Claudia Globisch · Agnieszka Pufelska · Volker Weiß (Hrsg.) Die Dynamik der europäischen Rechten
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Claudia Globisch · Agnieszka Pufelska · Volker Weiß (Hrsg.) Die Dynamik der europäischen Rechten
Claudia Globisch · Agnieszka Pufelska Volker Weiß (Hrsg.)
Die Dynamik der europäischen Rechten Geschichte, Kontinuitäten und Wandel
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Frank Engelhardt / Cori Mackrodt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17191-3
Inhalt
Grußwort Die extreme Rechte in Europa: Zwischen ideologischem Widerspruch und temporärem Bündnis
9 11
Claudia Globisch, Agnieszka Pufelska und Volker Weiß
I
Nationalismus als Aufldärungsbruch?
Von der Gegenaufldärung zu Faschismus und Nazismus Gedanken zur europäischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts
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Zeev Sternhell
Nationalistische Rassisten
41
Ulrich Bielefeld
11 Strukturen und Ideologien in Osteuropa "Die Märtyrer sind die Magyaren" Der Holocaust in Ungarn aus der Sicht des Hauses des Terrors in Budapest und die Ethnisierung der Erinnerung in Ungarn Magdalena Marsovszky
55
Der Zweite Weltkrieg im Geschichtsbild der polnischen Rechten
75
Tomasz Konicz
Restauratives versus revolutionäres imperiales Denken im Elitendiskurs des postsowjetischen Russlands Eine spektralanalytische Interpretation der antiwestlichen Wende in der Putin'schen Außenpolitik Andreas Umland
89
6
Inhalt
III Strukturen und Ideologien in Westeuropa Die radikale Rechte in Europa heute Profile und Trends in West und Ost
111
kfzchaelkfznkenbe~
Taktische Zivilisierung der extremen Rechten in Deutschland und Großbritannien Andreas Klärner
133
Inwieweit ist ein Vergleich der rechtskonservativen Kräfte Frankreichs und der Schweiz möglich? Gi/bert Casasus
151
IV Grenzüberschreitende Semantiken: Antisemitismus, Antiziganismus und Antiamerkanismus Amerika als Zerrspiegel der Moderne Kritische Theorietraditionen im 20. Jahrhundert kfzchael Werz
165
Ist der Antisemitismus eine Ideologie? Einige klärende Bemerkungen Detlev Claussen
175
Brückenschlag: Die antisemitische Verbrüderung der europäischen Rechtsextremen Klaus Holz
187
"Deutschland uns Deutschen, Türkei den Türken, Israelis raus aus Palästina" Ethnopluralismus und sein Verhältnis zum Antisemitismus Claudia Globisch Das Reich und der Islam Kontinuitäten und Wandel aus historischer Perspektive Volker Weiß
203
227
Inhalt
Vergessener Krieg: Der Rassenmord an den Roma und seine Leugnung im Nachkriegsdeutschland Wolfgang Wippermann
7
245
V Ein neuer Faschismusbegriff? Faschismustheoretische Ansätze in der deutschen Geschichtswissenschaft Sieben Thesen Axel Schildt Der Faschismusbegriff in Osteuropa nach 1945 Ein geschichtsphilosophisch angeleiteter Erklänmgsversuch Agnieszka Pufelska
267
281
Rechtsextremismusforschung in Europa: "From new consensus to new wave?"
295
Roger Griffin
Autorinnen und Autoren
315
Grußwort
Es ist mir eine ganz besondere Freude, zum zehnjährigen Bestehen des Villigster Forschungsforums den Band zur Tagung "Ressentiment und Erinnerung: Europas radikale Rechte und der Zweite Weltkrieg" vorliegen zu sehen. Als das Villigster Forschungsforum im Herbst 2000 gegründet wurde, war das Ziel die Förderung der Wissenschaft und Forschung zur Bedeutung und Wirkung von Nationalsozialismus, Rassismus und Antisemitismus. Bereits im Juli 2009, als die Tagung im Alfried Krupp Wissenschaftskolleg in Greifswald stattfand, war es schön zu sehen, dass dieses Vorhaben Früchte getragen hat. Der lebendige Austausch unter den Forschern und das große Interesse von Publikum und Öffentlichkeit, nicht zuletzt auch an der Lesung von Edgar Hilsenrath, haben die Tagung zu einem vollen Erfolg werden lassen. Gegründet wurde das Villigster Forschungsforum im September 2000 von Promovierenden des Evangelischen Studienwerks, die sich mit der Erforschung von Holocaust und Genozid beschäftigen. Im November 2003 konstituierte sich das Forum als Verein. Der Verein ist interdisziplinär ausgerichtet und interessiert sich für ein breites Themenspektrum. Disziplinen wie Geschichtswissenschaft, Literaturwissenschaft und Philosophie sind ebenso vertreten wie Politikwissenschaft, Psychologie, Rechtswissenschaft und Soziologie. Das Forschungsforum arbeitet eng mit dem Evangelischen Studienwerk e.v. Villigst zusammen und strebt die überregionale und internationale Zusammenarbeit mit Personen und Einrichtungen an, die an gleichen Themen arbeiten. Der Verein freut sich jederzeit über neue Mitglieder. Im Namen des Villigster Forschungsforums möchte ich Claudia Globisch, Agnieszka Pufelska und Volker Weiß herzlich danken, dass sie die Tagung und den vorliegenden Dokumentationsband ermöglicht haben. Dank gilt auch der AIfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, der Fondation pour la Memoire de la Shoah, der ZEIT-Stiftung und der Stiftung Evangelische Begabtenförderung (STEB), ohne die die Tagung nicht hätte stattfinden können. Silke Nowak Vorsitzende des Villigster Forschungsforums zu Nationalsozialismus, Rassismus und Antisemitismus e.v.
Die extreme Rechte in Europa: Zwischen ideologischem Widerspruch und temporärem Bündnis Claudia Globisch, Agnieszka Pufelska und Volker Weiß
In den letzten Jahren waren auf europäischer Ebene mehrere Ereignisse für die politische Situation der äußersten Rechten bezeichnend: zunächst die Gründung der ersten extrem rechten Europafraktion Identität, Tradition, Souveränität (ITS) im Europäischen Parlament im September 2007 und ihre anschließende Auflösung zwei Monate später. Als politisches Sammlungsprojekt, an dem alle maßgeblichen nationalistischen Parteien beteiligt waren, zeugte ITS von einem gemeinsamen Willen zur europäischen Kooperation. Ihr Zerfall, dem ein Streit zwischen ihren italienischen und den rumänischen Vertretern aufgrund von Übergriffen auf Rumänen in Italien vorausging, zeigte die bruchige Basis der Kooperation auf. Dennoch nahm mit ITS eine europäisch agierende extreme Rechte seit langer Zeit wieder deutliche Konturen an. Bei den Europawahlen im Juni 2009 konnten extrem rechte Parteien zwar in einzelnen Ländern wie beispielsweise Ungarn teils gravierende Erfolge verbuchen, eine Sammlung auf gesamteuropäischer Ebene gelang jedoch nicht. Nach der konstituierenden Sitzung des Europäischen Parlaments am 14. Juli 2009 in Strasbourg blieben die meisten Abgeordneten extrem rechter Parteien fraktionslos, einige wenige kamen in den etablierten konservativen und europaskeptischen Fraktionen unter. Den nächsten Anlauf zur Vernetzung auf der institutionellen Ebene des Europaparlaments stellte im Oktober 2009 die Gründung einer Allianz der Europäischen Nationalen Bewegungen (AENB) in Budapest dar. Diese verfügt mit nur acht Abgeordneten aus Großbritannien (BNP), Frankreich (FN) und Ungarn (Jobbik) allerdings nicht über die notwendige Zahl an Mitgliedern, um innerhalb des Europäischen Parlaments einen eigenen Fraktionsstatus beanspruchen zu können. Die weitere Entwicklung wird zu beobachten sein. In den angeführten transnationalen Sammlungsversuchen der extremen Rechten treten bereits verschiedene Aspekte zutage, die im vorliegenden Sammelband untersucht werden; die national unterschiedlichen, oft historisch bedingten Traditionen der extremen Rechten in den verschiedenen europäischen Ländern, ihre daraus resultierende transnationale Vernetzungsfähigkeit und schließlich die Grenzen der Dynamik. C. Globisch, et al. (Hrsg.), Die Dynamik der europäischen Rechten, DOI 10.1007/978-3-531-92703-9_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Claudia Globisch, Agnieszka Pufelska und Volker Weiß
Anlässlieh der 70. Wiederkehr des Beginns des Zweiten Weltkrieges 2009 lud das Villigster Forschungsforum zu Nationalsozialismus, Rassismus und Antisemitismus e.V. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Europa, Israel und den USA dazu ein, die Entwicklung der verschiedenen extremen rechten Parteien und Organisationen vornehmlich in Europa zu diskutieren. Ziel der Tagung "Europas radikale Rechte und der Zweite Weltkrieg", die vom 8.-10. Juli 2009 in Greifswald stattfand, war es, die Herausforderungen des globalen Zeitalters in der Forschung über die extreme Rechte zu reflektieren. Es galt, das Verhältnis von Wechsel und Kontinuität rechtsextremer Ideologie unter den veränderten Bedingungen politischer Organisation und Kommunikation im 21. Jahrhundert im transnationalen und historischen Vergleich zu systematisieren. Dabei sollten die unterschiedlichen Strukturen und Semantiken einer Analyse unterzogen und verglichen werden. Denn hinsichtlich der Genese der zeitgenössischen extremen Rechten in Europa besteht in der Wissenschaft dringender Diskussionsbedarf. Die Tagung widmete sich daher dem Versuch, die historische Tradierung der Entwicklung mit den heutigen Bedingungen rechter Politik ins Verhältnis zu setzen. So legt der Umstand, dass heute in allen am Zweiten Weltkrieg beteiligten Nationen rechtsextreme Strukturen bestehen, eine Untersuchung darüber nahe, wie diese Ideologie in die jeweils unterschiedlichen nationalen Nachkriegsidentitäten und Gedenkkulturen eingebunden wird. Vor allem stellt sich die Frage nach dem Umgang mit diesem Erbe in jenen Ländern, die unter der deutschen Besatzung gelitten haben, weshalb in diesem Kontext ein besonderes Augenmerk Osteuropa gilt. Diese Frage stellt sich auch für das Verhältnis der extremen Rechten zur Geschichte der Shoah und zum Antisemitismus. Diesbezüglich haben die Vorträge und Diskussionen auf der Tagung Folgendes gezeigt: Aufgrund ihres konsensbildenden Charakters stellen Antisemitismus und Holocaust-Leugnung heute in der extremen Rechten ein zentrales Kommunikationsscharnier zwischen ost- und westeuropäischen sowie amerikanischen Rechtsextremen bis hin zum Islamismus dar. Im vorliegenden Sammelband, der die einzelnen Beiträge der Tagung vereint, eröffnet Zeev Sternhell die Diskussion mit einer Rekonstruktion des chauvinistischen und faschistischen Denkens von der Aufklärung bis zur Gegenwart und rahmt damit die folgenden, verschiedenen Länder-, Ideologie- und Semantikstudien aus ideengeschichtlicher Perspektive. Der Umstand, dass Sternhell vor allem das nachrevolutionäre Frankreich als ideengeschichtliche Wiege des europäischen Faschismus ausmacht, rückt eine transnationale Perspektive von Anbeginn in den Mittelpunkt dieses Buches. Während Sternhell den Nationalismus generell als Aufklärungsbruch begreift, differenziert Ulrich Bielefeld in seinem Beitrag zwischen den unterschiedlichen Konstituierungen der Nation - von der notwendigen Selbst-
