomie rechts Zunächst erfolgt die Eröffnung des Lig. hepatoduodenale und die Präparation der dort enthaltenen Strukturen. Gallengang, Leberarterien und die Pfortader werden angeschlungen. Nun wird eine sorgfältige Lymphknotendissektion im Bereich des Lig. hepatoduodenale durchgeführt mit dem Ziel einer möglichst kompletten Lymphadenektomie. Komplette Freilegung der rechten und linken Leberarterie sowie des rechten und linken Pfortaderstammastes und die nachfolgenden Aufzweigungen. Präparation des Ductus choledochus und Ductus hepaticus mit den Aufzweigungen in den rechten und linken Gallengang. Nach sicherer Darstellung aller Strukturen erfolgt nun die Durchtrennung des entsprechenden Pfortaderastes, der anschließend sorgfältig übernäht wird. Anschließend wird der entsprechende Ductus hepaticus zwischen resorbierbaren Ligaturen durchtrennt. Nach Durchtrennung der arteriellen Versorgung entsprechend dem Resektionsvorhaben kommt es meist zu einer scharfen Demarkierung des von diesen Gefäßen versorgten Leberparenchyms, sodass die Resektionsebene auf diese Art schon vorgezeichnet ist. Anschließend erfolgt die vollständige Mobilisation der Leber unter Umstechung entsprechender Gefäße. Das retrohepatische Cavasegment wird bis zur Einmündung der Lebervenen dargestellt. Nach Darstellung der einmündenden Lebervenen wird die entsprechende Lebervene zwischen Gefäßklemmen durchtrennt und ebenfalls übernäht. Nun erfolgt die transparenchymatöse Durchtrennung der Leber im Bereich der Demarkationslinie, hierbei werden bei sukzessiver Durchtrennung des Lebergewebes die zahlreichen parenchymatösen Gefäße mit Clips oder Ligaturen versorgt. Gelegentlich kann es erforderlich sein, die Durchblutung der Leber komplett durch einen Torniquet (Pringle-Manoeuvre) zu unterbrechen. Die derartig initiierte warme Ischämie der Leber sollte eine Zeit von 60 min nicht überschreiten [9].
74.4.2
Überwachung des Leberpatienten
Im Fokus der Überwachung steht neben der Kontrolle der Vitalparameter die Überwachung der Leberfunktion und des Galleabflusses. Im Bereich der Leberresektionsfläche kann es gelegentlich zur postoperativen Drainage von Galle kommen. Eine aufmerksame Beobachtung des Drainagesekretes der Easy-Flow-Drainagen erlaubt eine sichere Identifizierung des Problems innerhalb des 1. postoperativen Tages. > Auch bei fehlender Anastomose kann es aus der Resektionsfläche der Leber zu galliger Drainage kommen.
Leberfunktionsstörungen (7 Übersicht) können akut oder chronisch protrahiert auftreten. Insbesondere bei umfangreichen Tumorresektionen kann eine Gefäßanastomose der leberversorgenden Arterien und Venen erforderlich sein. Kommt es innerhalb der ersten postoperativen Tage zu einem akuten Verlust der Leberfunktion, so muss hier an eine plötzlich auftretende Thrombose im Bereich der V. portae oder der arteriellen Lebergefäße gedacht werden.
957 74.4 · Leberchirurgie
Zeichen einer akuten postoperativen Leberperfusionsstörung 4 4 4 4
Anstieg der Leberenzyme SGOT (AST) und SGPT (ALT) Plötzliche Blutungsneigung und Abfall des Quick-Wertes Plötzlicher Anstieg des Laktatwertes Plötzlicher Kalziumabfall (Zitratverwertungsstörung bei Gabe von Erythrozytenkonzentraten) 4 Plötzlicher Abfall des Blutzuckers 4 Deutliche Zunahme des Aszites (Pfortaderthrombose)
Eine protrahiert einsetzende Leberfunktionsstörung ist nach umfangreichen Leberresektionen in Abhängigkeit der Qualität der Restleber regelhaft zu erwarten. Zur Überwachung der Leberfunktion sollten daher vom 1. postoperativen Tag an mindestens einmal täglich die Leberenzyme sowie die Parameter Bilirubin und die leberabhängigen Gerinnungsparameter überprüft werden. Ein Anstieg des Laktatwertes kann nach Ausschluss einer anderweitigen Ischämie ebenfalls auf eine Leberfunktionsstörung hindeuten. Die Kontrolle des Ammoniakwertes im Serum zur Kontrolle der Entgiftungsleistung der Leber sollte nur bei neurologischen Auffälligkeiten durchgeführt werden.
74.4.3
Postoperative Ernährung und Bilanzierung
Da im Rahmen einer Leberresektion üblicherweise höchstens eine Fußpunktanastomose der Passage des Nahrungsbreis ausgesetzt ist, steht einer baldigen enteralen Ernährung nichts im Wege. Es sollte daher zügig mit dem oralen Kostaufbau begonnen werden. Nach Ausgleich etwaiger intraoperativer Volumendefizite ist auch eine ausgeglichene Bilanzierung unter Berücksichtigung kardialer Vorerkrankungen zu gewährleisten. Eine operativ bedingte Positivoder Negativbilanzierung ist nicht erforderlich. Im Rahmen von gastrointestinalen Blutungsereignissen sollte in jedem Fall auf eine zügige Darmpassage geachtet werden. Hier ist die Gabe von oralen und peranalen Abführhilfen indiziert.
74.4.4
Komplikationen der Leberchirurgie
Die Komplikationen in der Leberchirurgie lassen sich unterteilen in akute, direkt postoperativ auftretende Komplikationen und den chronisch protrahierten Leberfunktionsausfall mit seinen Sekundärkomplikationen. Während im ersten Fall immer ein schnelles therapeutisches Eingreifen erforderlich ist, lässt sich der protrahierte Leberfunktionsausfall ausschließlich symptomatisch behandeln. Ursachen für den protrahierten Leberfunktionsausfall sind entweder eine zu schlechte und damit zu kleine Restleber oder eine Infektion.
Galleleckage der Leberresektionsfläche Während Blutungen im Bereich der Leberresektionsfläche intraoperativ leicht aufzufinden sind, kann die Drainage von Galle aus den intraparenchymatösen Gallenwegen oft okkult bleiben. Im weiteren Verlauf kommt es jedoch zu einer kontinuierlichen Galledrainage über nicht versorgte Gallengänge und zu einer Sequestration von Galle in die freie Bauchhöhle. Diese wird nun in den nächsten Stunden über die einliegenden Easy-Flow-Drainagen drainiert. Klinisch auffällig wird der Patient, da zumeist noch deutlich analgosediert,
lediglich durch den gelb-grünlichen Farbumschlag des Drainagesekretes. Eine Bestimmung des Bilirubinwertes aus dem Drainagesekret gibt Auskunft über das Ausmaß der Leckage. Erschwert wird die optische Wahrnehmung durch ein bereits initial, also präoperativ erhöhtes Serumbilirubin, das ebenfalls zu einer gelb-grünlichen Färbung des Drainagesekretes führen kann. > Steht die Diagnose einer Galleleckage fest, so wird in der Regel unverzüglich eine erneute Laparotomie zur chirurgischen Versorgung des Gallelecks notwendig. Ein Verschieben der chirurgischen Versorgung auf den nächsten Tag ist wegen der schnell fortschreitenden, galligen Peritonitis gefährlich.
Ein konservatives Vorgehen muss chirurgischerseits individuell in Ausnahmefällen gerechtfertigt werden. Gründe können z. B. ein deutliches Absinken von Sekretionsmenge und Bilirubinkonzentration sein.
Akuter postoperativer Leberausfall Insbesondere bei größeren onkologischen Resektionen bei Gallengangkarzinom oder Gallenblasenkarzinom kann es zu einer Resektion von Gefäßanteilen kommen. Die anschließende Rekonstruktion erfolgt entweder durch Übernähung oder End-zu-End-Anastomose. Diese Gefäßanastomosen sind durch die postoperativ aktivierte Gerinnungskaskade thrombosegefährdet. In diesen Fällen sollte daher eine Antikoagulation mit Heparin durchgeführt werden. Eine 2- bis 3-fache Erhöhung der PTT ist dabei anzustreben.
Maßnahmen zum Monitoring nach Gefäßanastomose 4 Nach Übernahme aus dem OP initiale Duplexuntersuchung der Lebergefäße 4 4-stündliche Kontrolle der Leberenzyme 4 2× tgl. Duplexuntersuchung der Lebergefäße 4 PTT zwischen 60–80/s mittels Heparin oder Agatroban/ Hirudin bei HIT
Erfolgt diese Therapie nicht zeitnah oder insuffizient, so kann es im Rahmen der ersten postoperativen Tage zur Ausbildung einer akuten Thrombose im Bereich der Gefäßanastomose kommen. Dieser partielle oder totale Verschluss des Gefäßes führt zu einem akuten Perfusionsausfall der Leber. Klinisch auffällig wird der Patient durch Anstieg der Leberenzyme sowie einen deutlichen Abfall der Syntheseleistung, zu messen am Serumbilirubin und den Gerinnungsfaktoren. Auch der Abbau des Laktats ist gestört und führt zu einer Erhöhung des Serumlaktatwertes. Tritt innerhalb der frühen postoperativen Phase eine akute Veränderung in diesen Parametern auf, so ist unverzüglich eine Duplexuntersuchung der Leber durchzuführen. > Der fehlende Nachweis eines Flusssignals über der V. portae oder der A. hepatica dextra oder sinistra sollte zu unverzüglichem, weiterem diagnostischem und therapeutischem Eingreifen führen. Jede Verzögerung hier kann zu einem Totalausfall der Leber und damit zum sicheren Tod des Patienten führen.
Bei diagnostischer Unsicherheit sollte unverzüglich eine Angiographie oder eine CT-Angiodarstellung durchgeführt werden. Ist die Diagnose gesichert, sollte unverzüglich eine operative Revision der Gefäßanastomose durchgeführt werden. Hierbei sollte neben der Revision der Anastomose bis weit in die Peripherie mit geeigneten
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Kapitel 74 · Abdominalchirurgische Eingriffe
Kathetern eine Thrombektomie des nachgeschalteten Gefäßsystems durchgeführt werden. Ist es einmal zu einer intraparenchymatösen Thrombosierung des Gefäßbettes gekommen, ist ein Erhalt der Leber unwahrscheinlich. Nach erfolgter Revision ist eine rasche Antikoagulation mit Heparin, auch unter Inkaufnahme eines gewissen Blutungsrisikos, unverzüglich durchzuführen.
Protrahierte Leberfunktionsstörung Postoperativ lässt sich aus dem Zustand der Leber, deren Zirrhosegrad und dem tatsächlich erhaltenen Leberanteil die mögliche postoperative Einschränkung der Leberfunktion abschätzen. Insbesondere bei ausgeprägtem zirrhotischem Umbau der Leber besteht jedoch eine große Ungewissheit über die Funktionsfähigkeit der verbliebenen Restleber. Nach einem zunächst freien Intervall, bedingt durch noch im Serum zirkulierende, präoperativ synthetisierte Proteine, kommt es am 4.–5. postoperativen Tag allmählich zu einer klinisch manifesten Leberfunktionseinschränkung. Gekennzeichnet ist diese Situation durch einen langsamen Anstieg der Entgiftungsparameter (Bilirubin, Ammoniak) sowie einem Abfall der in der Leber synthetisierten Proteine (Gerinnungsfaktoren, Albumin). Ziel der intensivmedizinischen Therapie ist die Überbrückung dieser in der Regel passageren Funktionsstörung bis zur ausreichenden Regeneration der Leber. Die Behandlung erfolgt symptomatisch durch Substitution der Gerinnungsfaktoren und des Albumins. Je nach Volumenstatus des Patienten können hierzu FFP (»fresh frozen plasma«) oder Gerinnungskonzentrate und Albuminkonzentrate verwendet werden. Bildet der Patient eine protrahierte, relevante Vigilanzstörung aus, so kann durch ein maschinelles Entgiftungsverfahren (Prometheus, MARS) die Vigilanz des Patienten verbessert und eine Intubation vermieden werden. Während diese Primärprobleme des passageren Leberfunktionsausfalls gut therapierbar sind, ist der Patient in dieser Phase insbesondere durch Sekundärkomplikationen wie Pneumonie oder Blutungskomplikationen bedroht. Eine umfangreiche Prophylaxe und frühzeitige Mobilisation des Patienten, auch bei eingeschränkter Vigilanz, ist daher anzustreben und hilft, diese Komplikationen zu vermeiden. Besonders problematisch ist die Rückkopplung einer infektiösen Situation auf die Leberfunktion. Bei schwerem septischem Krankheitsbild, infolge einer Pneumonie oder eines abdominellen Verhaltes, kommt es daher zu einer deutlichen Verschlechterung des Leberfunktionsausfalls. Eine frühzeitige Detektion der infektiösen Problematik und eine rasche Aufdeckung des septischen Fokus sind daher in dieser Phase unverzichtbar. Nach Diagnosestellung und Sanierung eines septischen Fokus sollte umgehend eine umfangreiche Antibiotikatherapie durchgeführt werden.
Biliom
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Okkulte Insuffizienzen im Bereich der intraparenchymatösen Gallenwege (Leberresektionsrand) können zu einem persistierenden Galleverhalt führen (. Abb. 74.9). Nicht selten kommt es im weiteren postoperativen Verlauf zu einer sekundären Infektion dieser Biliome. Klinisch auffällig wird der Patient durch einen plötzlichen Fieberanstieg sowie einen Anstieg der Leberenzyme und des Bilirubinwertes. Bei protrahierter Leberfunktionsstörung kann es zu einer Verschlechterung eben dieser kommen. Da zu diesem Zeitpunkt in der Regel schon alle intraabdominellen Drainagen entfernt sind, ist die CT-Untersuchung des Abdomens wegweisend. Entsprechende Verhalte sollten im Rahmen dieser klinischen Konstellation in jedem Fall punktiert und inter-
. Abb. 74.9 Postoperatives Biliom nach linksseitiger Hemihepatektomie im CT
ventionell drainiert werden. Eine breite antibiotische Abdeckung ist ebenfalls erforderlich.
74.5
Septische Chirurgie
In 7 Abschn. 74.5 der septischen Chirurgie sind Erkrankungen der Bauchhöhle zusammengefasst, die zu einem schweren septischen Krankheitsbild führen. Neben Hohlorganperforationen und akut entzündlichen Erkrankungen der Bauchorgane finden die Weichteilinfektionen der Bauchwand sowie der Perinealregion und angrenzender Strukturen besondere Beachtung. Die schwere septische Erkrankung infolge eines akut entzündlichen Prozesses im Bereich des Abdomens erfordert eine radikale Sanierung des septischen Fokus. Die Schwere der Erkrankung lässt eine alleinige antibiotische Therapie häufig nicht zu. Wegen der großen resorptiven Fläche des Peritoneums können auch kleinere entzündliche Foci zu einem schweren septischen Krankheitsbild führen. Neben einer umfangreichen Diagnostik ist daher häufig eine rasche, explorative Laparotomie unbedingt notwendig. Leitsymptom dieser entzündlich abdominellen Erkrankung ist in der Regel das akute Abdomen.
74.5.1
Akutes Abdomen
Definition Das akute Abdomen stellt kein eigenständiges Krankheitsbild dar, sondern ist ein Symptomenkomplex, der auf eine schwere abdominelle Erkrankung hinweist, die in der Regel eine chirurgische Sanierung erfordert.
Die Differenzialdiagnosen eines akuten Abdomens sind vielfältig.
Ursache für ein akutes Abdomen 4 Cholezystitis 4 Magenperforation 4 Dickdarmperforation 6
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4 4 4 4 4 4 4 4
Duodenalperforation Sigmadivertikulitis Darmischämie Appendizitis Salpingitis Pyelonephritis Zystitis und verschiedene mehr
Bei der Diagnose eines akuten Abdomens ist rasches Handeln geboten. Die weiterführende Diagnostik sollte auf ein Minimum eingeschränkt und eine explorative Laparotomie zeitnah durchgeführt werden. Das akute Abdomen steht häufig am Anfang eines Intensivaufenthaltes. Nicht selten kommt es jedoch nach elektiver Versorgung und protrahiertem Intensivverlauf ebenfalls zur Ausprägung dieses Krankheitsbildes. Die Diagnose ist hier bei dem sedierten Patienten häufig schwierig und wird nicht selten deutlich zeitverzögert gestellt. Peritonismus und Abwehrspannung sind bei dem tief analgosedierten Patienten häufig nicht nachweisbar. Umso wichtiger ist die rasche Reaktion auf einen unklaren Fieber- und Katecholaminanstieg. Bei den oft bereits mehrfach voroperierten Patienten ist die Indikationsstellung zur raschen Laparotomie oft problematisch. Hier sollte in Abwägung der Vor- und Nachteile eines operativen Vorgehens zunächst eine sorgfältige Diagnostik durchgeführt werden. Sonographie und Abdomen-CT sollten helfen, das Problem einzugrenzen und eine differenzierte Therapieentscheidung zu fällen; ggf. ist hier das interventionelle Vorgehen einer explorativen Laparotomie vorzuziehen [12].
74.5.2
Weichteilinfektionen des Abdomens
Im Bereich der Bauchdecke sowie der Perinealregion treten, wie im übrigen Integument, abszedierende, phlegmonöse oder nekrotisierende, gangränöse Infektionen auf. Während die meisten Bauchdeckeninfekte ohne größere systemische Reaktionen ablaufen, kommt es bei einigen Krankheitsbildern regelhaft zu einem schweren septischen Krankheitsverlauf mit einer hohen Mortalität. Prädisponierend für einen derart schweren Krankheitsverlauf sind neben Art und Virulenz der Erreger Risikofaktoren wie Diabetes mellitus, Alkoholabusus, Malignome, Bestrahlungs- oder Steroidtherapie. Intensivmedizinisch relevant können Senkungsabszesse infolge intraabdomineller Hohlorganverletzungen, die nekrotisierende Fasziitis und der Gasbrand sein.
Senkungsabszess Ursache für die Ausbildung eines Senkungsabszesses (. Abb. 74.10) sind in der Regel Spontanperforationen infolge eines chronisch verlaufenden Entzündungsprozesses, zumeist des Kolons, die über eine längere Phase inapparent bleiben. Zumeist liegt bei den Patienten keine Perforation in die freie Bauchhöhle vor, sondern eine gedeckte Perforation nach retroperitoneal oder interenterisch. Im weiteren Verlauf kommt es zur Ausbildung eines Abszesses, der an geeigneten Prädilektionsstellen sich weiter nach peripher ausbreitet und zu einer Infektion der Bauchdecke oder des Perineums und Oberschenkels führen kann. Das Krankheitsbild zeichnet sich durch eine zunächst fluktuierende, sich langsam verschlechternde allgemeine Infektkonstellation aus. Erst im weiteren Verlauf fällt dann im Bereich der Bauchdecke oder des Perineums eine zunehmende phlegmonöse
. Abb. 74.10 Weichteilephysem bei Senkungsabszess
Rötung mit gelegentlicher Crepitatio durch Gaseinschlüsse auf. Erst in diesem Stadium der Erkrankung kommt es dann zu einem rasch progredienten, schweren septischen Krankheitsbild. Ursache für den zunächst weitgehend inapparenten Verlauf sind reduzierte Schmerzwahrnehmungen im Rahmen einer ethyltoxisch oder diabetisch bedingten peripheren Neuropathie oder eine Verkennung der Schmerzproblematik aufgrund von unkontrolliertem Schmerzmittelgebrauch. > Bei Vorliegen einer ausgeprägten Phlegmone der Bauchdecke oder des Perineums sowie der Leistenregion muss dringend an eine Hohlorganperforation gedacht werden.
Eine entsprechende umfangreiche Diagnostik sollte in jedem Fall eingeleitet werden. Neben der Bestimmung der systemischen Infektparameter sollte bei Verdacht auf einen Senkungsabszess die Sonographie die Diagnose sichern. Um das gesamte Ausmaß der Erkrankung abzubilden, kann ein präoperatives Abdomen-CT sinnvoll sein. In jedem Fall sollte der Patient einer raschen chirurgischen Versorgung zugeführt werden. z Therapie Vor dem Hintergrund des schweren septischen Krankheitsbildes ist die vordringlichste chirurgische Maßnahme die Freilegung der infektiösen Areale. Nekrotische Haut- und Muskelanteile sollten im Gesunden reseziert werden. Ein sorgfältiges Spülen des gesamten Wundbereiches hilft, die Keimzahl zu verringern. Nicht selten zeigt sich bei der Exploration des Infektionsgebietes bereits eine Stuhlkontamination, die dann diagnostisch wegweisend für eine Hohlorganperforation ist. Die septische Wunde wird selbstverständlich nicht verschlossen, sondern mit feuchten Bauchtüchern abgedeckt. Im weiteren Verlauf sollte sie regelmäßig lavagiert werden. Bei jedem Verdacht auf eine ursächliche Hohlorganperforation sollte anschließend eine explorative Laparotomie durchgeführt werden. Gelegentlich werden die Patienten in einem derart schweren septischen Krankheitsbild mit einem hohen Katecholaminbedarf vorgestellt, dass die explorative Laparotomie erst sekundär nach Wundversorgung und intensivmedizinischer Stabilisierung durchgeführt werden kann. Die antibiotische Abdeckung sollte die Darmflora umfangreich umfassen und auch mögliche Problemkeime mit einschließen. Geeignete Mittel sind z. B. Carbapeneme, Teicoplanin, Metronidazol sowie Chinolone. Jede weitere Verschlechterung des septischen
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Kapitel 74 · Abdominalchirurgische Eingriffe
Krankheitsbildes sollte eine umgehende Exploration des Wundgebietes mit konsequenter Resektion der nekrotischen und infizierten Areale erzwingen.
Gasbrand Nekrotisierende Fasziitis Die nekrotisierende Fasziitis ist eine rasch fortschreitende, schwere Weichteilinfektion, die ausschließlich die Haut, das Subkutangewebe und die Muskelfaszien betrifft. Ursächlich ist eine Streptokokken-A-Infektion, der in der Regel eine Bagatellverletzung vorausgegangen ist. Risikofaktoren sind Diabetes mellitus, Alkoholabusus sowie eine allgemeine Schwächung des Immunsystems durch Chemotherapie und Bestrahlung sowie iatrogen induziert im Rahmen einer Transplantation. Klinisch auffällig werden die Patienten durch eine sehr schmerzhafte, rasch fortschreitende, scharf begrenzte Rötung der Haut (. Abb. 74.11). Hinzu kommen eine livide, landkartenartige Verfärbung der Haut, hohes Fieber und eine Leukozytose. Kennzeichnend ist das rasche Fortschreiten der Erkrankung. Häufig liegen zwischen dem Auftreten einer initialen phlegmonösen Rötung um eine Bagatellverletzung herum und dem Ausbilden eines schweren septischen Krankheitsbildes weniger als 24 h. Prädilektionsstellen sind Fuß und Unterschenkel. Kommt es im Bereich des Skrotums zu einer nekrotisierenden Fasziitis, so spricht man auch von einer Fournier-Gangrän. ! Cave Das Ausmaß der Fasziennekrose lässt sich anhand der Hautveränderungen nur unzureichend abschätzen. Häufig ist die Fasziennekrose deutlich umfangreicher.
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Bereich nicht infizierter Haut gelegen, angelegt werden. Der Wert einer hyperbaren Oxygenation ist noch nicht abschließend geklärt.
z Therapie Die unverzügliche operative Sanierung und Resektion der Faszie ist lebensrettend. Eine rasche Elimination des verursachenden Keims (Streptococcus der Gruppe A) sollte innerhalb von 24 h zu einer Elimination des infektauslösenden Agens führen. Die antibiotische Therapie sollte mit grampositiv wirksamen Antibiotika durchgeführt werden. Geeignet sind hier z. B. Penicilline oder Clindamycin. Innerhalb von 24 h – oder bei deutlich verschlechtertem und septischem Krankheitsbild auch früher – sollte eine chirurgische Reevaluation des Wundgebietes erfolgen. Nekrotische Areale sollten weit im Gesunden nachreseziert werden. Gegebenenfalls muss eine Amputation der Extremität erwogen werden. Im Rahmen einer Fournier-Gangrän kann es auch zu einer Resektion der Testes kommen. Entlastend sollte hier bei umfangreichem Befund in der Perinealregion ein Entlastungsstoma, sicher im
Der Gasbrand ist eine rasch fortschreitende Myonekrose verursacht durch eine Infektion mit Clostridien. Der nur unter anaeroben Bedingungen wachsende Keim führt durch die Bildung von zahlreichen enzymatisch aktivierten Exotoxinen zu einer Zersetzung der Muskulatur. Daraus resultiert die charakteristische Gasbildung. Während die meisten Clostridieninfektionen im Rahmen schwerer Traumata bei kontaminierten und zerfetzten Wunden auftreten, kann es bei Risikopatienten wie Diabetikern und Alkoholikern zu einer spontan auftretenden Clostridieninfektion kommen. z Symptome Nach kurzer Inkubationszeit sind ein ausgeprägter Wundschmerz und ein schweres septisches Krankheitsbild mit Verwirrtheitszuständen und Organdysfunktionen zu verzeichnen. Im weiteren Verlauf tritt dann die charakteristische Crepitatio im Bereich des Wundgebietes auf. > Nach Diagnosestellung ist die rasche kombinierte chirurgische, antibiotische und intensivmedizinische Therapie lebensrettend.
z Therapie Ein großzügiges Freilegen des Infektionsgebietes verbunden mit einer konsequenten Resektion nekrotischer Muskelanteile ist die Therapie der Wahl. Eine Amputation der betroffenen Extremität ist oft nicht zu vermeiden. Im Bereich der Bauchdecke kann es zu einem weitgehenden Verlust der Bauchdeckenmuskulatur kommen. Hier sind dann die temporäre Versorgung mit einem Vicrylnetz und eine spätere plastische Rekonstruktion erforderlich. Da Clostridien sensibel auf Penicilline sind, reicht bei einer Clostridienmonoinfektion diese Therapie aus. 3/4 aller Gasbrandinfektionen stellen jedoch Mischinfektionen dar, bei denen neben Clostridien auch E. coli, Bacteroides, Enterococcus faecalis und weitere Enterobakterien nachweisbar sind. Es sollte daher ohne sicheren Nachweis einer Monoinfektion eine breitere Antibiotikatherapie durchgeführt werden. Geeignete Mittel sind u. a. Clindamycin, Metronidazol, Chinolone und Carbapeneme [11]. Unter den Weichteilinfektionen stellt der Gasbrand weiterhin die Hauptindikation für die hyperbare Oxygenierung dar, wenngleich auch hierbei keine randomisierten Studien die Effektivität nachgewiesen haben.
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74.5.3
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Die Cholezystitis ist eine primär chemische, sekundär bakterielle Entzündung der Gallenblasenwand verursacht durch eine mechanische oder funktionelle Obstruktion der ableitenden Gallenwege (Infundibulum oder Ductus cysticus). 95% der Gallenwegsobstruktionen werden durch einen Gallenstein verursacht. Bei einer funktionellen Obstruktion kommt es in der Regel durch längere Nahrungskarenz zu einer Eindickung der Gallenflüssigkeit und einen konsekutiven Abflussstau. Diese Form der funktionellen Obstruktion ist im Bereich der Intensivmedizin häufig anzutreffen [16].
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. Abb. 74.11 Oberschenkelbefund bei nekrotisierender Fasziitis
Cholezystitis (Schockgallenblase)
z Komplikationen Unbehandelt führt die akute Cholezystitis zu einem Krankheitsbild mit hoher Mortalität. Im Vordergrund stehen die Ausbildung einer emphysematösen Cholezystitis, z. B. durch Gasbildner, das Gallenblasenempyem oder die Perforation. Hier kann es zur Penetration
961 74.5 · Septische Chirurgie
piratorische Situation bei verschlechtertem septischem Krankheitsbild verbietet oft eine intraabdominelle Druckerhöhung, wie sie bei der laparoskopischen Cholezystektomie durch Insufflation von CO2 unvermeidbar ist. Hier sollte primär die offenchirurgische Cholezystektomie durchgeführt werden. Eine lokale Lavage und das Einlegen von Drainagen im Operationsgebiet schließen den Eingriff ab. Eine postoperative antibiotische Abdeckung ist beim normal gesunden Patienten in der Regel nicht erforderlich. Bei dem septischen Intensivpatienten sollte jedoch eine Abdeckung mit Chinolonen erfolgen.
74.5.4
. Abb. 74.12 Cholezystitis mit klassischer Dreischichtung und Sludge
in die Leber mit Ausbildung eines Leberabszesses oder zu einer Perforation in die freie Bauchhöhle kommen. Folge ist eine gallige Peritonitis, die zu einem schweren septischen Krankheitsbild führen kann. z Symptome Die klassische Trias aus rechtsseitigem Oberbauchschmerz, Fieber und Leukozytose weist bei dem wachen Patienten auf eine akute Cholezystitis hin. Gelegentlich können intermittierende Steinabgänge auch zu einem kolikartigen Beschwerdebild führen. Diagnostisch wegweisend sind, neben der Klinik, eine Oberbauchsonographie, die eine Dreischichtung der Gallenblasenwand als Entzündungskorrelat darstellen sollte (. Abb. 74.12). Häufig findet sich auch freie Flüssigkeit im Gallenblasenbett. Der Konkrementnachweis sollte regelhaft gelingen, eine intrahepatische Cholestase ist jedoch selten anzutreffen. Laborchemisch findet sich neben einer Infektkonstellation eine Erhöhung der γ-GT, gelegentlich auch des Bilirubins. Die bei Intensivpatienten auftretende Cholezystitis im Rahmen einer funktionellen Obstruktion ist häufig maskiert. Durch den langen Intensivaufenthalt und die problematische Grunderkrankung werden die Symptome einer akuten Cholezystitis oft verzögert wahrgenommen. Eine eindeutige Klinik liegt häufig nicht vor. Die Patienten entwickeln häufig nach intermittierender Besserung ihres Allgemeinzustandes und ihrer Grunderkrankungen eine erneute Verschlechterung mit einem schweren septischen Krankheitsbild. Im Rahmen der Fokussuche sollte daher auch an eine akute Cholezystitis gedacht werden. z Therapie Unter einer antibiotischen Therapie kommt es i. Allg. zu einer spontanen Remission der Erkrankung. Es zeigt sich jedoch im weiteren Verlauf, dass die akute Cholezystitis eine hohe Rezidivrate aufweist. 60% der primär gebesserten Patienten erleiden innerhalb der nächsten 6–8 Wochen einen erneuten Entzündungsschub. Therapie der Wahl ist daher eine Cholezystektomie. Während im unkomplizierten Fall eine laparoskopische Entfernung der Gallenblase angestrebt werden sollte, ist dies bei dem komplizierten Intensivpatienten häufig kontraindiziert. Eine instabile kardiores-
Pankreatitis
Die akute Pankreatitis wird ausgelöst durch eine Aktivierung proteolytischer Enzyme und führt zu einem Autodigestionsprozess des Pankreas. Ursächlich dafür sind sowohl die Obstruktion des Ductus pancreaticus, ein Reflux von Duodenalinhalt sowie ein Gallereflux, wie er bei Steineinklemmung im Bereich der Papille durchaus vorkommen kann, eine veränderte Permeabilität des Gangsystems sowie eine vorzeitige Zymogenaktivierung durch Enzymdefekte. Lokal kommt es zu einer Destruktion des Pankreasparenchyms und des umgebenden Fettgewebes. Unter Mitwirkung der Phospholipase werden hochpotente Mediatoren freigesetzt, diese können zu einem SIRS (»systemic inflammatory response syndrome«) führen. Durch die einmal ausgelöste Entzündungsreaktion kommt es zu einer Selbstverstärkung und zu einem Progress der Erkrankung. Die im Rahmen des Entzündungsprozesses ebenfalls freigesetzten Elastasen bedingen eine Zerstörung der elastischen Fasern der Blutgefäße und damit eine Gefäßarrosion und Blutung. Die Freisetzung von Entzündungsmediatoren führt zu einer erhöhten Gefäßpermeabilität und zu einer Vasoplegie. In der Folge kommt es im Rahmen der Pankreatitis zur lokalen Ödembildung im Bereich des Pankreas sowie zu einem systemischen Schockgeschehen. Dies resultiert in einem verminderten Herzzeitvolumen und einer Hypoxämie mit einer weiteren Verstärkung des lokalen Entzündungsprozesses. Durch die explosionsartige Freisetzung der Mediatoren kommt es zu einer Aktivierung des Gerinnungssystems und konsekutiv zu einer disseminierten intravasalen Gerinnung. Folge ist ein Verschluss der Kapillargebiete mit Eröffnung der Shunts und daraus folgend ein erhöhtes Shuntvolumen. Klinisch macht sich dies in einem progredienten Lungenödem bemerkbar, sodass die Patienten im weiteren Verlauf rasch beatmungspflichtig werden können. Weiteres Organversagen wie das akute Nierenversagen und eine Leberinsuffizienz können in der Folge auftreten. z Ätiologie Häufigste Ursachen einer akuten Pankreatitis sind der Alkoholmissbrauch sowie die Cholezystolithiasis. Gelegentlich kommt es im Rahmen einer ERCP zu einer iatrogen verursachten Pankreatitis. z Diagnose Typisch für die Pankreatitis sind ein gürtelförmiger Schmerz sowie ein Gummibauch. Laborchemisch wegweisend ist eine Erhöhung der pankreasspezifischen Iso-Amylase oder der Lipase im Serum. Bildgebende Verfahren sichern die Diagnose durch Darstellung eines ödematös veränderten Pankreas. Wegen häufig konsekutiv vorliegender Überblähung des Colon transversum ist die Ultraschalluntersuchung zur Diagnose der akuten Pankreatitis häufig nicht geeignet. Es sollte daher regelhaft ein Abdomen-CT mit Kontrastmittel zur Diagnosesicherung durchgeführt werden. Insbesondere beim Intensivpatienten ist die Symptomatik einer akuten Pankreatitis oft deutlich maskiert. Hier wird der Verdacht
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Kapitel 74 · Abdominalchirurgische Eingriffe
auf eine akute Pankreatitis oft erst beim Eintreten einer Schocksymptomatik gestellt. Es empfiehlt sich daher, bei jedem Schockgeschehen eine rasche Abklärung durch ein Abdomen-CT mit Kontrastmittel herbeizuführen. z Therapie Im Vordergrund der Behandlung steht bei der akuten Pankreatitis die Behandlung des Schockgeschehens. Eine rechtzeitige Volumensubstitution und Kreislaufstabilisierung verhindert die weitere Verschlechterung der Pankreatitis. Weiterhin sollte eine parenterale Ernährung angestrebt werden. Da es sich bei der akuten Pankreatitis in der Regel um eine abakterielle Entzündung handelt, ist eine antibiotische Abdeckung zunächst nicht erforderlich [14].
Akute nekrotisierende Pankreatitis Bei schwereren Verläufen der akuten Pankreatitis kommt es im weiteren Krankheitsverlauf zur Ausbildung von Nekrosen. Prognosebestimmender Faktor ist die Infektion der Nekrosen. Während die Mortalität ohne Superinfektion bei 10% liegt, steigt sie bei superinfizierten Nekrosen bis auf 40% an [14]. z Diagnostisches Vorgehen Finden sich im Rahmen der CT-Diagnostik Nekrosen, so sollten diese (sofern erreichbar) CT-gesteuert punktiert werden. Das Material sollte unverzüglich einer mikrobiologischen Untersuchung zugeführt werden, um eine Infektion auszuschließen. z Therapie Die Standardtherapie der nekrotisierenden Pankreatitis ist zunächst eine konservative. Unter breiter intensivmedizinischer Überwachung wird unter Nahrungskarenz eine Sepsistherapie durchgeführt. Volumengabe und Kreislaufunterstützung stehen im Vordergrund. Analgesie und Behandlung der Sepsiskomplikationen (CVVH bei Niereninsuffizienz, Substitution von Albumin und Gerinnungsfaktoren) werden supportiv durchgeführt. > Eine antibiotische Therapie als Prophylaxe kann die infizierten Nekrosen nicht verhindern und ist daher nicht indiziert. Operatives Vorgehen. Eine Operationsindikation ist bei einer un-
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komplizierten akuten nekrotisierenden Pankreatitis nicht gegeben. Kommt es im Rahmen der enzymatischen Andauung jedoch zu Arrosionsblutung, Hohlorganperforation oder Obstruktion, so ist selbstverständlich eine operative Sanierung erforderlich. Ein operatives Vorgehen bei einer biliären Pankreatitis sollte sich zunächst auf eine möglichst schonende Wiederherstellung des Galleabflusses beschränken. Kommt es zur Superinfektion der Nekrosen, so ist das chirurgische Vorgehen dringend indiziert. Therapie der Wahl ist eine Nekrosektomie mit anschließender Einlage von Spüldrainagen. Hierbei ist eine intermittierende Lavage einer kontinuierlichen Spülung, wegen der Ausbildung von Spülstraßen, vorzuziehen [2].
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Hohlorganperforation
Hohlorganperforationen führen durch den Austritt von chemischen oder bakteriellen Noxen in die freie Bauchhöhle regelhaft zu einem akuten Abdomen und einem schweren septischen Krankheitsverlauf. Häufigste Ursache für eine Hohlorganperforation ist das perforierte Ulkus und die perforierte Sigmadivertikulitis.
Perforiertes Magenulkus Ursache für die Ausbildung eines Magenulkus ist die Imbalance zwischen säureschützender Schleimschicht und Säurebildung. Durch passagere Minderperfusion kann die Säurebarriere zusammenbrechen. Die nun freiliegende Magenschleimhaut wird jetzt durch säureaktivierte proteolytische Enzyme angedaut, und es resultiert lokal eine Entzündungsreaktion. Persistiert diese, kann eine komplette Auflösung der Magenwand im Bereich dieses Ulkus die Folge sein. Mageninhalt wird nun in die freie Bauchhöhle freigesetzt. z Diagnose Beim wachen Patienten fällt die Perforation eines Ulkus durch ein akutes Schmerzereignis im Bereich des Oberbauchs gefolgt von einem progredienten Peritonismus auf. Beim intubierten und sedierten Patienten wird dieses initiale Schmerzereignis in der Regel nicht wahrgenommen. Hier zeigt sich durch ein erneut auftretendes septisches Krankheitsbild die beginnende Peritonitis an. Zur Diagnosesicherung sollten eine Abdomenübersichtsaufnahme in Linksseitenlage oder ein Abdomen-Computertomogramm durchgeführt werden. z Therapie Der Nachweis von freier Luft beweist die Hohlorganperforation und sollte eine rasche, explorative Laparotomie nach sich ziehen[3].
Sigmadivertikulitis Zumeist infolge einer chronischen Obstipation kommt es beim älteren Patienten an entsprechenden Prädilektionsstellen im Bereich des Colon sigmoideum zur Ausbildung von Pseudodivertikeln. Diese sind zumeist Kot gefüllt und können sich im weiteren Verlauf entzünden. Der chronische Entzündungsprozess kann im unbehandelten Fall in eine Perforation im Bereich entzündeter Divertikel münden. Es kommt dann zum Austritt von Stuhl in die freie Bauchhöhle und konsekutiv zur kotigen Peritonitis. z Diagnose Der wache Patient wird auffällig durch einen linksseitigen Unterbauchschmerz, der chronisch progredient ist. Hinzu treten Fieber und Leukozytose als allgemeine Infektzeichen. Gelegentlich, insbesondere bei indolenten Patienten (Alkoholismus, chronischer Schmerzmittelgebrauch), verläuft die Sigmadivertikulitis inapparent. Diese Patienten werden erst durch die Perforation klinisch auffällig und zeigen direkt ein schweres septisches Krankheitsbild mit akutem Abdomen. Dies gilt insbesondere für den Intensivpatienten, der intubiert und beatmet zunächst klinisch völlig unauffällig erscheint. Ansteigende Infektparameter des beatmeten Patienten können oft nicht in den Zusammenhang mit einer akuten Sigmadivertikulitis gebracht werden und verzögern die erforderliche Diagnostik. > Diagnostisch beweisend ist das Abdomen-CT mit Nachweis von freier Luft als Zeichen einer Perforation und lokalen Entzündungszeichen im Bereich des Colon sigmoideum [14].
z Therapie Die unkomplizierte Sigmadivertikulitis wird in der Regel im ersten Schub konservativ behandelt. Eine Antibiotikatherapie mit 3.-Generations-Cephalosporinen und Metronidazol führt in der Regel zum Erfolg. Wegen einer erhöhten Rezidivneigung wird spätestens nach dem zweiten Schub insbesondere bei jüngeren Patienten eine Resektion des divertikeltragenden Colon sigmoideum angestrebt. Hat bereits eine Perforation stattgefunden, so ist die Resektion des Colon sigmoideum die Therapie der Wahl. Eine primäre Anasto-
963 74.5 · Septische Chirurgie
mosierung muss dann oft unterbleiben, da in dem peritonitischen Bauch mit einer hohen Wahrscheinlichkeit eine Anastomoseninsuffizienz auftreten würde. Bei Vorliegen einer kotigen Peritonitis wird das Abdomen ausführlich lavagiert. Kommt es im weiteren Verlauf zu einer septischen Verschlechterung des Patienten, so ist eine Second-lookOperation mit erneuter Lavage, ggf. auch einer programmierten Lavage durchzuführen.
74.5.6
Intraabdominelle Abszesse
Intraabdominelle Abszesse können infolge einer Peritonitis oder einer gedeckten Anastomoseninsuffizienz auftreten. Nach zunächst freiem klinischem Intervall imponiert postoperativ bei den Patienten eine erneute septische Konstellation. Gegebenenfalls findet sich auch ein lokaler Druckschmerz. Hinweisend kann die im Operationsbericht vermerkte Kontaminierung der Abdominalhöhle intraoperativ sein. Kommt es daher postoperativ nach zunächst unkompliziertem Verlauf zu einer akuten septischen Verschlechterung, so muss an das Vorliegen eines intraabdominellen Abszesses gedacht werden. Diagnostisch wegweisend sind die bildgebenden Verfahren zur Darstellung der Abszesse. Hier reicht oft die Abdomensonographie aus. Ist der Darm infolge des lokalen Entzündungsprozesses deutlich überbläht (paralytischer Ileus) so sollte zur Diagnosesicherung ein Abdomen-CT durchgeführt werden. z Therapie Eine erneute explorative Laparotomie ist in der Regel verzichtbar und zumeist auch schädlich, da bei der Präparation des Abszesses zahlreiche Läsionen, insbesondere im Bereich des Dünndarms, gesetzt werden können. Die Therapie der Wahl besteht aus einer interventionellen Punktion des Abszesses und dem Einlegen einer Spüldrainage. Nach Evakuierung der Abszesshöhle sollte diese initial gespült werden. Je nach Beschaffenheit der Drainageflüssigkeit sollte im weiteren Verlauf ggf. eine intermittierende Spülung fortgeführt werden. Begleitend sollte zunächst eine kalkulierte Antibiotikatherapie begonnen werden. Hier sind auch ggf. die Problemkeime, wie z. B. Enterococcus faecium, zu berücksichtigen. Geeignete Antibiotika sind z. B. Carbapeneme, Chinolone, Metronidazol und Teicoplanin [10].
74.5.7
Platzbauch
Insbesondere nach septischen Eingriffen ist der Platzbauch eine gefürchtete postoperative Komplikation. Ursache ist eine Fasziennekrose im Bereich der Fasziennaht mit Ausriss des Nahtmaterials, was zu einer Eröffnung der Abdominalhöhle und Hervorluxieren des Dünndarmkonvoluts führen kann. > Auch wenn die Fasziennekrose ursächlich im Vordergrund steht, sollte bei jedem Platzbauch eine komplette Exploration der Bauchhöhle durchgeführt werden.
Ursache für einen Platzbauch sind nicht selten eine bis dahin unerkannte Anastomoseninsuffzienz oder ein septischer Fokus. z Diagnose Regelmäßige Wundkontrollen erlauben die schnelle und sichere Diagnose eines Platzbauches. Insbesondere Hautrötungen und putride Sekretionen sollten sorgfältig untersucht und nicht primär als
einfacher subkutaner Abszess interpretiert werden. Ein subkutaner Platzbauch kann durch eine Abdomensonographie ausgeschlossen werden. z Therapie Die rasche chirurgische Versorgung des Platzbauches ist zwingend erforderlich. Neben der Exploration der Bauchhöhle und der Lavage des Abdomens sollte ein Bauchdeckenverschluss wieder angestrebt werden. Die nekrotische Faszie sollte in jedem Fall reseziert werden. Sind die Faszienränder zu distant und kommt es bei Fasziennaht zu einem erhöhten intraabdominellen Druck, so sollte ein temporärer Bauchdeckenverschluss mit einem weichen, resorbierbaren Netz angestrebt werden. Die früher verwendeten Platzbauchnähte sollten wegen erhöhter Arrosionsgefahr im Bereich der Dünndarmschlingen und der möglichen abdominellen Druckerhöhung keine Verwendung mehr finden [4].
74.5.8
Abdominelles Kompartment
Ein abdominelles Kompartment liegt vor, wenn der intraabdominelle Druck >20 mm Hg ist. Repräsentativ für den intraabdominellen Druck gilt der Blasendruck, der problemlos über einen einliegenden transurethralen Katheter gemessen werden kann. Ein erhöhter Blasendruck von 20 mm Hg gilt dementsprechend als Beweis für das Vorliegen eines abdominellen Kompartmentsyndroms. Ursache für das Auftreten eines abdominellen Kompartments sind die in der Regel septisch bedingten Volumenänderungen im Bereich der Bauchorgane. Durch die erhöhte Kapillarpermeabilität bedingt kommt es im Rahmen einer Sepsis zu einem Anschwellen von Dünn- und Dickdarm. Nach Bauchdeckenverschluss, der möglicherweise noch unproblematisch gelingt, führt das Anschwellen des Darms zu einer erhöhten Kompression. Die daraus folgende Hypoperfusion erhöht die Gefäßpermeabilität und führt zu einem venösen Rückstau. Hierdurch kommt es zu einem weiteren Anstieg des intraabdominellen Druckes. Bei weiter ansteigendem intraabdominellem Druck kann eine Hypoperfusion sämtlicher Bauchorgane resultieren mit konsekutivem Funktionsausfall. Der Rückfluss des venösen Blutstroms kann durch V.-cava -Kompression nahezu komplett unterbunden werden. Das abdominelle Kompartmentsyndrom stellt daher ein lebensbedrohliches Erkrankungsbild dar, welches umgehend therapiert werden muss. z Diagnose Klinisch auffällig wird der Patient in der Regel durch eine arterielle Hypotonie und ein Sistieren der Nierenfunktion. Eine zunehmende Einschränkung der Beatmungsfähigkeit bei weiter ansteigendem Druck ist ein weiteres Zeichen für das Auftreten eines abdominellen Kompartmentsyndroms. Spätestens nun sollte eine Messung des Blasendrucks zur Evaluation durchgeführt werden. Bei Vorliegen eines Blasendrucks >20 mm Hg ist das Vorliegen eines abdominellen Kompartmentsyndroms gesichert. z Therapie Therapie der Wahl ist das sofortige Eröffnen der Bauchdecke. Diese Entlastung führt rasch zu einer Beatembarkeit des Patienten und zu einer Normalisierung des Katecholaminbedarfs. Bei schwerem Krankheitsbild kann auf einen weiteren temporären Verschluss der Bauchdecke verzichtet werden. Ein Bauchdeckenverschluss sollte dann in den nächsten Tagen mittels eines weichen, resorbierbaren Netzes erfolgen (. Abb. 74.13). Die weitere Therapie besteht in der intensivmedizinischen Stabilisierung der Kreislaufsituation und einer Behandlung der Sepsis.
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964
Kapitel 74 · Abdominalchirurgische Eingriffe
11 Podbielski et al. (1998) Gruppe-A-Streptokokken und die nekrotisierende Fasziitis. Dtsch Ärztebl 95 (8): A–414 12 Renk u. Langgartner (2003) Management des akuten Abdomens. Intensivmedizin 40: 599–617 13 Schröder et al. (2009) Ischämische Konditionierung des Mageninterponates vor transthorakaler Ösophagektomie – Einfluß auf postoperative Mortalität und Anastomoseninsuffizienz 10.3205/09dgch541 [www. egms.de/static/en/meetings/dgch2009/09dgch541.shtml] 14 Siegenthaler u. Büchler (2001) Akute Pankreatitis. Lehrbuch der Inneren Medizin, 3. Aufl. Thieme, Stuttgart New York, S 1202–1203 p 15 Tillmann B (2009) Atlas der Anatomie des Menschen, 2. Aufl. 2. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York, S 285 16 Töns u. Schumpelick (Hrsg) (1997) Chirurgische Notfall- und Intensivmedizin. Enke, Stuttgart 17 Waldeyer et al. (1987) Anatomie des Menschen. Teil II 12. Aufl. de Gruyter, Berlin, S 322–327 18 Welte M, Hansen D (2008) Anästhesie in der Viszeralchirurgie. In: Rossaint R, Werner C, Zwißler B (Hrsg) Die Anästhesiologie, 2. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York, S 1033 19 Winkeltau u. Treutner (1994) Das Kompartmentsyndrom der Abdominalhöhle. In: Winkeltau (Hrsg) Die diffuse Peritonitis. Wiss. Verlagesgesellschaft, Stuttgart, S 79–81
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. Abb. 74.13 Temporärer Bauchdeckenverschluss bei abdominellem Kompartment
Die Anwendung einer Hämofiltration über 24 h mit einem moderaten Wasserentzug kann die Schwellung des Darmes minimieren. Sobald es zu einem deutlichen Abschwellen der Bauchorgane gekommen ist, sollte der rasche Bauchdeckenverschluss angestrebt werden, um eine Retraktion der Faszienränder zu vermeiden [19].
74 Literatur
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1
Bollschweiler et al. (2001) Epidemiologie des Ösophaguskarzinoms in Deutschland. Onkologie 24: 180–184 2 Clancy et al. (2005) Current management of acute pancreatitis (Aktuelles Management der akuten Pankreatitis). Gastroint Surg 9 (3): 440–452 3 Domschke u. Schumpelick 1983), Streßulcus: Mechanismen der Aggression und Protektion. Dtsch Med Wochenschr 108: 510–515 4 Fleischer et al. (2000) Die infizierte Bauchdecke und der Platzbauch. Chirurg 71: 754–762 5 Ghaferi et al. (2009) Variation in Hospital Mortalitiy Associated with Inpatient Surgery. N Egl J Med 2009; 361: 1368–1375 6 Gockel et al. (2002) Einfluß der Recurrensparese bei Ösophagektomie wegen Ösophaguskarzinoms auf die perioperative Morbidität. Kongressband Chirurgenkongress 2004 [doc04dghc0668] 7 Hopt et al. (2004) Nahtinsuffizienzen im biliopankreatischen Bereich. Chirurg 75: 1079–1087 8 Kollmar et al. (2006) Anatomische Klassifikation der Pankreatojejunostomie korreliert mit der postoperativen Fistelrate nach Whipple Operation, doc06dgch4810 9 Kremer et al. (1992) Chirurgische Operationslehre. Thieme, Stuttgart New York 10 Mazuski et al. (2009) Intraabdominal infections (Intraabdominelle Infektionen). Surg Clin North Am 98 (2): 421–437
965
Herzchirurgische Eingriffe E. Kilger, K. Nassau, F. Vogel, B. Zwißler
75.1
Grundlagen der Behandlung – 966
75.2
Überwachung nach herzchirurgischem Eingriff – 966
75.2.1 75.2.2
Routineüberwachung – 966 Erweitertes hämodynamisches Monitoring – 966
75.3
Herz-Kreislauf-Therapie – 967
75.3.1 75.3.2 75.3.3
Herzfunktion – 968 Perfusionsdruck – 971 Rhythmus – 973
75.4
Systemisches Inflammationssyndrom (SIRS) – 974
75.4.1
Pharmakologische Therapie – 975
75.5
Blutgerinnung – 975
75.6
Komplikationen nach Kardiochirurgie – 976
75.6.1 75.6.2 75.6.3 75.6.4 75.6.5 75.6.6 75.6.7
Myokardinfarkt – 976 Nierenversagen – 977 Lungenversagen – 977 Gastrointestinale Komplikationen – 978 Neurologische Defizite – 978 Infektionen – 979 Posttraumatische Belastungsstörungen – 979
75.7
Minimalinvasive Herzchirurgie – 979 Literatur – 979
H. Burchardi et al. (Hrsg.), Die Intensivmedizin, DOI 10.1007/978-3-642-16929-8_75 , © Springer Medizin Verlag Berlin Heidelberg 2011,
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966
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Kapitel 75 · Herzchirurgische Eingriffe
75.1
Grundlagen der Behandlung Routineüberwachung nach herzchirurgischem Eingriff
Herzchirurgische Eingriffe gehören zu den häufigsten Operationen weltweit. Die Anzahl der Eingriffe ist bis vor wenigen Jahren kontinuierlich gestiegen. Im Jahr 2008 wurden in Deutschland knapp 90.000 herzchirurgische Operationen durchgeführt. Die Indikationen für herzchirurgische Eingriffe schließen myokardiale Ischämien, Herzvitien, Herzinsuffizienz, kongenitale Fehlbildungen und Arrhythmien mit ein. Trotz ständiger Fortschritte sowohl der operativen Techniken als auch der perioperativen Patientenbetreuung ist die Letalität bei Erwachsenen in einem Bereich von etwa 3–5% seit Jahren konstant. Mitverantwortlich für diese Stagnation ist die Tatsache, dass zunehmend ältere Patienten mit mehr Begleiterkrankungen operiert werden. Der Anteil der über 70-jährigen Patienten lag in einer bundesweiten Erhebung aus dem Jahr 2008 bei 49% – im Vergleich dazu 1996 noch bei 29% [18]. Während noch vor einigen Jahren die kardial bedingte Letalität nach herzchirurgischen Eingriffen die häufigste Todesursache war, rückt heute das Multiorganversagen immer mehr in den Vordergrund. Neben den zunehmenden Begleiterkrankungen der Patienten ist die generalisierte Entzündungreaktion (SIRS), bedingt durch den extrakorporalen Kreislauf und das chirurgische Trauma, ein Hauptfaktor in der Genese des Multiorganversagens [25].
Potenzielle Komplikationen nach kardiochirurgischem Eingriff 4 Myokardiales Pumpversagen/Myokardischämie/ Low-Output-Syndrom 4 Herzrhythmusstörungen 4 Systemische Inflammation (SIRS) 4 Respiratorische Insuffizienz 4 Hämodilution/Anämie 4 Verlust-, Verdünnungs-, Verbrauchskoagulopathie 4 Niereninsuffizienz 4 Gastrointestinale Funktionsstörungen 4 Neurologische Defizite 4 Infektionen
Arterieller Zugang Die invasive arterielle Kanülierung erlaubt neben der kontinuierlichen Registrierung des arteriellen Blutdrucks die häufige Entnahme von Blutproben zum Monitoring des pulmonalen Gasaustausches, des Säure-Basen-Haushalts und der Elektrolyte. Dabei sollte ein MAP von 70 mm Hg nicht unterschritten werden. Bei Operationen an der Aorta wird meist zum Schutz der Nähte eine systolische Druckobergrenze (meist 120 mm Hg) eingehalten [3].
Zentraler Venenkatheter Die Anlage eines mehrlumigen zentralen Venenkatheters ist bei intrathorakalen Eingriffen in der Regel indiziert. Bei der Katheterauswahl sollten mindestens 3 Lumina eingeplant werden, da einige in der kardiochirurgischen Intensivmedizin eingesetzte Medikamente galenisch inkompatibel sind (z. B. Enoximon, Amiodaron, Furosemid).
75.2.2
Erweitertes hämodynamisches Monitoring
Pulmonalarterienkatheter Einzelne dieser Veränderungen treten in unterschiedlicher Ausprägung bei nahezu jedem Patienten auf und erfordern v. a. in der frühen postoperativen Phase eine gezielte Intervention. Besonderheiten in der Therapie dieser Störungen bei Erwachsenen sind Gegenstand dieses Kapitels. Die intensivmedizinische Betreuung von Kindern, die häufig bereits in den ersten Lebenswochen am Herz operiert werden müssen, erfordert aufgrund der adaptiven Besonderheiten bei Säuglingen und Kleinkindern und den komplexen pathophysiologischen Veränderungen zusätzliche Kenntnisse in der Pädiatrie und Kinderkardiologie.
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75.2
Überwachung nach herzchirurgischem Eingriff
75
75.2.1
Routineüberwachung
75
Überwachung und Behandlung eines Patienten in den ersten Stunden nach einem kardiochirurgischen Eingriff sind personell und apparativ aufwendig (7 Übersicht).
75
4 Kontrolle von Blutdruck, Herzfrequenz, Diurese und Körpertemperatur 4 ST-Segment-Analyse am Monitor/kontinuierliche Arrhythmieüberwachung 4 12-Kanal-EKG und Thoraxröntgendiagnostik 4 Beurteilung des Volumenstatus 4 Dokumentation des Blutverlustes über die Thoraxdrainagen 4 Dokumentation von Beatmungsparametern 4 Durchführung von Blutgasanalysen, Kontrolle der Elektrolyt-, BZ- und Laktatkonzentration 4 Kontrolle von Myokardmarkern, Blutbild und Gerinnung 4 Kontrolle der Leber- und Nierenfunktionsparameter sowie der Infektionsmarker
Die Indikation zum erweiterten makrohämodynamischen Monitoring nach einer Herzoperation hängt vom prä- und intraoperativen Zustand des Patienten ab. Die Indikation zur Anlage eines Pulmonalarterienkatheters ist daher streng zu stellen. Sie ergibt sich v. a. in Fällen, bei denen eine Messung des pulmonalarteriellen Druckes indiziert ist, wie z. B. nach Mitralklappenoperation, nach Herztransplantation oder bei einem akuten Druckanstieg im Rahmen eines akuten Lungenversagens. Die Messung wird zudem zur Steuerung der Therapie im Rahmen der rechtsventrikulären Nachlastsenkung bei Rechtsherzversagen benötigt [8, 23].
Transkardiopulmonale Thermodilution und Pulskonturanalyse Bei dem transkardiopulmonalen Messsystem zum hämodynamischen und volumetrischen Monitoring wird das Herzzeitvolumen sowohl diskontinuierlich mittels transkardiopulmonaler Thermodilution als auch kontinuierlich durch arterielle Pulskonturanalyse (PiCCO-System) ermittelt. Die Messung des Herzzeitvolumens mittels Pulskonturanalyse wird durch die transkardiopulmonale Thermodilution kalibriert. Ein kalter Bolus (≤24ºC, 10–15 ml) wird über einen zentralvenösen Katheter injiziert. Die Temperatur des Injektats wird mittels Thermistor am Injektionsort registriert. Mit einem zweiten Thermistor, der in die Spitze eines arteriellen Femo-
967 75.3 · Herz-Kreislauf-Therapie
raliskatheters eingebracht wird, wird der Temperaturverlauf des Blutes nach Injektion des Indikators gemessen. Über die Kalibrierung hinaus liefert die transkardiopulmonale Thermodilution u. a. Informationen über das intrathorakale Blutvolumen (ITBV). Das ITBV setzt sich zusammen aus dem global enddiastolischen Volumen (GEDV) und dem Volumen der Lungenstrombahn. Zur Abschätzung der kardialen Vorlast ist der Messwert des ITBV aussagekräftiger als ZVD oder PCWP. Durch Therapiealgorithmen, die auf dem GEDVI basieren, konnten nach herzchirurgischen Eingriffen neben der Dauer der Katecholamintherapie auch die Dauer der Beatmung und des Intensivaufenthalts reduziert werden [17]. Aus der kontinuierlichen Beat-to-beat-Analyse des arteriellen Pulssignals werden weitere volumetrische Parameter abgeleitet. Die (be)atmungsabhängige Oszillation der Pulsdruckkurve wird rechnerisch ausgewertet. Aus den zyklischen Schwankungen ergibt sich die Schlagvolumenvariation (SVV) als Korrelat des intravasalen Volumenstatus. Diese scheint ein besserer funktioneller PreloadParameter zu sein als die statischen Parameter PCWP und ZVD. Eine alternative Form der Pulskonturanalyse bietet ein Sensor, der an jedem arteriellen Druckabnehmer angeschlossen werden kann und ohne initiale Kalibrierung durch die Analyse der Form der arteriellen Druckkurve und des Schlagvolumens zusammen mit Geschlecht, Alter, Größe und Gewicht des Patienten die Berechnung des Herzzeitvolumens und der Schlagvolumenvariation ermöglicht (Vigileo-System mit FloTrac-Sensor) [35]. Klinische Untersuchungen aus der herzchirurgischen Intensivmedizin zeigten unterschiedliche Ergebnisse bezüglich der Reliabilität und Validität des Verfahrens. Eine abschließende Evaluation des Verfahrens kann zurzeit noch nicht vorgenommen werden [56]).
korreliert unter Berücksichtigung der linkskardialen Compliance mit der linksventrikulären Vorlast. Über einen linksatrialen Katheter ist die Zufuhr vasopressorischer Substanzen distal der pulmonalen Strombahn möglich. Dieser Applikationsweg soll eine katecholamininduzierte Aggravierung einer pulmonalen Hypertension verhindern.
Echokardiographie Die transthorakale und transösophageale Echokardiographie (TTE/ TEE) als semi-invasives Verfahren erlaubt die visuelle Beurteilung der Herz- und Klappenfunktion. Aussagekräftige Untersuchungsresultate setzen eine entsprechende Ausbildung und Erfahrung des Untersuchers voraus. Über standardisierte Schnittebenen können die globale LV- und RV-Funktion und der Volumenstatus beurteilt sowie regionale Wandbewegungsstörungen und Klappen- und Herzvitien dedektiert werden. Mittels CW- und PW-Dopplertechnik lassen sich Blutflussgeschwindigkeiten über allen Klappen sowie rechts- und linksventrikulärem Ausflusstrakt quantifizieren [49].
Funktionsparameter und diagnostische Möglichkeiten während der Echokardiographie 4 4 4 4 4
Globale links- und rechtsventrikuläre Pumpfunktion Volumenstatus Regionale Wandbewegungsstörungen Klappenvitien/Endokarditis/intrakavitäre Thromben Dissektionen/Aneurysmen der Aorta ascendens und der thorakalen Aorta descendens 4 Ausschluss einer Perikardtamponade 4 Positionierung einer intraaortalen Gegenpulsationspumpe (IABP)
Gemischtvenöse Sauerstoffsättigung Die Sauerstoffsättigung im gemischtvenösen Blut (SvO2) liefert Informationen über das Maß der globalen Sauerstoffausschöpfung. Bei hypodynamer Kreislaufsituation (z. B. kardial bedingtes Lowoutput-Syndrom) nimmt die periphere Sauerstoffausschöpfung zu, die arteriovenöse Differenz des Sauerstoffgehalts (avDO2) steigt, und die gemischtvenöse Sättigung fällt ab. Niedrige Werte fordern eine prompte Intervention zur Steigerung des Sauerstoffangebots der Gewebe. Eine zielorientierte Volumen- und Katecholamintherapie, die als Richtgröße eine SvO2 >70% in der frühen postoperativen Phase nach Herzoperation anstrebt, verkürzt die Krankenhausliegedauer und die Inzidenz einer fortbestehenden Organdysfunktion bei Entlassung (z. B. Niereninsuffizienz oder neurologisches Defizit) [42].
Zentralvenöse Sauerstoffsättigung In aktuellen Studien wurde die Sauerstoffsättigung im zentralvenösen Blut (ScvO2) bei der Initialtherapie kritisch kranker Patienten als Surrogatparameter für die gemischtvenöse Sättigung verwendet. Tatsächlich kann die zentralvenöse Sättigung in Zusammenschau mit anderen Parametern, wie dem Laktat- und dem pH-Wert, orientierend Aufschluss über die globale Sauerstoffbilanz geben, ohne dass die Anlage eines Pulmonalarterienkatheters notwendig wäre [8, 13 ].
Linksatrialer Katheter Ein linksatrialer Katheter wird intraoperativ über einen direkten Zugang nach Eröffnung des Perikards eingelegt. Ein linksatrialer Katheter erlaubt die direkte Messung des linksatrialen Druckes (LAP). Dieser entspricht bei normaler Mitralklappenfunktion dem linksventrikulären enddiastolischen Füllungsdruck (LVEDP) und
Die echokardiographische Untersuchung ist ein hochsensitives Verfahren zur Detektion von Myokardischämien. Neu aufgetretene regionale Wandbewegungsstörungen sind bei myokardialer Perfusionsstörung früher erkennbar als EKG-Veränderungen und lassen eine annähernde Lokalisation des okkludierten Gefäßes zu. Bei Patienten, die akute anhaltende hämodynamische Störungen aufweisen und bei denen die ventrikuläre Funktion und ihre Determinanten unklar sind, ist die Echokardiographie sinnvoll und verbessert das klinische Outcome (Empfehlungsgrad B) [8, 40].
75.3
Herz-Kreislauf-Therapie
Obwohl herzchirurgische Eingriffe langfristig zu einer kardialen Verbesserung führen sollen, ist im unmittelbar postoperativen Verlauf mit einer passageren kardialen Funktionseinschränkung zu rechnen. Das Ausmaß und die Dauer dieser Reduktion hängen von der Schwere der vorbestehenden Dysfunktion, der Qualität der intraoperativen Myokardprotektion, dem Ischämiereperfusionsschaden und dem operativen Ergebnis ab. »Myocardial stunning« beschreibt die reversible Dysfunktion nach zeitlich begrenzter kardialer Ischämie und anschließender Reperfusion. Diese Situation besteht auch nach kardioplegischem Herzstillstand. Es kommt zu einem Zellödem mit intrazellulärer Kalziumakkumulation und zur Freisetzung von Sauerstoffradikalen in der Phase der Reperfusion. Zur Verbesserung der postoperativen Funktion ist neben der inotropen Unterstützung v. a. die Optimierung der Vorlast, aber auch der Nachlast von entscheidender Bedeutung (Frank-StarlingMechanismus; . Abb. 75.1). Typischerweise versucht man, diese Optimierung durch Messung der Füllungsdrücke zu erzielen, wobei
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Kapitel 75 · Herzchirurgische Eingriffe
Linksventrikuläre Funktion
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Normovolämie
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Schlagvolumen
Hypervolämie Hypovolämie
Enddiastolisches Volumen . Abb. 75.1 Frank-Starling-Mechanismus: Beziehung zwischen Schlagvolumen und Vorlast
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diese die ventrikuläre Vorlast vielfach nicht verlässlich reflektieren. Aufgrund der postoperativ verminderten Compliance (diastolische Dysfunktion) benötigt das Myokard in dieser Phase eine höhere Vorlast zur Optimierung der Auswurfleistung. Selbst ein Herz mit präoperativ annähernd normaler Auswurfleistung (EF >50%) und unauffälligem intraoperativem Verlauf wird meist in den ersten 6 h auf der Intensivstation eine Verschlechterung der Pumpfunktion um 10–15% erfahren und sich erst im weiteren Verlauf innerhalb von 24 h erholen. Ausmaß und Dauer der postoperativen systolischen Dysfunktion sind individuell sehr unterschiedlich. Je ausgeprägter die Kontraktilitätsminderung ist, desto höher ist das Risiko multipler Endorgandysfunktionen.
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75.3.1
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Herzfunktion
Postoperativ ist die schnelle Wiederherstellung eines adäquaten Herzzeitvolumens unter optimierter myokardialer Sauerstoffbilanz prognostisch entscheidend. Das Risiko einer globalen Minderperfusion besteht unter Normothermie bei einem »cardiac index« (CI) In den Leitlinien der »European Society of Cardiology« (2005) wird Levosimendan bei symptomatischem Low-output-Syndrom aufgrund systolischen Herzversagens empfohlen (Klasse IIb).
Bei Patienten mit dekompensierter Herzinsuffizienz und zusätzlicher β-Blocker-Therapie zeigt Levosimendan gegenüber Dobutamin einen Überlebensvorteil [36]. Levosimendan erhöht den myokardialen Sauerstoffverbrauch nur sehr moderat, reduziert das myokardiale Stunning und senkt den Katecholaminbedarf vor allem bei Patienten mit stark eingeschränkter Pumpfunktion. Aufgrund seines präkonditionierenden Potentials scheint Levosimendan vor allem dann erfolgversprechend zu sein, wenn es vor Beginn des kardiopulmonalen Bypasses appliziert wird [48]. Wegen fehlender Zulassung kann Levosimendan in Deutschland derzeit nur im Rahmen des sog. Heilversuchs zur Anwendung kommen. z Intraaortale Gegenpulsation Bei der intraaortalen Gegenpulsation (IABP) wird in SeldingerTechnik über die A. femoralis ein Ballonkatheter in die Aorta descendens eingebracht. Der Ballon wird in der Diastole – nach Schluss der Aortenklappe – binnen Millisekunden mit Helium gefüllt und kurz vor Beginn der nächsten linksventrikulären Ejektion schlagartig wieder abgelassen. Es resultiert eine Augmentation des diastolischen Druckes, der den intraventrikulären systolischen Druck übersteigen sollte. Die Koronarperfusion und die zerebrale Perfusion nehmen zu. Die präsystolische Entleerung des Ballons vermindert die linksventrikuläre Nachlast durch Absenkung des enddiastolischen Aortendrucks nach einer assistierten Systole (. Abb. 75.2). Die Triggerung der Pumpenaktionen kann über ein EKGSignal, die an der Katheterspitze mittels konventionellem oder fiberoptischem Drucksensor aufgenommene aortale Pulsdruckkurve oder über Herzschrittmacherspikes erfolgen. Der Einsatz der IABPPumpe ist eine Klasse-I-Empfehlung im kardiogenen Schock und eine Klasse-IIa-Empfehlung bei Myokardinfarkt mit hämodynamischer Instabilität oder bei reduzierter linksventrikulärer Ejektionsfraktion. Die Inzidenz einer Ischämie des Beines auf der Seite der Katheterinsertion lag früher bei 5–18%, konnte jedoch durch die Einführung neuer Katheter mit geringerem Außendurchmesser und die Anwendung einer schleusenlosen Technik weiter reduziert werden. Die Minderperfusion ist nach Entfernen des Katheters meist reversibel. Schwerwiegende vaskuläre Komplikationen sind, ebenso wie katheterassoziierte Infektionen oder ein Ballonleck, selten [11, 37].
. Abb. 75.2 Druckkurvenverlauf bei Ballongegenpulsation. (Mod. nach Datascope Deutschland)
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Kapitel 75 · Herzchirurgische Eingriffe
> Mehrere Studien bestätigten, dass der frühzeitige – bei Hochrisikopatienten bereits präoperativ begonnene – Einsatz der IABP die Letalität und die Behandlungskosten einer Herzoperation reduziert [11]. Bei Rechtsherzversagen wird durch Einsatz der IABP die rechtsventrikuläre Perfusion verbessert [7].
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z Schrittmacherstimulation Über die intraoperativ angelegten epikardialen Schrittmachersonden ist es durch Stimulation oberhalb der Eigenfrequenz möglich, das Herzzeitvolumen auch bei unverändertem Schlagvolumen zu steigern. Patienten mit Sinusrhythmus profitieren von einer atrialen Stimulation, da die Erregung über das physiologische Reizleitungssystem geleitet wird und Vorhof und Ventrikelkontraktion adäquat aufeinander abgestimmt werden. Durch die alleinige ventrikuläre Stimulation geht ein optimaler Kontraktionsablauf verloren und reduziert bei Patienten mit Sinusrhythmus das Herzzeitvolumen. Bestehen postoperativ Reizleitungsstörung, ist zur Steigerung des Herzzeitvolumens eine DDD-Stimulation mit angepasster AVÜberleitungszeit sinnvoll. Patienten mit einer linksventrikulären Ejektionsfraktion ≤35%, einer QRS-Dauer von >130 ms (v. a. bei Linksschenkelblock) bei Sinusrhythmus und in einem NYHA-Stadium III–IV profitieren von einer biventrikulären Stimulation durch eine Resynchronisation des Kontraktionsablaufs. Eine biventrikuläre Stimulation zur Optimierung des Kontraktionsablaufs und Verbesserung der Herzleistung ist auch temporär über die epikardalien Schrittmachersonden möglich. Durch atriobiventrikuläre Stimulation bei eingeschränkter EF nach Bypassoperation konnte bei Patienten der Herzindex im Gegensatz zu einer atrialen Stimulation gesteigert werden. Fallstudien geben Hinweise, dass der Inotropikabedarf unter dieser Stimulation bei Patienten mit Herzinsuffizienz (NYHA IV) nach Bypassoperation reduziert werden kann [14].
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Rechtsherzversagen
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Eine Dysfunktion des rechten Ventrikels (RV) wird v. a. durch Veränderungen seiner Nachlast und/oder seiner Kontraktilität ausgelöst. Die Inzidenz des schweren akuten Rechtsherzversagens beträgt 0,1% bei konventioneller Herzoperation, 2–3% nach Herztransplantation und 20–30% nach Implantation eines linksventrikulären Assistsystems [24]. Jede pulmonale Hypertension hat einen Anstieg der rechtsventrikulären Nachlast zur Folge. Eine vorbestehende pulmonale Hypertension kann durch die nach EKZ häufig beobachtete Verschiebung des Gleichgewichts zwischen den gefäßwirksamen Mediatoren zugunsten pulmonaler Vasokonstriktoren oder die Wirkung von Protamin weiter verstärkt werden und ein akutes Rechtsherzversagen auslösen. Postoperative Hypoxie, Hyperkapnie und Azidose wirken additiv. Eine pathologische Erhöhung der rechtsventrikulären Nachlast kann eine relative Ischämie des rechten Ventrikels zur Folge haben. In dieser Situation sinkt der Gradient zwischen dem rechtskoronaren Perfusionsdruck und dem intraventrikulären Druck im rechten Herz. Eine absolute Ischämie im Sinne eines Rechtsherzinfarkts ist meist Folge eines proximalen Verschlusses der rechten Koronararterie. Postoperativ ist die Kontraktilität des RV infolge von Kardioplegie und Reperfusion häufig eingeschränkt.
! Cave Der rechte Ventrikel reagiert auf eine Volumenüberladung (Überdehnung) während der Entwöhnung vom kardiopulmonalen Bypass empfindlich (Übersicht bei [58]).
z Diagnostik und Überwachung bei Rechtsherzversagen Die Echokardiographie ist die beste Methode zum Nachweis einer akuten rechtsventrikulären Dysfunktion. Beim Rechtsherzversagen ist ein erweitertes hämodynamisches Monitoring unverzichtbar. Der zentrale Venendruck bildet das rechtsventrikuläre enddiastolische Volumen und damit die Vorlast häufig unzureichend ab. Eine Methode zur bettseitigen Bestimmung des Füllungsvolumens ist die Fast-response-Thermodilutionstechnik als Fortentwicklung der Swan-Ganz-Methode. Der Katheter registriert nach Injektion eines Kältebolus Schlag für Schlag die Temperaturänderung in der Pulmonalarterie. Daraus werden die Auswurffraktion und das enddiastolische Volumen des rechten Ventrikels errechnet. z Therapiestrategien beim Rechtsherzversagen Ist die Ursache der Rechtsherzdysfunktion bekannt, muss eine kausale Therapie angestrebt werden. Falls diese nicht möglich ist, muss eine symptomatische Therapie erfolgen.
Symptomatische Therapie der Rechtsherzinsuffizienz 4 Optimierung der Vorlast 4 Erhöhung des rechtsventrikulären Perfusionsdrucks durch Noradrenalin und/oder Einsatz der intraaortalen Gegenpulsation 4 Erhöhung der Kontraktilität durch Katecholamine und/ oder Phosphodiesterasehemmer 4 Verminderung der Nachlast durch – hohe inspiratorische Sauerstoffkonzentration (Basismaßnahme) – mäßiggradige Hyperventilation und Azidoseausgleich (Basismaßnahme) – Gabe inhalativer Vasodilatatoren, wie Stickstoffmonoxid (NO) oder vasodilatierender Aerosole
Durch eine Volumentherapie kann über den Frank-Starling-Mechanismus eine Erhöhung des rechtsventrikulären Schlagvolumens erfolgen, solange die Vorlastreserve des rechten Ventrikels noch nicht ausgeschöpft ist. Eine Volumenzufuhr darüber hinaus hat durch eine weitere Steigerung des intraventrikulären Druckes negative Auswirkungen. Bei arterieller Hypotension ist eine Steigerung der rechtskoronaren Perfusion durch Anhebung des systemischen Mitteldrucks prognostisch günstig, obwohl die Pulmonalgefäße von der vasokonstriktorischen Wirkung systemisch applizierter Vasopressoren nicht ausgenommen sind. Noradrenalin gilt als Mittel der Wahl zur Anhebung des Perfusionsdrucks bei dekompensiertem Rechtsherzversagen und Schock (. Tab. 75.1). Zur Verbesserung der Kontraktilität werden beim Rechtsherzversagen dieselben Substanzen eingesetzt wie bei der akuten Linksherzinsuffizienz. Dobutamin besitzt das günstigste Wirkungsprofil der Katecholamine. Die pulmonal vasokonstringierende Wirkung von Adrenalin und Dopamin ist ausgeprägter. Phosphodiesterasehemmer werden aufgrund ihrer inodilatorischen Wirkung mit gutem Erfolg eingesetzt, sofern der arterielle Druck stabil gehalten wird.
971 75.3 · Herz-Kreislauf-Therapie
. Tab. 75.1 Therapieoptionen bei Rechtsherzversagen Dosierunga
Halbwertszeitb
Nitroglycerin
0,1–0,8 μg/kg KG/min
2,7 min
Nitroprussidnatrium
0,2–0,8 μg/kg KG/min
3,5 min
Epoprostenol (PGl2-Analogon)
1,0–20 ng/kg KG/min
3,0 min
Iloprost
0,5–2 ng/kg KG/min
30 min
Stickstoffmonoxid (NO)
0,1–40 ppm
65 mm Hg, ScvO2 >70% oder SvO2 >65% 4 Herzindex >2,0 l/min/m², LV-EDAI 6–9 cm²/m² 4 ZVD 8–12 mm Hg (abhängig von Beatmung)/PAOP 12–15 mmHg 4 ITBVI 850–1000 ml/m²/GEDVI 640–800 ml/m² 4 Diurese >0,5 ml/kg KG/h 4 Laktat 110/ min) und nach Klappenoperation junktionale Tachykardien mit AV-oder ventrikulären Blöcken auf. Hypertrophierte, druckbelastete Ventrikel reagieren sensibel auf zu große Frequenzschwankungen. Zu hohe Frequenzen reduzieren das Herzzeitvolumen durch zu kurze Füllungszeit und damit zu geringes enddiastolisches Volumen. Umgekehrt kann durch eine Bradykardie trotz ausreichender diastolischer Füllung ein normales Herzzeitvolumen unterschritten werden. Eine optimale Frequenz liegt hier zwischen 90 und 100/min. Der chronisch volumenbelastete Ventrikel benötigt nach herzchirurgischen Eingriffen keine maximale Vorlast. In diesem Fall kann durch ein reduziertes enddiastolisches Volumen mit verminderter Wandspannung die Auswurffraktion erhöht werden. Sinusrhythmus mit Frequenzen um die 100/min kann deshalb zur Verbesserung des Herzzeitvolumens führen. Die diastolische Compliance ist bei einem chronisch dilatierten Ventrikel weniger eingeschränkt als bei einem hypertrophierten, chronisch druckbelasteten Ventrikel. Hier sind die Ventrikel weniger von einer Vorhofkontraktion, die zu einer maximalen diastolischen Füllung führt, abhängig. Deshalb werden Tachykardien und der Verlust des Sinusrhythmus in dieser Situation besser toleriert als bei einem chronisch druckbelasteten Ventrikel.
Tachykardien
z Vorhofflimmern Vorhofflimmern ist mit einer Inzidenz von 20–65% die häufigste Rhythmusstörung nach kardiochirurgischem Eingriff. Die durchschnittliche Inzidenz liegt bei 32%. Patienten nach kombinierten Eingriffen oder Klappenchirurgie sind häufiger betroffen als Bypasspatienten. Vorhofflimmern entwickelt sich meist innerhalb 48 h, selten in der frühen postoperativen Phase oder nach dem 4. Tag. Insgesamt 15–30% der Patienten mit postoperativem Vorhofflimmern konvertieren spontan innerhalb von 2 h in einen Sinusrhythmus, 25–80% binnen 24 h; 90% der Patienten haben 6–8 Wochen nach der Operation einen Sinusrhythmus. Durch die Prävention von postoperativem Vorhofflimmern können Krankenhausaufenthaltsdauer, Apoplexrate und Letalität reduziert werden [46].
Prädiktoren für das Auftreten postoperativen Vorhofflimmerns [46] 4 4 4 4 4 4 4
Höheres Lebensalter Linksventrikuläre Hyperthrophie Anamnestisch paroxysmales Vorhofflimmern Absetzen der β-Blocker/ACE-Hemmer-therapie COPD Signifikante Aortensklerose Herzklappenoperatoion
z Prävention des postoperativen Vorhofflimmerns Metaanalysen haben gezeigt, dass eine Gabe von β-Blockern die Inzidenz von postoperativem Vorhofflimmern reduziert (8,7–9,8%
vs. 20–34%). Patienten mit Risikofaktoren, u. a. mit eingeschränkter linksventrikulärer Pumpfunktion (EF 60%) gegeben werden sollte. Diltiazem wird bei eingeschränkter Ejektionsfraktion besser toleriert. Digoxin hat auch bei schneller Aufsättigung eine relativ lange Anschlagzeit und v. a. bei eingeschränkter Nierenfunktion eine lange Wirkdauer.
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Kapitel 75 · Herzchirurgische Eingriffe
Behandlungsbedürftige Tachykardie
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Kalium- und Magnesiumsubstition
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Hämodynamik stabil
Supraventrikuläre Tachykardie Frequenzkontrolle
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QRS > 120 ms
QRS < 120 ms
β-Blocker Ca-Antagonisten Digoxin
SVT mit Blockbild
Ventrikuläre Tachykardie
Kardioversion Sotalol Amiodaron Ajmalin Adonosin
Hämodynamik instabil
Lidocain Ajmalin Amiodaron
Kardioversion Defibrillation plus pharmakologische Therapie
. Abb. 75.3 Flussdiagramm zur Therapie behandlungsbedürftiger Tachykardien bei herzchirurgischen Patienten (QRS QRS-Zeit; SVT supraventrikuläre Tachykardie)
Kardioversion. Bei hämodynamischer Instabilität durch Vorhof-
flimmern ist neben der Basistherapie mit Anhebung der Serumkalium- und -magnesiumkonzentration in den hochnormalen Bereich eine sofortige elektrische Kardioversion indiziert (. Abb. 75.3). Zur pharmakologischen Kardioversion eignen sich Klasse-IA-, -IC- und Klasse-III-Antiarrhythmika. Unter der Gabe von Typ-IA- und -ICAntiarrhytmika (7 Kap. 33) erfolgt bei 40–75% der Patienten eine Konversion in einen Sinusrhythmus innerhalb der 1. Stunde. KlasseIC-Antiarrhythmika (Flecainid, Propafenon) sollten bei Patienten nach Myokardinfarkt wegen der ausgeprägten proarrhythmogenen Wirkung zurückhaltend eingesetzt werden. Klasse-IA-, -IC- und Klasse-III-Antiarrythmika prädisponieren durch Verlängerung der QTc-Zeit zu Torsade-de-pointe-Arrhythmien, sodass die QTc-Zeit regelmäßig kontrolliert werden muss (abnorme Verlängerung des QTc-Intervalls >500 ms 1/2 oder QTc-Zunahme während der Therapie >60 ms 1/2). Amiodaron hat multiple antiarrhythmische Effekte, u. a. eine Blockade des schnellen Natriumkanals, β-blockierende Eigenschaften, Verlängerung des Aktionspotenzials und der effektiven Refraktärperiode (Klasse-I-, -II-, -III- und -IV-Eigenschaften nach Vaughan-Williams). Als Slow-in-slow-out-Pharmakon sollte Amiodaron nach einer initialen Bolusgabe kontinuierlich i.v. weiter verabreicht werden. Der Kardioversion geht eine Frequenzkontrolle voraus, die für sich häufig bereits eine Stabilisierung der hämodynamischen Situation bewirkt. Entscheidet man sich für eine antiarrhythmische Therapie mit Amiodaron über einen längeren Zeitraum, wird nach einer Aufsättigungsphase (bis zu einer Gesamtdosis von 6–12 g) auf eine Erhaltungsdosis (meist 200 mg/Tag p.o./i.v.) umgesetzt. Gravierende Nebenwirkungen sind bei kurzfristiger Anwendung selten. Ist eine Konversion in einen stabilen Sinusrhythmus nicht zu erreichen, so ist nach 48 h eine adäquate Antikoagulation anzustreben, um thrombembolische Komplikationen zu vermeiden. Bei Patienten mit Vorhofflimmern und zusätzlichen Risikofaktoren für thrombembolische Komplikationen zeigte sich in der ACTIVE WStudie eine Antikoagulationstherapie mit einem Vitamin-K-Antagonisten einer Kombinationstherapie mit Aspirin und Clopidogrel im Hinblick auf die Reduktion ischämischer Ereignisse und Blutungen überlegen [2].
Ventrikuläre Tachykardien Ventrikuläre Rhythmusstörungen sind seltener und werden u. a. durch transiente metabolische Störungen oder ischämische Ereignisse hervorgerufen. Ist eine ventrikuläre Tachykardie Folge einer Ischämie oder Myokarddilatation bei akuter linksventrikulärer De-
kompensation, so besteht die Therapie in erster Linie in der kardialen Rekompensation bzw. in der koronaren Revaskularisation. Eine adjuvante Kalium- und Magnesiumsubstitution bis in den hochnormalen Bereich sollte in jedem Fall erfolgen. Ventrikuläre Arrhythmien per se sind nur dann behandlungsbedürftig, wenn sie eine hämodynamische Beeinträchtigung oder Prodromi einer vitalen Gefährdung darstellen (Salven, R-auf-TPhänomen, selbstlimitierte ventrikuläre Tachykardie). Lidocain hat einen Stellenwert in der Akutbehandlung ischämiebedingter ventrikulärer Arrhythmien. Amiodaron ist bei rezidivierender ventrikulärer Tachykardie, hochgradig eingeschränkter Pumpfunktion (EF 1000 pg/ml) gemessen werden. Als Risikokollektiv gelten Patienten mit einer präoperativen Auswurffraktion 97 min (z. B. Kombinationseingriffe, Eingriffe mit mehr als 4 Bypässen). Bei diesem Patientenkollektiv reduziert eine präventiv, d. h. vor Beginn der extrakorporalen Zirkulation begonnene Substitution von Hydrokortison in Stressdosis (300 mg/Tag) den Katecholaminbedarf, die Beatmungsdauer sowie die Intensivstations- und Krankenhausverweildauer [25]. Interleukin-6 erreicht 4–6 h nach Beendigung der EKZ einen Maximalwert. Es folgt ein zweiter Anstieg 12–18 h nach der Operation, sodass bei Vasoplegie eine Substitution mit Hydrokortison auch zu einem späteren Zeitpunkt sinnvoll sein kann.
Statine Die prophylaktische Anwendung von Statinen vor kardiopulmonalem Bypass reduziert die Letalität, die Häufigkeit von Schlaganfällen und von postoperativem Vorhofflimmern. Keinen Einfluss hat die Anwendung zur Protektion von Myokardinfarkt und Nierenversagen [5].
75.5
Blutgerinnung
Herzoperationen mit extrakorporaler Zirkulation gehen mit tiefgreifenden Veränderungen des hämostaseologischen Systems einher.