Die extreme Rechte in Europa
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thematisierung bis hin zur Fiktion. Ihm zufolge bildet vor allem ein expansiver Nationalismus gepaart mit Rassismus das konstitutive Element der extremen Rechten. Diesem ersten Teil des Bandes "Nationalismus als Autklärungsbruch" folgt die Zustandsbeschreibung der heutigen radikalen Rechten, wozu auch die Frage gehört, welches Potential Renationalisierungsprozesse nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der deutschen Wiedervereinigung bergen. Daher finden sich im zweiten Teil des Bandes die Situation und Entwicklung der extremen Rechten in Osteuropa beleuchtet. Die Schwierigkeiten demokratischen Wandels im Verein mit Wirtschaftskrise und Nationalismus führten in den ehemals sozialistischen Gesellschaften Osteuropas zum Erstarken der äußersten Rechten. Den Höhepunkt der Entwicklung, bezogen auf Roma-Verfolgung und Antisemitismus, die Wahlerfolge der Jobbik-Bewegung sowie die Präsenz einer paramilitärischen Organisation, stellt derzeit sicherlich Ungarn dar, das von Magdalena Marsovszky ausführlich untersucht wird. Die Problematik der polnischen Rechten wiederum, die sich aus historischen Gründen deutlich gegen das Weltbild der einstigen nationalsozialistischen Besatzer abgrenzen und den polnischen Widerstand gegen die Deutschen in ihr Geschichtsbild integrieren muss, referiert Tomasz Konicz. Aus dem Widerspruch zwischen dem nicht zu leugnenden Leid der polnischen Juden während des Holocausts und dem eigenen, oft katholisch fundierten Antisemitismus rettet sich die polnische Rechte schließlich durch die Identifikation der Juden mit dem kommunistischen Regime. Ähnlich wie in Ungarn mündet dies, wie die Beiträge zeigen, in eine "Opferkonkurrenz" und in die Gleichsetzung der kommunistischen Herrschaft mit dem Terror der deutschen Besatzungszeit. Andreas Umlands darauf folgende Analyse der russischen und ukrainischen Rechten beleuchtet die Organisation eines "eurasischen Bündnisses", mit dem sich vor allem europäische und russische rechte Theoretiker im Kampf gegen "westliche Dekadenz" und "Liberalismus" zu verbünden suchen. Ein dritter Teil des Bandes, "Strukturen und Ideologien in Westeuropa", ist dann den Entwicklungen der extremen Rechten in den westlichen Staaten zwischen Geschichtsrevisionismus, Rassismus und Wohlstandschauvinismus gewidmet, wobei Michael Minkenberg diesen und den vorangehenden Teil mit einem methodischen Vergleich der rechten Strömungen in Ost- und Westeuropa verbindet. Andreas Klärner untersucht in seinem Beitrag mit Deutschland und Großbritannien zwei westeuropäische Länder, die große Unterschiede in ihrer Geschichte und den politischen Systemen aufweisen. Diesem Vergleich zufolge schadet die offene Bezugnahme aufden Nationalsozialismus, wie ihn etwa die Nationaldemokratische Partei Deutschland (NPD) und deren neonazistisches Umfeld betreiben, eher den politischen Erfolgen, während ein nach außen gemäßigt erscheinender
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Claudia Globisch, Agnieszka Pufelska und Volker Weiß
Kurs der British National party (BNP) zwei Sitze im Europaparlament eintrug. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Gilbert Casasus in seiner Gegenüberstellung der Schweizerischen Volkspartei (SVP) mit dem französischen Front National (FN). In diesen Fällen haben vor allem modeme Themen, wie etwa die ausgeprägte Europafeindlichkeit und die Einwanderungspolitik, deutlich Vorrang vor historischer Nostalgie. Ein vierter Teil betrachtet "Grenzüberschreitende Semantiken: Antisemitismus, Antiziganismus und Antiamerikanismus" der europäischen Rechten, um der Frage nachzugehen, ob die europäische und globale Vernetzung auch eine Angleichung der ehemals national unterschiedlichen Weltanschauungen zur Folge hat oder gerade zur Herausbildung partikularistischer Inhalte beiträgt. Resultat ist, dass sich zentrale Semantiken - Antisemitismus, "Ethnopluralismus", Antiamerikanismus und Antiziganismus - zwar europäisiert und globalisiert haben, dabei aber auf partikularen (nationalistischen) Weltbildern beruhen. Dies fiihrt zur Herausbildung von Phänomenen wie der Europäisierung des Anti-EU-Diskurses oder der Globalisierung des Anti-Globalisierungsdiskurses. Die Beiträge in diesem Teil versuchen, die ideologischen beziehungsweise semantischen Bestandteile aus sehr unterschiedlichen Perspektiven greifbar zu machen. Michael Werz und Detlev Claussen fassen die Ideologien des Antiamerikanismus beziehungsweise Antisemitismus als gesellschaftlich allgemeines Phänomen. Dabei zeichnet sich bei Claussen ein tiefer Dissens zur wissenssoziologischen Analyse des Antisemitismus ab, die Klaus Holz mit seinem Beitrag zum nationalen Antisemitismus leistet. Daran anschließend rücken die Besonderheiten verschiedener rechter Strömungen in den Fokus: Claudia Globisch analysiert das gegenwärtige Verhältnis von Antisemitismus und Ethnopluralismus und Volker Weiß geht den historischen Bedingungen für die unterschiedlichen Haltungen innerhalb der deutschen Neonazi-Szene zum islamischen Fundamentalismus nach. Der von Wolfgang Wipperrnann thematisierte Skandal der Nicht-Aufarbeitung des nationalsozialistischen Völkermordes an den Sinti und Roma weist schließlich auf die problematische Präsenz ehemaliger NS-Parteigänger in öffentlichen Institutionen von Wissenschaft und Verwaltung in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit hin sowie auf die Persistenz insbesondere antiziganistischer Vorurteile. Im Mittelpunkt dieses Beitrags steht daher nicht eine rechte Bewegung, sondern die Organe einer demokratischen Gesellschaft. Der durch die Politikwissenschaft eingefiihrte Begriff des "Rechtsextremismus" hat sich in der Forschung trotz Kritik sowie der Problematik der - empirischen Ergebnissen entgegenstehenden - Konstruktion einer "weißen" demokratischen Mitte weit verbreitet. Der Begriff des "Extremismus" vermag aber gerade deshalb, wie in den Beiträgen deutlich wird, das Phänomen nur begrenzt zu fas-
Die extreme Rechte in Europa
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sen und findet im vorliegenden Band auch kaum Verwendung. An seine Stelle treten unterschiedliche Alternativen zur Binnendifferenzierung: Rechtsradikalismus, radikale Rechte, extreme Rechte sowie eine Unterscheidung hinsichtlich der Bestimmung der ideologischen Bestandteile und historischen Bezugspunkte ihrer jeweiligen Vertreter. Aufgrund dieser terminologischen Problematik schließt der Band im letzten Teil mit der Diskussion "Ein neuer Faschismusbegriff7". Axel Schildt und Agnieszka Pufelska gehen der Verwendung dieses Begriffs aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven nach, ehe Roger Griffin die Debatte mit einem Plädoyer für einen generischen Faschismusbegriff schließt. Der Band soll damit auch dazu anregen, den Begriffdes Faschismus als eine theoretische Klammer einer von Spannungen und Widersprüchen durchzogenen europäischen extremen Rechten zu überprüfen. Denn die erneute Reorganisation und Sammlung dieser Kräfte ist ein Hinweis, dass die Epoche des Faschismus in Europa keineswegs 1945 zu Ende ging. Trotz seiner thematischen Binnengliederung ist der Sammelband letztlich pragmatisch auf die Beschreibung von beobachtbaren Einzelfällen und Entwicklungen ausgerichtet. Die Autorinnen und Autoren nähern sich diesen aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven. Hierbei wurde keine stilistische Homogenität angestrebt. Manche der Tagungsbeiträge sind bewusst essayistisch oder polemisch verfasst, um das behandelte Thema pointiert darzustellen und eine weitere Diskussion anzuregen. Für die hier vertretenen Perspektiven sowie etwaige Fehler und Unterlassungen tragen einzig die Autorinnen und Autoren die Verantwortung. 1 Die Herausgeberinnen und der Herausgeber möchten sich vornehmlich bei allen Beitragenden sowie bei Alexandra Ganser, Karin Höpker und Nancy Scharpffbedanken, die die Übersetzung und sprachliche Überarbeitung mit großem Engagement übernommen haben. Berlin, Hamburg, Leipzig im Juli 2010
Bei substantivischen Ausdrücken, die auf Personen verweisen, wird in den Beiträgen meistens die männliche Schreibweise beibehalten. Das berechtigte Anliegen, Frauen sprachlich gleichberechtigt zu repräsentieren, indem man dem Ausdruck eine weibliche Form gibt, wurde hier wegen der besseren Lesbarkeit nicht immer eingehalten.
I
Nationalismus als Aufklärungsbruch?
Von der Gegenaufldärung zu Faschismus und Nazismus Gedanken zur europäischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts!
Zeev Sternhell
1. Die zwei Gesichter der Moderne
Während das 18. Jahrhundert im Allgemeinen als Kernzeitalter der rationalistischen Modeme wahrgenommen wird, war es auch die Wiege einer zweiten, auffallend anderen Modeme. Tatsächlich entbrannte im europäischen Geistesleben just in jenem Moment, als das rationalistische Denken seinen Zenith zu erreichen schien, eine umfangreiche Revolte gegen die fundamentalen Einsichten der Aufklärung. Diese Revolte, die etwa zwei Jahrhunderte dauerte, richtete sich vor allem gegen die Franzosen oder genauer die franko-kantianische Aufklärung, zielte aber auch auf die britische Aufklärung von Locke bis Hume und Bentham. Von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis zum Zeitalter des Kalten Krieges war die Konfrontation zwischen diesen beiden Versionen der Modeme eines der herausragendsten und dauerhaftesten Merkmale unserer Welt. Nach dem 5. Jahrhundert v.ehr. in Athen war das Zeitalter der Aufklärung die zweite große Ära des politischen Denkens, in der die modemen Vorstellungen von Geschichte, Politik und Kultur entstanden. Die Aufklärung war zuallererst eine politische Bewegung: "Ich hatte gesehen, daß alles völlig von der Staatskunst abhing und daß jegliches Volk, wie man es auch anstellen wollte, niemals etwas anderes sein würde als das, wozu die Natur seiner Regierung es machte", meinte Rousseau (1907: 533), "und so schien sich mir denn jene große Frage nach der besten Staatsform auf den Satz zu beschränken: wie muss die Regierung beschaffen sein, welche geeignet ist, das tugendhafteste, erleuchtetste, weiseste, kurz, das im weitesten Sinne des Wortes beste Volk zu bilden?" Im 18. Jahrhundert war politische Macht zur Grundlage von Macht an sich geworden; Rousseau verstand seine Zeit, wenn er meinte, dass die politische Freiheit die Grundlage aller anderen Freiheiten sei, und genau deswegen war er so einflussreich. David Hume und andere Denker der britischen Aufklärung stimmten Rousseau zu (Rume 1994: 186).
Der folgende Beitrag wurde aus dem Englischen übersetzt (Anm. der Herausgeber/-innen).
C. Globisch, et al. (Hrsg.), Die Dynamik der europäischen Rechten, DOI 10.1007/978-3-531-92703-9_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Zeev Sternhell
Außer Rousseau, Kant, Locke und Hume gab es unter den politischen Denkern der Aufklärung wenige Philosophen im engeren Sinn. Andererseits gab es sehr viele große Köpfe, die dem Bösen unablässig entgegenstanden und mit aller Kraft ihre Ideen vorantreiben wollten. Es war die Zeit des Universalgelehrten, verkörpert durch Voltaire, den Nietzsche als exemplarischen Freigeist sah. Alle "philosophes" - in jenem Sinne, den diese Bezeichnung im 18. Jahrhundert bekam betrachteten Politik als das einzige Mittel, mit dem das Leben verändert werden konnte. Nie zuvor war die Welt der Zukunft in einer solchen Intensität diskutiert worden: Die Politik war zur Angelegenheit jedes Einzelnen geworden. Der Terminus Aufklärung, wie ich ihn benutze, bezeichnet eine Tradition, eine politische Kultur. Er steht nicht nur für das rationalistische Denken des 18. Jahrhunderts; aufklärerisches Denken gab es zu allen Zeiten und überalL Dies gilt auch für die Tradition der Gegenaufklärung (siehe Sternhell 2010). Es ist kein Zufall, dass der Begriffder "Gegen-Aufklärung" höchstwahrscheinlich von Nietzsche geprägt wurde und in Deutschland an der Wende zum 20. Jahrhundert allgemein gebräuchlich war (vgl. Wokler 2003: vii, 26).2 Nietzsche verwendete den Begriff, um das Denken Schopenhauers und Wagners zu charakterisieren, denn in dieser Wortschöpfung spiegelt sich nicht nur sein Verständnis der geistigen Strömungen seiner Zeit wider, sondern auch die Tatsache, dass es die "Nietzsche-Jahre" waren, in denen die Gegenaufklärung Gewicht bekam und zu einer veritablen geistigen Sturzflut wurde. Es war jene Zeit, in der die antirationalistische und antiuniversalistische Revolution des ausgehenden 18. Jahrhunderts, weiterentwickelt im 19. Jahrhundert, in den Straßen ankam - auf die Bedürfnisse einer Gesellschaft abgestimmt, die sich in wenigen Jahrzehnten verändert hatte wie nie zuvor. Nie hatte die Welt Veränderungen in einer solchen Geschwindigkeit erlebt wie in den 30 oder 40 Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. Im Englischen gab es den Begriffder Gegenaufklärung, des "counter-enlightenment", schon mindestens 10-15 Jahre, bevor er von Isaiah Berlin benutzt wurde, obgleich dieser glaubte, er hätte ihn möglicherweise selbst erdacht. Er wurde im Weiteren von William Barrett benutzt, einem zu seiner Zeit weithin bekannten amerikanischen Philosophieprofessor und Herausgeber der Partisan Review. Barrett war einer der ersten amerikanischen Gelehrten, der seinen Landsleuten den Existentialismus näher brachte: "Existentialism is the Counter-Enlightenment come at last 10 philosophical expression" (Barrett 1962: 274). Es ist nicht überraschend, dass das Nietzsche'sche Konzept der Gegenaufklärung just in einem Buch über 2
Bei Nietzsche heißt es: ,,Es giebt kürzere und längere Bogen in der Culturentwicklung. Der Höhe der Aufklärung entspricht die Höhe der Gegen-Aufklärung in Schopenhauer und Wagner" (Nietzsche 1999: 382).
Von der Gegenaufk1ärung zu Faschismus und Nazismus
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den Existentialismus auftauchte; es war zweifelsohne Berlins angeborenes Talent zur Popularisierung einfacher Formeln, das dem Begriff"Counter-Enlightenment" in der englischsprachigen Welt Akzeptanz brachte. Dass es den Begriff im Französischen nie gab, lag vielleicht zum Teil daran, dass "Gegenaufklärung" dort schlichtweg als "Reaktion auf die Philosophie der Aufklärung" übersetzt wurde. Den Übersetzern ins Französische war nicht bewusst, dass Nietzsche vielmehr ein analytisches Konzept entworfen hatte, das zur Bestimmung eines zivilisatorischen Phänomens von größter Wichtigkeit war. Es ist deshalb auch kein Zufall, dass es keines Geringeren als Nietzsche bedurfte, um ein solches Konzept hervorzubringen. So wie die Aufklärung war auch die Gegenaufklärung eine politische Bewegung; ihr Angriffbegann schon vor der Französischen Revolution und keineswegs in Verbindung damit. Im letzten Viertel jenes großen Jahrhunderts fand eine Umwertung der Werte statt, die tief gehende und fortdauernde Implikationen mit sich brachte und deren volle Bedeutung erst ein Jahrhundert später wahrgenommen wurde. Burke und Herder, und vor ihnen Vico, lancierten einen Kampf gegen die französische Aufklärung, den Rationalismus, gegen Descartes und Rousseau, lange bevor die Bastille gestürmt wurde. Zwischen Vicos "Principi di Scienza Nuova" in seiner Endfassung von 1744 und dem Fall des Ancien Regime lag ein halbes Jahrhundert; auch Burke äußerte seine erste Kritik 40 Jahre vor der Erklärung der Menschenrechte und Herder, der trotz seiner Opposition zur französischen Aufklärung den Fall der autoritären Monarchie in Frankreich begeistert begrüßte, zeigte seine Ablehnung der von den "philosophes" verkörperten Prinzipien. 1769 war das Jahr, in dem Herder nach Frankreich reiste und aus Paris sein "Journal meiner Reise im Jahr 1769" mitbrachte, die Grundlage seiner Kritik an Frankreich, der französischen Aufklärung und der französischen Kultur im Allgemeinen. Innerhalb der Aufklärung gab es viele, teils widersprüchliche Strömungen; die Aufklärung war keine einheitliche theoretische Struktur, sondern eine geistige Tradition mit unmittelbaren und praktischen Zielen. Aber trotz der vielen Unterschiede hatten die Denker der französischen Aufklärung und ihr Hauptverbündeter Kant gewisse Prinzipien gemeinsam, die das Herzstück der intellektuellen Revolution des 18. Jahrhunderts bildeten. Ohne Angst, die komplexen Realitäten der Zeit von der Wende zum 18. Jahrhundert - den Streit zwischen den "ancients" und den "modemes" in Frankreich, die Glorreiche Revolution mit ihrem Theoretiker Locke - bis hin zum heutigen Tage vielleicht zu entstellen, kann man sagen, dass es in beiden Geistestraditionen eine Logik und Kohärenz gibt. Kohärenz soll jedoch nicht Uniformität bedeuten. Diese Betrachtungen über zwei Jahrhunderte der europäischen Geistesgeschichte, die uns bis zur europäischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts bringen,
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Zeev Sternhell
sind gleichzeitig Betrachtungen über die Kultur unserer Zeit. Sie setzen sich mit den Risiken auseinander, mit denen eine gesamte Zivilisation konfrontiert sein könnte, wenn diese die Auffassung, dass es universelle Werte gibt, zurückweist und die Autonomie des Individuums durch verschiedene kommunitaristische Werte ersetzt. Es sind Betrachtungen über die Geschichte der Gegenwart und es ist ein Nachdenken über unsere Zukunft. Wie die Menschen der Aufklärung halten es die meisten von uns für ganz natürlich, dass sich der Mensch weigern sollte, das Urteil dessen, was existiert, einfach hinzunehmen. Wie sie sind wir überzeugt, dass wir die Fähigkeit besitzen, die Welt zu verändern, und dass wir das Recht haben, Gerechtigkeit und Glück zu fordern. Besser als sie wissen wir, ein Jahrhundert an Erfahrung mit demokratischer Praxis reicher, dass Freiheit ohne Gleichheit und ohne Gerechtigkeit nicht überleben kann. Negative Freiheit kann die Freiheit der Menschen nicht wahren: Freiheit bedeutet eben viel mehr als bloße Abwesenheit von Einmischung. Wirtschaftliche Sicherheit, bessere Bildung, eine verbesserte Gesundheitsvorsorge sind nicht nur Vorbedingungen der Freiheit, sind nicht einfach das Resultat eines Kompromisses zwischen Freiheit und Gleichheit: Sie sind konstitutive Elemente der Freiheit selbst und damit der Demokratie.