Pathophysiologische Veränderungen des Gerinnungssystems bei kardiochirurgischem Eingriff mit extrakorporaler Zirkulation 4 Abnahme oder Denaturierung von Gerinnungsfaktoren 4 Abnahme physiologischer Inhibitoren (Antithrombin, Protein C, Protein S) Konzentrationsabnahme von Fibrinolyseinhibitoren (PAl-1, α2-Antiplasmin) 4 Disseminierte intravasale Gerinnung (z. B. überschießende Thrombinbildung) 4 Gesteigerte Fibrinolyse 4 Thrombozytopenie und/oder Thrombozytopathie mit Thrombozytenaktivierung, -dysfunktion oder -desensibilisierung 4 Hypothermieinduzierte Gerinnungsstörungen 4 Heparin- und protamininduzierte Gerinnungsstörung
Die Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung der Hämostase nach herzchirurgischen Eingriffen mit extrakorporaler Zirkulation ist nach wie vor ein Problem. Insbesondere die zusätzliche Therapie mit verschiedenen Thrombozytenaggregationshemmern führt immer häufiger zu perioperativen Blutungskomplikationen. Der perioperative Verbrauch von Blutprodukten ist bei herzchirurgischen Patienten deutlich höher als bei Patienten anderer chirurgischer Disziplinen. Die Gabe von unfraktioniertem Heparin vor bzw. wäh-
75
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Kapitel 75 · Herzchirurgische Eingriffe
75
rend extrakorporaler Zirkulation stellt immer noch den Goldstandard der Antikoagulationstherapie dar. Eine Vielzahl von Strategien wurde entwickelt, um das postoperative Risiko einer mikrovaskulären Blutung aufgrund einer Koagulopathie zu reduzieren und den perioperativen Fremdblutverbrauch zu minimieren. Dazu zählen Wärmemaßnahmen, die autologe Retransfusion von gefiltertem Drainageblut sowie die Gabe von Antifibrinolytika. Seit 2007 ruht die Zulassung für Aprotinin, weil die Aprotiningabe mit einem erhöhten Risiko für Nierenversagen sowie myokardiale und zerebrale Ischämien assoziiert wurde [32]. Heute wird oft das Lysinanalogon Tranexamsäure als Antifibrinolytikum perioperativ verwendet. Bei postoperativen Nachblutungen ist die Differenzierung zwischen einer chirurgisch zu stillenden Blutungsquelle und einer mikrovaskulären Blutung aufgrund einer Koagulopathie anhand der Bestimmung von globalen Gerinnungsparametern schwierig, da diese in beiden Fällen oft außerhalb der Norm liegen. Die Korrelation zwischen der Thoraxdrainagenförderrate und globalen Gerinnungsparametern ist gering. Anhand der Sekretionsrate wird der Blutverlust oft überschätzt. Da die Laborlaufzeiten auch für globale Gerinnungsparameter vielerorts zu lang sind, um eine schnelle und zielgerichtete Therapie einer Nachblutung zu ermöglichen, haben mehrere Arbeitsgruppen Algorithmen zur Transfusion von allogenen Gerinnungskomponenten und gerinnungsfördernden Präparaten (z. B. Desmopressin, Protamin) unter Zuhilfenahme bettseitig durchgeführter Gerinnungsmessungen entwickelt [21]. Zur Steuerung der Heparintherapie während EKZ ist die derzeit meist angewandte Methode die Messung der »activated clotting time« (ACT). Ein weiteres Verfahren zur Abschätzung der plasmatischen Gerinnung, der Fibrionolyse sowie der thrombozytären Funktion stellt das Thrombelastogramm (TEG) dar. Vor allem bei Patienten unter Therapie mit Heparin, Phenprocoumon und antifibrinolytischer Medikation liefert es bettseitig wertvolle Ergebnisse. Mittels PFA-100 (»platelet function analyzer«)- oder Impedanzaggregometrie (Multiplate)- Monitoring lassen sich Thrombozytenfunktionsstörungen aufgrund einer v.-Willebrand-Erkrankung, der Gabe von Trombozytenaggregationshemmern und anderen angeborenen oder erworbenen Thrombozytenfunktionsstörungen erkennen. Beide Syteme liefern jedoch unterhalb eines Hämatokritwertes von 35% und einer Thrombozytenzahl 2×R mit Heparinase; hTEG=Gerinnungszeit R >10 min; TEG=Fibrinolyseindex ; Lyseindex zum Zeitpunkt 30 min >7,5%; TEG=Thrombusstabilität p; maximale Amplitude 2 h Dauer Kombinierte Eingriffe Weibliches Geschlecht/Alter/Gewicht Die frühzeitige postoperative Gabe von ASS reduziert sehr wahrscheinlich die Letalität sowie die Häufigkeit ischämischer Komplikationen nach Bypasschirurgie.
75.6.2
Nierenversagen
Nierenversagen nach herzchirurgischen Eingriffen ist eine ernstzunehmende Komplikation und stellt einen unabhängigen Prädiktor für die postoperative Letalität dar. 8–15% der Patienten nach kardiochirurgischem Eingriff entwickeln eine kompensierte Nierenin-
suffizienz; 1–5% der Patienten eine Niereninsuffizienz, die ein Nierenersatzverfahren erfordert. Abhängig von der Art des Eingriffes (z. B. Anlage eines Assist-device) kann die Prozentsatz auf über 30% steigen. Die perioperative Letalität ist bei Patienten mit ersatzverfahrenpflichtigem Nierenversagen durch einen Anstieg auf 50–65% gekennzeichnet. Bei Patienten mit präoperativ eingeschränkter Nierenfunktion (Kreatinin 140 min 4 Postoperative Risikofaktoren: Infektionen/Sepsis, Low-output-Syndrom, Therapie mit Inotropika, IABP, postoperative Hypotension (systolischer Blutdruck 38°C) scheinen den größten positiven Einfluss auf das neurologische Outcome zu haben. Eine Obstruktion der V. cava superior durch die venöse Kanülierung während EKZ mit konsekutivem Abfall des arteriovenösen Druckgradienten muss vermieden werden. Perioperativ muss auf die Aufrechterhaltung eines adäquaten zerebralen Perfusionsdrucks geachtet werden. Hypo- oder Hyperkapnie sind zu vermeiden, und der Blutzuckerspiegel sollte niedrig gehalten werden (Zielwert Wichtig ist eine ausreichende Höhe des PEEP-Wertes um 9–10 cm H2O – hierdurch kann während des gesamten Atemzyklus ein höherer trachealer Druck aufrechterhalten werden, was zu einer Verbesserung der Oxygenierung ohne negative Auswirkungen auf die Hämodynamik führt [22].
Therapie der ventilatorischen Insuffizienz Nicht selten besteht nach Übernahme eines thorakotomierten Patienten aus dem Aufwachraum eine leichte Hyperkapnie mit leichter respiratorischer Azidose. Ursachen hierfür können eine verlängerte Wirkung der Narkosemittel mit Dämpfung des Atemzentrums, eine zu großzügige Gabe von Sauerstoff oder auch eine schmerzbedingte Verminderung der Ventilation sein.
Bei nicht zu schwerer respiratorischer Azidose (pH-Wert >7,3) und klinisch stabilem, wachem Patienten reicht häufig die Reduktion der Menge des insufflierten Sauerstoffs – vorausgesetzt: ein hochnormaler pO2 in der Blutgasanalyse – und die ausreichende Gabe von Analgetika. Eine engmaschige Kontrolle des pCO2 in kurzem Abstand von 15–30 min ist erforderlich. Bei deutlich erhöhtem pCO2 ist ein Versuch der nichtinvasiven Beatmung mit ausreichend hohen inspiratorischen Drücken zur Verbesserung der alveolären Ventilation, u. U. in Kombination mit einer medikamentösen Antagonisierung der Narkosemittel, angezeigt. Eigene Daten zeigen, dass in über 90% der Fälle eine Reintubation auf diese Weise verhindert werden konnte [23]. Die Grenzen der nichtinvasiven Beatmung sollten dabei beachtet und bei pHWerten Therapeutische Ansatzpunkte stellen neben einer ausreichenden postoperativen Analgesie (7 Abschn. 76.6) die Physiotherapie und die Bronchoskopie dar.
. Abb. 76.1a, b Totalatelektase der rechten Lunge. a 1. postoperativer Tag nach Unterlappenresektion durch Sekretpfopf im Hauptbronchus rechts. b Kontrolle nach bronchoskopischer Sekretentfernung – Wiederbelüftung des rechten Lungenflügels
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Kapitel 76 · Thoraxchirurgische Eingriffe
76.4.1
Physiotherapie
Die postoperative Physiotherapie stellt einen intergralen Bestandteil der Intensivtherapie nach thoraxchirurgischen Eingriffen dar. Neben frühzeitiger Mobilisierung werden verschiedene Techniken zur Verbesserung von Sekretolyse und Sekretexpektoration und Wiedereröffnung von atelektatischen Lungenabschnitten angewandt [24].
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Physiotherapeutische Maßnahmen des Sekretmanagements 4 Sekretolyse – manuelle Thoraxperkussion – maschinelle Thoraxperkussion – endobronchiale Oszillationen (Flutter, RC-Cornet, Acapella) 4 Sekretexpektoration – »incentive spirometer« – manuell assistiertes Husten – »active cycle of breathing technique« – forcierte Exspiration – PEP-Ventil
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schiedenen Geräten teilweise deutlich unterscheidet [27] – Geräte mit geringer zusätzlicher Atemarbeit sind zu bevorzugen. Größter Vorteil des »incentive spirometer« ist die häufige Durchführbarkeit des Manövers auch ohne Anwesenheit eines Physiotherapeuten. Die Kombination von Physiotherapie und prophylaktischer nichtinvasiver Beatmung stellt eine weitere Alternative dar: Postoperativ wurden in einem systematischen Review von insgesamt 5 Studien positive Effekte auf die Prophylaxe bzw. Therapie von Atelektase, Sekretverhalt und Pneumonie nach lungenresizierenden Eingriffen beschrieben [28].
Manuelle und maschinelle Thoraxperkussionen erreichen Frequenzen von 4–8 Hz bzw. 25–40 Hz und liegen somit unter oder über der Resonanzfrequenz des Thorax (11–13 Hz), was ihre Wirksamkeit beeinträchtigt. Für endobronchiale Oszillationen konnte eine bessere Wirkung auf die Sekretolyse bei Patienten mit COPD und Mukoviszidose nachgewiesen werden. Die Datenlage für das »incentive spirometer« ist nicht einheitlich. Während die Studie von Gosselink [25] keinen Vorteil gegenüber konventioneller Physiotherapie nach thoraxchirurgischen Eingriffen fand, wird in einer aktuellen Übersicht [26] eine schwache Evidenz für die Reexpansion der Lunge nach größeren thoraxchirurgischen Eingriffen, bei allerdings geringer Studienzahl, angegeben. Bei der Auswahl des »incentive spirometer« sollte die zusätzlich notwendige Atemarbeit mitberücksichtigt werden, die sich bei ver-
76.4.2
Bronchoskopie
Die bronchoskopische Sekretabsaugung ist den Patienten vorbehalten, bei denen die Physiotherapie nicht mehr effektiv ist. Insbesondere bei Atelektase eines Lungenflügels, manchmal auch von einzelnen Lungenlappen, ist es nahezu nicht mehr möglich, Luft hinter das Sekret zu bringen, was eine Voraussetzung für effektives Abhusten ist. Die Bronchoskopie ist hier sehr hilfreich (. Abb. 76.1b), gleichzeitig kann der Bronchialbaum auf entzündlich bedingte Engstellen, Knickstenosen u. a. inspiziert werden. Die Verwendung von Lokalanästhesie für die Bronchoskopie ist obligat, auf die Gabe von sedierenden Medikamenten wie Midazolam sollte, wenn möglich, verzichtet werden, da die Sedierung häufig über die Zeit der Untersuchung hinaus anhält und somit während dieser Zeit neuerlich das Abhusten deutlich eingeschränkt ist.
76.5
Pneumonie nach thoraxchirurgischen Eingriffen
Pneumonien treten nach lungenresizierenden Eingriffen häufig auf – es werden Inzidenzen von 3,4% [29] bis 25% [30] beschrieben. Folgen einer Pneumonie sind eine signifikant höhere Beatmungspflichtigkeit sowie ein längerer Aufenthalt auf der Intensivstation und im Krankenhaus [30]. Folgende Risikofaktoren für das Auftreten einer Pneumonie in der postoperativen Phase sind bekannt [29–32]: 4 vorbestehende COPD,
76 76 76 76 76 76 76 76 76
. Abb. 76.2a, b Pneumonektomie rechts. a Thoraxröntgenaufnahme postoperativ. b 36 h später – Entwicklung des Vollbildes eines ARDS (Postpneumonektomieödem)
989 76.7 · Spezielle postoperative Krankheitsbilder
4 4 4 4 4 4 4
Ausmaß des lungenresezierenden Eingriffs, Präoperativ vorhandene Kolonisierung des Bronchialsystems, männliches Geschlecht, Body-Mass-Index längere Operationsdauer, Aufenthalt auf der Intensivstation, höherer postoperativer Schmerz-Score.
Hilfreich bei der Diagnose einer Pneumonie sind klinischer und radiolgischer Befund sowie mikrobiologische Untersuchungen und Laborparameter – allerdings gelten für das häufig verwandte Procalcitonin postoperativ andere Grenzwerte, oberhalb derer mit ausreichender Sensitivität und Spezifität eine bakterielle Infektion diagnostiziert werden kann [33]. Eine frühzeitige kalkulierte antibiotische Therapie ist aus prognostischen Gründen zwingend erforderlich. Ob in Zukunft eine prophylaktische Antibiotikatherapie bei Nachweis einer signifikanten bakteriellen Besiedelung des Tracheobronchialsystems die Rate postoperativer Pneumonien senken kann, muss in weiteren Studien geklärt werden. Eine Änderung der perioperativen Antibiotikaprophylaxe von einem Cephalosporin der 2. Generation auf ein Breitspektrumpenicillin plus einen β-Laktamasehemmer konnte in einer Studie die Häufigkeit postoperativer Pneumonien signifikant um 45% reduzieren [32].
76.7
Spezielle postoperative Krankheitsbilder
76.7.1
Herniation des Herzens
Die Herniation des Herzens stellt eine extrem seltene, akut lebensbedrohliche Notfallsituation dar und erfordert unverzügliche Diagnostik und Therapie. Sie setzt einen intraoperativ angelegten, gedeckten Perikarddefekt und eine Pneumonektomie voraus. Postoperativ können folgende Faktoren eine Herniation begünstigen: versehentlich übermäßiger Sog über die Thoraxdrainage in der leeren Pleurahöhle, mechanische Ventilation mit hohen inspiratorischen Drücken und eine Lagerung des Patienten auf die operierte Seite. Folgen der Herniation sind ein akuter Blutdruckabfall, Auftreten von Herzrhythmusstörungen und eine obere Einflussstauung. Therapeutisch notwendig ist eine sofortige Rethorakotomie mit Repositionierung des Herzens. Überbrückend müssen der Sog an der Thoraxdrainage weggenommen werden und eine Lagerung auf die gesunde Seite erfolgen. Bei kritischem Blutdruckabfall ist die Gabe von Vasopressoren bzw. auch Einleitung von Reanimationsmaßnahmen notwendig.
76.7.2 76.6
Postoperative Schmerztherapie
Eine optimale postoperative Schmerztherapie nach thoraxchirurgischen Eingriffen ist obligat, um postoperativ eine effektive Sekretexpektoration zu ermöglichen und den Patienten früh mobilisieren zu können. Grundsätzlich werden heute zwei Verfahren eingesetzt: 4 Patientenkontrollierte Analgesie (PCA): Bei der PCA erfolgt die Applikation von intravenösen Opioiden auf Anforderung durch den Patienten [34], bei nicht ausreichender Schmerzkontrolle werden zusätzlich Substanzen wie Novamin oder Paracetamol gegeben. Diese Methode hat, obwohl bewährt, zwei erhebliche Nachteile: 5 eine opioidinduzierte Übelkeit und Emesis, 5 häufig erheblich sedierende, teilweise auch atemdepressive Effekte, die wiederum einer frühzeitigen Mobilisierung und auch einem effektiven Sekretmanagement entgegenstehen. 4 Periduralanalgesie (PDA): Die PDA besteht in der rückenmarknahen Applikation von Lokalanästhetika, häufig in Kombination mit Opioiden. Mögliche Vorteile sind eine deutlich geringer ausgeprägte Atemdepression und sedierende Wirkung sowie verminderte postoperative Übelkeit. Mögliche Nebenwirkungen sind motorische Paresen und Blasenentleerungsstörungen, die eine intermittierende Katheterisierung der Harnblase erfordern. Eine Hypotonie ist durch eine Hemmung des Sympathikus mit fehlender Vasokonstriktion verursacht und benötigt primär Katecholamine. Eine eindeutige Überlegenheit der einen über die andere Methode ist bisher nicht bewiesen, einige Studien [35, 36] haben jedoch unter Periduralanalgesie eine signifikant bessere analgetische Wirkung und im Vergleich zur präoperativen Funktion geringer eingeschränkte Lungenfunktionsparameter beschrieben. Die Rate postoperativer Komplikationen war allerdings nicht unterschiedlich.
Tracheobronchiale Ruptur
Eine Ruptur im Bereich von Trachea und/oder Hauptbronchien ist nach Intubation eine seltene Komplikation, kann aber unter Verwendung von Doppellumentuben, wie sie für seitengetrennte Beamtung bei thoraxchirurgischen Operationen verwendet werden, durchaus auftreten. Typischerweise handelt es sich um längsverlaufende Zerreißungen im Bereich der Pars membranacea, die sich sehr selten in einen der beiden Hauptbronchien fortsetzen. Klinisch macht sich eine Trachealruptur durch die Entwicklung eines Mediastinalemphysems bemerkbar, die Entwicklung einer Mediastinitis ist eine häufig fatale Komplikation. Die Diagnostik ist die Domäne der flexiblen Bronchoskopie. Ursprünglich galt die frühe chirurgische Revision mit Übernähung des Defekts als Therapie der Wahl [37]. Kürzlich konnte gezeigt werden, dass in speziellen Situationen, v. a. bei Spontanatmung und Länge der Lazeration 7 Tage) auftreten, mit dem Risiko eines verlängerten Krankenhausaufenthaltes und erhöhter Krankenhauskosten [44]. Das Risiko kardiopulmonaler Komplikationen nimmt im Vergleich zu Patienten ohne oder mit kurz dauernder pleuraler Fistel nicht zu, jedoch ist das Risiko, ein Empyem zu entwickeln, erhöht [45].
76
76
Kapitel 76 · Thoraxchirurgische Eingriffe
Anastomoseninsuffizienzen bzw. Stumpfinsuffizienzen
Anatomoseninsuffizienzen sind seltene postoperative Komplikationen, die aber aufgrund der steigenden Zahlen von Manschettenresektionen häufiger auch die Intensivmedizin vor Probleme stellen. Frühe Zeichen sind eine Zunahme der Expektoration von wässrigem Sekret bzw. Hämoptysen. Eine unverzügliche u.a. bronchoskopische Diagnostik ist erforderlich, um lebensbedrohliche Komplikationen wie Asphyxie im Rahmen einer Hämoptoe zu verhindern. Die Therapie besteht in einer raschen Rethorakotomie mit ggf. Restpneumonektomie, bis dahin muss der Patient auf der Intensivstation überwacht und antitussiv behandelt werden – manchmal ist bei manifester respiratorischer Insuffizienz die seitengetrennte Intubation bereits auf der Intensivstation erforderlich. Stumpfinsuffizienzen treten häufiger nach Pneumonektomie als nach Lobektomie auf, v. a. bei nicht tumorfreiem Resektionsrand bzw. entzündlichen Lungenerkrankungen, und sind meist durch die Entwicklung eines Empyems kompliziert. Klinisch machen sie sich durch eine vermehrte Sekretproduktion bemerkbar, u. U. zusätzlich Entzündungszeichen bei gleichzeitigem Empyem, in Kombination mit einem absinkenden Flüssigkeitsspiegel in der Thoraxröntgenaufnahme nach Pneumonektomie. Die Diagnose wird ebenfalls bronchoskopisch gestellt. Therapeutisch erfolgt eine Drainageableitung bei Empyem und, falls möglich, eine Rethorakotomie mit Deckung des Stumpfs. > Solange die Insuffizienz besteht, ist auf eine korrekte Lagerung des Patienten – Tieferlagerung der betroffenen Seite – zu achten, um Aspirationen von u. U. infektiösem Material in die gesunde Lunge zu verhindern.
76 76.7.6
76 76 76
Postoperative Nachblutung
Hämodynamisch wirksame Nachblutungen nach thoraxchirurgischen Eingriffen sind durch Tachykardie und Hypotonie bis hin zum Schockzustand gekennzeichnet. Die Diagnose wird gestellt durch Messung des Drainagesekrets, Kontrolle des Hämoglobingehalts im Blut und radiologisch durch eine zunehmende pleurale Verschattung. Die Therapie besteht in einer chirurgischen Revision
mit z. B. Umstechung eines blutenden Gefäßes und Hämatomausräumung.
76.7.7
»Acute Lung Injury« (ALI) und »Acute Respiratory Distress Syndrome« (ARDS) nach Lungenresektion
! Cave ALI und ARDS nach lungenresizierenden Eingriffen stellen lebensbedrohliche Komplikationen dar.
Pathophysiologie Pathologisch gekennzeichnet durch eine diffuse Schädigung der alveolokapillären Membran, besteht klinisch eine progrediente respiratorische Insuffizienz mit erheblicher Oxygenierungsstörung. In der intialen exsudativen Phase kommt es zur Entwicklung eines interstitiellen und alveolären Ödems mit Ausbildung von hyalinen Membranen. Der weitere Verlauf ist variabel, von einer Lösung des Ödems mit Restitutio ad integrum bis hin zu einer proliferativen Phase mit Remodelling der Lunge, Vernarbung und Entwicklung einer Lungenfibrose. Die Häufigkeit beträgt in Abhängigkeit von der Größe des Eingriffs 4–7% nach Pneumonektomie und 1–2% nach Lobektomie [46]. Die genaue Genese dieser auch als Postpneumonektomieödem bezeichneten akuten Gasaustauschstörung ist nicht geklärt, verschiedene Mechanismen wie eine Schädigung durch die EinLungen-Ventilation während der Operation, Ischämie-Reperfusions-Schädigung, hohe intraoperative inspiratorische Sauerstoffkonzentration mit konsekutiver Radikalenbildung, stark positive Flüssigkeitsbilanz und Stress des pulmonal-kapillären Gefäßbettes werden angeschuldigt [47, 48]. Folgende Risikofaktoren für die Entwicklung eines postoperativen ARDS wurden identifiziert [nach 7]: 4 präoperativ bereits eingeschränkte Lungenfunktion, 4 chronischer Alkoholkonsum, 4 Ausmaß des lungenresizierenden Eingriffs, 4 Flüssigkeitsüberladung, 4 keine intraoperative lungenprotektive Beatmung, 4 neoadjuvante Radiochemotherapie, 4 erheblicher intraoperativer Transfusionsbedarf. Als mögliche Prophylaxe gegen ein ALI wird postoperativ nach Pneumonektomie eine restriktive Flüssigkeitsgabe empfohlen, auch wenn es hierfür keine gesicherten Daten gibt.
Klinik und Prognose Klinisch manifestieren sich ALI bzw. ARDS zwischen dem 1. und 13. postoperativen Tag [49] mit Tachypnoe, Dyspnoe und einer ausgeprägten Oxygenierungsstörung, häufig bevor korrespondierende radiologische Veränderungen auftreten (. Abb. 76.2). Gleichzeitig kann eine metabolische Azidose vorliegen. Die Mortalität wird mit 25–100% [7] angegeben.
Therapie Eine spezifische Therapie von ALI bzw. ARDS existiert nicht. In Frühstadien ist die Gabe von Sauerstoff etabliert, um ein ausreichendes Sauerstoffangebot für den Körper zu gewährleisten. In der Regel ist zur Beatmung ein einläufiger Endotrachealtubus ausreichend, in seltenen Fällen, z. B. bei gleichzeitig erheblicher pleuraler Leckage, kann eine seitengetrennte Beatmung (»independent lung ventilation«; ILV) nach Einbringen eines Doppellumentubus erfor-
991 Literatur
derlich sein. Bei invasiver Beatmung ist eine lungenprotektive Beatmung Standard [50]. Eine strenge Flüssigkeitsrestriktion bei manifestem ALI/ARDS wird von vielen Abteilungen angewandt, obwohl sich in einer aktuellen Studie [51] in der flüssigkeitsrestriktiven Gruppe nur ein nicht signifikanter Trend zu einer Verbesserung der Lungenfunktion und einer Verkürzung von Beatmungszeit und Dauer des Intensivaufenthalts fanden.
76.7.8
Akute Rechtsherzinsuffizienz
Verschiedene Faktoren können postoperativ zu einer starken Erhöhung der pulmonalarteriellen Widerstände mit konsekutivem akutem Rechtsherzversagen führen: Eine postoperative akute Lungenembolie oder ein ALI/ARDS mit schwerer Hypoxämie sind die häufigsten Ursachen. Eine mechanische Beatmung kann zu einer Aggravation der Rechtsherzbelastung führen. Die Reduktion der pulmonalen Strombahn nach Lungenresektion allein führt in der Regel nicht zu einem relevanten Lungenhochdruck, vorausgesetzt, es bestand präoperativ keine pulmonalarterielle Hypertonie, die aber in den allermeisten Fällen eine funktionelle Inoperabilität bedingt. Diagnostisch wegweisend sind eine obere und untere Einflussstauung, Tachykardie und Blutdruckabfall, auskultatorisch nachweisbare Trikuspidalinsuffizienz bzw. betonter 2. Herzton und Rechtsherzbelastungszeichen im EKG. Die Sicherung der Diagnose erfolgt mittels Echokardiographie bzw. Druckmessung im kleinen Kreislauf durch den Pulmonaliskatheter. Die Therapie der akuten Rechtsherzinsuffizienz besteht in der Entlastung des rechten Herzens durch Senkung von Vor- und Nachlast, mittels Applikation von Sauerstoff zur Verminderung der hypoxischen pulmonalarteriellen Vasokonstriktion und Gabe von pulmonalisdrucksenkenden Medikamenten wie inhalativem Prostaglandin oder Stickstoffmonoxid (NO). Zusätzlich können positivinotrope Substanzen wie β-Rezeptoragonisten (z. B. Dobutamin) die rechtsventrikuläre Funktion verbessern. Nach kausal behandelbaren Ursachen wie einer Lungenembolie, die eine therapeutische Antikoagulation erfordert, sollte immer gesucht werden.
eine medikamentöse Frequenzkontrolle, z. B. mit β-Blockern oder Amiodaron, eine sofortige Elektrokonversion ist nur bei hämodynamischer Instabilität indiziert. Bei Persistenz von Vorhofflattern oder -flimmern muss, sofern chirurgisch vertretbar, eine Antikoagulation mit z. B. niedermolekularen Heparinen in therapeutischer Dosierung zur Prophylaxe thrombembolischer Ereignisse erfolgen. Die Prognose dieser postoperativ aufgetretenen Rhythmusstörungen ist gut, bis vor Entlassung wechseln unter Frequenzkontrolle ca. 85% der Patienten spontan in einen Sinusrhythmus. Bei ventrikulären Rhythmusstörungen muss nach auslösenden Faktoren wie Myokardischämie, Infarkt etc. gesucht werden. Hilfreich sind EKG, Laboruntersuchungen (Troponin, Kalium) und ggf. die Echokardiographie. Bei isolierten ventrikulären Rhythmusstörungen ist ein abwartendes Beobachten gerechtfertigt, bei symptomatischer ventrikulärer Tachykardie erfolgt die Kardioversion/ Defibrillation mit nachfolgender antiarrhythmischer Therapie mit β-Blockern oder Amiodaron unter Beachtung der Kontraindikationen. Beim Einsatz von β-Blockern muss das möglicherweise erhöhte Risiko eines postoperativ auftretenden Schlaganfalls – z. B. aufgrund von Hypotonie und Bradykardie – sowie eine u. U. erhöhte Gesamtmortalität kritisch gegen die positiven Effekte einer Rhythmusstabilisierung und Reduzierung postoperativer Infarkte abgewogen werden [54].
Literatur 1 2
3
4 5
6
7
76.7.9
Herzrhythmusstörungen 8
Inzidenz und Klinik Herzrhythmusstörungen, die postoperativ nach Thorakotomie auftreten, sind überwiegend supraventrikulärer Genese (supraventrikuläre Tachykardie, Vorhofflattern, Vorhofflimmern). Gehäuft treten sie am 2. und 3. postoperativen Tag auf. Die Inzidenz hängt von der Art des Eingriffs – häufiger nach Lobektomie, Bilobektomie und Pneumonektomie – ab und rangiert in der Literatur zwischen 12,5 und 33% [52, 53]. Klinisch führend sind Dyspnoe, Palpitationen, Atemnot und Hypotonie. Eine lebensbedrohliche hämodynamische Instabilität kann gelegentlich Folge dieser Rhythmusstörungen sein. Ventrikuläre Rhythmusstörungen sind wesentlich seltener und stellen keine postoperative Komplikation im engen Sinn dar, sondern sind Ausdruck einer begleitenden Herzerkrankung bzw. einer perioperativen Myokardischämie.
Therapie Die Therapie der symptomatischen supraventrikulären Rhythmusstörungen unterscheidet sich nicht von der Therapie von Rhythmusstörungen anderer Genese. Bei hämodynamischer Stabilität erfolgt
9
10
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12 13 14
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Kapitel 76 · Thoraxchirurgische Eingriffe
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993
Gefäßchirurgische Eingriffe A. Greiner, J. Grommes, M. Jacobs
77.1
Einführung – 994
77.2
Postoperative Überwachung – 994
77.2.1
Postoperative operationsspezifische Komplikationen – 994
77.3
Operationen an der A. carotis – 994
77.3.1 77.3.2 77.3.3
Krankheitsbild und Indikationen zur Operation – 994 Operationsverfahren – 995 Postoperative intensivmedizinische Kontrolle – 995
77.4
Operationen an der Aorta – 996
77.4.1 77.4.2 77.4.3
Aortendissektion, Aortenaneurysma – 996 Operationsverfahren – 996 Postoperative intensivmedizinische Kontrolle – 997
77.5
Periphere Revaskularisation – 997
77.5.1 77.5.2 77.5.3
Krankheitsbild und Indikation – 997 Operationsverfahren – 998 Postoperative Überwachung – 998
77.6
Akute Ischämie – 998
77.6.1 77.6.2 77.6.3
Krankheitsbild und Indikation – 998 Therapie – 999 Postoperative Überwachung – 999
Literatur – 999
H. Burchardi et al. (Hrsg.), Die Intensivmedizin, DOI 10.1007/978-3-642-16929-8_77, © Springer Medizin Verlag Berlin Heidelberg 2011,
77
994
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77.1
Kapitel 77 · Gefäßchirurgische Eingriffe
Einführung
Gefäßchirurgische Eingriffe werden routinemäßig an unterschiedlichsten Organsystemen und Regionen des menschlichen Körpers durchgeführt. Die intensivmedizinische postoperative Überwachung ist daher für jede Operation sehr spezifisch. Dennoch gibt es Gemeinsamkeiten, die im postoperativen intensivmedizinischen Management zu berücksichtigen sind. Die beinahe allen Operationen zugrundeliegende Erkrankung ist die Atherosklerose. Dies ist eine systemische Erkrankung, die relevante kardiale und pulmonale Begleiterkrankungen der Patienten mit sich bringt. Die gestörte Endothelfunktion spielt bei der Pathogenese der postoperativen Organminderperfusion eine ebenso wichtige Rolle wie Obstruktionen der Organarterien, die das Kapillarbett des betroffenen Organs speisen (Davignon u. Ganz 2004; Schachinger u. Zeiher 2000). Die Folge nach gefäßchirurgischen Eingriffen sind postoperative Komplikationen wie kardiale, zerebrale oder mesenteriale Ischämien. Des Weiteren muss mit Komplikationen gerechnet werden, die durch die einzelnen atherosklerotischen Risikofaktoren verursacht werden. Nikotinkonsum führt dabei häufig zu obstruktiven Lungenerkrankungen, die den postoperativen Verlauf durch eine erhöhte Rate an pulmonalen Infekten erheblich beeinträchtigen/belasten. Das Vorliegen von Diabetes mellitus kann zu metabolischen Entgleisungen oder erhöhten perioperativen Infektraten führen (Tamai et al. 2006).
77.2
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77.2.1
77
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! Cave Ein fehlender Verlust von Blut über entsprechende Wunddrainagen schließt eine Blutung nicht aus.
Im Gegensatz dazu fallen Blutungen im Bereich der Extremitäten durch eine zunehmende Schwellung auf. Zudem ist der Verlauf meist nicht so dramatisch, da der benachbarte Weichteilmantel genügend Gegendruck aufbauen kann, um der Blutung entgegen zu wirken. Die Folge ist eine entsprechend größenprogrediente Schwellung. Die Kontrolle von Wunddrainagen ist ein essenzieller Bestandteil der postoperativen intensivmedizinischen Überwachung. Bei der postoperativen Blutung spielt die Früherkennung einer aktiven Blutung eine wesentliche Rolle. Je länger der hämodynamische Schockzustand anhält, desto größer ist die Gefahr einer irreversiblen Zellschädigung. Ein unmittelbar postoperativer thrombotischer Verschluss einer arteriellen Gefäßrekonstruktion führt zum klinischen Bild einer akuten Ischämie des Organs, das durch die rekonstruierte Arterie versorgt wird. Die postoperative Überwachung des Organs, dessen Kapillarbett durch die Gefäßrekonstruktion gespeist wird, ist ein wesentlicher Bestandteil der intensivmedizinischen Überwachung.
77.3
Operationen an der A. carotis
77.3.1
Krankheitsbild und Indikationen zur Operation
Postoperative Überwachung
Das Monitoring und die Beatmung unmittelbar nach gefäßchirurgischen Eingriffen entsprechen der postoperativen intensivmedizinischen Behandlung. Eine bereits erwähnte häufig vorliegende gestörte Organmikrozirkulation kann hier durch eine postoperative Hypovolämie signifikant verschlechtert werden, sodass eine ausreichende Volumensubstitution unter Berücksichtigung der kardialen Vorerkrankung gewährleistet sein muss (Cabrales et al. 06).
77
durch umliegendes Gewebe nicht tamponiert wird. Der Abfall des Hämoglobins ist meist etwas verzögert.
Postoperative operationsspezifische Komplikationen
Die nach gefäßchirurgischen Eingriffen möglichen Komplikationen hängen von der durchgeführten Operation ab, sind daher operationsspezifisch und werden zusätzlich in den folgenden Unterkapiteln aufgeführt. Komplikationen können prinzipiell in operationsprozedurabhängige und nicht prozedurabhängige Ereignisse unterteilt werden. Beide Arten von Komplikationen können das Leben bedrohen und müssen daher so früh wie möglich erkannt werden. Nicht prozedurabhängige Komplikationen wie kardiopulmonale Ereignisse werden durch übliches intensivmedizinisches Monitoring meist früh erkannt. Prozedurabhängige Komplikationen können an der Gefäßrekonstruktion oder am Organ, das über die Gefäßrekonstruktion arteriell versorgt wird, auftreten. Blutungen aus arteriellen Anastomosen sind selten, stellen jedoch einen technischen Fehler dar, der operativ versorgt werden muss. Die Symptome, die auf eine Anastomosenblutung hinweisen, hängen im Wesentlichen von der Lokalisation der Anastomose ab. Blutungen in freie Körperhöhlen, z. B. in das Abdomen oder den Thorax, fallen zumeist erst durch das klinische Bild eines hämorrhagischen Schocks auf, da die Blutung
Die Indikation zur Operation einer Karotisstenose ergibt sich aus der daraus resultierenden Symptomatik und dem Grad der Stenose. Die Einteilung der Karotisstenose erfolgt in 4 klinische Stadien (. Tab. 77.1).
Asymptomatische Karotisstenose Eine moderate bis höchstgradig asymptomatische Karotisstenose (>70%) der extrakraniellen A. carotis führt zu einer erhöhten Schlaganfallrate von etwa 11% in 5 Jahren. Gleichzeitig besteht ein erhebliches Risiko für schlaganfallunabhängige vaskuläre Ereig. Tab. 77.1 Klinische Stadien der Karotisstenose Stadium
Klinik
Indikation
I
Asymptomatisch, auch »alter« Insult >6 Monate
Relativ
II
Reversible zerebrale Ischämie in den letzte 6 Monaten
Absolut
IIa
Amaurosis fugax
IIb
TIA (transitorische ischämische Attacke) Symptomatik 60% nachgewiesen. Trotz dieser Datenlage werden in Europa asymptomatische Stenosen ab einem Stenosegrad von 80% operiert. Des Weiteren profitieren nur Patienten mit einer Lebenserwartung von mindestens 5 Jahren von der Operation. Eine der Komplikationen der Karotisoperation ist der Schlaganfall, der eigentlich durch die Operation verhindert werden soll. Der Nutzen der Operation hängt deshalb auch wesentlich von der Komplikationsrate des jeweiligen gefäßchirurgischen Zentrums ab und steht der NNT (»number needed to treat«) von 19 gegenüber. Demnach müssen 19 Patienten erfolgreich operiert werden, um einen Schlaganfall zu verhindern. Eine niedrige operative kombinierte Morbiditäts-Mortalitäts-Rate 0,5 cm/Jahr) bei grenzwertig großen Aneurysmen stellt ebenfalls ein erhöhtes Rupturrisiko und somit eine Operationsindikation dar. Die Indikation zur dringlichen Operation (innerhalb von 24 h) ergibt sich bei symptomatischen abdominellen Aortenaneurysmen bei noch intakter Aortenwand. Es besteht typischerweise ein deutlicher Druckschmerz im Bereich des tastbaren Aneurysmas sowie Flanken- und Rückenschmerz. Die Aortenruptur stellt einen chirurgischen Notfall dar.
77 77 77 77 77 77 77 77 77 77 77 77 77
77.4
Operationen an der Aorta
77.4.1
Aortendissektion, Aortenaneurysma
Die Indikation zur operativen Behandlung einer Dissektion der Aorta (jährliche Inzidenz: 3–10/100.000 Einwohner) hängt im Wesentlichen von dem Segment ab, in dem die Dissektion beginnt (Hagan et al. 2000). Daher ist die Stanford-Klassifikation von klinischer Relevanz (Daily et al. 70).
Stanford-Klassifikation
z Stanford-Typ-A-Aortendissektion Proximale Aortendissektionen, die die Aorta proximal der linken A. subclavia involvieren, stellen einen chirurgischen Notfall dar. Es besteht die Gefahr, dass Abgänge der supraaortalen Äste verlegt werden und es zu einem zerebralen Insult kommt. Des Weiteren droht ein Myokardinfarkt bei akutem Verschluss der Koronarostien oder eine Perikardtamponade. z Stanford-Typ-B-Aortendissektionen Akute distale Dissektionen distal des Abgangs der linken A. subclavia werden in der Regel konservativ behandelt, vorausgesetzt, es besteht keine bedrohliche Symptomatik, und der Patient kann suffizient medikamentös antihypertensiv behandelt werden. Die Indikation zur sofortigen Ausschaltung einer akuten Typ-B-Dissektion ergibt sich bei nicht beherrschbarem Schmerz, der Ruptur und einer Organ-, Rückenmark- oder Extremitätenischämie. Die Indikation zur Ausschaltung einer chronischen Aortendissektion (älter als 14 Tage) ergibt sich bei Expansion des Aortendurchmessers >6 cm (Neya et al. 1992; Svensson et al. 1990).
77
Nichtdisseziierendes thorakoabdominelles Aneurysma
77
Die Indikation zur Ausschaltung eines thorakoabdominellen degenerativen Aortenaneurysmas ergibt sich ab einem Durchmesser von 6 cm. Die Einteilung in 4 Typen nach Crawford schätzt das Risiko einer Rückenmarkischämie ab. Nach Crawford ist die spinale Ischämiegefahr am höchsten bei Typ I (Aneurysma distal der linken A. subclavia bis proximal der Nierenarterie) und Typ II (Aneurysma distal der linken A. subclavia bis zur Aortenbifurkation) und geringer bei Typ IV (Aneurysma vom Diaphragma bis zur Aortenbifurkation) und Typ III (Aneurysma von der 6. Interkostalarterie bis zum Diaphragma) (Crawford et al. 1989).
77 77 77
77.4.2
Operationsverfahren
Offene Operationsverfahren Das Prinzip besteht in der Ausschaltung des Aneurysmas durch Ersatz mit einer Kunststoffprothese. Je nach Segment müssen organversorgende Äste wie Karotiden, Nierenarterien und Viszeralarterien in den Aortenersatz replantiert werden.
Endovaskuläre Operationsverfahren Zurzeit sind Endoprothesen v. a. für das infrarenale Aortensegment und die thorakale Aorta erhältlich. Fenestrierte oder mehrarmige Prothesen zur Versorgung von Organarterien, die aus dem Aneurysma abgehen, werden als Sonderanfertigungen produziert.
Hybridverfahren Ist es notwendig, Ostien organversorgender Arterien zu überstenten, muss vor der Stentimplantation eine »debranching operation« durchgeführt werden. Dabei werden Arterien, die aus dem Aneurysma abgehen und daher durch den Stent von der arteriellen Strombahn abgehängt werden, durch extraanatomische Rekonstruktionen (Transposition, Bypass) versorgt. Die Wahl des Therapieverfahrens hängt, v. a. beim abdominellen Aneurysma, in erster Linie von der Morphologie das Aortenaneurysmas ab. Obwohl die Operationsletalität bei der offenen Operation für elektive Eingriffe im Vergleich zu endovaskulären Prozeduren initial etwas höher liegt ist, die Überlebensrate bereits nach einem Jahr für beide Verfahren gleich (EVAR Trial 1 u. 2; Anonymous 2005a, b). Ein Problem bei der endovaskulären Behandlung ist die insuffiziente Isolation des Aneurysmas vom Blutfluss bei weiterhin bestehendem Druck im Aneurysmasack (»endoleaks«). Im Gegensatz
997 77.5 · Periphere Revaskularisation
dazu kann jedes abdominale Aortenaneurysma erfolgreich operativ ausgeschaltet werden. Eine besondere Situation stellt die traumatische Aortenruptur loco typico beim Dezelerationstrauma (distal der linken Subklavia) dar, die sich erfolgreich mit einer Stentprothese behandeln lässt (Hoornweg et al. 2006; Buz et al. 2008; Xenos et al. 2008).
Intraoperative Sicherheit Die operative Ausschaltung eines thorakoabdominellen Aortenaneurysmas zählt zu den technisch anspruchsvollsten gefäßchirurgische Eingriffen. Die technischen Manöver müssen schnell und effizient durchgeführt werden, um einen ischämischen Schaden des Rückenmarks und der Organe zu verhindern. Der Schutz vor zerebrospinaler Ischämie spielt dabei eine wesentliche Rolle. Die zerebrale Protektion bei der Behandlung thorakaler Aortenaneurysmen und Dissektionen mit Einbeziehung des Aortenbogens kann auf unterschiedliche Weisen erfolgen, wobei sowohl die tiefe Hypothermie mit Kreislaufstillstand, die retrograde zerebrale Perfusion über die V. cava superior als auch die selektive antegrade Gehirnperfusion verwendet werden. Trotz aller Maßnahmen besteht nach wie vor eine hohe Inzidenz ischämischer Hirnkomplikationen (Jacobs et al. 2001; Mommertz et al. 2009). Die spinale Protektion basiert auf zwei Säulen. Dabei gewährleistet die Liquordrainge den spontanen Abfluss der zerebrospinalen Flüssigkeit. Ziel ist es, den Liqourdruck 200 m
IIb
Claudicatio intermittens, Gehstrecke Die Offenheit der Revaskularisation oder des Bypasses sollte engmaschig kontrolliert werden. Dies kann klinisch durch Prüfung des Pulsstatus, Temperatur und Rekapillarisierung oder apparativ mit Dopplersonde oder Duplexsonographie am Patientenbett durchgeführt werden.
Je nach Dauer und Ausmaß der Operation und der perioperativen Ischämie der Extremität durch das Ausklemmen muss postoperativ mit einem Kompartmentsyndrom gerechnet werden. Das klinische Bild des Kompartmentsyndroms ist durch Druckschmerz im Bereich des geschwollenen Kompartments, Muskeldehnungsschmerz, Sensibilitätsstörung und Einschränkung der aktiven Bewegung gekennzeichnet. Insbesondere Dehnungsschmerz und Sensibilitätsstörung sind die Hauptkriterien eines Kompartmentsyndroms. Die Diagnose eines Kompartmentsyndroms wird klinisch erstellt. Sie kann durch eine Druckmessung im Kompartment ergänzt werden. Druckwerte zwischen 10 und 15 mm Hg gelten als normwertig und Werte >30 mm Hg als pathologisch.
77.6
Akute Ischämie
77.6.1
Krankheitsbild und Indikation
Eine akute Ischämie entwickelt sich entweder aufgrund einer Embolisation (ca. 70%), deren häufigste Quelle das Herz darstellt, oder einer lokalen arteriellen Thrombosierung (ca. 30%). Das klinische Bild ermöglicht keine Unterscheidung. Hinweise für eine Embolie aus der Anamnese sind ein subakutes Ereignis, vorangegangene Embolien, bekannte Emboliequelle wie chronisches Vorhofflimmern, keine Claudicatiosymptomatik vor dem Ereignis und normale Verschlussdrücke an der nicht betroffenen Extremität. Eine lokale Thrombosierung kann durch vorangegangene Operation am Gefäßsystem (z. B. nach Bypassoperation), aber auch durch Gefäßpathologien wie Aneursymen der A. politea, bedingt sein. Die akute Ischämie ist eine klinische Diagnose. Die Symptome der Ischämie wurden 1954 von Pratt mit den 6 Ps zusammengefasst (Pratt 1954; . Tab. 77.3). Beurteilt werden Hautkolorit, Temperatur, Pulsstatus sowie Motorik und Sensibilität. Frühzeichen einer Sensibilitätsstörung können sehr diskret sein. Die Interpretation des Pulsstatus kann bei vorbestehender pAVK schwierig sein und sollte deshalb durch eine Doppleruntersuchung ergänzt werden. Ein mittels Doppler nachweisbares Signal und ein ableitbarer Knöchel-Arm-Index sprechen gegen eine akute Gefährdung der Extremität. Zur Prognose und Therapieentschei-
. Tab. 77.3 Klinische Zeichen der Ischämie: 6 Ps „pain«
Schmerz
„paleness«
Blässe
„paresthesia«
Gefühlsstörung
„pulslessness«
Pulsverlust
„paralysis«
Lähmung
„prostration«
Erschöpfung/Schock
999 Literatur
. Tab. 77.4 Klassifikation der Ischämie nach Rutherford zur Prognosebeurteilung und Therapieentscheidung Kategorie
Beschreibung/Prognose
Sensibilitätsverlust
Muskelschwäche
Dopplersignal arteriell
venös
I
Nicht unmittelbar gefährdet
Fehlend
Fehlend
Hörbar
Hörbar
IIa
Rettbar bei sofortiger Behandlung
Minimal (Zehen) oder fehlend
Fehlend
Oft hörbar
Hörbar
IIb
Rettbar bei unverzüglicher Revaskularisation
Mehr als Zehen- und Ruheschmerz
Gering bis mäßig
Nicht hörbar
Hörbar
III
Amputation erforderlich oder unvermeidbare Nervenschädigung
Anästhesie
Paralyse (Rigor)
Nicht hörbar
Nicht hörbar
dung hat sich die Klassifikation nach Rutherford etabliert (. Tab. 77.4).
Die farbkodierte Duplexsonographie erlaubt als nichtinvasive Untersuchung rasch die Objektivierung und Lokalisation des Gefäßverschlusses. Hiermit lassen sich ebenso teilthrombosierte Aneurysmen als Emboliequelle nachweisen. Die Angiographie kann unklare Befunde der Duplexsonographie klären und bietet zudem die Option einer interventionellen Therapie. MR- und CT-Angiographie können zusätzliche Befunde darlegen, ohne jedoch eine therapeutische Option zu bieten.
77.6.2
Therapie
Zu den Allgemeinmaßnahmen gehören sofortige Heparinisierung mit initialer Bolusgabe und kontinuierlicher Infusion, Tieflagerung und Polsterung der Extremität und Schmerztherapie. Die klassisch chirurgische Therapie ist die Katheterthrombembolektomie nach Forgarty, die insbesondere für den embolischen Gefäßverschluss Anwendung findet. Daran anschließen können sich in Abhängigkeit von der Ischämieursache alle weiteren gefäßchirurgischen Optionen. Als Therapiealternative ist die lokale Thrombolysetherapie von zunehmender Bedeutung, die gerade bei vorbestehender pAVK und hoher Komorbidität eine niedrigere periprozeduale Mortalität im Vergleich zum operativen Vorgehen bietet (Schumann et al. 2007). Diese Therapie wird häufig als kathetergesteuerte Thrombembolektomie angewendet und bietet hohe primäre Erfolgsraten (Kudo et al. 2006). Zur Lysebehandlung akuter Arterienverschlüsse kommen heute überwiegend Urokinase oder Plasminogenaktivator (rtPA) zur Anwendung.
77.6.3
Postoperative Überwachung
In der postoperativen Überwachung steigt je nach Ausmaß und Dauer der Ischämie das Risiko eines Reperfusionssydroms (Kompartmentssyndrom). Hier ist eine engmaschige klinische Beurteilung von entscheidender Bedeutung und die Indikation zur Faszienspaltung großzügig zu stellen (Norgren et al. 2007). Bei fortgeschrittenem Stadium der Ischämie muss neben der Schädigung der Muskulatur und Nerven mit Beeinträchtigung weiterer Organsysteme (insbesondere Crush-Niere infolge Myoglobinurie, Hypovolämie durch Flüssigkeitsextravasation, Rhythmusstörungen durch Hyperkaliämie und metabolische Azidose) gerechnet werden. Der Crush-Niere sollte durch ausreichende Volumensubstitution und forcierte Diurese entgegengewirkt werden. Diese Patienten sollten in jedem Falle intensivmedizinisch betreut werden.
Eine Majoramputation kann auch nach initial erfolgreicher Revaskularisation bei foudroyantem Verlauf mit vitaler Gefährdung indiziert sein, um eine weitere Toxineinschwemmung zu reduzieren.
Literatur 1
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1000
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Kapitel 77 · Gefäßchirurgische Eingriffe
13 Greiner A, Esterhammer R, Messner H, Biebl M, Muhlthaler H, Fraedrich G, Jaschke WR, Schocke MF (2006) High-energy phosphate metabolism during incremental calf exercise in patients with unilaterally symptomatic peripheral arterial disease measured by phosphor 31 magnetic resonance spectroscopy. J Vasc Surg 43 (5): 978–986 14 Hagan PG, Nienaber CA, Isselbacher EM, Bruckman D, Karavite DJ, Russman PL, Evangelista A, Fattori R, Suzuki T, Oh JK, Moore AG, Malouf JF, Pape LA, Gaca C, Sechtem U, Lenferink S, Deutsch HJ, Diedrichs H, Robles J, Llovet A, Gilon D, Das SK, Armstrong WF, Deeb GM, Eagle KA (2000) The International Registry of Acute Aortic Dissection (IRAD): new insights into an old disease. JAMA 283 (7): 897–903 15 Halliday A, Mansfield A, Marro J, Peto C, Peto R, Potter J, Thomas D (2004) Prevention of disabling and fatal strokes by successful carotid endarterectomy in patients without recent neurological symptoms: randomised controlled trial. Lancet 363 (9420): 1491–1502 16 Hoornweg LL, Dinkelman MK, Goslings JC, Reekers JA, Verhagen HJ, Verhoeven EL, Schurink GW, Balm R (2006) Endovascular management of traumatic ruptures of the thoracic aorta: a retrospective multicenter analysis of 28 cases in The Netherlands. J Vasc Surg 43 (6): 1096–1102 17 Jacobs MJ, de Mol BA, Veldman DJ (2001) Aortic arch and proximal supraaortic arterial repair under continuous antegrade cerebral perfusion and moderate hypothermia. Cardiovasc Surg 9 (4): 396–402 18 Kudo T, Chandra FA, Kwun WH, Haas BT, Ahn SS (2006) Changing pattern of surgical revascularization for critical limb ischemia over 12 years: endovascular vs. open bypass surgery. J Vasc Surg 44 (2): 304–313 19 Mommertz G, Langer S, Koeppel TA, Schurink GW, Mess WH, Jacobs MJ (2009) Brain and spinal cord protection during simultaneous aortic arch and thoracoabdominal aneurysm repair. J Vasc Surg 49 (4): 886–892 20 Neya K, Omoto R, Kyo S, Kimura S, Yokote Y, Takamoto S, Adachi H (1992) Outcome of Stanford type B acute aortic dissection. Circulation 86 (5 Suppl): II1-II7 21 Norgren et al. (2007) Inter-society Consensus for the Management of Peripheral Arterial Disease (TASC II). Eur J Vasc Endovasc Surg 33 (Suppl) 22 Pratt GH (1954) Cardiovascular surgery. Kimpton, London 23 Rothwell PM (2004) ACST: which subgroups will benefit most from carotid endarterectomy? Lancet 364 (9440): 1122–1123 24 Rothwell PM, Eliasziw M, Gutnikov SA, Warlow CP, Barnett HJ (2004) Endarterectomy for symptomatic carotid stenosis in relation to clinical subgroups and timing of surgery. Lancet 363 (9413): 915–924 25 Schachinger V, Zeiher AM (2000) Atherosclerosis-associated endothelial dysfunction. Z Kardiol 89 Suppl 9: IX/70-IX/74 26 Schumann R, Rieger J, Ludwig M (2007) [Acute peripheral arterial occlusive disease]. Med Klin (Munich) 102 (6): 457–471 27 Shakespeare WA, Lanier WL, Perkins WJ, Pasternak JJ (2009) Airway management in patients who develop neck hematomas after carotid endarterectomy. Anesth Analg, 28 Svensson LG, Crawford ES, Hess KR, Coselli JS, Safi HJ (1990) Dissection of the aorta and dissecting aortic aneurysms. Improving early and longterm surgical results. Circulation 82 (5 Suppl): IV24–IV38 29 Tamai D, Awad AA, Chaudhry HJ, Shelley KH (2006) Optimizing the medical management of diabetic patients undergoing surgery. Conn Med 70 (10): 621–630 30 Xenos ES, Abedi NN, Davenport DL, Minion DJ, Hamdallah O, Sorial EE, Endean ED (2008) Meta-analysis of endovascular vs open repair for traumatic descending thoracic aortic rupture. J Vasc Surg 48 (5): 1343–1351
1001
Intensivtherapie nach neurochirurgischen Eingriffen – elektive Kraniotomie, intrakranielle Blutung, Schädel-Hirn-Trauma, Rückenmarkverletzung S. Pilge, G. Schneider
78.1
Einleitung – 1002
78.2
Allgemeine Aspekte der neurochirurgischen Intensivmedizin – 1002
78.2.1 78.2.2
Physiologie und Pathophysiologie des ZNS – 1002 Allgemeine klinische Aspekte – 1007
78.3
Spezielle Aspekte der neurochirurgischen Intensivmedizin – 1010
78.3.1 78.3.2 78.3.3 78.3.4
Elektive Kraniotomie – 1010 Intrakranielle Blutung – 1014 Schädel-Hirn-Trauma – 1018 Rückenmarkeingriffe und -verletzungen (spinales Trauma, spinale Blutung) – 1018
Literatur – 1021
H. Burchardi et al. (Hrsg.), Die Intensivmedizin, DOI 10.1007/978-3-642-16929-8_78, © Springer Medizin Verlag Berlin Heidelberg 2011,
78
1002
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78.1
Kapitel 78 · Intensivtherapie nach neurochirurgischen Eingriffen
Einleitung
Das Kollektiv der neurochirurgischen Intensivpatienten stellt ein sehr heterogenes Patientengut dar, das sich einerseits aus Patienten nach elektiven neurochirurgischen Eingriffen und andererseits aus Notfallpatienten zusammensetzt (mit und ohne operative Versorgung, in der prä- oder postoperativen Behandlungsphase). Allen Patienten gemeinsam ist die kritische Situation des ZNS mit seinen physiologischen und pathophysiologischen Reaktionen. Deshalb werden im Folgenden relevante allgemeine Aspekte der Physiologie bzw. Pathophysiologie des ZNS zusammengefasst. Für eine detaillierte Darstellung wird auch auf 7 Kap. 16 (»Zerebrales Monitoring, neurophysiologisches Monitoring«) und 7 Sektion VII (»Störungen des ZNS und neuromuskuläre Erkrankungen«, insbesondere 7 Kap. 48: »Neurodiagnostik in der Intensivmedizin« und 7 Kap. 49: »Erhöhter intrakranieller Druck«) verwiesen. Auf diesen Grundlagen aufbauend werden die speziellen Aspekte der neurochirurgischen Intensivmedizin dargestellt. Abhängig von den Versorgungsstrukturen des betreffenden Krankenhauses wird »neurochirurgische Intensivmedizin« auf (inter)disziplinär unterschiedlich geführten Intensivstationen betrieben: Neben einem interdisziplinären Modell, einer neurochirurgisch oder anästhesiologisch geführten Intensivstation, können z. B. Patienten mit Subarachnoidalblutung auch auf einer neurologischen Intensivstation oder Polytraumata [mit begleitendem Schädel-Hirn-Trauma (SHT)] auch auf einer allgemeinchirurgisch geleiteten Intensivstation versorgt werden. Unabhängig von der Struktur der Intensivstation ist es entscheidend, dass adäquates Wissen und Fertigkeiten in der Versorgung neurochirurgischer Patienten vorhanden sind, um die interdisziplinäre Zusammenarbeit in Diagnostik und Therapie zu gewährleisten.
Allgemeine Aspekte der neurochirurgischen Intensivmedizin
78
78.2
78
Bei der Behandlung neurochirurgischer Patienten steht die Wiederherstellung oder Aufrechterhaltung adäquater zerebraler Perfusion im Mittelpunkt. Die Ursachen einer ischämischen Schädigung sind so heterogen wie die Patienten der neurochirurgischen Intensivmedizin und können beispielsweise traumatischer, vasospastischer, entzündlicher oder neoplastischer Genese sein. Nahezu alle diese Ursachen münden letztlich in einer gemeinsamen Endstrecke: der zerebralen Minderperfusion. Mit dieser gemeinsamen Endstrecke fällt auch die pathophysiologische Antwort des zentralen Nervensystems (ZNS) auf ischämische Noxen weitgehend uniform aus: nach Ausschöpfung zerebraler Regulationsmechanismen entsteht ein Hirnödem, es folgen Anstieg des regionalen oder globalen Hirndruckes, ggf. mit Einblutungsgefahr. Deshalb bilden die allgemeingültigen Prinzipien der Physiologie und Pathophysiologie des ZNS die gemeinsame Grundlage neurochirurgischer Intensivmedizin.
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Zentralnervöse Regulationsmechanismen Die Hirndurchblutung wird global durch den zerebralen Blutfluss (CBF) bestimmt. Dieser beträgt ca. 15–20% des HZV, ca. 45–60 ml/ min/100 g Gehirn (kritischer Wert 18 ml/min/100 g für reversiblen Neuronenuntergang, einhergehend mit EEG-Veränderungen und Verlust von evozierten Potenzialen; Damit stellt der paCO2 einen wesentlichen Faktor zur Anpassung der regionalen Durchblutung und damit der CBF-Steuerung dar.
Intrakranieller Druck (ICP) Der intrakranielle Raum wird durch die drei Kompartimente bestimmt: 4 Hirngewebe (ca. 88%), 4 Liquor (9–10%) und 4 Blutvolumen (2–3%, hauptsächlich venöses Niederdrucksystem). Der physiologische intrakranielle Druck (ICP) beträgt weniger als 15 mm Hg. Die Elastance (elastische Rückstellkraft) beschreibt die Veränderung des ICP als Funktion von Veränderungen des intrakraniellen Volumens (dP/dV).
Der ICP ist neben dem arteriellen Mitteldruck (MAP) eine wesentliche Determinante des zerebralen Perfusionsdruckes (CPP): 4 CPP=MAP–(ICP+ZVD) Ohne Vorliegen entsprechender Pathologie beträgt der ZVD auf Höhe des Bulbus der V. jugularis Null, daher darf als Näherung 4 CPP=MAP–ICP benützt werden. Der CPP gilt als treibende Kraft für den zerebralen Blutfluss (CBF). 4 CBF=CPP/CVR (CVR = zerebrovaskulärer Widerstand)
78 Physiologie und Pathophysiologie des ZNS
78
78.2.1
78
Für eine umfassende Darstellung wird auf 7 Kap. 16 (»Zerebrales Monitoring, neurophysiologisches Monitoring«) und 7 Sektion VII (»Störungen des ZNS und neuromuskuläre Erkrankungen«) verwiesen. Die im Zusammenhang mit neurochirurgischer Intensivmedizin wesentlichen Aspekte werden im Folgenden nochmals als Grundlagen zusammengefasst dargestellt.
78 78
Eine ICP-Erhöhung kann nach Volumenzunahme einzelner Kompartimente erfolgen, z. B. 4 Hirngewebe: Tumor, Hirnödem, 4 Liquor: Störung von Liquorproduktion, -resorption, -abfluss, 4 Blutvolumen: Hyperämie, Hämatom. Einem akuten ICP-Anstieg liegt meistens eine Blutung zugrunde. Druckanstiege, die sich über einen längeren Zeitraum entwickeln, sind häufig durch Liquorzirkulationsstörungen oder ein progredientes Hirnödem bedingt. Ein langsamer Druckanstieg kann bes-
1003 78.2 · Allgemeine Aspekte der neurochirurgischen Intensivmedizin
ser durch Volumenabnahme anderer Kompartimente kompensiert werden, z. B. durch Verdrängung von zerebralem Liquorvolumen durch das Foramen magnum in den spinalen Subarachnoidalraum (Monroe-Kellie-Hypothese):
Monroe-Kellie-Hypothese
Optimierung des zerebralen Perfusionsdruckes (CPP): Lund vs. Rosner und Brain Trauma Foundation Das CPP-Konzept nach Rosner setzt eine intakte Autoregulation voraus: Durch Erhöhung des MAP >70 mm Hg (durch Katecholamine/Flüssigkeit) kommt es idealerweise zu einer Reduktion des ICP durch autoregulatorische zerebrale Vasokonstriktion:
4 Gesamt-ICP = pGehirn + pBlut + pLiquor cerebrospinalis
z Hyperventilationstherapie Das zerebrale Blutvolumen (CBV) kann über Steuerung des paCO2 beeinflusst werden (CO2-Reaktivität der Gefäße). Durch Hyperventilation lässt sich somit beim kontrolliert beatmeten Patienten das intrakranielle Blutvolumen reduzieren. ! Cave Die Hypokapnie birgt die Gefahr des kapillären Kollapses mit konsekutiver zerebraler Ischämie und Ödembildung.
Die meist uniforme pathophysiologische Antwort auf zerebrale Ischämie/Neurotrauma besteht aus neuronaler und interstitieller Laktatazidose, Hyperämie (Vasoparalyse) und Begünstigung eines Hirnödems. Die Hyperventilationstherapie zielt daher durch die induzierte Hypokapnie mit respiratorischer Alkalose auf Reduktion der Laktatazidose sowie die Umverteilung des CBF in ischämische und damit maximal vasodilatierte Regionen und Senkung des ICP. Um die positiven, nicht jedoch die negativen Effekte zu induzieren, wird nur milde, vorübergehende Hyperventilation (paCO2 30–32 mm Hg) bei akuten Hirndruckkrisen empfohlen. Allerdings dürfte bei fast allen Patienten mit zerebralen Noxen initial als Folge eines reduzierten zerebralen Metabolismus auch der CBF reduziert sein. Diese Patienten profitieren nicht von einer Hyperventilation. Im Gegenteil drohen kapillärer Kollaps und Ischämie. Nach dieser Akutphase kommt es bei 45% zu einer posttraumatischen Hypoperfusion. Auch hier gilt die induzierte Hypokapnie als kontraindiziert. Bei 55% der Patienten liegt in der postakuten Phase eine zerebrale Hyperämie vor, hier profitieren Patienten von Hyperventilation. > Eine generelle, präventive, forcierte Hyperventilation bei der Behandlung des erhöhten ICP gilt folglich mittlerweile als obsolet.
Weiter limitierend ist die Tatsache, dass es nach 6–8 h durch den Ausgleich der pH-Verschiebungen durch zerebrale Pufferungssysteme (verstärkte Bicarbonatsekretion in den Liquor) zu einem Wirkungsverlust der induzierten Hypokapnie kommt. Die milde Hyperventilation wird deshalb bis zur differenzierten Diagnostik (Ischämie/Hyperämie/Ödem) nur noch zur Kupierung von ICPKrisen empfohlen, bis unter zerebralem Monitoring (jugularvenöse Sättigung, TCD, zerebrale Mikrodialyse) Normokapnie wieder erreicht werden kann. ! Cave Abruptes Beenden der Hyperventilation kann durch Hyperämie ein Rebound-Phänomen mit ICP-Anstieg induzieren.
4 CPP=MAP–ICP.
Das Lund-Konzept zielt auf die Reduktion des posttraumatischen vasogenen Hirnödems in der Erholungsphase der defekten BlutHirn-Schranke durch Reduktion des ICP. Dies wird durch 3 Maßnahmen angestrebt: 4 Reduktion des zerebralen Blutvolumens (Venokonstriktion) durch Infusion von Dihydroergotamin. 4 Reduktion des kapillären hydrostatischen Drucks durch Infusion des α2-Agonisten Clonidin und des β1-Antagonisten Metoprolol. 4 Stabilisierung des physiologischen kolloidosmotischen Drucks (Plasmaalbuminkonzentration >40 g/l). > Die scheinbar diametralen Konzepte könnten nach Diagnostik der Intaktheit zerebrovaskulärer Autoregulation und der Blut-Hirn-Schranke differenziert eingesetzt werden.
Die Leitlinien der Brain Trauma Foundation nennen einen Zielwert von 60–70 mm Hg für den CPP [2]. Arterielle Hypotension (SAP 70 mm Hg sind wegen möglicher pulmonaler Komplikationen nicht indiziert.
Zentrale Regulationsstörungen z Atemregulation In- und Exspiration werden durch 2 Atemzentren im Hirnstamm koordiniert (. Abb. 78.1): Das bulbäre Atemzentrum liegt rostral in der Medulla oblongata: In- und Exspirationszentrum sind durch wechselseitigen Einfluss für Initiierung und Aufrechterhaltung der Atmung verantwortlich. Das pneumotaktische Atemzentrum der Pons modifiziert die Aktivität des bulbären Zentrums. Dieses Zusammenspiel vermittelt u. a. eine Hemmung der Inspiration bei Schlucken oder Erbrechen. Eine Störung dieser Zentren bei Erkrankungen des ZNS oder durch Anästhetika bedingt ein erhöhtes Aspirationsrisiko. Über periphere und zentrale Chemorezeptoren und zentrale Mitinnervation (limbischer Kortex, Dienzephalon) wird das Atemzeitvolumen insbesondere über den pCO2 an den Bedarf angepasst. CO2 kann im Gegensatz zu Protonen die Blut-Hirn- und die Blut-Liquor-Schranke frei passieren. Der zentrale pCO2 liegt ca. 10 mm Hg über dem paCO2. Im Liquor entstehende Kohlensäure dissoziiert, die H+-Ionen können wegen der fehlenden Pufferkapazität des Liquors nicht abgefangen werden und stimulieren die zentralen Chemorezeptoren. Nach 1–2 min ist die Steigerung des Atemantriebes mit Steigerung von Atemfrequenz und Atemzugvolumen voll ausgeprägt. > Bis zu einem paCO2 von 60–70mm Hg ist die Beziehung mit einer Steigerung der Ventilation um 2–3 l/min/mm Hg CO2 linear.
Bei Störung des zentralen Atemzentrums, pharmakologischer Blockade (v. a. durch Opioide) oder chronischer Hyperkapnie bei
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Kapitel 78 · Intensivtherapie nach neurochirurgischen Eingriffen
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. Abb. 78.1 Lokalisation des kardiorespiratorischen Netzwerkes in der Medulla oblongata und der Pons. Im rechten Teil ist die Lokalisation der respiratorischen Neuronengruppen auf die dorsale Oberfläche des Hirnstamms projiziert. In dem Querschnittsschema sind rechts das respiratorische Netzwerk und links das kardiovaskuläre Netzwerk markiert, um auf ihre benachbarte Lokalisation aufmerksam zu machen. Sowohl das respiratorische wie auch das kardiovaskuläre Netzwerk sind jedoch bilateral angelegt. Die Rhythmogenese der Atmung erfolgt wahrscheinlich im PBC (5M=Nucl. motorius trigemini, 5ST=Tractus spinalis trigemini, A=Nucl. ambiguus, AP=Area postrema, BC=Brachium conjunctivum, BP=Brachium pontis, C=Nucl. cuneatus, Coll. inf.=Colliculus inferior, DRG=dorsale respiratorische Gruppe, ICP=Pedunculus cerebelli inferior, IO=Nucl. olivaris inferior, KF=Nucl. Kölliker-Fuse, LC=Locus coeruleus, LRN=Nucl. reticularis lateralis, NTS=Nucl. tractus solitarius, P=Tractus pyramidalis, PBC=Prä-Bötzinger-Komplex, PBM=Nucl. parabrachialis medialis, Ph=Nucl. praepositus hypoglossi, PRG=pontine respiratorische Gruppe, RVLM=rostroventrolaterale Medulla, SO=Nucl. olivaris superior, TB=Corpus trapezoideum, TS=Tractus solitarius, VL=Nucl. vestibularis laterlais, VM=Nucl. vestibularis medialis, VRG=ventrale respiratorische Gruppe, X=Nucl. dorsalis vagi, XII=Nucl. hypoglossi). (Aus [60])
COPD kann der hyperkapniebedingte Atemantrieb vermindert bis erloschen sein. Schwächere chemosensitive Parameter sind paO2 und Blut-pH. H+-Ionen können die Blut-Hirn-Schranke nicht passieren, dadurch erklärt sich die geringere Atemantriebssteigerung. Die peripheren Chemorezeptoren befinden sich beidseits im Glomus caroticum (Afferenzen via N. XI) und in paraaortalen Ganglien des Aortenbogens (Afferenzen via N. X). Im Gegensatz zu den zentralen Chemorezeptoren werden sie am stärksten durch den paO2 stimuliert, führen aber meist erst bei einem paO2 Unabhängig von der Genese der Atemstörung gestaltet sich die Therapie zur Sicherung der Atemwege sowie Aufrechterhaltung von Normokapnie und ausreichender Oxygenierung symptomatisch.
z
Neurogene Lungenfunktionsstörungen und neurogenes Lungenödem Pulmonale Komplikationen treten bei Intensivpatienten mit akuten ZNS-Läsionen häufiger auf als bei anderen Intensivpatienten. Ursächlich können u. a. direkte Parenchymläsionen oder ein neurogenes Lungenödem sein. Es besteht ein erhöhtes Aspirationsrisiko durch verminderte Vigilanz und fehlende Schutzreflexe bei Störungen der Atemzentren oder kaudaler Hirnnerven. Immobilität und ein verändertes Atemmuster begünstigen die Entstehung von Atelektasen und das pulmonale Infektionsrisiko. Bewusstseinsgetrübte Patienten haben durch die oft erforderliche Sicherung der Atemwege durch Intubation/Tracheotomie und durch eine prolongierte Weaning-Phase ein deutlich höheres Risiko für eine beatmungsassoziierte Pneumonie (VAP durch Baro-, Volu-, Atelekt-, Biotrauma), zumal die Freisetzung inflammatorischer Mediatoren bei akuten ZNS-Läsionen diskutiert wird. Die Genese des neurogenen Lungenödems (»neurogenic pulmonary edema«; NPE) kann bislang noch nicht hinreichend ergründet werden. Das NPE tritt charakteristischerweise innerhalb von Minuten bis Stunden nach einer akuten ZNS-Läsion ein, meist nach Schädel-Hirn-Traumata, epileptischen Krampfanfällen und zerebralen Blutungen (v. a. SAB), ohne direkte Traumatisierung der Lunge. Differenzialdiagnostisch müssen Aspirationspneumonitis oder ARDS in Betracht gezogen werden. Rascher Beginn und meist auch Abklingen helfen bei der differenzialdiagnostischen Abgrenzung von anderen möglichen Ursachen. Beim NPE fehlen initial meist Fieber und interstitielle Infiltrate. Leitsymptom ist die Dyspnoe, manchmal begleitet von milden Hämoptysen. Klinisch zeigen sich Tachypnoe, Tachykardie und feuchte Rasselgeräusche, radiologisch typischerweise ein normal konfiguriertes Herz mit bilateralem, alveolärem Lungenödem. Allerdings kann sich das NPE auch als radiologisches Bild einer dekompensierten Herzinsuffizienz darstellen. Die Diagnose wird oftmals retrospektiv durch das schnelle Abklingen der Symptome binnen 48–72 h bekräftigt. Dadurch wird die Inzidenz in der Literatur sehr unterschiedlich angegeben – von 0,1–0,8% nach SHT [3] bis zu 20% nach schwerem SHT [4].
Ataktisches Atemmuster. Biot hat das ataktische Atemmuster bei
schweren Meningitiden beschrieben, seltener tritt dies auch bei zentralen Traumata auf. Es zeigen sich ein unregelmäßiges Muster von Atemfrequenz und -amplitude, verminderte Reaktion auf Stimulation der Chemorezeptoren und verstärkte Wirkung atemdepressiver Pharmaka. Häufig liegen Läsionen der Formatio reticularis (Sitz des medullären Atemzentrums) zugrunde. Apneusis. Eine sog. Apneusis tritt ebenfalls bei Hirnstammschädigungen im Bereich des Atemzentrums auf, ist aber charakterisiert durch periodische Atmung mit langer, tiefer Inspiration und langen Atempausen.
Die Therapie ist symptomatisch: Sicherung einer ausreichenden Oxygenierung und hämodynamische Stabilisierung. Eine große Herausforderung stellt die Therapieoptimierung bei folgenden Limitationen dar: 4 Flüssigkeitsrestriktion bei Lungenödem vs. Aufrechterhaltung des CPP oder Triple-H nach SAB. 4 Lungenprotektive Beatmung mit permissiver Hyperkapnie vs. notwendige Normokapnie bei erhöhtem ICP. 4 Mechanische Beatmung mit hohem PEEP kann den zerebralvenösen Rückstrom behindern.
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Kapitel 78 · Intensivtherapie nach neurochirurgischen Eingriffen
Eine systemische Hypotension mit konsekutiver zerebraler Minderperfusion gilt es unter allen Umständen zu vermeiden. Experimentelle Befunde weisen auf die Wirksamkeit einer α-adrenergen Blockade hin. Allgemeine Therapieoptionen bestehen in: ICPSenkung, Senkung kardialer Vor- und Nachlast (Diuretika, α2Rezeptoragonisten, Hämofiltration), Steigerung der myokardialen Inotropie (β-adrenerge Medikamente, z. B. Dobutamin) und Verringerung der Gefäßendothelpermeabilität (klinisch nicht belegt). Die Prognose ist in erster Linie abhängig von der zugrundeliegenden zerebralen Erkrankung. Allerdings wird bei Patienten mit NPE eine 3-fach höhere Mortalitätsrate bzw. vegetativer Zustand beschrieben [4].
handlung des Flüssigkeits- und Volumenhaushaltes eines Patienten mit neurologischen/neurochirurgischen Erkrankungen gelten als oberste Gebote Aufrechterhaltung der Plasmaosmolarität und Vermeidung der Zufuhr von hypoosmolaren Lösungen (Ringer-Laktat!) oder freiem Wasser (Glukoselösungen!), um der Ausprägung eines Hirnödems entgegenzuwirken [7, 8].
z Zentrale Temperaturregulationsstörungen Die Thermoregulation ist ein sehr komplexes System mit 3 wesentlichen Subsystemen: 4 Thermoafferenz (Messfühler), 4 zentrale Regler (Informationsverarbeitung) und 4 Thermoefferenz (Stellglieder).
Natriumkonzentration und Osmolalität der Extrazellulärflüssigkeit stellen die wichtigsten Stellgrößen im Wasser- und Elektrolythaushalt dar und werden durch Verschiebungen des Gesamtkörperwassers konstant gehalten. Die Volumenregulation ist hierbei von der Osmoregulation zu unterscheiden: Das ECF-Volumen bestimmt bei intakter Nierenfunktion die Urin-Natrium-Ausscheidung, mit Sensoren in Vas afferens der Glomeruli, Karotissinus und Vorhöfen sowie Effektoren via Sympathikus, RAAS-System sowie ANP und ADH unter pathologischen Bedingungen. Eine konstante Plasmaosmolalität wird insbesondere bestimmt durch die Serum-Natrium-Konzentration (effektive Plasmaosmolalität = 2×Na+Glc/18). Hypothalamische Messsensoren steuern über ADH und Durstempfinden die Urinosmolalität und Wasseraufnahme. Zentrale Regulationsstörungen des Wasser- und Elektrolythaushaltes (SIADH, Diabetes insipidus, Salzverlustsyndrom) stellen die häufigsten extrakraniellen Komplikationen nach schwerem SHT und neurochirurgischen Eingriffen dar [9]. Erkrankungen/ Verletzungen des ZNS gehen insbesondere mit Störungen des Natriumhaushaltes einher, was zu gravierenden Dysbalancen der Plasmaosmolalität und Verschlechterung des neurologischen Outcomes führen kann. Eine Hypernatriämie (>150 mmol/l) tritt bei Diabetes insipidus, eine Hyponatriämie ( Bei vorhandener zerebraler Schädigung sollte – wegen des erhöhten Sauerstoffbedarfs bei Fieber – jeder Temperaturanstieg über 37°C therapiert werden (pro Zunahme der Körpertemperatur um 1°C Anstieg des Sauerstoffverbrauchs um 7–12%), um eine zerebrale Hypoxämie zu vermeiden.
Da keine kausalen Therapieoptionen bestehen, muss symptomatisch therapiert werden. Im klinischen Alltag hat sich eine Kombination aus Opioid/Neuroleptikum (Reset oder Verstellen der zentralen Temperaturschwellen plus periphere Vasodilatation, z. B. Pethidin/Atosil) und physikalischer Kühlung (u. U. auch durch kalte Magen- und Blasenspülungen, intravenöse Kühlkatheter) als erfolgreich erwiesen. Mitunter kann aber eine Temperatursenkung nur sehr mühsam und unzureichend erzielt werden. Andererseits müssen Maßnahmen zur Unterdrückung von Kältezittern getroffen werden (Sedierung, vegetative Blockade), da auch dies zu einem starken Anstieg des Sauerstoffverbrauchs führen kann. z Elektrolyt- und Säure-Basen-Haushalt Allgemeine Störungen des Elektrolyt- und Säure-Basen-Haushalts werden in 7 Kap. 60 (»Säure-Basen-Status«) geschildert. Bei Be-
> Um Hypovolämie (mit Abnahme des CPP) oder Hypervolämie (mit erhöhter Inzidenz kardiopulmonaler Komplikationen und Hirnödemen) zu vermeiden, bedarf es kontinuierlichen intensivmedizinischen Monitorings. Flüssigkeitsrestriktion per se ist nicht geeignet zur Hirnödemprophylaxe und -therapie.
z Diabetes insipidus Der zentrale Diabetes insipidus führt durch einen kompletten oder partiellen Ausfall der ADH-Sekretion zur Diurese von bis zu 20 l hypoosmolaren Urins (Diagnosekriterium) und manifestiert sich als hypernatriämische hyperosmolare Dehydratation [10]. Hauptursächlich sind hypophysenchirurgische Eingriffe, aber auch SHT (2% der Patienten). Erste klinische Symptome der Hypernatriämie mit konsekutiv osmotisch bedingtem neuronalem Wasserentzug sind Lethargie, Schwäche und Gereiztheit. Die Therapie besteht bei einer Diurese bis zu 4 l/Tag in der Wiederherstellung der Normovolämie. Darüber hinaus ist die Gabe von Desmopressinacetat (Minirin) indiziert, z. B. fraktioniert 0,5–2 μg i.v., alternativ intranasal, s.c. oder i.m [11]. Die niedrigste wirksame Dosis sollte verabreicht werden, um eine Hyponatriämie und Wasserretention zu vermeiden. z Schwartz-Bartter-Syndrom (SIADH) Dem Schwartz-Bartter-Syndrom liegt eine pathologisch gesteigerte ADH-Sekretion zugrunde (Differenzialdiagnose ADH-Sekretion durch Schmerzen, Stress, Hypotonie). Zugrundeliegende Pathomechanismen sind nicht hinreichend geklärt, als ursächlich diskutiert werden atriale und zerebrale natriuretische Peptide. Klinisch führend sind hohe Natriumkonzentration im Urin (>25 mmol/l), trotz niedriger Serum-Natrium-Konzentration und Serumosmolalität Im Zentrum jeder neurologischen Beurteilung steht die klinisch-neurologische Untersuchung des Patienten. Die Basisuntersuchung ist einfach erlernbar und schnell durchführbar. Sie sollte täglich mindestens einmal erfolgen und sorgfältig dokumentiert werden, um bei Veränderung des klinischen Bildes schnell diagnostische Maßnahmen oder Therapien einleiten zu können.
Außerordentlich wichtig ist deshalb auch neurologisch geschultes Pflegepersonal, um eine engmaschige klinische Überwachung zu gewährleisten. Es empfiehlt sich, zur Dokumentation standardisierte neurologische Überwachungsbögen einzusetzen. Die klinische Untersuchung dient der Beurteilung des Bewusstseinszustandes und der Erkennung fokal neurologischer Defizite. Die 7 Übersicht zeigt die relevanten neurologischen Untersuchungsparameter.
Hauptkriterien der klinischen neurologischen Untersuchung 4 Pupillengröße, -form und -reaktion (weit/mittel/eng, rund/ entrundet, normal/träge/fehlend) 4 Spontane Augenbewegungen (z. B. konjugiert, unkonjugiert) 4 Meningismus 4 Kornealreflex 4 Okulozephaler Reflex 4 Atemmuster (7 Abschn. 78.2.1 »Zentrale Regulationsstörungen«) 4 Spontanbewegungen (gerichtet, ungerichtet, symmetrisch, asymmetrisch, Streck- oder Beugesynergismen) 4 Muskeleigenreflexe 4 Pyramidenbahnzeichen 4 Reaktion auf Schmerzreiz (gerichtet, ungerichtet)
Bewusstseinsminderungen gliedern sich in »Somnolenz«, »Sopor« und »Koma«. Als somnolent wird ein schläfriger Patient beschrieben, der durch Ansprache erweckbar ist – er öffnet die Augen und verhält sich adäquat. Ein soporöser Patient öffnet erst bei kräftiger Stimulation (Schmerzreiz) kurzzeitig die Augen und zeigt eine gerichtete motorische Abwehr – außer Verbalisieren von Lauten ist keine Kommunikation möglich. Findet keine Reaktion auf stärkste Reize oder nur eine ungezielte Abwehr statt, liegt ein komatöser Zustand vor. Zur differenzierten Beurteilung des Komagrades werden zusätzlich Kriterien wie das Vorhandensein von Spontanbewegungen, Hirnstammreflexen, Körperhaltung, Muskeltonus und Spontanatmung herangezogen. Beurteilung von Augenöffnen auf Ansprache, verbale Antwort und motorische Reaktion bildet die Grundlage der Glasgow Coma Scale (GCS; 7 Kap. 68) [18, 19]. Diese ist einfach in der Anwendung und erleichtert eine standardisierte und reproduzierbare Beurteilung. Die GCS wurde allerdings für die Beurteilung des akuten SHT entwickelt und berücksichtigt keine fokal neurologischen Defizite. Insbesondere bei Blutungen sind Schweregrad der Blutung sowie der klinische Zustand bei Aufnahme prognostisch wichtige Kriterien und Grundlage für therapeutische Maßnahmen. Für die Einteilung der Subarachnoidalblutung (SAB) haben sich die Skala nach Hunt u. Hess (. Tab. 78.2 und . Tab. 78.3) [20] sowie die neuere WFNS-Skala (. Tab. 78.3) im klinischen Alltag durchgesetzt [21]. Obwohl Hunt-u.-Hess-Grad und Letalität bzw. Morbidität nach SAB gut korrelieren, ist die Einteilung nicht unumstritten: Die Skala ist in verschiedenen Punkten nicht eindeutig, weshalb die World Federation of Neurosurgical Surgeons (WFNS) eine ebenfalls 5-stufige Schweregradeinteilung anhand der Glasgow Coma Skala einführte, die nun bei allen größeren kontrollierten Studien zur Subarachnoidalblutung Verwendung findet. Die Einteilung nach Fischer klassifiziert die CT-Befunde bei SAB (. Tab. 78.4) [22]. Die Grundlagen apparativer Diagnostik und Überwachung werden in 7 Kap. 16 (»Zerebrales Monitoring, neurophysiologisches Monitoring«) behandelt, ferner in 7 Kap. 48 (»Neurodiagnostik in der Intensivmedizin«). Jeder Intensivmediziner und jeder neurologische Untersucher sollte mit den Kriterien des Hirntodes (u. a. Verlust von Hirnnerven- und Hirnstammfunktionen sowie des Atemantriebes) vertraut sein, um mögliche Organspender zu erkennen und zu melden (gesetzliche Meldepflicht nach § 11, Abs. 4, TPG). Die Hirntoddiagnos-
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Kapitel 78 · Intensivtherapie nach neurochirurgischen Eingriffen
. Tab. 78.2 Skala nach Hunt u. Hess. Die Skala nach Hunt u. Hess klassifiziert den Schweregrad nichttraumatischer Subarachnoidalblutungen nach der neurologischen Symptomatik Hunt-u.Hess Skala
Neurologische Symptomatik
1
Asymptomatisch oder geringe Kopfschmerzen, leichter Meningismus
2
Moderate bis schwere Kopfschmerzen, Nackensteife Keine neurologischen Defizite außer Hirnnervenausfällen
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Bewusstseinseintrübung (Somnolenz) Mildes fokal neurologisches Defizit
4
Stupor Moderate bis schwere Hemiparese
5
Koma Dezerebrationskrämpfe
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z
. Tab. 78.3 Klinische Stadien der akuten Subarachnoidalblutung
78
Nach Hunt u. Hess
Klinische Befunde
Nach WFNSa (Glasgow Coma Scale)
Grad
Symptome
Score
Motorisches Defizit
1
Leichter Kopfschmerz/ Meningismus Kein neurologisches Defizit
15
Keines
2
Mäßiger bis schwerer Kopfschmerz/ Meningismus Kein neurologisches Defizit außer Hirnnervenstörung Keine Bewusstseinsveränderung
14–13
Keines
3
Somnolenz oder Verwirrtheit und/ oder neurologische Ausfälle
14–13
Vorhanden
4
Sopor, schwere neurologische Ausfälle Vegetative Störungen
12–7
Keines oder vorhanden
5
Koma Strecksynergismen
6–3
Keines oder vorhanden
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Federation of Neurological Surgeons.
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Fischer Grad
Zugrundeliegender CT-Befund
1
Keine Blutung evident
2
Subarachnoidales Blut 1 mm Dicke
4
Subarachnoidales Blut jeder Dicke mit Ventrikeleinbruch oder Parenchymblutung
Basistherapie
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. Tab. 78.4 Einteilung nach Fischer. Die Gradeinteilung einer SAB nach Fischer basiert auf dem initialen Befund des nativen CCT
tik wurde 1997 von der Bundesärztekammer in der 3. Fortschreibung der Richtlinien zur Feststellung des Hirntodes festgeschrieben [23]. Bezüglich Kriterien und Ablauf der Hirntoddiagnostik wird auf 7 Kap. 79 (»Hirntoddiagnostik und Behandlung von Organspendern«; Umgang mit Angehörigen) verwiesen.
Homöostase, Beatmung, Lagerung
> Primäres Ziel bei der intensivmedizinischen Behandlung von neurochirurgischen/-traumatologischen Patienten ist die Minimalisierung des sekundären Hirnschadens durch den Erhalt der Homöostase und damit vorrangig die Prävention von Hypotension, Hyper-/Hypokapnie, Hypoxämie, Hyper-/Hypoglykämie und Hyperthermie.