2. Ein ideengeschichtlicher Abriss An dieser Stelle möchte ich einen kurzen Abstecher machen und pro domo ein paar Worte des Lobes der Ideengeschichte sagen. Die Ideengeschichte untersucht über einen langen Zeitraum die Struktur von Gedankensystemen, deren Logik und Einfluss. Sie besteht nicht aus einer Reihenfolge abstrakter und isolierter Konzepte, ebenso wenig wie aus einer Abfolge von in chronologischer Reihenfolge aufgestellten "tableaux". Außerdem ist es nicht ungewöhnlich für einen Denker, eine Theorie zu entwickeln, deren Ziel und Bedeutung, und nicht nur deren Langzeitfolgen, weit über ihn hinausgehen; und es passiert oft, dass bestimmte Aspekte eines Gedankensystems ein Leben außerhalb des Ganzen entwickeln. Man ist daher bemüht, wie Tocqueville gesagt hätte, die "idees meres" zu enthüllen, die im Werk eines einzelnen Denkers auffindbar sind oder in einer politischen Bewegung oder sogar innerhalb einer bestimmten Zeit, und ihre konkrete und unmittelbare politische Bedeutung aufzuzeigen, trotz der möglicherweise fehlenden vollständigen Beschreibung aller Elemente einer bestehenden politischen Situation. Mit anderen Worten glauben Ideenhistoriker, dass jede geistige Bewegung als konkrete historische Realität und als in Beziehung zu einem bestehenden geschichtlichen Prozess angesehen werden muss und dass die Beziehungen zwischen Ideengeschichte, Politik und Kultur direkt verlaufen. Keine andere Disziplin kann so klar die
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Kontinuitäten einer Tradition nachzeichnen - die Herkunft und Laufbahn von Ideen, die oft eigenwillig, immer aber faszinierend sind. Keine andere Disziplin kann die Bedeutung gedanklicher Konstrukte besser erfassen wie auch die Kräfte, die die Werte einer Zivilisation erschüttern: die Übersetzung von Veränderungsprozessen in Politik. Außerdem zeigt die Ideengeschichte, dass Gedankenkonstrukte eine ihnen eigene Macht haben und dass das, was in der Welt der Ideen geschieht, bald sozial und politisch bedeutsam wird. Das wirft natürlich die Frage nach dem Wesen der intimen Verbindungen von philosophischer Reflexion, historischer Forschung, literarischer Produktion und Politik auf. All diese Fragen wurden zum ersten Mal im 18. Jahrhundert gestellt, als die franko-kantianischeAutklärung und die englischen und schottischen Aufklärungslinien die intellektuelle Revolution der rationalistischen Modeme hervorbrachten, die all das ansprach, was die Menschen eint: ihren Zustand als rationale Individuen mit natürlichen Rechten. Dieser rationalistischen Modeme entgegen lag die Anziehungskraft der anderen Modeme im Ansprechen von allem, was die Menschen trennt: Geschichte, Kultur, Sprache. Die umstrittene Koexistenz dieser zwei Modemen ist eine der großen Konstanten der zweieinhalb Jahrhunderte zwischen unserer Welt und jener Mitte des 18. Jahrhunderts. Es ist natürlich schwierig, absoluteAnfangspunkte in der Geschichte nachzuzeichnen (vgl. Blumenberg 1999: 534). Und dennoch: Sollte man dem Moment, in dem der Feldzug gegen die Aufklärung begann, ein exaktes Datum geben müssen, wäre es wahrscheinlich der Sommer 1774, als der junge Herder innerhalb von drei Wochen ,,Auch eine Philosophie der Geschichte" schrieb (für ausführliche Abhandlungen zu Herder vgl. Sternhell 2010). Der Titel war eine Kriegserklärung an Voltaire, der gerade erst den Begriff der Geschichtsphilosophie erschaffen hatte. In diesem Pamphlet, das in all seinen Facetten außergewöhnlich war, zeigte Herder die breiten Entwicklungslinien einer anderen Modeme auf. Burke war ihm zwar in seinem Kampf gegen den Rationalismus und vor allem gegen Rousseau zuvorgekommen, den er 1757 lanciert hatte (zwei Jahre nach der Veröffentlichung des "Discours sur l'Inegalitt~"), aber er wurde erst 30 Jahre später anlässlich seiner "Reflections on the Revolution in France" bekannt und diskutiert. Herder ist eine ikonische Figur voller Widersprüche und kann auf verschiedene Arten gelesen werden; er ist nicht die einzige Figur dieser Art. Sein Werk kann als Episode im deutschen Unabhängigkeitskrieg gesehen werden, aber sein im Wesentlichen germanischer und antifranzösischer Feldzug für kulturelle Autarkie erlangte sofort allgemeine Bedeutung. In Wahrheit gibt es mehr als einen Herder: Es gibt einen deterministischen, nationalistischen, kommunitaristischen, antirationalen und relativistischen Herder - einen, dessenthalben Treitschke, Barres,
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Zeev Sternhell
Maurras und Spengler die logische Folge sind -, einen christlich-humanistischen Herder und letztlich einen Herder, der ein Postmoderner und Dekonstruktivist vor der Zeit war. Dies ist der Herder, der die Gedankenwelt eines seiner augenfälligsten Bewunderer in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ansprach: Isaiah Berlin. Herder kann als Stammvater eines unschuldigen, apolitischen kulturellen Nationalismus gesehen werden, als einer, der zur Befreiung unterdrückter Kulturen einschließlich seiner eigenen aufrief, der sich dem französischen Kulturimperialismus entgegenstellte und der die Populärliteratur entdeckte und bekannt machte; oder er kann als Philosoph einer geschlossenen, organischen Vision der nationalen Gemeinschaft par excellence gesehen werden, durchdrungen von kulturellem und ethnischem Determinismus oder sogar Rassismus. In diesem Lichte betrachtet war er trotz der christlich-humanistischen Seite, die er am Ende seines Lebens in den "Briefen zur Beförderung der Humanität" und eigentlich auch schon immer gezeigt hatte, derjenige, welcher die Menschheit in eine unendliche Anzahl ethnischer und kultureller Partikularismen dekonstruierte, von denen jeder seine eigene Wahrheit hatte. Herder proklamierte die Nichtigkeit des Individuums, bestritt das Vernunftpotenzial in den menschlichen Beziehungen und entschied sich letztlich - zerrissen zwischen christlichem Ökumenismus und ethnischen und kulturellen Partikularismen - fiir eine Schöpfung, die in ihrer Art einzigartig war: die kulturelle, historische, linguistische, mit anderen Worten nationale Gemeinschaft. "Bildung und Fortbildung einer Nation ist nie anders, als ein Werk des Schicksals, Resultat tausend mitwirkender Ursachen, gleichsam des ganzen Elements, in dem sie leben" (Herder 1827: 111). Die Menschen sind nur "Schatten auf Erden", die ,jetzt nur vorüber und durch die Welt herlaufen" (ebd.: 32). Das war Herders Reaktion auf den Individualismus, der sich im Westen seit dem Ende des Mittelalters entwickelt hatte. Das erklärt seine Gegnerschaft zur Renaissance, die er als mediterrane Reaktion auf das nordische Mittelalter verstand, die Antike imitierend und ebenfalls individualistisch. Er verteidigte den durch die christliche Tradition repräsentierten gemeinsamen Glauben gegen den kritischen Geist. Er setzte Geschichte und Verstand in einen Gegensatz; seine originellste Erfindung war jedoch der Kult um den Nationalcharakter. Dieser war viel mehr als eine Defensivreaktion gegen die französische geistige Invasion. Vor allen Dingen zeigte er eine Sehnsucht nach Zusammengehörigkeit - einer kollektiven Seele, welche die als "Wilde" bekannten Völker noch besaßen und die uns die rationalistische Zivilisation weggenommen hat - und begründete einen generellen Relativismus. Es ist unleugbar, dass Herder mit seiner Theorie des Nationalcharakters Kultur und Geist auf etwas zu reduzieren tendierte, das von Geografie, Biologie, Ethnizität und Umwelt bestimmt
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war. Die Entwicklung der Menschheit insgesamt ersetzte er durch eine Pluralität nationaler Entwicklungen, von denen jede einem fatalen Kreislauf von Wachstum und Verfall unterworfen war. Herders Vision von Nationalcharakteren endete damit, dass sie alle Nationen gegeneinander positionierte. Voltaire hatte behauptet, dass Sprache einfach ein Instrument war und dass eine Nation nicht durch ihre Sprache definiert werden konnte. Für Herder war das Gegenteil der Fall: Sprache war Ausdruck des Nationalcharakters. Sein Nationalismus teilte die Welt in eine Vielzahl von Vaterländern, die Geschichte in eine Reihe isolierter nationaler Schicksale, sodass dieser Nationalismus zu einem Kultur trennenden Faktor wurde, der einzigartig in Europa war. Tatsache ist, dass sein Nationalismus zuerst den Rationalismus zertrümmerte und dann seine Unvereinbarkeit mit dem Christentum demonstrierte. Herder trennte die Menschen mehr, als dass er sie zusammen brachte. In seiner Zeit war er der größte Spalter Europas. Er war lutheranischer Pastor und der erste, der Laborbeweise dafür erbringen zu schien, dass ein kultureller, ethnischer Nationalismus kaum mit universellen Werten koexistieren konnte. Niemand trug mehr zur Balkanisierung Europas bei als Herder. Mir ist bewusst, dass das, was ich als Balkanisierung definiere, auch Pluralismus genannt werden kann, aber der Preis bleibt der gleiche.
3. Von der Aufklärung zur Gegenaufklärung des ausgehenden 19. Jahrhunderts: Rationalismus versus kultureller Relativismus Man sieht also entgegen einer anderen akzeptierten Vorstellung, dass es nicht die Französische Revolution war, die die Einheit Europas zerstörte, indem sie Nationalitäten aufbaute. Nationalismus entstand nicht aus der Französischen Revolution, wie Renan glaubte und nach ihm noch bis jetzt die Mehrheit des kultivierten Europas, sondern im Gegenteil aus der Reaktion gegen das französische 18. Jahrhundert. Mit der Definition von "Nation", die Diderot und d' Alernbert im 44. Band der "Encyclopedie" (1765, Band 11: 36) liefern: "people, qui habite une certain etendue de pays, renfermee dans de certaines limites", wurde der Staatsbürger geboren. Offensichtlich war diese politische und juridische Konzeption der Nation keine Analyse der historischen und soziologischen Wirklichkeit, sondern repräsentiert den heldenhaften Versuch der Aufklärer, die Widrigkeiten der Geschichte zu überwinden und einmal mehr die Gültigkeit des Kant'schen "sapere aude" zu beteuern - möglicherweise der berühmteste Ruf nach der Autonomie des Individuums, auf dessen Basis die Französische Revolution die Sklaven und Juden befreien und die Idee freier Bürger mit gleichen Rechten entwickeln würde. Diese aufgeklärte Vision von Kollektivität in der "Encyclopedie" überlebte die
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ersten Jahre der Französischen Revolution nicht. In der post-Napoleon'schen Ära entsprach diese ultrarationalistische und ultraindividualistische Definition von Nation nicht länger den emotionalen und geistigen Bedürfnissen der Europäer in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Aus diesem Grund war Michelets "Le Peuple" ein so außerordentlich Herder'sches Buch und Herder für Renan "einer der feinsten Genies der Neuzeit", größer als Kant, Hegel oder Fichte (zitiert nach Richard 1996: 57; Tronchon 1928: 217; ein gutes Beispiel für die hier erwähnte Tendenz ist der exzellente Aufsatz von Dumas 1972). Indem man die Erblinie von Herder zu Michelet, Renan, Taine und Barres verfolgt, dem wahrscheinlich größten Herderianer unter den französischen Intellektuellen an der Wende zum 20. Jahrhundert, kann man nicht nur den antiaufklärerischen Ausbruch am Beginn des letzten Jahrhunderts verstehen, sondern auch ein Phänomen, das auf den ersten Blick eigenartig erscheinen mag: Um 1900 hatten der deutsche Nationalismus insgesamt und der französische radikale Nationalismus - nicht der gesamte französische Nationalismus, sondern seine radikale Entwicklungsrichtung - im Wesentlichen den selben Punkt erreicht. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts repräsentierten Thomas Carlyle, Ernest Renan und Hippolyte Taine nach Herder, Burke de Maistre und vielen anderen Nebenfiguren aus der Zeit der Französischen Revolution die zweite Welle antiaufklärerischen Denkens. Taine übertrug die Herder'sche Idee der totalen Abhängigkeit des Individuums von seiner Kultur, seiner Geschichte und Ethnizität in eine Formel, die bald weithin akzeptiert wurde: Der Mensch ist von seiner Rasse, seiner Umwelt und seinem "Moment in der Zeit" ("la race, le milieu et le moment") bestimmt. Taine war eine der Schlüsselfiguren des 19. Jahrhunderts: Nietzsehe hielt ihn für den größten lebenden Historiker und Mosca wie auch zu großen Teilen Pareto übernahmen seine Vision der Französischen Revolution als kulturellem Desaster, das vom totalen Zusammenbruch der herrschenden Eliten ausgelöst wurde. Auf der Grundlage von Taines Werk und indem sie es als Fallbeispiel nahmen, entwarfen die italienischen Soziologen und Politikwissenschaftler, in vielerlei Hinsicht die indirekten Begründer der Sozialwissenschaften - ich sage indirekt, weil die tatsächlichen Begründer Montesquieu und Tocqueville waren -, ihre eigene allgemeine Theorie der Eliten. Gleichzeitig machten die französischen und italienischen Nationalisten an der Wende zum 20. Jahrhundert Taines kulturellen und rassischen Determinismus zum Kernstück ihrer Systeme. Alle diese Autoren teilten das Gefühl, an einem Krieg zum Erhalt einer gesamten Zivilisation teilzunehmen. Herder und Burke traten der philosophischen Flut der Aufklärung entgegen: Erstens griffen sie Rationalismus und Deismus an und zweitens die liberale Tradition, die auf Locke zurückging. Carlyle rebellierte
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gegen ein England zweier Grundrechtskataloge (Bills ofRights), die das Land auf den Weg in Richtung Demokratie brachten; Renan und Taine wollten ihr Land zusammen mit der gesamten westlichen Zivilisation vor dem Triumph der Demokratie im Frankreich der Dritten Republik retten. Die dritte Welle zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit Sorel, Maurras, BaITl~s, Croce und Spengler setzte ihre Gedanken fort. Croce applaudierte dem Aufstieg des Faschismus als Totengräber des verachteten Jahrhunderts ebenso wie Spengler zum Fall der Weimarer Republik, diesem ausländischen Import, beitrug. Maurras sah die Niederlage Frankreichs 1940 als lange erwartete Gelegenheit, die französische Aufklärung und die Prinzipien der Französischen Revolution und der Dritten Republik zu begraben. Sehr häufig wurde das volle Ausmaß des Einflusses der Denker, die ganz oder teilweise dieser Schule angehörten, erst einige Jahre nach der Veröffentlichung ihrer Hauptwerke offenkundig. Jedoch erfreute sich jeder Denker dieser Kategorie eines beachtlichen unmittelbaren Erfolgs. Von Burke bis Meinecke und einschließlich Taine, Renan, Carlyle, Maurras, Barres, Croce und Spengler war jeder der Schriftsteller, mit denen wir uns hier beschäftigen, ein erfolgreicher Autor oder sogar Kopf einer Schule. Für sie alle war der Rationalismus die Quelle des Bösen: Er führte zur Utopie, zu der höchst schädlichen Vorstellung, dass der Mensch die Dinge ändern könne; er tötete den Instinkt und die vitalen Kräfte; er zerstörte die beinahe fleischliche Verbindung zwischen den Mitgliedern einer ethnischen Gemeinschaft und ließ die Menschen in einer unwirklichen Welt der Staatsbürgerschaft leben. So proklamierte ein verallgemeinerter Nationalismus als universelle Wahrheit, dass es keine universelle Wahrheit gebe. Alles, was von der Wahrheit übrig blieb, war eine Pluralität nationaler Wahrheiten. Zur Zeit der Dreyfus-Afflire sprachen die französischen Nationalisten von einer französischen Wahrheit und einer deutschen oder jüdischen Wahrheit, einer französischen Justiz und einer jüdischen Justiz. Treitschke und später Spengler teilten diese Ansichten - und das ist nur logisch, denn wenn alles einem historischen und kulturellen Relativismus unterworfen ist, wenn die Vernunft unfahig ist, Wirklichkeiten zu erfassen, und nur die Intuition dies kann, können universelle Werte augenscheinlich nicht länger überleben. 1936, wahrscheinlich nicht der beste Moment, um die Tradition der Aufklärung zu verunglimpfen, brachte Meinecke sodann ein außergewöhnliches Buch über den "Historismus" heraus: "Der Kern des Historismus besteht in der Ersetzung einer generalisierenden Betrachtung geschichtlich-menschlicher Kräfte durch eine individualisierende Betrachtung" (Meinecke 1959: 2). Das war die mächtigste Drohung gegen die Aufklärung und Meinecke lag absolut richtig damit, in Herder den geistigen Vater des Historismus und infolgedessen des Relativismus und