Daher ist die Indikation zur Intubation und/oder invasiven Beatmung im Zweifelsfall großzügig zu stellen, zwingend bei einem GCS Stress durch unzureichende Sedierung, Analgesie oder vegetative Abschirmung, verbunden mit einer erschwerten Beatmungssituation (inkonstante Beatmungsparameter, Pressen gegen das Beatmungsgerät mit Druckspitzen und Gefahr eines
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Pneumothorax) verschlechtern das Patienten-Outcome und sind daher unbedingt zu vermeiden.
z Antikoagulation Die Inzidenz thromboembolischer Komplikationen ist bei neurochirurgischen oder neurotraumatologischen Patienten sehr hoch, bedingt durch Lähmung und Immobilisation, aber auch durch Gerinnungsstörungen (7 Abschn. 78.3.3). Sie wird mit 10–20% bei Patienten mit spinalem Trauma [24] und bis zu 50% bei Patienten mit SHT angegeben. Entsprechend hoch ist das Risiko einer fulminanten Lungenembolie (50% Letalität). Die Inzidenz thromboembolischer Komplikationen erreicht ihren Gipfel zwischen 72 h und 14 Tage nach dem traumatischen Ereignis (spinales Trauma/SHT) [25]. Die Thromboseprophylaxe sollte daher frühestmöglich bei allen Patienten begonnen werden, erfordert aber häufig sorgfältiges Abwägen zwischen Antikoagulation einerseits und erhöhtem Risiko intrakranieller Blutungen andererseits. Allgemein gilt, die Thromboseprophylaxe erst ab 36 h nach einem Trauma zu beginnen, abhängig vom Grad der intrakraniellen Mitbeteiligung oder Gerinnungsstörungen. Nach elektiven neurochirurgischen Eingriffen ist der Beginn nach Absprache mit dem Operateur in der Regel früher möglich. Mechanische Verfahren (Kompressionsstrümpfe, Mobilisation, Physiotherapie) bilden die Basis, sind aber allein bei längerer Immobilität nie ausreichend. Meist werden niedermolekulare Heparine (NMH) eingesetzt, wobei die Wahl des Pharmakons nicht entscheidend zu sein scheint [26]. Bei erhöhtem Blutungsrisiko ist eine intravenöse, nicht PTTwirksame Heparinisierung besser steuerbar.
Sedierung und Neuroprotektion Allgemein ist es sinnvoll, standardisierte Beurteilungsbögen zur Dokumentation des neurologischen Zustandes und der Sedierungstiefe zu verwenden. Es wurde bereits die Notwendigkeit einer adäquaten Sedierungstiefe unterstrichen. Deshalb ist es wichtig, den klinischen Zustand sorgfältig zu erheben und zu dokumentieren, um damit u. a. das Sedierungsregime zu begründen. Die S3-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) und der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) zu Analgesie, Sedierung und Delirmanagement in der Intensivmedizin empfiehlt:
»
Das Monitoring sollte regelmäßig (z. B. 8-stündlich) erfolgen und dokumentiert werden. Dabei ist immer ein Sedierungsund Analgesieziel für jeden Patienten individuell festzulegen und über ein regelmäßiges Monitoring zu überprüfen und zu dokumentieren und ggf. an neue Bedingungen zu adaptieren. [27]
«
Die neurologische Beurteilbarkeit ist andererseits beim wachen, nicht sedierten Patienten am besten gewährleistet und dann der wichtigste, kontinuierliche Parameter, der großen Einfluss auf Diagnostik und Therapie hat. Besteht die Indikation zur Sedierung, sollten die gewählten Medikamente gut steuerbar sein, um Aufwachversuche zur neurologischen Beurteilung (»neurologische Fenster«) zu ermöglichen. Auf eine neuromuskuläre Blockade sollte verzichtet werden. Unter pharmakokinetischen Gesichtspunkten sind Substanzen mit kurzer kontextsensitiver Halbwertszeit und ohne aktive Metabolite wie Propofol, Sufentanil und Remifentanil sinnvoll. Auch die inhalative Sedierung (AnaConDa) kann angewandt werden, wenn kurze Aufwachzeiten, rasche Erholung kognitiver Funktionen oder eine schnelle Mobilisierung angestrebt
werden, zudem inhalative Anästhetika eine gute hämodynamische Stabilität und einen positiven Effekt auf die Lungenfunktion bieten. Es gibt keine zeitliche Beschränkung der Anwendungsdauer. Allerdings stellt die inhalative Sedierung von Intensivpatienten einen »off-label use« dar. Deshalb sollte in diesem Fall die Indikation zur Sedierung gut überprüft und Hämodynamik, Beatmungsparameter sowie Leber- und Nierenwerte engmaschig überwacht werden. Bei der Wahl intravenöser Anästhetika und bei einer zu erwartenden begrenzten Sedierungsdauer sollte bevorzugt Propofol eingesetzt werden, bis zu 7 Tage mit maximal 4 mg/kg KG/h (Cave: Propofolinfusionssyndrom). Es besteht keine Zulassung bei Patienten Bei allen intrakraniellen Komplikationen gilt: Neben klinischen Zeichen einer intrakraniellen Hypertension sind fokal neurologische Defizite und epileptische Anfälle charakteristisch.
Bei der Übernahme aus dem OP muss eine genaue Übermittlung der relevanten Informationen durch Operateur und Anästhesie erfolgen. Diese umfasst 4 den präoperativen Zustand (vorbestehende neurologische Ausfälle oder Epilepsie), 4 den intraoperativen anästhesiologischen Verlauf (Anästhesieverfahren bzw. möglicher Anästhetika- oder Relaxansüberhang, Blutverlust, Besonderheiten wie z. B. Elektrolytstörungen – insbesondere Diabetes insipidus, Gerinnungsstörungen – Cave: Nachblutung – oder Kreislaufdysregulation), 4 den operativen Verlauf (Art und Umfang des Eingriffes, Anzahl und Lage der Drainagen, intraoperative Besonderheiten wie z. B. erschwerte Blutstillung, Gefäßverschlüsse, Hirnschwellung, Eröffnung von Nebenhöhlen), 4 die postoperativen Anordnungen durch Operateur und Anästhesie (Patientenlagerung, Umfang und Art der postoperativen Überwachung inklusive Art und Zeitpunkt der postoperativ notwendigen Bildgebung wie CT-/MRT-Kontrolle, Notwendigkeit der postoperativen Nachbeatmung, Umgang mit Drainagen/Redons/EVD/lumbale Drainage: z. B. Höhe der EVDAbleitung über dem Nullpunkt=MAE, Redon mit/ohne Sog,
1011 78.3 · Spezielle Aspekte der neurochirurgischen Intensivmedizin
Liegedauer; postoperative Medikation wie Antikonvulsiva, Antibiotika, Dexamethason oder Mannitol). > Der neurologische Status sollte unmittelbar postoperativ mindestens 2-stündlich überprüft und dokumentiert werden. Die klinisch-neurologische Untersuchung spielt hierbei die wichtigste Rolle.
Bei jeder neurologischen Veränderung muss an eine Komplikation gedacht und rasch gehandelt werden. Eine sofortige Revision ohne CT-Kontrolle kann bei fulminanten Verläufen wie z. B. Anisokorie auf der operierten Seite, einhergehend mit Vigilanzminderung, gerechtfertigt sein. Besonderes Augenmerk gilt auch der Funktion der vorhandenen Drainagen (z. B. Redon-, Robinson-, Jackson-Pratt-Drainage mit oder ohne Sog angeordnet, EVD, lumbale Drainage). Hier sind v. a. Menge und Art des geförderten Sekretes zu beachten. Die Liquorüberdrainage einer EVD kann gewünscht sein im Sinne einer möglichen Reduktion vasospasmogener Substanzen oder einer intrakraniellen Hypertension, andererseits aber durch Stimulation der Liquorproduktion die Entwicklung eines shuntpflichtigen Hydrozephalus fördern. Die Detektion von Liquorbeimengungen in Redon-, Robinsonoder Jackson-Pratt-Drainagen liefert einen wichtigen Hinweis auf Liquorfisteln. Der sorgfältige Umgang bei der Beobachtung und Pflege der Drainagen ist generell sehr wichtig. Der Sog muss mit dem Operateur abgesprochen und meist milde eingestellt werden. Bei unkontrolliertem Einsatz drohen ebenfalls Komplikationen bis hin zu einer pseudohypoxischen Hirnschwellung bei exzessiver intrakranieller Hypotension [30]. Primäres Ziel der postoperativen intensivmedizinischen Überwachung nach neurochirurgischen Eingriffen ist die Überwachung des Therapieerfolges, d. h. die Verbesserung oder der Erhalt des neurologischen Zustandes, bei intrakraniellen Eingriffen insbesondere des Bewusstseins. Die kontinuierliche klinische Überwachung hat prä- wie postoperativ höchste Priorität. Die Notwendigkeit einer Sedierung und invasiven Beatmung muss regelmäßig evaluiert und abgewogen werden. Bei Patienten, die präoperativ nicht intubiert waren oder bei denen postoperativ die präoperativen Gründe für die Intubation wegfallen (Stabilisierung von Frakturen), sollte eine rasche Ausleitung der Narkose möglichst noch im OP angestrebt werden. Allerdings muss diese Entscheidung immer mit Rücksicht auf den Gesamtkontext der klinischen Situation (abhängig vom Operationsverlauf und der kardiopulmonalen Situation) getroffen werden. Ferner ist die Notwendigkeit einer unmittelbar postoperativ notwendigen Diagnostik (Angiographie, CT/MRT) mit dem Operateur abzuklären. Meist sind diese Untersuchungen kurz nach der Extubation durch die oftmals noch mangelnde Compliance der Patienten erschwert und daher nicht zielführend. Als Indikationen zur Nachbeatmung bzw. protrahierter Extubation auf der Intensivstation gelten intraoperative chirurgische oder kardiopulmonale Komplikationen, intrakranielle Hypertension, mögliche Hirnnervenausfälle nach Operationen am Hirnstamm (und damit Beeinträchtigung der Schutzreflexe) oder Hinweise auf einen Pneumo- oder Hämatothorax (z. B. nach Anlage eines zentralen Venenkatheters, mit der Notwendigkeit einer unmittelbaren postoperativen Röntgenkontrolle des Thorax). Die Indikation postoperativer Anfallsprophylaxe wird international sehr kontrovers diskutiert. Generell kann keine Empfehlung zur prophylaktischen Gabe von Antikonvulsiva gegeben werden [31]. Besteht präoperativ jedoch bereits ein Anfallsleiden, so muss die Medikation perioperativ unbedingt weitergeführt werden. Phenytoin ist mit einer F VIII-Hemmung assoziiert und sollte daher
bei intrakraniellen Eingriffen wegen der erhöhten Blutungsgefahr nur nach Rücksprache mit dem Operateur eingesetzt werden [32]. Die Inzidenz einer Erstmanifestation postoperativer Anfälle nach supratentoriellen Eingriffen beträgt ca. 18%, das höchste Risiko haben Patienten mit SAB nach Aneurysmaoperation, mit SHT und GCS < 10 und nach Meningeomoperation. Bezüglich Grundlagen und Möglichkeiten des zerebralen und neurophysiologischen Monitorings sei auf 7 Kap. 16 verwiesen.
Postoperative eingriffspezifische Überwachung z
Postoperative Überwachung nach supratentoriellen Eingriffen Nach supratentoriellen Eingriffen wird das Risiko einer postoperativen intrakraniellen Nachblutung mit 0,8–1,1% beschrieben. Hierbei handelt es sich meist um intraparenchymale Hämatome (43–60%), epidurale (28–33%) oder subdurale Hämatome (5–7%) [33]. Nach jedem supratentoriellen Eingriff sammelt sich serös-blutige Flüssigkeit epidural, dies sollte aber nicht zu einer Abdrängung der Dura führen (intraoperativ wird dies durch Durahochnähte am Trepanationsrand oder Mittelhochnähte der Dura im Bereich des Knochendeckels verringert). Subdurale Hämatome, die mit einer klinischen Verschlechterung einhergehen, bedürfen meist der operativen Revision. Meist erscheinen sie im CT kleiner als intraoperativ. Subdurale Hämatome außerhalb des Operationsgebietes können klinisch stumm und ohne operative Konsequenz bleiben. Sie zeigen Tendenz zur spontanen Rückbildung. Intrazerebrale Hämatome entstehen bevorzugt im Bereich von Tumoroperationen. Die Größe des Hämatoms hat Einfluss auf die perifokale Ödembildung, daher sollte eine Revision erwogen werden. Extrakranielle Nachblutungen treten in bis zu 11% der Fälle auf. In der Regel wird bei einer Standardtrepanation ein subgaleales Redon für 24 h eingelegt. In den ersten 4 postoperativen Stunden sollte die Fördermenge 100 ml nicht überschreiten. Subdurale Hygrome, meist frontotemporoparietal, werden bei 17% der Patienten nach supratentoriellen Eingriffen beobachtet. Charakteristischerweise treten Kopfschmerzen ca. 1 Woche postoperativ auf. Ohne Vigilanzminderung oder Mittellinienverlagerung ist initial die Gabe von Analgetika oder Steroiden möglich, in Durch das geringe Reservevolumen der hinteren Schädelgrube führen raumfordernde postoperative Blutungen viel schneller zu Komplikationen als supratentoriell lokalisierte Raumforderungen.
Während supratentorielle Prozesse auch klinisch durch Störung von Bewusstsein oder Pupillomotorik, aber auch durch fokal neurologische Symptome und ICP-Anstieg auffällig werden, fehlt dies als »Warnsymptomatik« bei infratentoriellen Prozessen, es droht das unvermittelte Auftreten einer lebensbedrohlichen Symptomatik. Da Raumforderungen in der hinteren Schädelgrube häufig mit Liquorabflussstörungen einhergehen, ist eine Ventrikeldrainage meist sinnvoll. Der gemessene Druck ist jedoch nicht repräsentativ, da oft keine freie Kommunikation supra- und infratentoriell möglich ist. Postoperative Ausfälle insbesondere der Hirnnerven III–XII sind nach infratentoriellen Eingriffen möglich. Augenmuskelparesen beispielsweise können nach Läsionen der Nn. III, IV und VI, aber auch nach Schädigung der Hirnnervenkerne oder des Fasciculus longitudinalis medialis resultieren. Eine differenzierte neurologische Untersuchung ist essenziell. Hervorzuheben sind Schäden des N. vagus: Durch einen unvollständigen Glottisschluss sind stille Aspirationen mit pneumonischen Komplikationen möglich. Ferner gehen Schäden von Nn vagus und glossopharyngeus mit einer Beeinträchtigung der pharyngealen und trachealen Schutzreflexe einher. Im Rahmen der Narkoseausleitung sind letztere Kriterien unmittelbar postoperativ nicht immer suffizient zu beurteilen und eine protrahierte Extubation auf der Intensivstation daher ratsam. z
Postoperative Überwachung nach Eingriffen im Bereich der Mittellinie Eingriffe im Bereich der Mittellinie betreffen meist Hypothalamus, Hypophyse oder 3. Ventrikel. Häufig sind hierbei Adenome, die funktionell in hormonell inaktive und hormonell aktive Tumoren (Wachstumshormon, Prolaktin, ACTH, LH, FSH, TSH) unterteilt werden. Hormonell inaktive Adenome führen zu einer Hypophysenvorderlappeninsuffizienz und zu einer Kompression der Sehbahn. Hormonell aktive Tumore gehen mit spezifischen Krankheitsbildern und einer erhöhten Mortalität einher, z. B. M. Cushing, Akromegalie oder Störung der ADH-Freisetzung mit konsekutiver Störung des Natrium- und Wasserhaushaltes (7 Abschn. 78.2.1 »Zentrale Regulationsstörungen«). Bei Aufnahme auf die Intensivstation ist die Kenntnis der präoperativen klinischen und endokri-
nologischen Situation sowie der präoperativen Substitutionstherapie essenziell. > Wichtig sind stündliche Visuskontrollen: Sekundärer Visusverlust und retroorbitale Kopfschmerzen sind alarmierende Hinweise auf eine Nachblutung. Wie bei allen intrakraniellen Eingriffen ist postoperativ die stündliche Kontrolle von Bewusstsein, Pupillenreaktion und Motorik indiziert.
Bezüglich der medikamentösen hormonellen Therapie sei auf weiterführende fachspezifische Literatur sowie 7 Abschn. 78.2.1 (»Zentrale Regulationsstörungen«) verwiesen. Hervorzuheben ist, dass im Rahmen einer Hypophysenunterfunktion eine Hypothyreose erst nach einigen Tagen postoperativ laborchemisch messbar ist, eine Nebennierenrindeninsuffizienz durch die kurze Halbwertszeit des freien Hormons hingegen rasch zu dramatischen Folgen führen kann. Bei der Substitutionstherapie mit Hydrokortison nach Schema gilt es, einen erhöhten Tagesbedarf durch perioperativen Stress, Fieber oder Infektionen zu beachten. Bei der postoperativen Betreuung von Patienten mit Morbus Cushing muss Augenmerk auf bestehende Immunsuppression mit erhöhter Rate an Pneumonien und Meningitis sowie auf die Komplikationen durch Diabetes mellitus, Hyperkoagulabilität, Kapillarfragilität und gastrointestinale Ulzera gelegt werden. Bei Akromegalie stehen neben Organkomplikationen respiratorische Einschränkungen und Intubationsschwierigkeiten im Vordergrund. Weitere Komplikationen nach Eingriffen im Bereich der Schädelbasis sind Liquorfisteln mit entzündlichen Komplikationen wie Hydrocephalus hypersecretorius oder Meningitis (1–3%). Bei Blutkontamination im 3. Ventrikel nach transventrikulären Eingriffen am/in der Nähe des Hypothalamus wird die sog. hypothalamische Hyperthermie beschrieben (Diagnose: Ausschlussverfahren und mikrobiologische Liquoruntersuchung). Hypothalamische Läsionen können eine charakteristische Trias aus Hyperthermie, Hypernatriämie und Koma bedingen und sind dann mit einer schlechten Prognose assoziiert. z
Postoperative Überwachung nach epilepsiechirurgischen Eingriffen Epilepsiechirurgie umfasst im wesentlichen 3 Therapieformen: 4 Resektion des epileptogenen Gewebes (v. a. temporal), 4 funktionelle Verfahren (Dekonnektion, funktionelle Hemisphärektomie) und 4 stimulierende Verfahren (z. B. Tiefenhirnstimulation). Fazit Generell sollten alle Patienten nach Kraniotomien mindestens 12 h intensivmedizinisch überwacht werden. Spezielle postoperative Komplikationen sind abhängig von Verfahren und operativem Zugangsweg: Seh- und Sprachstörungen, kontralaterale Hemiparese, Verschlusshydrozephalus, Störungen der Pupillomotorik und psychiatrische Komplikationen, ferner Blutungen und Infektionen.
Spezielle Aspekte: postoperative Infektionen und Meningitis Bei intrakraniellen Infektionen handelt es sich meist um sekundäre bakterielle Meningitiden nach intrakraniellen Eingriffen, als Komplikationen eines (offenen) SHT (offene Impressionsfrakturen, Schädelbasisfrakturen mit Liquorfisteln, Nasennebenhöhlenverletzungen mit Inokulation von Keimen des Nasen-Rachen-Raums) oder Folge externer Drainagen. Die beiden wichtigsten Risikofaktoren sind peri- bzw. postoperative Liquorfisteln und die Notwendig-
1013 78.3 · Spezielle Aspekte der neurochirurgischen Intensivmedizin
keit von Revisionseingriffen. Präoperative Antibiotikaprophylaxe konnte bei neurochirurgischen Patienten zwar die Rate an Hautinfektionen, nicht jedoch die Rate an tiefergelegenen Infektionen senken [34]. Das mikrobielle Spektrum beinhaltet häufig Keime des NasenRachen-Raums oder typische Krankenhauskeime (Pneumokokken, Meningokokken, Gruppe-B-Streptokokken, Listeria monocytogenes, Staphylokokken und gramnegative Enterobakterien). Die klassischen Symptome einer Meningitis sind Kopfschmerzen, Erbrechen, Nackensteife, Fieber, sekundäre Bewusstseinseintrübung, Krampfanfälle oder fokal neurologische Defizite. ! Cave Die bakterielle Meningitis ist ein absoluter Notfall: Der meist schwere Verlauf erfordert eine extrem rasche Diagnostik und Therapie. Durch den geringen Gehalt an Immunglobulinen und Komplementfaktoren im Liquor führen septische Kontaminationen zu dramatischen mikrobiellen Proliferationen.
Besteht der Verdacht, sollte binnen 1 h die Antibiotikatherapie begonnen werden – eine Verzögerung des Therapiebeginns um mehr als 3 h nach Krankenhausaufnahme ist mit einem signifikant schlechteren Outcome assoziiert und muss vermieden werden [35]. Noch am Aufnahmetag muss eine bildgebende Diagnostik durchgeführt werden, in der Regel ein Schädel-CT mit Knochenfenster, auch um differenzialdiagnostisch einen Abszess oder ein Empyem bzw. andere Ursachen einer Raumforderung (z. B. Hydrozephalus) auszuschließen. Eine Lumbalpunktion (Cave: erhöhter ICP und schlechter Gerinnungsstatus bei Sepsis) und die Abnahme von Blutkulturen sind obligat. Pathognomonische Liquorbefunde für eine bakterielle Infektion sind trüber Liquor mit einer Pleozytose von >1000 Zellen/ mm3), erhöhter Eiweißgehalt (>100 mg/dl) und erniedrigter Glukosegehalt ( Nach dem Infektionsschutzgesetz besteht Meldepflicht bei laborchemischem Nachweis von N. meningitidis, Listeria monocytogenes und Haemophilus influenzae in Blut oder Liquor.
Nach Therapiebeginn sollte die Fokussuche komplementiert werden, durch z. B. eine HNO-ärztliche-Konsiliaruntersuchung oder CT/MRT (parameningeale Entzündungsherde: Sinusitis). Mögliche CCT-Befunde bei bakterieller Meningoenzephalitis sind: 4 Hirnschwellung (Hirnödem; Hirnvolumenzunahme bei Sinus-/Venenthrombose), 4 Hydrozephalus, 4 Infarkte (bei zerebraler Vaskulitis oder septisch-embolischer Herdenzephalitis oder Stauungsinfarkte bei Sinus-/Venenthrombose), 4 intrazerebrale Blutung (bei Verbrauchskoagulopathie; Stauungsblutung bei Venenthrombose), 4 Zerebritis, 4 Ventrikulitis, 4 Hirnabszess, 4 subdurales Empyem (mit sekundärer Meningitis) oder parameningeale Infektionsherde im Knochenfenster (Sinusitis, Mastoiditis). Ebenfalls relevant bei der Diagnostik zerebrovaskulärer Komplikationen sind: MRT, TCD, Audiometrie oder akustisch evozierte Hirnstammpotenziale. Bei der intensivmedizinischen Versorgung müssen auch extrakranielle Komplikationen der bakteriellen Meningitis, v. a. in der Akutphase, erkannt und therapiert werden. Im Vordergrund stehen 4 septische Organkomplikationen, 4 Elektrolytstörungen (insbesondere SIADH, zerebrales Salzverlustsyndrom, zentraler Diabetes insipidus), 4 Sehstörungen (zerebrale Vaskulitis), 4 Hörminderungen, aber auch 4 spinale Komplikationen (Myelitis, spinale Vaskulitis). Ein erhöhter intrakranieller Druck muss entsprechend therapiert und ggf. eine externe intraventrikuläre Liquordrainage gelegt werden (ICP-Messung, Entlastung eines Hydrozephalus). Für die arteriellen zerebralen Gefäßkomplikationen (Arteriitis, Vasospasmus) gibt es bislang keine gesicherten Therapieoptionen. Eine PTTwirksame Heparinisierung ist bei septischen Sinus-sagittalis- oder Sinus-cavernosus-Thrombosen oder kortikalen Venenthrombosen indiziert. Bei Pneumokokken- und Listerienmeningitiden beträgt die Letalität 20–40%; bei Meningokokkenmeningitiden 3–10% [38]. Neurologische Residuen (insbesondere Hörstörungen, neuropsychologische Auffälligkeiten, Hemiparese, epileptische Anfälle, seltener Ataxie, Hirnnervenparesen und Sehstörungen wie z. B. homonyme Hemianopsie) werden bei 20–40% aller Patienten nach bakterieller Meningitis beschrieben. Differenzialdiagnostisch gilt es, andere Ursachen einer Meningitis abzugrenzen, z. B. 4 Pilzmeningitis (viral oder aseptisch), 4 postoperatives aseptisches Meningismussyndrom nach Eingriffen an der hinteren Schädelgrube bei 30% aller Kinder mit typischem Liquorbefund einer bakteriellen Meningitis (die Diagnose erfolgt durch negativen mikrobiologischen Nachweis, die Therapie mit Glukokortikoiden).
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4 tuberkulöse Meningitis, 4 parameningeale Eiterherde, 4 intrakranielle Abszesse (Hirnabszess, subdurales Empyem, epiduraler Abszess), 4 spinale Abszesse, 4 Neuroborreliose. Wegweisend sind in der Regel Klinik (Exposition, Hauteffloreszenzen), mikrobiologischer Keimnachweis in Blutkultur oder Liquor (Grampräparat, Antigennachweis mit der Latexagglutinationsmethode, PCR, Kultur) oder Procalcitonin-Bestimmung (bei der Differenzialdiagnose zwischen bakteriell und viral). Bezüglich Diagnose und Therapie anderer Ursachen einer Meningitis muss auf 7 Kap. 54 (»Infektionen des ZNS«) sowie auf weiterführende Fachliteratur und Leitlinien verwiesen werden.
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Kapitel 78 · Intensivtherapie nach neurochirurgischen Eingriffen
Intrakranielle Blutung
Die differenzierte Betrachtung intrakranieller Blutungen lässt eine Einteilung nach ihrer Lokalisation (epidurale, subdurale, subarachnoidale und intrazerebrale Blutungen) oder gemäß dem zugrundeliegenden Pathomechanismus (spontane versus traumatische Blutung) zu. Nicht selten treten kombinierte Blutungen auf. Epi- und subdurale Blutungen sind meist traumatischer Genese (7 Kap. 68: »Schädel-Hirn-Trauma«). Dieses Kapitel thematisiert intrazerebrale (ICB) und subarachnoidale Blutungen (SAB).
Typisch für die ICB ist die Entstehung eines perifokalen Hirnödems, meist innerhalb der ersten 24–48 h nach dem initialen Blutungsereignis und mit einer maximalen Ausbreitung oftmals nach 1 Woche. Die zugrundeliegende Pathophysiologie ist noch nicht hinreichend erklärt, am ehesten vermutet man eine entzündliche oder ischämische Genese, ferner immunologische Phänomene oder exzitatorische Transmitter (v. a. Glutamat, im Rahmen von Apoptosephänomenen). Das klinische Korrelat sind sekundäre klinische Verschlechterungen. Tierexperimentelle Therapieansätze umfassen NMDA-Rezeptor-Antagonisten, Kalziumantagonisten, hyperbaren Sauerstoff oder Immunsuppressiva. Eine frühe chirurgische Hämatomentlastung scheint die Entwicklung des perifokalen Ödems zu verringern. Eine Therapieempfehlung für Kortikosteroide analog zum perifokalen Ödem bei intrazerebralen Tumoren existiert nicht. Die Symptomatik der ICB hängt von der anatomischen Lokalisation und der Größe der Blutung ab, tritt aber meist rascher ein als beim ischämischen Ereignis, das hier die wichtigste Differenzialdiagnose darstellt. Daher muss vor Therapiebeginn mit Antikoagulanzien bei Verdacht auf ein ischämisches Ereignis unbedingt eine Blutung durch bildgebende Verfahren ausgeschlossen werden. Sowohl bei der Akutversorgung als auch bei der intensivmedizinischen Therapie stehen neben einer differenzierten neurologischen Diagnostik im Vordergrund: 4 Sicherung der Vitalparameter, 4 Gerinnungsdiagnostik und ggf. hämostatische Therapie, 4 Blutdruckmanagement sowie 4 Prävention und Therapie von Sekundärkomplikationen.
Intrazerebrale Blutung (ICB) Einer spontanen intrazerebralen (Massen)Blutung (hämorrhagischer Apoplex) liegt häufig eine hypertensive Vasopathie zugrunde, aber auch Gerinnungsstörungen (meist im Rahmen einer Antikoagulanzientherapie), Aneurysmen, zerebrale Amyloidangiopathie, Tumoren/Metastasen, Stauungsblutungen bei Venen- oder Sinusthrombose, Vaskulitis oder andere Gefäßanomalien wie Angiome, AV-Malformationen, Durafisteln und Kavernome. Es gibt nur eine geringe Anzahl randomisierter kontrollierter Studien zur Therapie der ICB, sodass bislang auch nicht die Wirksamkeit von verschiedenen Behandlungsstrategien nachgewiesen werden konnte. Auch konnte trotz Verbesserungen im Bereich der Akutversorgung von Schlaganfallpatienten und der intensivmedizinischen Versorgung keine signifikante Verbesserung der Mortalität nach ICB erzielt werden [39]. Die ICB hat eine ungünstige Prognose: 50% der Patienten sterben, meist innerhalb der ersten 30 Tage. Die akute raumfordernde Wirkung der Blutung einerseits und diejenige sekundärer Effekte (perifokales Hirnödem oder Liquorzirkulationsstörungen) können neben der lokalen Gewebedestruktion zu einem kritischen ICPAnstieg mit Gefahr der transtentoriellen Herniation führen. Eine sekundäre Verschlechterung kann durch letztere sekundäre Effekte, aber auch durch eine erneute Blutung in den ersten Tagen, v. a. in den ersten 6 h, bedingt sein und ist ein prognostisch ungünstiges Zeichen für ein schlechtes Outcome. > Meist ist die Blutungszunahme unmittelbar nach der Diagnosestellung am größten. Dieses Wissen ist von großer Relevanz, da genau in dieser kritischen Phase Patienten sehr häufig im Rahmen der Diagnostik transportiert, gelagert und von wechselndem ärztlichem Personal betreut werden. Genau in dieser Phase ist es wichtig, eine kontinuierliche neurologische Überwachung und intensivmedizinische Versorgung zu gewährleisten.
Bislang gibt es keine verbindlichen Richtlinien hinsichtlich des Blutdruckmanagements. Es herrscht jedoch die allgemeine Annahme, dass eine zu rasche und starke Blutdrucksenkung v. a. bei großen Blutungen vermieden werden sollte, um einen ausreichenden zerebralen Perfusionsdruck zu gewährleisten. In der Akutphase empfehlen die aktuellen Richtlinien der American Stroke Association [40, 41] eine aktive Blutdrucksenkung erst bei Werten >200 mm Hg systolisch (MAP >150 mm Hg). Ohne Hinweise auf eine ICP-Erhöhung kann dann der systolische Blutdruck unter Werte von 160–180 mm Hg eingestellt werden, sonst nur unter Hirndruckmonitoring. Alle Richtlinien beruhen bislang auf Konsens und nicht auf wissenschaftlicher Evidenz. Der Vorteil der ICP-Messung bei intrazerebraler Blutung konnte bislang nicht belegt werden. Die begleitende sympathikoadrenerge Stressreaktion verkompliziert die Blutdruckeinstellung. Zur medikamentösen Therapie eignen sich in der Initialphase gut steuerbare Substanzen wie z. B. Urapidil und Clonidin, alternativ auch β-Blocker. Vasodilatanzien wie Nifedipin, Nitroglycerin oder Nitroprussid können im Rahmen der Akutversorgung in der Notaufnahme oder durch den Notarzt verwendet werden. Danach gelten sie wegen möglicherweise ICPerhöhender Wirkung als 2. Wahl. Patienten mit einer ICB müssen engmaschig überwacht werden (Stroke Unit). Bei bereits bestehender Vigilanzminderung oder ausgedehnten Befunden ist die Aufnahme auf eine Intensivstation indiziert. Es gilt zu beachten, dass sekundäre Verschlechterungen häufig und mitunter erst nach einigen Tagen auftreten, sodass von einer frühzeitigen Rückverlegung auf eine Normalstation Abstand genommen werden sollte, insbesondere bei Hinweisen im CT auf eine Liquorzirkulationsstörung. Der Hydrocephalus obstructivus stellt eine häufige Komplikation intrazerebraler Blutungen dar, entweder durch Kompression der Liquorabflusswege durch den raumfordernden Prozess selbst oder durch intraventrikuläres Blut. Die Indikation zur Anlage einer externen Ventrikeldrainage oder eines Shunts muss mit den Kollegen
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der Neurochirurgie diskutiert werden, ebenso die Indikation zur chirurgischen Hämatomausräumung. Bislang existieren keine evidenzbasierten Empfehlungen. Die Konsensusrichtlinien der American Heart Association sprechen sich nur bei Kleinhirnblutungen >3 cm Durchmesser mit neurologischer Beeinträchtigung oder Liquorabflussstörungen bzw. Hirnstammkompression für eine sofortige Hämatomausräumung aus; ein möglicher Benefit wird ebenfalls bei lobären Blutungen Pathognomonisch ist der plötzliche diffuse Vernichtungskopfschmerz. Noch charakteristischer als seine Intensität ist das perakute Auftreten mit Erreichen des Schmerzmaximums binnen weniger Sekunden. 2/3 der Patienten zeigen eine verminderte Bewusstseinslage bei Aufnahme. Andere typische Erstsymptome sind Übelkeit, Erbrechen, Nackensteife und Krampfanfälle.
Bei immerhin 30% wird allerdings die Diagnose im Rahmen der Erstabklärung nicht gestellt. Sehr häufig werden retrospektiv sog. Warnblutungen, d. h. kleinere Blutungsereignisse, beschrieben. Fokal neurologische Symptome im Sinne von Frühwarnzeichen sind eher selten, aber bei Aneurysmen im Bereich der A. carotis interna mit Affektion des N. occulomotorius durch Sehstörungen möglich. Die prognostisch bedeutsame Klassifikation des klinischen Schweregrades erfolgt nach den Skalen von Hunt u. Hess [20] oder der World Federation of Neurological Surgeons [21] (7 Abschn. 78.2.2 »Neurologische Beurteilung« sowie . Tab. 78.2 und . Tab. 78.3). 10–15% der Patienten sterben noch vor Erreichen der Klinik. Die 30-Tages-Letalität inklusive Prähospitalphase beträgt 45–50%. Oberste Priorität bei der Diagnostik hat das CT mit einer sehr hohen Sensitivität bereits am 1. Tag. Beim Nachweis einer SAB muss
zur Lokalisation der Blutungsquelle eine DSA (zerebrale Angiographie) erfolgen; in 25% der Fälle finden sich auch multiple Aneursymen. Die verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten und -risiken sollten interdisziplinär diskutiert werden. An dieser Stelle werden nur einige Grundgedanken formuliert, für detaillierte Angaben wird auf die weiterführende fachspezifische Literatur verwiesen. Für die Aneurysmaausschaltung sind derzeit 2 Verfahren etabliert: 4 endovaskuläres Coiling und 4 mikrochirurgisches Clipping. Die prospektiv randomisierte, multizentrische ISAT-Studie [42, 43] schlussfolgert, dass zumindest bei SAB-Patienten, für die klinisch und angiographisch nach neurochirurgischer und neuroradiologischer Meinung beide Verfahren in Frage kommen, das Coiling die besseren klinischen Langzeitergebnisse liefert. Der OutcomeVorteil bleibt über mindestens 7 Jahre bestehen und wird auch nicht durch die in der Coiling-Gruppe häufiger auftretenden SABRezidive und Reinterventionen zunichte gemacht [44, 45]. In die ISAT-Studie wurden im Rahmen des »uncertainty principle« v. a. Patienten in relativ gutem neurologischem Zustand (88% WFNSGrade 1–2) und mit relativ kleinen Aneurysmen (92% 160 mm Hg sollten vermieden werden. Oberstes Ziel ist die Aufrechterhaltung eines
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Kapitel 78 · Intensivtherapie nach neurochirurgischen Eingriffen
adäquaten zerebralen Perfusionsdruckes (CPP=MAP–ICP). Bei Normotonikern scheint ein MAP von 70–80 mm Hg ausreichend, bei primär komatösen Patienten mit Hypertonus wird ein MAP von 60–90 mm Hg nahegelegt, um zerebrale Ischämien zu vermeiden. Die Inzidenz an Nachblutungen hat durch die zunehmende Praxis an Frühoperationen innerhalb der ersten 72 h und der Möglichkeit des frühen endovaskulären Aneurysma-Coilings deutlich abgenommen. z Hydrozephalus Die klinische Symptomatik eines Hydrozephalus entspricht derjenigen einer intrakraniellen Druckerhöhung: Kopfschmerzen, Erbrechen, Müdigkeit, zunehmende Vigilanzminderung bis hin zur Bewusstlosigkeit. Bezogen auf das zeitliche Auftreten unterscheidet man einen akuten (binnen der ersten 3 Tage), einen subakuten (nach 4–13 Tagen) und einen chronischen (ab 14 Tage) Hydrozephalus. Bei bis zu 25% aller Patienten mit SAB ist bereits im AufnahmeCT ein akuter Hydrozephalus apparent, allerdings wird dies nur bei 40% der Betroffenen klinisch symptomatisch. Ein akuter Hydrozephalus führt nicht in jedem Fall zu einem chronischen Verlauf: Bei 14–21% aller SAB-Patienten wird die Indikation für einen ventrikuloperitonealen Shunt gestellt. Das Risiko hierfür ist abhängig von: Lebensalter, WFNS-Grad, Hydrozephalus bei Aufnahme und Art der Aneurysmaausschaltung. Bei endovaskulärer Versorgung ist signifikant häufiger eine dauerhafte Liquorableitung notwendig als bei chirurgischer. Als Therapie der Wahl bei der Akutversorgung gilt die Anlage einer externen Ventrikeldrainage. Sie dient sowohl der Hirndruckmessung und Liquoranalyse als auch der Drainage von blutigem Liquor aus dem Subarachnoidalraum. Letzteres wird als therapeutische Maßnahme diskutiert, aufgrund einer signifikanten Korrelation zwischen subarachnoidaler Blutmenge und Inzidenz eines symptomatischen Vasospasmus. z Akut fokales neurologisches Defizit (AFND) Akute fokal neurologische Defizite beschreiben neurologische Defizite, die sich akut binnen weniger Stunden als direkte Folge einer SAB oder der Aneurysmaversorgung präsentieren. Ein AFND geht mit einer schlechten Prognose einher, begründet durch die Beobachtung, dass die häufigste Ursache (intrazerebrale Blutung nach Aneurysmaruptur in 20–40%) mit schweren neurologischen Beeinträchtigungen vergesellschaftet ist. Operativ oder interventionsbedingte Ursachen sind Clip-Stenosen mit konsekutiver territorialer Ischämie, thrombotisch bedingte Gefäßstenosen oder Coiling-assoziierte Gefäßkomplikationen. Postoperativ oder postinterventionell sollte daher umgehend eine neurologische Untersuchung, möglichst am wachen Patienten, durchgeführt und bei Verdacht auf ein neu aufgetretenes neurologisches Defizit zügig eine diagnostische Abklärung (CT-Angiographie, Kontrollangiographie) veranlasst werden. Differenzialdiagnostisch sind v. a. Vasospasmen, Hydrozephalus oder Meningitis abzugrenzen. z Vasospasmen Vasospasmen treten zwischen dem Tag 4 und 14 nach dem initialen Blutungsereignis auf. Verengungen der subarachnoidalen Arterien führen konsekutiv zu regionalen zerebralen Perfusionsminderungen und damit v. a. bei eingeschränkter zerebraler Autoregulation zu »verzögerten ischämischen neurologischen Defiziten« (»delayed ischemic neurological deficit«; DIND). Aufgrund des verminderten Nachblutungsrisikos infolge der Frühversorgung gelten Vasospasmen als die Hauptkomplikation nach SAB. Sie sind bei fast 75% aller
betroffenen Patienten angiographisch nachweisbar, jedoch nur bei 30% klinisch apparent als DIND. Die Symptomatik ist jeweils abhängig vom Versorgungsgebiet der betroffenen Gefäße (A. cerebri anterior: Antriebsminderung, hirnorganisches Psychosyndrom; A. cerebri media: kontralaterale Hemisymptomatik, ggf. Sprachstörungen) und kann blutdruckabhängig reversibel sein. Das Risiko steigt mit der Menge subarachnoidalen Blutes (CCT, Einteilung gemäß Fischer-Skala). Als zusätzlich begünstigende Faktoren werden Hypovolämie in der postoperativen Phase und Hyperglykämie angesehen. Als wichtigste diagnostische Maßnahme zur Früherkennung und Verlaufsbeurteilung, v. a. bei bewusstseinsgetrübten Patienten, gilt die transkranielle Dopplersonographie (Anstieg der mittleren Blutflussgeschwindigkeit >200 cm/s bzw. signifikanter Anstieg >ca. 50% im Verlauf, Nachteil: keine kontinuierliche Messmethode; 7 Kap. 16: »Zerebrales Monitoring, neurophysiologisches Monitoring«). In letzter Zeit nimmt hier auch die zerebrale Mikrodialyse einen zunehmenden Stellenwert ein. Die Diagnose »symptomatischer Vasospasmus« kann aber nicht allein durch Messbefunde, sondern immer nur im Zusammenhang mit einer neurologischen Verschlechterung gestellt werden. Erst dann besteht die Indikation zum Beginn einer Triple-H-Therapie. Therapie des Vasospasmus. Die Triple-H-Therapie (arterielle Hypertension, Hypervolämie und Hämodilution) gilt derzeit als Behandlung der Wahl bei symptomatischem Vasospasmus [46]. Die Effektivität der Triple-H-Therapie ist jedoch bisher nicht in prospektiven, kontrolliert randomisierten Studien bewiesen, und auch ihre Durchführung variiert stark. So ist unklar, welchen Anteil Hämodilution und Perfusionssteigerung am Therapieerfolg haben. Im klinischen Alltag zeigt sich jedoch, dass sich ischämische Symptome mildern oder voll reversibel sind, wenn frühzeitig innerhalb von Stunden nach Auftreten eines DIND mit der Therapie begonnen wird. Die Prophylaxe vasospasmusbedingter ischämischer neurologischer Defizite und Hirninfarkte erfolgt mittels oraler Gabe des Kalziumantagonisten Nimodipine (Nimotop) (6-mal 60 mg/Tag für 21 Tage). Die intravenöse Gabe ist nicht wirksamer als die perorale, hat ein höheres Risiko einer Hypotonie, und die Datenlage ist hier nicht ausreichend. Eine suffiziente Blutdruckerhöhung hat Priorität vor Nimodipingabe. In einem Cochrane-Review fand sich eine signifikante Senkung der Häufigkeit verzögerter ischämischer neurologischer Defizite (»number needed to treat«; NNT=20) [47]. Sie beruht aber v. a. auf einer großen Nimodipin-Studie. Die Mechanismen bleiben jedoch unklar. Die Wirkung resultiert eher aus einer Erhöhung der Ischämietoleranz (Neuroprotektion) und der Verbesserung der pialen Kollateralisierung als einer direkten Beeinflussung des Vasospasmus. Patienten in schlechtem klinischem Zustand (Schweregrade nach Hunt u. Hess 4–5), die das höchste Risiko eines Vasospasmus aufweisen, sind in den existierenden Studien nicht ausreichend repräsentiert. Da die Wirksamkeit von zermörserten Tabletten, die über die Magensonde verabreicht werden, eingeschränkt ist (Angabe des Herstellers) und der positive Effekt für intravenöses Nimodipin nicht ausreichend belegt ist, muss für diese Patientengruppe die Behandlungsempfehlung relativiert werden. Die prophylaktisch induzierte Triple-H-Therapie hat weder Einfluss auf die Inzidenz und die Ausprägung eines symptomatischen Vasospasmus noch auf das Outcome der Patienten und wird nicht empfohlen. Einer Hypovolämie hingegen muss unbedingt entgegengewirkt und eine Normovolämie aufrechterhalten werden. Antihypertensive Pharmaka sollten aus diesem Grunde zurückhaltend eingesetzt werden, v. a. da bei Patienten mit symptomatischem Vasospasmus sehr häufig die zerebrale Autoregulation gestört und
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die zerebrale Perfusion somit vom arteriellen Blutdruck abhängig ist. Zur Kontrolle des Therapieziels »Hypervolämie« und zur Vermeidung von Organkomplikationen unter Therapie [Lungenödem, kardiopulmonale Dekompensation) ist ein angepasstes intensivmedizinisches Monitoring notwendig (zentralvenöser Druck, Flüssigkeitsbilanz, Körpergewicht, kontinuierliches hämodynamische Monitoring mittels transpulmonaler Thermodilution und arterieller Pulswellenanalyse (PiCCO, TEE, pulmonalkapillärer Verschlussdruck). In spezialisierten Zentren besteht die Möglichkeit, Vasospasmen endovaskulär zu behandeln mittels transluminaler Ballondilatation und intraarterieller Gabe vasodilatatorischer Substanzen. Die Ballondilatation kann insbesondere bei frühzeitigem Einsatz innerhalb von 2 h nach Auftreten eines DIND enggestellte Gefäßsegmente effektiv und anhaltend aufweiten und damit die neurologische Symptomatik verbessern. Die Methode ist aber für distale Gefäßabschnitte und diffuse Spasmen weniger geeignet. Bislang fehlen kontrollierte Studien zum neurologischen Outcome. Komplikationen treten in ca. 5% der Fälle auf, sind dann aber besonders schwerwiegend (Gefäßdissektion, -ruptur). Die intraarterielle Gabe von Kalziumantagonisten oder von Papaverin kann auch distale Segmente oder langstreckige Spasmen erreichen, ist dafür aber von zeitlich begrenzter Wirkung (ca. 3 h). Erfahrungen mit dieser Behandlung haben den Charakter von Fallberichten. Weitere Forschungsansätze zur Reduktion des Risikos verzögerter ischämischer Defizite (DIND) umfassen: Statintherapie (Pravastatin 40 mg/Tag) in den ersten 3 Tagen, intravenöse Magnesiumbehandlung und selektive ETA-Rezeptor-Antagonisten. Allerdings kann bislang keine generelle Handlungsempfehlung gegeben werden [48]. Ein weiterer erfolgversprechender Ansatz zur Prophylaxe des Vasospasmus ist die Implantation von »slow-release pellets« intrazisternal während der operativen Aneurysmaversorgung, die den vasodilatierenden Wirkstoff (z. B. Nicardipine) kontinuierlich über einen Zeitraum von 2–3 Wochen freisetzen. Neurologische Komplikationen Meningitis. Hier sei auf 7 Abschn. 78.3.1 (»Spezielle Aspekte: postoperative Infektionen und Meningitis«) verwiesen. Die klassischen Symptome einer Meningitis finden sich auch als Reizreaktion auf subarachnoidales Blut, dies wird dann als aseptische Meningitis bezeichnet. Die Inzidenz für eine bakterielle Meningitis liegt bei 6–22%. Sie steigt mit der Liegedauer einer Liquordrainage >15 Tage sowie bei einer Liquorfistel oder Katheterobstruktion (z. B. durch einen Blut-Clot), jedoch nicht mit dem Vorhandensein von Blut im Liquor oder einer ICB. Da in den ersten Tagen nach Anlage einer externen Ventrikeldrainage das Meningitisrisiko niedrig ist und häufige Liquorabnahmen das Infektionsrisiko erhöhen können, wird eine seltenere Liquorabnahme (z. B. 2-mal in der 1. Woche und täglich ab jedem weiteren Tag) empfohlen. Die externe Ventrikeldrainage sollte insbesondere bei abzusehender längerer Drainagepflichtigkeit frühzeitig (z. B. nach 7 Tagen) gewechselt werden bzw. in eine lumbale Drainage umgewandelt werden, was allerdings nicht immer effektiv ist, da über die lumbale Drainage häufig keine ausreichend hohe Drainagemenge zu realisieren ist. z Krampfanfälle und intrakranielle Hypertension Krampfanfälle werden bei bis zu 26% der Patienten mit aneurysmatischer SAB beobachtet, insbesondere in Zusammenhang mit der Blutung bei linksseitigem Mediaaneurysma. Die Routine-EEG-Diagnostik hat einen großen Stellenwert, insbesondere zum Ausschluss eines nonkonvulsiven Status epilepticus. Bei der SAB wird auch das Auftreten einer sog. »cortical spreading
depression« als Ursache einer neurologischen Verschlechterung bzw. DIND diskutiert. Zum Thema intrakranielle Hypertension sei auf 7 Kap. 49 (»Erhöhter intrakranieller Druck«) verwiesen. Nicht neurologische Komplikationen Neurogen-extrazerebrale Organfunktionsstörungen nach SAB betreffen v. a. das kardiopulmonale System (myokardiale Nekrosen, verminderte Herzauswurfleistung, neurogenes Lungenödem). z Pulmonale Komplikationen 22% der Patienten mit aneurysmatischer SAB erleiden pulmonale Komplikationen, zunehmend mit Lebensalter und Schweregrad der SAB. Dies ist dann mit einem schlechten klinisch-neurologischen Endergebnis assoziiert [49]. Nosokomiale Pneumonien, kardiogenes und neurogenes Lungenödem sowie Aspirationspneumonie sind zusammen für 85% aller pulmonalen Komplikationen nach SAB verantwortlich. Die hohe Letalität begründet sich durch die möglichen Organdysfunktionen wie ARDS, SIRS, Sepsis oder (Multi-) Organversagen. ! Cave Bei 35% der Patienten nach SAB finden sich Hinweise auf eine Herzinsuffizienz. Bei fehlender kardialer Abklärung und aggressiver Triple-H-Therapie besteht die Gefahr der kardiopulmonalen Dekompensation (Lungenödem).
z Elektrolytstörungen Oft zeitlich koinzident mit dem Vasospasmus entwickeln sich eine Natriurese, Hyponatriämie und Hypovolämie. Diese Komplikationen sind pathophysiologisch nur zum Teil verstanden (7 Abschn. 78.2.1: »Elektrolyt- und Säure-Basen-Haushalt«) und begünstigen die sekundären Ischämien. z Hyperglykämie 80–100% der SAB-Patienten weisen bei stationärer Aufnahme eine Hyperglykämie auf. Dies wird assoziiert mit einer Vielzahl extrakranieller Komplikationen wie Lungenödem, Pneumonie und schweren neurologischen Komplikationen. Bei Patienten mit hochgradiger SAB und schweren fokalen Defiziten treten Hyperglykämien im Blut bei gleichzeitig kritisch erniedrigten Hirngewebsglukosespiegeln auf. Die Methode der zerebralen Mikrodialyse kann in diesen Fällen dazu beitragen, Patienten mit zerebral ausgeschöpfter Glukoseverstoffwechselung zu identifizieren und die Insulintherapie zu optimieren, um eine zerebrale metabolische Entgleisung zu vermeiden. z Kardiale Komplikationen 35% der Patienten mit SAB weisen Zeichen einer Herzinsuffizienz auf. Besonders am 1. und 2. postoperativen Tag werden kardiale Arrhythmien (30%, davon 5% lebensbedrohlich), gefolgt von Lungenödem (23%), Veränderungen der Leberwerte (24%) sowie Nierenfunktionsstörungen (7%) beschrieben. Die Häufigkeit des Auftretens von EKG-Veränderungen korreliert mit der Menge an subarachnoidalem Blut im CT nach der Fischer-Skala und wird mit bis zu 67% angegeben (in 30% Arrhythmien). Troponin I als Marker einer Myokardschädigung ist bei 20–30% der Patienten nach SAB erhöht und wird als Prädiktor für das Auftreten pulmonaler und kardialer Komplikationen diskutiert. In der Regel ist eine Normalisierung der EKG-Veränderungen im Verlauf ohne spezifische Therapie zu beobachten.
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78.3.3
Kapitel 78 · Intensivtherapie nach neurochirurgischen Eingriffen
Schädel-Hirn-Trauma
Hier sei auf 7 Kap. 68 verwiesen, das bereits die wichtigsten Aspekte von Erstversorgung bis Beginn der Intensivtherapie, Prinzipien des Monitorings, Indikationen zur operativen Versorgung und die Basistherapie behandelt. An dieser Stelle werden nur einige Themen ergänzt bzw. hervorgehoben. Bei primär bewusstlosen Patienten oder bei Patienten, bei denen die Indikation zur Sedierung besteht, ist eine engmaschige neurologische Untersuchung essenziell. Eine neu aufgetretene Anisokorie muss dringlichst abgeklärt werden, durch bildgebende Verfahren, aber auch durch neurologische und augenärztliche Konsiliarärzte (Bulbustrauma). ! Cave Die Gabe eines Mydriatikums beim bewusstlosen Patienten stellt einen Kunstfehler dar. > 10% der Patienten mit SHT weisen eine begleitende Verletzung der Halswirbelsäule auf.
Auf Besonderheiten in Diagnostik und Therapie des Schädel-HirnTraumas bei Kindern kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden.
Zerebrale Krampfanfälle Die posttraumatische Epilepsie nach SHT ist besonders häufig bei Patienten mit Kontusionen (fokale Läsionen). Frühe zerebrale Krampfanfälle innerhalb der 1. Woche nach dem traumatischen Ereignis sind in bis zu 30% der Fälle beschrieben [26]. Die prophylaktische Gabe von Antikonvulsiva in der Frühphase nach SHT wird sehr kontrovers diskutiert, reduziert sie zwar signifikant die Inzidenz, führt jedoch nicht zur Verbesserung des neurologischen Outcome. In der Spätphase, ab 7 Tage nach SHT, treten zerebrale Krampfanfälle ebenfalls relativ häufig mit 9–42% auf. Hier konnte eine prophylaktische Gabe das Auftreten nicht signifikant verringern. Generell kann somit keine Empfehlung zur Prophylaxe ausgesprochen werden [31]. Treten allerdings Krampfanfälle auf, sollten diese therapiert werden und eine antikonvulsive medikamentöse Einstellung erfolgen. Hierbei wird die Anlehnung an die neurologischen Leitlinien zur Therapie von Epilepsie empfohlen. > Bei anhaltender Bewusstlosigkeit, Änderungen der Vigilanz oder unklaren Änderungen neurokognitiver Funktionen muss differenzialdiagnostisch ein nonkonvulsiver Status epilepticus ausgeschlossen werden (mittels EEG).
z Gerinnungsstörungen bei SHT Nach einem Schädel-Hirn-Trauma sind z. T. gravierende Gerinnungstörungen bis hin zu einer Verbrauchskoagulopathie mit DIG beschrieben. Allerdings fehlen randomisierte Studien zur Diagnostik und Therapie. Eine ausgeprägte Gerinnungsstörung gilt als Kriterium für einen prognostisch ungünstigen Verlauf durch Verzögerung der operativen Versorgung und der Aggravierung von Sekundärschäden. Im Tierexperiment finden sich Hinweise auf Aktivierung der Gerinnungskaskade, insbesondere über traumatisch freigesetztes zerebrales Gewebethromboplastin (Faktor III). Zu den weiteren möglichen Mechanismen der Gerinnungsaktivierung zählt die Aktivierung des endogenen Gerinnungssystems und der Thrombozyten durch Faktor XII nach Schädigung des Gefäßendothels; Freisetzung von Plättchenfaktoren (Phospholipiden) aus v. a. Thrombozyten, Leukozyten und Erythrozyten; Aktivierung von Zytokinen mit vermehrter Expression von Thromboplastin; Aktivierung der
Gerinnungskaskade auf verschiedenen Ebenen durch zerebrale Hypoxie, Gewebeazidose und Störungen des zerebralen Blutflusses. Die Größe der Hirnläsion scheint mit dem Ausmaß einer Gerinnungsstörung assoziiert zu sein. Zudem scheint die Lokalisation der zerebralen Gewebsverletzung eine Rolle zu spielen: So findet sich eine DIG häufiger bei Verletzung thromboplastinreicher Areale, analog häufiger bei intra- vs. extrakraniellen Verletzungen. Dem Verletzungsmuster wird ebenfalls Bedeutung zugemessen: die Verletzung großer Gefäße trägt zu einer Verlustkoagulopathie bei; bei Schussverletzungen führt die Mitbeteiligung von multiplen Gefäßen entlang des Schusskanals zu einer Störung der Blut-HirnSchranke und begünstigt damit die Einschwemmung von v. a. Gewebsthromboplastin. Studien zeigen eine signifikante Korrelation zwischen dem Ausmaß der Gerinnungsstörung (gemessen an einem sog. DIC-Score) und dem initialen GCS-Score [50]. Am häufigsten verwendet wird der sog. modifizierte DIC-Score nach Kearney [51]. Dieser umfasst 5 Parameter (Thrombozytenzahl, Prothrombinzeit, aPTT, Fibrinspiegel, D-Dimer-Spiegel) und vergibt eine Punktzahl von 0–15 (5 Punkte sind hier Indikator einer Gerinnungsstörung). Die Therapie der Gerinnungsstörung muss an den 3-Phasenartigen Verlauf der DIC angepasst werden: Gabe von Gerinnungsinhibitoren (AT III) bzw. Antifibrinolytika, Gabe von niedrig dosiertem Heparin und Substitution reduzierter Gerinnungsfaktoren.
Thromboseprophylaxe Neurotraumatologische Patienten haben ein hohes Thromboserisiko: bis zu 50% ohne Prophylaxe. Der Beginn einer Thromboseprophylaxe wird in der Regel erst ab 36 Stunden nach dem Trauma empfohlen, allerdings sind hier häufig sehr individuelle Entscheidungen zu treffen. Bei hohem Blutungsrisiko wird einer nicht PTTwirksamen i.v. Heparinisierung dem Vorzug vor NMH gegeben.
78.3.4
Rückenmarkeingriffe und -verletzungen (spinales Trauma, spinale Blutung)
Epidemiologie und Pathogenese Rückenmarkverletzungen bei Intensivpatienten sind meist traumatischer Genese, seltener handelt es sich um Patienten mit spinalen Raumforderungen, arteriovenösen Malformationen oder Hämatomen. Die Häufigkeit von Rückenmarkverletzungen wird in Industrieländern mit 50 Neuerkrankungen pro Jahr pro 1 Mio. Einwohner angegeben, die Inzidenz kompletter Querschnittslähmungen mit 10–15. In Deutschland werden ca. 1200 traumatische Querschnittslähmungen pro Jahr gemeldet, bedingt durch Verkehrs- und Arbeitsunfälle, Suizidversuche, Sport- und Badeunfälle (Beschleunigungsverletzungen, Sturz aus großer Höhe). Führend handelt es sich um Polytraumatisierte mit Begleitverletzungen an Wirbelsäule und Rückenmark, aber auch pulmonale Komplikationen bei isolierten höhergelegenen Verletzungen des Zervikalmarks bedürfen oftmals einer intensivmedizinischen Versorgung. Bei Vorliegen eines SHT weisen 10% der Patienten begleitende Wirbelsäulenverletzungen auf, meist der HWS. Verletzungen der BWS gehen häufig mit einem Thoraxtrauma einher, bei Verletzungen der LWS gilt es, eine intraabdominelle Verletzung oder ein retroperitoneales Hämatom auszuschließen [52].
Klassifikation und Erstversorgung Bei traumatischen Rückenmarkverletzungen bestimmen v. a. folgende Faktoren die weitere Diagnostik und Therapie: 4 Höhe der Verletzung,
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4 Alter und Stabilität der Fraktur sowie 4 Ausprägung der neurologischen Komplikationen und Begleitverletzungen. Hier sei auf 7 Kap. 55 (»Querschnittslähmung: Akutbehandlung und Rehabilitation«) verwiesen. > Die wesentliche Frage bei der Erstversorgung ist, ob es sich um eine stabile oder eine operativ versorgungspflichtige Wirbelsäulenverletzung handelt.
Bei Übergabe des Patienten auf die Intensivstation muss daher besprochen werden, ob es sich um eine stabile oder instabile Fraktur handelt, ob oder welche operative Stabilisierungsmaßnahmen ergriffen wurden und inwieweit eine Mobilisation des Patienten erlaubt ist. Die gleiche Sorgfalt ist bei nichttraumatischen postoperativen oder konservativen Rückenmarkpatienten anzuwenden. Mögliche Ursachen für Raumforderungen sind Hämatome, Pus (Abszesse) oder Tumoren, häufig auch Metastasen. Tumorbedingte Kompressionen entstehen selten innerhalb des Rückenmarks selbst, meist kommt es zu einer Einengung durch umgebende Strukturen. Zur Klassifikation der Wirbelsäulenverletzungen muss auf weiterführende Fachbücher verwiesen werden. Für die einzelnen Abschnitte der Wirbelsäule existieren verschiedene Einteilungen, meist mit entsprechenden Leitlinien zur Versorgung. Erwähnt seien Verletzungen der thorakolumbalen Wirbelsäule: Die häufigsten Frakturen treten am Übergang auf. Operativ versorgt müssen Kompressionsfrakturen mit komplettem Berstungsbruch (Typ A3), Distraktions- (Typ B) und Rotationsverletzungen (Typ C). Verletzungen der oberen HWS (Okziput – HWK 2) sind überproportional häufig mit anderen Wirbelsäulenverletzungen assoziiert. Im Bereich der unteren HWS sind häufig degenerative Veränderungen vorbestehend (Myelopathie, Spinalkanalstenose). In diesem Fall können bereits geringere Auslöser wie HWS-Distorsionen zu gravierenden neurologischen Komplikationen führen. Beschrieben sind auch neurologische Ausfälle ohne radiologisches Korrelat (SCIWORA: »spinal cord injury without radiographic abnormality«), oft bedingt durch transiente ligamentäre Deformationen, häufiger bei Kindern. Ziel der Erstversorgung bei vermutetem spinalem Trauma ist die rasche Sicherung der Diagnose. Im Vordergrund steht die Prävention von Sekundärschäden [53]. Bei jedem Patienten mit Mehrfachverletzung ist bis zum Beweis des Gegenteils von einer Mitbeteiligung der Wirbelsäule und/oder des Rückenmarks auszugehen. Entsprechende Vorsicht ist bei Lagerung geboten (Stiffneck, Vakuummatraze). Umgekehrt müssen bei jedem Patienten mit frischem spinalem Trauma Mehrfachverletzungen vermutet werden: SHT, Rippenfrakturen, (Spannungs-)Pneumothorax, intraabdominelle Organmitbeteiligung (Milzruptur, Leberkapselhämatom) oder z. B. Ureterenverletzung. Deshalb ist neben dem genauen neurologischen Aufnahmebefund (lokale Verletzungszeichen, Motorik, Sensibilität, Reflexstatus, Blasen-Mastdarm-Funktion, kardiopulmonaler Status) ein genaues Bild über die bereits stattgefundene Diagnostik zu erheben und diese ggf. zügig zu komplettieren (Ultraschall Abdomen, Thoraxröntgenaufnahme, konsiliarische Stellungnahmen durch z. B. Chirurgie, Urologie, Ophthalmologie). Nach der Diagnosesicherung eines spinalen Traumas ist es in der Frühphase wichtig, engmaschig neurologisch zu überwachen, um klinische Befundverschlechterungen erfassen zu können. Diesen Verschlechterungen können die Entwicklung eines spinalen Hämatoms oder das Dislozieren instabiler Frakturen zugrunde
liegen. Sie bedürfen einer weiteren Abklärung und ggf. operativen Versorgung. Für die Beschreibung des Ausmaßes einer Lähmung empfehlen sich die Skala nach Frankel et al. [54] und die Klassifikation der American Spinal Injury Association [55] (ASIA, 7 Kap. 55: »Querschnittslähmung: Akutbehandlung und Rehabilitation«; 7 Abb. 55.3). Die Einteilung nach Frankel unterscheidet nach funktionellen Kriterien 5 Schweregrade: 4 A: vollständige Lähmung, 4 B: motorisch komplette und sensibel inkomplette Lähmung, 4 C: motorisch inkomplette Lähmung ohne Funktionswert, 4 D: motorisch inkomplette Lähmung mit Funktionswert, 4 E: keine Lähmung/vollständige Erholung. Die AISA-Klassifikation basiert auf einem Punktesystem für motorische und sensible Funktionen und ist wesentlich komplexer. Beide Einteilungen eignen sich auch zur Verlaufsbeobachtung. Die Behandlung von Rückenmarkverletzungen in einem Zentrum ist nach frühestmöglicher Verlegung erstrebenswert, sowohl für die Akuttherapie als auch für die Frührehabilitation. Unter www.dmgp.at/zentren.htm findet sich eine Liste der deutschsprachigen Querschnittsgelähmtenzentren. z
Gabe von Kortikosteroiden nach akuten spinaler Traumatisierung In den Multizenterstudien NASCIS I–III (National Spinal Cord Injury Study) wurde die Wirksamkeit von Methylprednisolon nach akuten (nicht penetrierenden) Rückenmarkverletzungen analysiert. Die NASCIS-II-Studie [56] (NASCIS-II-Schema: Bolus 30 mg/ kg KG Methylprednisolon, Infusion 5,4 mg/kg KG/h über 23 h) konnte einen geringfügig positiven Effekt auf Sensorik und Motorik bis zu 6 Monate nach Trauma zeigen, nach 1 Jahr noch eine leicht verbesserte Motorik gegenüber der Kontrollgruppe. Diese positiven Effekte zeigten sich jedoch nur bei Therapiebeginn innerhalb von 8 h. Polytraumatisierte Patienten wurden nicht von der Studie ausgeschlossen, sind aber unterrepräsentiert. In der NASCIS-III-Studie zeigte sich jedoch 6 Wochen nach einem spinalen Trauma eine höhere Komplikationsrate an schwerer Sepsis und schwerer Pneumonie bei >48 h mit Methylprednisolon im Vergleich zu >24 h behandelten Patienten [57]. Alle relevanten Studien weisen methodische Schwächen auf, insbesondere bezüglich der Definition der Studienkriterien (z. B. penetrierendes vs. nicht penetrierendes spinales Trauma, isoliertes spinales Trauma vs. Polytraumatisierung), der Charakterisierung der Patientengruppen und Outcome-Parameter und schließlich dem Vorhandensein valider Kontrollgruppen. Der Arbeitskreis Neuroanästhesie der DGAI empfiehlt [58]:
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Angesichts der kontroversen Datenlage, der ungeklärten funktionell-neurologischen Endergebnisse, möglicherweise schwerer Nebenwirkungen und des Mangels eines klaren Beweises für die langfristige klinische Wirksamkeit des medikamentösen Konzeptes der Kortikosteroidtherapie bleibt die Entscheidung, Glukokortikoide nach akuter Rückenmarkschädigung zu applizieren, dem einzelnen verantwortlich Behandelnden überlassen. Der Entschluss, auf den Einsatz von Glukokortikoiden nach akuter spinaler Traumatisierung zu verzichten, kann nicht als therapeutische Unterlassung gewertet werden.
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Falls jedoch eine Therapie bei nicht penetrierenden Verletzungen erwogen wird, sollte diese frühestmöglich, aber spätestens binnen 8 h begonnen und nicht länger als 24 (–36) h fortgeführt werden.
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Kapitel 78 · Intensivtherapie nach neurochirurgischen Eingriffen
Zur Orientierung wird das in der NASCIS-II-Studie gebrauchte Dosierungsschema empfohlen. Die schlechte Datenlage zur Verwendung von Kortikosteroiden bei penetrierenden spinalen Traumata lässt keine Schlussfolgerungen oder Empfehlungen zu. Analog zu intrakraniellen Prozessen kommt den Kortikosteroiden in der Therapie spinaler Kompression bei Tumorerkrankungen eine weniger umstrittene wichtige Rolle zu. Neben einer hochdosierten Therapie mit Dexamethason kommen hier Radiotherapie und Chemotherapie zum Einsatz, in seltenen Fällen ist ein operatives Vorgehen (Tumor-Debulking und anteriore Stabilisierung, Dekompressionslaminektomie) indiziert.
Komplikationen und Langzeitverlauf Die Frühletalität von Patienten mit spinalem Trauma beträgt zwischen 4–20% und wird v. a. bestimmt durch Patientenalter, Höhe der Rückenmarkläsion und Grad der Begleitverletzungen. Verglichen mit Patienten mit thorakalen Läsionen haben Patienten mit C1- bis C3-Läsionen ein 6,6-fach, mit C4- bis C5-Läsionen ein 2,5fach erhöhtes Letalitätsrisiko in der Akutphase. Im weiteren Verlauf bestimmen Organkomplikationen das Outcome, führend sind Sepsis, Lungenembolie und Pneumonie. Kardiopulmonale Komplikationen z Kardiovaskuläre Komplikationen Neben möglichen kardiovaskulären Komplikationen erfordern häufig pulmonale Probleme eine intensivmedizinische Behandlung. Eine hämodynamische Instabilität ist häufig bei polytraumatisierten Patienten, bedingt durch den Blutverlust oder die Begleitverletzungen. Primär durch die Rückenmarkverletzung bedingte kardiovaskuläre Komplikationen der Akutphase sind der spinale Schock und bradykarde Herzrhythmusstörungen. Der sog. spinale Schock mit Hypotension, Bradykardie und Hypothermie folgt nach maximaler Vasoparalyse ohne mögliche sympathikotone Gegenregulation. Diese Phase kann Tage bis Wochen dauern. Bradykarde Herzrhythmusstörungen treten nicht selten bei hohen zervikalen Läsionen (C1–C5) innerhalb von 2 Wochen nach einem spinalen Trauma auf. Meist handelt es sich um Bradyarrhythmien oder Sinusbradykardien, ein primärer Sinusarrest wird seltener beobachtet. Häufig wird dies auch bei Patienten mit thorakalen Läsionen bei Th1–Th4 in der Akutphase beschrieben, mit Tendenz zum Abklingen nach Ende des spinalen Schocks. Bei Manipulationen am Patienten (Kopflagerung, Absaugen) ist eine erhöhte Empfindlichkeit für eine vagale Stimulation zu beachten. Bei wirkungsloser medikamentöser Stimulation (Atropin, Orciprenalin) ist ein externer Pacer und u. U. die Implantation eines permanenten Herzschrittmachers erforderlich. Bei heterogener Genese kardiovaskulärer Komplikationen ist die Therapie symptomatisch. > Oberstes Gebot ist die rasche hämodynamische Stabilisierung und Aufrechterhaltung von Normotension sowie optimaler Oxygenierung.
z Pulmonale Komplikationen Diese können neben einer möglichen Lähmung der Interkostaloder Zwerchfellmuskulatur auch bedingt sein durch Verletzungen des knöchernen Thorax und/oder der Lungen (Rippenserienfrakturen, Pneumothorax, Hämatothorax, Lungenkontusionen). Die Intubationsmaßnahmen erfordern höchste Vorsicht, als Methode der Wahl gilt die fiberoptisch gestützte Intubation. In den ersten 12–24 h nach einem spinalen Trauma kann Succinylcholin verwendet werden. Binnen der ersten 3 Tage jedoch kann es zur peri- und extrajunktionalen Neubildung von Acetylcholin-
rezeptoren kommen. Diese neu gebildeten Rezeptoren vom fetalen Typ besitzen eine längere Öffnungszeit und induzieren damit einen etwa 2-fach höheren Kaliumefflux aus der Muskelzelle mit der Gefahr der Hyperkaliämie. Bei Läsionen zwischen C5 und Th1 ist bei (in-)kompletter Lähmung der Interkostalmuskulatur bei erhaltener Zwerchfelltätigkeit eine suffiziente Spontanatmung initial oft möglich. Das Zwerchfell als wichtigster Motor der Inspiration wird innerviert aus den Segmenten C3–C5; die Mm. intercostales externi aus Th1–Th11. Die Exspiration erfolgt passiv. Aktive Exspiration z. B. für den Hustenstoß, erfolgt mit Hilfe der Abdominalmuskulatur (Th7–L1). Im Verlauf kommt es deshalb häufig zu einer respiratorischen Verschlechterung. In der Frühphase sind auch akute, mitunter fulminante pulmonale Störungen beschrieben im Sinne eines neurogenen Lungenödems (7 Abschn. 78.2.1 »Zentrale Regulationsstörungen«). Bei einer Mitbeteiligung des Zwerchfells bei Läsionen oberhalb von C4 ist keine Spontanatmung möglich, die Langzeitprognose ist hier schlecht. Die frühzeitige Anlage eines plastischen Tracheostomas ist bei pulmonalen Komplikationen indiziert. Bei der Prävention oder Therapie pulmonaler Komplikationen stehen Basismaßnahmen wie rasche Mobilisierung und intensive Physiotherapie im Vordergrund. Eine rasche operative Stabilisierung der Wirbelsäule ist hier sehr wichtig. Bis dahin oder falls dies nicht möglich ist, werden 2-stündliche achsengerechte Lagerungsmaßnahmen (z. B. mit Hilfe von Rotationsbetten) empfohlen. Begleitmaßnahmen bestehen in der Gabe von Sekretolytika (i.v. oder per inh.), guter Mund-, Rachen- und Bronchialtoilette, Vermeidung eines Subileus zum Erhalt der Zwerchfellmobilität und Förderung des spontanen Hustenstoßes (z. B. durch tägliche Aufwachversuche). Die regelmäßige mikrobiologische Untersuchung von Sputum oder Trachealsekret (mindestens 1-mal/Woche) ermöglicht im Fall einer Pneumonie die rasche antibiotische Therapie nach Resistenzlage. Spätestens jedoch vor Beginn einer Antibiotikatherapie sollte eine mikrobiologische Probengewinnung erfolgen. Gastrointestinale Komplikationen Gastrointestinale Komplikationen werden am häufigsten in Form von Motilitätsstörungen oder Stressulzera beobachtet. 10% der Patienten mit spinalem Trauma entwickeln Stressulzera, daher besteht die Indikation zur medikamentösen Ulkusprophylaxe. Die Diagnose kann bei einer Sickerblutung und bei gleichzeitig eingeschränkter Algesie erschwert sein. Eine Subileussymptomatik tritt bei fast allen Patienten in der Frühphase auf, deshalb sollten von Anfang an unterstützende Maßnahmen getroffen werden. Ein akutes Abdomen stellt in 10–15% der Fälle die Todesursache nach Rückenmarkverletzungen dar [59]. Thromboembolische Komplikationen Details 7 Abschn. 78.2.2 (»Basistherapie«). Urovesikale Komplikationen Details 7 Kap. 55 (»Querschnittslähmung: Akutbehandlung und Rehabilitation«). Ein transurethraler Dauerkatheter sollte im Rahmen der Erstversorgung bei Aufnahme bei einem spinalen Trauma gelegt werden (zur Bilanzierung, insbesondere bei schlaffer Blasenlähmung), nach 48 h empfiehlt sich zur Vermeidung von häufigen Komplikationen wie Blaseninfektionen oder Urethrastrikturen eine suprapubische Ableitung oder, falls ausreichend, sterile intermittierende Katheterisieren.
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Dekubitalulzera Das Risiko für die Entwicklung von Dekubitalulzera ist bereits in der Frühphase sehr hoch, bedingt durch verminderte Hautdurchblutung bei Hypotension, Immobilisation, Hautreizungen bei Inkontinenz. Es empfiehlt sich der Einsatz von speziellen Betten, um 2-stündliche Lagerungswechsel zu gewährleisten. Spastik und autonome Hyperreflexie Die Therapie einer muskulären Spastik erfolgt neben der intensiven Physiotherapie medikamentös mit Baclofen (Therapiebeginn 3-mal 5 mg p.o., Steigerung einer Einzeldosis um 5 mg alle 3 Tage, maximal 30–75 mg/Tag, Dosisreduktion bei Leber- und Niereninsuffizienz). Bei fehlendem Erfolg nach oraler Applikation besteht der nächste Schritt in der intrathekalen Gabe. Es können mitunter erhebliche Nebenwirkungen auftreten, sodass die Therapie damit vertrauten Zentren vorbehalten sein soll.
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Kapitel 78 · Intensivtherapie nach neurochirurgischen Eingriffen
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Organtransplantation Kapitel 79
Behandlung von Organspendern
Kapitel 80
Intensivtherapie nach Transplantation solider Organe
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Behandlung von Organspendern T. Bein
79.1
Hirntodfeststellung – 1026
79.1.1 79.1.2 79.1.3 79.1.4 79.1.5 79.1.6
Definition des Hirntodes – 1026 Voraussetzungen zur Feststellung des Hirntodes – 1026 Untersuchungen zur Feststellung des Hirntodes – 1026 Qualifikation der Untersucher – 1028 Apparative Zusatzuntersuchungen – 1028 Todeszeitpunkt und Dokumentation – 1029
79.2
Intensivmedizinische Behandlung des Organspenders – 1030
79.2.1 79.2.2 79.2.3
Einleitung – 1030 Pathophysiologische Konsequenzen des Hirntodes – 1030 Spezielle Kriterien für die Eignung zur Spende – 1032
Literatur – 1033
H. Burchardi et al. (Hrsg.), Die Intensivmedizin, DOI 10.1007/978-3-642-16929-8_79, © Springer Medizin Verlag Berlin Heidelberg 2011,
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Kapitel 79 · Behandlung von Organspendern
79.1
Hirntodfeststellung
79.1.1
Definition des Hirntodes
Definition Der Hirntod wird definiert als Zustand der irreversibel erloschenen Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms. Dabei wird durch kontrollierte Beatmung die Herz- und Kreislauffunktion noch künstlich aufrechterhalten. (Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer)
Nach Feststellung des Hirntodes ist die Organentnahme zum Zwecke der Transplantation möglich, sofern der Verstorbene zu Lebzeiten eine gültige Willensbekundung vorgenommen hat (z. B. mittels Organspendeausweis) oder – bei Fehlen einer solchen Bekundung – die Verwandten/Angehörigen den bekannten oder mutmaßlichen Willen erklären. Darüber hinaus ergeben sich medizinische (z. B. Malignomerkrankung) und juristische Besonderheiten (bei nicht natürlicher Todesursache), welche zuvor abgeklärt werden müssen.
Die Entscheidung zur Organspende des Verstorbenen gilt als unabdingbare (rechtliche) Voraussetzung zur Organentnahme. Bei Fehlen einer schriftlichen Willensbekundung zu Lebzeiten (z. B. Organspendeausweis) muss für diese Entscheidung unter Einbeziehung der nächsten Verwandten/Angehörigen der mutmaßliche Wille des Verstorbenen ermittelt werden (sog. »erweiterte Zustimmungsregelung« durch das Transplantationsgesetz von 1997)).
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Bei klinischem Verdacht auf das Vorliegen eines kompletten Ausfalls der Hirnfunktionen sollte – unter Beachtung der Voraussetzungen ‒ unverzüglich die Hirntoddiagnostik vorgenommen werden. Die behandelnden Ärzte sind verpflichtet, den festgestellten Hirntod eines Patienten der zuständigen Koordinierungsstelle der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) oder dem zuständigen Transplantationszentrum mitzuteilen. Über die medizinische Eignung für oder Kontraindikationen gegen die Organentnahme wird interdisziplinär entschieden. Die Bundesärztekammer hat ‒ entsprechend § 3 Abs. 2 Pkt. 2 Transplantationsgesetz (TPG) – die Verfahrensregeln zur Feststellung des Hirntodes vorgegeben. Die Hirntoddiagnostik ist sowohl an bestimmte klinische Voraussetzungen als auch an eine spezielle Qualifikation der Untersucher geknüpft.
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79.1.2
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Voraussetzungen zur Feststellung des Hirntodes
Der klinische Verdacht auf das Erlöschen sämtlicher Hirnfunktionen und somit die Bedingungen zur Einleitung entsprechender Untersuchungen sind gegeben, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind: 4 Akute schwere Hirnschädigung: 4 Primär: direkte traumatische oder nicht traumatische Hirnschädigung, z. B. Schädel-Hirn-Trauma, Hirninfarkt, intrazerebrale oder subarachnoidale Blutung, Enzephalitis, Hirntumor, akuter Verschlusshydrozephalus). Bei primärer Hirnschädigung wird zwischen supra- und infratentorieller Läsion unterschieden.
4 Sekundär: Hirnschädigung infolge ausgeprägter hypoxischischämischer Läsion nach Kreislaufstillstand, Intoxikation oder Lungenerkrankung sowie infolge Hypoglykämie. Vor der Feststellung des Hirntodes muss ausgeschlossen werden, dass andere Einflussfaktoren an der bestehenden Hirnstörung beteiligt sind. Zu diesen gehören: Schock/schwere Hypotension (systolischer Blutdruck Nach Beendigung einer kontinuierlichen Analgosedierung mit Benzodiazepinen/Opioiden via Perfusor muss mindestens 24 h vor Einleitung der Hirntoddiagnostik gewartet werden, um einen Überhang auszuschließen. Im Zweifel können Konzentrationsbestimmungen dieser Substanzen im Serum durchgeführt werden.
Eine weitere wichtige Voraussetzung ist die Beobachtungszeit. Sie beträgt bei primärer Hirnschädigung für Erwachsene und Kinder ab dem 3. Lebensjahr 12 h, für Kinder unter 2 Jahren 24 h und für reife Neugeborene (erste 4 Lebenswochen) 72 h; bei sekundärer Hirnschädigung ist für alle Patienten eine Beobachtungsdauer von 72 h gefordert (. Abb. 79.1).
79.1.3
Untersuchungen zur Feststellung des Hirntodes
Die klinischen Symptome des Ausfalls der Hirnfunktionen werden nach einem von der Bundesärztekammer vorgegebenen Musterprotokollbogen wie im Folgenden dargestellt dokumentiert (abrufbar unter www.bundesaerztekammer.de). Komanachweis. Fehlen jeglicher Reaktionen, spontaner mimischer Äußerungen und Grimassieren oder Abwehrbewegungen auf Schmerzreize (z. B. kräftiger Druck mit dem Reflexhammerstiel auf Finger- und Fußnägel, Druck auf den oberen Orbitarand, die Kiefergelenke oder das Nasenseptum). ! Cave Bei Störungen der sensiblen Leitungsbahnen (Querschnittslähmung, Guillain-Barré-Syndrom) können die Reaktionen auf Schmerzreize an den Extremitäten fehlen. Bei Gesichtsschädelverletzung kann die Wahrnehmung von Schmerzreizen an den supraorbitalen Nervenaustrittspunkten und an der Nasenschleimhaut beeinträchtigt sein.
1027 79.1 · Hirntodfeststellung
. Abb. 79.1 Hirntodalgorithmus. Algorithmus zum Vorgehen bei schweren Hirnschädigungen, bei denen ein Erlöschen der Hirnfunktionen vermutet wird
Eine besondere, häufig irritierende Ausdrucksform des Hirntodes ist das Auftreten von spontanen oder bei Berührungen ausgelösten ungerichteten Bewegungen der Extremitäten oder des Rumpfes. Es handelt sich um eine Enthemmung spinaler Reflexschablonen durch den Wegfall inhibierender Einflüsse des Gehirns auf das Rückenmark. Auch vegetative Äußerungen (wie Hautrötung, profuses Schwitzen, Tachykardie, plötzlicher Blutdruckanstieg), das Auftreten von Muskeleigen- und Bauchhautreflexen, Beugesynergien und Babinski-Zeichen sind bei bereits eingetretenem Hirntod möglich. Fehlen der Pupillenreaktion. Mittelweite (4 mm) bis weite (9 mm) Pupillen. Keinerlei Reaktion auf Lichteinfall. Artifizielle Beeinträchtigungen der Pupillenreaktion – wie Trauma der Kornea oder des Bulbus, lokale Anwendung von pupillenwirksamen Substanzen – wie auch vorbestehende Pupillenanomalien sind auszuschließen. Fehlen des okulozephalen Reflexes. Seitdrehungen des Kopfes aus der Mittelposition um 90° führen nicht zu Gegenbewegungen der Bulbi. Auch Bulbusbewegungen nach oben infolge rascher Nackenbeugung fehlen. Bei vermuteter oder nachgewiesener Instabilität der Halswirbelsäule kann eine beidseitige kalt-kalorische Vestibularisprüfung (Auslösung von Nystagmus) durchgeführt werden. Fehlen des Kornealreflexes. Das reflektorische Blinzeln bei Berüh-
rung der Kornea unterbleibt. Der Kornealreflex weist einen trigeminofazialen Reflexbogen auf, deshalb kann er bei traumabedingter Schädigung der genannten Nerven ausfallen (z. B. bei Orbita- und Felsenbeinfrakturen). In solchen Fällen ist die Bewertung für die Hirntoddiagnostik nur eingeschränkt möglich. Fehlen des Rachen- und Trachealreflexes. Tiefes, endotracheales,
bzw. pharyngeales Absaugen führt nicht zur Auslösung eines Hustenreflexes oder zur Würgereaktion. Apnoetest. Der Apnoetest ist ein wesentlicher Hinweis auf die erloschenen Hirnstammfunktionen. Er sollte als letzter Test durchgeführt werden, wenn alle anderen Untersuchungsergebnisse mit der Diagnose des Hirntodes kompatibel sind. Zur Durchführung des Apnoetests wird der Patient zunächst für einige Minuten mit reinem Sauerstoff beatmet, sodass der arteriel-
le Sauerstoffpartialdruck (paO2) auf mindestens 200 mm Hg steigt. Anschließend wird der Patient vom Respirator diskonnektiert, oder es wird eine apnoeische Ventilation mit reinem Sauerstoff vorgenommen. Es empfiehlt sich nicht, den Patienten in dieser Phase am Beatmungsgerät zu belassen, da moderne, »sensibel« eingestellte Trigger eine Spontanatmungsaktivität vortäuschen können. Etwa 5 min nach Beginn des Apnoetests werden die arteriellen Blutgaswerte bestimmt, da nach Maßgabe des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer ein paCO2 von ≥60 mm Hg zur Beurteilung und Dokumentation der Apnoe gefordert ist. In Abhängigkeit von einer Beeinträchtigung der Lungenfunktion kann sich während der »Wartezeit« bis zur dokumentierten Hyperkapnie eine Desaturation (SaO2 Aus medizinischer und juristischer Sicht ist nicht nur der Nachweis des Ausfalls der Gesamtfunktion des Gehirns, sondern auch der Nachweis der Irreversibilität der klinischen Ausfallsymptome gefordert. Dies impliziert eine Wiederholung der klinischen Untersuchung nach den oben angegebenen Fristen der Beobachtungszeit. Selbstverständlich dürfen sich in der Zwischenzeit keine Hinweise auf eine noch intakte Hirnfunktion ergeben.
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79.1.4
Kapitel 79 · Behandlung von Organspendern
Qualifikation der Untersucher
»Die beiden den Hirntod feststellenden und dokumentierenden Ärzte müssen über eine mehrjährige Erfahrung in der Intensivbehandlung von Patienten mit schweren Hirnschädigungen verfügen.« (Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer), eine spezielle Fachrichtung ist hierfür aber nicht vorgeschrieben. Die Ärzte sollen die Untersuchung unabhängig voneinander vornehmen. Sie dürfen im Fall einer Organtransplantation weder an der Entnahme noch an der Übertragung von Organen des Verstorbenen beteiligt sein oder Weisungen eines Arztes unterstehen, der an diesen Maßnahmen beteiligt ist. Die Untersuchungsergebnisse und der Zeitpunkt ihrer Feststellung müssen von den Ärzten unter Angabe der zugrunde liegenden Befunde dokumentiert und anschließend unterschrieben werden. Die Gelegenheit zur Einsichtnahme der Untersuchungsbefunde ist den nächsten Angehörigen sowie anderen nahestehenden Personen zu gewähren.
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79.1.5
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Zum Nachweis der Irreversibilität können statt einer zweiten klinischen Untersuchung bestimmte apparative Zusatzuntersuchungen verwendet werden, welche hinsichtlich ihrer Aussagekraft evaluiert wurden. Die vom Wissenschaftlichen Beirat der Bundesärztekammer akzeptierten Zusatzuntersuchungen sind: das Elektroenzephalogramm (EEG), die multimodal evozierten Potenziale (EVP), die Dopplersonographie und die zerebrale Perfusionsszintigraphie. Die Durchführung einer Zusatzuntersuchung ist ausreichend. Manche Methoden sind jedoch in Handhabung und Bewertung sehr von der individuellen Erfahrung der Untersucher abhängig. Außerdem können bestimmte methodische Schwierigkeiten auftreten, die zu Fehlinterpretationen führen und die Diagnose »Hirntod« in Frage stellen. Daher dürfen untersuchende Ärzte nur diejenigen Methoden verwenden und deren Ergebnisse interpretieren, mit welchen absolute Routine und Vertrautheit besteht und die keine uneindeutigen Befunde zulassen.
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Apparative Zusatzuntersuchungen
Elektroenzephalographie (EEG)
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Die standardisierte Ableitung eines Elektroenzephalogramms muss über 30 min einen völligen Ausfall der bioelektrischen Hirnaktivität (sog. Nulllinien-EEG) aufweisen. Der Nachweis der Irreversibilität des Hirnfunktionsausfalls ist somit gegeben. Allerdings können Artefakte im Zeitalter der elektronisch »hochgerüsteten« Intensivstationen – bedingt durch elektronische Signale von Beatmungsgeräten, Alarmsystemen etc. – die Beurteilung des Elektroenzephalogramms beeinträchtigen. Studien haben zudem interindividuelle und sogar intraindividuelle Diskrepanzen bei der (wiederholten) Befundung gezeigt. Die Ableitung ist zeitaufwändig und dauert nicht selten 2 h und mehr. ! Cave Intoxikationen mit Sedativa (z. B. Barbiturate, Benzodiazepine) oder Succinylcholin können eine elektrozerebrale Stille vortäuschen. Die korrekte, artefaktfreie Ableitung eines Nulllinien-EEG über 30 min ist auf modernen Intensivstationen erheblich erschwert.
Wegen der Problematik der Artefakterzeugung und der Schwierigkeit der Intepretation wird auf vielen Intensivstationen das EEG als apparative Zusatzuntersuchung nicht angewendet. Bei bestimmten
Hirnschädigungen (primäre infratentorielle Lokalisation) hat allerdings die EEG-Untersuchung nach wie vor einen hohen Stellenwert. > Im Fall einer primär infratentoriellen Hirnschädigung ist zur Feststellung des Hirntodes der Nachweis eines Nulllinien-EEG oder des zerebralen Kreislaufstillstands erforderlich; nur so kann belegt werden, dass auch die Funktion des Großhirns und nicht nur diejenige des Hirnstamms erloschen ist.
Evozierte Potenziale Akustisch (AEP) oder somatosensibel (SEP) evozierte Potenziale weisen den Vorteil auf, dass sie von Sedativa, Anästhetika und metabolischen Enzephalopathien nicht nennenswert beeinflusst werden. Dennoch sind Durchführung und Interpretation dieser Zusatzuntersuchung abhängig von der Erfahrung des Anwenders. Akustisch evozierte Potenziale (AEP). Die Wellen I und II ent-
stehen im Hörnerv. Ihre Darstellung auf einer oder beiden Seiten belegt die Intaktheit von Innenohr und Hörnerv. Die Wellen III‒V werden im Hirnstamm generiert. Sie verschwinden beim Erlöschen der Hirnstammfunktionen. Das Fehlen der frühen akustisch evozierten Potenziale ist aber kein sicheres Hirntodzeichen, denn eine vorbestehende Taubheit oder eine Läsion des Hörnervs, z. B. infolge einer Felsenbeinquerfraktur oder einer Meningitis, können zum Ausfall geführt haben. Fehlende akustisch evozierte Potenziale mit und ohne Persistenz der Welle I werden auch bei einer Thrombose der A. basilaris beobachtet. Es wird daher bei Nichtdarstellbarkeit der AEP das Vorhandensein einer Voruntersuchung mit noch nachweisbarer Welle I gefordert. Anderenfalls ist der Befund erloschener AEP-Wellen für die Hirntoddiagnostik nicht interpetierbar. Somatosensibel evozierte Potenziale (SEP) des N. medianus. Die
Ableitung der SEP nach bilateraler Medianusstimulation ist als Irreversibilitätsnachweis des Hirnfunktionsverlusts bei primär supratentoriellen und sekundären Hirnschädigungen jenseits des 2. Lebensjahres geeignet. Für primär infratentorielle Schädigungen gelten andere Untersuchungsbedingungen (▶ EEG). Eine Rückenmarkschädigung soll ausgeschlossen sein. Die Medianus-SEP müssen bei der Hirntoddiagnostik grundsätzlich auf beiden Seiten untersucht werden. Beim Hirntod fallen die Komponenten N13 (ableitbar über dem 2. Halswirbelkörper) und der kortikale Primärkomplex bei Fz-Referenz aus. Die Kette der Farfield-Potenziale bricht spätestens nach der Komponente N11/ P11 bei extrakranieller Referenz und Ableitung über der sensiblen Hirnrinde ab. Die kortikalen Antworten erlöschen jedoch oft schon vor Eintritt des definitiven Hirntodes. Das Potenzial über dem 7. Halswirbelkörper (N13a) ist üblicherweise vorhanden, kann aber bei einer zusätzlichen Schädigung des Halsmarks fehlen. > Die Ableitung akustisch oder somatosensibel evozierter Potenziale erfordert Erfahrung in Durchführung und Befundung, darüber hinaus ist diese Untersuchung eher als Verlaufsuntersuchung geeignet, da häufig zur zweifelsfreien Intepretation ein Vorbefund (vor Eintreten des Hirntodes) erforderlich ist.
Untersuchung der zerebralen Perfusion Der Stillstand des zerebralen Kreislaufs lässt sich mittels Dopplersonographie nachweisen. Hierfür ist ein arterieller Mitteldruck >80 mm Hg (Erwachsene), bzw. >60 mm Hg (Kinder) erforderlich. Die zerebrale Perfusionsszintigraphie (»single photon emission
1029 79.1 · Hirntodfeststellung
computer tomography«; SPECT) ist ebenfalls für den Nachweis des zerebralen Zirkulationsstillstands geeignet. Die selektive zerebrale Angiographie wurde »historisch« häufig eingesetzt, wird heute aber aus verschiedenen Gründen (z. B. Kontrastmittelapplikation) nicht mehr empfohlen. Wurde im Rahmen einer diagnostischen zerebralen Perfusionsdarstellung der Zirkulationsstillstand nachgewiesen, ist hierdurch die Irreversibilität ohne weitere Beobachtungszeit festgestellt, sofern die Untersuchungsdauer mindestens 30 min betragen hat. Dopplersonographie. Diese kann in jedem Lebensalter eingesetzt werden, allerdings können bei Kleinkindern die Untersuchungsbedingungen wegen des inkompletten knöchernen Schädels erschwert sein. Sie schließt mindestens die extrakraniellen Aa. carotides internae et vertebrales sowie die transkraniell zu beschallenden Aa. cerebri mediae ein. Bei zerebralem Zirkulationsstillstand wird entweder ein Perfusionsstopp oder ein Pendelfluss dargestellt. Die Qualität auch dieser Untersuchung ist in hohem Maße von der Erfahrung des Untersuchers abhängig. Unklare Ergebnisse sind nur in Zusammenschau mit einem vor dem Hirntod erhobenen Befund ausreichend interpretierbar.
Auch das Verfahren der transkraniellen Dopplersonographie ist sehr stark von der Erfahrung des Untersuchers abhängig. Unter erschwerten Untersuchungsbedingungen (z. B. fehlendes »Knochenfenster«) darf dieser Befund nur dann als sicheres Zeichen des zerebralen Kreislaufstillstands gewertet werden, wenn derselbe Untersucher einen Signalverlust bei zuvor eindeutig ableitbaren intrakraniellen Strömungssignalen dokumentiert hat und an den extrakraniellen Arterien ebenfalls ein zerebraler Kreislaufstillstand nachweisbar ist.
Zerebrale Perfusionsszintigraphie (SPECT). Bei der SPECT wer-
den Radiopharmaka verwendet, deren diagnostische Sicherheit validiert worden ist (meist: Tc-99m-Hexamethylpropylenaminoxim; HMPAO). Kriterien des Hirntodes sind die fehlende Darstellung der zerebralen Gefäße, der zerebralen Perfusion und der Anreicherung im Hirngewebe. Die Szintigraphie muss in verschiedenen Ansichten und in tomographischer Technik erfolgen. Nach Bolusinjektion des Radiopharmakons werden zunächst die großen kranialen Gefäße von ventral dargestellt, anschließend wird die Gewebedurchblutung mittels statischer Szintigraphien erfasst (. Abb. 79.2). Interne Qualitätskontrollen (z. B. Überprüfung der physiologischen Verteilung des Radiopharmakons in Thorax und Abdomen) tragen zur Qualitätssicherung bei.
79.1.6
Todeszeitpunkt und Dokumentation
Todeszeitpunkt Da nach aktueller Rechtsauffassung der Hirntod mit dem Tod des Menschen gleichzusetzen ist, entspricht der Abschluss der Diagnosestellung und Dokumentation des Hirntodes dem Todeszeitpunkt des Patienten.
Der Zeitpunkt des Hirntods ist unabhängig sowohl vom Zeitpunkt der Beendigung der mechanischen Beatmung/Kreislaufunterstützung als auch vom Zeitpunkt einer späteren Organentnahme.
. Abb. 79.2 Zerebrale Perfusionsszintigraphie (SPECT) bei komplettem zerebralem Perfusionsstillstand. Erkennbar ist die Darstellung der Perfusion von Schädelkalotte und -haut, während intrazerebral keinerlei Perfusionsmarkierung zur Darstellung kommt. (Abb. freundlicherweise überlassen von der Abteilung für Nuklearmedizin, Universitätsklinikum Regensburg)
79
1030
79 79 79 79 79 79 79 79 79 79 79 79 79 79 79 79 79
Kapitel 79 · Behandlung von Organspendern
79.2
79.2.1
Intensivmedizinische Behandlung des Organspenders
Spenderorgane
Einleitung
In den letzten Jahren stieg in Deutschland nach Angaben der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) die Zahl der Organspender stetig; die Angaben bis zum 1. Halbjahr 2010 zeigt . Tab. 79.1. Die Ursachen des Hirntodes lagen in der überwiegenden Zahl bei nicht traumatischen intrakraniellen Blutungen (58,2%) im Vergleich zu Schädel-Hirn-Traumata (18,7%), ischämisch-hypoxischen Hirnschäden (11%) oder Hirninfarkten (11%). Obwohl die Zahl der Transplantationen gesteigert wurde, ergibt sich für die einzelnen Organe weiterhin eine unverändert große oder zunehmende Warteliste, da die Zahl von Patienten mit Organerkrankungen im Endstadium, für welche die Transplantation die einzige erfolgversprechende Therapie bedeutet, weiter steigt. Auch die zunehmende Aktivität im Bereich der Lebendspende (Niere, Teil der Leber) kann dieses Defizit nur begrenzt auffangen. In den letzten Jahren wurde wegen des Spendermangels eine liberalere Einstellung zur Frage der medizinischen Eignung von verstorbenen Patienten für eine Organspende entwickelt. Strenge medizinische Kriterien für die Auswahl hirntoter Spender sind heute weitgehend aufgegeben worden, um wartenden Patienten eine Möglichkeit zur Transplantation zu geben. Dabei wurden in den letzten Jahren zunehmend »marginale« Spenderorgane gewonnen und auch vielfach erfolgreich transplantiert. Auch die Altersgrenze der zur Organspende geeigneten Verstorbenen hat sich deutlich nach oben verschoben: Während man z. B. in den 1980-er Jahren die Obergrenze für eine Leberspende mit 50–55 Jahren angab, wurden in jüngster Vergangenheit gelegentlich auch Lebertransplantationen von über 80-jährigen Spendern durchgeführt. Die Ursachen für den oben beschriebenen Organmangel bestehen zum einen in einer ungenügenden Meldung potenzieller Organspender an die DSO oder die Transplantationszentren. Darüber hinaus besitzt nach wie vor nur ein geringer Teil der Bevölkerung einen Organspendeausweis. Die Erfassung des mutmaßlichen Willens des Verstorbenen durch die Angehörigen/Verwandten ist schwierig und emotional belastet. Die Ablehnungsquote durch die Angehörigen/Verwandten wird nach wie vor mit ca. 40% angegeben.
79
4 Trotz einer leicht steigenden Zahl von Organspenden in Deutschland besteht weiterhin eine unveränderte oder sogar zunehmende Differenz zwischen der Transplantationstätigkeit und der Warteliste schwer kranker Patienten. 4 Das Konzept der Lebendspende ist nur in eingeschränktem Maße in der Lage, dieses Defizit abzubauen. 4 Die mögliche erreichbare Zahl postmortaler Organspender wird derzeit verhindert durch eine unzureichende Meldung von Patienten mit vermutetem oder eingetretenem Hirntod durch die Krankenhäuser sowie durch die hohe Ablehnungsquote durch Angehörige/Verwandte.
In diesem Zusammenhang ist die adäquate intensivmedizinische Betreuung hirntoter Patienten von großer Bedeutung. Durch den Eintritt des Hirntodes kann es zu gravierenden pathophysiologischen Veränderungen kommen. Diesen muss durch geeignete Maßnahmen entgegengetreten werden, damit nicht in der Situation des Spendermangels weitere geeignete Organe verloren werden. Die Durchführung der Hirntoddiagnostik und auch die Versorgung des hirntoten Organspenders stellen erhebliche Anforderungen an das Personal einer Intensivstation. Daher sollte unmittelbar nach eingetretenem Hirntod der zuständige Transplantationskoordinator der DSO verständigt werden, damit dieser das Krankenhaus bei der Organspende logistisch und ggf. auch personell unterstützen kann. > Durch einen reibungslosen Ablauf der Organspende mit einer möglichst kurzen Zeitspanne zwischen Eintreten des Hirntodes und Organentnahme lassen sich sekundäre Schädigungen geeigneter Spenderorgane vermeiden.
79.2.2
Pathophysiologische Konsequenzen des Hirntodes
Das Erlöschen der zerebralen Funktionen resultiert in gravierenden pathophysiologischen Veränderungen, deren Kenntnis die Durchführung gezielter Maßnahmen ermöglicht, um einen hirntoten Organspender bis zur Organentnahme in einem stabilen Zustand zu halten.
79 79
. Tab. 79.1 Postmortale Organspenden in Deutschland jeweils im 1. Halbjahr 2008, 2009, 2010. (Zahlen der Deutschen Stiftung Organtransplantation)
79
Organe
79
Niere a
79 79
Transplantationen im 1. Halbjahr 2009
Transplantationen im 1. Halbjahr 2010
Anmeldungen 2009
1060
1087
1109
3409
Leber a
484
533
558
1853
Herz
188
178
194
773
Lunge
121
124
144
443
65
56
81
110
Pankreas
79
a
ohne Lebendspenden.
Transplantationen im 1. Halbjahr 2008
1031 79.2 · Intensivmedizinische Behandlung des Organspenders
Stabilität des kardiovaskulären Systems
Diabetes insipidus
Durch den Hirntod werden ausgeprägte Störungen der neurohumoralen Steuerungssysteme induziert. In der Frühphase nach eingetretenem Hirntod finden häufig kurzfristig massive endogene Katecholaminausschüttungen statt, welche fokale myokardiale Nekrosen bis hin zum Infarkt hervorrufen können. In einer späteren Phase manifestiert sich ein »sepsisähnliches« Syndrom mit Freisetzung inflammatorischer Mediatoren und einer entsprechenden Vasoplegie. Zusätzlich kommt es zum Verlust aller zentralen sympathoadrenergen Funktionen. Durch Verlust des peripheren Vasomotorentonus in Verbindung mit einer Reduktion des Herzminutenvolumens droht eine Minderperfusion der Organsysteme. Eine behandlungspflichtige Hypotension tritt bei bis zu 85% aller Organspender auf und ist die häufigste behandlungspflichtige Komplikation.
Bei etwa 80% der Patienten entwickelt sich nach eingetretenem Hirntod ein zentraler Diabetes inspidus als Konsequenz aus dem Ausfall der hypothalamisch-hypophysären Funktion. Er manifestiert sich durch eine Polyurie, die nachfolgend zu einer hyperosmolaren Dehydratation mit Hypernatriämie führt. Die klinisch oft eindrucksvolle Diagnose eines Diabetes insipidus (Polyurie von 400 ml/h und mehr) kann durch die Bestimmung der Natriumausscheidung im Urin ( Die großzügige Volumengabe ist die wichtigste Maßnahme zur Kreislaufstabilisierung nach eingetretenem Hirntod. Bleibt hierunter eine Verbesserung der kardiovaskulären Funktion aus, ist die zusätzliche Katecholamintherapie erforderlich.
Zur Volumensubstitution sollten vordringlich kristalloide Infusionen verwendet werden, da kolloidale Volumenersatzmittel eine Vielzahl verschiedener Nebenwirkungen auslösen können und möglicherweise die Nierenfunktion beeinträchtigen.
Herzrhythmusstörungen Arrhythmien und insbesondere Bradykardien sind mit Eintreten des Hirntodes durch Ausfall der sympathischen und parasympathischen Kreislaufregulation häufig zu beobachten. Dabei muss beachtet werden, dass die Gabe von Atropin durch den Ausfall der parasympathischen Regulationszentren im Hirnstamm keinen Effekt hat. Das Herz eines hirntoten Organspenders ist funktionell denerviert. > Klinisch bedeutsame, bradykarde Herzrhythmusstörungen nach eingetretenem Hirntod sind nicht mit Atropin behandelbar. In dieser Situation sind entweder sympathomimetische Substanzen mit direkter Wirkung am Herzen (Adrenalin, Dobutamin) einzusetzen oder es ist – in bedrohlichen Situationen – die Einschwemmung eines passageren Schrittmachers zu erwägen.
> Zur Behandlung der Polyurie im Rahmen eines Diabetes insipidus empfiehlt sich die Gabe von Desmopressin in Kombination mit der Infusion hyposmolarer Lösungen. Bei dieser Maßnahme müssen engmaschige Elektrolytkontrollen (insbesondere Na+ und K+) erfolgen.
Hypothermie Mit Eintreten des Hirntodes kommt es zum vollständigen Verlust der Temperaturregulation, sodass oftmals eine Hypothermie (Körperkerntemperatur 70 Jahre) gilt heute nicht mehr als Einzelfall. Kreatininwerte >2 mg/dl, ein hoher Katecholaminbedarf und eine Oligurie werden von einzelnen Zentren kritisch bewertet, sind aber kein absolutes Ausschlusskriterium. Auch ein seit langem bestehender Diabetes mellitus, ein Hypertonus sowie eine fortgeschrittene Arteriosklerose stellen in vielen Zentren keine absolute Kontraindikation zur Nierenentnahme/-transplantation dar. In diesen Fällen und auch bei hohem Spenderalter geht aber häufig eine histologische Begutachtung der entnommenen Organe der endgültigen Entscheidung über eine Eignung als Transplantat voraus. Die Altersobergrenze für eine Spende der Leber wird im Eurotransplant-Bereich mit 75 Jahren angegeben, wobei Spender über 60 (65) Jahren häufig bereits als »marginale« Spender betrachtet werden. Auch andere Faktoren (Langzeitbeatmung, eine höhere inotrope Medikamentengabe, verlängerte hypotensive Perioden sowie deutlich erhöhte Transaminasenwerte) können zur Ablehnung führen. > Der Grad der Leberverfettung wird als wesentlicher Faktor für eine gute Transplantatfunktion angesehen. Als oberer Grenzwert wird etwa 30% angegeben.
Diabetes mellitus stellt per se keine Kontraindikation zur Leberentnahme dar. Im Zweifelsfall müssen histologische Untersuchungen nach der Organentnahme die Eignung der Leber bestätigen. Bezüglich der Entnahme des Pankreas gelten relativ restriktive Regeln. Die Obergrenze des Alters des Verstorbenen wird mit 50 Jahren angegeben. Dies hängt zum einen mit der Tatsache zusammen, dass im Gegensatz zu Herz oder Leber die Bauchspeicheldrüse kein absolut lebensnotwendiges Organ darstellt, zum anderen ist die Transplantatverlustrate bei über 45-jährigen Spendern erhöht. Ein anamnestisch bestehender Diabetes mellitus verbietet die Entnahme/Transplantation des Pankreas. In zweifelhaften Situatio-
. Tab. 79.2 Ziele der Intensivtherapie des hirntoten Organspenders Parameter
Therapeutisches Ziel
Therapiemöglichkeiten bei Abweichungen von der therapeutischen Zielgröße
Blutdruck
Mittlerer arterieller Druck ≥70 mm Hg
5 Ausgleich eines Volumenmangels bei beatmungsabhängigen Schwankungen der arteriellen Druckkurve 5 Bei Normovolämie: Gabe von Katecholaminen, bevorzugt Noradrenalin + Dobutamin
79
Diurese
>1,0 ml/kg KG/h
5 Anhebung des arteriellen Mitteldrucks 5 Bei Polyurie: Desmopressin (2–4 μg i.v.)
79
Natrium
Na+ Bei der Lungenspende spielt die Dauer der maschinellen Beatmung wegen der hohen Inzidenz nosokomialer Pneumonien und wegen des anzunehmenden »beatmungsinduzierten Lungenschadens« eine erhebliche Rolle. Diese Zeitdauer sollte eine Woche nicht überschreiten.
Radiologisch nachgewiesene Infiltrate sind heute kein absolutes Ausschlusskriterium mehr. Auch bezüglich eines »kritischen« paO2/ FIO2-Indexes sind viele Transplantationszentren großzügiger geworden. Auch hier ist im Einzelfall eine Klärung mit der DSO bzw. den Transplantationsteams erforderlich. > Die umfassende, sorgfältige, intensivmedizinische Behandlung des Spenders verbessert nicht nur die Funktion des übetragenen Organs im Empfänger, sondern erhöht auch die Anzahl der pro Spender gewonnenen Organe und hilft somit, den Mangel an Spenderorganen zu reduzieren.
In einer prospektiven Untersuchung wurde in 15 Intensivstationen in Italien die Praxis der Organprotektion bezüglich einer potenziellen Lungenspende untersucht (Mascia et al. 2006). Von 34 Patienten, bei denen der Hirntod festgestellt worden war, waren 23 wegen erhöhten Alters nicht zur Lungenspende geeignet. Nur bei 2 von den verbleibenden 11 Patienten wurden die Lungen entnommen, weil die anderen eine zu schlechte Lungenfunktion hatten (paO2/ FIO2 70 mm Hg
Vasopressoren MAP < 70 mm Hg MAP > 70 mm Hg L-ThyroxinSubstitution
Optimierung der Therapie
Optimierung der Therapie
Fruhe Identifikation und Behandlung hirntodassoziierter Komplikationen Diabetes insipidus Neurogenes Koagulopathie → Gabe von → Desmopressin Lungenödem → optimierte Beatmung Gerinnungs→ Flüssigkeitsfaktoren management
SIADH → hypertone NaCI-Substitution
. Abb. 79.3 Algorithmus eines »aggressiven« Managements für potenzielle Organspender (SIADH = Syndrom der inadäquaten ADH-Sekretion). (Mod. nach DuBose u. Salim 2008)
2000 Organe mehr hätten gewonnen werden können (Rosendale et al. 2003). Auch in anderen Studien sind solche Algorithmen zur »aggressiven« Behandlung potenzieller Organspender vorgestellt worden (. Abb. 79.3). Für eine erfolgreiche Organspende ist aber nicht nur eine gute Intensivtherapie des Spenders erforderlich, sondern auch eine möglichst schnelle und reibungslose Organentnahme nach durchgeführter Hirntoddiagnostik und anschließender Zustimmung durch die Angehörigen. > Je mehr Zeit zwischen Eintreten des Hirntodes und Entnahme der Organe vergeht, umso größer ist die Gefahr sekundärer Schäden primär transplantationsgeeigneter Organe.
Literatur Literatur zu 7 Abschn. 79.1 Ball WS Jr (1998) Neuroimaging in brain death. Am J Neuroradiol 19: 796 Bein T, Schlitt HJ, Bösebeck D et al (2005): Hirntodbestimmung und Betreuung des Organspenders. Dtsch Ärztebl 102: A278–283 Buchner H, Schuchardt V (1990) Reliability of electroencephalogram in the diagnosis of brain death. Eur Neurol 30: 138–141 Feri M, Ralli L, Felici M et al. (1994) Transcranial Doppler and brain death diagnosis. Crit Care Med 22: 1120–1126 Firsching R, Frowein RA, Wilhelms S, Buchholz F (1992) Brain death: practicability of evoked potentials. Neurosurg Rev 15: 249–254 Gesetz über die Spende, Entnahme und Übertragung von Organen (Transplantationsgesetz – TPG) vom 5. November 1997. In: Bundesgesetzblatt Jahrgang 1997 Teil I Nr. 74, ausgegeben zu Bonn am 11. November 1997, S 2631–2639 Gubernatis G (2000) Transplantationsgesetz. Praktische Umsetzung und Aufgaben in den Versorgungskrankenhäusern. Arzt Krankenh 4: 3–27 Laurin NR, Driedger AA, Hurwitz GA et al. (1989) Cerebral perfusion imaging with technetium-99m HM-PAO in brain death and severe central nervous system injury. J Nucl Med 30: 1627–1635 Nau HE, Wiedermayer H, Brune-Nau R et al. (1987) Zur Validität von Elektroenzephalogramm (EEG) und evozierten Potentialen in der Hirntoddiagnostik. Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 22: 273–277
1034
79 79 79 79 79 79 79 79 79 79 79 79 79 79 79 79 79 79 79 79 79 79 79 79 79
Kapitel 79 · Behandlung von Organspendern
Paolin A, Manuali A, Di Paola F et al. (1995) Reliability in diagnosis of brain death. Intensive Care Med 21: 657–662 Report of the Quality Standards Subcommittee of the American Academy of Neurology (1995) Practice parameters for determining brain death in adults (Summary statement). Neurology 45: 1012–1014 Ulsenheimer K (2009) Hirntod und Intensivmedizin. Juristische Probleme. Anaesthesist 58: 722–727 Wieler H, Marohl K, Kaiser KP et al. (1993) Tc-99m HMPAO cerebral scintigraphy. A reliable, noninvasive method for determination of brain death. Clin Nucl Med 18: 104–109 Wijdicks EFM, Rabinstein A, Manno E, Atkinson J (2008) Pronouncing brain death. Neurology 71: 1240–1244 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer (1998) Richtlinien zur Feststellung des Hirntodes. Dritte Fortschreibung 1997 mit Ergänzungen gemäß Transplantationsgesetz (TPG). Dtsch Ärztebl 95: B-1509–B-1516 Zuckier, LS, Kolano J (2008) Radionuklide studies in the determination of brain death: criteria, concepts, and controversies. Semin Nucl Med 38: 262–273
Literatur zu 7 Abschn. 79.2 Briceno J, Marchal T, Padillo J, Solorzano G, Pera C (2002) Influence of marginal donors on liver preservation injury. Transplantation 74/4: 522–526 DuBose J, Salim A (2008) Aggressive organ donor management. J Intens Care Med 23: 367–375 Guesde R, Barrou B, Leblanc I et al. (1998) Administration of desmopressin in brain-dead donors and renal function in kidney recipients. Lancet 352: 1178–1181 Mascia L, Bosma K, Pasero D et al. (2006): Ventilatory and hemodynamic management of potential organ donors: an observational survey. Crit Care Med 34: 321–327 Mauer D, Nehammer K, Bösebeck D, Wesslau C (2003) Die organprotektive Intensivtherapie bei postmortalen Organspendern. Intensivmedizin 40: 574–584 Pancreas Advisory Commitee (2002) Eurotransplant Foundation [www.eurotransplant.org] Powner DJ, Darby JM (2000) Management of variations in blood pressure during care of organ donors. Prog Transplant 10: 25–30 Rosendale J, Kauffman HM, McBride MA et al (2003) Aggressive pharmacologic donor management results in more transplanted organs. Transplantation 75: 482–487 Salim A, Martin M, Brown C et al. (2006) The effect of a protocol of aggressive donor management: implications for the national organ donor shortage. J Trauma 61: 429–435 Totsuka E, Dodson F, Urakami A et al. (1999) Influence of high donor serum sodium levels on early postoperative graft function in human liver transplantation: effect of correction of donor hypernatremia. Liver Transplant Surg 5/5: 421–428
1035
Intensivtherapie nach Transplantation solider Organe C. Lichtenstern, M. Müller, J. Schmidt, K. Mayer, M.A. Weigand
80.1
Einleitung – 1037
80.2
Hintergrund der Transplantationsmedizin – 1037
80.3
Grundlagen der Abstoßungsreaktion – 1038
80.4
Immunsuppressiva – 1038
80.4.1 80.4.2 80.4.3 80.4.4
Kortikoide – 1038 Calcineurin-Inhibitoren – 1040 Antiproliferativa – 1042 Antilymphozyten-Antikörperpräparate – 1043
80.5
Infektiologische Komplikationen der Immunsuppression – 1043
80.5.1 80.5.2 80.5.3 80.5.4
Infektiologische Überwachung – 1044 Antimikrobielle Prophylaxe – 1045 Antimikrobielle Therapie – 1045 Tumorerkrankungen als Komplikation einer immunsuppressiven Therapie – 1045 HIV und Organtransplantation – 1046
80.5.5
80.6
Spezielle Intensivmedizin nach Nieren-/Nieren-PankreasTransplantation – 1046
80.6.1 80.6.2 80.6.3 80.6.4
Einleitung – 1046 Komorbidität – 1046 Operationstechnik – 1046 Postoperative Intensivtherapie – 1047
80.7
Kombinierte Nieren-Pankreas-Transplantation – 1047
80.7.1 80.7.2
Operationstechnik – 1048 Postoperative Intensivtherapie – 1048
80.8
Lebertransplantation – 1048
80.8.1 80.8.2 80.8.3 80.8.4 80.8.5 80.8.6 80.8.7
Einleitung – 1048 Hämodynamische Effekte und hepatorenales Syndrom – 1049 Hepatopulmonales Syndrom und portopulmonale Hypertension – 1049 Hepatische Enzephalopathie – 1049 Präoperative Intensivtherapie – 1049 Operationstechnik – 1050 Postoperative Intensivtherapie – 1050
H. Burchardi et al. (Hrsg.), Die Intensivmedizin, DOI 10.1007/978-3-642-16929-8_80, © Springer Medizin Verlag Berlin Heidelberg 2011,
80
1036
80 80 80 80 80 80 80 80 80 80 80 80 80 80 80 80 80 80 80 80 80 80 80 80 80
Kapitel 80 · Intensivtherapie nach Transplantation solider Organe
80.9
Herztransplantation – 1051
80.9.1 80.9.2 80.9.3
Einleitung – 1051 Präoperative Intensivtherapie – 1052 Postoperative Intensivtherapie – 1052
80.10
Lungentransplantation – 1054
80.10.1 80.10.2 80.10.3 80.10.4
Einleitung – 1054 Präoperative Intensivtherapie – 1055 Operationstechnik – 1055 Postoperative Intensivtherapie – 1055
Literatur – 1056
1037 80.2 · Hintergrund der Transplantationsmedizin
80.1
Einleitung
Hintergrund der Transplantationsmedizin
80.2
Der Intensivmedizin kommt eine zentrale Bedeutung in Rahmen der Transplantationsmedizin zu. Aufgrund ihrer marginalen Organfunktion benötigen die Patienten nicht selten bereits im Vorfeld der Transplantation eine intensivmedizinische Versorgung, zu der dann auch die Evaluation und Listung sowie die Koordination des zeitkritischen Transplantationsablaufs gehören können. Die direkte postoperative Betreuung nach komplexen Organtransplantationen bedarf fast ausschließlich der Versorgung im Rahmen von Überwachungsstationen, in denen sowohl direkt transplantationsassoziierte Komplikationen als auch Nebenerkrankungen eine intensivmedizinische Behandlungen notwendig machen. Sie zielt auf die Stabilisierung der Organfunktion, Behandlung begleitender Organdysfunktionen, adäquate Induktion der Immunsuppression und die möglichst frühe Wiedererlangung der Eigenständigkeit des Transplantierten ab. Die spezifische intensivmedizinische Betreuung transplantierter Patienten dient der Erhaltung der Funktion des Transplantats, der Steuerung der immunsuppressiven Medikation sowie deren Nebenwirkungen und Interaktionen und Therapie von (spezifischen) Begleiterkrankungen. Das intensivmedizinische Vorgehen z. B. in Bezug auf Hämodynamik, Beatmung, Sedierung oder Therapie von Blutungen unterliegt dabei organspezifischen Zielwerten, um sekundären Schäden des Transplantats vorzubeugen. Die intensivmedizinische Betreuung von Transplantationspatienten ist immer eine interdisziplinäre Angelegenheit (. Abb. 80.1). > Transplantationspatienten bedürfen nicht selten präund postoperativ einer interdisziplinären intensivmedizinischen Betreuung. Dabei kommt der Behandlung bestehender Organdysfunktionen und der Erhaltung der Transplantatfunktion eine zentrale Bedeutung zu.
Psychiatrie Psychosomatik
Medizinische Klinik Nephrologie Hepatologie Kardiologie Pulmonologie
. Abb. 80.1 Multidisziplinarität der Transplantationsmedizin TransplantationKoordination Gesetzgeber DSO Eurotransplant
Explantationsteam
Organversagen Ambulante Nachsorge
Apotheke
Erste Versuche mit der Transplantation von Organen vom Tier auf den Menschen und von einem Menschen zu einem anderen scheiterten Ende des 19. Jahrhundert. Bald erkannte man, dass im Gegensatz dazu Gewebeverpflanzungen innerhalb eines Individuums möglich waren. Die Erkenntnis, dass die Abstoßung fremder Gewebe Folge einer Immunisierung ist, wurde durch Peter Medawar 1945 beschrieben. Das für die Erkennung körperfremder Gewebe entscheidende Human-Leukocyte-Antigen-System (HLA) wurde 1958 erstmals beschrieben. Ein erster Transplantationserfolg ergab sich 1954 mit der ersten erfolgreichen Nierentransplantation bei eineiigen Zwillingen durch Murray in Boston, USA. Im Jahr 1963 wurde dann erfolgreich die erste Lunge und im gleichen Jahr durch Starzl in Denver die erste Leber transplantiert. Christiaan Barnard wurde 1967 durch die erste Herztransplantation in Kapstadt weltberühmt. Der Patient überlebte diese Operation 18 Tage. Den entscheidenden Durchbruch erfuhr die Transplantationsmedizin 1976 mit der Entdeckung der immunsuppressiven Effekte von Ciclosporin A durch Jean Borel. Die Induktion einer donorspezifischen Toleranz unter Erhaltung der eigenen Immunität ist die Zielvorstellung für die Weiterentwicklung der Transplantationsmedizin. Bis heute wurden verschiedene Strategien hierzu beschrieben, die auf einer Induktionstherapie mit monoklonalen Antikörpern, einer Übertragung hämatopoietischer Stammzellen des Organspenders [43] und der Induktion von hemmenden Zellen, die die gegen das Spendergewebe gerichteten Lymphozyten regulieren, beruhen [39]. Die Spende, Entnahme, Vermittlung und Übertragung unterliegt in Deutschland den Regelungen des Transplantationsgesetzes. Die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) ist die bundes-
Listung Spenderallokation
Transplantionschirurgie
Malignome Immunsuppression
Organtransplantation
Immunologie
Operation Anästhesie
Toleranzinduktion
Abstoßung
Transplantatversagen
Pathologie
Individualisierte Therapie Infektion Labormedizin
Radiologie
Blutbank
Infektiologie Mikrobiologie
Intensivmedizin
80
1038
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weite Koordinierungsstelle für die postmortale Organspende der vermittlungspflichtigen Organe Niere, Herz, Leber, Lunge, Pankreas und Dünndarm. Im Jahr 2009 wurden in Deutschland gut 1200 postmortale Organentnahmen und etwa 3900 Organtransplantationen durchgeführt. Für die Länder Niederlande, Belgien, Luxemburg, Österreich, Slowenien, Kroatien und Deutschland wird bei der Stiftung Eurotransplant in Leiden (Niederlande) eine gemeinsame Warteliste der potenziellen Organempfänger geführt. An diese Vermittlungsstelle melden die Transplantationszentren die erforderlichen Daten der zur Organtransplantation gelisteten Patienten. Heute steht der Zahl der Patienten auf den Wartelisten ein eklatanter Mangel an Spenderorganen gegenüber. Aktuelle Tumorerkrankungen, die durch die Transplantation nicht kurativ behandelt sind, stellen eine Kontraindikation für eine Transplantation dar, wobei im Falle von kurativ behandelten oder chronischen Tumorerkrankungen individuell entschieden werden muss. Suchterkrankungen sowie andere psychiatrische Erkrankungen, die eine mangelnde Therapiebindung in der Folge der Transplantation sehr wahrscheinlich machen, schließen eine Transplantation ebenfalls aus.
80 80.3
80 80 80 80 80 80 80 80 80 80 80 80 80 80 80 80
Kapitel 80 · Intensivtherapie nach Transplantation solider Organe
Grundlagen der Abstoßungsreaktion
Die genetisch fremden Gewebe eines transplantierten Organs induzieren z. B. durch die Zelloberflächenmerkmale des AB0-Systems oder die auf allen kernhaltigen Zellen ausgeprägten Haupthistokompatibilitätskomplexe (MHC) eine Abwehrreaktion des Empfängers. Nicht körpereigene MHC werden als Antigen erkannt und lösen so die entscheidende T-Zell-Reaktion aus. Eine möglichst genaue Übereinstimmung der MHC-Typen von Spender und Empfänger (identisch bei eineiigen Zwillingen) erhöht die Akzeptanz des Fremdgewebes. Man unterscheidet eine akute und eine chronischen Form der Abstoßungsreaktion. Die kurz nach der Transplantation perakut verlaufende humorale Abstoßungsreaktion wird durch im Empfängerorganismus präexistierende Antikörper gegen Lymphozyten, Monozyten und/oder Endothelien vermittelt. Es folgt nach einer Komplementaktivierung eine Embolisation der Blutgefäße des Transplantats, die quasi nicht therapierbar ist. Eine im Vorfeld der Transplantation durchgeführte Cross-match-Untersuchung macht diese Variante der Abstoßung unwahrscheinlich. Die zweite akute Abstoßungsreaktion wird durch zytotoxische T-Lymphozyten vermittelt und tritt häufig in der Frühphase nach einer Transplantation auf. Hiervon ist die chronische Abstoßungsreaktion zu unterscheiden, bei der sowohl humorale als auch zelluläre Mechanismen eine Rolle spielen. Eine solche Reaktion verläuft in der Regel über Monate bis Jahre, ist durch eine progrediente Fibrosierung, Vaskulopathie mit Proliferation von Endothel- und Gefäßmuskelzellen gekennzeichnet und im Gegensatz zur akuten Abstoßungsreaktion meist schlecht behandelbar. Die immunologische Auseinandersetzung mit den transplantierten Geweben führt auch unter Immunsuppression zu histologisch nachweisbaren entzündlichen Veränderungen. Das Maß der Abstoßungsreaktion wird anhand von Transplantatbiopsien untersucht. Nach der Transplantation werden unabhängig vom klinischen Zustand in einem festen zeitlichen Schema sog. Protokollbiopsien entnommen, die es ermöglichen, therapiebedürftige Abstoßungen vor einer klinisch manifesten Organdysfunktion zu entdecken [12]. Die histologischen Befunde werden nach organspezifischen internationalen Klassifikationen eingeordnet 4 Nieren-, Lebertransplantate: BANFF-Kriterien [59, 63],
4 Herz-, Lungentransplantate: Klassifikationen der International Society of Heart and Lung Transplantation (ISHLT) [71, 79]). Um eine frühe Schädigung des transplantierten Organs noch vor Einwachsen der Gefäßanschlüsse zu vermeiden, wird mit einer hochdosierten Immunsuppression begonnen, die im weiteren Verlauf reduziert werden kann. Die Kombination mehrerer Immunsuppressiva mit unterschiedlichen Wirkprinzipien verringert dabei das Auftreten assoziierter Nebenwirkungen. Das Ausmaß der notwendigen Immunsuppression ist abhängig von: 4 Zeitpunkt nach der Transplantation (Initialphase, Frühphase, Langzeitverlauf), 4 Art der Transplantation (absteigend: Herz/Lunge, Niere, Leber), 4 Aktivität des Immunsystems (Alter: Kinder, Erwachsene), 4 anderen individuellen Faktoren (z. B. HLA-Mismatch, Ischämiezeit).
80.4
Immunsuppressiva
Kortikosteroide wirken unspezifisch antiinflammatorisch. Calcineurin-Inhibitoren (Ciclosporin A, Tacrolimus) hemmen die Immunreaktion durch Blockierung der IL-2-Produktion in der TZelle. DNA-Synthesehemmer wirken unspezifisch (Azathioprin) bzw. »spezifisch« (MPA, MMF) antiproliferativ auf Lymphozyten. mTOR-Inhibitoren (Sirolimus, Everolimus) blockieren spezifisch die T-Zell-Proliferation durch Unterbrechung der intrazellulären Signalweiterleitung nach Aktivierung des IL-2-Rezeptors. Polyklonale Antikörper und Anti-CD3-Antikörper wirken durch Elimination von T-Zellen immunsuppressiv, während die monoklonalen Antikörper gegen den IL-2-Rezeptor die Proliferation aktivierter T-Zellen blockieren.
80.4.1
Kortikoide
Kortikoide bewirken nach Bindung intrazellulärer Rezeptoren eine Hemmung der Transkription der Gene proinflammatorischer Zytokine (z. B. IL-1, IL-2; . Abb. 80.2). Damit üben sie einen unspezifisch entzündungshemmenden Einfluss auf Leukozyten aus. Bekannte unerwünschte Wirkungen der Steroide sind Flüssigkeitsretention, diabetische Stoffwechsellage, Hypercholesterinämie und Osteoporose. Im Rahmen der Transplantation werden Kortikoide in hohen Dosen zunächst parenteral und später enteral verabreicht, um eine frühe Abstoßung während des Einheilens des transplantieren Organs zu verhindern. Dazu wird Prednisolon oder Methylprednisolon (500–1000 mg; 10 mg/kg KG) intravenös appliziert (. Tab. 80.1). In den ersten postoperativen Tagen kann Prednisolon in einer Dosierung von bis zu 1,5–5 mg/kg KG (zumeist aufgeteilt in 2 oder 3 Dosen) gegeben werden, bevor es in den folgenden Tagen/Wochen weiter reduziert und ganz ausgeschlichen werden kann. Hohe intravenöse Kortikoidboli werden auch im Fall einer akuten Abstoßungsreaktion verwendet, z. B. Methylprednisolon 10 mg/kg KG/ Tag über 3 Tage.
1039 80.4 · Immunsuppressiva
T-Zell-RezeptorTCR Komplex αβ
Kostimulierende Membranproteine
CD4
. Abb. 80.2 Wirkungsmechanismus der Immunsuppressiva an der T-Helferzelle
γ
z. B. CD28γ CD40L
β
IL-2-Rezeptor Induzierbar α (CD25)
CD3
CD3
Apoptose Sirolimus/Everolimus: FKBP
Ciclosporin: Ciclophilin mTOR
Calcineurin Steroide
NFAT
NFkB
Tacrolimus: FKBP G1
IL2-Gen AP-1
S
Purine
Transkription M
NFAT NFkB
G2
. Tab. 80.1 Dosierung, Verfügbarkeit, Zielspiegel der Immunsuppressiva Gruppe
Wirkstoff
Bioverfügbarkeit
Dosierung
Kortikoide
Predisolon Methylprednisolon
>90%
Methylprednisolon: 3–5×500 mg i.v. Stoßtherapie bei Abstoßung
Zielspiegel (Erwachsene)
Ciclosporin A: Kortikoidwirkung p CsA-Spiegel n Enzyminduktoren für CYP-450 (z. B. Rifampicin, Phenytoin, Barbiturate, Primidon): Kortikoidwirkung p Nichtsteroidale Antiphlogistika und Salicylate: gastrointestinale Blutungsgefahr n
Prednison: initial bis 1,5 mg/kg KG, anschließend Reduktion nach Schema des Transplantationszentrums
Calcineurininhibitoren
Ciclosporin A (Microemulsion)
30–60%
I: 2×2,5–3,75 mg/ kg KG E: 2×0,5–2 mg/kg KG
Interaktionen
I: 100–375 ng/ml (Talspiegel) 800–1700 ng/ml (C2-Spiegel) E: 75– 250 ng/ml (Tal-Spiegel) 500–800 ng/ml (C2-Spiegel)
CYP-450 Substrate (Azolantimykotika, Makrolidantibiotika, Kalziumantagonisten, Allopurinol, Danazol, Metoclopramid, Methylprednisolon): Ciclosporin A-Spiegel n CYP-450 Induktoren (Barbiturate, Carbamazepin, Johanniskraut, Metamizol, Nafcillin, Octreotid, Orlistat, Phenytoin, Probucol, Rifampicin, Sulfadimidin u. Trimethoprin (nur i.v.), Sulfinpyrazon, Terbinafin, Ticlopidin): Ciclosporin A-Spiegel p Grapefruit/Grapefruitsaft bewirkt irreversible Hemmung von CYP-450 (3A4): Ciclosporin A-Blutspiegel n n Nephrotoxische Substanzen: Nephrotoxizität n Kortikoide: Häufigkeit zerebraler Krampfanfälle n Diclofenac Bioverfügbarkeit von Diclophenac n
80
1040
80
Kapitel 80 · Intensivtherapie nach Transplantation solider Organe
. Tab. 80.1 Fortsetzung Gruppe
Wirkstoff
Bioverfügbarkeit
Dosierung
Zielspiegel (Erwachsene)
Interaktionen
Calcineurininhibitoren (Forts.)
Tacrolimus
5–67%
I: 2×0,05 mg/kg KG E: 2×0,025 mg/kg KG
I: 5–18 ng/ml (Talspiegel) E: 3–15 ng/ml (Talspiegel)
CYP-450 Substrate (7 oben): Tacrolimus-Spiegel n CYP-450 Induktoren (7 oben): Tacrolimus-Spiegel p Grapefruit/Grapefruitsaft bewirkt irreversible Hemmung von CYP-450 (3A4): Tacrolimus-Blutspiegel n n Nephro-, neurotoxische Substanzen Nephro-/Neurotoxizität n Kortikoide: Tacrolimus n p
Antiproliferativa
Azathioprin
85%
I: 1×3–5 mg/kg KG E: 1×1–2 mg/kg KG
MMF, MPA
>90%
2×500 mg bis 2×1500 mg
1,0–4,5 μg/ml (mit CNI) 2,0–4,5 μg/ml (ohne CNI)
Aciclovir, Ganciclovir: Plasmakonzentrationen von Aciclovir/Ganciclovir + MPA n Antazida, Colestyramin, gallensäurenbindende Arzneimittel: MPAExposition p Ciclosporin A: MPA-Plasma-AUC p Tacrolimus: MPA-Plasma-AUC n, MPAG-Plasma AUC p, TacrolimusAUC n?
Sirolimus
10–15%
Loading Dose: 6 mg 1×2 mg/Tag
4–12 ng/ml (mit CNI und Kortikoid) 12–20 ng/ml (mit Kortikoid) 5–10 ng/ml ( mit Aza oder MMF)
CYP-450 Substrate (7 oben): Sirolimus n CYP-450 Induktoren (7 oben): Sirolimus p Kontraindiziert: Voriconazol
Everolimus
16%
I: 2×0,75mg/Tag E: nach Spiegel
3–8 ng/ml
CYP-450 Substrate (7 oben): Everolimus n CYP-450 Induktoren (7 oben): Everolimus p
Polyklonale Ak
Nur i.v.
Nach Präparat
80
Anti-CD3-Ak
Nur i.v.
5 mg/Tag i.v. für 10–14 Tage
80
Anti-IL-2RAk
Nur i.v.
Nach Präparat
80 80 80 80 80 80
Purinsynthesehemmer
Allopurinol Xanthinoxidase (Aza-Dosisreduktion auf 25 %) p Muskelrelaxantien Wirkung pn Warfarin gerinnungshemmende Wirkung p Zytostatika/myelosuppressive Mittel: Myelotoxizität: n
80 80 80 80 80 80
mTORInhibitoren
80 80 80 80
Antikörperseren
80
Abkürzungen: I=Induktionsdosis, E=Erhaltungsdosis. Ak=Antikörper.
80
80.4.2
80
Das intrazelluläre Enzym Calcineurin bindet die durch den T-ZellRezeptor intrazellulär freigesetzten Kalziumionen und aktiviert danach die zytosolische Komponente des Transkriptionsfaktors NF-AT, das verbunden mit seiner nukleären Komponente unter anderem die Synthese von Interleukin-2 (IL-2) bewirkt. Die Calcineurin-Inhibitoren (CNI) [Ciclosporin A, Tacrolimus (FK507)] blockieren die Bindung von Kalziumionen an die spezifische Bindungsstelle am Calcineurin und entfalten so ihre immunsuppressive Wirkung v. a. über die Hemmung der Freisetzung von IL-2 aus T-Zellen (. Abb. 80.2).
80 80 80
Calcineurin-Inhibitoren
Calcineurin-Inhibitoren besitzen eine dosisabhängige nephrotoxische Wirkung, die bei intravasaler Hypovolämie schnell zur Entwicklung eines akuten Nierenversagens führen kann. Der Einsatz weiterer potenziell nephrotoxischer Medikamente ist deshalb kritisch abzuwägen. CNI begünstigen die Entstehung eines Hypertonus und einer Osteoporose. Zusätzlich kann CNI eine Reihe von neurologischen Nebenwirkungen verursachen, wie z. B. Tremor, Kopfschmerzen, Parästhesien und die CNI-assoziierte posteriore Leukenzephalopathie mit Verwirrung, Koma, Krampfanfällen, kortikaler Blindheit und Lähmungen (. Tab. 80.2).
80
1041 80.4 · Immunsuppressiva
. Tab. 80.2 Nebenwirkungen der Immunsuppressiva Kortikoide
Antiproliferativa
Calcineurininhibitoren
Antikörperpräparate
Ciclosporin A
Tacrolimus
Azathioprin
MMF, MPA
Sirolimus
Everolimus
Polyklonale Ak
AntiCD3-Ak
AntiIL2R-AK
Arterieller Hypertonus
+++
+++
++
–
–
+
+
–
–
–
Nephrotoxisch
–
+++
+++
–
–
+ (Proteinurie)
+ (Proteinurie)
+ (bei wiederholter Gabe)
–
–
Diabetes mellitus
+++
– (?)
+
–
+
–
–
–
–
–
Hyperlipidämie
++
++
+
–
–
+++
+++
–
–
–
Osteoporose
+++
+
+
–
–
–
–
–
–
–
Neurologische Symptome
+
++
++
+
+
–
–
–
–
–
Knochenmarkdepression
–
+
+
+++
+++
++
++
–
–
–
Gastrointestinale Beschwerden
+
+
+
+
+++
++
++
–
+
+
Wundheilungsstörungen
+
–
–
+
+
++
++
–
–
–
Myalgie/ Arthralgie
+
–
–
+
–
++
++
+
+
+
Hirsutismus
–
+
–
–
–
–
–
–
–
–
Apopezie
–
–
+
+
+
–
–
–
–
–
Gingivahypertrophie
–
++
+
–
–
–
–
–
–
–
Allergische Reaktionen/ Anaphylaxie
–
–
–
–
–
–
–
+++
++
+
Fieber, Schüttelfrost
–
–
–
–
–
–
–
++
+++
+
Dermatitis/ Akne
+
–
+
+
–
++
++
–
–
–
Malignome
–
++
++
?
?
–
–
++
+
+
– nicht berichtet, + selten, ++ häufig, +++ sehr häufig beschrieben.
Ciclosporin A Ciclosporin A bildet intrazellulär mit Cyclophilin einen Komplex, der dann an Calcineurin bindet und dessen Aktivierung durch Kalziumionen hemmt. Es steht zur intravenösen und oralen Applikation zur Verfügung, wobei die orale Bioverfügbarkeit auch der neueren Mikroemulsionen großen inter- und intraindividuellen Unterschieden unterliegt (30–60%). Ciclosporin A wird 2-mal täglich im Abstand von 12 h (. Tab. 80.1). Die enterale Resorption von Ciclosporin A ist dabei u. a. auch vom Gallefluss abhängig, was z. B. für Lebertransplantierte von großer Relevanz ist. Ciclosporin A wird über Cytochrom P 450 (CYP 450) (Isoenzym 3A4) in der Leber verstoffwechselt. Daraus
ergeben sich vielfältige Möglichkeiten von Arzneimittel- bzw. Nahrungsmittelinteraktionen, wie z. B. Azol-Antimykotika, diverse Antibiotika, aber auch Johanniskrautpräparate und Grapefruitsaft [CYP 450-(3A4)-Blockade]. Die Halbwertszeit liegt in Abhängigkeit von der Leberfunktion bei 6–20 h. Aufgrund der geringen therapeutischen Breite und der variablen Bioverfügbarkeit von Ciclosporin A ist eine strenge Wirkspiegelüberwachung in der Intensivmedizin unbedingt notwendig. In der Regel werden Talspiegel 12 h nach Applikation bestimmt (Zielspiegel: 80–250 ng/ml). Da die Absorptionsschwankungen in den ersten Stunden am größten sind, kann auch eine Messung 2 h nach der Applikation durchgeführt werden (Zielspiegel: 500–
1042
80 80 80 80 80 80 80 80 80
Kapitel 80 · Intensivtherapie nach Transplantation solider Organe
1200 ng/ml). Dies korreliert genauer mit dem Plasmakonzentrationsverlauf und kann deshalb bei schwierigen Fällen zu einer verbesserten Einstellung führen [56].
Tacrolimus Tacrolimus geht intrazellulär einen Komplex mit dem Immunophilin FKBP ein, das ebenfalls die kalziumabhängige CalcineurinAktivierung und damit die IL-2-Synthese hemmt. Es ist seit 1994 in Deutschland zur Immunsuppression nach Organtransplantation zugelassen [36, 77]. Auch Tacrolimus kann sowohl enteral als auch parenteral verabreicht werden, wobei die enterale Verfügbarkeit ebenfalls einer hohen Variabilität (5–67%) unterliegt. Tacrolimus wird täglich 2-mal im Abstand von exakt 12 h gegeben (. Tab. 80.1), um die angestrebten Vollblutspiegel von 5–15 ng/ml zu erreichen. Eine neue Galenik erlaubt auch eine einmalige orale Tagesgabe (Advagraf). Die Elimination von Tacrolimus geschieht ebenfalls hauptsächlich über CYP 450-(3A4) in der Leber. Die Halbwertszeit liegt bei 12–16 h. Außerdem bewirkt Tacrolimus über Calcineurin in den Inselzellen in einem stärkeren Maße als Ciclosporin A eine Reduktion der Insulinsekretion und begünstigt einen Diabetes mellitus. Darüber hinaus kommt es unter Tacrolimus tendenziell häufiger zu neurologischen Nebenwirkungen als unter Ciclosporin A.
80 80 80 80 80 80 80 80 80 80 80 80 80 80 80 80
80.4.3
Antiproliferativa
Diese Gruppe von Immunsuppressiva hemmt die Proliferation der nach Antigenkontakt stimulierten Lymphozyten entweder unspezifisch durch Störung der Nukleinsäuresynthese oder durch selektive Blockade der intrazellulären Signaltransduktion in den T-Zellen.
Unselektive Purinsynthesehemmer: Azathioprin, 6-Mercaptopurin Azathioprin wird in der Leber zu 6-Mercaptopurin umgewandelt, das als Antimetabolit der Nukleinsäuresynthese zu einer allgemeinen Proliferationshemmung führt (. Abb. 80.2). Aufgrund des unselektiven Wirkungsmechanismus wirken diese Substanzen bei hohen Dosierungen hämatotoxisch. Personen mit einer Unterfunktion der Thiopurin-Methyltransferase (Untersuchung in Speziallaboratorien) bzw. im Fall einer Komedikation mit Xanthinoxidasehemmern (Allopurinol) sind hiervon besonders betroffen. Weitere Nebenwirkungen von Azathioprin und 6-Mercaptopurin sind gastrointestinale Beschwerden, Pankreatitiden und cholestatische Hepatitiden. Heute werden bevorzugt T-Zell-selektive Antiproliferativa verwendet.
T-Zell-»selektive« Purinsynthesehemmer: Mycophenolatmofetil, Mycophenolsäure Mycophenolatmofetil (MMF) wird im Magen zur wirksamen Substanz Mycophenolsäure (MPA) hydrolisiert, das auch direkt als magensaftresistente Darreichung angeboten wird (1 g MMF äquivalent zu 0,72 g MPA). Diese Substanzen besitzen eine T-Zell-spezifische antiproliferative Wirkung, da sie durch Hemmung der Inosinmonophosphatdehydrogenase die De-novo-Purinsynthese blockieren, auf die T- und B-Zellen in ihrer Proliferation angewiesen sind (. Abb. 80.2). Andere Zellen besitzen zumeist die Möglichkeit, über den »salvage pathway« Purine wiederzuverwerten und sind deshalb weniger MPA-empfindlich, woraus sich eine geringere knochenmarkdepressive Potenz ergibt. MPA wird im Dünndarm resorbiert (Bioverfügbarkeit >90%) und unterliegt nach Glucuronidierung in der Leber einem enterohepatischen Kreislauf, da es nach Ausschei-
dung mit der Galle von Dünndarmbakterien wieder in MPA abgebaut und reabsorbiert wird. Beide Substanzen werden 2-mal täglich verabreicht und besitzen eine Halbwertszeit von etwa 16 h. Gastrointestinale Beschwerden wie Diarrhö, Bauchschmerzen und Übelkeit sind die häufigsten Nebenwirkungen, wobei eine Zytopenie gleichwohl in seltenen Fällen auftritt. Die Kombination dieser spezifischen Antiproliferativa mit Calcineurin-Inhibitoren erlaubt deutlich niedrigere CNIZielspiegel als eine Kombination mit Azathioprin, was sich positiv auf potenzielle Nebenwirkungen der immunsuppressiven Therapie auswirkt.
mTOR-Inhibitoren: Sirolimus, Everolimus Sirolimus und Everolimus bilden wie Tacrolimus mit dem Immunphilin FKBP einen Komplex, der aber nicht Calcineurin, sondern die zytosolische Proteinkinase »mammalian target of Rapamycin« (mTOR) deaktiviert (. Abb. 80.2). Dadurch blockieren sie die IL2-Rezeptor-vermittelte Signaltransduktion und Aktivierung von T-Killerzellen und stoppen den Zellzyklus dieser Zellen in der G1Phase, während andere Effekte wie die IL-2-vermittelte Apoptose erhalten bleiben. mTOR-Inhibitoren hemmen aufgrund ihres späteren Angriffspunktes die T-Zell-Proliferation auch noch 24 h nach Antigenkontakt. Sirolimus und Everolimus sind insbesondere für die Immunsuppression nach Nierentransplantationen attraktiv, da sie für sich allein nicht nephrotoxisch sind [42, 55]. Allerdings wird für die Kombination mit den Calcineurin-Inhibitoren eine Verstärkung der nephrotoxischen Wirkung beschrieben. Eine mögliche kompetitive Hemmung in Kombination mit Tacrolimus am gemeinsamen Angriffspunkt FKBP scheint klinisch wenig bedeutsam [50, 52]. Sirolimus ist für Nierentransplantierte für die initiale Kombination mit Ciclosporin A und für eine Dauertherapie ohne Ciclosporin A zugelassen. Die synergistischen immunsuppressiven Effekte beider Substanzen erlauben eine Dosisreduktion von Ciclosporin A bis hin zum kompletten Ausschleichen, oder alternativ auch eine Reduktion der Dosierung von Kortikoiden. Sirolimus wird einmal täglich gegeben. Es steht ausschließlich in einer enteralen Darreichung zur Verfügung, die einer gewissen inter- und intraindividuellen Schwankung unterliegt (10–15% Bioverfügbarkeit). Der Abbau geschieht über CYP 450 (3A4) in der Leber mit einer Halbwertszeit von etwa 60 h. Wirkspiegelmessungen sind deshalb unbedingt notwendig, wobei in der Kombination mit Ciclosporin A ein Sirolimus-Talspiegel von 4–12 ng/ml im Vollblut angestrebt wird. Da beide Substanzen bei gleichzeitiger Verabreichung schlecht steuerbar miteinander interagieren, sollen sie versetzt in einem Abstand von etwa 4 h gegeben werden. Im Fall des Absetzens von Ciclosporin A muss die Sirolimus-Dosis wegen der dann fehlenden Interaktion etwa 3- bis 4-mal höher dosiert werden, um den therapeutischen Zielspiegel der Monotherapie von 12–20 ng/ml zu erreichen. Die antiproliferative Wirkung von Sirolimus beeinflusst auch glatte Gefäßmuskelzellen und Malignomzellen, woraus eine günstige Beeinflussung der Langzeitprognose abgeleitet wird [14, 34]. Sirolimus führt dosisabhängig zu einer Hyperlipidämie, die häufig eine begleitende Behandlung mit Statinen notwendig macht. Weitere Nebenwirkungen sind gastrointestinale Beschwerden, Anämie, Leukopenie, Thrombozytopenie, thrombotische Mikroangiopathie, Arthralgie und Akne. Auch Everolimus besitzt eine geringe Bioverfügbarkeit (ca. 16%) und wird ebenfalls über CYP 450 (3A4) verstoffwechselt (Halbwertszeit etwa 28 h), weswegen eine Wirkspiegelüberwachung (Zielbereich: 3–8 μg/l) notwendig ist. Es besteht ein vergleichbares Interaktionspotenzial wie für Sirolimus. Unter Everolimus lassen
1043 80.5 · Infektiologische Komplikationen der Immunsuppression
sich die Ciclosporin A-Dosierung und damit die nephrotoxischen Nebenwirkungen der immunsuppressiven Therapie reduzieren. Everolimus ist für Patienten nach Nieren- und Herztransplantation in Kombination mit Ciclosporin A zugelassen. Dabei war es in einer Dreifachkombination mit Ciclosporin A und einem Kortikoid gleichwertig zu MMF bei Nierentransplantierten und überlegen zu Azathioprin bei Herztransplantierten [23].
80.4.4
Antilymphozyten-Antikörperpräparate
Globulinpräparate richten sich gegen Merkmale von Lymphozyten und führen entweder zu deren Depletion (polyklonale Seren, AntiCD3-Seren) oder zur Blockierung des aktivierenden IL-2-Rezeptors. Sie sind entweder tierischen Ursprungs oder werden rekombinant hergestellt. Antikörperpräparate werden zur immunsuppressiven Induktion auch wegen der Möglichkeit, die Dosierung anderer Immunsuppressiva (z. B. CNI) zu reduzieren, oder zur Behandlung der (steroidrefraktären) Abstoßungsreaktionen eingesetzt.
Polyklonale Seren Diese Antikörperpräparate reagieren aufgrund ihrer polyklonalen Zusammensetzung mit einer Vielzahl von Merkmalen menschlicher T-Zellen. Dadurch bewirken sie infolge einer raschen Elimination (Zelllyse) der gebundenen Lymphozyten eine rasch einsetzende starke Immunsuppression [8]. Da es sich um tierische Globuline (Kaninchen, Pferd) handelt, ist insbesondere bei einer wiederholten Gabe mit allergischen Reaktionen, einschließlich Fieber, Übelkeit, Serumkrankheit, Immunkomplexnephritis, oder Thrombozytopenie zu rechnen. Im Rahmen von wiederholten Gaben wurde das Auftreten von Lymphomen und monoklonalen Gammopathien beschrieben. Die Halbwertszeiten liegen je nach Präparat bei 2–14 Tagen.
Monoklonale Antikörper Anti-CD3-Antikörper (OKT3) ist ein von Mäusen stammender monoklonaler Antikörper, der an CD3, ein dem T-Zell-AntigenRezeptor (TCR) assoziiertes Protein, bindet und so die Antigenbindung an T-Zellen verhindert. OKT3 aktiviert die T-Zelle, ohne dass ein weiteres Antigen an den TCR binden kann, und bewirkt eine folgende Zytokinausschüttung. Nach Unterbindung der T-ZellProliferation folgt die rasche Depletion des gesamten T-Zell-Pools durch Lyse oder Apoptose mit einer ausgeprägten suppressiven Wirkungen (spezifische zelluläre und sekundär humorale Immunität). OKT3 wird v. a. bei akuten Abstoßungsreaktionen eingesetzt. Als spezifische Nebenwirkung ist das Zytokinfreisetzungssyndrom mit Fieber, Schüttelfrost/Rigor, Kopfschmerz, Tremor, Übelkeit/Erbrechen, Durchfall, Muskel- und Gelenkschmerzen zu nennen. Patienten können im Verlauf einer Therapie Antikörper gegen OKT3 bilden, die zu einem Wirkungsverlust und allergischen Reaktionen führen können. Die Gefahr von Virusinfektionen, insbesondere CMV, und einem EBV-assoziierten lymphoproliferativen Syndrom ist bei einer Therapie mit OKT3 deutlich erhöht. Die rekombinanten IL-2-Rezeptor-Antikörper Basiliximab und Daclizumab verhindern durch Rezeptorblockade nur die IL2-vermittelte T-Zell-Proliferation. Dabei werden spezifisch die nach Antigenkontakt aktivierten T-Zellen an ihrer Proliferation gehindert, während ruhende T-Zellen unbeeinflusst bleiben. Auch die alternative IL-15-abhängige Proliferation wird unterbunden, da IL-15 ebenfalls am blockierten Rezeptor bindet. Beide Substanzen wurden bisher zusätzlich zu einem Standardschema aus Ciclosporin A und Steroiden zur Induktion der immunsuppressiven Therapie ver-
abreicht, wodurch sich die Rate akuter Abstoßungsreaktionen bei Nierentransplantationen um ca. 30% senken ließ. Ihre Wirkdauer erstreckt sich auf eine bis mehrere Wochen. Beide Präparate werden am Tag der Transplantation und dann in einem festen Schema in den folgenden Wochen appliziert. Sie besitzen beide ein sehr günstiges Nebenwirkungsprofil quasi ohne allergische Reaktionen, da aufgrund der rekombinanten Herstellung nur der bindende Fab-Anteil des Antikörpers von einem immunisierten Mausklon stammt, während der übrige Fc-Anteil humanen Charakter hat. Weitere neue Antikörperpräparate sind auf dem Markt, und ihr Nutzen im Rahmen von Organtransplantationen befindet sich in der klinischen Untersuchung. Alemtuzumab ist ein Anti-CD52Antikörper, der zu einer Depletion von Lymphozyten, Monozyten, NK-Zellen und Thymozyten sowohl im peripheren Blut als auch in den Lymphknoten führt, während lymphozytäre Gedächtniszellen erhalten bleiben. Alemtuzumab könnte aufgrund seiner breiten Wirksamkeit bei der Induktion einer Toleranzentwicklung Anwendung finden. Weitere Angriffspunkte sind eine negative Regulation der Kostimulation des T-Zell-Rezeptors über CD28 mittels CTLA-4 (Belatacept) oder die Interaktion antigenpräsentierender Zellen mit T-Zellen über LFA-1; CD11a (Efalizumab). Fazit Man unterscheidet 4 Immunsuppressivaklassen: 4 Kortikoide, 4 Calcineurin-Inhibitoren, 4 Antiproliferativa, 4 Antikörperpräparate. Sie beeinflussen im Wesentlichen die Funktion bzw. Proliferation der für die Abstoßungsreaktion verantwortlichen T-Lymphozyten (. Abb. 80.2). Die Doppeltherapie aus einem CNI und einem Kortikoid stellt bis heute ein Basisregime dar. Insbesondere die Problematik der Nephrotoxizität der CNI lässt aber nach Alternativen suchen. Antiproliferativa erlauben als Ergänzung in einer Dreifachtherapie, die CNI-Dosis zu reduzieren oder diese bei niedriger Abstoßungsgefahr evtl. vollständig zu ersetzen. Antikörperpräparate können ergänzend zur Induktion der Immunsuppression oder zur Therapie der akuten Abstoßung angewendet werden. Es gilt, für jeden Patienten eine individuelle Langzeitkombination mit entsprechenden Wirkspiegeln zu finden.
80.5
Infektiologische Komplikationen der Immunsuppression
Immunsuppressiva bedingen eine erhöhte Infektanfälligkeit, reduzieren die klinischen Symptome einer Infektion und begünstigen deren foudroyanten Verlauf. Das Spektrum wahrscheinlicher Infektionserreger ist insbesondere um Viren, Pilze und intrazelluläre Bakterien erweitert. Eine strenge Expositionskontrolle gegenüber potenziellen Pathogenen ist entscheidend und beinhaltet z. B. eine besondere Aufmerksamkeit beim Patientenkontakt, restriktive Indikationen zu invasiven Techniken/Applikationen und die Beachtung entsprechender baulicher Voraussetzungen. Prophylaktische Therapien sollen bei vorliegender Evidenz entsprechend durchgeführt werden. Eine empirisch kalkulierte antiinfektive Therapie muss dem spezifischen 6
80
1044
Kapitel 80 · Intensivtherapie nach Transplantation solider Organe
Phase I 0 - 80 Tage Nosokomiale Infektionen
80 80 80
Bakterien
Viren
Wund-, Katheter-, Harnwegsinfekte, Pneumonie auch atypische Bakterien
Phase II 30 - 180 Tage Opportunistische Infektionen
Nokardien Listerien, Mykobakterien
HSV CMV EBV, VZV, RSV, Adenoviren HBV, HCV
80 80 80
Pilze
Candida Aspergillus
Parasiten
. Abb. 80.3 Infektionsrisiken im zeitlichen Verlauf nach Organtransplantation (HSV=humanes Herpesvirus, CMV=Zytomegalievirus, EBV=Epstein-Barr-Virus, VZV=Varizella-zoster-Virus, RSV=«respiratory syncytial virus«, HBV=Hepatitis-B-Virus, HCV=Hepatitis-C-Virus). (Mod. nach [27])
Phase III > 180 Tage Chronische Infektionen
CMV- Retinitis- Kolitis EBV-assoziierte lymphoproliferative Erkrankung Papillomavirus
Pneumocystis jiroveci Cryptococcus neoformans Toxoplasma gondii Strongyloides stercoralis
80 80 80 80 80 80 80 80 80 80 80 80 80 80 80 80 80 80 80
Keimspektrum Rechnung tragen. Im Fall einer Sepsis muss auch die Reduktion/Pausierung der Immunsuppression, begleitet von einer engmaschigen Abstoßungsdiagnostik, erwogen werden. Das große Interaktionspotenzial von Immunsuppressiva z. B. mit einer Reihe von Antiinfektiva, muss beachtet werden.
Die Reduktion der Aktivität der T-Zell-vermittelten Immunreaktion durch Immunsuppressiva prädisponiert insbesondere für Infektionen durch Viren, bestimmte Parasiten, Pilze und intrazelluläre bakterielle Erreger bzw. Mykobakterien [18]. Zusätzlich erhöht die Schwächung der angeborenen unspezifischen und der humoralen Immunität, z. B. durch Kortikoide, die Gefahr für Infektionen durch Bakterien und respiratorische Viren. Bereits vorliegende Virusinfektionen mit intrinsisch immunmodulierenden Effekten (CMV, EBV, HBV oder HCV) begünstigen das Auftreten weiterer Infektionserkrankungen. Mit der Transplantation können persistierende intrazelluläre Erreger, wie z. B. CMV oder Toxoplasma gondii, durch das Transplantat vom Spender auf den Empfänger übertragen werden. Für Transplantationspatienten besteht im Rahmen einer stationären Behandlung ein erhöhtes Risiko für bekannte Erreger nosokomialer Infektionen wie z. B. Pseudomonas aeruginosa, multiresistente Bakterien (z. B. MRSA, VRE, ESBL) und Clostridium difficile. Oberflächliche und tiefe Wundinfektionen durch Bakterien bzw. Candida spp., Pneumonien (u. a. durch Aspergillus spp.), Harnwegsinfekte und katheterassoziierte Infektionen können als perioperative nosokomiale Infektion innerhalb des 1. Monats auftreten (. Abb. 80.3). Ab dem 2. Monat spielen klassische opportunistische Infektionen eine zunehmende Rolle: 4 CMV 5 wichtigste Virusinfektion, 5 abhängig von Serostatus, Immunsuppression, HLA-Kompatibilität und CMV-Status des transplantierten Organs: 10–50%, 5 häufig ist das transplantierte Organ das Ziel der Infektion, 4 Pneumocystis jiroveci, 4 Aspergillus spp. und 4 Candida spp. 5 innerhalb der ersten 3 Monate (postoperativ) und in Phasen verstärkter Immunsuppression, 4 Nokardien,
4 Toxoplasma gondii, 4 Listerien. Ab ca. 6 Monaten nach der Transplantation stellen Pneumokokken, bakterielle Harnwegsinfekte, respiratorische Viren (einschließlich Influenzaviren), Herpes zoster und sehr selten eine CMV-Retinitis die Hauptgefahren dar. Diese zeitliche Abgrenzung gilt für Patienten mit wiederholten akuten oder einer chronischen Abstoßung aufgrund der intensivierten Immunsuppression nur bedingt. Auch Patienten mit chronischen immunmodulierenden Virusinfektionen bleiben deutlich gefährdeter für Infektionen.
80.5.1
Infektiologische Überwachung
Eine umfangreiche infektiologische Diagnostik soll das Vorhandensein viraler und bakterieller Infektionen bei Spender und Empfänger vor der Transplantation untersuchen. Serologische Tests mit Nachweis von Antikörpertiteranstiegen sind unter Immunsuppression selten hilfreich, weshalb einem direkten Erregernachweis, z. B. mittels Kultur oder über kulturunabhängige Verfahren wie PCR, eine bedeutendere Rolle zukommt. Aber auch allgemeine Entzündungsparameter wie Leukozytenzahl, C-reaktives Protein und Procalcitonin (PCT), das auch unter Immunsuppression eine gute Sensitivität und Spezifität für bakterielle und fungale Infektionen besitzt, bleiben hilfreich [10, 45, 62]. Besonders zur Differenzialdiagnose kann PCT wichtige Hinweise liefern, da es im Fall von viralen Infektionen bzw. bei Abstoßungsreaktionen zu keinem PCT-Anstieg kommt. Aufgrund der möglichen Reaktivierung bzw. Neuinfektion mit CMV, die für die Morbidität und Letalität des Transplantierten von großer Relevanz ist, werden nach der Transplantation für 3–6 Monate wöchentliche Screening-Untersuchungen mittels quantitativem pp65-Antigentest aus Leukozyten des peripheren Blutes und/ oder der direkte PCR-Nachweis empfohlen [67, 68]. Bei einer neu auftretenden Leukopenie und im Fall von unklaren Durchfällen muss ebenfalls frühzeitig an eine akute CMV-Infektion gedacht werden [41]. Andere Herpesviren verursachen kurz nach der Transplantation seltener Infektionen. Trotzdem sollten im Verdachtsfall frühzeitig serologische Untersuchungen und ein Antigennachweis durchgeführt werden.
1045 80.5 · Infektiologische Komplikationen der Immunsuppression
Serologische Untersuchungen sind zur Diagnose von Pilzinfektionen bei immunsupprimierten Personen in der Regel nicht aussagekräftig. Der Nachweis pilzlicher Antigene wie dem Polysaccharid 1,3-β-D-Glucans, einem Bestandteil der Pilzzellwand (Ausnahmen: Zygomyzeten, Kryptokokkus), sowie PCR-Verfahren gewinnen hier zunehmend an Gewicht. Der Galactomannan-Antigen-Test aus Serum oder aus der bronchoalveolären Lavage (BAL) deutet besonders bei mehrfach positiven Befunden mit einer hohen Sensitivität auf Aspergillusinfektionen hin. Eine engmaschige infektiologische Überwachung (. Tab. 80.3) trägt dem besonderen Risiko transplantierter Patienten Rechnung.
80.5.2
Antimikrobielle Prophylaxe
Im medizinischen Umgang mit immunsupprimierten Patienten ist zur Vermeidung einer Exposition besonders mit nosokomialen Keimen eine aseptische Arbeitsweise selbstverständlich. Auch ein ausreichender Impfschutz gegen Tetanus, Diphterie, Pertussis, Mumps, Influenza, Streptococcus pneumoniae, Hepatitis B (ggf. Hepatitis A) und Varicella zoster (wenn keine Immunisierung vorliegt) sollte vor Beginn der medikamentösen Immunsuppression bestehen. Unter einer immunsuppressiven Therapie sind Impfungen eingeschränkt wirksam, aber nicht gänzlich ineffektiv, wobei Lebendimpfungen kontraindiziert sind. Aufgrund der bedeutenden Morbidität und Letalität von Infektionen durch CMV und Pneumocystis jiroveci sind für Organtransplantierte hierzu vielfach Prophylaxeregimes etabliert. Die in mo-
. Tab. 80.3 Diagnostische Maßnahmen bei Infektionsverdacht Allgemein
Klinische Untersuchung
Bildgebung
Thoraxröntgenaufnahme, ggf. hochauflösendes Thorax-CT Abdomensonographie, ggf. CT, MRT bei abdomineller Symptomatik (Transösophageale) Echokardiographie bei Verdacht auf Endokarditis
Mikrobiologische Diagnostik
Blutkulturen aus periphervenösem Blut, ggf. zusätzlich aus ZVK Spezifische Antikörper-Antigen-Tests: Viren-PCR, pp65 (CMV), Aspergillus-Gallactomannan-Antigen, 1,3-β-D-Glucan, Legionellenantigen im Urin Urin-, Stuhlkultur: Clostridium-difficile-Toxin/ Enterotoxin, Rota-, Noroviren Tiefes Trachealsekret: CMV, HSV, RSV, Legionellen, Mykobakterien, Pneumozystis, Pilze Wundabstrich, Drainageflüssigkeiten Punktionsmaterial Liquorkultur
Klinischchemische Diagnostik
Leukozyten, Differenzialblutbild, Hb, Thrombozyten CRP, PCT, Interleukin-6 Elektrolyte, Gerinnungsparameter, Retentionsparameter, Leberwerte, Laktat
nozytären Zellen des Organempfängers persistierenden Zytomegalieviren können unter Immunsuppression reaktiviert werden oder auch durch Spenderzellen (Transplantat, Bluttransfusion) auf diesen übertragen werden. Je nach CMV-Status von Organempfänger und -spender liegt die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten einer CMV-Infektion ohne Prophylaxe bei 20–70%. Eine CMV-Infektion, die sich mit Fieber, Leukopenie, Thrombopenie, Hepatitis, Kolitis, Pankreatitis oder interstitieller Pneumonie darstellen kann, korreliert negativ mit der Langzeittransplantatfunktion, bedingt eine höhere Gesamtletalität und erhöht die Inzidenz von Infektionen. Ganciclovir (alternativ das enteral besser verfügbare Prodrug Valganciclovir), Foscarnet und Cidofovir sind gegen CMV virostatisch wirksam, wobei zur Prophylaxe zumeist Valganciclovir [61] oder Ganciclovir für 1–4 Monate oral gegeben wird [3, 4, 64]. Bei ca. 10% aller Patienten kommt es im ersten halben Jahr nach der Transplantation besonders in Phasen einer CMV-Infektion oder einer abstoßungsbedingt intensivierten Immununsuppression zu einer Pneumozystits-Pneumonie (PCP), die mit einer hohen Letalität verbunden ist [5]. Eine primäre Prophylaxe mit Cotrimoxazol, das zusätzlich auch einen effektiven Schutz gegen Toxoplasmen bietet, ist nicht nur für die besonders gefährdeten Lungentransplantationspatienten etabliert. Therapeutisch werden hochdosiertes Cotrimoxazol (bei bedeutsamer Hypoxie in Kombination mit einem Kortikoid) oder alternativ Pentamidin eingesetzt. Wegen der hohen Rate an Rezidiven muss nach überstandener Infektion die Prophylaxe dauerhaft durchgeführt werden. Nach Lungentransplantation wird zusätzlich regelhaft eine aspergilluswirksame antimykotische Prophylaxe gegeben.
80.5.3
Antimikrobielle Therapie
Eine empirische antiinfektive Therapie muss bei immunsupprimierten Patienten aufgrund verschleierter Symptome und der Gefahr eines perakuten Verlaufs frühzeitig eingeleitet und nach Erhalt mikrobiologischer Befunde angepasst werden. Bezüglich der Gestaltung der infektiven Therapie sind auch Infektionen durch atypische und multiresistente Pathogene zu beachten. Bei schweren septischen Verläufen muss auch die Immunsuppression angepasst bis ausgesetzt werden, da die immunologische Kompetenz auch unter adäquater antiinfektiver Therapie mitentscheidend für die Überwindung einer Infektion bleibt [2, 17]. Der Einsatz von nephrotoxischen Pharmaka inkl. der Aminoglykoside und von Amphotericin B muss vor dem Hintergrund der Therapie mit CalcineurinInhibitoren sorgfältig abgewogen werden.
80.5.4
Tumorerkrankungen als Komplikation einer immunsuppressiven Therapie
Im langfristigen Verlauf treten unter Immunsuppression bei ca. 15% der Patienten maligne Tumoren auf, wobei es sich überwiegend um dermale Plattenepithelkarzinome handelt. Deshalb sollten Organtransplantierte regelmäßig hautärztlich untersucht werden. Neben einer chirurgischen Therapie kann die Reduktion oder die Umstellung der Immunsuppression hilfreich sein. Zusätzlich treten unter Immunsuppression vermehrt Lymphome auf. Hierfür gelten eine Epstein-Barr-Virusinfektion und die Gabe von Anti-T-Zell-Antikörper als Hauptrisikofaktoren.
80
1046
80
80.5.5
Kapitel 80 · Intensivtherapie nach Transplantation solider Organe
HIV und Organtransplantation Indikationen zur Nierentransplantation
80
Vor dem Hintergrund der verbesserten Lebenserwartungen und -qualität stellt eine HIV-Infektion heute keine absolute Kontraindikation für eine Transplantation dar. Im Gegenteil drängt sich die Frage nach einer Transplantation z. B. für Patienten mit einer simultanen HIV- und HCV-Infektion oder aufgrund der nephrotoxischen Komplikationen der »highly active anti-retroviral therapy« (HAART) aktuell vermehrt auf. Stabil hohe T-Helfer-Zell-Zahlen und die Abwesenheit Aidsdefinierender Erkrankungen in der jüngeren Vergangenheit sind Voraussetzung für die Transplantation. Die Erhaltung der T-HelferZell-Konzentrationen unter weitergeführter HAART sowie eine vor dem Hintergrund der relevanten Interaktionen kalkulierte Wirkstoffauswahl und engmaschige Dosisüberwachung der immunsuppressiven Medikation sind entscheidende Punkte in der Betreuung dieser Patienten.
80
80.6
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80 80 80 80
Spezielle Intensivmedizin nach Nieren-/ Nieren-Pankreas-Transplantation
Die intensivmedizinische Betreuung von Nierentransplantierten ist zumeist aufgrund von sekundären Komplikationen der Niereninsuffizienz notwendig. Zur Erhaltung der Transplantatfunktion sind entscheidend: 4 die Überwachung der Organperfusion, 4 ein adäquater Volumenstatus und 4 die Vermeidung einer nephrotoxischen Medikation.
80 80 80 80 80 80 80 80 80 80 80 80 80
80.6.1
Einleitung
In Deutschland werden jährlich ca. 3000 Personen neu auf die Warteliste für eine Nierentransplantation aufgenommenen. Insgesamt warten aktuell etwa 10.000 Personen auf eine Nierentransplantation, wobei pro Jahr ca. 2200 Nierentransplantationen nach postmortaler Organspende und ca. 500 im Rahmen einer Lebendspende durchgeführt werden [21]. Mit der Nierentransplantation ist sowohl eine deutlich längere Lebenserwartung und eine bessere Lebensqualität im Vergleich mit allen anderen Nierenersatzverfahren verbunden [78]. Deshalb wäre grundsätzlich eine präemptive Transplantation vor dem Beginn der Dialysepflichtigkeit anzustreben. Diese ist allerdings aufgrund der geringen Verfügbarkeit von postmortalen Spenderorganen nur im Rahmen einer Lebendspende umsetzbar. Die häufigsten Ursachen der zur Transplantation führenden Erkrankungen sind Diabetes mellitus, Glomerulonephritiden, hypertensive Nierenerkrankung, polzystische Nierenerkrankung (7 Übersicht).
4 Diabetische Nephropathie bei primär insulinpflichtigem Diabetes mellitus 4 Diabetische Nephropathie bei nicht primär insulinpflichtigem Diabetes mellitus 4 Chronisch nephritisches Syndrom, diffuse mesangioproliferative Glomerulonephritis 4 Polyzystische Niere 4 Hypertensive Nierenerkrankung 4 Nephrotisches Syndrom
Die Patienten leiden oft an sekundären Komplikationen der Niereninsuffizienz und der Grunderkrankung wie Diabetes mellitus und Hypertonus, sodass Nebenerkrankungen wie koronare Herzkrankheit, periphere arterielle Verschlusskrankheit, Folgen der arteriellen Hypertension und des Diabetes in weiteren Endorganen, sekundärer Hyperparathyreoidismus und Osteopathien gehäuft auftreten können. > In der akuten präoperativen Vorbereitung zur Transplantation muss der Patient nochmals dialysiert werden, um ohne Überwässerung oder Hyperkaliämie transplantiert werden zu können.
80.6.2
Komorbidität
Die Langzeitprognose von Patienten nach Nierentransplantation ist selten durch die Transplantatfunktion selbst limitiert. Auch 5 Jahre nach postmortaler Transplantation ist bei etwa 70% der Patienten eine ausreichende Nierenfunktion gegeben. Die bedeutsamen kardiovaskulären Nebenerkrankungen (z. B. arterieller Hypertonus, Herzinsuffizienz, koronare Herzkrankheit, zerebrale Durchblutungsstörungen) sind die häufigsten Todesursachen der Patienten nach einer Nierentransplantation [28, 58]. Neben der Organerhaltung und Behandlung der Komplikationen der Immunsuppression ist damit die entschlossene Behandlung von Herz-KreislaufErkrankungen und ihrer Risikofaktoren (einschließlich Rauchen) entscheidend für die Prognose dieser Patienten.
80.6.3
Operationstechnik
Die Transplantation erfolgt extraperitoneal in die Fossa iliaca in unmittelbarer Nähe der Iliakalgefäße, mit denen A. renalis und V. renalis des Transplantates end-zu-seit-anastomosiert werden. Eine linke Spenderniere wird zumeist rechts implantiert und umgekehrt. Der Transplantatureter wird so in den M. detrusor der Harnblase anastomosiert, dass eine Antirefluxplastik entsteht. Bereits intraoperativ kommt es häufig zu einer Funktionsaufnahme des Transplantats, allerdings bedürfen auch einige Patienten aufgrund einer fehlenden initialen Transplantatfunktion einer postoperativen Dialyse. Zumeist kommt es innerhalb der folgenden 2 bis 3 Wochen zur Funktionsaufnahme des Transplantats.
1047 80.7 · Kombinierte Nieren-Pankreas-Transplantation
80.6.4
Postoperative Intensivtherapie
Monitoring und Zielgrößen Patienten nach Nierentransplantation werden postoperativ in der Regel spontanatmend in den Überwachungsbereich übernommen. Im Vordergrund stehen eine engmaschige Flüssigkeits- und Elektrolytbilanzierung sowie die Überwachung der Transplantatfunktion v. a. anhand von Serumkreatinin und Harnstoff. Um eine ausreichende Perfusion des Transplantats zu gewährleisten, ist auf die Vermeidung einer Hypovolämie und von hypotensiven Phasen zu achten. Die regelgerechte Transplantatperfusion wird direkt nach Aufnahme und im weiteren Verlauf durch tägliche Duplexsonographien überwacht. Flüssigkeit und Elektrolyte werden entsprechend der Diurese substituiert. Kristalloide sind dabei Mittel der 1. Wahl. Der Stellenwert von Kolloiden bei der Flüssigkeitssubstitution nach Nierentransplantation ist heute nicht sicher zu bewerten, allerdings ist im Zweifel der Einsatz von Albumin oder evtl. Gelatine zu favorisieren. Hydroxyethylstärke gilt wegen der Gefahr der Tubulusnekrose als kontraindiziert.
Immunsuppression Die immunsuppressive Therapie beginnt perioperativ mit einer Kombination aus CNI, Antiproliferativum und Kortikoid. Sie kann durch eine Induktionsbehandlung mit T-Zell–Depletion (Antithymozytenantikörper, OKT3) und die Interleukin-2-Rezeptorantagonisten Basiliximab und Dacluzimab ergänzt werden. CalcineurinInhibitorfreie Protokolle wurden zur Vermeidung der CNI-assoziierten Toxizität entwickelt, sind aber im Vergleich bezüglich der Abstoßungshäufigkeit und bezüglich des Transplantatüberlebens zumindest in der frühen Phase nach Transplantation eher unterlegen [1, 46]. Bei histologisch gesicherter Calcineurin-Inhibitortoxizität, sollte auf ein Calcineurin-Inhibitor-freies Protokoll bestehend aus mTOR-Inhibitor, Mycophenolat und evtl. Kortikoid umgestellt werden. Eine permanente Kombination aus CNI mit mTOR-Inhibitoren besitzt eine deutlich erhöhte Nephrotoxizität und ist deshalb nur in einer individuellen Abwägung sinnvoll [51]. Eine umfassende Leitlinie zur Versorgung von Nierentransplantierten wurde aktuell von einer internationalen Expertengruppe erarbeitet [16].