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Nationalismus zu sehen. Dieses Buch war tatsächlich eine Antwort auf Cassirers großartige "Philosophy of Enlightenment". Wie immer im Falle solch umfassender Konzepte gab es verschiedene Arten des Historismus, die entweder nationalspezifisch waren oder sich graduell voneinander unterschieden. All diese Varianten des Historismus hatten jedoch eine gemeinsame Basis: Über den positiven Wert, dem man der Geschichte als menschlichem Fortschritt in seiner unmittelbaren Gegenwart zuschrieb, und über die Rehabilitation von Geschichte hinausgehend war man grundsätzlich gegen Naturrecht, Intellektualismus und Rationalismus. Das Ergebnis war, dass der Historismus die Vorstellung einer gemeinsamen menschlichen Natur zertrümmerte, einer universellen Vernunft, welche zu einem universellen Naturrecht führte, indem dieses Denken als leer, abstrakt und vor allem heuchlerisch empfunden wurde. Aus Meineckes Sicht war das die Spezifik deutscher Kultur, ihr wichtigster Beitrag zur westlichen Kultur und Grundlage des großen Unterschieds zwischen der geistigen und politischen Entwicklung Deutschlands und Frankreichs seit der Französischen Revolution. Meinecke hatte keinen Zweifel, dass der deutsche Historizismus "die höchste bisher erreichte Stufe in dem Verständnis menschlicher Dinge" darstellte (ebd.: 4; zum Historismus und dessen Kontext siehe Beisers 1992: 3033, 37; Iggers 1983: 124-228). Meinecke übemahm das Konzept und die Idee des Historismus von Ernst Troeltsch, der in seinem Werk "Deutscher Geist und Westeuropa", 1925 publiziert, den westlichen Geist als Glauben an natürlich Rechte, an die Einheit der Menschheit und an universelle Werte definierte. Dahingegen wurde der deutsche Geist durch seine pluralistische Konzeption von Geschichte bestimmt, als Blüte nationaler Individualitäten ohne gemeinsames Kriterium (Rouche 1940: 583). Jedoch war der Historismus nicht auf Deutschland beschränkt. Er war ein europäisches Phänomen, dessen Einfluss von höchster Bedeutung war, denn der wahre Sinn des Historismus und seine Funktion lag darin, den Unterschied zwischen der rationalistischen Modeme und ihrer Antithese zu beschreiben: Meinecke und Troe1tsch sprechen vom Unterschied zwischen Deutschland und dem Westen, aber tatsächlich war es die Kluft zwischen der Modeme der Aufklärung und der antirationalistischen Modeme, um die es ging; und Deutschland hatte keine Monopolstellung in diesem ,,Kampf der Kulturen". Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts entwickelte sich dieser hartnäckige Widerstand gegen die Prinzipien des westlichen Rationalismus in verschiedene, manchmal entgegengesetzte Richtungen und hatte viele und manchmal unerwartete Auswirkungen. Faschismus und Nazismus, die beiden Hauptspeerspitzen des Krieges gegen die Aufklärung, waren Kulminationspunkte, aber um diese herum gab es noch viel mildere Ausprägungen, die eine grund-
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legende Dimension der Kulturkrise ausmachten, die Europa am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfasste. Die bedeutendsten unter den deutschen rechten Intellektuellen, wie Meinecke, Spengler, Jünger oder Gadamer, verachteten den Nazismus - jedoch auf eine höchst ambivalente Art. Beispielhaft lässt sich dies zeigen: Im Mai 1941 hielt Gadamer einen brillanten Vortrag am Deutschen Institut in Paris, das Thema war Herder. Das Institut, geleitet von Karl Epting, Spezialist für kulturelle Nazi-Propaganda in Frankreich, widmete sich der Aufgabe, jenen Franzosen Deutschland näher zu bringen, die offen im Verständnis und für eine Zusammenarbeit waren. Sein Bestreben aber ging darüber hinaus: Nicht nur wollte er die Größe der deutschen Kultur zeigen, sondern auch ihre intrinsische Überlegenheit gegenüber der französischen. Dem Publikum gegenüber, das dieses Zentrum für Nazi-Propaganda aufsuchte, feierte Gadamer, damals Professor an der Universität Leipzig, Herder als den "Entdecker der geschichtlichen Welt", der in seinem "Journal meiner Reise im Jahr 1769", in Gadamers Augen ein Meisterwerk, die Idee zu einer Universalgeschichte der Zivilisation, einer Universalgeschichte der "Bildung der Welt", hatte (Gadamer 1942: 6ff.). Er zeigte, dass der Sieg Deutschlands der Sieg deutscher Werte und des deutschen Nationalcharakters war. Um kundzutun, dass diese Studie nichts an Gültigkeit eingebüßt hatte, wurde der Text auf Initiative des Autors 1967 neu gedruckt. Es ist keineswegs Zufall, dass Gadamer in Meineckes Fußstapfen trat und dass beide, wie Heidegger, Position gegen Cassirer bezogen, der seit der Machtübernahme der Nazis in Oxford war, während sie selbst sich auf die eine oder andere Weise in den Dienst des neuen Regimes stellten. Wie Meinecke war Gadamer kein Nazi-Sympathisant, aber er konnte nicht umhin, der französischen Öffentlichkeit, die sich unter dem Hakenkreuz versammelt hatte, die einzige Frage zu stellen, die damals wichtig war: Worin lag die wahre historische Bedeutung des deutschen Sieges? Dieser Vortrag, trotz oder vielleicht eher wegen der außergewöhnlichen Umstände, unter denen er gehalten wurde, ist genauso wichtig für das Verständnis Gadamers und der deutschen Intellektuellen seiner Zeit wie für das Verständnis des Herder'schen Einflusses. Gadamer hatte sich Herders Kritik an der französischen Aufklärung, am Rationalismus und an den Menschenrechten vollkommen angeeignet. Herder folgend dachte Gadamer, wie Meinecke einige Jahre zuvor, über alles nach, was die französische und deutsche Kultur voneinander unterschied, alles, was Deutschland einzigartig und folglich überlegen machte. Gadamer war nicht der einzige dieser Zeit, der jene rühmte, denen die Geschichte Recht zu geben schien. Bertrand de Jouvenel, ein bekannter Liberaler der Nachkriegszeit, in den 1930er Jahren jedoch faschistischer Intellektueller, schrieb 1941 ,,Apres la
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defaite", das sofort mit "Nach der Niederlage" wortwörtlich ins Deutsche übersetzt wurde. Ernst Jünger, mit einem brandneuen Eisernen Kreuz geehrt, das er während des französischen Feldzugs 1940 bekommen hatte, ging zu jener Zeit in den Pariser Salons ein und aus. Von Künstlern und Schriftstellern aufgenommen war er das Symbol für den Sieg eines Wertesystems über ein anderes. Renan hatte es schon 1870 gesagt; 1940 dann, mit einer ganzen Truppe strenger Autklärungskritiker, die an der Vichy-Revolution teilnahm, war man zu jenem Punkt zurückgekehrt, an dem manjust nach dem ersten großen deutschen Sieg über Frankreich 70 Jahre zuvor gewesen war: Für alle diese Leute war der Sieg in dieser Auseinandersetzung zwischen den Kulturen auf der Seite der gegenautklärerischen Kräfte und Ideen. Sieg, der richtige Einsatz von Kraft, war das Kriterium für moralische und intellektuelle Überlegenheit. Ich insistiere auf diesen Fragen, weil ich denke, dass es unmöglich ist, die Zerstörung der Freiheit, den Niedergang von Liberalismus und Demokratie zuerst in Italien, dann in Deutschland und Spanien und letztlich in Frankreich 1940, ganz zu schweigen von all den brutalen osteuropäischen nationalistischen Diktaturen, als sämtlich voneinander getrennte Ereignisse zu erklären. Anders gesagt: Das Desaster, das Europa ereilte, kann nicht nur durch den psychologischen Schock infolge der menschlichen und materiellen Verluste des Ersten Weltkrieges ausgelöst worden sein. Ich unterschätze hier nicht dessen Wichtigkeit; der Krieg brachte zweifellos die Bedingungen hervor, die Ideologien, die lange Jahre hindurch heranreifen durften, um zur politischen Kraft zu werden, aber er stellte diese Ideologien nicht her. Faschismus und Nazismus waren nicht nur Ergebnisse psychologischer Frustrationen, eines militärischen Desasters, von Arbeitslosigkeit und Inflation oder der sowjetischen Revolution. Sie waren keine Zufalle; sie waren entgegen Croces Ansicht keine Klammer in der Geschichte unserer Zeit. Das bedeutet nicht, dass der lange Feldzug gegen die Aufklärung notwendigerweise in Faschismus resultieren musste, aber gleichzeitig hätte er schwerlich zu einer Stärkung demokratischen Bewusstseins führen können. Zum Beispiel ist es nicht unangemessen zu denken, dass Croces Motto "gegen das 18. Jahrhundert", seine 20 oder 25 Jahre der Revolte gegen die Demokratie, sein Relativismus - die Vorstellung, dass Politik eine Sache und Philosophie und moralisches Gewissen eine ganz andere wären - mit seiner unverhüllten Segnung faschistischer Gewalt und seiner Unterstützung Mussolinis in den ersten Jahren nach dessen Machtergreifung zu tun hatten. Wie Carlyle, jener andere große Feind des 18. Jahrhunderts, für den Demokratie"a self-cancelling business" war (Carlyle 1899: 158), definierte Croce Demokratie als "Nichtigkeit" ("le m~ant"). Dass er unversöhnlich gegen Demokratie war, basierte auf seiner Kritik an einem humanitären "Vorurteil", und seine historische Vision