80.7
Transplantatdysfunktion Für die zumeist passagere frühe Transplantatdysfunktion sind in der Regel eine Hypovolämie, hypotensive Phasen oder Probleme an den Gefäßanschlüssen wie Thrombosen, Embolien oder Stenosen der A. bzw. V. renalis verantwortlich. Darüber hinaus können postrenale Harnabflussstörungen durch Stenosen an der Ureteranastomose, ischämisch bedingte Ureterleckagen, äußere Kompression des Ureters, z. B. durch Hämatome, verlegte Ureterschienen und Blasenkatheter, sowie Lymphozelen oder Serome auftreten. Diagnostisch sind bildgebende Verfahren hierbei zielführend. Die nephrotoxische Wirkung der Induktionsbehandlung mit hochdosiertem Ciclosporin A (CNI) sowie eine frühe Polyomavireninfektion können intrarenale Ursachen für eine frühe Transplantatdysfunktion sein. Bei einer primären Oligurie oder Anurie ist zu beachten, dass eine folgende Hyperhydratation zu einer Beeinträchtigung der Transplantatperfusion führen kann. Bei ausreichendem Volumenstatus ist eine diuretische Stimulation mit Furosemid zulässig, sollte aber engmaschig reevaluiert und bei Persistenz der Funktionseinschränkung beendet werden. Bei reduziertem Herzzeitvolumen ist Dobutamin das Mittel der Wahl. Bei einer Anuriedauer von >24 h sollte eine Nierenersatztherapie durchgeführt werden, wobei bezüglich des Volumenentzuges auf die Vermeidung einer intravasalen Hypovolämie zu achten ist. Die Anwendung von Dopamin im akuten Nierenversagen ist nicht angezeigt.
Akute Abstoßung Bei bis zu 1/3 der Patienten kommt es innerhalb der ersten 3 Monate nach Transplantation zu einer akuten Abstoßung. Sie wird durch eine Biopsie histologisch gesichert. Die akute Abstoßung wird mit Kortikoiden allein oder in Kombination mit Antikörperpräparaten und/oder Plasmapherese behandelt.
Chronische Abstoßung Die chronische Transplantatnephropathie zeichnet sich aus durch eine langsame Verschlechterung der Transplantatfunktion, die häufig mit einer nicht nephrotischen Proteinurie einhergeht. Maßgeblich verantwortlich scheinen kardiovaskuläre Risikofaktoren zu sein. Andere Ursachen, wie toxische Schäden, z. B. durch CNI, eine neuerliche Glomerulonephritis, eine Rekurrenz der Grunderkrankung oder Polyomainfektionen lassen sich histologisch von der chronischen Transplantatnephropathie unterscheiden.
Kombinierte Nieren-PankreasTransplantation
> Die häufig schwerwiegenden sekundären Komplikationen eines unkontrollierten Typ-1-Diabetes (z. B. KHK) und die mögliche postoperative Transplantationspankreatitis machen die intensivmedizinische Überwachung nach Pankreastransplantation obligat.
Die Transplantation von insulinsezernierenden Geweben durch Pankreas- oder Inselzelltransplantation stellt eine Möglichkeit der kausalen Therapie eines komplikationsträchtigen Typ-1-Diabetes dar. Man kann verschiedene Konzepte des β-Zellersatzes unterscheiden: 4 Bei Patienten mit noch intakter Nierenfunktion als alleinige Transplantation, 4 bei Patienten, die bereits zuvor eine Niere eines anderen Spenders erhalten haben, sowie 4 bei Patienten, die zeitgleich Pankreas und Niere vom gleichen Spender erhalten. Bei der Inzelzelltransplantation werden im Gegensatz zur soliden Pankreastransplantation Inselzellen (mehrerer Spenderorgane) zunächst isoliert, aufgereinigt und schließlich transkutan direkt in die Pfortader appliziert. Die Isolation und Reinigung der Inselzellen ist technisch sehr aufwendig und setzt ein großes Maß an Erfahrung voraus, sodass sie weltweit nur an wenigen Zentren durchgeführt wird. Die solide Pankreas- bzw. eine kombinierte Nieren-PankreasTransplantation wurde in Deutschland im Jahr 2008 an 23 Zentren 137-mal durchgeführt. Bei der Entscheidung über eine Transplantation müssen die verbesserte Lebensqualität und der Einfluss sekundärer Diabeteskomplikationen gegenüber dem Risiko der Operation und der Immunsuppression abgewogen werden. Darüber hinaus gilt die Pankreastransplantation als indiziert, wenn eine fortgeschrittene Nephropathie auch eine Nierentransplantation notwendig macht. Inwieweit diabetische Folgekomplikationen durch die Pankreastransplantation positiv beeinflussbar sind, ist vom Zeitpunkt der Transplantation abhängig. Trotzdem bleibt festzustellen, dass Patienten nach kombinierter Nieren-PankreasTransplantation eine bessere Langzeitprognose aufweisen als solche nach alleiniger Nierentransplantation, was auf eine Reduktion so-
80
1048
Kapitel 80 · Intensivtherapie nach Transplantation solider Organe
80
wohl der Hypoglykämierate als auch der kardiovaskulären Letalität zurückzuführen ist [22, 54, 69].
80
80.7.1
80
Operationstechnik
80
Die Empfindlichkeit des Pankreasgewebes gegenüber chirurgischer Manipulation und die suffiziente Drainage des exokrinen Sekrets des Pankreas stellen die beiden Hauptprobleme der Transplantationsoperation dar. In der Regel wird das Organ als pankreatikoduodenales Segment zusammen mit der Milz unter möglichst geringer Manipulation entnommen und konserviert. Bei simultaner Implantation von Pankreas und Nieren wird zunächst das Pankreas transabdominell in der rechten Fossa iliaca platziert. Von dort wird zur enterischen Ableitung das Dünndarmsegment mit dem Empfängerjejunum anastomosiert. Alternativ kann auch eine Ableitung des Pankreassekretes in die Blase erfolgen, was aufgrund erheblicher Infektionsprobleme als unterlegene Technik gilt. Die Gefäßversorgung geschieht zumeist über die Iliakalgefäße, wobei auch eine venöse Drainage in die V. portae möglich ist, die der physiologischen Situation am ehesten entspricht. Die Nierentransplantation erfolgt dann anschließend in die kontralaterale Fossa iliaca.
80
80.7.2
80
Monitoring und Zielgrößen
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80 80 80 80 80 80 80 80
Postoperative Intensivtherapie
Zusätzlich zu den Vorgaben, die aus einer simultanen Nierentransplantation resultieren, erfordert die Überwachung der Funktion des Pankreas mit der Möglichkeit der Entwicklung einer systemischen Inflammation auf dem Boden einer Transplantatpankreatitis sowie die postoperativ nicht seltenen kardialen und zerebrovaskulären Komplikationen eine mehrtägige intensivmedizinische Überwachung.
Komplikationen Die Pankreastransplantation ist mit einer relevanten Komplikationsrate und Letalität verknüpft. Dabei spielen chirurgische Komplikationen (Anastomosenleckagen, Transplantatpankreatitis, Peritonitis und Wundinfektionen) sowie medizinische Komplikationen, insbesondere Myokardischämien, eine wichtige Rolle.
Abstoßungsdiagnostik Bei der simultanen Transplantation ist die Nierenbiopsie richtungsweisend für die Beurteilung einer Abstoßung. Sie kann allerdings durch eine selektive Pankreasbiopsie ergänzt werden, wenn eine Diskrepanz zwischen guter Nieren- aber reduzierter Pankreasfunktion erkennbar wird.
80.8
Lebertransplantation
Mit Einführung des MELD-Systems werden vermehrt Patienten mit einer fortgeschrittenen Leberinsuffizienz und entsprechend bedeutenden begleitenden Organdysfunktionen transplantiert. Die Anwendung von Organersatzverfahren, die Überwachung der Transplantatfunktion, die Beachtung entsprechend veränderter Pharmakokinetik und evtl. eine spezifische Gerinnungssubstitution sind komplexe Anforderungen an die Intensivmedizin im Rahmen von Lebertransplantationen. Hämodynamisch ist besonders auf die Vermeidung eines rechtsventrikulären Versagens mit Leberstauung zu achten.
80.8.1
Einleitung
Aktuell werden in Deutschland an 22 Zentren jährlich etwa 1100 Lebertransplantationen nach postmortaler Organspende durchgeführt [21]. Zusätzlich werden an einigen Zentren Lebendspenden vorgenommen, bei denen das Transplantat durch eine empfängerorientierte Mehrsegmentresektion oder Hemihepatektomie links gewonnen wird. Auch die Aufteilung einer postmortalen Leberspende (Splitlebertransplantation) auf 2 Spender ist möglich und wird insbesondere im Rahmen der Transplantation von Kindern praktiziert. Die Leberzirrhose auf dem Boden einer chronischen Lebererkrankung und ein akutes Leberversagen sind die klassischen Indikationen für die Lebertransplantation (. Tab. 80.4). Die Lebertransplantation hat sich aber auch zu einer etablierten onkologischen Therapieoption, z. B. beim hepatozellulären Karzinom entwickelt. Viele verschiedene chronische Lebererkrankungen führen bei Fortschreiten zu Fibrose und Zirrhose der Leber, in deren Folge sich eine portale Hypertension sowie Störungen der Synthese- und Entgiftungsleistung der Leber ergeben. Symptome der fortgeschrittenen Zirrhose sind Aszites, Ikterus, Hypalbuminämie, hepatische Enzephalopathie, bedeutsame Muskeldystrophie, Lethargie, Osteoporose, rezidivierende spontane bakterielle Peritonitiden, hepatorenales und hepatopulmonales Syndrom und der refraktäre Pruritus. Ein akutes Leberversagen kann sich auch ohne eine vorexistierende chronische Lebererkrankung, z. B. im Rahmen von Intoxikationen oder Virusinfektionen, entwickeln. Seit Dezember 2006 gilt für die Einstufung der Dringlichkeit einer Listung zur Lebertransplantation das »model of end stage liver disease« (MELD). Durch eine an der 3-Monats-Letalität orientierten Organvergabe versucht man mit dem MELD-System, die Sterblichkeit auf der Warteliste zu senken (7 Übersicht und . Tab. 80.5).
80 Berechnung des MELD-Scores
80
4 10×[0,957 × Ln (Serumkreatinin) + 0,378 × Ln (Bilirubin ges.) + 1,12 × Ln (INR) + 0,643]
80 80 80 80
Der MELD-Score basiert ausschließlich auf objektiven Laborbefunden (Kreatinin, INR, Serumbilirubin), während das Child-Turcotte-Pugh-System auch weniger objektive Parameter wie das Ausmaß von Aszites und Enzephalopathie einbezieht. Daraus ergibt sich verglichen mit der vorherigen Vergabepraxis eine Bevorzugung von kränkeren Patienten mit einem höheren perioperativen Risiko [26]. Ein MELD-Wert >30 ist mit einer höheren postoperativen Letalität assoziiert.
1049 80.8 · Lebertransplantation
. Tab. 80.4 Häufige Indikationen zur Lebertransplantation. (Nach [73]) Kategorie
Erkrankung
Akutes Leberversagen
Intoxikationen Akute Virushepatitis
Chronische Lebererkrankungen
Chronische Virushepatitis Alkoholische Leberzirrhose Primär biliäre Zirrhose Primär sklerosierende Cholangitis
Metabolische Erkrankungen
α1-Antitrypsinmangel M. Wilson Hereditäre Hämochromatose Amyloidose
Malignome
Hepatozelluläres Karzinom Hepatoblastom Cholangiozelluläres Karzinom
Andere
Budd-Chairi-Syndrom Polyzystische Lebererkrankung Echinokokkose
. Tab. 80.5 MELD Score (Berechnung des individuellen Wertes 7 Übersicht) MELD-Wert
3-Monats-Letalität [%]
6
1
15
5
20
11
24
21
28
37
30
49
35
80
40
98
80.8.2
Die portale Hypertension bildet den Ausgangspunkt einer Reihe von spezifischen pathophysiologischen Veränderungen, die durch eine vermehrte Freisetzung von Vasodilatatoren (z. B. Stickstoffmonoxid (NO), Kohlenmonoxid (CO), Prostaglandine, Glukagon) u. a. im Splanchnikusgebiet zur Eröffnung von portovenösen und portosystemischen Shunts mit Volumen-Pooling im Splanchnikusstromgebiet, einer verringerten kardialen Vorlast, erniedrigten system- und pulmonalarteriellen Widerständen sowie einer kompensatorischen Tachykardie bei deutlich erhöhtem Herzzeitvolumen (ScvO2 hoch) führt [49]. Mit dem Fortschreiten der Leberinsuffizienz führt die relative Hypovolämie trotz Aktivierung des ReninAngiotensin-Aldosteron-Systems (RAAS) zur Minderperfusion der Nieren und der Entwicklung eines hepatorenalen Syndroms (HRS) [32]. Das HRS ist bei fortgeschrittener Lebererkrankung ein wesentlicher prognostischer Faktor.
80.8.3
Neben dem reinen Labor-MELD-Wert (»Lab-MELD«) wurde für Indikationen abseits der chronischen Lebererkrankung wie z. B. bei Malignomen oder metabolischen Erkrankungen ein Regelwerk von »standard exceptions« (SE) etabliert, das zur Bestimmung der Allokationspriorität einen »Match-MELD-Score« vergibt [13]. Ein Alter über 65 Jahre ist eine relative Kontraindikation, da die Ergebnisse einer Lebertransplantation bei diesen Personen deutlich schlechter sind als bei jüngeren Patienten. Darüber hinaus können vorliegende Gefäßverschlüsse eine Transplantation undurchführbar machen. Bei einem fortgesetzten Alkoholabusus und einer fehlenden Abstinenz von mindestens 6 Monaten ist eine Transplantation nach dem Transplantationsgesetz verboten.
Hepatopulmonales Syndrom und portopulmonale Hypertension
Die oben genannten Vasodilatatoren bewirken über eine Dilatation intrapulmonaler Gefäße und die Eröffnung von intrapulmonalen Rechts-links-Shunts eine Behinderung der Gasdiffusion und Ausbildung eines Ventilations-Perfusions-Missverhältnisses, die zu einer zentralen Zyanose führen. Das hepatopulmonale Syndrom geht mit einer deutlichen Erhöhung der Letalität einher. Selten entwickeln Patienten mit Leberzirrhose eine klinisch bedeutsame portopulmonale Hypertension (PPH), die wahrscheinlich aus der Proliferation von Endothelien und glatten Muskelzellen der pulmonalen Gefäßbahn als Folge der hyperdynamen Zirkulation resultiert. Die portopulmonale Hypertension spricht oft gut auf die inhalative oder intravenöse Gabe von Prostaglandinanaloga an [37, 76]. Auch eine restriktive Ventilationsstörung infolge von Aszites und Pleuraergüssen stellt eine durch die Lebererkrankungen vermittelte pulmonale Dysfunktion dar.
80.8.4 > Für Patienten mit einem akuten Leberversagen gelten für eine hochdringliche High-Urgency-(HU-) Listung Ausnahmeregeln, die nicht an die Kriterien des MELD-Scores gebunden sind.
Hämodynamische Effekte und hepatorenales Syndrom
Hepatische Enzephalopathie
Aufgrund der eingeschränkten Eliminationsleistung der Leber oder nach Anlage eines TIPS kommt es zur Anhäufung von Toxinen (z. B. Ammoniak), die ursächlich für die hepatische Enzephalopathie sind. Beim akuten Leberversagens kann sich dabei ein lebensgefährliches Hirnödem entwickeln, während chronische Verläufe klinisch weniger imposant sind. Die enterale Gabe von Lactulose und eine Ansäuerung des Stuhls fördern die Ammoniakausscheidung. Eine weitere Therapieoption stellt die enterale oder intravenöse Zufuhr von Ornithin-Aspartat dar.
80.8.5
Präoperative Intensivtherapie
Präoperativ sind die Erhaltung der Organfunktionen, die Durchführung einer notwendigen Nierenersatztherapie und die begleitende Behandlung von Infektionen entscheidend. Bei einer fortgeschrittenen hepatischen Enzephalopathie ist zum Schutz vor einer Aspiration die endotracheale Intubation und Beatmung frühzeitig zu erwägen.
80
1050
80 80 80 80 80 80 80
80.8.6
Kapitel 80 · Intensivtherapie nach Transplantation solider Organe
Operationstechnik
Unterschiede bezüglich der Transplantationstechnik betreffen die Art der hepatovenösen Anastomose und der Gallengangsanastomose. Die klassische Technik mit Klemmung der V. cava inferior blieb aufgrund der hämodynamischen Effekte trotz des Einsatzes von Bypasssystemen ein sehr komplikationsträchtiges Verfahren. Bei den heute praktizierten Techniken (Piggyback oder Seit-zuSeit Anastomose) bleibt der kavale Rückstrom wegen der partieller V.-cava-Ausklemmung erhalten, was erhebliche Vorteile bezüglich hämodynamischer Stabilität, Blutung/Transfusionsbedarf, folgender Organdysfunktionen und Operationsdauer bringt. Auch die klassisch durchgeführte Cholezystojejunostomie oder -duodenostomie wurde wegen höherer Komplikationsraten zugunsten einer direkten End-zu-End- bzw. Seit-zu-Seit-Gallengangsanastomosen verlassen, die zusätzlich endoskopisch-interventionell kontrolliert und therapiert werden können. T-Drainagen schaden mehr, als sie nützen, und sollten keine Anwendung mehr finden.
80 80 80 80 80 80 80 80 80 80 80 80 80 80 80 80 80 80
80.8.7
Postoperative Intensivtherapie
Die Überwachung und Optimierung der hämodynamischen und respiratorischen Situation, der rasche Ausgleich einer Hypothermie sowie die Kontrolle etwaiger Blutungskomplikationen ist die Aufgabe der frühen postoperativen Intensivtherapie.
Monitoring und Zielgrößen Das entscheidende Ziel der hämodynamische Steuerung in der frühen postoperativen Phase ist eine Optimierung des hepatischen Einflusses und Ausflusses, um eine günstige Transplantatperfusion zu erzielen. Dazu wird der zentrale Venendruck (5–10 mm Hg) so niedrig eingestellt, wie es zur Erzielung eines adäquaten HZV (CI 2,5–3) mit ausreichendem systemischem Perfusionsdruck (MAP 60–90 mm Hg) notwendig ist. Die Überwachung des pulmonalarteriellen Drucks mittels Swan-Ganz-Katheter ist hilfreich, da dieser in der frühen postoperativen Phase oft auch bei Patienten ohne bekannte PPH erhöht ist. Dabei muss auch mit dem Auftreten einer akuten Rechtsherzinsuffizienz gerechnet werden. Zur Therapie einer pulmonalen Hypertonie kommen inhalatives Iloprost oder/und Stickstoffmonoxid (NO) zum Einsatz. Bei der Abschätzung der kardialen Vorlast sind Echokardiographie, PiCCO und die kontinuierliche ZVD-Messung hilfreich. Eine transösophagealen Echokardiographie ist auch bei Patienten mit Ösophagusvarizen ohne aktuelle Blutungsanamnese komplikationsarm durchzuführen. Die Transplantatfunktion wird anhand engmaschiger laborchemischer Kontrollen überwacht. Die Perfusion des Transplantats sowie dessen parenchymatöse Struktur werden direkt nach Aufnahme auf der Intensivstation und in der Folge mindestens einmal täglich (duplex-)sonographisch überprüft. Aufgrund der Gefahr von Thrombosen in den angeschlossenen Gefäßen wird zur Verbesserung der Rheologie ein niedriger Hämatokrit von ca. 25% (Hb 6,5– 8,5 g/dl) bei Patienten mit unkompliziertem postoperativem Verlauf ohne symptomatische kardiale Ischämie oder Blutung angestrebt. In der Regel wird der Patient intubiert und beatmet auf die Intensivstation übernommen. Sowohl das intraoperative anästhesiologische Management als auch die postoperative Analgosedierung sollte mit kurzwirksamen Substanzen durchgeführt werden, um eine möglichst frühe Extubation innerhalb weniger Stunden zu ermöglichen.
Transplantatdysfunktion Die Transplantatdysfunktion zeigt sich laborchemisch anhand einer mangelnden Lebersyntheseleistung (Quick/INR, Cholinesterase, Albumin), durch einen fehlenden Abfall bzw. Wiederanstieg der Transaminasen, Anstieg der Cholestaseparameter (Bilirubin, alkalische Phosphatase, γ-GT) und eine erhöhte Laktatdehydrogenase. Klinisch können Blutungen, eine neu auftretende hämodynamische Instabilität, Flüssigkeitseinlagerungen, Aszitesbildung und Varizenblutung auf die Transplantatdysfunktion mit erneuter portaler Hypertension hindeuten. > Transkutane Messungen der ICG-Elimination (LiMON) [25] sowie neuere Atemtestverfahren (Limax) zur Quantifizierung der Cytochrom-P 450 (1A2)-Aktivität erlauben bereits früh eine zuverlässige Prognose über die Transplantatfunktion [72].
Eine primäre Non-Funktion des Transplantats tritt in 1–5% der Fälle auf und zeigt sich im Verlauf der ersten 2 Tage nach Transplantation. Ursächlich kommen ein schwerwiegender Reperfusionsschaden, Perfusionsprobleme des Transplantats oder eine fulminante Cholestase in Frage. Ist die Ursache durch eine operative Revision nicht zu beheben, bleibt therapeutisch nur die sofortige Listung zur hoch dringlichen Retransplantation übrig.
Operationassoziierte Komplikationen Blutungen. Die Kombination von Thrombozytopenie, Thrombozytenfunktionsstörung und Mangel an Gerinnungsfaktoren, mögliche Parenchymverletzungen während der Multiorganentnahme und die Gefäßanastomosen stellen Risiken für postoperative Blutungen dar (Inzidenz ca. 10–15%). Deshalb sind eine engmaschige Überwachung der Blutgerinnung und eine bedarfsgerechte Substitution von Gerinnungsfaktoren (Frischplasma, PPSB, Fibrinogen, rekombinanter Faktor VII, Faktor XIII) und Thrombozyten im Blutungsfall zügig zu gewährleisten. Bettseitige Diagnosesysteme wie Thrombelastographie und Multiplate können eine zeitnahe Evaluation der Gerinnungssituation und der durchgeführten Substitutionsmaßnahmen ermöglichen. Eine operative Revision mit Hämatomausräumung geschieht in Abhängigkeit der Dynamik der Blutung. Gefäßkomplikationen. Thrombosen der A. hepatica (bis 10%) führen zum Anstieg der Transaminasen und früh zu Gallengangsnekrosen. Diese können durch den Einsatz der sog. Branch-patchTechnik reduziert werden, bei der die Aufzweigungen der A. hepatica propria und A. gastroduodenalis spender- und empfängerseits durchtrennt und als »umbrella« anastomosiert werden. Zu den Risikofaktoren gehören die Verwendung von Interponaten, eine vorbestehende arterielle Stenosierung im Stromgebiet des Truncus coeliacus, eine postoperative Hyperkoagulation, ein hoher Hämatokrit und eine Dissektion der A. hepatica. Die operative Revision oder eine radiologische Intervention (Lyse, PTA) müssen umgehend nach Diagnosestellung eingeleitet werden. Tritt eine arterielle Minderperfusion spät nach der Lebertransplantation auf, ist eine Retransplantation aufgrund von Gallengangsnekrosen und intrahepatischen Abszessen häufig unumgänglich. Pfortaderstenosen oder -thrombosen, sowie Komplikationen der V.-cava-Anastomose sind deutlich seltener. Flussbehinderungen in der Pfortader können erneut Zeichen der portalen Hypertension bis hin zu schweren Leberfunktionsstörungen hervorrufen. Die chirurgische Revision und Thrombektomie haben hier zunächst Priorität. Stenosen an der kavalen Anastomose oder der V. cava selbst sind zumeist auf operative Probleme (»kinking«, Naht) zurückzuführen. Diagnostisch kann neben der Duplexsonographie eine Ka-
1051 80.9 · Herztransplantation
theterkavographie helfen. Liegt eine geringgradige Stenose vor, ist eine Ballondilatation mit Stentanlage anzustreben, da die operative Revision technisch schwierig ist. Gallenwegskomplikationen. Stenosen im Anastomosenbereich
werden in bis zu 1/5 der Fälle beobachtet. Neben operativen Ursachen kann eine chronische Abstoßung, eine arterielle Minderperfusion oder ein Konservierungsschaden (»ischemic type biliary lesion«) ursächlich sein. Intrahepatisch lokalisierte Strikturen haben eine deutlich schlechtere Prognose als Anastomosenstenosen. Zusätzlich können Insuffizienzen oder Leckagen zu intraabdominellen Biliomen führen. Endoskopisch- und radiologisch-interventionelle Therapieverfahren (Stentung, Dilatation, Papillotomie, Drainagenanlage, PTCD) sind heute Mittel der 1. Wahl zur Behandlung der Gallenwegskomplikationen und machen operative Revisionen meist unnötig.
Akute Abstoßung Eine frühe akute Abstoßung wird innerhalb von 5–30 Tagen nach Transplantation in 15–35% der Fälle diagnostiziert und ist fast immer mit einer Kortikoidstoßtherapie erfolgreich zu therapieren. Die späte akute Abstoßung (10–20%) ist im Gegensatz dazu oftmals schwerer zu therapieren und führt nicht selten zu einer chronischen Abstoßung. Klinische Zeichen der akuten Abstoßung sind Fieber, Bauchschmerzen, Hepatosplenomegalie, gelegentlich Aszites, eine Transaminasenerhöhung, Erhöhung von γ-GT, AP und Bilirubin. Die Diagnose wird histologisch durch Leberbiopsie gesichert. Komplikationen an Gefäßen, Gallenwegen, eine CMV-Infektion, Reinfektion des Transplantates mit Hepatitis B oder C oder eine toxische Medikamentenwirkung sind differenzialdiagnostisch zu bedenken.
Chronische Abstoßung Bei etwa 4% der Lebertransplantierten entwickelt sich eine chronische Abstoßung mit einer schleichenden Verschlechterung der Transplantatfunktion, die sich durch einen kontinuierlichen Anstieg von Bilirubin und Cholestaseparameter bei gering erhöhten Transaminasen und lange erhaltener Synthesefunktion zeigt. Histologisch werden eine progredient verlaufende cholestatische Hepatopathie mit Rarifizierung der intrahepatischen Gallengänge (»vanishing bile duct syndrome«) diagnostiziert. Therapeutisch sind Immunsuppressionsstoßtherapie mit Kortikoiden oder Antikörperpräparaten nur selten erfolgreich, sodass schließlich die erneute Listung zur Transplantation geplant werden muss.
Immunsuppression Postoperativ wird die Immunsuppression regelhaft als Kombination von CNI mit Kortikoiden begonnen. Bei Patienten mit einer deutlichen Einschränkung der renalen Funktion kann zur Dosisreduktion der CNI primär eine Dreifachkombination mit MMF/ MPA erfolgen. Alternativ kann 3–6 Monate nach der Transplantation eine Umstellung auf einen mTOR-Inhibitor erwogen werden, die aufgrund der erhöhten Rate von A.-hepatica-Thrombosen und Wundheilungsstörungen in der frühen Phase nach Lebertransplantation kontraindiziert sind. Die Kortikoide können innerhalb von 6–12 Monaten zumeist ausgeschlichen werden. Antikörperpräparate spielen bei den in Erprobung befindlichen Konzepten zur Toleranzinduktion nach Lebertransplantation eine Rolle [29].
80.9
Herztransplantation
Aufgrund einer marginalen kardialen Funktion bedürfen zur Herztransplantation gelistete Patienten häufig bereits präoperativ einer intensivmedizinischen Behandlung. Regelhaft ist eine differenzierte Unterstützung der Transplantatfunktion mittels Inotropika notwendig, die ein engmaschiges Monitoring (z. B. Echokardiographie, Pulmonaliskatheter) erfordert.
80.9.1
Einleitung
In den letzten Jahren wurden in Deutschland an 24 Kliniken jährlich knapp 400 Herz- und Herz-Lungen-Transplantationen durchgeführt [21]. Indikation für die Herztransplantation ist die irreversible Herzerkrankung im Endstadium (NYHA IV) trotz optimierter medikamentöser Therapie mit einer voraussichtlichen Lebenserwartung von 6–12 Monaten bzw. einer geschätzten 1-Jahres-Überlebensrate ohne Herztransplantation von unter 50% (7 Übersicht). Grundlage der Indikationsstellung ist die progrediente Abnahme der körperlichen Belastbarkeit, die z. B. durch die Spiroergometrie im Verlauf und Herzinsuffizienzprognose-Scores (Heart Failure Survival Score, Seattle Heart Failure Score) evaluiert wird.
Die häufigsten Indikationen für Herztransplantation 4 Dilatative Kardiomyopathie 4 Koronare Herzerkrankung einschließlich ischämischer Kardiomyopathie 4 Restriktive Kardiomyopathie 4 Angeborene Herzfehler 4 Hypertrophe obstruktive Kardiomyopathie
Die Bestimmung des pulmonalarteriellen Widerstands und die Überprüfung der medikamentösen Beeinflussbarkeit sind von entscheidender Bedeutung für die Indikationsstellung zur Herztransplantation. Vor dem Hintergrund der Knappheit von Spenderorganen müssen vor der Listung alternative operative Optionen wie eine Myokardrevaskularisation, der Klappenersatz oder die Resektion eines linksventrikulären Aneurysmas erwogen werden [75]. Bei Vorliegen eines Linksschenkelblocks und/oder einer asynchronen ventrikulären Erregungsausbreitung im NYHA-Stadium III kann eine biventrikuläre Schrittmacherimplantation erfolgen, die in etwa 2/3 der Fälle eine klinische Verbesserung bringt. Die Implantation intrakorporaler mechanischer Kreislaufunterstützungssysteme (ventrikuläre »assist devices«; VAD) sind weitere Alternativen. Hierbei stellen medikamentös austherapierte reversible Herzerkrankungen (z. B. Myokarditis) als »bridging to recovery« ebenso eine Indikation für den Einsatz eines VAD dar wie Patienten die aufgrund ihrer Begleiterkrankungen als nicht transplantabel eingeschätzt werden (»destination therapy«) [66]. Am häufigsten werden VAD jedoch bei Patienten eingesetzt, die sonst die Wartezeit auf ein Spenderherz nicht überleben würden (»bridging to transplantation«). Die klassischen Nebenerkrankungen der zur Herztransplantation gelisteten Patienten ergeben sich aus der chronischen Herzinsuffizienz wie z. B. Nieren-, Leberinsuffizienz und neurologischen Komplikationen. Relative Kontraindikationen stellen eine hochgradige COPD, ein schwerer Diabetes mellitus mit Ne-
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Kapitel 80 · Intensivtherapie nach Transplantation solider Organe
phropathie, eine fortgeschrittene periphere Verschlusskrankheit und eine schwere Leberzirrhose dar. Langzeitbetrachtungen deuten auf einen Anstieg der Posttransplantationsletalität mit zunehmendem Alter hin, wobei heute ein Alter von 70 Jahren als obere Altersgrenze für eine Herztransplantation gilt. Hauptgrund für eine Ablehnung einer Transplantationslistung ist die fixierte pulmonale Hypertonie (transpulmonaler Gradient >15 mm Hg; pulmonalarterieller Gefäßwiderstand >400 dyn×s×cm–5). Die Implantation eines linksventrikulären »assit device« ist hier eine Therapiealternative, in deren Folge evtl. eine Reevaluation nach mehrmonatiger Therapie erfolgen kann [24].
80.9.2
Präoperative Intensivtherapie
Im Vorfeld der Transplantation richtet sich die Therapie nach den Vorgaben der Herzinsuffizienzbehandlung mit dem Ziel des Erhalts und der Stabilisierung der vitalen Organfunktionen. Häufig sind die Patienten präoperativ katecholaminpflichtig und respiratorisch grenzgradig kompensiert. Aufgrund des chronisch aktivierten sympathischen Nervensystems sind die kardialen β1-Rezeptoren down-reguliert. Hierdurch und durch eine partielle Entkopplung der β-Rezeptoren von der cAMP-Synthese ist die myokardiale Reaktion auf β-Mimetika deutlich reduziert. Daher kann auch eine sehr vorsichtige Narkoseeinleitung zu einer klinisch bedeutsamen Abnahme der kardialen Pumpfunktion führen, der dann mit einer adaptierten Katecholamintherapie begegnet werden muss. > Die Koordination des zeitlichen Ablaufs der Herztransplantation ist aufgrund der geringen Ischämietoleranz des Spenderorgans organisatorisch aufwendig, um unnötige Verzögerungen und Risiken für den Organempfänger zu vermeiden. Für voroperierte Patienten muss eine längere chirurgische Präparationszeit vorgesehen werden.
Intraoperative Kernpunkte für einen positiven Transplantationsverlauf stellen eine ausreichend lange Reperfusionsdauer, die aggressive Behandlung einer pulmonalen Hypertonie und die adäquate Therapie eines kardialen Pumpversagens dar.
80 80.9.3
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Postoperative Intensivtherapie
Ziele der Intensivtherapie der unmittelbar postoperativen Phase nach Herztransplantation sind die Stabilisierung der Herz-Kreislauf-Funktionen und die Behandlung begleitender Organdysfunktionen. > Aufgrund von Ischämie und Reperfusion des Spenderorgans ist eine diastolische Funktionsstörung nahezu regelhaft und durch ein restriktives Füllungsverhalten der Ventrikel gekennzeichnet.
. Tab. 80.6 Hämodynamische Zielgrößen nach Herztransplantation. (Nach [15]) Parameter
Zielgröße
Rhythmus
Sinusrhythmus, alternativ (wenn möglich) AAI-SM, DDD-SM
Blutdrücke
MAP >65 mm Hg ZVD 8–12 mm Hg (abhängig von der Beatmung)
HZV
CI >2 l/min/m2 SvO2>70% oder ScvO2>65%
Echokardiographie
LV-EDAI 6–9 cm2/m2
PiCCO
ITBVI 850–1000 ml/m2 GEDVI 640–800 ml/m2
PAK
PAWP 12–15 mm Hg
Diurese
> 0,5 ml/kg KG/h
Laktat
< 3 mmol/l
4 wiederholte Echokardiographie und 4 engmaschiger rhythmologischer Diagnostik (12-Kanal-EKG).
Globales Pumpversagen Eine global eingeschränkte myokardiale Kontraktilität ist zumeist Folge einer langen Ischämiezeit, einer operativen Komplikation oder einer ungenügenden Organprotektion. So könnte z. B. bei einem hypertrophierten Spenderherz die Kardioplegie die Innenschicht nur ungenügend erreicht haben. Nicht erkannte Koronarstenosen und Luftembolien in die Koronararterien können umschriebene Myokardischämien zur Folge haben, die sich echokardiographisch als regionale Wandbewegungsstörungen darstellen. Die Ausbildung eines Reperfusionsödems ist das morphologische Korrelat der myokardialen Zellschädigung infolge von Ischämie und Reperfusion. Zusätzlich kann eine inadäquate ventrikuläre Entlastung bei Ex- bzw. Implantation zu deren Überdehnung mit nachfolgender Gefügedilatation geführt haben. Ausflusstraktobstruktionen, Klappendysfunktionen und ein ungenügender Volumenstatus können echokardiographisch als Gründe für das Pumpversagen ausgeschlossen werden. Zur Therapie des biventrikulären Versagens kommen Inotropika und nachlastsenkende Medikamente unter strenger Überwachung der Gefäßwiderstände zum Einsatz. Weiterhin muss die Korrektur einer (operationsbedingten) Volumenüberladung, die Behandlung begleitenden Elektrolytverschiebungen und die Optimierung des Säure-Basen-Haushalts erfolgen. Bei ungenügender Stabilisierung sollte frühzeitig der Einsatz einer IABP sowie einer ECMO erwogen werden.
Das transplantierte Herz ist funktionell denerviert und reagiert aufgrund des unterbrochenen Barorezeptorenreflexes besonders empfindlich auf eine Hypovolämie. Indirekt wirkende Sympathomimetika und Parasympathikolytika wie Atropin sind am Herzen nur reduziert bzw. gar nicht wirksam.
> Das transplantierte Herz besitzt die Fähigkeit, sich auch Tage nach der Transplantation zu erholen, sodass diese Verfahren über einen längeren Zeitraum erfolgversprechend angewandt werden können.
Monitoring und Zielgrößen
Rechtsherzversagen
Zur postoperativen Überwachung gehört ein umfangreiches hämodynamisches Monitoring (. Tab. 80.6) mittels 4 pulmonalarterielle und evtl. linksatriale Druckmessung, einschließlich der Messung von HZV und pulmonal- sowie systemvaskulären Widerständen,
Die isolierte Rechtsherzinsuffizienz ist die häufigste Ursache eines frühen Transplantatversagens. Sie ist in der Regel die Folge des erhöhten pulmonalarteriellen Widerstands des Empfängers, der sich auf dem Boden der im Vorfeld der Transplantation bestehenden chronischen Linksherzinsuffizienz sekundär ausgebildet hat. Rezi-
1053 80.9 · Herztransplantation
Rechtsherzversagen Zeichen einer unzureichenden RV-Vorlast Echo: niedriges RV-Füllungsvolumen PAK: PAWP/ZVD > 1
RV-Dysfunktion Echo: RV-Dilatation, Kontraktilitätsschwäche PAK: PAWP/ZVD < 1 oder schnell ansteigend
ja
Herzrhythmus: atrioventrikuläre Synchronizität
ja
ja Elektrische, medikamentöse Kardioversion ggf. Schrittmacherstimulation
Vorsichtige Vorlastoptimierung MAP > 70 mm Hg
Inotropika, Vasodilatatoren Bei PHT: inhalative pulm. Vasodilatatoren
MAP < 70 mm Hg
Inotropika, Inodilatatoren + Vasopressoren Bei PHT: inhalative pulmonale Vasodilatatoren
Zielwerte erreicht Inotropika: Dobutamin, Adrenalin Inodilatatoren: PDE-III-Hemmer, Levosimendan Vasodilatatoren: Nitropräparate inhalative pulmonale Vasodilatatoren: Iloprost, NO
ja Engmaschige Therapieevaluation
nein Therapieoptimierung chirurgische Intervention IABP, ECMO, VAD
. Abb. 80.4 Therapie des Rechtsherzversagens. (Mod. nach [15])
divierende Lungenembolien und primäre Ursachen, die mit einem Umbau der Lungenstrombahn einhergehen, können ebenfalls ursächlich sein. Das an den pulmonalen Hypertonus nicht adaptierte Spenderherz kann dabei rasch dilatieren und eine hochgradige Trikuspidalinsuffizienz ausbilden. Als operationsbedingte Ursachen für das Rechtsherzversagen können eine unzureichende Entlüftung des rechten Herzens mit konsekutiver Luftembolie sowie Flussbehinderungen an den Nahtstellen des Atriums (hoher ZVD, niedriger PAP, echokardiographisch kleiner rechter Ventrikel) und der Pulmonalarterie (hoher ZVD, hoher PAP, echokardiographisch großer rechter Ventrikel) auftreten. Echokardiographisch imponiert das Rechtsherzversagen mit einer rechtsventrikulären Dilatation, die mit einer bedeutsamen Trikuspidalklappeninsuffizienz, Kontraktilitätseinschränkung und Abflachung des Ventrikelseptums einhergeht. Weitere klinische Zeichen einer zunehmenden Rechtsherzinsuffizienz sind: 4 Tachykardie 4 Abweichung der elektrischen Herzachse (Steiltyp, überdrehter Rechtstyp oder S1-Q3-Typ), 4 Erhöhung des transpulmonalen Gradienten >15 mm Hg, 4 Erhöhung des Pulmonalgefäßwiderstands >240 dyn×s×cm–5 und 4 Anstieg des rechtsatrialen Drucks. Infolge der kavalen Stauung entwickelt sich im weiteren Verlauf eine 4 Leberfunktionsstörung mit Transaminasen- und Bilirubinanstieg. Ein Perikarderguss als Ursache des Rechtsherzversagens muss echokardiographisch ausgeschlossen werden. Zur Verhinderung eines Rechtsherzversagens sind eine kritische präoperative Evaluation und eine großzügige Indikationsstellung zur prophylaktischen/präemptiven Senkung des pulmonalartiellen Widerstandes zu empfehlen [20]. Therapeutisch anzustreben ist eine Kombination von 4 Nachlastsenkung durch Erniedrigung des Pulmonalgefäßwiderstands,
4 Optimierung der rechtsventrikulären Vorlast und des koronaren Perfusionsdrucks, Inotropieunterstützung und 4 Erhalt der atrioventrikuläre Synchronizität (. Abb. 80.4). Zusätzlich kommen in erster Linie Inodilatatoren wie Phosphodiesterasehemmer (z. B. Milrinon) und der Kalzium-Sensitizer Levosimendan sowie β-Mimetika und zur Aufrechterhaltung eines ausreichenden Perfusionsdrucks auch Vasokonstriktoren (Noradrenalin), und die Inhalation von Iloprost oder/und NO zum Einsatz [6]. Eine hohe inspiratorische Sauerstoffkonzentration ist zusätzlich einer der potentesten Dilatatoren in der pulmonalarteriellen Strombahn ventilierter Lungenareale. Zur weiteren Entwöhnung von den inhalativen pulmonalen Vasodilatatoren kann frühzeitig orales Sildenafil eingesetzt werden [11]. Ein durch die atriale Dilatation entstandenes Vorhofflimmern sollte aggressiv antiarrhythmisch behandelt werden (elektrische Kardioversion und/oder Amiodaron) und ggf. bei therapiebedingter Sinusbradykardie oder AV-Blockierung eine Schrittmacherstimulation erfolgen. Der Einsatz einer IABP kann über die Verbesserung der Koronarperfusion auch bei Rechtsherzversagen erwogen werden. Bei einem drohenden Versagen der konventionellen Therapie sollte der Einsatz einer ECMO und evtl. die nachfolgende Implantation eines VAD zur Überbrückung bis zur Erholung, einer Retransplantation oder als abschließende Versorgung erwogen werden.
Trikuspidalklappeninsuffizienz Implantationsbedingt kann es besonders bei einem Größenmissverhältnis der atrialen Anteile des Herzens bei der Operationstechnik nach Lower und Shumway zu einer Trikuspidalklappeninsuffizienz (TI) kommen [47]. Ein vorbestehender pulmonaler Hypertonus und ein akutes Rechtsherzversagen können diesen Befund noch verstärken. Das Risiko für eine TI steigt mit der Anzahl schwerer Abstoßungsreaktionen und der durchgeführten Myokardbiopsien [7]. Eine Nachlastsenkung mit Iloprost oder NO sowie Inotropika wird zur konservativen Therapie eingesetzt. Ist die TI klinisch relevant, sollte eine operative Trikuspidalklappenrekonstruktion erwogen werden.
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Kapitel 80 · Intensivtherapie nach Transplantation solider Organe
Abstoßung Eine frühe hyperakute Abstoßungsreaktion kann Folge des Vorhandenseins oder der Bildung von Antikörpern durch den Organempfänger gegen Zelloberflächenmoleküle vom HLA-Typ des Spenderorgans sein. Klinisch imponiert die schnelle Ausbildung eines biventrikulären Pumpversagens bei initial guter Transplantatfunktion. Diese Problematik könnte durch eine im Vorfeld durchgeführte Crossmatch-Testung verhindert werden, für die aber aufgrund der geringen Ischämietoleranz des Spenderherzens bei der aktuellen Untersuchungstechnik nicht genügend Zeit bleibt. > Eine Hochdosiskortikoidtherapie sowie die Elimination der Antikörper mittels Plasmapherese stellen die Therapie der Wahl dar.
Eine Elimination von B-Zellen durch Gabe von OKT3 oder einem Immunsuppressivum mit gewisser B-Zell-Spezifität wie Cyclophosphamid kann zusätzlich erwogen werden. Die chronische Abstoßung ist durch eine transplantationsspezifische koronare Vaskulopathie gekennzeichnet. Sie ist bei mindestens 40% der Transplantierten innerhalb der ersten 5 Jahre nachweisbar und begründet den Großteil der transplantationsassoziierten Morbidität und Letalität [74].
ein akutes postoperatives Nierenversagen aggressiv behandelt werden [38]. Hierzu gehören ein Optimierung der Hämodynamik, die Gabe von Diuretika und die Vermeidung hoher CNI-Spiegel.
Immunsuppression Die frühe immunsuppressive Therapie nach Herztransplantation besteht klassischerweise aus einer Kombination aus CNI, Antiproliferativum und Kortikoid. Sie kann durch eine Induktionsbehandlung mit T-Zell-Depletion (Antithymozytenantikörper, OKT3) oder die Interleukin-2-Rezeptorantagonisten Basiliximab und Dacluzimab ergänzt werden, die bei Patienten mit stark eingeschränkter Nierenfunktion einen späteren Start der CNI-Applikation erlauben. MMF/MPA erscheint Azathioprin überlegen. Der Einsatz der mTOR-Inhibitoren ist aufgrund ihrer antiproliferativen Eigenschaften attraktiv zur Prävention der koronaren Arteriopathie. Studien mit Sirolimus und Everolimus in Kombination mit CNI zeigten geringer ausgeprägte koronare Gefäßveränderungen, niedrige Abstoßungsraten, aber auch eine stärker ausgeprägte Entwicklung einer Niereninsuffizienz. Kortikoide werden regelhaft nach 6–12 Monaten ausgeschlichen [44].
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Lungentransplantation
Nichtkardiale Komplikationen Störungen der Lungenfunktion sind nach Herztransplantationen
keine Seltenheit. Häufige Ursachen sind neben einer interstitiellen Flüssigkeitszunahme infolge einer systemischen Entzündungsreaktion eine postoperative Linksherzinsuffizienz, Pneumonien, Hämatothorax, Pneumothorax, Chylothorax und Atelektasen, auch z. B. im Rahmen einer Zwerchfellparese nach Verletzung des N. phrenicus. Nachblutungen infolge einer postoperativen Verdünnungskoagulopathie, einer gerinnungsrelevanten Leberfunktionsstörungen bei chronisch-venöser Stauung, einer Vorbehandlung mit Thrombozytenaggregationshemmern, Heparin, Vitamin-K-Antagonisten und direkten Thrombininhibitoren stellen ein ernsthaftes Problem in der postoperativen Phase dar. Eine durch Laboranalysen einschließlich Thrombelastographie gestützte Substitution von Blutprodukten und Gerinnungsfaktoren sollte zeitnah durchgeführt werden. Bei therapierefraktären diffusen Blutungen kann die Offlabel-Gabe von aktiviertem Faktor VII als Heilversuch sinnvoll sein [30]. Echokardiographische Verlaufskontrollen zum Ausschluss einer Perikardtamponade sind für die Indikationsstellung zur operativen Revision angezeigt. Nach Eingriffen mit extrakorporaler Zirkulation werden in ca. 6% der Fälle neurologische Veränderungen (Beeinträchtigungen der intellektuellen Leistungsfähigkeit, Delir, Krampfanfälle, transitorische ischämische Attacken, Apoplex, Koma) verzeichnet, wobei Operationen am offenen Herzen wie die Herztransplantation mit einer noch höheren Inzidenz verbunden sind [65]. Mikroembolien, regionale und globale Minderperfusionen während der extrakorporalen Zirkulation (EKZ) oder auch eine inflammatorische Reaktion des Gehirns auf die EKZ sind hierfür ursächlich [57]. Bei einem verzögerten Aufwachen nach der Transplantation sollte eine weiterführende neurologische Diagnostik (CT, MRT, evozierte Potenziale) veranlasst werden. Häufig besteht bei den Patienten bereits präoperativ als Folge der Herzinsuffizienz eine eingeschränkte Nierenfunktion. Perioperative Faktoren wie die EKZ, hämodynamische Instabilität oder nephrotoxische Medikamente (z. B. CNI) können postoperativ zu einer weiteren Verschlechterung der Nierenfunktion führen [53]. Da die Entwicklung einer chronischen Niereninsuffizienz mit einer Zunahme der Letalität nach Herztransplantation assoziiert ist, sollte
Die Lungentransplantation zielt besonders auf die Verbesserung der Lebensqualität der betroffenen Patienten. Postoperativ ist auf besonderes Gewicht zu legen auf die Limitierung des pulmonalarteriellen Druckes, die Vermeidung einer Flüssigkeitsüberladung und die zügige Entwöhnung vom Respirator.
80.10.1
Einleitung
In Deutschland werden aktuell jährlich knapp 300 Lungentransplantationen durchgeführt [21]. Sie ist beim irreversiblen Organversagen trotz maximaler medikamentöser und apparativer Therapie indiziert (7 Übersicht). Die Lungentransplantation kann als unilaterale oder bilaterale Transplantation durchgeführt werden. Indikationen für eine Doppellungentransplantation sind beispielsweise das Vorliegen einer zystischen Fibrose (CF) oder eine schwere pulmonale Hypertonie, während bei älteren Emphysem- bzw. Fibrosepatienten auch eine Einlungentransplantation mit gutem Ergebnis durchgeführt werden kann.
Indikationen zur Lungentransplantation (nach [40]) 4 COPD/Emphysem 4 Idiopathische Lungenfibrose 4 Zystische Fibrose (CF) 4 α1-Antitrypsin-Mangel 4 Idiopathische pulmonale Hypertonie 4 Bronchiektasien 4 Sarkoidose 4 Retransplantation (BOS, non-BOS) (BOS=Bronchiolitis-obliterans-Syndrom bei chronischer Abstoßung)
Da die Kriterien des idealen Spenders (Alter 50 Jahren, einer vorbestehenden Divertikulose und einer hochdosierten Kortikoidtherapie ist eine zystische Fibrose (CF) als Grunderkrankung der Hauptrisikofaktor für diese intestinalen Komplikationen [31]. Patienten mit CF entwickeln aufgrund des primär zähen, flüssigkeitsarmen Stuhls auch unabhängig von einer Lungentransplantation oft ein distales intestinales Obstruktionssyndrom (DIOS). Eine intestinale Minderperfusion infolge von sehr restriktiver Flüssigkeitsgabe, Opioide und Infektionen werden ebenfalls als Ursachen angeführt. Prophylaktisch ist auf eine ausreichende Hydratation und die schnelle Reduktion von Opioiden zu achten. Zusätzlich sollten Acetylcystein und Quellmittel frühzeitig gegeben werden sowie Darmspülungen beizeiten durchgeführt und periphere Opiatantagonisten erwogen werden. Der konservativ nicht therapierbare Ileus muss zügig operativ versorgt werden. Eine operationsbedingte, häufig passagere, Vagusläsion kann zu Magenentleerungsstörungen führen. Eine symptomatische Therapie mit Metoclopramid und Erythromycin und ggf. eine Duodenalsonde können hier Abhilfe schaffen.
Akute Transplantatabstoßung
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Die akute Transplantatabstoßung zeigt sich anhand unspezifischer Symptome wie Husten, subfebrilen Temperaturen und Luftnot. Weitere Probleme wie Hypoxämie, Pleuraerguss, interstitielle Infiltrate oder ein Abfall der Lungenfunktion können auftreten, sind aber nicht beweisend für eine Abstoßung. Klinisch ist dies nicht von einer CMV-Pneumonitis oder einer anderen Infektion zu unterscheiden, weshalb nur eine Bronchoskopie mit BAL und ggf. transbronchialen Biospien Gewissheit schaffen kann. Die akute Abstoßung ist nach einer Kortikoidstoßtherapie meist vollständig reversibel.
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Chronische Transplantatabstoßung: Bronchiolitisobliterans-Syndrom
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Im Verlauf des 2. Jahres nach Transplantation tritt typischerweise das Bronchiolitis-obliterans-Syndrom (BOS) unter der Ausbildung einer obstruktiven Ventilationsstörung auf. Wiederholte akute Abstoßungen, virale Infekte, mangelhafte Therapieadhärenz, Aspiration und Mikroaspirationen bei gastroösophagealem Reflux gelten als Trigger des BOS. Unter einer Langzeittherapie mit Azithromycin konnte eine Verbesserung der Lungenfunktion beobachtet werden [33]. Hinweise auf die Entwicklung eines BOS können auch aus einer progredienten Verschlechterung der Lungenfunktion abgeleitet werden, die mit elektronischen Geräten täglich von den Patienten gemessen werden kann.
> Aufgrund der bedeutsamen Überblähung sind Lungentransplantierte mit fortgeschrittenem BOS sehr schwer maschinell zu beatmen und von der Beatmung zu entwöhnen.
Immunsuppression Die frühe immunsuppressive Therapie nach Lungentransplantation besteht klassischerweise aus einer Kombination aus CNI, Antiproliferativum und Kortikoid. Eine Induktionsbehandlung mit T-Zell-Depletion oder mit den Interleukin-2–Rezeptorantagonisten Basiliximab und Dacluzimab erlaubt einen späteren Start der CNI-Applikation. Die mTOR-Inhibitoren werden aufgrund der relevanten Rate pulmonaler Komplikationen aktuell nicht regelhaft eingesetzt [9].
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1058
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Kapitel 80 · Intensivtherapie nach Transplantation solider Organe
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1059
Spezielle Notfälle Kapitel 81
Die Schwangere in der Intensivmedizin
Kapitel 82
Präeklampsie, Eklampsie und HELLP-Syndrom
Kapitel 83
Anaphylaktischer Schock
Kapitel 84
Rheumatologische Notfälle
Kapitel 85
Hämatologisch-onkologische Störungen
Kapitel 86
Vergiftungen
XIII
1061
Die Schwangere in der Intensivmedizin M.K. Bohlmann, K. Diedrich
81.1
Einleitung – 1062
81.2
Ethische Aspekte – 1062
81.3
Diagnostik in der Schwangerschaft – 1062
81.3.1 81.3.2 81.3.3
Bestimmung des Gestationsalters – 1062 Kardiotokogramm (CTG) – 1062 Untersuchungsintervalle – 1063
81.4
Frühgeburtlichkeit – 1063
81.4.1 81.4.2
Lebensfähigkeit des Kindes – 1063 Induktion der fetalen Lungenreife – 1063
81.5
Schwangerschaftsspezifische Besonderheiten – 1063
81.5.1 81.5.2 81.5.3 81.5.4
Thromboembolisches Risiko – 1063 Beatmungsaspekte – 1063 Harnwegsinfektionen – 1063 Bildgebung in der Schwangerschaft – 1063
81.6
Medikamente – 1064
81.6.1 81.6.2 81.6.3 81.6.4 81.6.5
Antibiotika – 1064 Virustatika – 1065 Antimykotika – 1065 Analgetika – 1065 Abstillen – 1065
Literatur – 1065
H. Burchardi et al. (Hrsg.), Die Intensivmedizin, DOI 10.1007/978-3-642-16929-8_81, © Springer Medizin Verlag Berlin Heidelberg 2011,
81
1062
81
81.1
Kapitel 81 · Die Schwangere in der Intensivmedizin
Einleitung
81
In Industrieländern machen Schwangere weniger als 2% der intensivpflichtigen Patienten aus, während diese Rate in Entwicklungsländern mehr als 10% beträgt [10, 12]. Insgesamt findet sich eine höhere Inzidenz der Intensivpflichtigkeit bei Frauen in der Postpartalperiode als in der Schwangerschaft selbst [20], was durch geburtshilfliche Komplikationen, wie ausgeprägten Blutverlust, hypertensive Krisen oder postpartale Sepsis, zu erklären ist. Aufgrund der dann möglichen »getrennten« Behandlung von Mutter und Kind, der guten neonatologischen Versorgungsoptionen sowie der Verwendung von Trink- und Sondennahrung für das Neugeborene ist hierbei das Risikoprofil differenziert zu betrachten. Auf Intensivstationen zu behandelnde Schwangere stellen hingegen eine besondere Risikogruppe dar, da hier grundsätzlich sowohl den medizinischen Bedürfnissen der Mutter als auch des in utero befindlichen Kindes/der Kinder Rechnung getragen werden muss. Daher gilt der Fokus dieses Kapitels Schwangeren, bei denen die besonderen Veränderungen des maternalen Organismus in der Schwangerschaft, der Einfluss des Kindes auf die Mutter sowie Sicherheitsbedenken für Mutter und Kind in einer potenziell lebensbedrohlichen Situation zu berücksichtigen sind. Angehörige, betreuende Ärzte, Pflegekräfte und weitere Mitarbeiter können dabei vor weitreichende Fragen gestellt werden, die in einem Lehrbuch der Intensivmedizin nicht jeweils im Einzelnen aufgegriffen werden können.
81
81.2
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81 81 81 81 81 81 81 81 81 81 81 81 81
Ethische Aspekte
Die Behandlung von Schwangeren auf einer Intensivstation sollte naturgemäß in einem Zentrum mit entsprechender Expertise und Ausstattung, z. B. einem Perinatalzentrum mit neonatologischer Versorgungsmöglichkeit, erfolgen [3]. Insgesamt hat sich eine kompetente interdisziplinäre Betreuung durch Intensivmediziner, Geburtshelfer, Neonatologen, Experten weiterer beteiligter Fachdisziplinen sowie ggf. Psychologen im Alltag bewährt. Der Entscheidungsautonomie der – aufgeklärten – Schwangeren muss dabei Rechnung getragen werden. Bei nicht entscheidungsfähiger Patientin sollten die Vorstellungen der Angehörigen in das medizinische Vorgehen einfließen, ggf. kann darüber hinaus ein lokales Ethik-Komitee hilfreiche Stellungnahmen abgeben. Die Entscheidung zum Abbruch oder zur Vorenthaltung medizinischer Maßnahmen bei terminaler maternaler Erkrankung sollte ebenfalls im interdisziplinären Konsens getroffen werden [19]. Dieses Dilemma wird besonders deutlich in der Behandlung hirntoter Schwangerer, bei denen durch intensivmedizinische Maßnahmen die Vitalfunktionen der Mutter einzig zur weiteren Entwicklung des Kindes aufrecht erhalten werden.
81.3 81.3.1
Diagnostik in der Schwangerschaft
z. B. eine Transvaginalsonographie in frühen Schwangerschaftswochen bzw. ein Transabdominalschall (ab ca. 14 Schwangerschaftswochen) notwendig. Durch eine per Ultraschall erfolgende Biometrie des Kindes lassen sich auch das Gestationsalter sowie die Intaktheit der Gravidität (positive Herzaktionen spätestens nach 6+3 Schwangerschaftswochen post menstruationem) bestimmen. Serologisch kann eine Intaktheit bei Frühestschwangerschaften durch ansteigende hCGWerte (Verdopplungszeit etwa 2 Tage bis zur 10. Schwangerschaftswoche) vermutet werden. Dabei ist insbesondere bei unbekannter Schwangerschaftsdauer ein einmaliger Wert weniger aussagefähig als die Ergebnisse einer nach 2 Tagen durchgeführten Verlaufskontrolle. Eine gynäkologische Untersuchung – z. B. mit Spekula auf einem speziellen Untersuchungsstuhl – wird sich an den Möglichkeiten zur Mobilisation der Patientin orientieren müssen.
81.3.2
Kardiotokogramm (CTG)
Die parallele Darstellung der fetalen Herzfrequenz in Kombination mit der Ableitung uteriner Kontraktionen wird als CTG bezeichnet, das ggf. noch durch die Darstellung von Kindsbewegungen ergänzt werden kann (sog. Kinetokardiotokogramm). Die nervale Steuerung der fetalen Herzfrequenz wird dabei durch übergeordnete medulläre Zentren gewährleistet [6], die mannigfaltigen Einflüssen unterliegen (. Tab. 81.1). Bei der Interpretation des CTG ist daher diesen Einflussfaktoren Rechnung zu tragen. Indikationen zur erstmaligen CTG-Ableitung sind in frühen Schwangerschaftswochen gegeben 4 bei drohender Frühgeburtlichkeit, 4 Verdacht auf vorzeitige Wehen sowie 4 Herzfrequenzalterationen. In praxi wird sicher aufgrund der einfachen, ungefährlichen Methode die Indikation zur CTG-Ableitung bei Risikoschwangeren großzügiger gestellt werden, wobei sich aus etwaigen Pathologien naturgemäß auch therapeutische Konsequenzen ergeben sollten. Von daher wird vor Erreichen der kindlichen Lebensfähigkeit (7 Abschn. 81.4.1) in der Regel auf die Ableitung der fetalen Herzfrequenz verzichtet und ein alleiniges Tokogramm geschrieben.
. Tab. 81.1 Einflussfaktoren auf das Kardiotokogramm. (Mod. nach [6]) Maternal
Fetal
Fetoplazentar
Exogen
Körperhaltung
Bewegungen
Gestationsalter
Medikamente
Fieber
Hypoxämie
Plazentainsuffizienz
Drogen
Körperliche Aktivität
Weckreize
Amnioninfektion
Lärm
Kreislaufschock
Verhaltenszustände
Nabelschnurkompression
Nikotinabusus
Bestimmung des Gestationsalters
Bei unbekanntem Graviditätszustand einer – ggf. komatösen - Patientin im gebärfähigen Alter kann eine Schwangerschaft durch eine einfache Bestimmung des Hormons hCG (humanes Choriongonadotropin) im Serum oder Urin bestätigt oder ausgeschlossen werden. Ein positiver Testbefund sagt dabei nichts über Intaktheit oder Lokalisation (Cave: Extrauteringravidität; EUG) der Schwangerschaft aus. Daher sind ggf. weitere apparative Untersuchungen, wie
Uteruskontraktionen
1063 81.5 · Schwangerschaftsspezifische Besonderheiten
81.3.3
Untersuchungsintervalle
Die Häufigkeit der klinischen und sonographischen Untersuchungen sowie der CTG-Ableitungen wird von der jeweiligen Situation der Schwangeren determiniert. Normalerweise sind bis zur 34. Schwangerschaftswoche (SSW) Untersuchungen gemäß den Mutterschaftsrichtlinien [11] in 4-wöchentlichen Abständen empfohlen, während danach das Intervall auf 2 Wochen verkürzt wird. Bei Terminüberschreitung werden 2-tägige Untersuchungen gefordert. Die Intervalle sollten bei entsprechender klinischer Symptomatik verkürzt werden, sodass die oben genannten Empfehlungen sicher nicht bei intensivpflichtigen Schwangeren anzuwenden sind. Hier sollte die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Geburtshelfern und ggf. Neonatologen das Vorgehen determinieren.
81.4
Frühgeburtlichkeit
81.4.1
Lebensfähigkeit des Kindes
> Die Grenze der kindlichen Lebensfähigkeit wird i. Allg. nach 23–24 SSW post menstruationem angesiedelt, wobei auch nach knappem Überschreiten dieses Zeitfensters von einer hohen neonatalen Mortalität und Morbidität auszugehen ist [14].
In diesem Zeitraum muss daher der Vorteil für das Kind durch eine Tragzeitverlängerung im Verhältnis zu potenziellen Gefahren für die Mutter besonders kritisch abgewogen werden. Wenn es hingegen zu einem wesentlich früheren Schwangerschaftszeitpunkt absehbar sein dürfte, dass nach menschlichem Ermessen der Zeitraum der Lebensfähigkeit des Kindes aufgrund einer lebensbedrohlichen maternalen Konstellation nicht oder nur sehr schwer erreicht werden dürfte, die Schwangerschaft aber das Leben bzw. die Behandlungsmöglichkeiten der Mutter noch stärker gefährdet oder beeinträchtigt, kann nach interdisziplinärem Konsens und Absprache mit der Patientin bzw. deren Angehörigen ein Schwangerschaftsabbruch aus medizinischer Indikation in Erwägung gezogen werden. Umgekehrt verhält es sich bei höheren Schwangerschaftswochen (insbesondere abgeschlossene >30. SSW), wo die Risiken der Frühgeburtlichkeit signifikant sinken. Hier wird, sofern aus maternaler Sicht möglich, eine (Schnitt-) Entbindung sicher eher erwogen werden.
81.4.2
Induktion der fetalen Lungenreife
Entscheidende Bedeutung für Frühgeborene hat die Lungenentwicklung. Es ist anerkannt, dass durch die Induktion der fetalen Lungenreife das Risiko eines neonatalen Versterbens, eines Atemnotsyndroms sowie einer intraventrikulären Blutung signifikant gesenkt werden kann [4]. > Seitens der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) wird daher bei drohender Frühgeburtlichkeit zwischen der abgeschlossenen 24. und 34. SSW die 2-malige Gabe von plazentagängigen Kortikosteroiden (Bethamethason 12 mg intramuskulär) im Abstand von 24 h gefordert [4]. Diese Maßnahme dürfte aus geburtshilflicher Sicht aufgrund des guten fetalen Sicherheitsprofils bei intensivpflichtigen Schwangeren großzügig Anwendung finden, sofern keine maternalen Gründe dem entgegenstehen.
81.5
Schwangerschaftsspezifische Besonderheiten
81.5.1
Thromboembolisches Risiko
Schwangerschaft und Wochenbett gelten als der risikoreichste Zeitraum für das Auftreten thromboembolischer Erkrankungen im Leben einer Frau [2]. Als ursächlich werden neben veränderten endokrinen Faktoren auch direkte Kompressionseffekte des graviden Uterus auf die Beckengefäße angenommen, das Risiko für Thromboembolien ist dabei in allen Schwangerschaftstrimestern gleich hoch [8]. Dieses Risiko wird durch weitere Faktoren, wie z. B. einer dauerhaften Immobilisierung weiter erhöht, sodass dieser Tatsache im therapeutischen Management Rechnung getragen werden muss. > Sofern keine medizinische Gründe dagegen sprechen, sollte daher bei allen immobilisierten Schwangeren eine konsequente Antikoagulation durchgeführt werden.
In der Regel kommen dabei aufgrund der fehlenden Plazentagängigkeit Heparine zur Anwendung, während Vitamin-K-Antagonisten in der Schwangerschaft wegen ihres teratogenen Potenzials sowie des Risikos fetaler Hirnblutungen nur äußert zurückhaltend eingesetzt werden sollten. In praxi hat sich in der Schwangerschaft die Anwendung niedermolekularer Heparine aufgrund des im Vergleich zu unfraktioniertem Heparin besseren Sicherheitsprofils bewährt [2]. Die Prophylaxe sollte risiko- und gewichtsadaptiert erfolgen [1].
81.5.2
Beatmungsaspekte
Im Falle einer notwendigen Beatmung der Schwangeren sind angepasste Schemata aufgrund des Zwerchfellhochstandes sowie des erhöhten intraabdominellen Druckes zu berücksichtigen [13].
81.5.3
Harnwegsinfektionen
In der Schwangerschaft treten u. a. häufiger Infektionen der ableitenden Harnwege auf [17], die eine bedeutsame Ursache maternaler Morbidität und sepsisbedingter Mortalität darstellen [15]. Durch aszendierende Infektionen besteht darüber hinaus ein signifikant erhöhtes Risiko einer vorzeitigen Wehentätigkeit mit der Gefahr der Frühgeburtlichkeit. Daher müssen auch asymptomatische Harnwegsinfekte in der Schwangerschaft konsequent zur Verhinderung von Komplikationen behandelt werden. Insbesondere ist bei Schwangeren mit intermittierender transurethraler Katheterisierung [17] bzw. mit liegendem transurethralem Dauerkatheter [9] von einer erhöhten Prävalenz von Harnwegsinfektionen auszugehen, sodass diese Patientinnen ein besonderes Risikokollektiv darstellen. Eine prophylaktische Antibiotikatherapie kann in diesen Fällen erwogen werden [17].
81.5.4
Bildgebung in der Schwangerschaft
Normalerweise sind durch bildgebende Untersuchungen wichtige ergänzende Informationen bei intensivpflichtigen Patienten zu erwarten. Dabei sollte bei Schwangeren möglichst auf die Verwendung ionisierender Strahlung verzichtet werden oder aber, soweit möglich, der Fetus außerhalb des Strahlenfeldes zu liegen kommen sowie das Strahlenfeld möglichst klein gehalten werden. Dennoch lassen sich Streustrahlungen nicht vollständig vermeiden. In Ab-
81
1064
Kapitel 81 · Die Schwangere in der Intensivmedizin
. Tab. 81.2 Effekte einer direkten Bestrahlung auf die Schwangerschaft (SSW=Schwangerschaftswoche, p.m.=post menstruationem, mGy=Milli-Gray). (Mod. nach [16])
. Tab. 81.3 Zu erwartende fetale Dosis bei verschiedenen diagnostischen Maßnahmen und suffizienter Abschirmung (mGy=MilliGray). (Mod. nach [16])
Schwangerschaftswoche
Auswirkungen
Geschätzter Grenzwert
Maßnahme
Fetale Dosis (in mGy)
Kraniales CT
0,3 g/24 h Schwangerschaftshochdruck ≥140/90 mm Hg und Proteinurie >5 g/24 h Zusätzliche Organmanifestationen
Zentralnervöse Symptome
Anhaltende Kopfschmerzen Augenflimmern und Skotome Myoklonien Papillenödem
Niere
Oligurie 600 U/l, AST >70 U/l, ALT >70 U/l) Oberbauchschmerzen
82
Lunge
Lungenödem Zyanose
82
Thrombozytopenie
140 bzw. >90 mm Hg, die 2-mal im Abstand von mindestens 6 h bei Fehlen einer Proteinurie gemessen werden. Schwangerschaftskomplikationen sind selten. Meist steigt der Blutdruck im Verlauf der Schwangerschaft nicht weiter an, bisweilen wird ein progredienter Anstieg ohne weitere Präeklampsiesymptome (außer einer möglichen fetalen Wachstumsrestriktion) beobachtet, selten die Progression in eine Präeklampsie. Postpartal normalisiert sich der Blutdruck wieder. 4 Chronische Hypertonie: Hypertonie, die bereits vor der Schwangerschaft oder später als 12 Wochen nach der Entbindung besteht. Bei einer Pfropfpräeklampsie mit einer Inzidenz von etwa 25% sind die Risiken der Frühgeburtlichkeit, der fetalen Wachstumsrestriktion, der vorzeitigen Plazentalösung und des akuten Nierenversagens höher als bei der neu aufgetretenen Präeklampsie. 4 Präeklampsie/Eklampsie: Schwangerschaftshypertonie mit Proteinurie, die durch >300 mg Protein im 24-h-Sammelurin bzw. durch zwei qualitative Bestimmungen (Uristix) mindestens einfach positiv im Abstand von mehr als 4 h definiert ist. Die Eklampsie als Komplikation einer schweren Präeklampsie äußert sich in tonisch-klonischen Krämpfen. Nach dieser Klassifikation gehen weder die Ödeme noch der relative oder absolute Blutdruckanstieg in die Definition der Präeklampsie ein. Da die Proteinurie ein spätes Symptom ist, sollten auch die jenigen Patientinnen behandelt werden, bei denen die Schwanger-
schaftshypertonie mit Kopfschmerzen, Oberbauchschmerzen oder Laborveränderungen (Thrombopenie und erhöhte Leberwerte) assoziiert sind. Aus klinischer Sicht ist es sinnvoll, eine schwere von einer milden Präeklampsie zu unterscheiden, da dies den Entbindungszeitpunkt beeinflusst und außerdem bestimmt, ob die Patientin intensivmedizinisch behandelt werden muss (. Tab. 82.1 und . Abb. 82.1).
82.2
Epidemiologie
Die Präeklampsie tritt mit einer Inzidenz von 3‒5% aller Schwangerschaften auf. 4 In etwa 25% der Fälle entwickelt sie sich bereits vor der 35. SSW, in der Regel mit einem höheren mütterlichen bzw. kindlichen Komplikationsrisiko. 4 Bei rund 75% der Fälle tritt sie erst kurz vor oder am Entbindungstermin auf [26], meist als leichte Form mit einem geringen mütterlichen und neonatalen Morbiditätsrisiko. Gemäß einer englischen Erhebung [5] sterben heutzutage in England zwischen 6 und 13 Mütter auf 1 Mio. Schwangerschaften direkt an den Folgen und Komplikationen einer schwangerschaftsinduzierten Hypertonie. Diese mütterlichen Todesfälle wären heute meist vermeidbar, wenn die Schwangerschaft rechtzeitig beendet, die Entwicklung schwerer Erkrankungsstadien vermieden und die Behandlungsstandards eingehalten würden. So konnte die Inzidenz der Eklampsie in England von 1922‒1964 von 0,8% auf 0,049% um über 90% reduziert werden.
Risikofaktoren für das Auftreten einer Präeklampsie [8] 4 4 4 4 6
Altersextreme bei Erstgravidität (40 Jahre) Primipaternität Heterologe Inseminationen, Eizell- oder Embryospende Erhöhte Trophoblastmenge (Mehrlingsschwangerschaften, Blasenmole)
1069 82.3 · Ätiologie, Pathogenese und Pathophysiologie
. Abb. 82.1 Algorithmus: Stationäre vs. intensivmedizinische Betreuung
4 Erkrankungen der Mutter mit Gefäßbeteiligung (Hypertonie, insulinpflichtiger Diabetes mellitus, Adipositas, Nierenerkrankungen) 4 Autoimmunerkrankungen (Antiphospholipidsyndrom, Rheuma, Lupus erythematodes) 4 Genetische Disposition (Mutationen und Polymorphismen mit Assoziation zu Thrombophilie, Hyperlipidämie, Arteriosklerose) 4 Positive persönliche (Präeklampsie in früherer Schwangerschaft) bzw. familiäre Anamnese (mütterlicheroder väterlicherseits)
Faktoren, die das Präeklampsierisiko reduzieren 4 Blande Anamnese (Schwangerschaft mit demselben Partner) 4 Zigarettenkonsum (senkt paradoxerweise die Präeklampsiehäufigkeit [11])
Intensivmedizinische Bedeutung der schweren Präeklampsie Die prädiktive Bedeutung der schweren Präeklampsie als wichtiger mütterlicher Morbiditätsfaktor ergibt sich aus den Ergebnissen einer englischen Fallkontrollstudie aus dem Jahre 1998 [34]: Bei einer totalen Morbiditätsinzidenz von 12,0 auf 1000 Geburten folgten auf massive Hämorrhagie 6,7 schwere Präeklampsie 3,9, Eklampsie 0,2, HELLP-Syndrom 0,5, schwere Sepsis 0,4 und Uterusruptur 0,2. Auch in Finnland waren Komplikationen einer schweren Präeklampsie (32%) nach denjenigen einer Massenblutung (73%) die zweithäufigsten Eintrittsdiagnosen von Schwangeren auf einer In-
tensivstation. In Yorkshire mussten zwischen 1999 und 2003 49 von 1087 Schwangeren (4,5%) wegen Komplikationen einer schweren Präeklampsie (Inzidenz 0,52%) auf einer Intensivstation behandelt werden.
82.3
Ätiologie, Pathogenese und Pathophysiologie
Die Ätiologie der Präeklampsie ist nach wie vor nicht vollständig aufgeklärt: Sicher ist, dass die Erkrankung nur entsteht, wenn eine Plazenta vorhanden ist, und dass sie meist folgenlos ausheilt, wenn die Plazenta bei der Entbindung entfernt wird. Ferner ist allgemein anerkannt, dass die mütterlichen Symptome der Präeklampsie wie Hypertonie, Proteinurie, Gerinnungsstörung und Leberdysfunktion auf eine generalisierte Endothelerkrankung der Schwangeren zurückzuführen sind. Die Präeklampsie ist eine zweiphasige Erkrankung mit einem präklinischen plazentaren und einem klinischen Stadium (. Abb. 82.2; [21, 24, 26]). z Stadium 1 Histopathologische Untersuchungen zeigen, dass eine mangelhafte endovaskuläre Invasion fetaler Zytotrophoblasentzellen in mütterliche deziduale Gefäße (»poor placentation«) als früheste pathophysiologische Veränderung bei Präeklampsie regelmäßig nachweisbar ist [23]. Die endovaskuläre Invasion von Zytotrophoblastzellen führt im Normalfall zu einem extensiven Umbau (Remodelling) der Spiralarterien, den Endarterien der uteroplazentaren Zirkulation, die mütterliches Blut direkt in den intervillösen Raum der Plazenta leiten. Dieses Remodelling ist etwa in der 20. SSW abgeschlossen, sodass der niedrige Gefäßwiderstand der schlauchartig dilatierten Spiralarterien eine maximale Perfusion des intervillösen Raumes gewährleistet.
82
1070
Kapitel 82 · Präeklampsie, Eklampsie und HELLP-Syndrom
. Abb. 82.2 Pathophysiologie der Präeklampsie. (Nach [21])
82 82 82 82 82 82 82 82 82 82 82 82 82 82 82 82 82 82 82 82 82 82 82 82 82
Bei der Präeklampsie ist die von natürlichen Killerzellen und Makrophagen begleitete Trophoblastinvasion in Spiralarterien und Dezidua unvollständig (»shallow invasion«), sodass der Umbau der Spiralarterien ausbleibt und die uteroplazentare Perfusionskapazität den fetalen Bedürfnissen, die sich im Verlauf der Schwangerschaft verzehnfachen (von 50 auf 500 ml/min), nicht entspricht ‒ aus immunologischer Sicht eine Form der mütterlichen Abwehr des genetisch fremden Fetus. z Stadium 2 Vasokonstriktion und Minderperfusion im intervillösen Raum führen zu einer plazentaren Hypoxie, die über weitgehend unbekannte Mechanismen eine Endothelaktivierung auslöst und unterhält. Diese wird von einem Ungleichgewicht zwischen angiogenen Faktoren, wie VEGF (»vascular endothelial growth factor«) oder PlGF (»placental growth factor«) und Faktoren, die die Angiogenese inhibieren, wie sFlt I (»soluble fms-like tyrosine kinase I«) und sEng (»soluble endoglin«) begleitet, die mit der Pathogenese der Präeklampsie eng verbunden ist [22]. Eine verminderte plazentare Durchblutung, auch wenn sie zu einer fetalen Wachstumsrestriktion führt, reicht jedoch allein nicht für die Entwicklung einer Präeklampsie aus. Nur 30‒50% aller Feten präeklamptischer Schwangerer weisen eine Wachstumsrestriktion auf. Offenbar handelt es sich um ein multifaktorielles Geschehen, das zur endothelialen Aktivierung bei Präeklampsie führt. Das Endothel steht im Mittelpunkt der Symptome Hypertonie, periphere Vasokonstriktion, Proteinurie und Ödeme, die allesamt auf gestörte endotheliale Funktionen zurückgeführt werden können. Neuere Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass das Endothel durch noch unbekannte zirkulierende Substanzen (»Faktor X«) aktiviert wird, die zu Endothelveränderungen führen, wie sie auch unter oxidativem Stress beobachtet werden. Allerdings konnte in einer prospektiv randomisierten und Placebo-kontrollierten Untersuchung, in der der Einfluss von Vitamin C und Vitamin E auf die Inzidenz der Präeklampsie in einem Hochrisikokollektiv untersucht wurde, kein präventiver Effekt dieser Antioxidanzien nachgewiesen werden [19]. Die pathologischen Veränderungen einer Präeklampsie entsprechen nicht derjenigen einer klassischen Hypertonie, sondern vielmehr einer Minderdurchblutung praktisch aller Organe. In der Niere beispielsweise finden sich stark geschwollene Endothel- und Mesangiumzellen, welche die glomerulären Kapillaren verschließen. Die veränderte Nierenfunktion spiegelt sich im Kreatinin- und Harnsäurespiegel und in der Eiweißausscheidung wider. Verände-
rungen am zerebralen Gefäßsystem sind unabhängig vom systemischen Blutdruck und reichen von Blutungen und Petechien bis zu Gefäßwandveränderungen und fibrinoiden Nekrosen mit Ischämiearealen und Mikroinfarkten. > Das Leitsymptom der Präeklampsie, die Hypertonie, ist hauptsächliche durch eine erhöhte Sensitivität gegen alle zirkulierenden Vasokonstriktoren bedingt, unterstützt durch die gesteigerte Aktivität des sympathischen Nervensystems.
Gleichzeitig führt die gestörte Endothelfunktion zu einer verminderten Produktion von gefäßerweiternden Mediatoren wie den Prostaglandinen und Stickstoffmonoxid. Die Organdurchblutung wird durch die aktivierte Gerinnung mit Ablagerung von kapillären Mikrothromben sowie die Hämokonzentration bei vermehrter Ödembildung weiter beeinträchtigt.
82.4
Diagnostik, Differenzialdiagnostik
82.4.1
Diagnostik
Blutdruckmessung Die Messung wird nach einer 10-minütigen Ruhephase bei der sitzenden Patientin durchgeführt; primär an beiden Armen, zur Verlaufskontrollen am Arm mit den höheren Werten. Die International Society for the Study of Hypertension in Pregnancy (ISSHP) empfiehlt, die Korotkoff-Phase I (Hörbarwerden der Töne) zur Bestimmung des systolischen und die Korotkoff-Phase V (Verschwinden der Töne) zur Bestimmung des diastolischen Blutdruckwertes zu benutzen. Bei bis zu 25% der Patientinnen mit leichter Hypertonie führt die manuelle Blutdruckmessung zu falsch-hohen Werten (»white coat hypertension«), tageszeitliche Schwankungen und die Größe der Blutdruckmanschette sollten ebenfalls beachtet werden. Diese Fehlerquellen können durch eine 24-h-Blutdruckmessung mit vollautomatischen, oszillometrischen Geräten ausgeschaltet werden, die sich auch zur Überprüfung der therapeutischen Maßnahmen eignen.
Eiweißausscheidung im Urin Falls keine quantitative Proteinbestimmung im 24-h-Sammelurin vorliegt, die zur Objektivierung verlangt werden sollte, gilt ein Wert von >0,3 g/l (einfach positiv im U-Stix) als pathologisch. Falsch-
82
1071 82.4 · Diagnostik, Differenzialdiagnostik
. Tab. 82.2 Präeklampsie: Laborparameter (Verlaufskontrolle) Organfunktion
Parameter
Pathologische Werte
Niere
Kreatinin-Clearance
80 μmol/l (1,05 mg/dl)
Harnsäure
>360 μmol/l (6,05 mg/dl)
Proteinurie
>0,3 g/24 h
Albumin
Abfall < Referenzbereich
Alaninaminotransferase (ALT)
Anstieg > Referenzbereich
Aspartataminotransferase (AST)
Anstieg > Referenzbereich
Laktatdeyhdrogenase (LDH)
Anstieg > Referenzbereich
Bilirubin
Anstieg > Referenzbereich
Thrombozyten
13 g/dl
. Abb. 82.3 Symptome der Präeklampsie
Hämatokrit
≥38%
positive Werte können durch verstärkten Fluor oder eine Infektion vorgetäuscht werden.
Fibrinogen
Abfall < Referenzbereich
Haptoglobin
Abfall Das Auftreten dieser Prodromalsymptome sollte eine umgehende stationäre Einweisung der Schwangeren zur weiteren Abklärung und Therapie nach sich ziehen.
Fetale Überwachung Mit Kardiotokographie (CTG; Wehenschreiber), Dopplersonographie der uterofetoplazentaren Gefäße und Fetometrie kann der fetale Zustand beurteilt und eine fetale Wachstumsrestriktion ausgeschlossen werden. Bei einer Entbindung vor der 34. SSW stellt sich die Indikation zur fetalen Lungenreifeinduktion mit Betamethason (2-mal 12 mg i.m. im Abstand von 12 h).
Laboruntersuchungen Diese dienen dem Ausschluss eines HELLP-Syndroms und der Funktionsdiagnostik evtl. beteiligter Organe (. Tab. 82.2).
82.4.2
Differenzialdiagnostik
> Bei einer neu aufgetretenen Hypertonie in Kombination mit einer Proteinurie in der Schwangerschaft besteht kein Zweifel an einer Präeklampsie.
. Tab. 82.3 Differenzialdiagnose des HELLP-Syndroms HELLP
TTP
HUS
Virushepatitis
Hämolyse
++
+++
++
–
Thrombopenie
++
+++
+++
–
Ikterus
–
++
++
++
Hypertonie
Meist
–
–
–
Transaminasen
++
Selten
Selten
++
Proteinurie
Meist
Selten
Meist
–
Oberbauchschmerz, häufig DIG
Neurologische Symptome
Besonderes
DIG=disseminierte intravaskuläre Gerinnung; TTP=thrombotisch-thrombozytopenische Purpura; HUS=hämolytisch-urämisches Syndrom.
Schwieriger ist die Differenzialdiagnose bei einer Thrombozytopenie oder bei Hämolyse, Anstieg der Leberenzyme, alleinigen Oberbauchschmerzen und Nierenerkrankungen (. Tab. 82.3).
1072
Kapitel 82 · Präeklampsie, Eklampsie und HELLP-Syndrom
. Abb. 82.4 Algorithmus zum Vorgehen bei schwerer Präeklampsie. (Hauseigenes Vorgehen; [24, 30])
Schwere Präeklampsie
82 82
Stationäre Beobachtung, tägliche maternale und fetale Evaluation, Magnesiumsulfat, antihypertensive Therapie, falls RR > 160/110 mm Hg
82 82 82 < 23 SSW
23−32 SSW
Schwangerschaftsabbruch diskutieren
Maternale Gefährdung oder fetale Gefährdung
> 32 SSW
82 82 82
ja
Entbindung
82 nein
82 nein
82
Lungenreifungsprophylaxe
ja
82 82
Erhebliche fetale Restriktion
82 82
Wichtige Differenzialdiagnosen einer Thrombozytopenie in der Schwangerschaft
82
4 4 4 4 4 4 4 4 4 4 4
82 82 82 82 82 82 82 82 82
82.5
Pseudothrombozytopenie Gestationsthrombozytopenie Immunologische Formen Autoimmunthrombozytopenie Medikamentös induzierte Thrombozytopenie Präeklampsie und HELLP-Syndrom Disseminierte intravasale Gerinnung (DIG) Hämolytisch urämisches Syndrom (HUS) Thrombotisch-thrombozytopenische Purpura (TTP) Folsäure- oder Vitamin-B12-Mangel Schwangerschaftsfettleber
Klinische Manifestationen, Komplikationen und Behandlung
Obwohl die Entbindung die einzige kausale Therapie der Präeklampsie darstellt, von der sich die Patientin bei komplikationslosem Verlauf rasch vollständig erholen kann, sind sowohl der klinische Verlauf als auch der Zeitpunkt der Schwangerschaft für das Vorgehen richtungsweisend. Nach Sicherung der Diagnose sollte der Zustand der Schwangeren optimiert und unter engmaschiger Kontrolle stabilisiert werden, um das Komplikationsrisiko zu minimieren. Vor der 34. SSW drängt sich in aller Regel ein abwartendes
Verhalten auf, um die Probleme der extremen Frühgeburtlichkeit zu vermeiden. Dadurch wird die Mutter allerdings der Gefahr einer Verschlechterung der Präeklampsie und damit assoziierten Komplikationen ausgesetzt. Das Vorgehen besteht also aus einem ständigen Abwägen der Risiken, dessen wichtigste Entscheidungsdeterminanten der Schweregrad der Präeklampsie einerseits und die Gefahren der Frühgeburtlichkeit andererseits sind, wobei der Sicherheit der Mutter oberste Priorität zukommt (. Abb. 82.4). Da sich aus einer Präeklampsie jederzeit ohne Vorwarnzeichen eine Eklampsie oder ein HELLP-Syndrom entwickeln kann, muss die ambulante oder stationäre Überwachung der Schwangeren darauf ausgerichtet sein, die mit einer Exazerbation assoziierte Morbidität und Mortalität durch frühzeitige Erfassung und rechtzeitige therapeutische Interventionen zu reduzieren. Deshalb sollten, bei individualisierten Untersuchungsintervallen, die Laborwerte regelmäßig kontrolliert werden, bei milden Verlaufsformen wöchentlich, bei schweren täglich, in Einzelfällen sogar noch häufiger. > Die engmaschige klinische Überwachung ist von zentraler Bedeutung.
82
1073 82.5 · Klinische Manifestationen, Komplikationen und Behandlung
. Tab. 82.4 Medikamente zur Akuttherapie der schwangerschaftsinduzierten Hypertonie
. Tab. 82.5 Medikamente zur Therapie der chronischen Hypertonie in der Schwangerschaft
Substanzklasse
Pharmakon
Dosis
Substanzklasse
Pharmakon
Anfangsdosis
Maximaldosis
Peripherer Vasodilatator
Dihydralazin (Nepresol)
5–10 mg i.v., repetitiv nach 20– 30 min bis Therapieziel erreicht; danach 3,0–4,5 mg/h i.v.