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wurde von der Vorstellung dominiert: ,,[L]ife is a struggle and a pitiless struggle" (vgL Zunino 1996). Wenige waren überrascht, als Senator Croce, der wichtigste italienische Denker seit Vico, bei der entscheidenden Vertrauensfrage, die im italienischen Parlament nach der Ennordung Matteottis gestellt wurde, seine Hand für die Mussolini-Regierung hob. Faschismus hatte seiner Ansicht nach eine historische Funktion zu erfiUlen: jene, der Gefahr von Demokratie und Sozialismus ein Ende zu bereiten. Meistens bevorzugt man es, sich an den zweiten Croce zu erinnern, den Autor des Manifests der antifaschistischen Intellektuellen und einen der Väter des liberaldemokratischen Wiederaufl.ebens nach dem Krieg. Die meisten Leute bevorzugen es, die ersten beiden Dekaden aus Croces Karriere auf genau die gleiche Weise auszuklammern, wie er es sich selbst zur Aufgabe gemacht hatte, den Faschismus aus der italienischen Vergangenheit verschwinden zu machen. Faschismus und Nazismus, die ich als zwei verwandte, jedoch gleichzeitig auch sehr verschiedene Phänomene sehe - eine Frage, die immer noch hitzig debattiert wird -, waren ein Ergebnis (unter vielen möglichen) der Revolte gegen die Demokratie, gegen Gesellschaft und Nation als Aggregat von Individuen. Bestimmte Fonnen des Antirationalismus und Antiegalitarismus entwickelten sich und florierten lange nach dem Zweiten Weltkrieg und bis in unsere Zeit hinein, aber in einem anderen Kontext schlugen sie offensichtlich in eine andere Richtung (ein jüngeres Beispiel ist Gray 2000, er setzt Isaiah Berlins Gedankengang fort). Die Anziehungskraft der von der revolutionären Rechten zu Beginn des letzten Jahrhunderts angebotenen Lösungen war so viel größer, weil Ende des 19. Jahrhunderts die Ablehnung der Aufklärung wahrlich katastrophale Dimensionen annahm und einen Großteil des kulturellen Europas hinwegfegte. Es war die Ablehnung der Aufklärung, den Bedingungen der Massengesellschaft an der Wende zum 20. Jahrhundert angepasst, welche die faschistische Ideologie hervorbrachte. Bevor er zur politischen Kraft wurde, war der Faschismus ein kulturelles Phänomen. Überall in Europa ging die kulturelle Rebellion der politischen voraus und war ihre wesentliche Bedingung. Faschismus war nicht nur auch ein kulturelles Phänomen, sondern primär ein kulturelles (vgl. Sternhell et al. 1995). Dies ist der Grund, warum der Faschismus eine Massenbewegung werden konnte und gleichzeitig ein elitäres intellektuelles Phänomen, das einige der fortschrittlichsten Elemente der Avantgarde der Zeit in seinen Bann zog. Der Krieg ennöglichte also, dass die kulturelle Revolte in politische Begriffe übersetzt wurde, aber er erschuf nicht den Faschismus als solchen. Der Krieg schaffte günstige Bedingungen: Er stattete die intellektuelle Revolte nach einer langen Inkubationszeit mit der Gelegenheit und den Mitteln aus, zur politischen Kraft zu werden, aber die Basis für den Aufstieg des Faschismus ist nicht in den Krisen zu finden, die auf 1918 folg-
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ten, sondern im Kampfgegen die ideologische Modeme, das heißt gegen die französische und Kant'sche Tradition der Aufklärung.
4. Zur Aufklärung wider die Gegenaufklärung Ich möchte nun ein paar Worte über ein verwandtes wichtiges Thema sagen, das in den letzten Jahren vermehrt diskutiert wurde, dessen jüngster Ausgangspunkt jedoch in den 1950er Jahren liegt. In jenen Jahren des Nachdenkens über das europäische 20. Jahrhundert war die Versuchung groß, die Wurzel des Übels in den geistigen Ursprüngen der modemen Welt zu suchen. Plötzlich war es die rationalistische Modeme selbst, die hinterfragt wurde: Auf diesem Weg gelangte man zur Französischen Revolution. Es wäre die Frage zu untersuchen, ob die Französische Revolution eine religiöse Explosion war, vorbereitet von Visionären und ausgeführt von Fanatikern, die, nicht weniger gläubig als die Menschen des Mittelalters, auf der Suche nach ewigen Wahrheiten und dem Paradies auf Erden waren. Die Idee, dass die Revolution einen grundlegend religiösen Charakter hatte, ist alles andere als originell. Seit den ersten Jahren der Revolution - von de Maistre vorangetrieben und aufgenommen von Tocqueville - entwickelte sich diese Idee im Kleid einer positivistischen historischen Fragestellung durch Hippolyte Taine. Sie wurde in den Vereinigten Staaten in den 1930ern von Carl Becker übernommen und war 20 Jahre danach das führende Konzept der totalitären Schule. Als der Kalte Krieg aufseinem Höhepunkt war, kursierte die Idee, dass der Utopismus der Aufklärung die sowjetische Revolution, den Stalinismus und den Gulag geboren hatte. Adorno und Horkheimer ihrerseits sahen eine Verbindung zwischen Aufklärung und Nazismus. Wie wir wissen, wurde dieser Angriff in unserer Zeit in anderer Form fortgesetzt. Für Jacques Derrida beispielsweise, der dieses Argument gegen Husserl verwandt hat, ist es immer nur ein Schritt von jeder Art Humanismus zu Rassismus, Kolonialismus und Eurozentrismus. Tatsächlich beinhaltet jeder Humanismus ihm zufolge eine Ausschlusshaltung (vgl. Renaut 1999: 45). Tocqueville, der nicht gerade die Seele eines Sansculotte besaß, hatte auf diese Art von Argument in einem Brief an Gobineau bereits ein Jahr vor der Publikation der ersten beiden Bände der "Essai sur l'inegalite des races humaines" 1853 geantwortet. Buffon, sagte Tocqueville, glaubte wie die Menschen des 18. Jahrhunderts im Allgemeinen, dass die Menschheit "est donc d'une seule espece et les varietes humaines sont produites par trois causes secondaires et exterieures: le climat, la nourriture et la maniere de vivre" (Tocqueville 1959: 197). Die Einheit der Menschheit basierte auf der Idee des Naturrechts. Auch Hannah Arendt begriffden enormen Schaden, der durch die systematischen Angriffe auf die Men-
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schenrechte und die Französische Revolution verursacht werden konnte. Sie wusste nur zu gut, dass Burke - "the rights of Englishmen" auf der Basis einer "entailed inheritance" den Menschenrechten entgegensetzend, indem er die Idee des Erbes auf das Wesen der Freiheit übertrug - dazu beigetragen hatte, die englische nationalistische Ideologie zu formulieren und ihr einen eigenartigen Anstrich rassischer Sentiments zu geben. In der Tat übernahm Burke das mittelalterliche Konzept von Freiheit als Aneignung von Privilegien, die auf die gleiche Art vererbt werden wie Adelstitel und Land. Ohne die Privilegien einer sozialen Klasse anzutasten, so Arendt, versuchte Burke, diese Privilegien auf die Gesamtheit der Engländer auszuweiten. Die Engländer wurden auf diese Weise zu einer Art Universaladel (Arendt 1966: 176). In Wirklichkeit ist Burkes Beitrag zur Nationalisierung der Massen bei weitem unterbewertet und er verdient einen Platz neben Herder als einer der geistigen Begründer des Nationalismus. Arendt verdanken wir jedoch auch einen jener fundamentalen perspektivischen Fehler, die noch heute den Horizont verdunkeln. Sie kehrte zum Konzept der "rights of Englishmen" zurück, aber in diesem Fall mit einem Wortlaut, der uns in mehr als einer Hinsicht interessiert (ebd.: 299): "The pragmatic soumlness ofBurke's concept seems 10 be beyond doubt in tbe light of our rnanifold experience. Not only did loss ofnational rights in all instances entail the loss ofhuman rights; the restoration of human rights, as tbe recent exarnple of the State ofIsrael proves, has been achieved so far through tbe res1oration or the establishment of national rights (...). The world fouml nothing sacred in tbe abstract nakedness ofbeing human."
Arendt ging hier noch einen Schritt weiter. Ihrer Meinung nach fürchtete bereits Burke, dass das Prinzip natürlicher, unveräußerlicher oder in anderen Worten abstrakter Rechte - "the right of the pure savage" - die zivilisierten Völker auf den Zustand der "Wilden" reduzieren würde. Weil nur die "Wilden" nichts außer ihrer Menschlichkeit besäßen, klammerten sich die Menschen an ihre Nationalität (ebd.: 300): ,,Burke's arguments therefore gain an added significance ifwe look only at the general human condition of those who have been forced out of all political communities. Regardless of treatment, independent of liberties or oppression, justice or injustice, they have lost all those parts of the world and all those aspects of human existence which are the result of our common labor, the outcome ofthe human artifice."