Zentraler adrenerger Antagonist
Methyldopa
3-mal 250 mg
3 g/Tag
Kalziumantagonist
Nifedipin (Adalat)
5–10 mg p.o., repetitiv nach 30 min bis maximal 50 mg; danach retardiertes Nifedipin 20 mg/8–12 h p.o.
Nifedipin (retardiert)
2-mal 30 mg
Kalziumantagonist
150 mg/ Tag
β-Rezeptorenblocker
Metoprolol
1-mal 50 mg
100 mg/ Tag
Kombinierter α1/β-Rezeptorenblocker
Labetolol (Trandate)
10–20 mg i.v., repetitiv nach 10– 20 min, bis Therapieziel erreicht, bei fehlender Wirkung Dosissteigerung auf 40 bzw. 80 mg i.v. bis zur Maximaldosis von 300 mg; danach 20–160 mg/h i.v.
Kombinierter α1-/βRezeptorenblocker
Labetolol
3-mal 100–200 mg
2400 mg/ Tag
α1-Rezeptorblocker und 5HT1A-Agonist
82.5.1
Urapidil (Ebrantil)
5–10 mg i.v.; danach 6–24 mg/h i.v.
Hypertonie
Therapie schwangerschaftsinduzierten Hypertonie Die endotheliale Dysfunktion, die mit einer gestörten Stickstoffmonoxid (NO)-Freisetzung gekoppelt ist, führt zu Beeinträchtigung der Gefäßintegrität, diffusen Vasospasmen und inadäquater Sauerstoffversorgung. Zwischen Hypertonie und Hypovolämie scheint eine inverse Korrelation zu bestehen [15]. Das Ziel der antihypertensiven Therapie besteht darin, das Risiko zerebro- und kardiovaskulärer Komplikationen zu reduzieren, die für die mütterliche Mortalität und Morbidität hauptsächlich verantwortlich sind [5, 37]. Die Blutdrucksenkung kann für den Fetus selbst nachteilig sein: Durch Verminderung der uteroplazentaren Durchblutung kommt es gehäuft zu Wachstumsrestriktion und pathologischen Kardiotokogrammen. Die Behandlung einer leichten bis mittelschweren Hypertonie in der Schwangerschaft vermindert zwar die Entwicklung einer schweren Hypertonie, verhindert aber nicht das Auftreten einer manifesten Präeklampsie; wenig beeinflusst werden Frühgeburtshäufigkeit, Wachstumsrestriktion und perinatale Mortalität [12]. Eine medikamentöse Behandlung der Schwangerschaftshypertonie wird empfohlen, wenn die Blutdruckwerte wiederholt 160 mm Hg systolisch oder 110 mm Hg diastolisch übersteigen [5, 24]. Dihydralazin, das klassische Mittel der Wahl, wenn die Hypertonie unter intravenöser Magnesiumtherapie persistiert [30], kann durch Labetalol und Nifedipin oder Urapidil als Alternativen (. Tab. 82.4) ersetzt bzw. ergänzt werden, die ein günstigeres Nebenwirkungsprofil aufweisen [16]. > Ziel der ist ein Blutdruck um 130–140/90–100 mm Hg.
Eine Hypotonie der Mutter könnte den Fetus gefährden und sollte deshalb vermieden werden. Der mittlere arterielle Druck sollte zur Verhinderung zerebrovaskulärer Ereignisse unter 125 mm Hg liegen.
Flüssigkeitstherapie und Monitoring Das durch die Hämokonzentration verminderte Plasmavolumen und das tief normale Herzzeitvolumen bergen die Gefahr von Oligurie, Nierenversagen und fetaler Minderversorgung. Besonders
die Verabreichung von Antihypertensiva und Anästhetika kann die Organminderperfusion verstärken. Deshalb sollte am Beginn der Therapie der schweren Eklampsie immer eine Optimierung des Plasmavolumens stehen. Dabei werden sowohl kristalloide wie auch kolloidale Infusionen eingesetzt. Die Verabreichung von kristalloiden Infusionen mit 1–2 ml/kg Kg/h sollte bis zum Erreichen einer Normovolämie fortgesetzt werden. Der theoretische Vorteil von Kolloiden für Ödembildung, Mikrozirkulation und Volumenstatus wurde bisher noch in keiner kontrollierten Studie untersucht, es gibt aber Hinweise, dass sich Hydroxyethylstärkelösungen der 3. Generation (geringes Molekulargewicht, niedriger Substitutionsgrad) günstig auf Mikrozirkulation und Sauerstoffversorgung auswirken [35]. 500–1000 ml können ohne Gefährdung der Niere gegeben werden. Dabei sollte auf eine genaue Flüssigkeitsbilanz geachtet werden. Bei Patientinnen mit einer therapierefraktären Oligurie, einer massiven Blutung oder einer strukturellen Herzerkrankung ist der Einsatz eines zentralen Venenkatheters indiziert. Bei ausgeglichener Flüssigkeitsbilanz, normalem ZVD und fortbestehender Oligurie oder bei einem unter der Infusionstherapie aufgetretenen Lungenödem kann die Echokardiographie oder ein Pulmonalarterienkatheter weiteren Aufschluss über die Hämodynamik geben. Eine Therapie mit Diuretika ist nur bei Patientinnen mit Lungenödem aufgrund eines Kapillarschadens (»capillary leak syndrome«), Tokolyse oder bei vorbestehender Herzkrankheit indiziert.
Therapie der chronischen Hypertonie Schwangere mit schwerer Hypertonie (>160/110 mm Hg) oder Endorganschaden haben ein erhöhtes mütterliches und auch fetales Morbidität- und Mortalitätsrisiko. Sie bedürfen einer antihypertensiven Therapie und engmaschiger Schwangerschaftskontrollen, weil sich in >50% der Fälle eine Präeklampsie entwickelt. Außerdem sollte der auf 5–10% erhöhten Inzidenz einer vorzeitigen Plazentalösung Rechnung getragen werden. In der Schwangerschaft werden Methyldopa, Nifedipin und Metoprolol zur Langzeitbehandlung der Hypertonie bevorzugt (. Tab. 82.5; [27]). Frauen, die pränatal Angiotensin-I-ConvertingEnzym (ACE)-Hemmer oder Angiotensin-II-Rezeptor-Antagonisten erhielten, sollten möglichst schon präkonzeptionell auf andere Antihypertensiva umgestellt werden. Mit Nifedipin bestehen zwar zahlreiche Erfahrungen zur Anwendung in der Schwangerschaft, die Substanz ist dennoch nicht zur Behandlung in der Schwangerschaft zugelassen. Schwangere mit unkomplizierter essenzieller Hypertonie und einem Blutdruck 160 mm Hg; 95,8%), nicht aber mit einer schweren diastolischen Hypertonie assoziiert [18].
82 82.5.2
82 82 82 82 82 82 82 82 82 82 82 82 82 82 82 82 82 82 82 82
Kapitel 82 · Präeklampsie, Eklampsie und HELLP-Syndrom
HELLP-Syndrom
Das Akronym HELLP steht für Laborveränderungen, die mit einer Inzidenz von 10–20% im Rahmen einer schweren Präeklampsie auftreten [30] und durch Hämolyse, »elevated liver enzymes« (LDH, AST, ALT) und »low platelets« ( Die Letalität einer Eklampsie ist hoch, für Schwangere beträgt sie bis zu 2–5%, für Feten bis zu 20% – ein eklamptischer Krampfanfall muss deshalb immer therapiert werden. Differenzialdiagnose der Eklampsie 4 Epilepsie 4 Epileptiforme Krampanfälle bei – Zerebrovaskulärem Insult (Ischämie, Sinusvenenthrombose) – Intrakranieller Raumforderung (Hirnödem, Hämorrhagie) – Meningitis/Enzephalitis – Toxisch-metabolischen Störungen (Kokainabusus, Hypo- und Hyperglykämie, Hyponatriämie, Hypokalzämie)
Prophylaxe der Eklampsie Die prophylaktische Wirkung von Magnesiumsulfat wurde in einer prospektiven Multicenterstudie mit 10.141 Patientinnen, die in der Mehrzahl aus Schwellenländern stammten und an einer schweren Präeklampsie litten, nachgewiesen [1]. Das Eklampsierisiko wurde halbiert, bei schwerer Präeklampsie wurde auf 63 Patientinnen eine Eklampsie verhindert (»number needed to treat«; NNT), bei leichter Präeklampsie mussten 109 behandelt werden. Ebenso wurde das mütterliche Mortalitätsrisiko insignifikant gesenkt. Die prophylaktische Wirksamkeit von Magnesiumsulfat wurde in weiteren großen prospektiv randomisierten Untersuchungen bestätigt, gemäß welchen das Eklampsierisiko von 2% auf 0,6% reduziert wurde [30]. Da diese prophylaktische Wirksamkeit von Magnesiumsulfat in zwei randomisierten Studien bei milder Präeklampsie jedoch nicht nachgewiesen wurde, ist diese Therapie wohl bei schwerer, nicht aber bei milder Präeklampsie indiziert [29].
1075 82.5 · Klinische Manifestationen, Komplikationen und Behandlung
Magnesiumtherapie (MgSO4)
4 Dosierung – »loading dose« von 3–4 g MgSO4 als Kurzinfusion über 20 min – Erhaltungsdosis von 1–3 g/h als Dauerinfusion bis 24–48 h nach der Entbindung, normale Nierenfunktion vorausgesetzt 4 Kontrolle folgender Parameter (Erhaltung > 1g/h) – Serummagnesiumspiegel – therapeutischer Bereich 2,0–4,0 mmol/l – Patellarsehnenreflex nicht auslösbar >5 mmol/l) – Atemdepression >6 mmol/l – Herzstillstand >12 mmol/l – Urinausscheidung (>50 ml/h) – Dosisanpassung bei Oligurie – Atemfrequenz (>14/min) oder Pulsoxymetrie (>95%) 4 Bei klinischen Hinweisen auf Magnesiumüberdosierung – Stopp der MgSO4-Infusion – Kalziumglukonat 10% 10 ml i.v. über 3 min – Sauerstoff (Gesichtsmaske), Intubation und Beatmung bei Atemstillstand – Kardiopulmonale Reanimation (Asystolie); Sectio in moribunda
Nach der Entbindung sollte bei allen Patientinnen mit schwerer Präeklampsie und HELLP-Syndrom die intravenöse Magnesiumprophylaxe und Blutdrucktherapie für 24–48 h auf einer Intensivstation oder der geburtshilflichen Abteilung fortgesetzt werden, da eklamptische Krampfanfälle sowie ein HELLP-Syndrom auch postpartal auftreten können. Die intensivmedizinische Betreuung sollte gleichzeitig für eine intensivierte Atemtherapie sowie die Normalisierung des Flüssigkeits- und Elektrolythaushaltes genutzt werden. Die kritisch kranke Schwangere benötigt somit eine multidisziplinäre Betreuung bis in die postpartale Phase, um einen optimalen Ausgang für Mutter und Kind zu garantieren.
– Lorazepam als Alternative bzw. bei Fortbestehen der Konvulsionen in einer Dosierung von 0,05 mg/kg Kg über 2–5 min i.v. (kann nach 5–15 min wiederholt werden, maximal 8 mg/12 h) – Diazepam als nebenwirkungsreichere (Wirkungsdauer) 2. Alternative in einer Dosierung von 0,1–0,3 mg/kg Kg Cave: – Risiko des Atemstillstands bei Polypharmazie erhöht – Im Unterschied zu MgSO4 kein Einfluss auf mütterliche Mortalität: Relatives Risiko (RR) unter MgSO4 vs. Diazepam 0,59 [12] – Im Unterschied zu MgSO4 kein (neuro-)protektiver fetaler Effekt: 5-min-Apgar-Wert 7 Tage RR 0,66 [12] 4 Schutz vor Sekundärschaden (Hypoxie, Aspiration, Körperverletzungen) – Stabilisierung des Zustands der Mutter unter Monitoring der Vitalfunktionen – Sauerstoffgabe, Seitenlagerung, H2-Blocker, Metoclopramid, Natriumzitrat 4 Korrektur des Volumenstatus (Hypovolämie, Oligurie) – Kontrolle der Flüssigkeitbilanz: Zufuhr/Ausfuhr (Dauerkatheter) – Korrektur einer Hypovolämie: primär Kristalloide, sekundär auch Kolloide (Hydroxyethylstärke) vor vasodilatativer Therapie bzw. rückenmarknaher Regionalanästhesie; Blut bzw. Blutprodukte gelten als wichtige Risikofaktoren für das Auftreten eines Lungenödems [33] Cave: Erhöhtes Lungenödemrisiko: »capillary leak syndrome«, tiefer onkotischer Druck (Hypalbuminämie), Steroidtherapie (Lungenreifung) in Kombination mit Tokolyse (β-Stimulation).
Therapie der Eklampsie Von einer Eklampsie ist auszugehen, wenn bei einer Schwangeren mit Präeklampsie und neurologisch unauffälliger Anamnese ein tonisch-klonischer Krampfanfall auftritt. Es handelt sich also um eine Ausschlussdiagnose (7 oben).
Wichtigste Maßnahmen bei Eklampsie 4 Therapie des Anfalls und Prophylaxe weiterer Konvulsionen – MgSO4 als Mittel der Wahl: »loading dose« von 3–4 g als Kurzinfusion über 5 min, anschließend eine Dauerinfusion von 1–3 g MgSO4/h – MgSO4 als Mittel der Wahl bei Anfallsrezidiv (ca. 10%): »rescue dose« 2 g als Kurzinfusion – Mütterliche Nebenwirkungen: Wärmegefühl, Flush, Übelkeit, Erbrechen, Kopfschmerzen und Palpitationen – Fetale Nebenwirkungen (MgSO4 passiert die Plazenta): Verringerung der basalen Herzfrequenz und Einengung der Oszillationsamplitude 6
Entbindung und postpartale Betreuung 4 Entbindung nach Stabilisierung, da in bis zu 10% trotz MgSO4-Therapie ein weiterer Anfall auftreten kann [30] – Keine Notfallsectio: Optimierung des Zustands der Mutter hat Priorität – Dringliche Sectio: persistierende fetale Bradykardie und/oder späte Dezelerationen (Differenzialdiagnose Abruptio placentae) 4 Postpartale Betreuung (Überwachungs- bzw. Intermediate-Care- oder Intensivstation): – Fortsetzung der MgSO4-Therapie (24–48 h) (in einer prospektiv erfassten Kohorte aus den Jahren 1999/2003 traten 32% der eklamptischen Anfälle postpartal auf [33]) – Verlaufskontrolle – Anpassung der antihypertensiven Therapie – HELLP-Syndrom post partum (Inzidenz 31% [2]) – Korrektur der Hypervolämie (negative Bilanzierung) – Rehabilitation (Mobilisation, Physiotherapie)
82
1076
82 82 82 82 82 82 82 82 82 82 82 82
Kapitel 82 · Präeklampsie, Eklampsie und HELLP-Syndrom
Geburtsmodus und intrapartales Vorgehen Aus den pathophysiologischen Veränderungen wird deutlich, dass die Geburt und damit die Entfernung der Plazenta die kausale Therapie der Erkrankungen des präeklamptischen Formenkreises ist. Deshalb bedürfen Patientinnen nach der 34.–36. SSW meist nur einer kurzen antepartalen Stabilisierung und einer postpartalen Intensivtherapie. In früher auftretenden Fällen (30 ml/h), Gewichtskontrolle 4 Schleifendiuretika (Furosemid): Vor Korrektur des Volumendefizits und präpartal kontraindiziert (Ausnahme: Lungenödem) 4 Invasives Monitoring des rechts- bzw. linksventrikulären Preloads (ZVD bzw. PCWP): – Als Routine nicht empfohlen; keine Literaturhinweise, die einen positiven Einfluss auf mütterliches, fetales oder geburthsilfliches Outcome belegen [20] 6
– Indikationen: – Persistierende Oligurie/Anurie nach Volumenkorrektur bzw. Auftreten eines Lungenödems oder einer Herzerkrankung [6] – Persistierende Oligurie bei ZVD 10 mm Hg: Furosemid 20 mg i.v. 4 Hämodialyse bzw. Hämofiltration: Inzidenz in industrialisierten Ländern 0,01%
82.5.5
Respiratorische Insuffizienz
Der hohe hydrostatisch-onkotische Druckgradient und die gestörte Gefäßpermeabilität begünstigen die Entwicklung eines Lungenödems bei Präeklampsie. Tokolytika, Steroide, korrektive Infusionstherapie und peripartale Volumenverschiebungen können in vielen Fällen als zusätzliche Risikofaktoren nachgewiesen werden [25]. Die Diagnose stützt sich in erster Linie auf Klinik und Pulsoxymetrie/Blutgasanalyse, auf eine Bestimmung des ZVD kann wegen schlechter Korrelation mit dem pulmonal-kapillären Druck meist verzichtet werden [4].
Prophylaxe und Therapie der respiratorischen Insuffizienz 4 Flüssigkeitsrestriktion (1–2 ml/kg Kg/h) und Diuretika (Lungenödem) 4 Supportive Maßnahmen (O2-Maske, CPAP, BiPAP, Intubation und Beatmung) 4 Antibiotika (Pneumonie, puerperale Sepsis, ARDS) 4 Invasives hämodynamisches Monitoring 4 Stellenwert der auf PiCCO beruhenden Bestimmung der intrathorakalen Flüssigkeitsvolumina bei Präeklampsie noch nicht definiert
82.5.6
Gerinnungsstörungen, Thrombozytopenie
Eine disseminierte intravaskuläre Gerinnungungsstörung (DIG) tritt mit einer Inzidenz von bis zu 20% sowohl bei vorzeitiger Plazentalösung als auch bei akutem Nierenversagen im Rahmen eines HELLP-Syndroms auf [13]. Sie gewinnt an Bedeutung, wenn gleichzeitig eine Thrombozytopenie vorliegt. Von einem erhöhten Blutungsrisiko muss bei einer isolierten Thrombozytopenie Alle Patienten mit einer anaphylaktischen Reaktion müssen stationär aufgenommen und kontinuierlich überwacht werden, auch dann, wenn die Symptome rasch auf eine adäquate Therapie ansprechen. Die Symptome können wiederkehren und sich als Spätreaktion bis zu
83
1084
83
Kapitel 83 · Anaphylaktischer Schock
. Tab. 83.2 Differenzialtherapie anaphylaktischer/anaphylaktoider Reaktionen. (Mod. nach [3] und [20]) Stadium
Kutane Reaktionen Perioperativ
Sonstige Situationen
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0
Keine Therapie
Keine Therapie
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I
Keine Therapie
II
Evtl. H1(und H2-) Antagonist* (250–500 mg PrednisolonÄquivalente i.v.)**
III
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Pulmonale Reaktionen
Kardiovaskuläre Reaktionen
H1-(und H2-) Antagonist* (50–125 mg PrednisolonÄquivalente i.v.)**
Möglichst: i.v.-Zugang, O2
Möglichst: i.v.Zugang, O2
H1- (und H2-) Antagonist* (250–500 mg PrednisolonÄquivalente i.v.)**
Obligat: i.v.-Zugang, O2 1.) β2-Mimetika-/Adrenalin-Inhalation*** 2.) 250–500 mg Prednisolon-Äquivalente i.v.
Obligat: i.v.Zugang, O2 1.) Ringer-Laktat (≥500 ml) 2.) Kolloide
Bei zunehmender Kreislaufsymptomatik trotz Volumengabe: H1und H2-Antagonist*. Bei zunehmender Kreislaufsymptomatik trotz Volumengabe und H1- und H2-Antagonisten: Adrenalin i.v.: 1 mg/10 ml: 0,1 mg/min (oder Adrenalin i.m., 7 Text)
Obligat: i.v.-Zugang, O2 1.) β2-Mimetika-/Adrenalin-Inhalation*** 2.) 1000 mg Prednisolon-Äquivalente i.v 3.) 5 mg/kg KG Theophyllin i.v. (weiter: 10 mg/kg KG/Tag. Cave: Tachykardie)
Obligat: i.v.Zugang, O2 Kolloide und/oder Ringer-Laktat (u. U. >2 I) Katecholamine: Adrenalin i.v.(1 mg/10 ml: 0,1 mg/min) oder intratracheal [18]
Bei unzureichendem Therapieerfolg nach Volumengabe und Adrenalin: Nach etwa 1 mg Adrenalin: 1.) Noradrenalin (1 mg/10 ml: 0,05–0,1 mg/min) 2.) H1- und H2-Antagonisten: Dimetindenmaleat ≥8 mg oder: Clemastin ≥4 mg (H1-Blocker) 1.) Cimetidin ≥400 mg oder 2.) Ranitidin ≥100 mg (H2-Blocker) Ultima ratio: Vasopressin
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IV
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Progredienz/unzureichender Therapieerfolg
Progredienz erwartet
Kortikosteroide i.v. (H1- und H2Antagonist)
Kortikosteroide i.v. (H1- und H2Antagonist)
Reanimation: – Allgemeine Maßnahmen – Adrenalin (+ Noradrenalin), Volumen
* H1-Antagonisten: Dimetindenmaleat 8 mg oder Clemastin 4 mg; H2-Antagonisten: 1.) Cimetidin 400 mg, 2.) Ranitin 100 mg. ** Bei Patienten mit bekannter Allergiedisposition (z. B. Hyposensibilisierung, Allergietestung). *** Bis zum Auftreten von Tremor oder/und Tachykardie.
12 h nach dem Initialereignis manifestieren! Biphasische Reaktionen treten in etwa 20% der Fälle auf [6].
Die Vitalfunktionen werden mit EKG und Pulsoxymeter kontinuierlich überwacht, da Arrhythmien, myokardiale Ischämien, respiratorische Insuffizienz und Gewebshypoperfusion auftreten können. Bei Kreislaufschock und Störungen des pulmonalen Gasaustausches sowie zur Steuerung der Flüssigkeits- und Katecholamintherapie kann ein invasives hämodynamisches Monitoring (intraarterielle Blutdruckmessung, Kontrolle der zentralvenösen/kardialen Füllungsdrücke und des Herzindex) angezeigt sein [7, 28]. Die aktuelle Diskussion um den Stellenwert des Rechtsherzkatheters gibt derzeit [1] noch keinen überzeugenden Anlass zur Änderung dieser Empfehlungen.
83
Reanimation
83
Die Therapie im Stadium IV richtet sich nach der jeweiligen Organinsuffizienz und dem ggf. eingetretenen Herz-Kreislauf-Stillstand.
83.5.2
Medikamentöse Therapie
Empfehlungen zur Akuttherapie anaphylaktoider Reaktionen wurden in einer interdisziplinären Konsensuskonferenz erarbeitet und 1994 in der Zeitschrift »Der Anästhesist« publiziert [3]. Ranft u. Kochs haben 2004 eine Synposis bestehender Leitlinien und Empfehlungen zur Therapie anaphylaktischer Reaktionen im Allgemeinen erstellt [23]. Die Interdisziplinäre Arbeitsgruppe »Schock« der DIVI hat in 2005 überarbeitete Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie des anaphylaktischen Schocks herausgegeben [1]. Differenzialindikationen zum Einsatz von Medikamenten zur Akuttherapie anaphylaktischer Reaktionen mit Dosierungsbeispielen sind in . Tab. 83.2 (mod. nach [3]) zusammengestellt. Für eine ausführliche Darstellung der Differenzialtherapie wird auf die Publikationen der interdisziplinären Konsensuskonferenz und der IAG Schock sowie das Advisory Statement der ILCOR [11] verwiesen. Diese Leitlinien beruhen im Wesentlichen auf Expertenkonsens, da Evidenz aus klinischen Studien weitgehend fehlt. Zu diesem Er-
1085 83.6 · Nachbehandlung und Prophylaxe
gebnis kam kürzlich auch eine Analyse der Cochrane Collaboration hinsichtlich der Frage der Wirksamkeit von H1-Antihistaminika bei der Behandlung der Anaphylaxie [26]. Das primäre Katecholamin zur Behandlung der Anaphylaxie ist historisch das Adrenalin, dessen Primat in einer Stellungnahme der World Allergy Organization kürzlich bekräftigt wurde [10].
Verminderte Ansprechbarkeit auf Katecholamine Bei Patienten unter β-Blockertherapie sowie unter Medikation mit trizyklischen Antidepressiva besteht eine verminderte Ansprechbarkeit auf Katecholamine. Dies dürfte auch für Patienten unter ACE-Hemmertherapie zutreffen: Die Kininase II ist mit dem Angiotensin-converting-Enzym identisch, ACE-Hemmer verhindern durch die Hemmung der Kininase II den raschen Abbau der Kinine, deren Wirkung hierdurch etwa um das 50fache gesteigert wird. Durch Dosiserhöhung der Katecholamine lässt sich jedoch die erwünschte Wirkung auch bei so vorbehandelten Patienten erzielen.
In jedem Fall sollte das Notfallinstrumentarium (inkl. Intubationsbesteck, O2-Quelle) sofort bereitstehen; evtl. kann es auch sinnvoll sein, die Untersuchung nur in Anwesenheit eines erfahrenen Intensivteams durchzuführen.
Medikamentöse Prophylaxe Eine validierte Prophylaxe gibt es nicht [29]. Bei bekannter Kontrastmittelüberempfindlichkeit kann in folgender Weise vorgegangen werden: H1/H2-Blocker. 20–30 min vor der Kontrastmittelgabe sollte Di-
metinden (Fenistil) in der Dosierung von 0,1–0,5 mg/kg KG (=2 Amp.=8 mg) i.v. verabreicht werden; gleichzeitig werden 5 mg/ kg KG Cimetidin (Tagamet) i.v. gegeben. Die Verabreichung sollte in 250 ml einer herkömmlichen Infusionslösung erfolgen. Statt Cimetidin, das stark an Cytochrom P 450 bindet, können auch neuere H2-Blocker verwandt werden. Kortikoide. Es gibt kein allgemein verbindliches Konzept für die
83.6
Nachbehandlung und Prophylaxe
83.6.1
Allgemeine Empfehlungen
Substanzen, die anaphylaktisch/anaphylaktoid wirken, sollten möglichst vermieden werden. Ist dies nicht möglich, wird eine Prämedikation mit H1- und H2-Blockern sowie Kortikosteroiden empfohlen. Langfristige Desensibilisierungsbehandlungen können bei Patienten sinnvoll sein, die anaphylaktisch auf Antigene, die nicht durchgehend vermeidbar sind (z. B. Insektengifte und Nahrungsmittel), reagiert haben. Alle Patienten, die eine anaphylaktische oder anaphylaktoide Reaktion durchgemacht haben, müssen allergologisch weiter abgeklärt werden. Aufklärung und Schulung zur initialen Selbstbehandlung im Falle eines Antigenkontakts (z. B. eines Insektenstichs) sollten unbedingt erfolgen. Der Patient erhält einen Allergiepass. Für anaphylaxiegefährdete Patienten kann ein Notfallset zusammengestellt werden, das die Patienten immer bei sich tragen sollten.
83.6.2
Vorgehen bei bekannter Allergie auf iodhaltige Kontrastmittel
Bei einer positiven Allergieanamnese und besonders bei früherer Kontrastmittelreaktion erhöht sich das Risiko einer Kontrastmittelnebenwirkung um ein Mehrfaches. Bei derartigen Patienten sollte möglichst auf Untersuchungen ohne Kontrastmittelanwendung ausgewichen werden. Sollte dies aus zwingenden Gründen nicht möglich sein, sind die unten genannten Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen. Die Vortestung mit einer geringen Dosis des Kontrastmittels hat bei einem anaphylaktoiden Reaktionsmechanismus wenig Sinn. Verschiedene Prämedikationskonzepte werden empfohlen, die meisten schließen die Gabe von H1- und H2-Antagonisten und Kortikosteroiden ein. Umstritten ist dagegen die zusätzliche Prämedikation mit Adrenalin. Es gibt Empfehlungen, bei Hochrisikopatienten eine β-Blockertherapie abzusetzen [29]. Die potenziell verstärkte anaphylaktische/anaphylaktoide Reaktion unter β-Blockern und die abgeschwächte Wirkung der therapeutisch zugeführten Katecholamine sind im Einzelfall abzuwägen gegen die nachgewiesene perioperative Letalitätssenkung durch β-Blocker bei Patienten mit koronarer Herzkrankheit bei nichtkardialen operativen Eingriffen.
Prämedikation mit Kortikosteroiden. In einer nicht verblindeten Untersuchung an 6763 Patienten war die Inzidenz von Kontrastmittelreaktionen nach zweimaliger oraler Gabe von 32 mg Methylprednisolon ca. 12 und 2 h vor Gabe eines ionischen Kontrastmittels signifikant verringert, nicht aber nach nur einmaliger Verabreichung der Dosis ca. 2 h vorher [12].
Auswahl des Kontrastmittels Empfohlen wird ferner die Verwendung von nichtionischen, niedrigosmolaren Kontrastmitteln wegen der geringeren Inzidenz anaphylaktoider Reaktionen und der besseren kardiovaskulären Verträglichkeit, insbesondere bei Patienten mit eingeschränkter Herzleistung.
83.6.3
Promitprophylaxe vor Dextran-Infusionen
Die Einführung der i.v. Haptenprophylaxe (Dextran 1 = Promit) hat die schweren anaphylaktischen Reaktionen nach Dextraninfusion ganz erheblich reduziert. Vor einer Infusion von Dextran 40 oder 60 werden beim Erwachsenen 20 ml Promit langsam i.v. injiziert. Als prophylaktische Maßnahmen sind außerdem angezeigt: klare Indikationsstellung, strenge Überwachung des Infusionsbeginns, d. h. der ersten 20–30 ml der Dextraninfusion, ausreichende Information über die Art der möglichen anaphylaktoiden Symptome.
83.6.4
Experimentelle Therapieansätze
Ein vielversprechender Therapieansatz zur Prävention anaphylaktischer Reaktionen bei bekannter Typ-I-Allergie ist der Einsatz von monoklonalen Anti-IgE-Antikörpern der Klasse IgG. Eine Studie bei Patienten mit Erdnussallergie konnte zumindest in immunologischen Tests eine verbesserte Toleranz gegen das Allergen belegen [16]. Weitere immuntherapeutische Ansätze mit einem DNAAbschnitt des Haupterdnussallergens sind im tierexperimentellen Stadium [9].
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Literatur 1
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Kapitel 83 · Anaphylaktischer Schock
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1087
Rheumatologische Notfälle S. Siebig
84.1
Einleitung – 1088
84.2
Akute Dislokation im Halswirbelsäulenbereich bei rheumatoider Arthritis (RA) – 1088
84.3
Arteriitis temporalis – akute Ischämie – 1088
84.4
Systemische Sklerose – renale Krise – 1089
84.5
Das katastrophale Antiphospholipidantikörpersyndrom (APS) – 1090
84.6
Goodpasture-Syndrom – 1090
84.7
Lupuskrise – 1091
84.8
Komplikationen der rheumatologischen Therapie – 1092
84.8.1 84.8.2 84.8.3
Septische Arthritis – 1092 Pneumocystis-jiroveci-Pneumonie – 1092 Methotrexat-Pneumonitis – 1093
Literatur – 1094
H. Burchardi et al. (Hrsg.), Die Intensivmedizin, DOI 10.1007/978-3-642-16929-8_84, © Springer Medizin Verlag Berlin Heidelberg 2011,
84
1088
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84.1
Kapitel 84 · Rheumatologische Notfälle
Einleitung
Obgleich die Rheumatologie als Fachrichtung der Inneren Medizin in aller Regel eher als Disziplin gilt, in der Entscheidungen nach reiflicher Überlegung und langwieriger Diagnostik gefällt werden, besteht bei einzelnen Krankheitsmanifestationen unmittelbarer Handlungsbedarf. Die wichtigsten dieser rheumatologischen Notfälle werden im Folgenden kurz dargestellt.
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84.2
Akute Dislokation im Halswirbelsäulenbereich bei rheumatoider Arthritis (RA)
Bei der RA handelt es sich um eine chronisch-entzündliche Erkrankung, bei der es durch eine Synovialitis zur Arthritis, Bursitis und Tendovaginitis kommt. Die Erkrankung verläuft meist schubförmig und mündet langfristig in den meisten Fällen in einen Funktionsverlust verschiedenster Gelenke. Innere Organe können ebenfalls betroffen sein. z Epidemiologische und pathophysiologische Aspekte Neben dem »klassischen« Befall der Hand- und Fingergelenke tritt bei einem Teil der Patienten bereits sehr früh eine Destruktion und Instabilität im Bereich der Halswirbelsäule auf [1]. Nach 10 Jahren Krankheitsverlauf finden sich bei >50% der Patienten entzündliche Veränderungen im Halswirbelsäulenbereich. Insgesamt liegt die Prävalenz zwischen 19 und 70% [2–4]. Als besondere Risikofaktoren für einen Befall der Halswirbelsäule gelten ausgeprägte erosive Gelenkveränderungen, ein positiver Rheumafaktorennachweis und ein hohes CRP zum Zeitpunkt der Diagnosestellung [1, 5]. Am häufigsten findet sich eine Zerstörung des atlantoaxialen Übergangs mit der Folge einer anterior-posterioren Subluxation unter Beteiligung des Dens axis [6]. Etwas seltener kommt es zu Veränderungen im Facettengelenk C1 und C2 sowie der Massae laterales im Bereich des altantookzipitalen Übergangs, die zu Lateral-, Vertikalund Rotationsinstabilitäten führen können und die sich bei 5–34% der RA-Patienten im Verlauf der Erkrankung entwickeln [5]. z Klinik RA-Patienten mit einem Befall der Halswirbelsäule äußern häufig Schmerzen im Kopf- und Nackenbereich, insbesondere in den frühen Morgenstunden. Kommt es zur Instabilität und Subluxation, können Kompressionen von Nervenwurzeln und des Myelons auftreten, die neurologische Symptome bis hin zu einer Querschnittsymptomatik hervorzurufen vermögen. Penetriert beispielsweise der Dens axis das Foramen ovale im Rahmen einer sog. vertikalen Subluxation, können Myelonkompressionen resultieren, die mit anfallartigen bulbären Symptomen wie Schwindel, Erbrechen, Tachykardien oder Dyspnoe einhergehen. Durch Kompression der Medulla oblongata kann es zudem zum Auftreten eines Nystagmus, von zerebellären Ataxien und peripheren Paresen kommen. Kernaussage für den Notfallmediziner ist, dass bei jedem Patienten mit einer RA eine Instabilität im Halswirbelsäulenbereich droht und dass Manipulationen wie beispielsweise im Rahmen der Intubation oder Maskenbeatmung für den Patienten aufgrund einer drohenden vertikalen Subluxation vital gefährdend sein können. Daher sollte die Anamnese jedes RA-Patienten die Frage nach Beschwerden im Halswirbelsäulenbereich enthalten.
. Abb. 84.1 Zervikalarthritis. Kompression im atlantoaxialen Gelenk, zu erkennen an der abnehmenden Distanz im Röntgenbild (Stern)
z Diagnostik In der klinischen Untersuchung kann bei der Palpation des vorderen Atlasbogens durch die hintere Rachenwand eine ungewöhnliche Protrusion auffallen, die aber sicherlich nur vom geübten, rheumatologisch erfahrenen Arzt festgehalten werden kann. Drehbewegungen des Kopfes können bei bereits bestehenden Luxationen zu Schwindelattacken und Schweißausbrüchen führen [2]. Basisdiagnostik ist die Durchführung von Röntgenaufnahmen der Halswirbelsäule (a.-p., lateral), wobei nach Frakturausschluss Funktionsaufnahmen zur Beurteilung einer atlantodentalen Distanzierung besonders hilfreich sind (. Abb. 84.1). Goldstandard ist inzwischen das MRT der HWS, das zusätzlich Aufschluss über die entzündlichen Knochen- und Weichteilveränderungen im Spinalkanal und im Bereich des Foramen ovale gibt. > Basisdiagnostik der Wahl sind konventionelle Röntgenaufnahmen der Halswirbelsäule mit Funktionsuntersuchung, die im Idealfall vor einer Intubation oder Beatmung durchgeführt werden sollten. In Abhängigkeit von den zeitlichen Erfordernissen ist zusätzlich die Durchführung eines MRT der HWS mit Kontrastmittelapplikation zu empfehlen.
z Therapie Alle neurologischen Kompressionssymptome stellen eine Notfallindikation zum operativen Vorgehen dar, die in der Regel eine transorale Resektion des Dens axis und posteriore Fusion beinhaltet [2]. Inwiefern Patienten mit einer Instabilität oder Subluxation ohne Myelonkompression einer chirurgischen Stabilisierung unterzogen werden sollten, wird kontrovers diskutiert. Hier sollte ein unfallchirurgischer Kollege hinzugezogen werden. Die konservative Stabilisierung mittels angepasster Halskrause, ebenso wie physiotherapeutische Maßnahmen, können die Progression bei manchen Patienten positiv beeinflussen [3].
84.3
Arteriitis temporalis – akute Ischämie
Bei der Arteriitis temporalis handelt es sich um eine nekrotisierende Vaskulitis, die sich häufig im Bereich der supraaortalen großen bis mittelgroßen Arterien manifestiert und an der insbesondere Frauen nach dem 50. Lebensjahr erkranken.
1089 84.4 · Systemische Sklerose – renale Krise
. Tab. 84.1 Klassifikationskriterien für die Arteriitis temporalis. (Nach [10]) Kriterium
Bei bis zu 50% der Patienten kommt es unter dem anschließenden vollständigen Ausschleichen der medikamentösen Therapie zum Rückfall, sodass eine längerfristige immunsuppressive Therapie notwendig wird.
1
Alter über 50 Jahre
2
Neu aufgetretener Kopfschmerz
84.4
3
Palpabel veränderte A. temporalis oder Pulsabschwächung, dabei druckschmerzhaft und nicht durch eine Arteriosklerose der Halsarterien erklärt
Ausgelöst durch ein Autoimmungeschehen kommt es bei der systemischen Sklerose oder Sklerodermie zur Kollagenanhäufung und Fibrosierung der Haut sowie zahlreicher innerer Organe.
4
BSG >50 mm/h
5
Histologisch granulomatöse Veränderungen
Die Erkrankung gilt als gesichert, wenn 3 von 5 Kriterien erfüllt sind (Sensitivität 93%, Spezifität 91%).
z Epidemiologische und klinische Aspekte Die Prävalenz der Erkrankung wird bei Personen nach dem 50. Lebensjahr auf 200 pro 100.000 geschätzt [7]. Es kommt meist schlagartig zur Entwicklung von Symptomen wie Allgemeinzustandsminderung mit Fieber, Abgeschlagenheit sowie depressiven Stimmungsschwankungen, v. a. aber zu Kopfschmerzen, Schmerzen beim Kauen und Sehstörungen. Gerade die ophthalmologischen Symptome müssen ernst genommen werden bzw. ein unmittelbares Handeln nach sich ziehen. Augenflimmern, Motilitätsstörungen der Augen, v. a. jedoch plötzlich eintretende Sehverschlechterungen müssen differenzialdiagnostisch immer auch an eine Arteriitis temporalis denken lassen. Ursache für die Beschwerden sind die entzündlichen Veränderungen im Bereich der Aa. centrales retinae, die mit der Gefahr einer Erblindung einhergehen. Zwischen 15 und 20% der Patienten mit einer Arteriitis temporalis entwickeln auch heute noch einen ein- oder beidseitigen Visusverlust, der bei raschem Therapiebeginn bei den meisten Personen verhinderbar wäre [8]. > Bei plötzlichen Sehstörungen – insbesondere bei Frauen über dem 50. Lebensjahr – muss differenzialdiagnostisch immer an eine Arteriitis temporalis gedacht und bei Verdacht auf die Erkrankung unmittelbar eine Therapie eingeleitet werden!
z Diagnostik Besteht der Verdacht auf eine Arteriitis temporalis, stehen zur Diagnosesicherung die Duplexsonographie der A. temporalis (Nachweis eines Gefäßwandödems sowie vaskulärer Stenosen) sowie eine Biopsie der A. temporalis (Nachweis einer granulomatösen Riesenzellarteriitis) zur Verfügung [9]. Die Klassifikationskriterien der Erkrankung sind in . Tab. 84.1 aufgeführt. z Therapie, Prognose Therapie der Wahl ist die hochdosierte Gabe von Kortikosteroiden (100 mg/Tag Prednisolonäquivalent bzw. bei bereits eingetretenen Visusproblemen 500 mg für die ersten 3 Tage), die innerhalb weniger Tage zur Besserung der Klinik führt und unmittelbar eingeleitet werden sollte. Nach Ansprechen der Therapie, die neben der klinischen Besserung auch in einem Absinken der initial meist drastischen erhöhten BSG und/oder des CRP-Wertes laborchemisch nachvollzogen werden kann, ist eine Dosisreduktion auf 1 mg/kg KG der Steroidmedikation möglich. Die Erhaltungsdosis liegt bei 5–7,5 mg Prednisolonäquivalent pro Tag, die für mindestens 6–12 Monate unter Beschwerdefreiheit fortgesetzt werden sollte [2].
Systemische Sklerose – renale Krise
z Epidemiologische und pathophysiologische Aspekte Die Prävalenz der Erkrankung wird auf bis zu 50 Fälle pro 1 Mio. Personen beziffert, wobei regionale Unterschiede bestehen [11]. Die parallel entstehende obliterierende Angiopathie (sog. Zwiebelschalenangiopathie) führt bei den Erkrankten zudem nicht selten zu Haut-, aber auch Organinfarkten. So entstehen u. a. Veränderungen des renalen Stromgebiets mit Stenosen der Aa. arcuatae und interlobulares. Hierdurch können Ischämien des juxtaglomerulären Apparates induziert werden, die in einer gegenregulatorischen Reninproduktion mündet, die sich auch im Blut der betroffenen Patienten nachweisen lässt und einen deutlichen Blutdruckanstieg bewirkt [12]. Hypertensive Episoden verschlechtern die renale Hypoperfusion weiter, indem lokale Vasospasmen (»renales RaynaudSyndrom«) ausgelöst werden, und führen schlussendlich zu einer zusätzlichen Verstärkung der Reninproduktion. Dieser Circulus vitiosus muss möglichst frühzeitig therapeutisch durchbrochen werden, da es bei den Patienten zu einer progredienten Verschlechterung der renalen Funktion bis hin zum akuten Nierenversagen kommen kann. z Klinik Klinisch verlaufen diese sog. renalen Krisen zunächst meist symptomarm. Im Rahmen von kurzfristigen Blutdruckanstiegen können Symptome wie Kopfschmerzen, Schwindelgefühle, bei kardial vorgeschädigten Patienten auch eine Angina-pectoris-Symptomatik auftreten. 75% der renalen Krisen sind in den ersten 4 Jahren nach Diagnosestellung zu verzeichnen [12], wobei auch eine hochdosierte Kortisontherapie, wie sie beispielsweise im Rahmen der Grunderkrankung bestehen kann, eine Risikoerhöhung für diese Komplikation darzustellen scheint [13]. z Therapie Mittel der Wahl der renalen Krise sind kurzwirksame ACE-Hemmer, die bei ausbleibender Blutdrucksenkung durch weitere Substanzen ergänzt werden sollten (. Tab. 84.2). Auch nach suffizienter Blutdrucksenkung ist häufig noch ein weiterer Anstieg der Retentionsparameter zu beobachten, der erst 7–10 Tage nach Therapiebeginn sein Maximum erreicht. Bei 20–50% der Sklerodermiepatienten mit Entwicklung einer renalen Krise kommt es trotz suffizienter Blutdrucksenkung zur Entwicklung einer progredienten Niereninsuffizienz mit Dialyseindikation [14, 15]. Die Prognose dieser Patienten ist insgesamt schlecht. In einer Studie mit 820 Sklerodermiepatienten, die einer dauerhaften Dialysetherapie nach renaler Krise bedurften, lag die 2-Jahres-Überlebensrate lediglich bei 49% [15].
84
1090
Kapitel 84 · Rheumatologische Notfälle
84
. Tab. 84.2 Therapie der renalen Krise bei der systemischen Sklerose
84
Ziel der Blutdrucksenkung
Systolischer Blutdruck 120 mm Hg
84
Mittel der Wahl
ACE Hemmer (z. B. Captopril 150–200 mg/ Tag)
84
Alternativen bzw. Eskalationsmöglichkeiten
5 Calziumantagonisten (z. B. Amlodipin 10 mg/Tag) 5 Urapidil (Erantil 12,5–50 mg Bolusweise i.v., alternativ kontinuierlicher Perfusor 5–10 mg/h) 5 Dihydralazin (Reserveantihypertensiva 25 mg alle 8 h i.v.)
84 84 84 84.5
84 84 84 84 84 84 84 84 84 84 84 84 84 84 84 84 84 84
Das katastrophale Antiphospholipidantikörpersyndrom (APS)
Das katastrophale APS ist definiert durch das Auftreten von mindestens 3 Thrombosen in mindestens 3 verschiedenen Organsystemen zum gleichen Zeitpunkt oder in kurzer zeitlicher Abfolge [16]. z Epidemiologische und pathophysiologische Aspekte Bedingt durch die Mikrothromben in insbesondere kleineren Gefäßen kommt es zum Funktionsverlust der betroffenen Organe sowie zur Hyperkoagulabilität mit Auslösung eines disseminiert intravasalen Gerinnungsversagens (7 Kap. 24). ) Aus pathophysiologischer Sicht scheinen Antiphospholipidantikörper, die gegen Thrombozyten und Endothelzellen gerichtet sind, ursächlich beteiligt zu sein. Die Aktivierung von Endothelzellen, wie sie bei Schädigungen des Endothels bei u. a. septischen Geschehnissen auftreten kann, führt möglicherweise zur Expression membranassoziierter prokoagulatorischer Proteine als Zielantigene für Antiphospholipidantikörper [17]. So kann es bei APS-Patienten durch Infektionen verstärkt zur Entstehung eines katastrophalen APS kommen. Bei einem Großteil der Patienten treten die Veränderung aber spontan, ohne vorhergehende Warnsymptome auf. z Diagnose Neben der klinischen Präsentation tragen laborchemische Befunde zur Diagnose der katastrophalen APS bei. Neben einer Thrombozytopenie, Anämie und Gerinnungsveränderungen im Sinne einer Verbrauchskoagulopathie lassen sich bei den meisten Patienten Phospholipidantikörper (»Lupusantikoagulans« und Autoantikörper gegen Cardiolipin sowie β2-Glykoprotein I) nachweisen. z Therapie, Prognose Von 1000 APS-Patienten entwickeln 8% ein katastrophales APS und bedürfen einer unmittelbaren intensivmedizinischen Behandlung mit Antikoagulation (Vollheparinisierung mit 2- bis 3-fach verlängerter PTT), Kortikosteroidgabe (>2 mg/kg KG) und Plasmapherese zur Eliminierung der zirkulierenden Antikörper. Zur Vermeidung eines Rezidivs nach Plasmapheresebehandlung wird eine Therapie mit Cyclophosphamid empfohlen [17]. Möglicherweise kann auch durch eine B-Zelldepletion mit Rituximab eine Remission erzielt werden. Die Prognose ist aber leider auch unter diesen intensiven Therapiemaßnahmen schlecht. 50–80% der Patienten sterben [17]. Insbesondere eine Prophylaxe durch eine adäquate Antikoagulation der Patienten mit bekanntem APS (Cumarinderivate mit Ziel-INR 2,5–
. Abb. 84.2 Computertomographieschnitt bei diffusen Lungenblutungen (Pfeil) bei Goodpasture-Syndrom
3,5) hilft, das katastrophale APS zu verhindern und damit die mit der Komplikation einhergehende hohe Mortalität zu minimieren.
84.6
Goodpasture-Syndrom
Beim Goodpasture-Syndrom kommt es durch die Bildung von Anti-Basalmembran-Autoantikörpern zu teilweise vital bedrohlichen Hämoptysen und der Entwicklung einer rapid progressiven Glomerulonephritis mit rasch einsetzendem Nierenversagen. z Epidemiologische und ätiologische Aspekte Es handelt sich um eine sehr seltene Erkrankung mit einer Inzidenz von 0,1–0,5/106/Jahr, die mehr Männer als Frauen betrifft. Nicht selten entwickelt sich das Krankheitsbild nach grippeähnlichen Erkrankungen oder Infekten der oberen Atemwege [18]. z Klinik, Komplikationen Erstmanifestation des Goodpasture-Syndroms sind meist Hämoptysen (. Abb. 84.2), die teilweise vital bedrohliches Ausmaß annehmen können und einer unmittelbaren intensivmedizinischen Therapie bedürfen (7 Abschn. 29.8.1 »Hämoptysen«).
Exkurs akute Maßnahmen bei ausgeprägten Hämoptysen 4 Ausgleich Volumendefizit: – Großlumiger peripherer Zugang – Gabe von Volumen (z. B. 1 l Vollelektrolytlösung) – Engmaschige Kontrolle des Hämoglobingehalts – Durchführung einer Kreuzprobe und Bereitstellung von Erythrozytenkonzentraten bzw. in Abhängigkeit vom Hämoglobingehalt und der hämodynamischen Situation Substitution von Erythrozytenkonzentraten 4 Stabilisierung Atemwege bzw. Verhinderung von Aspiration des Blutes: – Bei Bewusstseinsminderung und hämodynamischer Instabilität großzügige Indikation zur frühzeitigen Intubation mit Doppellumentubus 4 Blutstillung – Durchführung einer flexiblen Bronchoskopie – Frühzeitige Kontaktaufnahme mit Thoraxchirurgie
1091 84.7 · Lupuskrise
Die Nierenschädigung läuft hingegen klinisch zunächst eher unbemerkt ab. Nur selten treten Symptome eines nephrotischen Syndroms in den Vordergrund. Umso wichtiger ist es daher, eine entsprechend kontinuierliche Überwachung bei betroffenen Patienten durchzuführen (Urinuntersuchungen, Kontrolle der Serumretentionsparameter). Kommt es zu einem renalen Befall, entwickelt sich das Bild einer rapid progressiven Glomerulonephritis mit rasch einsetzendem akutem Nierenversagen und häufig Hämodialysebedarf. z Diagnostik Diagnostisch empfiehlt sich die Durchführung einer Nierenbiopsie, um zum einen differenzialdiagnostisch andere Erkrankungen auszuschließen und andererseits auch die Krankheitsaktivität beurteilen zu können (z. B. Prozentsatz der beteiligten Glomeruli). In der indirekten Immunfluoreszenz lassen sich IgA-Ablagerungen entlang der Basalmembran der Glomeruli und Alveolen nachweisen. Zudem weisen bis zu 30% der Patienten im Serum erhöhte ANCATiter auf. z Therapie, Prognose Zum Erhalt oder zumindest zur Verbesserung der Nierenfunktion sollte möglichst frühzeitig eine Therapie eingeleitet werden. Neben einer Kortikosteroidbehandlung (250 mg/Tag Prednisolonäquivalent für 3 Tage) hat sich hier das extrakorporale Plasmaphereseverfahren in Kombination mit der Gabe von Cyclophosphamid (2 mg/ kg KG) bewährt (für mindestens 14 Tage mit einem Plasmaaustausch von mindestens 4 l Plasma pro Plasmapherese). Mit Hilfe des Plasmaaustauschs gelingt es, zirkulierende AntiBasalmembran-Autoantikörper ebenso wie andere inflammatorische Mediatoren (v. a. Komplementfaktoren) zu eliminieren; die Gabe von immunsuppressiven Medikamenten minimiert die Antikörperneubildung. Von diesem Vorgehen profitieren 40–45% der Patienten [19], wobei die Prognose auch hier mit dem Zeitpunkt der Therapieeinleitung korreliert. Präsentieren sich Patienten bei Erstdiagnose unter dem Bild eines akuten Nierenversagens, kommt es meist zu keiner Erholung der Nierenfunktion im Verlauf, sodass hier frühzeitig an eine Nierentransplantationslistung gedacht werden muss. > Eine rechtzeitige Diagnosestellung und frühzeitige Therapieeinleitung können beim Goodpasture-Syndrom die Organfunktionen erhalten und damit die Prognose der Erkrankung wesentlich verbessern.
84.7
Organmanifestation mit Entwicklung eines kritischen Krankheitsbildes kommen kann. Diese sog. Lupuskrise geht dann häufig mit der Entstehung einer Polyserositis mit nicht selten hämodynamisch relevanten Pleura- und Perikardergüssen einher. Aber auch ein ausgeprägter ZNS-Befall mit Krampfanfällen oder die Entwicklung einer Endokarditis (Libman-Sachs-Endokarditis) können zu einer Aufnahme auf der Intensivstation führen. Bedingt durch die Leukozytopenie und generelle Immunschwäche, v. a. aber durch die immunsuppressive Therapie im Verlauf entwickeln des Weiteren nicht wenige Patienten septische Komplikationen. z Diagnostik . Tab. 84.3 zeigt die international gültigen Klassifikationskriterien.
. Tab. 84.3 Klassifikationskriterien für den Lupus erythematodes Kriterium 1
Schmetterlingserythem: umschriebene, symmetrische, hellrote, flache bis leicht erhabene Rötung der Wangen, die über dem Nasenrücken zusammenläuft
2
Lupoide Hautveränderungen
3
Photosensibilität: Überempfindlichkeit gegenüber Licht; nach Sonneneinstrahlung können beispielsweise Kopfschmerzen, Abgeschlagenheit und Fieber auftreten
4
Erosionen oder Geschwüre der Mundschleimhaut
5
Gelenkschmerzen und Gelenkerguss
6
Serositis (v. a. Pleuritis und Perikarditis)
7
Nierenbefall: 5 über 0,5 g Eiweiß pro Tag im Urin oder 5 Harnsedimente mit Nachweis von Erythrozyten oder Erthrozyten- bzw. Harnzylindern.
8
Befall des Zentralnervensystems: 5 epileptische Anfälle oder 5 psychische Krankheiten ohne bekannte metabolische oder medikamentöse Ursache als Auslöser
9
Hämatologische Symptome: 5 hämolytische Anämie oder 5 Leukopenie mit Leukozytenzahlen 4,5 mmol/l und an- oder oligurischem Nierenversagen muss eine Nierenersatztherapie diskutiert werden. Weitere Therapiemöglichkeiten sind der Einsatz von Glukokortikoiden oder Calcitonin.
85.3.2
Maligner Perikarderguss
Bei Bronchialkarzinomen, Mammakarzinomen, Lymphomen oder akuten Leukämien finden sich häufig maligne Perikardergüsse, entstanden durch Tumorinfiltration per continuitatem, Metastasierung oder sehr selten durch primär perikardiale Tumoren. z Klinik, Symptomatik Abhängig von der Ergussmenge und Entstehungsgeschwindigkeit sind maligne Perikardergüsse entweder asymptomatisch, oder es
kommt initial zu Dyspnoe, Palpitationen, thorakalen Schmerzen oder peripheren Ödemen. Im Verlauf kann sich eine Perikardtamponade mit Zyanose und Synkopen entwickeln. z Diagnostik Bei der körperlichen Untersuchung sind eine Tachykardie, arterielle Hypotonie, ein Pulsus paradoxus und eine Halsvenenstauung auffällig. Diagnostisch zeigt sich im Elektrokardiogramm (EKG) eine Niedervoltage und eine Sinustachykardie, in der Röntgenaufnahme des Thorax eine Verbreiterung des Perikardschattens (. Abb. 85.2). Die Echokardiographie als diagnostisches Mittel der Wahl sichert die Diagnose, dient zur Abschätzung der hämodynamischen Relevanz und der Verlaufskontrolle. Bei Verdacht auf Malignität sollte eine zytologische Untersuchung des Ergusses durchgeführt werden, bei negativem Befund ist die Perikardbiopsie zu erwägen, da hier die Sensitivität bei 97% [8] liegt. z Therapie Die Perikardiozentese ist bei hämodynamischer Beeinträchtigung die Therapie der Wahl. Zusätzlich sollte bei Tumoren, die chemotherapiesensibel sind, rasch eine systemische zytostatische Therapie begonnen werden. Chirurgische Verfahren oder eine Instillation von fibroseinduzierenden Substanzen können bei Rezidiven in Abhängigkeit von der Prognose der Grunderkrankung eingesetzt werden.
85.3.3
Obere Einflussstauung/ V.-cava-superior-Syndrom
Bei einer oberen Einflussstauung, die durch Malignome verursacht wird, sind Bronchialkarzinome (insbesondere kleinzellige Bronchialkarzinome) und Mammakarzinome die Hauptverursacher, seltener sind mediastinale Lymphome, Keimzelltumoren, Thymome, Mesotheliome oder Metastasen anderer Tumoren dafür verantwortlich. z Klinik, Symptomatik Der Tumor wächst entweder direkt in die V. cava superior ein, komprimiert diese oder führt zur Bildung einer Thrombose (v. a. bei liegenden Kathetern). Durch den fehlenden venösen Abfluss bilden sich Ödeme im Gesicht oder an den Armen, Kollateralkreisläufe werden sichtbar, und die Patienten leiden unter Dyspnoe oder Husten.
85
1100
Kapitel 85 · Hämatologisch-onkologische Störungen
z Klinik, Symptomatik Das typische Symptom Fieber kann fehlen, es fallen klinisch Gliederschmerzen, Schüttelfrost, möglicherweise eine Tachykardie und eine Hypotonie bei beginnender Sepsis auf.
85 85
z Diagnostik Die Standarddiagnostik umfasst das Routinelabor inklusive Blutbild und Entzündungswerte (CRP), den Urinstatus und Blutkulturen. Eine Röntgenaufnahme des Thorax sollte ergänzt werden.
85 85 85 85 85 85 85 85 85 85 85 85 85 85 85 85 85
. Abb. 85.3 Obere Einflussstauung im Computertomogramm
z Diagnostik Erste diagnostische Hinweise kann schon die Thoraxröntgenaufnahme liefern, indem hier eine Mediastinalverbreiterung bei oberem Mediastinaltumor sichtbar wird. Für eine genauere Abklärung bezüglich der anatomischen Verhältnisse oder einer möglicherweise vorliegenden Thrombose ist jedoch eine Computertomographie des Thorax nötig (. Abb. 85.3). Die Histologie sollte durch eine Biopsieentnahme (CT- oder sonographiegesteuert, mediastinoskopisch oder mittels Thorakotomie) erfolgen. z Therapie Therapeutisch hilfreich sind die Oberkörperhochlagerung und die Applikation von Sauerstoff und der Beginn einer Antikoagulation bei bestehender Thrombose. Bei akutem Verschluss der V. cava kann eine Thrombolyse in Erwägung gezogen werden.
z Therapie Die antimikrobielle Therapie sollte bei Verdacht auf eine Infektion unverzüglich nach Abnahme der Diagnostik begonnen werden. Bei Patienten mit niedrigem Risiko empfiehlt sich Amoxicillin/ Clavulansäure plus Ciprofloxacin [7], bei Patienten mit höherem Risiko wird eine i.v. verabreichte antibiotische Therapie mit einem pseudomonaswirksamen Breitbandantibiotikum favorisiert. Kann das Fieber unter der initialen antibiotischen Therapie nicht gesenkt werden, empfiehlt sich bei Verdacht auf eine Pneumonie eine bronchoalveoläre Lavage zum Nachweis atypischer Erreger (Pneumocystis jirovecii). Bei prolongierter Neutropenie und Pneumonie oder therapieresistentem Fieber sollte bei Hochrisikopatienten eine antimykotische Therapie ergänzt werden. Zur Abdeckung der häufig durch Aspergillus bedingten pulmonalen Infektionen wird Voriconazol oder Caspofungin favorisiert.
Literatur 1
2
Tipp
3
Um das Risiko für eine Thrombose im Allgemeinen zu minimieren, sollten im Bereich der Venen im Gebiet der Einflussstauung keine Katheter gelegt werden.
4
5
Bei schweren Verläufen kann eine rasche Linderung der Symptome durch Einlage endovaskulärer Stents erreicht werden. Kausal empfiehlt sich ein rascher Beginn der entsprechenden Chemotherapie bzw. Strahlentherapie.
6
85 85.3.4
85 85 85 85 85
Tumorlysesyndrom
7
Ein Tumorlysesyndrom kann auch spontan bei schnell wachsenden, malignen Erkrankungen oder großer Tumorlast auftreten. Charakteristika und Therapie 7 Abschn. 85.2.1. 8
85.3.5
Infektionen in der Neutropenie
In der Folge einer Chemotherapie und der dadurch entstehenden Neutropenie stellen Infektionen die am häufigsten auftretenden lebensbedrohlichen Komplikationen dar.
9
Annemans L, Moeremans K, Lamotte M, Garcia Conde J, van den Berg H, Myint H, Pieters R, Uyttebroeck A (2003) Incidence, medical resource utilisation and costs of hyperuricemia and tumour lysis syndrome in patients with acute leukaemia and non-Hodgkin’s lymphoma in four European countries. Leuk Lymphoma 44: 77–83 Azoulay E, Alberti C, Bornstain C, Leleu G, Moreau D, Recher C, Chevret S, Le Gall JR, Brochard L, Schlemmer B (2001) Improved survival in cancer patients requiring mechanical ventilatory support: impact of noninvasive mechanical ventilatory support. Crit Care Med 29: 519–525 Blum W and Porcu P (2007) Therapeutic apheresis in hyperleukocytosis and hyperviscosity syndrome. Semin Thromb Hemost 33: 350–354 Bruennler T, Mandraka F, Zierhut S, Siebig S, Wrede C, Klebl F, Holler E, Salzberger B, Schoelmerich J, Langgartner J (2007) Outcome of hematooncologic patients with and without stem cell transplantation in a medical ICU. Eur J Med Res 12: 323–330 Coiffier B, Altman A, Pui CH, Younes A, Cairo MS (2008) Guidelines for the management of pediatric and adult tumor lysis syndrome: an evidencebased review. J Clin Oncol 26: 2767–2778 Hilbert G, Gruson D, Vargas F, Valentino R, Chene G, Boiron JM, Pigneux A, Reiffers J, Gbikpi-Benissan G, Cardinaud JP (2000) Noninvasive continuous positive airway pressure in neutropenic patients with acute respiratory failure requiring intensive care unit admission. Crit Care Med 28: 3185–3190 Kern WV, Cometta A, De Bock R, Langenaeken J, Paesmans M, Gaya H (1999) Oral versus intravenous empirical antimicrobial therapy for fever in patients with granulocytopenia who are receiving cancer chemotherapy. International Antimicrobial Therapy Cooperative Group of the European Organization for Research and Treatment of Cancer. N Engl J Med 341: 312–318 Porte HL, Janecki-Delebecq TJ, Finzi L, Metois DG, Millaire A, Wurtz A (1999). Pericardoscopy for primary management of pericardial effusion in cancer patients. Eur J Cardiothorac Surg 16: 287–291 Ten Harkel AD, Kist-Van Holthe JE, Van Weel M, Van der Vorst MM (1998) Alkalinization and the tumor lysis syndrome. Med Pediatr Oncol 31: 27–28
1101
Vergiftungen H. Desel
86.1
Einleitung – 1102
86.2
Toxikologische Grundlagen – 1102
86.2.1 86.2.2
Terminologie – 1102 Toxikokinetik – 1102
86.3
Diagnostik – 1103
86.3.1 86.3.2 86.3.3 86.3.4 86.3.5 86.3.6 86.3.7 86.3.8
Anamnese – 1103 Inspektion des Auffindeortes – 1103 Identifizierung von Noxen – 1104 Toxikologische Wirkstoffbewertung – 1104 Expositionsbewertung – 1104 Klinische Untersuchung – 1104 Labordiagnostik – 1104 Risikobewertung/Vergiftungsdiagnose – 1105
86.4
Therapie – 1105
86.4.1 86.4.2 86.4.3 86.4.4 86.4.5
Ersthelfermaßnahme – 1106 Sicherung der Vitalfunktionen/Intensivüberwachung – 1106 Dekontamination – primäre Giftentfernung – 1106 Förderung der Elimination – sekundäre Giftentfernung – 1108 Antidottherapie – 1109
86.5
Rolle der Giftinformationszentren – 1109
Literatur – 1111
H. Burchardi et al. (Hrsg.), Die Intensivmedizin, DOI 10.1007/978-3-642-16929-8_86, © Springer Medizin Verlag Berlin Heidelberg 2011,
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1102
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Kapitel 86 · Vergiftungen
Einleitung
86.1
Vergiftungen verursachen heute einen wesentlichen Anteil intensivmedizinischer Behandlungsfälle, auch wenn die Zahl lebensbedrohlicher Vergiftungen mit langer Behandlungsdauer, insbesondere mit älteren, unsicheren Schlafmitteln, Pestiziden und anderen hochtoxischen chemischen Produkten stark zurückgegangen ist. Etwa 50.000–100.000 chemische Stoffe werden heute industriell verwendet und sind in chemischen Produkten enthalten, mit denen Menschen in Kontakt kommen. Jeder Stoff besitzt ein eigenes toxikologisches Profil, verursacht eine eigene Vergiftung. Allerdings sind viele Vergiftungen beim Menschen bis heute noch nicht oder nicht ausreichend gut dokumentiert worden. Die Mehrzahl aller Vergiftungen wird zweifellos durch Ethanol verursacht. Durch Alkohol verursachte Gesundheitsstörungen gehören zu den häufigsten Ursachen für stationäre Krankenhausbehandlungen. Alle anderen Vergiftungen sind vergleichsweise selten. Eigene klinische Erfahrung kann der Arzt in seinem Berufsleben daher nur mit einem sehr kleinen Teil von Vergiftungen erwerben. Während in der Vergangenheit der genauen Vergiftungsdiagnostik eine eher untergeordnete Rolle zugedacht (die Entität »Schlafmittelvergiftung« gab und gibt es nicht) und die Vergiftungstherapie nach weitgehend noxenunabhängigen, schematischen Regeln (»immer Giftentfernung«) durchgeführt wurde, haben eine differenzierte Einschätzung der stofflichen Noxe als Vergiftungsursache und die toxikologische Risikobewertung unter Berücksichtigung des Applikationspfades und der absorbierbaren Dosis in der modernen klinischen Toxikologie erheblich an Bedeutung gewonnen, um die Indikation für spezifische Behandlungsverfahren, insbesondere die Gabe hochwirksamer Antidote, auf verlässlicher Basis stellen zu können.
Toxikologische Grundlagen
86.2
Bei der Beschreibung von Vergiftungen hat sich die genaue Anwendung der toxikologischen Terminologie bewährt, um Missverständnisse im interdisziplinären Dialog zu vermeiden. Die für die intensivmedizinische Vergiftungsbehandlung bedeutsamen toxikologischen Begriffe sollen daher hier beschrieben werden.
86.2.1
Terminologie
In der Regel werden in der Toxikologie die unerwünschten Wirkungen stofflicher Noxen auf den Körper untersucht. Als stoffliche Noxen werden chemisch definierte Stoffe betrachtet. Nur in Ausnahmefällen werden Stoffgemische (z. B. Schlangengifte) oder Produkte mit speziellen physikalischen Eigenschaften untersucht (z. B. definierte Sprayaerosole, definierte Nanomaterialien). Toxizität Die Toxizität ist eine Noxeneigenschaft. Sie beschreibt qualitativ die Art der durch die Noxe ausgelösten Schädigung (z. B. Hepatotoxizität) und quantitativ eine Dosis, die zur Auslösung definierter toxischer Effekte (Erfahrung beim Menschen oder im Tierversuch) erforderlich ist.
. Tab. 86.1 Poisoning Severity Score. (Nach [5]) Schweregrad
Erklärung
0
Symptomlos
Keine Symptome o somit keine Vergiftung
1
Leicht
Symptome geringgradig und vorübergehend o in der Regel keine ärztliche Behandlung erforderlich
2
Mittelschwer
Symptome, die in der Regel eine ärztliche Vorstellung erforderlich machen
3
Schwer
Lebensbedrohliche Symptome
4
Tödlich
Vergiftung mit tödlichem Ausgang
Exposition Die Exposition charakterisiert einen Kontakt zwischen einer toxischen Noxe und dem Patienten. Qualitativ beschreibt die Exposition die Art des Kontaktes (den Expositionspfad) und quantitativ die Dosis der Noxe, der gegenüber der Patient exponiert war.
Vergiftungsrisiko Die toxikologische Risikobewertung in der regulatorischen, vorwiegend prophylaktisch orientierten Toxikologie (Überwachungsbehörden, normgebende Instanzen) ergibt sich aus einer Betrachtung von Toxizität und Exposition.
> In der klinischen Toxikologie stellt eine Risikobewertung unter zusätzlicher Berücksichtigung der Symptomatik zum Untersuchungszeitpunkt und der labordiagnostischen Ergebnisse die Voraussetzung für die richtige Diagnosestellung und die Entscheidung für die optimale Therapie dar.
Nicht jede Exposition verursacht eine Vergiftung oder gar eine lebensbedrohliche Symptomatik, die eine intensivmedizinische Behandlung erfordert. Vielmehr erfolgen die meisten Expositionen, ohne dass die Exponierten irgendwelche Beschwerden entwickeln. Die Zahl der Expositionen gegenüber einer Noxe ist daher fast immer deutlich größer als die Zahl der Vergiftungen. Bei der quantitativen Beschreibung von Vergiftungsrisiken ist deshalb die Dokumentation des Schweregrades einer Vergiftung (oder allgemeiner: einer Exposition) von großer Bedeutung. Die Schwere einer Vergiftung wird heute in den meisten Fällen durch den 5-stufigen Poisoning Severity Score ausgedrückt (. Tab. 86.1).
86.2.2
Toxikokinetik
Definition Die Toxikokinetik beschreibt 4 die Aufnahme einer Noxe in den Körper, 4 die Verteilung in die Körperorgane, 4 (bei vielen Noxen zudem) die chemische Umwandlung der Noxe im Körper und 4 deren Entfernung: Absorption – Distribution – Metabolismus – Elimination (ADME).
1103 86.3 · Diagnostik
Expositionspfade und Absorption
Elimination
Etwa 90% aller medizinisch zu versorgenden Vergiftungen werden durch die orale Aufnahme einer Noxe verursacht. Seltener werden toxische Noxen inhaliert, auf die Haut aufgetragen oder parenteral verabreicht (z. B. Biss, Stich oder intravenöser Drogenkonsum). Lokale Wirkungen, Absorption (Resorption, Aufnahme in die Blutbahn) und Möglichkeiten zur Giftentfernung unterscheiden sich erheblich zwischen den verschiedenen Expositionspfaden: 4 Die empfindlichsten Strukturen für toxische Lokalwirkungen (Reizung, Verätzung) finden sich in den Atemwegen, während die äußere Haut vergleichsweise gut geschützt ist. 4 Aufgrund des hepatischen First-pass-Metabolismus ist die Bioverfügbarkeit nach oraler Aufnahme vieler Stoffe geringer als nach inhalativer Aufnahme. 4 Eine primäre Giftentfernung vor Entfaltung einer lokalen Schädigung oder Absorption ist bei Hautkontakt gut möglich und sehr wirksam, nach inhalativer Exposition praktisch unmöglich.
Elimination bezeichnet alle Prozesse, die eine Entfernung einer toxischen Noxe aus dem Blut bewirken. Eine Elimination kann erfolgen durch 4 renale Ausscheidung, 4 biliäre Ausscheidung, 4 metabolische Entgiftung, sowie (von geringer Bedeutung) durch 4 pulmonale oder dermale Ausscheidung. Die physiologische Elimination kann durch therapeutische Maßnahmen prinzipiell beschleunigt werden (sekundäre Giftentfernung). Dies kann die Vergiftungsdauer verkürzen und Vergiftungskomplikationen vermeiden. Allerdings müssen in Zeiten einer »evidence based medicine« bei der Indikationsstellung für eliminationsfördernde Maßnahmen immer die Risiken von Komplikationen der z. T. invasiven Behandlungen mit dem zu erwartenden Nutzen für den Patienten sorgfältig abgewogen werden (7 Tab. 86.3).
Verteilung Nach der Absorption werden die Noxen im Körper verteilt. Viele Noxen werden dabei in verschiedenen Geweben (»tiefen Kompartimenten«) angereichert.
Virtuelle Verteilungsvolumen Das virtuelle Verteilungsvolumen Vd eines Stoffes, das sich als Quotient aus bioverfügbarer Dosis DBV und Plasmaspiegel Cp berechnet 4 Vd = DBV/Cp ist ein Maß dafür, welcher Anteil einer Noxe sich nach Absorption und Verteilung im Blut befindet und damit einem Blutreinigungsverfahren (zur Förderung der Elimination) prinzipiell zugänglich ist: 4 Ein Vd von 0,1 l/kg KG entspricht einer Verteilung ausschließlich im Blut. 4 Bei einem (für z. B. trizyklische Antidepressiva typischen) virtuellen Verteilungsvolumen von 20 l/kg KG finden sich nur 0,5% der aufgenommenen Dosis im Blut. Auch ein Behandlungsverfahren, das die aufgenommene Noxe vollständig aus dem Blut entfernte, könnte den »Körperbestand« der Noxe nur unwesentlich reduzieren.
Fremdstoffmetabolismus Durch die chemische Umwandlung eines aufgenommenen Stoffes im Körper können 4 giftige Stoffe in ungiftige Metabolite entgiftet (metabolische Desaktivierung) und 4 ungiftige Stoffe in toxische Metabolite gegiftet (metabolische Aktivierung) werden. Eingriffe in den Fremdstoffmetabolismus (z. B. Förderung der Entgiftung durch Acetylcystein bei Paracetamol-Überdosierung oder Hemmung der Giftung durch Fomepizol bei EthylenglycolVergiftung) stellen wichtige Mechanismen für die Wirkungen vieler Antidoten dar. Das wichtigste Organ des Fremdstoffmetabolismus ist die Leber. Viele Reaktionen, insbesondere viele durch Esterasen katalysierte Reaktionen, finden jedoch auch im Blut oder der anderen Organen statt. > Die entgiftende Stoffwechselreaktion stellt eine wichtige Form der Elimination dar.
86.3
Diagnostik
Die Diagnostik einer Vergiftung unterscheidet sich in einigen Aspekten von der Diagnostik anderer Erkrankungen. Während – wie eingangs erwähnt – historisch eher von einer Krankheitsentität »Vergiftung« ausgegangen wurde, die nach einem festen Schema medizinisch zu versorgen war (Idealfall: Panantidot), wurde in den letzten Jahrzehnten erkannt, dass eine sehr genaue Kenntnis und Beschreibung der Exposition die Voraussetzungen für die optimale Therapie darstellen.
86.3.1
Anamnese
In der Mehrzahl aller Vergiftungsfälle und Vergiftungsverdachtsfälle kann bereits aufgrund der durch eine genaue Anamnese erhobenen Daten eine verlässliche Diagnose gestellt werden. Voraussetzung dafür ist allerdings neben der Erhebung der aktuellen und bisherigen Beschwerden eine Erfragung und Dokumentation der Exposition: 4 Gegenüber welchen Noxen fand eine Exposition statt (7 unten)? 4 Welche Menge (Dosis) wurde aufgenommen oder wie lange dauerte der Giftkontakt (insbesondere bei inhalativer oder dermaler Exposition)? 4 Welche Zeit ist seit Beginn oder Ende der Exposition vergangen? > Die seit der Exposition verstrichene Zeit ist für eine Risikobewertung bedeutsam, da besonders bei oraler Aufnahme von Noxen, die ihre toxischen Wirkungen erst nach Absorption und Verteilung im Kreislauf entfalten, fast immer mit einer symptomarmen oder -freien Latenzzeit zu rechnen ist. Gleiches gilt für die Inhalation bestimmter Reizgase (vom Latenztyp, z. B. Phosgen).
86.3.2
Inspektion des Auffindeortes
Bei Vergiftung oder Vergiftungsverdacht ist auch bei glaubhafter Anamnese die Umgebung des Patienten nach angebrochenen oder geleerten Verpackungen und anderen Indizien für eine Exposition zu untersuchen. Dies ist erforderlich, da häufig, besonders in Fällen
86
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mit suizidalem Hintergrund, nicht alle aufgenommenen Noxen erinnert oder angegeben werden. Alle Produkte und (auch leere) Behältnisse sollten asserviert und im ärztlichen Bericht genau und vollständig dokumentiert werden.
86 86.3.3
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Kapitel 86 · Vergiftungen
Identifizierung von Noxen
Die Identifikation und Dokumentation der Noxen, denen gegenüber der Patient exponiert war, ist der Kern jeder toxikologischen Diagnostik. Eine Ungenauigkeit an dieser Stelle kann die nachfolgenden Therapieentscheidungen erschweren und zu anderenfalls vermeidbarer Übertherapie führen. Erfahrungsgemäß kann insbesondere nach einer Ingestion von biologischen Noxen (z. B. Pflanzen oder Pilze) eine hinreichend genaue Noxenidentifizierung aufwendig sein. Besonders schwierig ist zudem oft eine Identifizierung umgefüllter Produkte, z. B. Brennstoff in Lampen. Eine Beteiligung sachkundiger Dritter, ggf. vermittelt durch Giftinformationszentren, ist mitunter erforderlich. Nach Identifizierung der Noxe stellt sich in den meisten Fällen die Frage nach chemisch definierten Inhaltsstoffen. Qualitative Angaben hierzu finden sich auf vielen Produktetiketten. Oft beziehen sich die Etikettangaben allerdings nur auf die Wirkstoffe für die dem Produkt zugedachte Anwendung, die Angabe von Begleitstoffen kann fehlen. Insbesondere auf die Erkennung des Vorhandenseins eines organischen Lösemittels, das z. B. bei manchen Pestizidpräparaten toxischer ist als der Wirkstoff, muss geachtet werden. Gegebenenfalls notwendige quantitative Gehaltsangaben sind in der Regel nur über Giftinformationszentren, Hersteller bzw. Importeure zugänglich.
86.3.4
Toxikologische Wirkstoffbewertung
Der nächste Schritt der toxikologischen Diagnostik stellt die Bewertung der Gefährlichkeit der identifizierten chemischen Inhaltsstoffe dar. Bei Ethanol und häufig verwandten Arzneimittelwirkstoffen gelingt dies erfahrungsgemäß mit ärztlicher Kenntnis und Erfahrung, bei vielen anderen Stoffe sind dafür ergänzende Datenquellen (toxikologische Fachliteratur oder Datenbanken) oder eine konsiliarische Beratung durch ein Giftinformationszentren erforderlich (7 Tab. 86.3)
86 86.3.5
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Expositionsbewertung
Liegt der häufigste Fall einer oralen Aufnahme vor, so stellt die aufgenommene Stoffdosis (oder die aufgenommenen Dosen bei Aufnahme mehrerer Stoff mit toxischem Potenzial) den Ausgangspunkt der Expositionsbewertung dar. Hat der Patient nach Ingestion nicht (spontan oder induziert) erbrochen, entspricht die Exposition der aufgenommenen Dosis. Bei lückenhafter Anamnese, oft z. B. bei kindlichen Ingestionsfällen, oder nach Erbrechen ist die absorbierbare Dosis oft nicht genau feststellbar. In diesen Fällen muss die maximal mögliche Dosis (z. B. Zahl der fehlenden Dragees in einer Blisterverpackung) für die weitere Risikobewertung des Falles angenommen werden. > Bei inhalativer oder dermaler Exposition ist die resorbierte Dosis oft schwer zu bestimmen.
86.3.6
Klinische Untersuchung
Die klinische Untersuchung bei einem Vergiftungsverdacht ist besonders auf vergiftungstypische Zeichen zu richten. Offensichtlich sind häufig mit einer Vergiftung in Zusammenhang stehende Ventilationsstörungen und Magen-Darm-Beschwerden (z. B. Motilitätsstörung), die beide mit Latenz zur Expositionsbeginn auftreten können. > Von besonderer Bedeutung ist der Zustand der Augen oder die Lichtreagibilität der Pupillen.
Bewusstseinszustand Der Bewusstseinszustand des Patienten kann durch eine Vielzahl von Wirkstoffen primär oder sekundär beeinträchtigt sein. Insbesondere nach der Einnahme von Arzneimitteln ist in vielen Fällen mit einer Beeinträchtigung des Bewusstseins zu rechnen. Eine Untersuchung des Bewusstseinszustands und die Dokumentation der Ergebnisse im zeitlichen Verlauf können für eine diagnostische Gesamteinschätzung (alle Noxen dokumentiert?) bedeutsam sein.
Foetor ex ore Ein ungewöhnlicher Mundgeruch kann bei anamnestisch unklarer Situation der Verdacht auf eine Vergiftung lenken. Andererseits schließt das Fehlen eines Foetor die Aufnahme einer toxischen Dosis eines stark riechenden Produktes oft aus, was insbesondere in vielen pädiatrischen Verdachtsfällen hilfreich ist.
Hautveränderungen Diagnostisch bedeutsam sind ferner der Zustand der Haut und der Schleimhäute sowie das Vorhandensein frischer oder verheilter Venenpunktionsstellen. Bei Verdacht auf Reizung oder Verätzung der Haut ist bei Entscheidung über die Notwendigkeit einer lokalen Dekontamination zu beachten, dass auch Hautveränderungen in vielen Fällen mit Latenz auftreten. > Bei Kontamination der Haut im Gesicht ist in jedem Fall der Zustand der Augen genau zu prüfen.
86.3.7
Labordiagnostik
Der Labordiagnostik kommt ein hoher Stellenwert bei der Vergiftungsdiagnostik zu. Laboruntersuchungen können eingesetzt werden, um das Ausmaß der Aufnahme toxischer Stoffe oder ihrer Stoffwechselprodukte festzustellen (»Belastungsmonitoring« in arbeitsmedizinischer Diktion) oder bereits eingetretene toxische Wirkungen quantitativ zu erfassen (»Effektmonitoring«). Die gezielte Anwendung und Interpretation laborchemischer Basisuntersuchungen sind zu unterscheiden von spezieller toxikologischer Analytik.
Basisdiagnostik – toxikologische Interpretation Störungen des Elektrolyt- oder Glukosehaushalts sowie der Blutgerinnung und der Leber- und Nierenparameter können als Vergiftungszeichen durch eine Vielzahl stofflicher Noxen ausgelöst werden und auf zunächst nicht erkannte Ursachen hinweisen. Von besonderer Bedeutung bei der Diagnostik von intensivmedizinisch zu behandelnden Vergiftungen ist die Untersuchung des Säure-Base-Haushalts: eine Vielzahl von Noxen kann eine metabolische Azidose verursachen.
1105 86.4 · Therapie
Hinweise auf eine toxische Ursache einer Azidose kann zudem die Berechnung der osmotischen Lücke (OL) und der Anionenlücke (AL) geben (7 Übersicht).
Berechnung der osmotischen Lücke (OL): 4 OL = gemessene Osmolalität – errechnete Osmolalität (Normalwert: 0–10 mOsM) – Errechnete Osmolalität: 2 (Na+ + Glukose + Harnstoff ) – [alle Konzentrationen in mmol/l]
aufwendigen chromatographischen Verfahren erbracht werden (qualitativ wie quantitativ). Dies ist nur in wenigen Speziallaboratorien möglich. Die Giftinformationszentren verfügen über einen Zugriff auf Datenbanken, die parameterabhängig die Auswahl des am besten geeigneten Speziallabors ermöglichen. Eine Sonderform der toxikologischen Laboruntersuchung ist die Systematische Toxikologische Analytik (STA), die auch als (umfassendes) toxikologisches Screening bezeichnet wird [4].
Berechnung der Anionenlücke (AL):
Toxikologisches Screening
4 AL = Na+–(Cl– + HCO3–) (Normalwerte: 3–16 mmol/l)
Eine Systematische Toxikologische Analytik (STA) ermöglicht eine Suche nach toxischen Agenzien, ohne einen konkreten Stoff im Verdacht zu haben. Durch Einsatz eines (molekül-) massenselektiven Detektors nach chromatographischer Auftrennung eines Stoffgemischs in einer Urin- oder Serumprobe werden mehrere tausend verschiedene Stoffe in einer Untersuchung erkannt und dabei eine hohe analytische Verlässlichkeit der Untersuchungsergebnisse erreicht. Die STA erfasst deutlich mehr als 90% aller typischen Noxen bei Vergiftungsfällen und kann somit – bei geringer diagnostischer Restunsicherheit – als einzige Labormethode auch zum Ausschluss einer Vergiftung verwendet werden.
Hilfreich ist ferner die Bestimmung der Cholinesterase, sofern eine Vergiftung mit einem Alkylphosphat- oder Carbamat-Insektizid oder einem Nervenkampfstoff vermutet wird oder ausgeschlossen werden soll.
Toxikologische Analytik Unter toxikologischer Analytik werden alle Laborverfahren zusammengefasst, die spezifisch und ausschließlich für die Diagnostik eines Vergiftungsverdachtsfalls oder der Dokumentation des Verlaufs einer Vergiftung angewandt werden. Ganz überwiegend handelt es sich dabei um Verfahren zum Nachweis eines toxischen Stoffes in Blut oder Urin. Die wichtigste und am häufigsten angewandte Methode der toxikologischen Analytik ist die Bestimmung der Blut(ethyl)alkoholkonzentration. Ebenfalls weit verbreitet und bei der Vergiftungsdiagnostik bedeutsam sind immunchemische Nachweise weiterer häufig gebrauchter Suchtstoffe wie Cannabis, Kokain, Amphetamine, aber auch von Opiaten, Barbituraten und Benzodiazepinen. Bei der Interpretation dieser Suchtstoffsuchanalytik ist umfassender analytischer Sachverstand erforderlich, der in den Limitierungen der angewandten immunchemischen Verfahren begründet ist und über den das direkt mit der Patientenbehandlung befasste medizinische Personal in der Regel nicht verfügt. Grundsätzlich sind die Ergebnisse immunchemischer Untersuchungen nur als diagnostischer Hinweis zu deuten. Ein positives Testergebnis für – beispielsweise – Benzodiazepine bedeutet nicht in jedem Fall, dass tatsächlich Benzodiazepin aufgenommen wurde und schon gar nicht, dass eine Benzodiazepin-Vergiftung vorliegt. Andererseits schließt ein negatives Testergebnis für Benzodiazepine eine BenzodiazepinVergiftung nicht sicher aus. Im Zweifelsfall sollte konsiliarisch eine Interpretationshilfe eingeholt werden (Laborarzt oder Giftinformationszentrum). ! Cave Keinesfalls sollte eine Entscheidung über eine Therapie, die ein Komplikationsrisiko umfasst, allein auf Basis eines immunchemischen Testergebnisses getroffen werden.
Vergleichsweise verlässlich sind die immunchemischen Tests auf Knollenblätterpilztoxine (Amanitine) im Urin und (auch in Überdosis) auf viele Arzneimittelwirkstoffe, für die üblicherweise therapeutische Blutspiegelkontrollen durchgeführt werden (z. B. Antiepileptika). Diese Tests erlauben zudem eine quantitative Aussage und vermögen zwischen einer geringen bzw. therapeutischen Dosierung und einer Vergiftung zu unterscheiden. Ein verlässlicher Nachweis der 7 oben erwähnten Suchtstoffe und ein Nachweis seltener Noxen, unter denen niedermolekulare Glykole wie z. B. Ethylenglycol, toxische Alkohole wie z. B. Methanol, γ-Hydroxybuttersäure und verwandtes Stoffe (γ-Butyrolacton, 1,4-Butandiol) die größte Bedeutung besitzen, kann derzeit nur mit
86.3.8
Risikobewertung/Vergiftungsdiagnose
Eine verlässliche Vergiftungsdiagnose kann erst nach Anamneseerhebung, Expositionsbewertung, klinischer Untersuchung und häufig nach einer Interpretation spezifischer Laborwerte durchgeführt werden. Bei der Zusammenschau der Befunde ist kritisch zu überprüfen, ob das klinische Bild mit der Anamnese und den Untersuchungsergebnissen zusammenpasst. Hierfür kann in vielen Fällen konsiliarischer Sachverstand eines Giftinformationszentrums notwendig sein. Bei Diskrepanzen zwischen erwartetem und tatsächlich vorliegendem klinischem Befund muss die initiale Diagnose kritisch hinterfragt werden. Weitere Noxen oder – bei lückenhafter Anamnese – gänzlich andere Ursachen für vorliegende Symptome müssen in diesen Fällen sorgfältig erwogen werden. Oft kann in einer solchen Situation die Indikation zu toxikologischer Analytik noch nachträglich gestellt werden. > Die zusammenschauende klinisch-toxikologische Risikobewertung bildet die Grundlage aller Therapieentscheidungen, insbesondere zur Indikation und Dauer einer intensivmedizinischen Überwachung. Hierzu sind Kenntnisse zur Toxikokinetik der aufgenommenen Stoffe nötig.
86.4
Therapie
Neben den spezifischen Behandlungsverfahren spielen die allgemeinen notfallmedizinischen Maßnahmen moderner Intensivmedizin in der Therapie von Vergiftungen eine bedeutsame Rolle. Auch viele Vergiftungen, bei denen bis heute kein Antidot bekannt und keine Giftentfernungsmaßnahme wirksam ist (z. B. Colchicinvergiftung), haben heute unter symptomorientierter, intensivmedizinischer Behandlung eine deutlich bessere Prognose als noch vor 20 Jahren. Prinzipiell besteht bei der Behandlung vergifteter Patienten eine Gefährdung des medizinischen Personals. Von praktischer Bedeu-
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1106
Kapitel 86 · Vergiftungen
86
tung ist das Kontaminationsrisiko allerdings nur bei sehr wenigen flüchtigen oder über die Haut oder die Augen wirkenden Noxen.
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86.4.1
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Ersthelfermaßnahme
Eine Kontamination mit Gefährdung des Ersthelfers besteht prinzipiell bei der Atemspende nach Ingestion flüchtiger Gifte sowie bei Aufnahme reizender oder ätzender Stoffe. Diesbezügliche Fallberichte sind äußerst rar, das Vergiftungsrisiko für den Helfenden kann in der Mehrzahl der Fälle als gering eingestuft werden.
Sicherung der Vitalfunktionen/ Intensivüberwachung
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86.4.2
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Typischerweise entwickeln sich Symptome nach einer oralen, inhalativen oder dermalen Vergiftung mit oft mehrstündiger Latenz. Lebensbedrohliche Symptome wie Herzrhythmusstörungen oder Störungen der Atmungsregulation können auch aus einem Zustand völliger Beschwerdefreiheit auftreten. Je nach Exposition muss daher eine intensivmedizinische Überwachung des Patienten sichergestellt werden, sofern die toxikologische Risikobewertung das Auftreten solcher Symptome möglich erscheinen lässt. Bei manchen oralen Vergiftungen tritt eine zentralnervöse Dämpfung als vorwiegendes Symptom ein, ohne dass im Regelfall eine bedrohliche Störung der Atmungsregulation zu befürchten ist (z. B. Benzodiazepinvergiftung, aber auch akute Ethanolvergiftung). In diesem Fällen hat sich die kontinuierliche Überwachung der arteriellen Sauerstoffsättigung bewährt.
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86.4.3
Dekontamination – primäre Giftentfernung
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Die Entfernung der toxischen Noxe von der Körperoberfläche oder aus dem Körper stellt ein bedeutsames spezifisches Therapieprinzip bei Vergiftungen dar, um die Vergiftungsschwere zu verringern oder die Dauer einer Vergiftung zu verkürzen. So plausibel dieses seit Jahrhunderten etablierte Behandlungsprinzip auch scheint, so dürftig sind die Beweise seiner Wirksamkeit, wenn man die Beurteilungskriterien der »evidence based medicine« anlegt. Als »primäre Giftentfernung« bezeichnet man traditionell alle Maßnahmen, die die Absorption einer Noxe verhindern oder vermindern (sollen). Im engeren und üblichen Sinne wird der Begriff nur auf die Therapie oraler Vergiftungen bezogen. Unter dem Begriff »sekundäre Giftentfernung« werden alle therapeutische Maßnahmen zusammengefasst, die eine Elimination beschleunigen (sollen). Da es für die Begriffe »primäre Giftentfernung« und »sekundäre Giftentfernung« in der englischsprachigen Fachliteratur keine Entsprechungen gibt und (daher) ihre Bedeutung auch in der deutschsprachigen Fachsprache abnimmt, werden sie im Folgenden vermieden.
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Absorptionsverminderung bei oraler Exposition
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Die längste Tradition unter den Maßnahmen zur Absorptionsverminderung hat das induzierte Erbrechen. Ein früher Bericht über die Anwendung ist aus dem 13. Jahrhundert überliefert [3]. Im 20. Jahrhundert wurde die Magenspülung zur Standardbehandlungsmethode für die Mehrzahl akuter oraler Vergiftungen, hat
jedoch heute ihre Bedeutung weitgehend verloren. Auch die Gabe von Laxanzien und die anterograde Darmspülung sind traditionelle Behandlungsverfahren, die nur noch sehr selten eingesetzt werden. Hingegen hat in jüngerer Zeit die orale Gabe von Aktivkohle die größte Bedeutung gewonnen. Die Entleerung des Magens oder des Dickdarms unter endoskopischer Kontrolle und die laparoskopische Giftentfernung bleiben sehr seltenen Indikationen vorbehalten. Die Indikation für absorptionsvermindernde Maßnahmen hat sich seit dem Ende der 1990-er Jahre stark gewandelt und orientiert sich heute an diesbezüglichen »position statements« maßgeblicher klinisch-toxikologischer Fachgesellschaften, die im Folgenden berichtet werden [1]. Für keine der Maßnahmen zur Absorptionsverminderung wurde bei umfassender Literaturdurchsicht ein hinreichender klinischer Wirksamkeitsnachweis gefunden. Zudem ist jede der Behandlungsmaßnahmen mit z. T. lebensbedrohlichen Komplikationsrisiken behaftet. Keine dieser Maßnahmen gilt heute daher mehr als Routinebehandlungsverfahren. Über die Indikationsstellung muss in jedem Einzelfall nach kritischer Kriterienprüfung entschieden werden. Magenspülung. Die Magenspülung erfolgt durch orales Einführen und Vorschieben eines großlumigen Kunststoffschlauchs in den Magen und wiederholtes Einspülen und Ablaufenlassen von körperwarmem Wasser (500–1000 ml/Spülportion), bis die auslaufende Spülflüssigkeit keine festen Bestandteile und keine Verfärbungen mehr enthält. In experimentellen Untersuchungen wurde festgestellt, dass die Ausbeute einer Magenspülung im Verlauf der ersten Stunden nach Ingestion schnell abfällt. In mehreren kontrollierten klinischen Studien der 1990-er Jahre wurde zudem gezeigt, dass die Durchführung einer Magenspülung das Risiko für das Auftreten einer Aspirationspneumonie erhöht. Eine Magenspülung gilt daher nur als indiziert nach oraler Aufnahme einer potenziell letalen Giftdosis, wenn die Behandlung innerhalb von 60 min nach Ingestion durchgeführt werden kann. Bei nicht intubierten Patienten ist eine Magenspülung kontraindiziert, wenn die Schutzreflexe der Atemwege beeinträchtigt sind. Als weitere spezifische Kontraindikationen gelten die Ingestion von niedrig viskösen flüssigen Kohlenwasserstoffen (z. B. Lampenölen oder Benzin) oder anderen Stoffen mit hohem Aspirationspotenzial sowie die Ingestion von ätzend wirkenden Stoffen. Magensonde. Toxische Flüssigkeiten können über eine Sonde
schonend aus dem Magen abgesaugt werden. Zu diesem Verfahren liegen keine Bewertung von Nutzen und Risiken und keine Vergleiche mit anderen absorptionsvermindernden Maßnahmen vor. Untersuchungsergebnisse zur Pharmakokinetik von Arzneimittelwirkstoffen lassen vermuten, dass Flüssigkeiten im Regelfall schneller aus Magen und Darm absorbiert werden als feste Stoffe. Eine Giftentfernung über eine Magensonde muss daher als experimentelles Verfahren bewertet werden. Eine Anwendung allenfalls innerhalb von 60 min nach Ingestion einer Flüssigkeit ist plausibel. Endoskopie. Manche Arzneistoffe können, insbesondere nach Einnahme in Überdosis, im Magen verklumpen, sich so einem peristaltischen Weitertransport widersetzen und zu langanhaltender Nachabsorption führen. Dadurch kann die Vergiftung deutlich länger andauern, als nach der Eliminationshalbwertszeit der aufgenommenen Noxe zu erwarten wäre. Am häufigsten wird dieses Phänomen bei Carbamazepin beobachtet. Um den Prozess der
1107 86.4 · Therapie
Nachresorption effektiv zu unterbrechen, kann das verklumpte Material endoskopisch zerkleinert und entfernt werden. Eine endoskopische Untersuchung kann zudem nach Ingestion ätzender Noxen durchgeführt werden, wobei auch bei dieser Methode nur zu einem frühen Zeitpunkt die Möglichkeit zur Minderung des lokalen Schadens und ggf. der Absorption besteht. Sinnvoll erscheint eine endoskopische Giftentfernung bei Ingestion hoher Dosen, wie sie typischerweise bei suizidaler Ingestion zu erwarten sind. Erst eine späte Ösophagogastroskopie (>6 h nach Ingestion) ermöglicht hingegen eine medizinisch notwendige Beurteilung des vollständigen Ausmaßes der Schleimhautschädigung und des Perforationsrisikos. Sowohl durch die frühe als auch durch die spät durchgeführte Endoskopie kann das Risiko für eine Perforation der geschädigten Organwand erhöhen und sollte daher nur durch sehr erfahrene Untersucher erfolgen. Kontrollierte Studien zur Anwendung endoskopischer Methoden liegen nicht vor. Induziertes Erbrechen. Das induzierte Erbrechen, ausgelöst durch die orale Gabe von Ipecac-Sirup (Sirupus ipecacuanha) war bis fast zum Ende des 20. Jahrhundert eine Standardmethode zur Verminderung der Absorption nach oraler Aufnahme toxischer Stoffe, insbesondere im Kindesalter. Das Erbrechen setzt im zeitlichen Mittel 20 min nach Ipecac-Gabe ein und dauert durchschnittlich 60 min an. Auch für diese Behandlungsmethode wurde in experimentellen Untersuchungen festgestellt, dass ihre Wirksamkeit im Verlauf der ersten Stunden nach Ingestion schnell abfällt. Das Aspirationsrisiko scheint gegenüber dem der Magenspülung geringer zu sein. Induziertes Erbrechen gilt daher nur als indiziert nach oraler Aufnahme einer sicher toxischen Giftdosis, wenn die Behandlung innerhalb von 60 min nach Ingestion durchgeführt werden kann. Nicht angewandt werden darf induziertes Erbrechen bei eingeschränktem Bewusstsein und nach Einnahme aller Noxen, die das Bewusstsein und damit die Schutzreflexe der Atemwege dämpfen oder unterbrechen könnten. Kontraindikationen sind weiterhin die Aufnahme von schaumbildenden Stoffen, niedrig viskösen flüssigen Kohlenwasserstoffen (z. B. Lampenöl oder Benzin) sowie die Ingestion von ätzend wirkenden Stoffen. Damit bleibt in der Gesamtschau das induzierte Erbrechen eine vergleichsweise verträgliche Methode der Absorptionsminderung. Bei Berücksichtigung aller Kontraindikationen, insbesondere das Nichtanwenden bei allen zentralnervös aktiven Stoffen, beschränkt sich ihre Anwendbarkeit allerdings auf wenige Noxen wie Paracetamol und Eisensalze. Apomorphin und Salzwasserlösung zum Auslösen von Erbrechen gelten heute wegen ihres ungünstigen Nutzen-Risiko-Verhältnisses als eindeutig kontraindiziert. Einmalige Aktivkohlegabe. Die pharmakologischen Eigenschaften
der medizinischen Kohle (Aktivkohle, Carbo medicinalis) wurden vielfach untersucht: Aktivkohle bindet viele organische und einen Teil der anorganischen Stoffe sehr effektiv. Bei Stoffen, die aufgrund vergleichsweise geringer Toxizität erst nach Ingestion von Dosen über 50 g Vergiftungen auslösen (wichtigstes Beispiel: Ethanol), ist die Gabe von Aktivkohle wegen ihrer begrenzten Bindungskapazität im Regelfall nicht effektiv. Die Gabe von Aktivkohle in üblicher therapeutischer Dosis (1 g/kg KG) ruft oft Erbrechen hervor, das (bei erhaltenen Schutzreflexen selten) eine Aspiration verursachen kann. Kohlegabe gilt ebenfalls nur als indiziert nach oraler Aufnahme einer sicher toxischen Giftdosis, wenn die Behandlung innerhalb von 60 min nach Ingestion durchgeführt werden kann und bekannt
ist, dass die applizierte Kohle einen wesentlichen Anteil der ingestierten Giftdosis effektiv bindet. Als kontraindiziert gilt die Gabe von Aktivkohle bei eingeschränktem Bewusstsein – es sei denn, die Atemwege wurden durch Intubation hinreichend vor Aspiration geschützt. Nach Aufnahme ätzend wirkender Stoffe sollte ebenfalls auf eine Kohlegabe verzichtet werden, da diese Maßnahme eine nachfolgende endoskopische Diagnostik stark erschwert. Laxanzien und anterograde Darmspülung. Ein Laxans als Zusatz
zur Aktivkohle stellte über viele Jahre die Standardbehandlung oraler Vergiftung dar. Durch die Gabe des Laxans sollte die giftbeladene Aktivkohle schneller enteral ausgeschieden und eine durch Aktivkohle verursachte Obstipation vermieden werden. Wegen des Fehlens jeglichen Wirksamkeitsnachweises aus klinischen Studien gilt die Verwendung von Laxanzien zur Absorptionsverminderung heute als obsolet. Eine zurückhaltende Bewertung gilt auch für die anterograde Darmspülung (»whole bowel irrigation«), die besonders in Nordamerika früher oft zur Absorptionsverhinderung angewandt wurde.
Verminderung der Absorption und eines lokalen Schadens nach dermaler Exposition Bei dermalem Kontakt mit einem toxischen Agens steigt die lokale Schädigung oder die absorbierte Dosis mit der Dauer der Einwirkung an. Es ist daher sehr plausibel, dass eine frühzeitige Beendigung der Exposition das Ausmaß der Beschwerden reduziert. Der Dekontamination von Haut und leicht zugänglichen Schleimhäuten, insbesondere der Augen, wird daher eine hohe Wirksamkeit zugemessen. Die Absorptions- und Lokalschadenverminderung durch Hautdekontamination besitzt im Gegensatz zur Magen-Darm-Dekontamination auch heute eine große therapeutische Bedeutung, da das Komplikationsrisiko für diese Behandlung als sehr gering eingeschätzt wird. Dieses günstige Nutzen-Risiko-Profil gilt auch für die frühzeitige Dekontamination durch Ersthelfer, die dazu auch telefonisch angewiesen werden können. Begründet werden die im Folgenden beschriebenen Maßnahmen unter Verweis auf experimentelle Untersuchungen; klinische Daten aus kontrollierten Studien sind nicht verfügbar. Dekontamination der Haut. Die Dekontamination der Haut wird
durch die vollständige Entfernung von kontaminierter Kleidung eingeleitet. Anschließend wird der betroffene Hautbereich mit fließendem, möglichst körperwarmem Wasser gespült. An Arbeitsplätzen, an denen mit gefährlichen Stoffen umgegangen wird, steht für die Spülung häufig eine Notdusche zu Verfügung. Die Dauer der Spülung richtet sich nach der Art des Stoffes und der Dauer der Einwirkung auf die Haut. Zum Beispiel sollte nach mehrminütiger Einwirkung einer starken, ätzenden Lauge mindestens 15 min gespült werden, um eine ausreichende Dekontamination zu erzielen. Bei Hautkontamination mit lipophilen Agenzien, z. B. Phenolen, kann die Spülung mit Wasser auch bei nur oberflächlichem Eindringen in die Haut nur wenig Schadstoff entfernen. In diesem Fällen scheint es plausibel, ein lipophiles, aber dennoch hautverträgliches Lösungsmittel zur Spülung zu verwenden. Traditionell wird für diesen Zweck Polyethylenglykol 400 (PEG-400 oder PEG9) empfohlen. Auf augenscheinlich unverletzter Haut scheint auch eine Verwendung von handelsüblichem Speiseöl zu Spülung vertretbar zu sein, sofern PEG-400 nicht verfügbar ist. Eine stoffspezifische und hochwirksame dermale Dekontamination bei Einwirkung von Flusssäure oder Lost-Kampfstoffen ist mit Kalziumglukonat bzw. Chloramin T möglich.
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Kapitel 86 · Vergiftungen
Dekontamination der Augen. Sinngemäß gelten bei Augenexpo-
sitionen die gleichen Spülempfehlungen mit Wasser wie für die Haut beschrieben (7 oben). Die Dekontamination der Augen wird allerdings häufig durch einen Blepharospasmus erschwert, der erst nach lokaler oberflächlicher Anwendung eines Lokalanästhetikums durchbrochen werden kann. Zurückhaltung kann bei der Augenkontamination mit Brandkalk (ätzend wirkendes Kalziumoxid) geboten sein, da bei blepharospasmusbedingtem ungenügendem Spülerfolg eine chemische Reaktion mit Wasser unter starker Wärmeentwicklung induziert werden kann, die das Auge zusätzlich schädigt.
Dekontamination nach inhalativer Exposition
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Im Gegensatz zu den Verhältnissen bei oralem oder dermalem Expositionspfad ist bei inhalativer Exposition eine Dekontamination nur sehr eingeschränkt möglich. Traditionell wird nach Inhalation einer größeren Dosis Babypuder bei ausgeprägter initialer Atemwegssymptomatik eine Bronchiallavage empfohlen, da in Einzelfällen eine deutliche Verbesserung des klinischen Zustandes erreicht werden konnte. Klinische Untersuchungen hierzu fehlen für diese heute sehr seltene Exposition.
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86.4.4
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Förderung der Elimination – sekundäre Giftentfernung
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Nach Einführung der Hämodialyse in die Intensivmedizin Anfang der 1960-er Jahre entwickelte sich dieses Verfahren schnell zu einer wichtigen Methode der Vergiftungsbehandlung. Durch Hämodialyse kann eine bereits absorbierte Noxe beschleunigt aus der Blutbahn eliminiert werden. Eine Indikation zur Hämodialyse wurde in den 1980-er Jahren bei bis zu 141 verschiedenen Vergiftungen gesehen. Weitere intensivmedizinische Methoden zur Beschleunigung der Giftelimination kamen während der letzten Jahrzehnte hinzu, von denen der Hämoperfusion seit den 1970-er Jahren eine besondere therapeutischen Bedeutung zugedacht wurde [2]. Weniger invasive Methoden zur Beschleunigung der Elimination stellen die kontrollierte Hyperventilation, die forcierte Diurese, die Urinalkalisierung, die Urinansäuerung und die wiederholte Gabe von Aktivkohle dar. Eine große Zahl von Fallberichten und Fallserien wurde dokumentiert, in den meisten Fällen jedoch, ohne dass der Nutzen der Behandlungen für die Patienten hinsichtlich des Verlaufs der Vergiftung systematisch untersucht wurde. Übersichtsarbeiten jüngeren Datums, in denen diese Aspekte methodenspezifisch untersucht wurden, führten zu einem erheblich eingeschränkten Indikationsspektrum [2]. Dieses soll im Folgenden, sortiert nach dem Ausmaß der Invasivität der Methodik, erläutert werden.
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Urinalkalisierung
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Die Alkalisierung des Urins ist ein vergleichsweise verträgliches und einfach anzuwendendes Verfahren zur Eliminationsbeschleunigung schwacher Säuren. Durch intravenöse Gabe von Natriumhydrogenkarbonat wird eine leichte »metabolische« Alkalose induziert, die der Körper durch vermehrte renale Elimination basischer Stoffe zu kompensieren versucht: Im alkalisch eingestellten Primärurin (Glomerulumfiltrat, pH-Wert 7,5–9) liegen schwach saure Agenzien überwiegend in Form ihrer hydrophilen Säureanionen vor und werden in dieser Form praktisch nicht rückabsorbiert.
Klinische Untersuchungsergebnisse deuten darauf hin, dass die Urinalkalisierung bei Aufnahme toxischer Dosen von Salicylaten, Barbituraten, Chlorphenoxycarbonsäuren-Herbizidwirkstoffen, Fluorid, Methotrexat, Diflunisal und Chlorpropamid wirksam ist. Zudem wird eine Urinalkalisierung bei Vorliegen einer Rhabdomyolyse eingesetzt.
Urinansäuerung In Analogie zur besser untersuchten Alkalisierung des Urin stellt auch die Ansäuerung des Urins ein verträgliches und einfach anwendbares Verfahren dar und wird gelegentlich angewandt, um die Elimination schwacher Basen zu beschleunigen : Durch intravenöse Gabe von z. B. Methionin oder Argininhydrochlorid oder anderer Säuren wird eine leichte metabolische Azidose induziert, die der Körper durch vermehrte renale Elimination saurer Stoffe zu kompensieren versucht: Im sauer eingestellten Primärurin (pHWert 4–5) liegen schwach alkalische Agenzien überwiegend in Form ihrer hydrophilen Ammoniumkationen vor und werden in dieser Form praktisch nicht rückabsorbiert. Die klinische Bedeutung dieses Verfahrens ist nicht evaluiert, systematische Untersuchungen zu seiner Wirksamkeit fehlen. Pharmakologisch plausibel erscheint der Einsatz zur Eliminationsförderung nach Ingestion von basischen Noxen mit geringem Verteilungsvolumen, etwa von Amphetamin-Derivaten.
Forcierte Diurese Ziel der forcierten Diurese ist eine Steigerung der Ausscheidung renal eliminierter toxischer Stoffe durch Steigerung des Harnvolumens. Dies wird durch eine intravenöse Zufuhr großer Volumina von Kristalloidlösungen, ggf. in Kombination mit Diuretika, erreicht. Durch Zugabe von Natriumhydrogencarbonat oder Argininhydrochlorid kann zusätzlich eine Alkalisierung bzw. Ansäuerung erreicht werden (7 oben). Bei Durchführung der forcierten Diurese besteht das Risiko einer Überwässerung mit Elektrolytentgleisung, insbesondere bei eingeschränkter Nierenfunktion. Eine engmaschige Elektrolytkontrolle ist daher erforderlich. Die Wirksamkeit der forcierten Diurese zur Eliminationsbeschleunigung bei Vergiftungen konnte in klinischen Studien nicht nachgewiesen werden. Gleichsam konnte eine Überlegenheit der forcierten alkalischen Diurese gegenüber der Urinalkalisierung ohne Volumenbelastung ausschließlich für Chlorphenoxycarbonsäuren nachgewiesen werden. Für alle anderen Vergiftungen gelten alle Diureseverfahren wegen des vergleichsweise ungünstigen Nutzen-Risiko-Verhältnisses heute als kontraindiziert.
Wiederholte Aktivkohlegabe Neben der Anwendung zur Absorptionsverzögerung (7 oben) wird die orale Gabe von Aktivkohle in wässriger Suspension bei einer kleinen Zahl von Stoffen eingesetzt, um die Elimination zu beschleunigen. Dazu wird die Kohle 2-stündlich in einer Dosis von 500 mg/kg KG oral verabreicht. Bei der 1. Dosis wird bei erwachsenen Patienten der Suspension ein Laxans, z. B. Natriumsulfat, zugesetzt, um eine Obstipation zu vermeiden. Der Wirkmechanismus besteht in der Elimination der Stoffe durch Rückdiffusion in den Darm entlang eines Konzentrationsgefälles, das durch die niedrige Konzentration des Stoffes in der Umgebung der Kohle erzeugt wird. Die wiederholte Gabe von Aktivkohle gilt nach aktueller Datenlage klinischer Studien als indiziert nach Aufnahme toxischer Dosen von Carbamazepin, Phenobarbital, Dapson, Chinin und Theophyllin. Bei diesen Vergiftungen hat die wiederholte Kohlegabe hinsichtlich der Beschleunigung der Elimination eine ähnliche Wirksamkeit wie eine Hämoperfusion.
1109 86.5 · Rolle der Giftinformationszentren
! Cave Kontraindiziert ist die wiederholte Kohlegabe bei gestörten Schutzreflexen der Atemwege sowie bei Darmobstruktion.
nachzustehen scheint, lässt eine Hämoperfusion möglicherweise zukünftig nur noch dann als indiziert erscheinen, wenn eine wiederholte Kohlegabe nicht durchführbar ist.
86.4.5
Antidottherapie
Kontrollierte Hyperventilation Die Verteildauer von Stoffen im Körper, insbesondere von leichtflüchtigen organischen Lösungsmitteln, die wegen ihres hohen Dampfdrucks bei Körpertemperatur zu einem erheblichen Anteil ausgeatmet werden, kann durch eine kontrollierte Hyperventilation unter vermindertem Sauerstoffpartialdruck in der Inspirationsluft verkürzt werden. Klinische Studien zu dieser nur selten indizierten Behandlung liegen nicht vor. Viele organische Lösemittel lösen mitunter lebensbedrohliche Herzrhythmusstörungen aus. Da die kontrollierte Hyperventilation mit erhöhtem Sympathotonus einhergehen kann, der das Auftreten von Herzrhythmusstörungen begünstigt, wird die Anwendung meist kritisch bewertet.
Hämodialyse Viele Fremdstoffe sind dialysierbar, die Wirksamkeit einer Hämodialyse zur wirksamen Beschleunigung der Elimination ist jedoch nur für wenige Stoffe überzeugend gesichert. Als kontraindiziert gilt die Hämodialyse heute bei allen Vergiftungen mit Stoffen, die ein hohes virtuelles Verteilungsvolumen besitzen (wie die meisten Psychopharmaka). Die Hämodialyse stellt zudem ein invasives Behandlungsverfahren dar, das den Körper erheblich belastet (Blutungsrisiko nach Heparinisierung, Verbrauchskoagulopathie, arterielle Hypotonie, Infektionsrisiko). Die Indikation zur Dialyse zum Zweck der Eliminationsbeschleunigung sollte daher selbst bei gesicherter toxikokinetischer Wirksamkeit nur zurückhaltend gestellt werden (Beispiel: akute Ethylalkoholvergiftung). Unzweifelhaften Stellenwert hat die Hämodialyse auch heute noch bei der Vergiftung mit Lithiumsalzen und mit Salicylaten sowie bei schweren Vergiftungen mit »toxischen« Alkoholen. Für die Behandlung der Methanol- und Ethylenglycolvergiftung, für die die Hämodialyse über Jahrzehnte als Standardbehandlungsmethode galt, steht mit Fomepizol heute ein gut wirksames Antidot zur Verfügung. Eine Dialyse gilt bei dieser Vergiftung nur noch als indiziert, wenn die medizinische Behandlung erst begonnen werden kann, nachdem bereits toxische Mengen von Methanol- oder Glykolmetaboliten im Stoffwechsel gebildet wurden.
Hämoperfusion Im Gegensatz zur Hämodialyse kann mit Hämoperfusion die Elimination auch solcher Stoffe beschleunigt werden, die zu einem hohen Anteil plasmaproteingebunden vorliegen. Auch die Hämoperfusion ist ein invasives Behandlungsverfahren, das den Kreislauf und das Gerinnungssystem erheblich belastet (Blutungsrisiko nach Heparinisierung, Leukozytopenie, Thrombozytopenie, Verbrauchskoagulopathie, arterielle Hypotonie, Infektionsrisiko). Prinzipiell gilt die Wirksamkeit der Hämoperfusion bei schweren Vergiftungen mit Barbituraten (in Ergänzung zur Urinalkalisierung), Carbamazepin und Theophyllin als gesichert. Kontraindiziert ist die Hämoperfusion z. B. bei Knollenblätterpilz- und Paraquatvergiftung sowie in gleicher Weise wie die Hämodialyse bei allen Vergiftungen mit Stoffen, die ein hohes virtuelles Verteilungsvolumen besitzen. Die noch junge Erkenntnis der letzten Jahre, dass die weniger invasive, wiederholte orale Gabe von Aktivkohle in ihrem Wirksamkeitsspektrum und ihrer Effektivität der Hämoperfusion nicht
Die Gabe eines Antidots galt von je her als die wichtigste spezifische Behandlung einer Vergiftung. Die Vorstellung, die Wirkung eines Giftes durch ein Gegengift schnell und vollständig aufheben zu können, faszinierte die Menschheit seit mehr als 2000 Jahren [8]. Antidote, die in ihrer Wirkung diesem Idealbild entsprechen, gibt es heute für wenige Vergiftungen. Der modernen Intensivmedizin steht nur eine gut überschaubare Zahl von Arzneimitteln als Antidote zur Verfügung. Bei weitem nicht jede Vergiftung lässt sich mit einem verfügbaren Antidot behandeln, wobei eine Abschätzung des Anteils der mit Antidoten behandelbaren Vergiftungen von der zugrundegelegten Antidotdefinition abhängt. Fasst man im weiten Sinne alle bei Vergiftungen symptomorientiert wirkenden Arzneimittel wie etwa Benzodiazepine, Sympathotonika (z. B. Clonidin), Natriumhydrogencarbonat (zur Alkalisierung von Blut und Urin), Atropin oder Sauerstoff (zur Verdrängung von Kohlenmonoxid) unter den Antidotbegriff, so kann die Mehrzahl der Vergiftungen mit Antidoten behandelt werden. Beschränkt man den Begriff auf Arzneimittel, die ausschließlich zur Behandlung einer spezifischen Vergiftung angewandt werden (z. B. Digitalis-Antitoxin oder Naloxon), so kann nur ein geringer Teil aller Vergiftungen als antidotbehandelbar gelten. Zurzeit sind knapp 40 zugelassene Arzneimittel als Antidote (im weiteren Sinne) zur Vergiftungsbehandlung in Deutschland verfügbar. In . Tab. 86.2 werden diese Arzneimittel zusammen mit Beispielindikationen aufgelistet. Ferner ist in dieser Tabelle angegeben, welche Antidote für den Notarzt, in jeder Klinik, die Vergiftungen behandelt, oder in einem Klinikverbund vorrätig gehalten werden sollten.
86.5
Rolle der Giftinformationszentren
Rund 80 staatliche Giftinformationszentren (GIZ, Giftnotrufe) wurden als seit Mitte des letzten Jahrhunderts in Europa eingerichtet. In Deutschland sind derzeit 9 GIZ rund um die Uhr mit toxikologisch qualifizierten Ärzten besetzt (. Tab. 86.3). Wesentlicher Inhalt der Giftnotrufberatung ist die toxikologische Risikobewertung des Einzelfalls als Beitrag zur Diagnostik und daraus abgeleitet Empfehlungen zur bestmöglichen medizinischen Behandlung nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft. Oft werden die GIZ sehr früh nach einem Expositionsereignis von Betroffenen selbst oder von Begleitpersonen kontaktiert. Dadurch können Ersthelfer sinnvoll angeleitet und auf diese Weise Fehlverhalten und verschlimmernde Komplikationen vermieden werden (Sekundärprävention).. Alle Beratungsfälle, insbesondere auch die eine Beratung auslösenden Noxen (Produkte), werden in den GIZ dokumentiert. In einem Teil der Fälle werden der weitere Verlauf und der Ausgang der Vergiftung verfolgt und ebenfalls dokumentiert. Dieser Datenbestand an Humankasuistiken wird zur Verbesserung der Beratungsgrundlagen fortlaufend ausgewertet. Dabei werden zur schnelleren Bewertung der Humantoxizität neuer Wirkstoffe, Produkttypen oder sehr seltener Noxen oft die Falldaten mehrerer GIZ zusammengeführt.
86
1110
86
Kapitel 86 · Vergiftungen
. Tab. 86.2 Antidota zur Behandlung von Vergiftungen und Empfehlung zu ihrer Bevorratung in Notarztkoffer, Klinik oder Klinikverbund. (Nach [1]) Antidot
Toxische Agenzien (Beispiele)
Acetylcystein
Paracetamol
86
Aktivkohle
Diverse
+
+
Atropin (100 mg)
Alkylphosphate, Methylcarbamate
+
+
86
Beclometasondipropionat
Reizgase
+
+
Biperiden
Neuroleptika
Botulinum-Antitoxin
Botulinumtoxin
Calciumgluconat
Flusssäure
Chloramin T
Lost-Kampfstoffe
Dantrolen
Inhalationsnarkotika (maligne Hyperthermie)
+
Deferoxamin
Eisensalze
+
86
86 86 86 86
Notarzt
Klinik +
+ + (+)
+ +
Diazepam
Chloroquin
Digitalisantitoxin Fab (Digitalisantidot)
Digoxin, Digitoxin
Dimethylaminophenol
Blausäure, Cyanide
Dimercaptopropansulfonsäure
Quecksilber
Eisen-(III)-hexacyanoferrat-(II)
Thallium
Flumazenil
Benzodiazepine
Folinsäure
Methanol, Formiate
+
Folsäure
Methotrexat
+
86
Fomepizol
Methanol, Ethylenglycol
+*
Glucagon
β-Blocker
+
86
Hydroxocobalamin
Blausäure, Cyanide
Kreuzotterantitoxin oder -antiserum
Kreuzotter
86
Levocarnitin
Valproat
Magnesiumsulfat
Terfenadin, Aconitin
+
+
Naloxon
Opioide
+
+
86
Natriumsulfat
Bariumsalze
Natriumthiosulfat
Blausäure, Cyanide
(+)
+
86
Obidoxim
Alkylphosphate
(+)
+
Physostigmin
Scopolamin
+
+
Phytomenadion
Antikoagulanzien
Polyethylenglycol-400
Phenol (dermal)
86 86 86 86
86
86 86
+
+ +
+
+ + +
+
(+)
+
+ +
+
+ (+)
+
Heparin
+
Pyridoxin
Insoniazid
+
Sauerstoff
Kohlenmonoxid
86
Silibinin
Amanitine
Simethicon
Schaumbildner
86
Sirupus ipecacuanha
Eisensalze
Toloniumchlorid
Methämoglobinbildner
+
+
Tranexamsäure
Fibrinolytika
(+)
+
86 86
+*
(+)
Protamin
86
Klinikverbund
+
+ +
+
+ +
* Sofern Fomepizol nicht vorrätig gehalten wird, sollte Ethanol als (schlechter verträgliches) Ersatzantidot bevorratet werden.
1111 Literatur
. Tab. 86.3 Giftinformationszentren in Deutschland GIZ
Zuständigkeit für Bundesländer
Berlin
BE, BB
40.875 (2008)
030/19 240
München
BY
34.321 (2007)
089/19 240
Nürnberg
BY
Göttingen
HB, HH, NI, SH
34.851 (2009)
0551/38 31 80 (Fachpersonal)
Bonn
NW
30.300 (2009)
0228–19 240
Mainz
RP, HE
30.801 (2007)
06131/19 240
Erfurt
TH, SN, ST, MV
20.725 (2009)
0361/730 730
Freiburg
BW
22.128 (2009)
0761/19 240
Homburg/Saar
SL
1.420 (2006)
06841/19 240
Gesamt
Anfragen pro Jahr (lt. Jahresberichte der GIZ)
(kein Jahresbericht)
ca. 215.000
Literatur 1
2 3
4
5
6
7
8
American Academy for Clinical Toxicology, European Association of Poisons Centres and Clinical Toxicologists (1997) The AACT/EAPCCT Position Statements on Gastrointestinal Decontamination. J Toxicol Clin Toxicol 35 (7): 695–762; überarbeitete Versionen in verschiedenen Einzelbeiträgen in J Toxicol Clin Toxicol 43 (2004) Jaeger A (2004) Changes in the approaches to drug elimination in poisoning over the last 40 years. J Toxicol Clin Toxicol 42 (4): 412–414 Lewin L (1920) Giftentfernung bei der Behandlung Albrecht I. von Habsburg (1255–1308); zit. nach Lewin L: Gifte in der Weltgeschichte, Berlin 1920, S 49 Maurer HH (2004) Position of chromatographic techniques in screening for detection of drugs or poisons in clinical and forensic toxicology and/ or doping control. Clin Chem Lab Med 42 (11): 1310–1324 Persson HE, Sjöberg GK, Haines JA, Pronczuk de Garbino J (1998) Poisoning Severity Score. Grading of acute poisoning. J Toxicol Clin Toxicol 36 (3): 205–213 Statistisches Bundesamt: Krankenhausstatistik – Diagnosedaten der Patienten und Patientinnen in Krankenhäusern (lfd. aktualisiert), in: Die Gesundheitsberichterstattung des Bundes [www.gbe-bund.de (Stand/ Abruf: 7.10.2010)] Statistisches Bundesamt: Todesursachenstatistik (lfd. aktualisiert). In: Die Gesundheitsberichterstattung des Bundes [www.gbe-bund.de (Abruf: 7.10.2010)] Valle G et al. (2009) Mithridates VI Eupator, father of empirical toxicology. Clin Tox 47: 433
Telefon
0911/398 2451
86
1113
Pädiatrische Intensivmedizin Kapitel 87
Intensivmedizin bei Früh- und Neugeborenen
Kapitel 88
Präeklampsie, Eklampsie und HELLP-Syndrom
XIV
1115
Intensivmedizin bei Früh- und Neugeborenen P. Groneck, C.P. Speer, K. Bauer (†)
87.1
Reanimation Früh- und Neugeborener – 1117
87.1.1 87.1.2
Temperaturregulation des Neugeborenen und Schutz vor Unterkühlung – 1117 Maßnahmen der Neugeborenenreanimation – 1119
87.2
Perinatale Schäden und ihre Folgen – 1121
87.2.1 87.2.2
Asphyxie – 1121 Hypoxisch-ischämische Enzephalopathie (HIE) – 1122
87.3
Das Frühgeborene – 1123
87.3.1 87.3.2 87.3.3 87.3.4 87.3.5 87.3.6 87.3.7 87.3.8 87.3.9
Atemnotsyndrom Frühgeborener – 1124 Persistierender Ductus arteriosus (PDA) – 1126 Neonatale chronische Lungenkrankheit oder bronchopulmonale Dysplasie (BPD) – 1126 Retinopathia praematurorum (ROP) – 1128 Hirnblutungen des Frühgeborenen – 1129 Posthämorrhagischer Hydrozephalus (HC) – 1130 Periventrikuläre Leukomalazie (PVL) – 1131 Frühgeborenenapnoe – 1131 Grundzüge der mechanischen Beatmung bei Neugeborenen – 1133
87.4
Lungenerkrankungen des Neugeborenen – 1134
87.4.1 87.4.2 87.4.3 87.4.4 87.4.5 87.4.6 87.4.7 87.4.8 87.4.9 87.4.10 87.4.11
Transitorische Tachypnoe – 1134 Mekoniumaspirationssyndrom – 1135 Pneumothorax – 1136 Lobäres Emphysem – 1137 Lungenhypoplasie – 1137 Zwerchfellhernie (Enterothorax) – 1138 Neonatale Pneumonien – 1138 Persistierende pulmonale Hypertonie (persistierende fetale Zirkulation) – 1138 Lungenblutung – 1140 Chylothorax – 1140 Obstruktion der oberen Atemwege – 1140
87.5
Bluterkrankungen – 1141
87.5.1 87.5.2 87.5.3 87.5.4 87.5.5
Fetale Erythropoese – 1141 Neonatale Anämie – 1141 Polyzythämie, Hyperviskositätssyndrom – 1142 Pathologische Hyperbilirubinämie – 1142 AB0-Erythroblastose – 1142
H. Burchardi et al. (Hrsg.), Die Intensivmedizin, DOI 10.1007/978-3-642-16929-8_87, © Springer Medizin Verlag Berlin Heidelberg 2011,
87
87.5.6 87.5.7 87.5.8 87.5.9 87.5.10
Rh-Erythroblastose – 1143 Kernikterus, Bilirubinenzephalopathie – 1144 Weitere hämolytische Erkrankungen – 1145 Neonatale Thrombozytopenie – 1145 Koagulopathien – 1146
87.6
Fehlbildungen und Erkrankungen des Magen-Darm-Trakts – 1146
87.6.1 87.6.2 87.6.3 87.6.4
Ösophagusatresie – 1146 Intestinale Obstruktionen – 1147 Bauchwanddefekte – 1148 Nekrotisierende Enterokolitis (NEC) – 1148
87.7
Neugeborenenkrämpfe – 1150
87.8
Sepsis des Früh- und Neugeborenen – 1151
87.8.1
Meningitis – 1152
87.9
Metabolische Störungen – 1153
87.9.1 87.9.2 87.9.3 87.9.4 87.9.5 87.9.6 87.9.7
Hypoglykämie – 1153 Hyperglykämie – 1154 Hypokalzämie – 1154 Hyponatriämie – 1154 Hypernatriämie – 1155 Hyperkaliämie – 1155 Hypokaliämie – 1155
87.10
Analgesie bei Früh- und Neugeborenen – 1155
87.10.1 87.10.2
Beurteilung der Schmerzintensität bei Neugeborenen – 1156 Analgetische Therapie für wenig schmerzhafte diagnostische und therapeutische Eingriffe bei Neugeborenen – 1156 Schmerztherapie bei kleinen operativen Eingriffen – 1156 Indikationen für Opioidanalgetika (Morphin und Fentanyl) in der Neonatologie – 1157
87.10.3 87.10.4
Literatur – 1158
1117 87.1 · Reanimation Früh- und Neugeborener
87.1
Reanimation Früh- und Neugeborener C.P. Speer
87.1.1
Voraussetzungen für die Durchführung einer Reanimation
Die meisten Neugeborenen durchlaufen eine unproblematische kardiorespiratorische Adaptation. Bei ca. 10% der Kinder können allerdings mehr oder weniger intensive Reanimationsmaßnahmen erforderlich sein. Ungefähr 2/3 dieser Patienten lassen sich aufgrund definierter Risiken bereits vor der Geburt identifizieren, bei 1/3 der Neugeborenen tritt die Reanimationssituation völlig unerwartet auf. Diese Tatsache unterstreicht die Notwendigkeit, dass die essenziellen Wiederbelebungsmaßnahmen zu jeder Zeit differenziert und kompetent durch ein geschultes neonatologisches Reanimationsteam durchgeführt werden können. Weitere Voraussetzungen sind eine optimale Information über maternale und fetale Risiken sowie eine gezielte Vorbereitung auf die spezielle Reanimationssituation. > Sind die personellen, organisatorischen und apparativen Möglichkeiten in einer Geburtsklinik nicht vorhanden, um ein Frühgeborenes oder Risikoneugeborenes optimal zu versorgen, so muss die Mutter – wenn immer medizinisch vertretbar – in ein Perinatalzentrum verlegt werden. Dieses medizinisch gut begründete Postulat ist inzwischen durch den gemeinsamen Bundesausschuss verbindlich festgelegt.
Der antenatale Transport von Schwangeren und damit von Risikofrüh- und Neugeborenen in ein Perinatalzentrum Level 1 ist bei folgenden Störungen obligat: 4 Frühgeborene mit einem Gestationsalter 93%) bereits während der Stabilisierungsphase und darüber hinaus bei beatmeten Frühgeborenen während der ersten Lebenswochen vermieden werden.
87
Stufe 2: Zusatzmaßnahmen bei insuffizienter Spontanatmung
87
Führen die beschriebenen Basismaßnahmen nicht zum Einsetzen der Spontanatmung, so sind zur Vermeidung von Bradykardie und Hypoxie weitere Schritte erforderlich.
87 87 87 87 87 87 87 87 87 87 87 87 87 87 87
Beutel-Masken-Beatmung. Neugeborene mit fehlender Eigenatmung werden nach 30 s mit einer Beutel-Masken-Beatmung und inspiratorischem Druckplateau (»Blähatmung«) behandelt. Diese Blähatmung besteht aus maximal 3 Beatmungshüben mit einem hohen inspiratorischen Beatmungsdruck (ca.30 cm H2O) und einer langen Inspirationszeit (ca. 3–5 s). Ziel dieser Beatmungsstrategie ist, die intraalveoläre Lungenflüssigkeit in das pulmonale Lymphund Gefäßsystem zu pressen und somit, in Analogie zur Atemtechnik Neugeborener, eine funktionelle Residualkapazität herzustellen. Diese Maßnahme sollte unter Auskultationskontrolle erfolgen und in eine den Bedürfnissen des Neugeborenen angepasste assistierte Beatmung übergehen. Runde Silikonmasken eignen sich für die Maskenbeatmung am besten; sie erlauben eine optimale Abdichtung. Bei sehr kleinen Frühgeborenen, die postpartal nicht schreien, sollte sofort mit einer Beutel-Masken-Beatmung oder einem Beatmungssystem mit Druckbegrenzung begonnen werden, um eine hypoxisch bedingte Bradykardie und somit das Risiko von Fluktuationen des zerebralen Blutflusses zu vermeiden (Cave: Hirnblutung). Allerdings ist bei sehr kleinen Frühgeborenen mit unreifen Lungenstrukturen auf einen äußerst sensiblen Umgang mit der Beutel-Masken-Beatmung zu achten; durch inadäquat hohe Beatmungsvolumina und Beatmungsdrücke können folgenschwere Lungenverletzungen ausgelöst werden (7 Abschn. 87.3.4; bronchopulmonale Dysplasie). ! Cave Durch falsche Kopfposition oder fehlerhafte Maskenhaltung kann die Atemtätigkeit des Früh- und Neugeborenen unterdrückt werden (»Erstickung unter der Maske«)! Ebenso kann eine forcierte Maskenbeatmung zu einem Baro- und Volutrauma mit Schädigung der Alveolen führen; mögliche Komplikationen sind ein
iatrogenes pulmonales interstitielles Emphysem oder ein Pneumothorax.
Eine primäre Maskenbeatmung sollte bei folgenden Erkrankungen des Neugeborenen gänzlich vermieden werden: 4 Mekonium- und Blutaspiration, 4 Zwerchfellhernie, 4 schwerste postpartale Asphyxie. Diese Kinder werden abgesaugt bzw. sofort intubiert. Intubation. Bleibt ein Neugeborenes trotz Beutel-Masken-Beatmung apnoeisch oder bradykard, wird es umgehend endotracheal intubiert. Für die Gruppe sehr kleiner Frühgeborener ist inzwischen eindeutig belegt, dass die Vermeidung von postpartaler Hypoxie zu einer Reduktion der Inzidenz des Atemnotsyndroms und der Sterblichkeit beiträgt. Dennoch ist von einer grundsätzlichen Intubation dieser besonderen Patientengruppe abzuraten, da gerade bei sehr vitalen Frühgeborenen unter der Intubation transistorische hypoxämische Phasen und Störungen der zerebralen Zirkulation nicht auszuschließen sind. Es empfiehlt sich, die Intubation selektiv durchzuführen. Das Frühgeborene sollte unmittelbar nach der Geburt mit einem nasalen CPAP-System versehen werden und in Abhängigkeit vom Schweregrad der Atemnotsymptomatik innerhalb von Minuten intubiert werden. Während der Intubation muss eine kontinuierliche Überwachung der kindlichen Herzfrequenz und O2-Sättigung (Pulsoxymeter) erfolgen. Bei einer Bradykardie ist der Intubationsversuch unverzüglich abzubrechen und das Kind mit erneuter Beutel-Masken-Beatmung und adäquater O2-Zufuhr zu stabilisieren (Cave: Hyperoxie).
Komplikationen Die häufigsten Komplikationen im Verlauf der Intubation sind die Fehlpositionen des Tubus in den Ösophagus und eine einseitige Intubation des rechten Hauptbronchus; durch entsprechende Korrektur der Tubuslage sind diese Situationen leicht zu beheben. Ernsthafte Komplikationen stellen die Perforation des Ösophagus und Hypopharynx dar; tracheale Perforationen wurden durch Führungsstäbe von Endotrachealtuben beobachtet. Magenrupturen wurden nach Reanimation Neugeborener mit tracheoösophagealer Fistel beschrieben. Subglottische Stenosen können sich als chronische Komplikationen eines Intubationsschadens ausbilden. Naloxon. Neugeborene, deren Mütter unter der Geburt Opioide erhalten haben, fallen häufig durch einen fehlenden Atemantrieb nach der Geburt auf. Durch die intravenöse Gabe des Opioidantagonisten Naloxon (z. B. Narcanti neonatal) kann die atemdepressive Wirkung diaplazentar übergetretener Morphinderivate aufgehoben werden (Dosierung: 0,1 mg/kg KG). Da die Opioidanalgetika eine längere Halbwertszeit als Naloxon haben, muss mit symptomatischen Rebound-Effekten beim Kind gerechnet werden; sie erfordern wiederholte Gaben von Naloxon. ! Cave Kinder heroinabhängiger Mütter dürfen kein Naloxon erhalten, da schwerste akute Entzugserscheinungen ausgelöst werden können.
Stufe 3: Zusatzmaßnahmen bei insuffizienter Kreislauffunktion Da Bradykardien bei Neugeborenen in der Regel durch eine Hypoxie bedingt sind, lassen sich die meisten Kreislaufprobleme durch eine suffiziente Oxygenierung beheben. Besteht die Bradykardie
1121 87.2 · Perinatale Schäden und ihre Folgen
trotz ausreichender Lungenbelüftung fort, so sind weitere Maßnahmen wie extrathorakale Herzmassage, Adrenalingabe, Volumensubstitution und Azidosekorrektur angezeigt. Herzmassage. Eine externe Herzmassage sollte bei allen Neugebo-
renen durchgeführt werden, bei denen die Herzfrequenz unter 60 Schlägen/min liegt und die nach Beginn der adäquaten Ventilation nicht mit einem Anstieg der Herzfrequenz reagieren. Bei einer der möglichen Techniken wird der Thorax des Kindes von beiden Seiten umfasst und das Sternum 1 Querfinger unterhalb der Intermamillarlinie mit einer Frequenz von 120/min um 1–2 cm komprimiert. Diese Art der Herzmassage stellt die effektivste Maßnahme zur Aufrechterhaltung der Kreislauffunktion dar, sie setzt aber voraus, dass zwei in der Reanimation Neugeborener erfahrene Personen die kardiozirkulatorische und respiratorische Reanimation durchführen. Eine Einzelperson ist gezwungen, durch Sternumkompression mit 2 Fingern eine wirksame Herzmassage und gleichzeitig eine effiziente Beatmung zu gewährleisten. > Es wird derzeit ein Verhältnis von 3 Herzkompressionen zu 1 Beatmung empfohlen.
Praktisches Vorgehen bei der Neugeborenenreanimation 4 Basismaßnahmen – Adäquate Wärmezufuhr; Abtrocknen und Zudecken des Neugeborenen – Luftwege freimachen (Mund vor Nase gezielt absaugen) – Auskultation (Stethoskop) – Beutel-Masken-Beatmung (O2-Zufuhr: 21–100=%), initiale »Blähatmung« (3–5 s), danach assistierte Beatmung (Beatmungsfrequenz 40–60/min) 4 Bei Apnoe und/oder Bradykardie (Herzfrequenz 60–80/ min unter Beutel-Masken-Beatmung) – Endotracheale Intubation (Tubus: 2,0–3,5 mm) – Herzmassage; Verhältnis Kompression zu Beatmung 3:1 – Bei Bedarf Suprarenin 0,01–0,03 mg/kg/KG i.v. – Eventuell Natriumbikarbonat 8,4% (1:1 mit Aqua pro inj. verdünnt), 1(–3) mmol/kg KG sehr langsam i.v. 4 Eventuell Nabelvenenkatheter, Volumenzufuhr (isotone Kochsalzlösung, Blut; 10–15 ml/kg KG)
Trotz wirksamer Herzmassage muss die Ursache der Bradykardie rasch erkannt und wenn möglich kausal behandelt werden. Adrenalin. Besteht die Bradykardie trotz ausreichender Lungenbe-
lüftung fort, so wird Suprarenin über die katheterisierte Nabelvene oder eine periphere Vene (0,01–0,03 mg/kg/KG) appliziert. Ist kein Gefäßzugang möglich, so sollte Adrenalin (0,1–0,3 ml/kg/KG in einer Verdünnung von 1:10.000) über den endotrachealen Tubus verabreicht werden. Intrakardiale Injektionen sind obsolet. Die Wirkung von Adrenalin wird durch die bestehende Azidose eingeschränkt. Natriumbikarbonat. Die Indikation für die Gabe von Natriumbikarbonat ist nur bei schwerer protrahierter metabolischer Azidose z. B. nach intrauteriner Hypoxie und nach längerdauernden Reanimationsmaßnahmen, insbesondere bei schlechtem Ansprechen auf Adrenalin indiziert. Die Gabe von Natriumbikarbonat erfolgt intravenös in einer mindestens 1:1 verdünnten Lösung (Aqua dest.) und über einen längeren Zeitraum – über 15 min bei Neugeborenen und über Stunden bei Frühgeborenen – (Initialdosis: 1–3 mval NaHCO3/ kg KG). Da Natriumbikarbonat 8,4% hyperosmolar ist, besteht die Gefahr, dass Frühgeborene im Rahmen der Serumosmolalitätspitzen und -schwankungen eine Hirnblutung entwickeln. Eine Bikarbonatbehandlung verbietet sich bei einer ausgeprägten respiratorischen Azidose. Volumengabe. Bei anamnestischem und klinischem Verdacht auf einen akuten Blutverlust sollte unverzüglich Volumen zugeführt werden. Für eine initiale Volumensubstitution bietet sich isotone Kochsalzlösung (10–15 ml/kg KG) an. Als effektivste Maßnahme ist unter kritischer Indikationsstellung die Gabe von rhesusnegativem, lysinfreiem Erythrozytenkonzentrat (10–15 ml/kg KG) anzusehen. Eine entsprechende Notfallkonserve, die ohne Kreuzprobe transfundiert werden kann, sollte heute für Risikosituationen unmittelbar nach der Geburt verfügbar sein; bei hämorrhagischem Schock ist die Transfusion bis zu einer Stabilisierung des kindlichen Zustands fortzuführen. In der 7 Übersicht sind sämtliche Schritte der Reanimation zusammengefasst.
87.2
Perinatale Schäden und ihre Folgen P. Groneck
87.2.1
Asphyxie
Perinatale Asphyxie bedeutet einen Insult für den Fetus oder das Neugeborene, bedingt durch eine Hypoxie und/oder Ischämie mit begleitender Azidose vor oder unter der Geburt, der zu einer stark gestörten postnatalen kardiorespiratorischen Adaptation führt.
Pathophysiologie Antenatal kann eine Beeinträchtigung des Fetus durch plazentare Insuffizienz, maternale Infektionen oder Blutungen bedingt sein.
Risikofaktoren für eine Asphyxie unter der Geburt 4 Maternale Erkrankungen: – Hypertension, Hypotension, Diabetes, Infektion, andere Grunderkrankung 4 Plazentare Auffälligkeiten: – Chorioamnionitis, Infarzierung, Fibrose, vorzeitige Lösung 4 Nabelschnurzwischenfälle: – Prolaps, Knoten, Kompression, Insertio velamentosa mit Gefäßriss 4 Fetale Ursachen: – Frühgeburtlichkeit, Infektion, Wachstumsrestriktion, Übertragung
Die auslösenden Faktoren führen zu einer Bradykardie, Hypotension, verminderten Herzauswurfleistung und metabolischen Azidose. Das Ausmaß einer Asphyxie zeigt sich an der Schnelligkeit, mit der ein asphyktisches Kind auf Reanimationsmaßnahmen reagiert. Untersuchungen beim Versuchstier zeigen eine typische Sequenz nach einer experimentell induzierten Hypoxie: Nach einigen heftigen Atemzügen kommt es zu einer Phase der primären Apnoe, begleitet von einer Bradykardie. In dieser Situation lassen sich die
87
1122
87 87 87 87 87 87 87 87 87 87 87 87 87 87 87 87 87 87 87 87 87
Kapitel 87 · Intensivmedizin bei Früh- und Neugeborenen
Tiere oft durch einfache taktile Maßnahmen zur Atmungsaufnahme stimulieren, unter der es auch zum Anstieg der Herzfrequenz kommt. Bei weitergehender Hypoxie folgt eine Phase mit erneuten heftigen Atemzügen, die schließlich sistieren und in eine terminale Apnoe übergehen. In dieser Phase ist das Tier schwer deprimiert, azidotisch, bradykard, und bedarf der intensiven kardiopulmonalen Reanimation. Formen der fetalen Depression, bei denen eine ausreichende kardiorespiratorische Adaptation nach taktiler Stimulation oder kurzfristiger Maskenbeatmung zu erreichen ist, können also nicht als schwere perinatale Asphyxie bezeichnet werden.
Klinik Eine pränatale Hypoxie/Ischämie kann sich durch Auffälligkeiten im Kardiotokogramm äußern. Bei einer perinatalen Hypoxie/Ischämie präsentiert sich das Kind klinisch unter einer stark gestörten kardiorespiratorischen Adaptation nach der Geburt: es ist bradykard, zyanotisch, apnoisch, hypoton, bewegungslos und bedarf der Reanimation. Der Apgar-Score ist eine gute und brauchbare Zustandsbeschreibung der kardiopulmonalen Adaptation nach der Geburt. Ein niedriger Score zeigt die Notwendigkeit von Reanimationsmaßnahmen an, ist aber kein sicherer Indikator für eine perinatale Asphyxie (= Hypoxie/Ischämie + Azidose) und allein auch kein Prognosekriterium für die Entwicklung einer Zerebralparese. Ansteigende Werte unter der Reanimation geben Hinweis auf den Erfolg der durchgeführten Maßnahmen. Kinder mit einer für die Prognose relevanten Asphyxie unter der Geburt zeigen in der Regel folgende Störungen: 4 eine schwere Azidose im Nabelschnurblut (10 min), 4 Symptome der hypoxisch-ischämischen Enzephalopathie (7 Abschn. 87.2.2), d. h. neonatale neurologische Symptome einschließlich Krampfanfälle, 4 hypoxisch-ischämisch bedingte Funktionsstörungen anderer Zielorgane.
Zielorgane der Asphyxie Hypoxisch-ischämische Läsionen können sich an verschiedenen Organsystemen manifestieren (% Häufigkeit): 4 Niere: 50%, Oligurie bis Anurie. Genaue Flüssigkeitsbilanz! Vorsicht bei nephrotoxischen Medikamenten. 4 ZNS: 28%, hypoxisch-ischämische Enzephalopathie. 4 Herz: 25%, postasphyktische Kardiomyopathie mit schlechter Herzauswurfleistung, niedriger Blutdruck! Diagnose durch Echokardiographie. 4 Lunge: 23%, postasphyktische Lungenkrankheit vom ARDSTyp oder pulmonale Hypertension, Echokardiographie). 4 Leber: Transaminasenanstieg, Produktionskoagulopathie, später Cholestase. 4 Mikrozirkulation: disseminierte intravasale Gerinnung mit Thrombozytenabfall.
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Differenzialdiagnose
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Eine nicht asphyxiebedingte postnatale Beeinträchtigung der Atmung kann in folgenden Situationen beobachtet werden:
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Massiver Vagusreiz. Bei einem massiven Vagusreiz aufgrund einer
fetalen Kopfkompression oder Zug an der Nabelschnur bei Entwicklung ist der Nabelarterien-pH-Wert meist normal, d. h. >7,2, das Kind bradykard und atemdeprimiert (niedriger 1-min- und ggf.
5-min-Apgar-Wert), reagiert aber sofort und anhaltend auf Maskenbeatmung. Anschließend finden sich keine Hinweise auf neurologische Beeinträchtigung, Spontanatmung, Spontanmotorik, Muskeltonus und Blutdruck sind normal. Diese Kinder müssen postnatal beobachtet werden. Blutdruck, klinisch-neurologische Symptome und Schädelsonographie müssen registriert werden, eine Therapie ist nicht erforderlich. Anästhetika. Fetale Atemdepression aufgrund von Auswirkungen
der maternalen Anästhesie oder anderer Medikamente (MgSO4): guter Nabelarterien-pH-Wert, fehlende Spontanatmung, schnelles Ansprechen auf Reanimationsmaßnahmen, jedoch auch nach Intubation und Beatmung wenig Spontanatmung und -motorik. Weitere Ursachen
4 Neuromuskuläre Erkrankung des Neugeborenen: Symptomatik wie bei Anästhetika, 4 ZNS-Missbildung oder -trauma, spinales Trauma: Symptomatik wie bei Anästhetika, 4 Larynx-/Tracheamissbildung, Lungenhypoplasie, Zwerchfellhernie, Pleuraerguss: oft guter Nabelarterien-pH-Wert, jedoch postnatal ausgeprägte Zyanose bei meist anfangs noch regem Kind, 4 fetale Infektion: variable Werte für Nabelarterien-pH-Wert und Reaktion auf Reanimationsmaßnahmen je nach fetaler Beeinträchtigung. Neugeborene mit zyanotischen Vitien sind selten unmittelbar postnatal auffällig. Die Kinder adaptieren sich in der Regel gut und werden, wenn die Lungenperfusion Ductus-abhängig ist, erst bei Verschluss des Ductus arteriosus Botalli zyanotisch. Eine Gruppe von Neugeborenen weist bei der Geburt eine ausgeprägte Azidose auf (pH-Wert 90% zu halten. Persistiert dieser Sauerstoffbedarf bis zum postkonzeptionellen Alter von 36 Wochen, so liegt eine moderate BPD vor. Bei einer schweren BPD besteht zu diesem Zeitpunkt die Notwendigkeit einer Atemhilfe (CPAP oder maschinelle Beatmung) oder ein erhöhter Sauerstoffbedarf (FIO2>0,35).
Pathogenese Die BPD ist eine chronische Lungenkrankheit Frühgeborener. Grundvoraussetzung für die Entstehung ist die Unreife der Lunge, die sowohl die anatomischen Stukturen als auch funktionelle Systeme betrifft: Das Surfactant-System, Enzyme zur O2-Detoxifikation (Superoxiddismutase, Katalase, Glutathionperoxidase) sowie notwendige Faktoren zur Epithelregeneration (Vitamin A). Bestimmte, meist nicht vermeidbare Noxen wie erhöhte O2Zufuhr, mechanisches Beatmungstrauma, eine pränatale Chorioamnionitis, insbesondere Infektionen mit Ureaplasma urealyticum, postnatale pulmonale und systemische Infektionen, hohes Flüssigkeitsangebot, eine pulmonale Hyperperfusion bei offenem Ductus arteriosus u. a. führen zu einer akuten Lungenläsion. Dabei besteht zumeist eine gesteigerte pulmonale mikrovaskuläre Permeabilität, wahrscheinlich aufgrund einer persistierenden Entzündungsreaktion. Die Folge ist eine abnorme Lungenentwicklung mit einer Beeinträchtigung der Alveolarisierung und Vaskularisierung der sich entwickelnden Lunge. Bei anhaltender Exposition gegenüber den Noxen wird der normale Gewebereparaturprozess in der Lunge gestört, es kommt zur Ausbildung einer interstitiellen Fibrose und eines Lungenemphysems. Die Pulmonalgefäße sind durch diesen Umbauprozess ebenfalls betroffen, sie sind rarefiziert und zeigen eine Mediahypertrophie. Die Folge kann ein ausgeprägter pulmonaler Hypertonus sein. Für die Entwicklung einer BPD ist häufig ein Atemnotsyndrom in den ersten Lebenstagen verantwortlich, aber keine unabdingbare Voraussetzung. Ein Teil der sehr unreifen Frühgeborenen entwickelt eine BPD auch bei initial offenbar gesunder Lunge. Eine pränatale fetale Inflammationsreaktion im Rahmen einer Chorioamnionitis, postnatale systemische Infektionen oder ein persistierender Ductus arteriosus können dabei ursächlich beteiligt sein. Unterschiedliche therapeutische Praktiken (Flüssigkeitszufuhr, Indikation zur mechanischen Beatmung) haben einen deutlichen Einfluss auf die Inzidenz der BPD.
Klinik Kinder mit einer BPD zeigen die folgenden klinischen Symptome: 4 Sie lassen sich schwer von der Beatmung entwöhnen. 4 Sie haben nach der Extubation eine persistierende Atemnot mit anhaltendem O2-Bedarf, sternalen und kostalen Einziehungen und einer Tachypnoe. 4 Oft besteht eine kardiopulmonale Instabilität mit Neigung zu häufigen O2-Sättigungsabfällen und Bradykardien. 4 Es findet sich ein typisches radiologisches Bild in Form von fleckig-steifigen röntgendichten Veränderungen in Abwechslung mit Regionen erhöhter Strahlentransparenz oder zystisch-
. Abb. 87.7 BPD Stadium IV nach Northway: diffus über beide Lungen verteilte ausgeprägte zystische Aufhellungen sowie streifig-fleckförmige Verdichtungen
emphysematösen Bereichen. Die Veränderungen werden nach Northway in verschiedene Stadien (I‒IV) eingeteilt (. Abb. 87.7).
Prävention Prinzipiell ist die Prävention der BPD erstes Ziel. Wichtige Maßnahmen sind in der 7 Übersicht aufgeführt. Allgemeine Maßnahmen zur Prävention der bronchopulmonalen Dysplasie 4 Pränatale Steroidbehandlung. 4 Frühzeitige Surfactant-Therapie bei Vorliegen eines Atemnotsyndroms. 4 Frühzeitige Behandlung eines klinisch relevanten offenen Ductus arteriosus. 4 Vermeidung einer Flüssigkeitsüberladung. 4 Niedrigste mögliche Beatmungsunterstützung zur Aufrechterhaltung eines ausreichenden Gasaus-tauschs. 4 Falls möglich, frühzeitige Extubation und CPAP-Behandlung. 4 Gewährleistung einer ausreichenden Ernährung (parenteral/enteral) sowie Versorgung mit Spurenelementen und Vitaminen. Die intramuskuläre Verabreichung von Vitamin A in einer Dosis von 5000 IE 3-mal/Woche führt zu einer mäßiggradigen, aber signifikanten Senkung der BPD-Rate. 4 Lichtschutz von parenteral zugeführten Lipidlösungen, um die Bildung toxischer Lipidhydroperoxide zu vermeiden. 4 Die Bedeutung der Behandlung einer pulmonalen Ureaplasmenbesiedlung bei der Geburt auf die Entwicklung einer BPD ist noch nicht endgültig geklärt. Bei Besiedlung und anhaltenden pulmonalen Problemen des Kindes ist eine Behandlung mit Erythromycin zu erwägen. 4 Die prophylaktische Behandlung mit Coffein ab dem 3. Lebenstag zur Therapie von Apnoen senkt signifikant das Risiko, eine BPD zu entwickeln.
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Kapitel 87 · Intensivmedizin bei Früh- und Neugeborenen
Therapie Flüssigkeitreduktion. Bei klinischen Symptomen einer BPD sollte
eine Reduktion der Flüssigkeitszufuhr angestrebt werden.
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Diuretika. Diuretika verbessern die Lungenfunktion und den Gas-
austausch bei Frühgeborenen mit Symptomen einer BPD. Die Wirkung beruht offenbar auf einer Verminderung des Lungenwassers. Die Wirkung hält für ca. 8 Wochen an. Aufgrund der Kalziurie ist die Anwendung von Furosemid jedoch problematisch, da sich eine Nephrokalzinose entwickeln kann. Dexamethason. Unter einer Behandlung mit Dexamethason kommt es zu einer Verminderung des pulmonalen Wassergehaltes, zu einem Anstieg der Compliance und zu einer Verbesserung des Gasaustausches. Die Therapie ermöglicht innerhalb von 2–5 Tagen bei der Mehrzahl der behandelten beatmeten Patienten eine Extubation. Der Effekt ist möglicherweise bedingt durch eine Abnahme der pulmonalen Entzündungsreaktion sowie der mikrovaskulären Permeabilität der Lunge. Dexamethason hat eine Fülle von Nebenwirkungen und ungünstigen Langzeiteffekten. Insbesondere sind die Auswirkungen auf die Lungenentwicklung und die Hirnentwicklung nicht geklärt. Alarmierend sind die bisherigen Ergebnisse von Nachuntersuchungen Frühgeborener, die eine sehr frühe oder sehr lange postnatale Kortikosteroidtherapie erhalten haben: Es wurde ein deutlich erhöhtes Risiko für eine beeinträchtige neurologische und kognitive Entwicklung festgestellt. Offenbar werden die kurz- bis mittelfristigen Vorteile einer postnatalen Glukokortikoidtherapie mit langfristigen erheblichen Nachteilen erkauft. Glukokortikoide sollten daher postnatal nur noch in lebensbedrohlichen Situationen eingesetzt sowie die Dosis und die Therapiedauer deutlich reduziert werden. Inhalative Steroide werden zur Prophylaxe einer BPD nicht empfohlen. Bei manifester Erkrankung kann die topische Steroidbehandlung erwogen werden. Bronchodilatatoren. Bei pulmonaler Obstruktion oder radiologi-
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schem Nachweis emphysematöser Veränderungen können inhalative oder systemische Bronchodilatatoren eingesetzt werden. O2-Gabe. Bei etablierter BPD, insbesondere bei schweren Verläu-
fen, besteht eine deutliche Mediahypertrophie der Pulmonalgefäße. In dieser Situation sollte O2 nicht zu niedrig dosiert werden, um die Entwicklung bzw. Zunahme einer pulmonalen Hypertonie zu vermeiden (SO2 >92%, pO2 >55 mm Hg). Eine ausreichende O2-Zufuhr ist ebenfalls erforderlich für eine befriedigende Gewichtszunahme. Die regelmäßige echokardiographische Überwachung zur Beurteilung des Lungengefäßwiderstandes ist notwendig.
Prognose In den meisten Fällen kommt es zu einer Reparatur der pulmonalen Veränderungen, erkennbar am Rückgang der Atemnotsymptomatik und des O2-Bedarfs. Nur wenige Kinder benötigen auch zum Zeitpunkt der Entlassung aus der Klinik noch O2 und erhalten eine entsprechende häusliche Therapie, die in der Regel nicht länger als 3–6 Monate erforderlich ist. Einzelne Kinder lassen sich nicht von der Beatmung entwöhnen oder müssen nach Spontanatmungsphasen reintubiert werden und sterben an der Beatmung. Kinder mit BPD sind stark anfällig für eine RSV-Bronchiolitis, auch im Rahmen einer nosokomialen Infektion im Krankenhaus. Diese Infektion kann bei BPD-Patienten zu einem lebensbedrohlichen Krankheitsbild führen. Weiterhin haben Kinder mit BPD nicht selten ein hyperreagibles Bronchialsystem und erkranken innerhalb der ersten 2 Le-
bensjahre häufig an einer obstruktiven Bronchitis. Störungen der Lungenfunktion (reversible oder fixierte Obstruktionen, erhöhtes intrathorakales Gasvolumen) sind bis ins Erwachsenenalter nachweisbar. In der Regel sind die Kinder jedoch körperlich später gut belastbar und in der Lage, Sport zu treiben.
87.3.4
Retinopathia praematurorum (ROP) P. Groneck
Definition und Pathogenese Die »retinopathy of prematurity« (ROP) ist eine multifaktorielle vasoproliferative Netzhauterkrankung, deren Inzidenz und Schweregrad mit zunehmender Unreife ebenfalls zunimmt. 10% der Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht unter 1750 g, aber fast 80% aller Kinder unter 1000 g entwickeln irgendeine Form dieser Erkrankung. Dies führt bei 1% bzw. 5% zu einer erheblichen Visuseinschränkung. Die ROP ist die häufigste Ursache von Blindheit bei Kindern unter 6 Jahren. Risikofaktoren für die ROP-Entwicklung sind, neben der Unreife, postnatale Situationen, die entweder mit einer retinalen Minderperfusion oder einem erhöhten retinalen O2-Angebot einhergehen: Hyperoxie, beatmungsbedingte Hypokapnie, Hypotension bei Sepsis, rezidivierende Apnoen, persistierender Ductus arteriosus, Hyperkapnie. Die Erkrankung ist intensivmedizinisch relevant, da die Vermeidung bzw. adäquate Behandlung dieser Situationen für die Entstehung der Retinopathie von Bedeutung ist. Die genannten Risikofaktoren beeinträchtigen die Perfusion der Retina, die bei sehr unreifen Frühgeborenen noch nicht vollständig vaskularisiert ist. Die Gefäßversorgung der Netzhaut entwickelt sich ab der 16. Woche von der Optikusscheibe aus und ist erst am Termin abgeschlossen. Bei der Pathogenese der Erkrankung werden unterschieden 4 Eine Phase des primären Insults (relative retinale Hyperoxie), die zu einer Vasokonstriktion mit Stillstand der Gefäßentwicklung führt (Verminderung der Expression retinaler Wachstumsfaktoren wie VEGF und IGF-1). 4 Eine Phase der relativen retinalen Ischämie, auf die durch erneute Produktion von VEGF und IGF-1 eine Neovaskularisierung folgt. Die Gefäße wachsen in den Glaskörper ein, aufgrund einer vermehrten Permeabilität kann es zu Blutungen und Ödembildung kommen. 4 Eine Phase der Narbenbildung. Mit den Gefäßzellen kommt es zur Neubildung von Fibroblasten mit kontraktilen Elementen. Diese neovaskulären Elemente durchsetzen den Glaskörper, durch narbige Kontraktion kann die Retina, an denen das Gewebe anheftet, abgehoben werden. Bei völliger Ablösung der Netzhaut und massiver narbiger Kontraktion bildet die Retina ein retrolental gelegenes tunnelartiges Gebilde, das mit Narbengewebe durchsetzt ist.
Diagnose Typische klinische Symptome zeigen sich nicht während der ROPEntwicklung. Aus diesem Grund sind v. a. bei kranken, intensivbehandelten Frühgeborenen regelmäßige ophthalmologische Kontrolluntersuchungen des Augenhintergrundes notwendig. Der Zeitpunkt des Auftretens hängt von der retinalen Gefäßentwicklung und somit vom postkonzeptionellen Alter ab. Der Median des Auftretens der ersten Veränderungen ist die 34. Woche, der ersten Proliferationen die 36. Woche. Um eine Retinopathie nicht zu übersehen, sollte die Erstuntersuchung bei Kindern unter 1000 g im Alter von 6 Wochen oder in
1129 87.3 · Das Frühgeborene
der 32. Woche p.c. erfolgen, bei Kindern zwische 1000–1500 g im Alter von 4 Wochen. Kontrolluntersuchungen werden je nach Befund alle 7–14 Tage durchgeführt, bis die Netzhautvaskularisierung abgeschlossen ist.
Verlauf und Prognose Die meisten Kinder mit leichtgradigen Erkrankungen zeigen eine Regression. Bei ausgeprägter Fibroplasie ist die Prognose schlecht. Das Risiko für eine Erblindung beträgt bei Frühgeborenen unter 750 g 5–9%, unter 1000 g 2% und über 1000 g 0,1%.
Prävention und Therapie Eine sicher wirksame Prävention der ROP besteht nicht. Notwendig ist die Überwachung der O2-Zufuhr. Sie erfolgt bei kleinen Frühgeborenen vorzugweise über den transkutan gemessenen pO2. Anzustreben ist ein pO2 35 mm Hg die Vasokonstriktion pulmonaler Gefäße möglicherweise aufgehoben werden. Die früher geübte Hyperventilationstherapie mit pCO2 34 Wochen Geburtsgewicht >2,0 kg KG Keine Gerinnungsstörung Fehlendes Ansprechen auf alle erwähnten therapeutischen Maßnahmen 4 Modifizierter Oxygenierungsindex (Ol) von 25–40 – Ol=mittlerer Atemwegsdruck [cm H2O]×FIO2×100/paO2 [mm Hg]
Prognose Die neonatale Sterblichkeit der PPH liegt bei 20–30%. In den wenigen Langzeituntersuchungen der überlebenden Kinder wird deutlich, dass nur ca. 40% diese Erkrankung unbeschadet überstehen;
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die restlichen Patienten weisen neurologische Folgeschäden in unterschiedlichster Ausprägung auf. Bei 20% der Kinder wurde ein neurosensorischer Hörverlust diagnostiziert.
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87.4.9
Lungenblutung
Eine akute, von den Alveolen ausgehende Lungenblutung, tritt überwiegend bei Frühgeborenen und hypotrophen Neugeborenen auf, die an verschiedensten Erkrankungen der Neonatalperiode leiden. Während bei mehr als 10% verstorbener Neugeborener eine Lungenblutung autopisch diagnostiziert wird, entwickelt sich dieses lebensbedrohliche Ereignis bei weniger als 5% aller Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht von >1500 g auf, die an einem Atemnotsyndrom erkrankt sind.
Ätiologie Prädisponierende Faktoren für eine Lungenblutung sind eine neonatale Streptokokkenpneumonie, die perinatale Asphyxie, Hypothermie, Azidose, Hypoglykämie, Gerinnungsstörungen, Herzversagen, PDA, schwere Erythroblastose, Surfactant-Therapie und O2-Toxizität.
Klinik Akute Blutung aus Mund, Nase und den Atemwegen mit rasch progredientem Kreislauf- und Atmungsversagen. In den Thoraxröntgenaufnahmen zeigt sich eine zunehmende Verdichtung der Lunge.
Therapie Unverzügliche Stabilisierung der Beatmungs- und Kreislaufsituation mit allen zur Verfügung stehenden intensivmedizinischen Maßnahmen sowie – wenn immer möglich – Behandlung der Grundstörung. Die durch die Lungenblutung induzierte Inaktivierung des endogenen Surfactant-Systems kann durch hohe Dosen natürlicher exogener Surfactant-Präparate wirksam behandelt werden.
. Abb. 87.15 Beidseitiger ausgeprägter Pleuraerguss. Nach Punktion Nachweis von mehr als 90% mononukleären Zellen (Lymphozyten). Diagnose: linksseitiger Chylothorax
serumähnliche Pleuraflüssigkeit mehrere Tausend Leukozyten/μl, mehr als 90% sind mononukleäre Zellen (Lymphozyten). Nach Milchernährung nimmt die Pleuraflüssigkeit eine weißliche, typisch chylöse Farbe an.
Therapie und Prognose Die kontinuierliche Ableitung der chylösen Flüssigkeit führt bei den meisten Kindern zu einer Ausheilung. Es treten aber z. T. erhebliche Eiweißantikörper- und Lymphozytenverluste auf. Eine orale Ernährung mit mittelkettigen Triglyzeriden reduziert die Chylusproduktion. Bei den meisten Formen eines Chylothorax kann man von einer sich selbst begrenzenden Erkrankung ausgehen. Selten werden Versuche chirurgischer Korrekturmaßnahmen oder intraperitoneale Shuntableitung, allerdings mit unsicherem Ausgang nötig.
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87.4.10
Chylothorax
87.4.11
Obstruktion der oberen Atemwege
Unter Chylothorax wird eine Ansammlung von chylöser Flüssigkeit im Pleuraraum verstanden (. Abb. 87.15).
Angeborene Obstruktionen der oberen Luftwege gehen häufig mit akuter unmittelbar postpartal auftretender Atemnot einher.
Epidemiologie
Ätiologie, Pathogenese und Therapie Da Neugeborene für eine suffiziente Ventilation auf eine ungehinderte Nasenatmung angewiesen sind, führen sämtliche anatomische und funktionelle Obstruktionen der oberen Luftwege zu einer akuten Atemnotsymptomatik.
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Ein angeborener Chylothorax ist ein seltenes Ereignis; häufiger werden erworbene Ansammlungen chylöser Flüssigkeit nach kardiochirurgischen Eingriffen beobachtet. Als Folge parenteraler Langzeiternährung über einen zentralen Venenkatheter wurden Thrombosierungen der oberen Hohlvene und sekundärem Chylothorax beschrieben.
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Ätiologie und Pathogenese
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Die Ursache für die Entstehung eines angeborenen Chylothorax ist unklar; es wird ein angeborener Defekt des Ductus thoracicus vermutet. Bei Neugeborenen mit Down-, Noonan- und Turner-Syndrom sowie bei Hydrops fetalis tritt gelegentlich ein Chylothorax auf; ebenso wurde nach Geburtstraumata die Entwicklung chylöser Effusionen beobachtet.
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Klinik und Diagnostik
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Die Neugeborenen fallen unmittelbar postnatal oder innerhalb der ersten Lebenstage durch mehr oder minder ausgeprägte Zeichen der Atemnot auf. Vor Beginn einer oralen Ernährung enthält die
Choanalatresie, Pierre-Robin-Sequenz Trotz deutlicher Atemexkursionen unmittelbar nach der Geburt können Neugeborene mit Choanalatresie oder Pierre-Robin-Sequenz (Mikrognathie, Glossoptose, Gaumenspalte) kein adäquates Atemzugvolumen aufbauen. Diese bedrohliche Situation ist durch Einführen eines passenden Guedel-Tubus häufig akut zu beheben. Die Bauchlage kann das Zurückfallen der Zunge bei Neugeborenen mit Pierre-Robin-Sequenz häufig verhindern und die Luftnotsymptomatik verbessern. Eine frühe, dem individuellen Befund angepasste kieferorthopädische Behandlung mit einer speziellen Gaumenplatte, die einen posterioren Bügel oder Sporn zur Verhinderung der Glossoptose aufweisen sollte, sowie selten chirurgische Maßnahmen können langfristig zu einer Ausheilung der Fehlbildung führen.
1141 87.5 · Bluterkrankungen
Larynx- und Trachealatresien Beide Fehlbildungen verlaufen meist letal. Der kongenitale laryngeale Stridor auf dem Boden einer Laryngomalazie heilt bei den meisten Kindern im Verlauf des 1. Lebensjahres aus. Subglottische Stenose Schwieriger gestaltet sich die Behandlung einer kongenitalen oder häufig durch prolongierte Intubation oder Intubationsschäden erworbenen subglottischen Stenose. Bei dieser Problematik können langwierige tracheale Dilatationen, Lasertherapien oder auch laryngotracheale Rekonstruktionen angezeigt sein.
87.5
Bluterkrankungen C.P. Speer
87.5.1
Fetale Erythropoese
Physiologische Besonderheiten Die Erythropoese, die am 20. Gestationstag beginnt, findet in der Fetalzeit überwiegend in Leber und Milz statt. Erst im letzten Trimenon wird das Knochenmark zum Hauptbildungsort der Erythropoese. Die Hämoglobinkonzentration steigt von 8–10 g/dl im Alter von 12 Gestationswochen auf 16,5–20 g/dl im Alter von 40 Gestationswochen an. Nach einem kurzen postpartalen Anstieg der Hämoglobinkonzentration innerhalb von 6–12 Lebensstunden fällt sie kontinuierlich auf 10 g/dl im Alter von 3–6 Monaten ab. Frühgeborene unterhalb der 32. Gestationswoche haben niedrigere Ausgangshämoglobinkonzentrationen und erfahren einen schnelleren Abfall der Hämoglobinkonzentration; der Tiefpunkt ist 1–2 Monate nach der Geburt erreicht. Während dieser physiologischen Anämisierung lässt sich kaum Erythropoetin im Plasma nachweisen.
Besonderheiten fetaler Erythrozyten Fetale und neonatale Erythrozyten weisen eine kürzere Überlebenszeit (70–90 Tage) und ein größeres mittleres korpuskuläres Volumen auf (MCV 110–120 fl) als Erythrozyten Erwachsener. In den ersten Tagen nach der Geburt besteht in der Regel eine Retikulozytose von 50–120‰. Die Erythrozyten enthalten überwiegend fetales Hämoglobin F, das aus zwei α-Ketten und zwei γ-Ketten besteht. Unmittelbar vor der Geburt setzt bei einem reifen Neugeborenen die Synthese von β-Hämoglobinketten und damit adultem Hämoglobin ein (zwei α-Ketten und zwei β-Ketten). Zum Zeitpunkt der Geburt enthalten die Erythrozyten reifer Neugeborener 60–90% fetales Hämoglobin; diese Konzentration sinkt bis zum Alter von 4 Monaten auf 22 g/dl) verstanden, der unter dem Bild eines Hyperviskositätssyndroms zu einem Anstieg der Blutviskosität, zur vaskulären Stase mit Mikrothrombosierung, zu Hypoperfusion und zur Ischämie von Organen führen kann.
Ätiologie Etwa 3–5% aller Neugeborenen weisen nach der Geburt einen Hkt von >65% auf. Risikokollektive sind reife oder postmature hypotrophe Neugeborene (intrauterine Wachstumsrestriktion, chronische fetale Hypoxie), Patienten nach fetofetaler oder maternofetaler Transfusion, Neugeborene nach später Abnabelung, Kinder diabetischer Mütter, Nikotinabusus während der Schwangerschaft, Neugeborene mit Hyperthyreose oder Kinder mit angeborenen Erkrankungen (adrenogenitales Syndrom, Trisomie 21, BeckwithWiedemann-Syndrom). Bei einem Hkt-Wert von >65% steigt die Blutviskosität exponentiell an.
Klinik
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4 Oligurie, 4 Hämaturie 4 Nierenversagen.
Die klinische Symptomatik ist außerordentlich vielfältig und reflektiert die Mikrozirkulationsstörungen und manifesten Durchblutungsstörungen der betroffenen Organsysteme. Die Neugeborenen fallen häufig durch ihr plethorisches oder auch blass-graues Hautkolorit und eine Belastungszyanose auf. Daneben finden sich Hyperexzitabilität, Myoklonie, Hypotonie, Lethargie und zerebrale Krampfanfälle. Bei einigen Kindern steht die kardiopulmonale und renale Symptomatik im Vordergrund: 4 Atemnotsyndrom, 4 persistierende pulmonale Hypertonie mit PFC-Syndrom, 4 Herzinsuffizienz,
Mit einer AB0-Unverträglichkeit ist bei ca. 1 von 200 Neugeborenen zu rechnen. Im Gegensatz zur Rh-Inkompatibilität tritt die AB0-Erythroblastose häufig in der ersten Schwangerschaft auf. Mütter mit der Blutgruppe 0 haben natürlich vorkommende AntiA- und Anti-B-Antikörper (Isoagglutinine), die zur Gruppe der IgM-Antikörper gehören und deshalb nicht die Plazenta passieren. Dennoch bilden einige Schwangere plazentagängige IgG-Antikörper, die gegen die kindliche Blutgruppeneigenschaft A, B oder AB gerichtet sind. Die mütterliche IgG-Antikörperbildung kann vermutlich durch exogene Ursachen, wie z. B. Darmparasiten, stimuliert werden. Als weitere Ursache wird der Übertritt kindlicher Erythrozyten in die mütterliche Zirkulation vermutet, da die Antigenität der kindlichen Blutgruppeneigenschaften erst gegen Ende der Schwangerschaft voll ausgebildet ist. So erklärt sich der im Vergleich zur Rh-Inkompatibilität milde Verlauf der hämolytischen Erkrankung beim ersten Neugeborenen sowie die Tatsache, dass Frühgeborene nur extrem selten an einer AB0-Inkompatibilität erkranken. Der Schweregrad der hämolytischen Erkrankung Neugeborener nimmt bei nachfolgenden Schwangerschaften in der Regel nicht zu. Der Grund liegt vermutlich in einer Suppression der IgG-Antikörperbildung durch die natürlich vorkommenden IgM-Anti-Aoder Anti-B-Antikörper.
Klinik Die Neugeborenen weisen meistens nur eine geringgradige Anämie auf; es besteht nur selten eine Hepatosplenomegalie; die Kinder entwickeln keinen Hydrops. Im peripheren Blut finden sich neben Retikulozyten und Erythroblasten als Ausdruck der gesteigerten Erythropoese Sphärozyten, die infolge der komplementvermittelten Hämolyse durch Fragmentation entstehen. Erkrankte Neugeborene sind lediglich durch die Hyperbilirubinämie und das damit verbundene Risiko einer Bilirubinenzephalopathie gefährdet.
87
1143 87.5 · Bluterkrankungen
. Tab. 87.6 Ätiologie der indirekten Hyperbilirubinämie (Erhöhung des unkonjugierten Bilirubins)
. Tab. 87.7 Unterschiede zwischen der Rh- und AB0-Inkompatibilität
Erkrankungen bzw. Störungen
Inkompatibilität
Mit gesteigerter Hämolyse
Ohne Hämolyse
Blutgruppeninkompatibilität: 5 Rh, AB0, Kell, Duffy u. a. Neonatale Infektionen (bakteriell, viral) Genetisch bedingte hämolytische Anämien: 5 Enzymdefekte: Glukose6-Phosphat-Dehydrogenase, Pyruvatkinase 5 Membrandefekte: Sphärozytose u. a. 5 Hämoglobinopathien (homozygote α-Thalassämie)
Verminderte Bilirubinkonjugation: 5 Physiologischer Ikterus 5 Muttermilchikterus 5 Kinder diabetischer Mütter 5 Crigler-Najjar-Syndrom, (genetisch bedingter Glukuronyltransferasemangel) 5 Gilbert-Meulengracht-Syndrom (verminderte Bilirubinaufnahme in die Leberzelle) 5 Hypothyreose 5 Medikamente (Pregnandiol) Vermehrter Bilirubinanfall: 5 Polyzythämie 5 Organblutungen, Hämatome Vermehrte enterale Rückresorption von Bilirubin: 5 intestinale Obstruktion 5 unzureichende Ernährung (verminderte Peristaltik)
Rh
AB0
Erkrankung bei der 1. Schwangerschaft
Selten
Häufig
Frühzeitige Anämisierung des Kindes
+
+
Hyperbilirubinämie während der ersten 24 h post partum
++
+
Erythroblasten
+++
+
Sphärozyten
±
++
Retikulozyten
++
+ bis ++
Direkter Coombs-Test (Kind)
+++
– bis ±
Indirekter Coombs-Test (Mutter)
+++
±
manifestiert sich typischerweise während der zweiten und weiteren Schwangerschaften mit zunehmendem Schweregrad der fetalen Erkrankung, die in einen Hydrops fetalis einmünden kann.
Klinik Diagnose und Therapie Die wesentlichen diagnostischen Merkmale der AB0-Inkompatibilität im Vergleich zur Rh-Inkompatibilität sind in . Tab. 87.7 zusammengefasst. Durch eine rechtzeitig begonnene und konsequent durchgeführte Phototherapie können bei den meisten Kindern kritische Bilirubinserumkonzentrationen vermieden werden. Eine Austauschtransfusion ist nur extrem selten durchzuführen. Durch zirkulierende Antikörper kann sich in den ersten Lebenswochen eine in der Regel blande verlaufende Anämie entwickeln.
87.5.6
Rh-Erythroblastose
Etwa 15% der europäischen Bevölkerung sind Rh-negativ, ca. 5% der amerikanischen schwarzen Bevölkerung. Vor Einführung der Anti-D-Prophylaxe betrug die Prävalenz der Rh-Inkompatibilität 45 erkrankte Kinder pro 10.000 Lebendgeborene. Die Erkrankungshäufigkeit konnte um weit mehr als 90% reduziert werden.
Ätiologie, Pathogenese Das erythrozytäre Rhesus-Antigensystem besteht aus 5 Antigenen: C, D, E, c und e; d hat keine antigenen Eigenschaften. Bei ca. 90% der Rhesusinkompatibilität sensibilisiert das D-Antigen des Fetus die Rh(d)-negative Mutter, die in der Folge IgG-Antikörper (AntiD-Antikörper) bildet. Da in der Frühschwangerschaft nur ausnahmsweise kindliche Erythrozyten in den Kreislauf der Mutter gelangen, bildet die Mutter keine oder nur geringe Mengen an Anti-D-Antikörpern. Das erste Kind bleibt entweder gesund oder entwickelt nur eine hämolytische Anämie und/oder Hyperbilirubinämie, vorausgesetzt, dass eine frühere Sensibilisierung durch Aborte oder Bluttransfusionen ausgeschlossen ist. Unter der Geburt und bei der Plazentalösung kann eine größere Menge kindlicher Erythrozyten in die mütterliche Blutbahn übertreten. Die Rh-Erythroblastose bei unterlassener Rh-Prophylaxe
In Abhängigkeit vom Schweregrad der Erkrankung bestehen: 4 eine mehr oder weniger ausgeprägte Anämie, 4 ein Icterus praecox (Gesamtbilirubin >7 mg/dl innerhalb der ersten 24 Lebensstunden), 4 ein Icterus gravis (Gesamtbilirubin) >15 mg/dl bei reifen Neugeborenen), 4 und als Ausdruck der extramedullären Blutbildung eine Hepatosplenomegalie. Als Zeichen der gesteigerten Hämatopoese sind Erythroblasten und Retikulozyten im peripheren Blut in großer Zahl nachweisbar. Hydrops fetalis Bei schwerer fetaler Anämie (Hämoglobin 20 mg/ dl empfohlen; bei schweren Grunderkrankungen (Asphyxie, neonatale Sepsis, hämolytische Anämie u. a.) sowie eine Hyperbilirubinämie in den ersten 3 Lebenstagen liegt die Austauschgrenze in dieser Gruppe niedriger.
Für Frühgeborene gelten besondere Austauschgrenzen: 4 Frühgeborene mit einem Gewicht von >1500 g: >15 mg/dl, 4 Frühgeborene >1000 g: >10 mg/dl.
87 87 87 87
87.5.7
Kernikterus, Bilirubinenzephalopathie
Unkonjugiertes, nicht an Albumin gebundenes Bilirubin kann aufgrund seiner lipophilen Eigenschaften leicht in das zentrale Nervensystem eindringen. Es hemmt den neuronalen Metabolismus (eine Hemmung der oxidativen Phosphorylierung) und hinterlässt eine irreversible Schädigung im Bereich der Basalganglien, des Globus pallidus, des Nucleus caudatus (Kernikterus), des Hypothalamus, einiger Kerngebiete von Hirnnerven und auch der Großhirnrinde. Bei einer erhöhten Permeabilität der Blut-Hirn-Schranke (schwere Anämie, Hypoxie, Hydrops) kann auch an Albumin gebundenes Bilirubin in das Hirngewebe übertreten.
Pathogenese
87 87
Prävention
Bei Neugeborenen mit Rh-Erythroblastose ist, neben den beschriebenen hämatologischen Auffälligkeiten, immer ein positiver direkter Coombs-Test zu finden (Nachweis von inkompletten, an kindliche Erythrozyten gebundenen Antikörpern). Unmittelbar nach der Geburt kann die Konzentration des indirekten Bilirubins stark ansteigen; daher sind engstmaschige Bilirubinbestimmungen erforderlich.
87
87
Als Komplikationen der Blutaustauschtransfusion können Infektionen (u. a. Sepsis), Katheterperforation, Pfortaderthrombose, Hypotension, Azidose, nekrotisierende Enterokolitis und Elektrolytentgleisungen auftreten. Nach einem Blutaustausch besteht häufig eine Anämie und Thrombozytopenie; durch eine zusätzliche, kontinuierlich durchgeführte Phototherapie kann die Zahl von mehrfachen Austauschtransfusionen gesenkt werden.
Durch Gabe eines Anti-D-Immunglobulins innerhalb von 72 h nach der Geburt kann die Sensibilisierung einer Rh-negativen Mutter durch die Rh-positiven fetalen Erythrozyten häufig vermieden werden. Die Anti-D-Prophylaxe muss bei Rh-negativen Frauen auch nach Aborten, Amniozentesen oder unsachgemäßer Transfusion mit Rh-positivem Blut durchgeführt werden. Zu der ersten Schwangerschaft kann eine maternale Immunglobulinprophylaxe in der 28. Gestationswoche und unmittelbar postnatal die Sensibilisierung auf weniger als 1% reduzieren. Nach bisherigen Kenntnissen scheint die im letzten Trimenon durchgeführte Anti-D-Prophylaxe beim Neugeborenen keine klinisch signifikante Hämolyse auszulösen.
Bei leichten Verläufen (einer Rh-Inkompatibilität) kann eine Phototherapie u. U. in zwei Ebenen zur Behandlung der Hyperbilirubinämie ausreichen. Durch sichtbares Licht (Wellenlänge 425–475) wird das in der Haut vorhandene Bilirubin zu nicht toxischen BilirubinIsomeren umgeformt und mit der Galle und dem Urin ausgeschieden. Die Indikation für den Beginn einer Phototherapie hängt von Gestationsalter, Lebensalter, Höhe der Bilirubinkonzentration, Dynamik des Bilirubinanstieges sowie vom Ausmaß der Anämie und anderen Risikofaktoren ab.
87
Mögliche Komplikationen
Der Blutaustausch erfolgt mit kompatiblem Spendervollblut in 5bis 20-ml-Portionen über einen Nabelvenenkatheter. Durch diese Maßnahme wird das 2- bis 3-fache Blutvolumen eines Neugeborenen ausgetauscht, d. h. ca. 90% der kindlichen Erythrozyten werden neben mütterlichen Antikörpern und verfügbarem Bilirubin eliminiert.
Die Entstehung einer Bilirubinenzephalopathie wird von folgenden Faktoren beeinflusst: Lebensalter und Reifegrad der Kinder, Überschreiten der Albuminbindungskapazität durch zu hohe Bilirubinspiegel, Verminderung der Bindungskapazität bei Hypalbuminämie, Verdrängung des Bilirubins durch Gallensäuren, freie Fettsäuren (Hypoglykämie!) oder Medikamente und Veränderungen bzw. Schädigung der Blut-Hirn-Schranke nach Asphyxie, Hypoxie, neonataler Meningitis und anderen Erkrankungen.
Klinik und Therapie Die Frühsymptome der Bilirubinenzephalopathie sind: Apathie, Hypotonie, Trinkschwäche, Erbrechen, abgeschwächte Neugeborenenreflexe und schrilles Schreien. Danach fallen die Neugeborenen durch eine vorgewölbte Fontanelle, eine opisthotone Körper-
1145 87.5 · Bluterkrankungen
haltung, muskuläre Hypertonie und zerebrale Krampfanfälle auf. Überlebende Kinder weisen häufig eine beidseitige Taubheit, choreoathetoide Bewegungsmuster sowie eine mentale Retardierung auf.
– selten: aplastische Anämie, kongenitale Leukämie, Wiskott-Aldrich-Syndrom, Riesenhämangiom u. a. – Retardierung – Polyzythämie
Therapie Keine therapeutische Maßnahme kann diese irreversible Schädigung rückgängig machen. In der heutigen Zeit sollte diese vermeidbare Komplikation aber nicht mehr auftreten. Gerade in den westlichen Industrienationen wird aber inzwischen eine zunehmende Anzahl von Kindern beobachtet, die an den Folgen einer Bilirubinenzephalopathie leiden. Ziel aller in der Peri- und Neonatalmedizin tätigen Ärzte, Hebammen und Kinderkrankenschwestern muss es sein, die Früh- und Neugeborenen mit einem erhöhten Risiko für eine Hyperbilirubinämie frühzeitig zu identifizieren und einer adäquaten Therapie zuzuführen.
87.5.8
Weitere hämolytische Erkrankungen
Blutgruppenunverträglichkeiten gegen andere Erythrozytenantigene [c, E, Kell (K), Duffy u. a.] sind für weniger als 5% aller hämolytischen Erkrankungen der Neonatalperiode verantwortlich. Der direkte Coombs-Test ist bei diesen Unverträglichkeiten immer positiv. Kongenitale Infektionen mit verschiedenen Erregern sowie neonatale Infektionen können eine nichtimmunologische Hämolyse induzieren. Die homozygote α-Thalassämie kann sich ebenfalls unter dem Bild einer schweren hämolytischen Anämie mit Hydrops fetalis präsentieren; auch bei dieser und den folgenden Erkrankungen ist der direkte Coombs-Test negativ. Hämolytische Anämie und ausgeprägte Hyperbilirubinämie mit Gefahr der Bilirubinenzephalopathie werden bei Neugeborenen mit hereditärer Sphärozytose oder angeborenen Enzymdefekten, wie dem Pyruvatkinase- oder Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenase-Mangel beobachtet.
87.5.9
Neonatale Thrombozytopenie
Die wesentlichen maternalen und kindlichen Ursachen und Erkrankungen, die eine neonatale Thrombozytopenie ( Galliges Erbrechen bei Neugeborenen ist ein Hinweis auf eine mechanische Obstruktion und erfordert immer eine sorgfältige Diagnostik einschließlich des Ausschlusses einer Malrotation, um die Entwicklung eines Volvulus zu verhindern.
Röntgenologisch finden sich im Abdomenübersichtsbild Befunde einer meist inkompletten duodenalen Obstruktion und einer
. Abb. 87.17 Typisches luftleeres Abdomen mit Darstellung zweier isolierter Luftblasen (sog. Double-bubble-Phänomen) im Magenfundus und Bulbus duodeni bei Duodenalatresie
pathologischen Darmgasverteilung distal der Stenose. Der Kontrasteinlauf zeigt ein malpositioniertes Zökum im rechten oder mittleren oberen Abdomen, bei der Kontrastmitteldarstellung von oral her lässt sich die Fehlposition des Duodenums darstellen. Bei einem Volvulus ist das Abdomen oft luftleer. Dieses Krankheitbild manifestiert sich als lebensbedrohliche Situation mit akutem Abdomen, Hämatemesis und Schock. Mit massiver Flüssigkeitssubstitution und Notfalloperation wird versucht, den ischämischen Darm noch zu retten.
Dünndarmobstruktion Die Ursachen einer Dünndarmobstruktion bestehen in einer angeborenen Atresie oder Obstruktion durch Mekonium. Je nach Höhe der Obstruktion resultiert galliges Erbrechen oder ein innerhalb der ersten 12–48 h nach der Geburt auftretendes geblähtes Abdomen mit fehlendem Mekoniumabgang.
Dünndarmatresie Die Dünndarmatresie geht, im Gegensatz zu den Atresien des oberen Magen-Darm-Trakts, nicht gehäuft mit weiteren Fehlbildungen oder einer chromosomalen Anormalie einher. Von der Entstehung her liegt in der Regel eine frühe intrauterine Perfusionseinschränkung eines Darmanteils vor. Postnatal finden sich in der Abdomenübersichtsaufnahme stark dilatierte Dünndarmschlingen und ein luftleeres Rektum.
87
1148
Kapitel 87 · Intensivmedizin bei Früh- und Neugeborenen
87
Die Aufnahme im Hängen zeigt Flüssigkeitsspiegel in den dilatierten Schlingen. Beim Kontrasteinlauf ist ein Mikrokolon darstallbar. Kritisch ist bei der intestinalen Obstruktion die konstante Darstellung einer isolierten geblähten Darmschlinge. Die fehlende Dekompression kann dabei zu einer Beeinträchtigung der vaskulären Versorgung des dilatierten Darmanteils führen; es resultieren eine Beeinträchtigung der Mukosaintegrität sowie ein massiver Volumenverlust in den Darm. Präoperativ ist daher bei allen Kindern mit intestinalen Obstruktionen und Darmblähung eine reichliche Volumenzufuhr mit Vollelektrolytlösung notwendig, um Flüssigkeitverluste in den »3. Raum« zu ersetzen. Postoperativ ist aufgrund des Lumenunterschiedes zwischen proximalem und distalem Anteil die Darmmotilität stark beeinträchtigt, was den Nahrungsaufbau stark verzögert und über längere Zeit eine parenterale Ernährung erfordert.
87
Mekoniumobstruktion
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87 87 87 87 87 87 87 87 87 87 87 87 87
Eingedicktes Mekonium kann zu einer vollständigen Verlegung des Darms führen.
Mekoniumpfropfsyndrom Von einem Mekoniumpfropfsyndrom spricht man, wenn die Obstruktion im Kolon gelegen und durch rektale Spülungen zu mobilisieren ist. Ein Kontrasteinlauf sichert die Diagnose (Fehlen von Mikrokolon, Nachweis von Mekoniumpartikeln) und wirkt gleichzeitig therapeutisch.
Mekoniumileus Ein Mekoniumileus ist durch diese konservativen Maßnahmen nicht zu beheben, die Obstruktion liegt in der Regel im Bereich des distalen Ileums. Die Symptomatik ist typisch für die zystische Fibrose (CF), jedoch präsentiert sich nur ein Teil der Neugeborenen mit CF nach der Geburt mit einem Mekoniumileus. Die mukösen Drüsen dieser Kinder produzieren ein extrem zähes Mekonium, das eine höhere Konzentration an Proteinen enthält. Der erhöhte Nachweis von Albumin im Stuhl wurde einige Zeit als Suchtest für die CF verwendet, hat sich jedoch wegen der bei Frühgeborenen häufig falsch-positiven Resultate nicht durchsetzen können. Der Mekoniumileus bei CF kann kompliziert sein durch eine pränatale Perforation mit Mekoniumperitonitis, im Röntgenbild finden sich dann intraabdominelle Kalzifizierungen. Durch die gesunkene Mortalität sehr kleiner Frühgeborener stellen heute Kinder mit extrem niedrigem Geburtsgewicht ( Bei Neugeborenenkrämpfen müssen Diagnostik und Therapie parallel erfolgen.
Da die Hypoglykämie sofort behandelbar und ihre Folgen schwerwiegend sind, erfolgt als erste Maßnahme die Bestimmung des Blutzuckers als kapillärer Schnelltest und sofort nach Blutabnahme die Verabreichung von Glukose 10% i. v., 2 ml/kg KG. Unter der Glukosezufuhr sollte der Krampfanfall beobachtet und beschrieben werden: Krampftyp, ein- oder beidseitig, vegetative Symptome, Dauer. Anschließend Blutabnahme für die Bestimmung von Kalzium, Natrium, Magnesium und Kalium. Wenn der Krampfanfall nicht innerhalb von einigen Minuten sistiert, werden intravenös Antikonvulsiva verabreicht (Mittel der 1. Wahl ist nach Ansicht einiger Autoren Phenobarbital, dann Phenytoin, Clonazepam, Diazepam, Lorazepam).
1151 87.8 · Sepsis des Früh- und Neugeborenen
. Tab. 87.8 Ursache von Neugeborenenkrampfanfällen Akute metabolische Störungen
5 5 5 5 5
Asphyxie ZNS-Infektion
5 Meningitis 5 Enzephalitis
Hirnblutung, Hirnfehlbildungen Angeborene Stoffwechselerkrankungen
5 Aminoazidopathien 5 Organoazidurien
Benigne Neugeborenenkrämpfe
5 Familiär 5 »Fifth-day-fits« (Krämpfe am 5. Lebenstag)
Hypoglykämie Hypokalzämie Hyponatriämie Hypernatriämie Hypomagnesiämie
Pyridoxinabhängige Krämpfe Angeborene paroxysomale Erkrankungen Neurokutane Syndrome Toxine
5 5 5 5
Bilirubin Heroin Kokain Lokalanästhetika
Die antikonvulsive Behandlung erfordert obligatorisch eine Überwachung von Herzfrequenz, Atmung und Oxygenierung. Bei Hypokalzämie muss Kalziumglukonat 10%, 0,5 ml/kg KG sehr langsam i. v., zugeführt werden. Manchmal ist die Hypokalzämie von einer Hypomagnesiämie begleitet (Bestimmung von Mg2+ im Blut), Behandlung mit Magnesiumsulfat 15–30 mg/kg KG. Bei persistierenden Krämpfen Gabe von Pyridoxin 50–100 mg i. v.
87.8
Sepsis des Früh- und Neugeborenen C.P. Speer
Die neonatale Sepsis stellt nach wie vor eines der Hauptprobleme der Neugeborenenmedizin dar. Es handelt sich um eine disseminierte mikrobielle Erkrankung, die durch die klinischen Symptome einer systemischen Infektion und die Septikämie, d. h. den kulturellen Nachweis pathogener Erreger in der Blutkultur charakterisiert ist. Im Rahmen des septischen Schocks kann sich ein Multiorganversagen ausbilden. 10–25% der Patienten sterben an den Komplikationen dieser oftmals foudroyant verlaufenden Infektion, bis zu 1/4 der Kinder entwickelt als Folge einer zu spät diagnostizierten Sepsis eine eitrige Meningitis. Besonders kritisch ist die Situation auf neonatologischen Intensivstationen; hier kann bei 25% der Kinder im Verlauf der Intensivtherapie eine Sepsis nachgewiesen werden.
sprung, Amnioninfektionssyndrom, Fieber, Bakteriämie der Mutter und Frühgeburtlichkeit. 4 Die spät einsetzende Form tritt in der Regel nach dem 5. Lebenstag auf; der klinische Verlauf kann entweder foudroyant oder langsamer fortschreitend sein; die Neugeborenen erkranken häufig an einer Meningitis. Die Erreger stammen häufig aus dem postnatalen Umfeld. Besonders intensivmedizinisch behandelte Früh- und Neugeborene sind gefährdet, an einer späteinsetzenden nosokomialen Sepsis zu erkranken. Die wesentlichen Erreger der früh oder spät einsetzenden neonatalen Sepsis sind in der 7 Übersicht zusammengefasst
Wesentliche Erreger der früh und der spät einsetzenden neonatalen Sepsis 4 Früh einsetzende Sepsis – Streptokokken der Gruppe B – Escherichia coli – Staphylococcus aureus – Listeria monocytogenes – Enterokokken u. a. 4 Spät einsetzende Sepsis – Escherichia coli – Staphylococcus epidermidis – Klebsiella-Enterobacter-Spezies – Pseudomonas aeruginosa – Proteus-Spezies – Candida albicans u. a.
Klinik Die klinische Symptomatik der Neugeborenensepsis ist uncharakteristisch und variabel; bleiben die oftmals diskreten klinischen Zeichen unerkannt, so kann sich innerhalb kurzer Zeit das Vollbild des septischen Schocks entwickeln (. Tab. 87.9). Einer der wichtigsten Hinweise ist das von einer erfahrenen Kinderkrankenschwester registrierte »schlechte Aussehen« des Neugeborenen. Neben Störungen der Temperaturregulation und der Atmungsfunktion werden gastrointestinale Symptome beobachtet. Phasenweise nachweisbare Veränderungen des Hautkolorits weisen auf die im Rahmen der Bakteriämie auftretende Mikrozirkulationsstörung hin. Daneben können Hyperexzitabilität, Hypotonie, Apathie und zerebrale Krampfanfälle auftreten. Petechien, verstärkte Blutungsneigung, Hypotension und septischer Schock entwickeln sich im Verlauf der Erkrankung. ! Cave Bei klinischen Warnzeichen muss solange der Verdacht auf eine neonatale Sepsis bestehen, bis das Gegenteil bewiesen ist, d. h. eine Infektion ausgeschlossen wurde oder eine andere Ursache für die Verschlechterung des kindlichen Zustands gefunden wurde. Der Verlauf der Neugeborenensepsis wird entscheidend vom Zeitpunkt der Diagnose bzw. des Behandlungsbeginns beeinflusst.
Verlaufsform der Sepsis Die neonatale Sepsis manifestiert sich in zwei Verlaufsformen: 4 Die früh einsetzende Form zeichnet sich durch den Krankheitsbeginn in den ersten Lebenstagen, das typische Erregerspektrum (7 unten) und die fulminante Verlaufsform aus. Häufig entwickelt sich die systemische Infektion auf dem Boden einer neonatalen Pneumonie. Bei vielen Kindern sind geburtshilfliche Risikofaktoren vorhanden: vorzeitiger Blasen-
Diagnostik Untersucht werden Blutkulturen (aerob, anaerob), ggf. Liquorkulturen, Urinstatus und -kultur, Haut- und Schleimhautabstriche und Magensekret. Bei jedem isolierten Erreger ist eine Resistenztestung durchzuführen. Verschiedene Entzündungsparameter können als Warnzeichen einer neonatalen Infektion angesehen werden und zur Früherkennung der neonatalen Sepsis beitragen (. Tab. 87.10).
87
1152
87
Kapitel 87 · Intensivmedizin bei Früh- und Neugeborenen
. Tab. 87.9 Wesentliche Symptome der neonatalen Sepsis
. Tab. 87.10 Früherkennung und Warnzeichen neonataler Infektionen
Temperaturinstabilität
Hyper-, Hypothermie
87
Atemstörungen
Tachypnoe, Dyspnoe, Apnoe
Geburtshilfliche Risikofaktoren
87
Gastrointestinale Symptome
Trinkschwäche, Erbrechen, abdominelle Distension
Klinische Zeichen
87
Zirkulatorische Insuffizienz
Periphere Mikrozirkulationsstörungen, Blässe, grau-marmoriertes Hautkolorit, septischer Schock, Multiorganversagen, DIC
Neurologische Störungen
Hyperexzitabilität, Lethargie, Krampfanfälle
Entzündungsparameter
87 87 87 87 87 87 87 87 87 87 87 87 87 87 87 87 87 87
Erregernachweis
Differenzialdiagnose
Pathogenese, Risikofaktoren
Verschiedene Erkrankungen Früh- und Neugeborener können sich unter nahezu identischer Symptomatologie manifestieren wie die neonatale Sepsis. Bei Frühgeborenen kann eine Infektion mit Streptokokken der Gruppe B unter dem Bild eines Atemnotsyndroms verlaufen. Weitere Erkrankungen sind: 4 akute pulmonale Erkrankungen des Neugeborenen, 4 persistierende fetale Zirkulation, 4 Hyperviskositätssyndrom, 4 kardiale Erkrankungen, 4 nekrotisierende Enterokolitis, 4 zerebrale Blutungen, 4 metabolische Störungen, 4 intrauterine Infektionen u. a.
Die bekannten geburtshilflichen, pränatalen und postnatalen Risikofaktoren der neonatalen Sepsis lassen sich uneingeschränkt bei der Meningitis Neugeborener nachweisen. Neugeborene mit Liquor-Shunt-Systemen sind besonders gefährdet, über eine Bakteriämie eine Ventilinfektion zu entwickeln; der häufigste Erreger ist Staphylococcus epidermidis.
Therapie Bei der Frühsepsis wird von vielen klinischen Gruppen an einer Kombinationsbehandlung mit Ampicillin und einem Aminoglykosid (z. B. Gentamycin) festgehalten; alternativ wird eine empirische Therapie mit Ampicillin und einem Cephalosporin der 3. Generation (z. B. Cefotaxim) praktiziert. Beide Therapiekonzepte wurden von der American Academy of Pediatrics empfohlen. Der Hauptgrund für die Gabe von Ampicillin ist die unzulängliche Aktivität der Cephalosporine gegen Listeria monocytogenes und Enterokokken. Bei Verdacht auf eine Staphylokokken-Infektion muss die verwendete Kombination um ein Staphylokokkenwirksames Mittel erweitert werden. Ergeben sich aufgrund bakteriologischer Untersuchungen der Mutter Hinweise auf einen seltenen Erreger der Frühsepsis (Klebsiella, Pseudomonas, Serratia etc.), sollte eine Kombinationstherapie mit einem Cephalosporin und einem Aminoglykosid gewählt werden. Vor einigen Jahren wurde im Rahmen einer Standardtherapie mit Cefotaxim eine rasche Selektion von Cefotaxim-resistenten Enterobacter-Species (Enterobacter cloacae) nachgewiesen; diese Erreger waren auch gegen neuere Cephalosporine resistent. Eine Anwendung von Cephalosporinen sollte daher nur unter strenger Indikationsstellung erfolgen.
Meningitis
87
87.8.1
87
Die neonatale Meningitis ist eine mikrobielle Infektion der Hirnhäute, des Gehirns und häufig auch der Ventrikel; sie wird durch die typischen Erreger neonataler Infektionen verursacht.
87
5 Leukozytosen 5 Gesamtzahl aller neutrophiler Granulozyten 5 I/T-Quotient 5 CRP 5 Interleukin-6 u. a.
Klinik Die klinischen Zeichen der neonatalen Meningitis sind unspezifisch und in der Regel nicht von den Symptomen der Neugeborenensepsis zu unterscheiden. Als zusätzliche Symptome können Berührungsempfindlichkeit, spärliche Spontanbewegungen und schrilles Schreien hinzukommen. Eine gespannte Fontanelle, die opisthotone Körperhaltung oder gar Nackensteifigkeit treten insgesamt selten und erst im fortgeschrittenen Stadium der Meningitis auf. Krampfanfälle werden bei ca. 15% der erkrankten Neugeborenen beobachtet. Aufgrund der uncharakteristischen Symptomatologie sollte bei jedem Patienten, bei dem eine neonatale Sepsis zu vermuten ist, eine Liquoruntersuchung erfolgen. Bei ausgeprägter Instabilität der Kinder kann man jedoch gezwungen sein, die erforderliche Lumbalpunktion erst nach Therapiebeginn durchzuführen. Die Besonderheiten der Liquordiagnostik im Neugeborenenalter sind an anderer Stelle ausgeführt. Wiederholte Sonographien und eventuell NMR-Untersuchungen werden zur Erfassung von Komplikationen durchgeführt.
Therapie Die Prognose der neonatalen Meningitis wird entscheidend vom Therapiebeginn und der Wahl der Antibiotika bestimmt; die antibiotische Behandlung muss sich gegen das besondere Spektrum der zu vermutenden Erreger neonataler Infektionen richten (7 oben). Eine zuverlässige Liquorgängigkeit sowie eine ausreichende Dosierung der Antibiotika sind unbedingt zu beachten; die Dosierung der verschiedenen Präparate liegt in der Regel höher als bei der neonatalen Sepsis.
87.9
Metabolische Störungen
87.9.1
Hypoglykämie
Die Hypoglykämie ist die häufigste metabolische Störung bei Neugeborenen. Eine symptomatische Hypoglykämie ereignet sich bei 1–3 von 1000 Neugeborenen. Deutlich höher ist das Hypoglykämierisiko bei dystrophen Neugeborenen (5–15%) und bei Frühgeborenen.
1153 87.9 · Metabolische Störungen
4 4 4 4 4
Weitere Risikofaktoren für eine Hypoglykämie sind: Hypothermie, Hypoxie, mütterlicher Gestationsdiabetes, Diabetes mellitus, Polyzythämie.
. Tab. 87.11 Laborchemische Definition der Hypoglykämie Zeit postnatal
Glukose (im Plasma)
[h]
[mg/dl] (mmol/l)
Reife Neugeborene
1–3
Intubationsversuche sollten eine Dauer von 30 s nicht übersteigen. Die Sauerstoffzufuhr und Ventilation können auch durch alternative Methoden gewährleistet werden (. Tab. 88.1).
Neben der Beutel-Masken-Ventilation bieten sich der Larynxtubus und die Larynxmaske an, jeweils auch mit Saugkanal. Sie sind auch in Kindergrößen erhältlich. Allerdings bedarf es auch bei diesen beiden Methoden einer ausreichenden Erfahrung, um sie erfolgreich und sicher anwenden zu können. Der Goldstandard bleibt die endotracheale Intubation. Sollte die Beatmung mit Beutel und Masken wegen einer Verlegung des Nasen-Rachen-Raums, z. B. bei angeborenen Missbildungen, nicht effektiv sein, kann ein oro- oder nasopharyngealer Tubus eingebracht werden, der in allen Kindergrößen vorrätig sein sollte. In den meisten Fällen gelingt anschließend die Maskenventilation.
88 88
. Tab. 88.1 Alternative Methoden zur Atemwegssicherung mit Angaben zum Leckagedruck, Aspirationsschutz, Möglichkeiten, sie als Intubationshilfe zu benutzen, und Angaben, ob pädiatrische Größen erhältlich sind
88 88 88 88 88
ETC
LT/LTS
LMA
ProSeal
ILMA
Leckagedruck [cm H2O]
>30
24–36
19–22
27–32
24–30
Aspirationsschutz
++
++
(±)
+
(+)
Als Intubationshilfe verwendbar
–
–
+
–
++
Pädiatrische Größe erhältlich
–
+
+
+
–
ETC=Kombitubus, LT=Larynxtubus, LTS=Larynxtubus suction, LMA=Larynxmaske, ProSeal=Larynxmaske mit Absaugkanal, ILMA=Intubationslarynxmaske.
1163 88.4 · Intensivmedizinische Techniken
Wahl des endotrachealen Tubus Tubusdurchmesser Bei einem Neugeborenen sollte der innere Durchmesser des Tubus 2,5–3,5 mm betragen. Bei Säuglingen wird eine Größe von 3,5–4,5 mm empfohlen. Der Tubusdurchmesser bei Kindern, die >1 Jahr alt sind, wird berechnet nach der Formel: 4 Tubusdurchmesser: Alter in Jahren/4+4.
Tipp Als grober Anhalt kann auch der Außendurchmesser des kleinen Fingers des Patienten gelten, der dem Außendurchmesser des Tubus entspricht.
Der Tubus sollte so groß gewählt werden, dass möglichst kein Tubusleck besteht. Sollte ein vollständiger Verschluss der Trachea benötigt werden, z. B. bei Aspirationsgefahr durch Blutungen aus dem Nasen-Rachen-Raum oder einem schweren ARDS mit hohen Beatmungsdrücken, kann ein Tubus mit Low-pressure-Cuff gewählt werden. Hier muss allerdings berücksichtigt werden, dass der Cuff bis in Region der Stimmbänder reichen kann. Auf die permanente Kontrolle des Cuff-Druckes ist fortwährend zu achten.
. Tab. 88.2 Grundeinstellung bei der invasiven Beatmung Parameter
Einstellung
Beatmungsdruck
20 cm H2O
Sauerstoffkonzentration
100%
Atemfrequenz
20–40/min nach Alter
Inspirationszeit
0,5–1 s
Tidalvolumen
5–7 ml/kg KG
PEEP
Mindestens 4 cm H2O initial
Mit der noninvasiven Beatmung können Intubationen vermieden werden. Vor allem bei onkologischen Kindern mit Immunsuppression wird sie häufig angewendet. Sie kann über die ersten kritischen Stunden und Tage einer Pneumonie hinweghelfen. Allerdings birgt die noninvasive Beatmung die Gefahr, dass der Behandler sich in einer falschen Sicherheit wiegt. Da das Kind über die Maske beatmet wird, erhält es im Verlauf weniger Aufmerksamkeit, und eine notwendige endotracheale Intubation wird u. U. erst verspätet durchgeführt. Nach Beginn der noninvasiven Beatmung sollte eine sofortige klinische Besserung des Patienten eintreten. Ist dies nicht der Fall, muss eine Intubation erwogen werden. Invasive Beatmung. Muss das Kind intubiert werden, sollte eine
Tubustiefe Die Tubustiefe bei oraler Intubation berechnet sich nach der Formel: 4 cm: Alter in Jahren/2+12 Für die nasale Intubation gilt: 4 cm: Alter in Jahren/2+15
Beatmung Bedarf der pädiatrische Patient einer mechanischen Atemhilfe, ist in den meisten Fällen die Anwendung einer noninvasiven Beatmungsform gerechtfertigt. Zusatzmodule an den üblichen Beatmungsgeräten lassen diese Möglichkeit zu. Sie stellen einen ausreichenden Flow bereit und bieten effektive Triggersysteme. Bei Säuglingen kann leicht ein nasaler kontinuierlicher positiver Atemwegsdruck (CPAP) über einen in der Nase liegenden, weichen und kurzen Tubus appliziert werden. Noninvasive Beatmung. Bei größeren Kindern kann mit verschiedenen Maskensystemen (nasal, Mund-Nase oder Vollgesichtsmasken) eine druckkontrollierte oder druckunterstützte Beatmung durchgeführt werden. Die Masken sind in unterschiedlicher Qualität und in verschiedenen Größen für alle Kinder erhältlich. > Bevorzugt werden Nasenmasken, da hierbei die Kinder sprechen und essen können. Vollgesichtsmasken lösen häufig Angstzustände aus.
Die Masken müssen gut angepasst werden. Gelangt zu viel Nebenluft z. B. in die Augen, wird die Beatmung von den Kindern nicht toleriert. Besonders im Kleinkindalter ist die Compliance häufig eingeschränkt und macht in vielen Fällen eine solche Beatmungsform unmöglich. Oft ist eine Grundsedierung notwendig.
lungenschonende Beatmung im Sinne einer »Low-tidal-volumeBeatmung« angestrebt werden. Für Kinder ist deren Nutzen allerdings nicht ausreichend validiert. Der positive endexspiratorische Druck (PEEP) sollte bei der initialen Einstellung des Beatmungsgerätes 4 cm H2O nicht unterschreiten. Er richtet sich im weiteren Verlauf nach dem Sauerstoffbedarf. Die Grundeinstellung bei der invasiven Beatmung zeigt . Tab. 88.2. Grundsätzlich sollte das Atemhubvolumen so groß sein, dass sich der Thorax adäquat seitengleich hebt. Sollte das mit der Voreinstellung nicht möglich sein, muss der Atemhub so lange vergrößert werden, bis dieses Ziel erreicht ist. Das Atemhubvolumen bei fehlendem Tubusleck ist proportional zur eröffneten alveolären Oberfläche. ! Cave Hebt sich der Thorax nicht, kann auch kein Gasaustausch stattfinden!
Daher kann auch bei kleinen Kindern mit ARDS ein großes Atemhubvolumen oder ein hoher Spitzendruck notwendig sein, um alveoläre Oberfläche zu rekrutieren. Die weitere Beatmungstherapie wird nach den Blutgaswerten ausgerichtet. Hochfrequenz-Oszillations-Ventilation (HFOV). Alternativ zur
konventionellen Beatmung steht im Kindesalter die in der Pädiatrie gut etablierte Hochfrequenz-Oszillations-Ventilation (HFOV) zur Verfügung. Unter der Vorstellung, ein Volutrauma zu vermeiden, wird hierbei mit extrem hohen Atemfrequenzen und minimalen Tidalvolumina beatmet. Ob die HFOV tatsächlich einen Vorteil gegenüber der konventionellen Beatmung hat, ist nicht erwiesen. Die HFOV stellt allerdings eine sichere und zuverlässige Form der Beatmung dar. Durch einen weltweit gut standardisierten Algorithmus der Einstellung und Entwöhnung des Patienten an die HFOV ist sie schnell erlernbar. Zentren für die Behandlung des Lungenversagens sollten ein Gerät zur HFOV vorrätig haben.
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88.4.3
Kapitel 88 · Kinderintensivmedizin
Monitoring
Das Monitoring auf pädiatrischen Intensivstationen unterscheidet sich nicht wesentlich von dem bei erwachsenen Patienten. Bei Säuglingen ergibt sich die zusätzliche Möglichkeit einer zuverlässigen transkutanen paO2- und paCO2-Messung. Beim Kauf eines Beatmungsgerätes ist unbedingt auf die Integration einer endexspiratorischen CO2-Messung zu achten. Allein durch häufige Blutgasanalysen besteht bei Säuglingen und Kleinkindern oft eine Transfusionspflichtigkeit, die durch nichtinvasives Monitoring verhindert werden kann. Pulmonaliskatheter sind meist größeren Kindern nach kardiochirurgischen Eingriffen mit entsprechender Indikation vorbehalten. Ihre Anlage bei Säuglingen und Kleinkindern ist technisch schwierig und kann mit Komplikationen behaftet sein. Handelsübliche Systeme zur Messung des Herzzeitvolumens (HZV) sind mit einiger Erfahrung auch bei Säuglingen anwendbar. Derzeit sind einige Geräte zur nichtinvasiven HZV-Bestimmung, z. B. mit Pulskonturanalyse, in der Erprobung. Ausreichende Daten zur Validierung liegen allerdings derzeit noch nicht vor, da aufgrund des geringen Absatzvolumens der Systeme große Studien mit adäquaten Patientenzahlen kaum gefördert werden. Ebenso ist die Messung des intraabdominellen Druckes noch nicht ausreichend im Fokus der Kinderintensivmedizin, sie kann aber analog der Verfahren bei Erwachsenen ermittelt werden. Die Notfallsonographie inkl. der transkraniellen Darstellung des Gehirns und seiner Gefäße und die Notfallechokardiographie gehören zum Rüstzeug jedes pädiatrischen Intensivmediziners, zumal die Schallbedingungen bei Kindern günstig sind. Die Echokardiographie kann im Notfall rasch über einen vorhandenen Perikarderguss wie auch über die Myokardfunktion Auskunft geben. Um die notwendigsten Befunde im Notfall darstellen zu können, reichen wenige Stunden Übung. Dauer-EEG, intrakranielle Druckmessung und evozierte Potenziale sollten Standard auf einer Kinderintensivstation sein. > Trotz aller Technik sollte das klinische Bild des Patienten aber weiter im Vordergrund stehen und auch bei der Ausbildung des intensivmedizinischen Personals geschult werden.
Bei Kenntnis der altersentsprechenden Atemfrequenz (. Tab. 88.3) kann ab dem Kleinkindesalter die Herzfrequenz mittels der 5erRegel berechnet werden (. Tab. 88.4). Ab dem 2. Lebensjahr lassen sich der mittlere Normwert des systolischen Blutdrucks und die untere Grenze des systolischen Blutdrucks der in . Tab. 88.5 dargestellten Formel berechnen. Zur Bewertung von Atem-, Herzfrequenz und des Blutdruckes müssen Alter, Fieber, Schmerz, Vorerkrankungen und Erregung einkalkuliert werden. > Es ist oftmals besser, den Trend der Parameter zu beurteilen, als sich auf den absoluten Wert zu verlassen.
So kann bei einem chronisch herzinsuffizienten Säugling seine gewohnte Atemfrequenz deutlich oberhalb der Norm liegen, und erst eine akute Erhöhung derselben zeigt eine Verschlechterung seines Zustands an.
. Tab. 88.3 Normwerte für die altersentsprechende Atemfrequenz Alter [Jahre]
12
Atemfrequenz
30–40
20–30
20–24
12–20
. Tab. 88.4 Ermittlung der Herzfrequenz anhand der 5er-Regel Alter
>30 Tage
5 Jahre
12 Jahre
18 Jahre
Atemfrequenz
30
20
18
14
×5
×5
×5
Herzfrequenz
130
100
90
70
. Tab. 88.5 Ermittlung des systolischen Blutdrucks Alter
Systolischer Blutdruck Normwert [mm Hg]
Untergrenze [mm Hg]
0–1 Monat
60
50
1–12 Monate
80
70
1–10 Jahre
90+2×Alter
70+2×Alter
>10 Jahre
120
90
88.5
Kreislaufversagen
Der Körper ist je nach Belastung pro Zeiteinheit auf eine definierte Zufuhr von energiereichen Substraten und einen effektiven Abtransport von überschüssigen Stoffwechselsubstraten angewiesen. Diese Größe ist das Herzzeitvolumen (HZV) oder der »cardiac output«; sie ist das Maß für die umgesetzte Menge Blut/min und hängt vom Schlagvolumen und der Herzfrequenz ab. Das Schlagvolumen (. Abb. 88.1) wird bestimmt durch 4 die myokardiale Kontraktilität, 4 das Volumenangebot (Vorlast), 4 das ventrikuläre Fassungsvolumen, 4 die Compliance des Ventrikels 4 den extraventrikulären Widerstand, der dem Myokard durch die Gefäße entgegengesetzt wird (Nachlast). So ist das Schlagvolumen z. B. vermindert nach der obigen Reihenfolge durch eine dilatative Kardiomyopathie oder Myokarditis, Hypovolämie, hypertrophe Kardiomyopathie oder Perikarderguss, Steifheit der Ventrikelmuskulatur nach Reanimation oder kardiochirurgischem Eingriff oder eine periphere Widerstandskrise bei Neuroblastom. Vor allem bei Säuglingen ist die Fähigkeit zur Verstärkung der Kontraktilität noch nicht voll entwickelt. Diese Kinder können daher ihr Herzzeitvolumen fast ausschließlich nur durch eine Erhöhung der Herzfrequenz steigern. Diese »Bedarfstachykardie« ist wichtiger Bestandteil zur Kompensation einer Kreislaufinsuffizienz. Besteht eine der geschilderten Ursachen zur Verringerung des Herzzeitvolumens und kann die Versorgung des Gewebes mit energiereichen Substraten und Sauerstoff nicht mehr gewährleistet
1165 88.5 · Kreislaufversagen
Compliance Vorlast Nachlast
Schlagvolumen »cardiac output«
Kontraktilität
Blutdruck
Herzfrequenz Peripherer Gefäßwiderstand
. Abb. 88.1 Bestimmende Parameter für »cardiac output« und Blutdruck
werden, liegt ein Kreislaufversagen oder Schock vor. Nachfolgend kommt es zu einem Funktionsverlust der Organe und dem Zelltod des minderversorgten Gewebes.
88.5.1
Ursachen
Die Ätiologie des Kreislaufversagens bei Kindern unterscheidet sich wesentlich von der des erwachsenen Patienten. Erleidet der Erwachsene meist eine kardiogenen Schock aufgrund eines primären Herzversagens, so stehen beim Kind die Hypovolämie, der distributive Schock bei der Sepsis oder eine generalisierte Hypoxie aufgrund respiratorischer Ursachen im Vordergrund. > Die führende terminale Arrhythmie bei Kindern ist daher nicht die ventrikuläre Tachykardie, sondern die Bradykardie.
Da das Kreislaufversagen am Ende dieses Krankheitsprozesses steht, ist das Erkennen des kritisch kranken Kindes von besonderer Bedeutung. Hiermit kann eine Dekompensation des Kreislaufversagens in den meisten Fällen verhindert werden. Die Prognose des kindlichen Kreislaufversagens ist deutlich günstiger als die des Erwachsenen.
88.5.2
Pathogenese
Bei bestehender Kreislaufinsuffizienz versucht der Körper, diesen Zustand zu kompensieren. Die Atemanstrengungen werden intensiviert, um die Sauerstoffaufnahme zu erhöhen. Durch die Ausschüttung von Stresshormonen wie Adrenalin wird eine verstärkte Kontraktilität des Myokards, ein erhöhtes Schlagvolumen und eine Steigerung der Herzfrequenz erreicht. Der Anstieg der Herzfrequenz ist daher ein guter Parameter für den Stresszustand des Patienten. Ist die Steigerung des Herzzeitvolumens immer noch nicht ausreichend, wird durch die Produktion von Noradrenalin der systemarterielle Gefäßwiderstand erhöht, um einen adäquaten Perfusionsdruck aufrechtzuerhalten. Zur besseren Versorgung der lebenswichtigen Organe wird das Blutvolumen auf Kosten der Durchblutung von Haut, Muskeln und des Gastrointestinaltraktes umverteilt. Um das intravasale Volumen zu erhalten, wird die Urinausscheidung reduziert. Der arterielle Blutdruck ist zur Beurteilung des Herzzeitvolumens nur begrenzt geeignet. Liegt er unter der Norm, spricht dies für ein reduziertes HZV. Durch massive Ausschüttung von Vasokonstriktoren kann der Blutdruck im Normbereich gehalten wer-
den – auch wenn ein deutlich erniedrigtes Herzzeitvolumen vorliegt. Die Überwachung des arteriellen Blutdrucks allein ist hier unzureichend. Durch die reduzierte Haut- und Muskeldurchblutung kommt es zu einer Marmorierung und Kühle der Haut. Die peripheren Pulse sind nur noch schwach tastbar. Die Rekapillarisierungszeit ist mit >2 s verlängert. Wird durch eine Narkoseeinleitung die Produktion der endogenen Katecholamine bei diesen Patienten unterdrückt, kommt es zu einem arteriellen Blutdruckabfall. Die Koronarperfusion sinkt bei dem ohnehin maximal angestrengten Herzmuskel unter ein kritisches Maß, und es kommt zu einem akuten Herzstillstand. Dies stellt ein häufiges Problem bei Kindern v. a. bei septischen Erkrankungen dar und kann durch die Gabe von Vasokonstriktoren bereits vor der Narkoseeinleitung einfach umgangen werden. Reichen die Mechanismen zur Kompensation nicht aus, werden auch die lebensnotwendigen Organe wie Herz und Gehirn nicht mehr ausreichend durchblutet. Als Zeichen der mangelnden Durchblutung des Gehirns verliert der Patient seine Kommunikationsfähigkeit und trübt schließlich ein. Dies ist ein sicheres Zeichen einer in Kürze auftretenden kardiorespiratorischen Erschöpfung. Bei Kindern, mit ihren relativ geringen Glykogen- und muskulären Reserven, tritt der Atem- und Kreislaufstillstand meist plötzlich und oftmals unerwartet auf. Besonders bei Säuglingen und Kleinkindern verläuft dieser Prozess fulminant. Differenzialdiagnostisch und -therapeutisch muss von verschiedenen Kompartimenten des Kreislaufs ausgegangen werden. Neben dem systemarteriellen und pulmonalarteriellen Kreislauf verfügt jedes Organ über eine eigene Versorgung. Bei einem vorliegenden intrakraniellen Druckanstieg oder einem intraabdominellen Kompartmentsyndrom muss dieser Umstand berücksichtigt werden, auch wenn das Herzzeitvolumen im Systemkreislauf ausreicht.
88.5.3
Diagnostik
> Das oberste Primat ist das sofortige Erkennen des kritischen kranken Kindes, um die Entstehung einer Kreislaufdekompensation abzuwenden. Kommt es zu einem reanimationspflichtigen Ereignis, verschlechtert sich die Prognose erheblich.
Die Ätiologie des Kreislaufversagens muss unverzüglich diagnostiziert werden, um eine differenzierte Therapie zu ermöglichen. Dem klinischen Erscheinungsbild kommt bei Kindern besondere Bedeutung zu, da ihre Kommunikationsfähigkeit, altersbedingt, eingeschränkt sein kann. Prädisponierende Erkrankungen wie angeborene Erkrankungen müssen anamnestisch erfasst werden. Das klinische Bild gibt raschen Aufschluss über den derzeitigen Zustand des Patienten und ist allseits verfügbar. Die Beschaffenheit der Haut (Temperatur, Turgor und Hautfarbe) gibt einen Überblick über den Volumenstatus, Oxygenierung und den peripheren Gefäßwiderstand. Die Rekapillarisierungszeit kann als guter Parameter für eine erfolgreiche Rehydratation herangezogen werden. Pulsfrequenz und Qualität sowie die Beurteilung von Atemfrequenz und Atemarbeit sind überaus wichtige klinische Zeichen zur Abschätzung einer drohenden Kreislaufinsuffizienz. Die Urinproduktion kann ebenso Aufschluss über den Volumenstatus geben.
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Kapitel 88 · Kinderintensivmedizin
In kurzen Abständen muss der psychomentale Status erfasst werden, da er Auskunft über eine beginnende schwere Dekompensation geben kann.
Labordiagnostik
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Mit der arteriellen oder kapillären Blutgasanalyse können Aussagen über den respiratorischen und den Kreislaufstatus gewonnen werden. Während der pO2, pCO2 und die Sauerstoffsättigung Auskunft über die Ventilation geben, haben der pH-Wert, das Standardbikarbonat und der »base excess« sowie das mittlerweile in fast allen Blutgasmessgeräten etablierte Laktat einen hohen Stellenwert in der Beurteilung der Kreislaufsituation.
88
> Das erhöhte Laktat und der erniedrigte pH-Wert deuten auf ein nicht ausreichendes Herzzeitvolumen hin.
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Ihnen kommt auch bei der Therapiesteuerung ein hoher Stellenwert zu. Nach Anlage eines zentralen Venenkatheters ist bei richtiger Lage und ruhiggestelltem Patienten die zentralvenöse Sauerstoffsättigung ein zuverlässiger Parameter zur Beurteilung der Perfusion. Ist sie erniedrigt, kann von einer verminderten Zirkulation mit vermehrter Ausschöpfung des arteriellen Sauerstoffs ausgegangen werden. Ebenso können mit der Blutgasanalysenprobe der Blutzucker, die wichtigsten Serumelektrolyte sowie der Hb-Wert in kürzester Zeit bestimmt werden. Zur Abschätzung der Krankheitsschwere sind Bestimmungen der Organparameter wie Kreatinin, Harnstoff, GOT, Amylase, die Quantifizierung von Entzündungsparametern sowie ein Gerinnungsstatus mit Fibrinspaltprodukten und einem Blutbild unerlässlich. Urinosmolarität und spezifisches Gewicht geben gute Hinweise auf die Konzentrationsfähigkeit der Niere bzw. auf eine evtl. vorliegende Störung im Haushalt des antidiuretischen Hormons. Herzinsuffizienzparameter wie das pro-BNP können hilfreich sein, sind bei Kindern allerdings noch nicht ausreichend validiert.
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> Ziel sollte eine Urinproduktion von mindestens 2 ml/ kg KG/h sein.
Aus dem Urin kann ein Drogen- und Medikamenten-Screening bei Verdacht auf Intoxikationen durchgeführt werden. Die oben genannten klinischen Zeichen sind regelmäßig zu überprüfen.
Weitere Untersuchungen
Behandlungsziel
Neben einer Röntgenuntersuchung des Thorax ist eine sofortige Echokardiographie beim Kreislaufversagen obligat. Sie gibt wichtige Informationen zur myokardialen Funktion und ist für den differenzierten Einsatz von Katecholaminen unerlässlich. Sie muss auf Intensivstationen jederzeit verfügbar sein und ist integraler Bestandteil in der Ausbildung des Intensivmediziners. Um eventuelle Blutungsquellen nach Traumata als Ursache für das Kreislaufversagen zu identifizieren, können die Sonographie der Körperhöhlen und auch eine Computertomographie des Kopfes oder des Stammes notwendig sein.
Das Ziel der Behandlung muss eine ausreichende Versorgung aller Kompartimente mit energiereichen Substraten sein, vornehmlich mit Sauerstoff und Glukose. Dies kann nur gelingen, wenn die auslösende Grundkrankheit beseitigt, das intrazelluläre Milieu stabilisiert und ein adäquates Herzzeitvolumen wiederhergestellt werden kann.
88.5.4
Therapie und Monitoring
Der Kreislaufschock erfordert ein vorausschauendes Vorgehen. Um sowohl ein ausreichendes Monitoring als auch eine adäquate Therapie durchführen zu können, bedarf es auch technischer Fertigkeiten des Notfallmediziners (7 Übersicht).
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Für die weitere Therapie bedarf es großlumiger intravenöser Zugänge. Ist von einer schweren Erkrankung des Patienten auszugehen, sind die Anlage einer invasiven arteriellen Blutdruckmessung und die eines zentralen Venenkatheters (ZVK) unerlässlich. Kontinuierliche optische Messungen der zentralvenösen Sättigung über spezielle zentralvenöse Katheter sind auch im Kindesalter möglich. Vorsicht ist bei der Messung des zentralvenösen Drucks (ZVD) als Parameter des intravasalen Volumens geboten. Der ZVD ist stark abhängig von der Funktion des rechten Ventrikels und spiegelt daher u. U. nur dessen Funktion wieder. Zur Messung des Herzzeitvolumens stehen zunehmend mehr invasive und nichtinvasive Methoden zur Verfügung. Durch ihre teils kontinuierlich abrufbaren Messwerte( Herzzeitvolumen, Lungenwasser, peripherer Widerstand) können sie wichtige Informationen über den Krankheitsverlauf und die Effektivität der Therapie geben. Überlegungen zum Volumen- und medikamentösen Management bestimmen im Weiteren die Versorgung des Patienten mit intravenösen Zugängen oder Lumina. Sie müssen in ausreichender Zahl vorhanden sein, um Inkompatibilitätsreaktionen lebensnotwendiger Medikamenten zu vermeiden. Die kontinuierliche Messung der Urinausscheidung über einen Blasenkatheter ist ein wichtiger Parameter zur Flüssigkeitsbilanzierung. Sie sollte mit einem übersichtlichen Bilanzbogen stündlich dokumentiert werden.
Kontinuierliches Standardmonitoring beim Kreislaufversagen 4 4 4 4
EKG Perkutane O2-Sättigung (pulsxoxymetrisch) Atemfrequenz Körpertemperatur
Zuführung energiereicher Substrate An erster Stelle steht die kontinuierliche Zufuhr von Sauerstoff. Sie dient sowohl der Vermeidung weiterer Hypoxien als auch der Reduktion der Atemarbeit und somit auch einer Entlastung des Kreislaufs. > Als Zielgrößen gelten eine Sauerstoffsättigung von > 95% und ein paO2 von 100–120 mm Hg.
Sind bei einer Anämie nicht genug Sauerstoffträger vorhanden, sollte eine Transfusion von Erythrozyten erwogen werden. Besonderes Augenmerk muss auf die rasche Entwicklung einer Hypoglykämie im Kindesalter gelegt werden. Eine dauerhafte Stabilisierung des Kreislaufs ohne ausreichende Blutzuckerkonzentration ist unmöglich. Die akute Gabe von 1 g Glukose/kg KG ist bei der Hypoglykämie indiziert.
Reduktion des Energieverbrauchs Kann v. a. bei Beginn der Therapie kein ausreichendes Herzzeitvolumen aufgebaut werden oder droht eine muskuläre Erschöpfung des Patienten, muss der Energieverbrauch gesenkt werden.
1167 88.5 · Kreislaufversagen
Beatmung. Durch die Initiierung einer maschinellen Beatmung mit
Reduktion der Atemarbeit, Analgesie und Sedierung wird der Energiebedarf erheblich gesenkt und der Kreislauf entlastet. Vorsicht ist geboten bei der Narkoseeinleitung zur Intubation mit Abfall des peripheren Widerstandes und nachfolgendem Blutdruckabfall. Für diesen Fall sollten genügend Personal und Therapiemöglichkeiten zur Verfügung stehen. Eine ausreichende Anzahl großlumiger intravenöser Zugänge und ein intensives Monitoring sind im Vorfeld der Intubation zu implementieren. Durch die Senkung eines erhöhten paCO2 und der Normalisierung des pH-Wertes kann eine Reduktion des pulmonalarteriellen Widerstands mit Verbesserung der rechtsventrikulären Funktion erreicht werden. Hat die Kreislaufinsuffizienz, wie im Kindesalter häufig, eine respiratorische Ursache, kann sie allein mit der Respiratortherapie oft ausreichend behandelt werden.
te die Indikation zur Gabe dieser Lösungen sehr kritisch überprüft werden. Blutprodukte. Aufgrund ihres Infektionsrisikos, der Möglichkeit
von immunologischer Unverträglichkeit, der begrenzten Verfügbarkeit und der hohen Kosten sind Blutprodukte wie gefrorenes Frischplasma, Erythrozyten- und Thrombozytenkonzentrate nur nach strenger Indikationsstellung als Volumenersatz zu verabreichen. Besteht parallel zum Volumenmangel eine schwere Anämie, eine zu korrigierende Gerinnungsstörung oder eine persistierende Blutung, ist ihr Einsatz zu erwägen. Sollte die initiale Gabe von 20 ml/kg KG Volumen keinen ausreichenden Effekt auf den Kreislauf erzielen, kann die Gabe wiederholt werden. Sollte nach insgesamt 60 ml/kg KG noch immer keine Besserung eintreten, muss nach einem nicht erkannten Flüssigkeitsverlust gesucht werden. Bei persistierenden Blutungen ist eine chirurgische Intervention erforderlich.
Flüssigkeitstherapie Wichtiges Ziel der Kreislauftherapie ist die Bereitstellung eines ausreichenden intravasalen Volumens. Mit Ausnahme des kardiogenen Schocks stellt die Flüssigkeitszufuhr die Grundlage der Therapie dar. > Kein Kreislauf ohne ausreichendes intravasales Volumen!
Begonnen wird die Volumengabe mit einem Bolus von 20 ml/ kg KG. Die Art des Volumens ist für das Kindesalter bisher nicht ausreichend geklärt. Eine eindeutige Überlegenheit von kristalloiden oder kolloidalen Lösungen ist nicht durch große Studien belegt. Der theoretisch längeren Verweildauer kolloidaler Lösungen im Gefäßbett stehen Unverträglichkeitsreaktionen gegenüber. Blutprodukte sind nur nach strenger Indikation, bei entsprechendem Verlust, indiziert. Kristalloide Lösungen. Diese Lösungen sind leicht verfügbar und ausgesprochen kostengünstig. Angewendet werden Vollelektrolytlösungen wie Ringer-Lösung. Bei bereits bestehender Laktatazidose ist die Gabe von Ringer-Laktatlösung zu vermeiden. Alternativ steht hier Ringer-Acetatlösung zur Verfügung. Da kristalloide Lösungen rasch das Gefäßbett verlassen, sind im Vergleich zu kolloidalen Lösungen theoretisch größere Infusionsmengen notwendig. Bei der Gabe von großen Mengen isotoner Kochsalzlösung kann eine hyperchlorämische Azidose entstehen. Bei bestehender Niereninsuffizienz ist auf den Kaliumgehalt der Lösungen zu achten, um eine Hyperkaliämie zu vermeiden. Glukosehaltige Lösungen sind bei der Volumensubstitution nicht indiziert, da sie einerseits zu einer Hyperglykämie führen und andererseits durch die Verstoffwechslung der zugeführten Glukose die Osmolarität der Lösung herabgesetzt wird. Kolloidale Lösungen. Kolloidale Lösungen verbleiben länger im Gefäßbett und erhöhen theoretisch effektiver das intravasale Volumen. Sie sind teurer als kristalloide Lösungen Zur Verfügung stehen Präparate auf Basis von Gelatine, modifizierter Stärke und Dextranen. Allen gemeinsam ist die Möglichkeit einer anaphylaktischen Reaktion des Empfängers auf die Präparate. Bei Produkten aus Stärke und Dextranen wird eine Tageshöchstdosis von 20 ml/kg KG empfohlen, da sie im RES abgelagert werden und bei Überdosierung zu Hautjucken führen. Bei bestimmten Stärkepräparaten wurde eine Häufung von Nierenversagen im Erwachsenenalter beobachtet. Inwieweit Albuminlösungen bei der Volumensubstitution ein Stellenwert zukommt, ist ungeklärt. Auch aufgrund der Kosten soll-
Medikamentöse Beeinflussung der Myokardfunktion und Regulierung des peripheren Gefäßwiderstandes Zur Aufrechterhaltung eines ausreichenden Herzzeitvolumens ist eine adäquate Myokardfunktion notwendig. Ist diese durch einen lebensbedrohlichen Zustand oder eine myokardiale Erkrankung beeinträchtigt, besteht die Möglichkeit, das Herz medikamentös zu entlasten und die Funktion mit positiv inotropen Substanzen zu verbessern. Hierzu gehören folgende Substanzen: Adrenalin. Adrenalin führt zu einer generalisierten Sympathi-
kusstimulation mit Steigerung der Myokardkontraktilität und der Herzfrequenz sowie peripherer Vasokonstriktion mit Anstieg des Blutdrucks. Unter Reanimationsbedingungen verbessert der Anstieg des diastolischen Blutdrucks den koronaren Blutfluss. Adrenalin ist das Mittel der 1. Wahl bei der kardiopulmonalen Reanimationen und beim anaphylaktischen Schock. Nachteilig wirken sich der erhöhte myokardiale Sauerstoffverbrauch und eine Proarryhthmogenität aus.
Dosierung von Adrenalin 4 0,05–1 μg/kg KG/min über Perfusor, 4 als Bolus 0,01 μg/kg KG, repetitiv alle 3 min.
Noradrenalin. Der Effekt von Noradrenalin beruht mehr auf sei-
ner Fähigkeit zur peripheren Widerstandserhöhung als auf seiner schwächer ausgeprägten positiven Inotropie. Die Herz- und Nierendurchblutung werden durch die Erhöhung des Blutdrucks verbessert. Die Hauptindikation für Noradrenalin ist der distributive Schock mit erniedrigtem peripherem Widerstand. Vor der Gabe muss unbedingt die Herzfunktion eingeschätzt werden. Ist die myokardiale Kontraktilität bereits eingeschränkt, kann sich die Pumpfunktion durch die Erhöhung der Nachlast und die nicht ausreichende positiv inotrope Wirkung des Noradrenalins weiter verschlechtern. Dosierung von Noradrenalin 4 0,05–1 μg/kg KG/min über Perfusor.
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Kapitel 88 · Kinderintensivmedizin
Dobutamin. Dieses Katecholamin wirkt positiv inotrop; in niedriger Dosierung steigt der periphere Gefäßwiderstand nicht an; der pulmonalarterielle Widerstand wird gesenkt. In niedriger Dosierung kann es zu einem Blutdruckabfall kommen. Die Substanz wird daher oft mit Noradrenalin kombiniert.
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Medikamente mit Wirkung auf die peripheren Widerstandsgefäße Zur Reduktion der Nachlast und zur Verbesserung der peripheren Durchblutung werden Medikamente mit Wirkung auf die peripheren Widerstandsgefäße eingesetzt. Allen gemeinsam ist eine mögliche Reduktion des systemarteriellen Blutdrucks, der mit einer Volumengabe adäquat entgegengewirkt werden kann.
Dosierung von Dobutamin
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4 1–10 μg/kg KG/min über Perfusor.
Dopamin. Dieses Katecholamin wirkt positiv inotrop; der periphere und pulmonalarterielle Widerstand werden erhöht. Die Wirkung ist schwächer ausgeprägt als die der anderen Katecholamine. Ferner kommt es durch Dopamin zu einer verminderten Produktion von Schilddrüsenhormonen. Der Stellenwert von Dopamin, auch vor dem Hintergrund eines erhöhten pulmonalarteriellen Drucks, ist daher umstritten. Die niedrig dosierte Gabe von Dopamin zur Verbesserung der Nierendurchblutung (Nierendosis) ist verlassen worden.
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Natriumnitroprussid. Das Medikament wirkt direkt relaxierend auf
die Arteriolen bzw. arteriellen Widerstandsgefäße. Aufgrund einer Zyanidakkumulation wird parallel die Gabe von Natriumthiosulfat in 10-facher Dosierung des Natriumnitroprussids empfohlen. Die Zufuhr erfolgt lichtgeschützt.
Dosierung von Natriumnitroprussid 4 0,5–8 μg/kg KG/min als Dauerinfusion.
Nitroglyzerin. In niedriger Dosierung wirkt Nitroglyzerin vornehmlich auf venöse Kapazitätsgefäße und in höherer Dosierung auch auf die arteriellen Widerstandgefäße.
Dosierung von Dopamin
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4 1–10 (20) μg/kg KG/min über Perfusor.
Dosierung von Nitroglyzerin 4 2–20 μg/kg KG/min als Dauerinfusion.
Phosphodiesterasehemmer. Milrinon, Enoximone und Amrinon
wirken positiv inotrop und senken den systemarteriellen Widerstand. Sie wirken additiv zu den Katecholaminen. Ihre Effektivität ist belegt für die perioperative Gabe bei herzchirurgischen Eingriffen und in der Behandlung der Sepsis. An Nebenwirkungen sind Thrombozytopenie und Leberfunktionsstörung sowie Abfall des systemarteriellen Blutdrucks zu nennen.
Dosierung von Phosphodiesterasehemmern Enoximone: 4 Initialer Bolus von 0,25 mg/kg KG über 10 min und 4 Dauerinfusion von 10–20 μg/kg KG/min.
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Milrinone:
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Amrinon:
4 0,1–1 μg/kg KG/min über Dauerperfusor. 4 Initialer Bolus von 750 μg/kg KG über 3 min und 4 Dauerinfusion von 1–20 μg/kg KG/min
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Levosimendan. Dieser Kalzium-Sensitizer wirkt positiv inotrop ohne Erhöhung des myokardialen Sauerstoffverbrauchs und senkt den peripheren Gefäßwiderstand. Ein weiterer Vorteil ist der fehlende proarrhythmogene Effekt. Aus der geringen Datenlage bei Kindern kann eine Therapieempfehlung noch nicht abgeleitet werden. Als Rescue-Therapie ist die Gabe zu erwägen.
Dosierung von Levosimendan 4 0,1 μg/kg KG/min als Dauerinfusion über total 24 h. 4 Ein Loading ist möglich.
Nifedipin. Die Substanz wirkt direkt relaxierend auf die arteriellen Widerstandgefäße. Die Zufuhr erfolgt lichtgeschützt.
Dosierung von Nifedipin 4 0,2–0,8 μg/kg KG/min als Dauerinfusion.
Medikamente zur Steigerung des peripheren Widerstandes ohne positiv inotrope Wirkung wie Vasopressin und Terlipressin sind in der Kinderheilkunde nicht ausreichend untersucht. Sie sollten als Rescue-Therapie bei Versagen der Wirkung von Katecholaminen aber erwogen werden.
Medikamente zur Senkung des pulmonalarteriellen Widerstandes Beruht das Kreislaufversagen auf einer Rechtsherzinsuffizienz mit Erhöhung des pulmonalarteriellen Widerstandes, muss dieser gesenkt werden. Durch eine Verbesserung der alveolären Belüftung kann dieses Ziel in vielen Fällen bereits erreicht werden. Gelingt dies nicht, ist die medikamentöse Senkung indiziert. Dies kann entweder durch den Einsatz von inhalativem NO oder durch Prostazyklin bzw. deren Derivaten wie Iloprostadil erreicht werden.
1169 88.5 · Kreislaufversagen
Dosierungen NO bei Therapiebeginn: 4 5–40 (100) ppm inhal. Cave: Rebound-Phänomen beim Abstellen auch nach sehr geringer Dosierung.
Prostazyklin: 4 2–20 ng/kg KG/min i.v. Cave: Blutdruckabfall und Thrombozytenaggregationshemmung.
nen des kritisch kranken Kindes kann eine Reanimation verhindert werden. Dies ist oberstes Primat auch in der pädiatrischen Intensivmedizin. Auf jeder Kinderintensivstation sollte eine Wiederbelebung ein seltenes Ereignis sein. Für den Fall der Reanimation wird dem Algorithmus der internationalen Leitlinien gefolgt (. Abb. 88.2). Der hier geschilderte Ablauf bezieht sich auf Kinder nach Verlegung aus dem Kreißsaal bis zum Auftreten von äußeren Pubertätszeichen. Im Kreißsaal wird der Algorithmus für Neugeborene angewandt (7 Kap. 87), und mit dem Ausbilden der Pubertät werden die Jugendlichen nach dem Schema für Erwachsene behandelt (7 Kap. 30).
Iloprostadil: 4 0,5–2,5 μg/kg KG, 6–9× tgl. inhal. Cave bei Linksherzdekompensation, einschleichend dosieren.
Sildenafil: 4 0,5–2 mg/kg KG/Tag in 4–6 Dosen p.o. Cave: Blutdruckabfall, einschleichend dosieren.
Weitere Medikamente Zur Unterstützung der oben genannten Maßnahmen können auch Stresshormone wie Hydrocortison (2 mg/kg KG/Tag in 2 Dosen) und Thyreotardin (1 μg/kg KG/Tag) eingesetzt werden. In seltenen Fällen lässt sich eine Laktatazidose durch die Gabe von Vitamin B1 verbessern. Beruht die Kreislaufinsuffizienz auf einer Volumenbelastung, z. B. bei chronischer Niereninsuffizienz, ist die Gabe von Diuretika angezeigt. Die Gabe von Furosemid mit maximal 10 mg/kg KG/Tag stellt in diesem Fall eine effektive Therapie dar. Eine Dauerinfusion kann starken Volumenschwankungen durch Bolusgaben entgegenwirken. Besteht ein Volumenmangel, darf die Diurese nicht medikamentös verstärkt werden, nur um eine Urinproduktion zu erzwingen. Erst bei einem ausgeglichenen Volumenstatus ist eine forcierte Diurese indiziert.
Mechanische Therapie des Kreislaufversagens Sollte durch alle oben genannten Maßnahmen kein ausreichendes Herzzeitvolumen erreicht werden, ist die Kreislaufunterstützung mit einer extrakorporalen Membranoxygenierung oder durch kardiale Assistsysteme zu erwägen. Diese Verfahren sind an wenige spezialisierte Kinderintensivzentren gebunden und erfordern einen hohen Arbeitsaufwand. Die Zentren sollten frühzeitig über den eventuellen Bedarf an solchen Therapien in Kenntnis gesetzt werden.
88.5.5
Reanimation im Kindesalter
Die Ursachen des Atem- und Kreislaufstillstandes im Kindesalter unterscheiden sich aufgrund physiologischer, anatomischer und pathophysiologischer Besonderheiten von denen bei Erwachsenen. Der primär kardial bedingte Herzstillstand kommt in nur 10% der Fälle vor. Häufigste Ursachen eines reanimationspflichtigen Ereignisses sind respiratorische Probleme wie Pneumonie, bronchiale Obstruktion, Hypoxien und Flüssigkeitsverluste bei Gastroenteritis, Trauma oder Sepsis. Sieht man von Unfällen oder prolongierten Krampfanfällen ab, haben die meisten Notfälle aufgrund ihrer Grundkrankheit eine mehr oder weniger lange Vorgeschichte. Bei rechtzeitigem Erken-
Algorithmus der Wiederbelebung im Kindesalter Nach Auffinden des Patienten wird zuerst auf die Sicherheit des Behandlers geachtet und dann das Bewusstsein des Patienten durch laute Ansprache und, falls nötig, durch Setzen eines Schmerzreizes an der oberen Thoraxapertur überprüft. Reagiert der Patient nicht, erfolgt ein ungezielter Hilferuf, der Umstehende aktivieren soll (»call fast«). Falls eine bekannte kardiale Grunderkrankung vorliegt, wird primär ein gezielter Hilferuf durchgeführt, da hier von einer komplizierten Reanimation auszugehen ist. Dieser Patient benötigt den sofortigen Einsatz eines Defibrillators oder bedarf einer Punktion des Perikards (»call first«). Anschließend wird der Brustkorb des Patienten entkleidet, um Thoraxexkursionen besser beurteilen zu können. Dann werden die Atemwege überprüft und geöffnet. Nach kurzer Inspektion der Mundhöhle zum Ausschluss von Fremdkörpern wird das Kinn angehoben und der Kopf überstreckt. Säuglinge werden als Ausnahme in Neutralposition gelagert, da es bei einem Überstrecken des Kopfes in diesem Alter aufgrund anatomischer Besonderheiten zur Verlegung der Atemwege kommt. Liegt ein mögliches Trauma der Halswirbelsäule vor, wird achsenneutral gelagert und das Kinn mit dem Esmarch-Handgriff angehoben. Für wenige Sekunden kann nun überprüft werden, ob das Kind atmet. Ist ein Atemstillstand offensichtlich, wird sofort beatmet. 4 Atmet das Kind nicht ausreichend, werden nun 5 Beatmungshübe appliziert, von denen mindestens 2 effektiv sein müssen. Die Beatmungshübe erfolgen auf der Intensivstation mit Beatmungsbeutel und Maske oder über den liegenden Tubus. Stehen keine Hilfsmittel zur Verfügung, ist die Mund-zu-Mund/-NaseBeatmung nach wie vor Methode der Wahl beim Kreislaufstillstand. Der Thorax sollte sich dabei altersentsprechend und symmetrisch heben. Beatmet wird mit 100% Sauerstoff und maximalem Flow der Sauerstoffquelle. 4 Nach den 5 Atemhüben wird der Kreislauf überprüft. Es wird auf Vitalzeichen wie Körperbewegungen und Hautkolorit geachtet. Der Puls bei Säuglingen wird an der A. brachialis und bei Kindern an der A. carotis getastet. Auch hier kann dieser Schritt bei offensichtlichem Kreislaufstillstand übergangen werden. 4 Bei Pulslosigkeit oder einem Puls von Eine persistierende Hypoxie, Hypovolämie, Hyper/ Hypokaliämie, Hypothermie, Perikardtamponade, Pneumothorax, Intoxikation oder eine Thrombembolie können, unerkannt, die Reanimation scheitern lassen.
Das Arbeiten nach einem solch strikten Schema dient der Automatisierung des eigenen Handels und setzt mentale Ressourcen während der Reanimation frei, die sonst durch den Handlungsablauf selbst gebunden sind.
Die Überlebensraten nach standardisierter Reanimation sind bei Kindern hoch: so überleben 60% aller Kinder, die aufgrund respiratorischer Ursachen reanimiert werden mussten, ohne neurologische Defizite. Auf Intensivstationen sollten regelmäßige Übungen zur Reanimation stattfinden, die das gesamte medizinische Personal einbeziehen müssen. Ein konsequentes Simulationstraining kann v. a. die Teamarbeit noch weiter intensivieren. Die in 7 Abschn. 88.2.1 beschriebenen Notfallkurse sind in vielen Kliniken für die Mitarbeiter von Intensivstationen obligat. Die Frage, ob Eltern bei Reanimationen anwesend sein sollen, wird sehr kontrovers diskutiert. Traditionell ist dies in Deutschland noch nicht tief verankert, während in den Niederlanden dieses Vorgehen teilweise selbstverständlich ist. Unter der Prämisse einer kommentierenden und empathischen Betreuung der Eltern während der Reanimation sind die Erfahrungen auch im eigenen Patientengut sehr positiv, da die Eltern miterleben können, dass für ihr Kind alles getan wurde. Dies deckt sich auch mit wissenschaftlichen Untersuchungen aus anderen europäischen Arbeitsgruppen.
1171 88.7 · Systemisches inflammatorisches Response-Syndrom und Sepsis
. Tab. 88.6 Altersentsprechender Bedarf an Flüssigkeit, Energie und Nahrungsbestandteilen Flüssigkeit
Energiemenge
Glukose
Protein
Fett
[ml/kg KG/Tag]
[kcal/kg KG/Tag]
[g/kg KG/Tag]
[g/kg KG/Tag]
[g/kg KG/Tag]
1. Lebenstag
50–70
30–40
5–7
2. Lebenstag
70–90
50–60
7–9
0,5
0,5
3. Lebenstag
90–110
60–80
10–12
1
1
4. Lebenstag
110–130
80–100
10–15
1,5
1,5
5. Lebenstag
130–150
120–140
10–18
2–3
2
6. Lebenstag
130–170
120–140
10–18
2–3
2
0–4 Monate
130–170
110–120
10–15
2–2,5
2,5–3
4–12 Monate
100–120
90–100
10–15
1,5–2
2–3
1–4 Jahre
80–100
90–110
8–12
1–1,3
2–2,5
4–7 Jahre
70–90
80–100
8–12
1–1,3
1,5–2
7–10 Jahre
60–80
70–90
8–10
1
1,5–2
10–14 Jahre
40–60
50–60
8–10
1
1–1,5
14–19 Jahre
35–45
40–50
8–10
1
1–1,5
Der Flüssigkeitsbedarf vermindert sich unter Beatmung aufgrund der angefeuchteten Atemluft um 10 ml/kg. Bei Fieber erhöht sich der Bedarf um 10–15 ml/kg pro 1°C.
88.6
Ernährung
Der Bedarf von schwer kranken Kindern an Nährstoffen auf der Intensivstation ist stark altersabhängig (. Tab. 88.6). Weiterhin wird er beeinflusst vom Phasenverlauf des Postaggressionsstoffwechsels und der Grunderkrankung. In der Akutphase des Postaggressionsstoffwechsels sollten mindestens 3–5 g Glukose/kg KG/Tag zugeführt werden. Entsteht dabei eine Hyperglykämie, kann diese mit Insulin gesenkt werden. Um Hypoglykämien zu vermeiden, muss der Blutzucker engmaschig kontrolliert werden, zumal die reduzierten Glykogenreserven von Kindern leicht Senkungen des Blutzuckerspiegels zulassen. Grundsätzlich ist die enterale Ernährung der parenteralen vorzuziehen. Nebenwirkungen der parenteralen Ernährung wie Cholestase, Zottenatrophie oder die Abhängigkeit von zentralvenösen Kathetern lassen sie nur nach strenger Indikationsstellung zu. Besonders die Obstipation bei einer Therapie mit Opioiden oder ein Pylorospasmus unter Stress erschweren eine enterale Therapie. Die Obstipation lässt sich mit der Gabe von Naloxon per os wie in 7 Abschn. 20.4.1 beschrieben mildern. Dem mangelhaften Nahrungstransport über den Pylorus kann man mit der Anlage einer Duodenalsonde entgegenwirken. Beide Methoden müssen früh in die Therapie integriert werden, um eine persistierende Darmatonie und eine Zottenatrophie zu vermeiden. Anderenfalls wird der enterale Kostaufbau erschwert und zeitintensiv. Auch kleinste Mengen Nahrung, die für eine komplette enterale Ernährung nicht ausreichen, können zumindest die Zottenatrophie verhindern. Für die Ernährung steht eine ausreichende Anzahl von Fertigprodukten zur Verfügung. > In der Postaggressionsphase besteht bei Kindern ein erhöhter Proteinkatabolismus im Vergleich zu Erwachsenen. In der Regenerationsphase werden hingegen mehr Kalorien und mehr Proteine benötigt.
Die Indikation zu einer parenteralen Ernährung unterscheidet sich nicht von der bei Erwachsenen (7 Abschn. 20.3). Da die Nierenfunktion besonders bei Säuglingen und Kleinkindern noch nicht voll ausgereift ist, muss auf ein stringentes Monitoring der Elektrolyte geachtet werden, um, z. B. eine Hyperkaliämie durch eine parenterale Zufuhr zu vermeiden. Es empfiehlt sich, bei Patienten mit einer Langzeit-parenteralen Ernährung in wöchentlichen Abständen Spurenelemente, Aminosäuren und Blutfette laborchemisch zu bestimmen, um eventuelle Fehlernährungen zu vermeiden. Für die Berechnung der parenteralen Ernährung stehen entsprechende computergestützte Programme zur Verfügung. Die Verwendung von parenteralen Fertiggemischen bei Kindern ist stark abhängig von deren Organfunktion. Aus Gründen der Patientensicherheit sind sie bei schwerst kranken Kindern im Multiorganversagen oft nicht anwendbar. Für Säuglinge sind keine Fertiggemische verfügbar. Die Ernährung muss an begleitende Fehlfunktionen von Organen, wie ein akutes Leberversagen, angepasst werden. Der Nahrungsaufbau erfolgt nach einem Stufenschema (. Tab. 88.7).
88.7
Systemisches inflammatorisches Response-Syndrom und Sepsis
Das nichtinfektiöse systemische inflammatorische Response-Syndrom (NISIRS) und die Sepsis stellen ein häufiges und schwerwiegendes Problem auf Intensivstationen dar. Das NISIRS ist eine entzündliche Reaktion auf ein in den Körper eingreifendes Ereignis, wie z. B. Trauma, Verbrennung, Hypoxie oder ein operativer Eingriff.
88
1172
88 88 88 88 88 88
Kapitel 88 · Kinderintensivmedizin
. Tab. 88.7 Steigerung einer parenteralen Ernährung Infusionstag
Glucose
Aminosäuren
Fette
Energiemenge
[g/kg KG/Tag]
[g/kg KG/Tag]
[g/kg KG/Tag]
[kcal]
1
5
1
1
35
2
6
1,5
1,5
46
3
7
2
2
58
4
8
2
2,5
67
5
10
2
3
81
6
12
2
3
89
>6
15
2
3
108
88
Steigerung der Energieträger einer parenteralen Ernährung nach deren Beginn.
88
Definition der Sepsis und Organdysfunktion bei Kindern
88
Infektion/ Trauma
SIRS
Sepsis
Schwere Sepsis
88 88 88 88 88 88 88
Eine systemische Reaktion auf eine nicht spezifische Schädigung, die mindestens 2 der folgenden Symptome verursacht: Kerntemperatur < 36°C oder > 38,5°C Herzfrequenz 90. Perzentile Atemfrequenz > 90th Perzentile, schwere Apnoe Leukozyten 20 000/mm3 oder >10 % unreife neutrophile Granulozyten oder >25 % I/T-Ratio in 1. Lebenswoche
SIRS mit vermuteter oder nachgewiesener Infektion
Sepsis mit ≥1 Organdysfunktion Schock Kardiovaskulär (volumenrefraktäre Hypotension > 40 ml/kg KG/h) IRDS, ARDS (paO2 /FiO2≤ 200) Renal ( 2) Hämatologisch (Thrombozytenabfall 50%) ZNS Metabolische Azidose (BE >–5) ohne erkennbare Ursache
. Abb. 88.3 Definition von SIRS und Sepsis nach den Kriterien 2005 und 2008 der Surviving Sepsis Campaign. Sind mindestens 2 der aufgeführten Symptome bei einem Patienten nachzuweisen, erfüllt er die Kriterien für ein SIRS. Ist eine Infektion nachgewiesen oder angenommen, spricht man von Sepsis, mit Organversagen von einem schweren SIRS oder Sepsis und bei persistierender Depression des Systemkreislaufs von Schock
88 88 88
Definition Die Sepsis ist definiert als ein systemisches inflammatorisches Response Syndrom (SIRS) mit bewiesener oder angenommener Infektion (. Abb. 88.3).
88 88 88 88 88 88
Sowohl das NISIRS als auch die Sepsis können zu Organversagen und einer erhöhten Mortalität führen. Dies wiederum erhöht Arbeits- und Diagnostikaufwand. Während die Sepsis durch die Bemühungen der letzten Jahre gut untersucht ist, gibt es nur wenige Untersuchungen zum NISIRS. Es konnte in einer großen australischen Studie nachgewiesen werden, dass die Prävalenz von NISIRS und Sepsis auf Intensivstationen bei Erwachsenen gleich häufig ist und auch bei der Mortalität keine signifikanten Unterschiede bestehen. Bei Kindern liegen die Prävalenzen für SIRS in der Gesamtklinik bei 7% und für eine Sepsis bei 1%. Auf Kinderintensivstationen beträgt die Prävalenz des SIRS bis zu 68% der Patienten, wobei sich in Untersuchungen zeigte, dass 2/3 der SIRS-Fälle infektiös und der Rest nichtinfektiös bedingt
sind. Dies hängt allerdings stark von dem Patientengut der Intensivstation ab. Ist der Anteil von Trauma- und postoperativen Patienten hoch, liegen im Verhältnis mehr nichtinfektiöse SIRS vor. > Das Auftreten systemischer Infektionen auf Kinderintensivstationen lässt sich durch die Einführung von Sepsismelderegistern und Trainingsprogrammen zur Händedesinfektion und z. B. der sterilen Anlage von zentralen Venenkathetern signifikant reduzieren.
Die Sepsis stellt eine der häufigsten Todesursachen auf Kinderintensivstationen dar. Die Letalität liegt je nach Grunderkrankung bei ca. 10%. Zentren mit speziell ausgebildeten Behandlungsteams und etablierten Standardtherapien konnten die Mortalität auf 2% senken. Die Behandlung muss früh einsetzen, da es bei einer zeitlichen Verzögerung der Standardbehandlung pro Stunde zu einer 1,4-fachen Erhöhung der Mortalität kommt. Die Pathophysiologie unterscheidet sich nicht wesentlich von der des Erwachsenen (7 Kap. 63). Wie bereits oben ausgeführt, ist die rasche Behandlung des Patienten essenziell, da es bei Kindern
1173 88.8 · Analgesie und Sedierung
schnell zu einer kardiorespiratorischen Dekompensation kommen kann und die Prognose bei frühem Beginn der Therapie exzellent ist. Die Intubationspflicht bei der schweren Sepsis ist hoch, und auch eine myokardiale Minderfunktion tritt bereits sehr früh im Krankheitsprozess auf. Insbesondere bei der Sepsis ist auf eine Hypoglykämie zu achten.
88.7.1
Therapie
Kinder entwickeln bei SIRS und Sepsis einen außerordentlich hohen Flüssigkeitsbedarf, der in Einzelfallbeschreibungen bis zu mehr als 400 ml/kg KG in den ersten 24 h betragen kann. Als Standard wird die Gabe von bis zu 60 ml Volumen/kg KG in den ersten 15 min nach Aufnahme gefordert (. Abb. 88.4). Dies ist schon allein aufgrund der begrenzten und schwierig anzulegenden intravenösen Zugänge eine große Herausforderung. Da parallel meist auch eine Sicherung der Atemwege erfolgen muss, ist der initiale Personalaufwand groß. Anhand des Therapieschemas (. Abb. 88.4) wird deutlich, dass die Therapie am Beginn der Erkrankung äußerst aggressiv und konsequent durchgeführt werden muss. Die großen Volumenmengen werden von Kindern meist besser vertragen als von erwachsenen Patienten, da keine Vorerkrankungen wie COPD oder eine koronare Herzerkrankung vorliegen. Auf die Medikamente und die Art des Volumens wurde in 7 Abschn. 88.5 eingegangen. Reine Vasopressoren werden nur bei Versagen der vorhergehenden Therapieversuche erwogen. Frühzeitig während der Initialtherapie muss Kontakt mit einem Zentrum für Organersatzverfahren aufgenommen werden, da es im septischen Schock häufig zum Organversagen kommt und die Prognose bei dem Einsatz einer extrakorporalen Membranoxygenierung (ECMO) in der Sepsis bei Kindern gut ist. Die Vorbereitung der ECMO und die Anfahrtszeit aus den wenigen ECMO-Zentren muss in die Strategie der Therapie einbezogen werden. Kann die Behandlung nach dem in . Abb. 88.4 dargestellten Schema erfolgen, sind sowohl Morbidität als auch Mortalität ausgesprochen gering.
0 min Erkennen des kritisch kranken Kindes Körperliche Untersuchung mit mentalem + Perfusionsstatus Anlage eines venösen Zugangs Atemwegssicherung Diagnostik Entscheidung CPR ja/nein 5 min Applikation 20–60 ml/kg KG isotone kristalloide oder kolloidale Lösung Korrektur Hypoglykämie und Hypokalziämie Echokardiographie
15 min
Flüssigkeitsresistenter Schock Anlage eines zentralen Venenkatheters + Arterie Weiter Volumengabe Start Katecholamintherapie nach Echokardiographie und Klinik
60 min
Katecholaminresistenter Schock Hydrokortison erwägen Titrieren der Katecholamine Bei zentralvenöser O2 -Sättigung