Nachdem sie ihre realen Rechte verloren hatten, konnten diese Menschen als nicht-menschliche Wesen behandelt werden. Wenn Arendt meint, die Erfahrung des 20. Jahrhunderts lehrt uns, dass der Schutz einer bestehenden nationalen Gemeinschaft immer eine effektivere Garantie für den Menschen darstellt als dessen
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Eigenschaft, Mensch zu sein, hat sie zweifelsohne Recht. Aber die Juden wurden nicht vernichtet, weil sie, nachdem sie ihrer politischen Rechte entledigt worden waren, nur noch die "abstract nakedness ofbeing human" hatten, sondern genau deshalb, weil die Nazis ihnen die Eigenschaft, Mensch zu sein, schlichtweg in Abrede stellten. Europäische Juden wurden durch die Französische Revolution aufgrund ihrer abstrakten natürlichen Rechte emanzipiert und wegen ihrer sehr konkreten Eigenschaft als Mitglieder einer wohl definierten Gemeinschaft exterminiert - in Übereinstimmung mit den Vererbungsprinzipien, die von der Gegenautklärung als einzige Quelle von Würde und Sicherheit, als einzige Definitionsfonn mit existentieller Gültigkeit betrachtet wurden. Anders ausgedrückt: Ob Sohn oder Enkelsohn eines Juden, war der Jude kein Opfer der abstrakten Natur seiner Menschlichkeit, sondern der sehr konkreten Beschaffenheit seiner Erbanlagen. Es gab keinen Platz für die Juden in einer Welt, in der im Laufe des langen Kampfes gegen das emanzipatorische Werk der Autklärung die Vorstellung einer menschlichen Natur, die alle Menschen zu allen Zeiten gemeinsam hatten, also die Idee natürlicher Rechte, die für alle Zeiten galten - eine Idee, die aus der Antike und dem Frühchristentum zu uns kam -, verschwunden war. Dass der Krieg gegen die Aufklärung auch die konkrete Fonn eines Krieges gegen die Juden annahm, war im 20. Jahrhundert wenig überraschend, aus dem einfachen Grund, dass seit dem Ende des Ancien RZgime das Schicksal der Juden mit dem Schicksal der offenen Gesellschaft auf Grundlage der Werte der Aufklärung verknüpft war. Natürlich kann man sagen, dass bestimmte Aspekte in Arendts Werk, wie bei Adorno und Horkheimer und anderen Denkern der totalitären Schule, einfach veraltet sind und dass es da nichts gibt, worum ein Aufheben gemacht werden müsste. Dies könnte der Fall sein, wenn die intellektuelle Produktion der 1950er nicht auch der Boden wäre, aus dem in den letzten 15 oder 20 Jahren die schlimmsten Verirrungen geschossen sind. Von einem Autoren hört man, dass Hitler "an intelligent thinker within the Enlightenment tradition" war (Birken 1995, zitiert in Liedman 1997: 7); von einem anderen lernt man zwei Jahre später, dass die Aufklärung nicht nur für Auschwitz und den Gulag den Grundstein legte, sondern auch für die Desaster von Ruanda und Osttimor (Bauman 1997: 39). Die Denker der Autklärung können natürlich immer einer großen Schwäche beschuldigt werden, einer außerordentlichen Schwäche: dass sie nämlich die Denker der Autklärung waren. Ihnen wäre niemals in den Sinn gekommen, dass der Ausschluss einer historischen und politischen Gemeinschaft zur Folge haben könnte, dass der Mensch seine Menschlichkeit verliert. Sicher schützt eine nationale, kulturelle oder religiöse Gemeinschaft noch heute das Individuum besser als jedes andere Kollektiv, aber es ist auch die nationale, kulturelle und religiöse
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Gemeinschaft, die ihn am einfachsten seine Menschlichkeit verlieren lässt. Im 20. Jahrhundert wurden die monströsesten Verbrechen in ihrem Namen begangen, das darf nicht vergessen werden.
5. Faschismus als extremer Ausdruck der Gegenaufklärung Zum Schluss möchte ich noch auf die freundschaftliche und höchst bedeutsame Korrespondenz zwischen Ernst Nolte und Franl;ois Furet eingehen (Furet 2004). Noltes großes Ziel war die gesamte deutsche Geschichtsphilosophie von Herder und Fichte bis Meinecke, nämlich der Deutschen Selbstvertrauen und ihren Glauben an die eigene Geschichte wiederherzustellen. Nach den Nazis bedeutete dies, das europäische Desaster nicht durch den langen Krieg gegen die franko-kantianische Aufklärung zu erklären, sondern durch die Jahre 1914 und 1917. Nach N01te waren es nicht die zwei Jahrhunderte des Blut-und-Boden-Kults und des Kults um die deutsche Besonderheit gegenüber dem dekadenten Westen; es war nicht die Ablehnung des Rationalismus, des Naturrechts und universeller Werte, es waren nicht diese rebellischen Ausbrüche gegen Demokratie und Menschenrechte, die den Niedergang der Weimarer Republik verursachten, sondern das Exempel Lenins. Indem man im Nazismus eine Widerspiegelung des Kommunismus und eine legitime Antwort auf die Bolschewikengefahr sah und indem man ihn von seinen ideologischen und kulturellen Wurzeln abtrennte wie auch die Rolle des Führers übertrieben betonte, konnte der Nazismus aus der nationalen Geschichte praktisch herausgeschnitten werden. Hier kommt Franl;ois Furet ins Bild. In diesem wichtigen Punkt stimmt Furet Nolte zu: Furets Behauptung, wonach Mussolini, der wie Lenin aus dem ultrarevolutionärem Sozialismus kam, diesen etwa leichter imitieren konnte, um ihn zu bekämpfen, entspricht nicht der ideologischen und politischen Realität und hält einer Überprüfung nicht stand (ebd.: 2; ftir meine Kritik an Nolte vgL Sternhell 2002). In den Jahren vor dem Krieg entwickelten sich Mussolinis Gedanken im Rahmen des SoreI'schen revolutionären Syndikalismus, dessen Besonderheit es war, dass er Kapitalismus und Profitgedanken als grundlegende Motivationskraft wirtschaftlichen Handeins anerkannte; aber seine Gefolgschaft lehnte, den Lehren ihres Meisters folgend, den intellektuellen Gehalt der Aufklärung und damit die Demokratie ab. Die Sorel'schen Syndikalisten, deren offizieller Führer Mussolini im August 1914 wurde, unterstützt von der Masse an Nationalisten und Futuristen, die in jedem Falle den Marxismus verabscheuten, boten weder eine Alternative zum Kapitalismus an noch suchten sie danach. Das war fundamental ftir ihr Denken. Ungleich der Bolschewiken glaubten sie nicht, dass der Kapitalismus die Ursache allen Übels war, welches von der Bour-
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geoisie oder der Sozialdemokratie, die dem Erbe liberaler Werte verpflichtet und in der Aufklärung verwurzelt waren, repräsentiert wurde. Dies allein genügt, um zu zeigen, dass Mussolini kein Schüler Lenins hätte sein können, und es erklärt, warum er entgegen Furets Behauptung 1912 mit dem Marxismus brach und sich dann der Aufgabe widmete, die Köpfe und die Waffen auf eine nationale, kulturelle und moralische, nicht aber eine soziale Revolution vorzubereiten. Nicht nur, dass Mussolini Lenin nicht imitierte, seine Revolution an der Spitze, die weder die Wirtschaft noch die soziale Struktur angriff, war das Gegenstück zu jener der Bolschewiken genauso wie der Weg seiner von allen sozialen Eliten unterstützten Machtübernahme, die fortschreitende Errichtung der Diktatur über Jahre, die Funktion der Partei und das Wesen des italienischen Regimes. Zweifellos war Deutschland nicht im höheren Maße prädestiniert, den Nazismus hervorzubringen, als Italien den Faschismus. Die Gegenaufklärung war ein paneuropäisches Phänomen und die Aufklärungstradition wurde in Frankreich genauso angegriffen wie in diesen Ländern. Aber es gab zwei große Unterschiede in Frankreich: Frankreich hatte seit dem 18. Jahrhundert zwei gegensätzliche politische Traditionen hervorgebracht und die Tradition der Gegenaufklärung wurde dort von jener der Menschrechte in Schach gehalten, während in Deutschland von Herder bis Spengler und Meinecke und in Italien von Vico bis Croce die Tradition der Aufklärung es nicht schaffte, sich zu behaupten, und im Wesentlichen sekundär war. Um auszubrechen, brauchte das antiaufldärerische Potenzial nur günstige Bedingungen. Frankreich, das 1918 gesiegt hatte, entkam diesem Desaster, aber nach seiner Niederlage 1940 gewann die Gegenautklärung die Oberhand. Die älteste Demokratie des europäischen Kontinents brach zusammen und machte Platz für eine Diktatur, die nicht wesentlich anders war als jene in Italien. So gelangte am Beginn des 20. Jahrhunderts ein umfassender Feldzug gegen das Wesen der westlichen rationalistischen und universalistischen Tradition zur Reife. Der Faschismus war ein extremer Ausdruck der Tradition der Gegenaufklärung; Nazismus war ein totaler Angriff gegen die Menschheit. Hier erkennt man die Bedeutung, die die Ablehnung universeller Werte und des Humanismus, dem Eckpfeiler autklärerischen Denkens, für eine ganze Zivilisation haben kann. Zum ersten Mal stattete sich Europa mit Regimes und politischen Bewegungen aus, deren Ziel nicht weniger war als die Zerstörung der Kultur der Autklärung, ihrer Prinzipien und ihrer intellektuellen und politischen Strukturen. Und an dieser Stelle gelangen wir zurück zum Grundproblem des Streits zwischen den "ancients" und den "modemes", zu Lockes Gesellschaftsvertrag, Kants autonomem Individuum und, um ein Nietzsche'sches Idiom zu verwenden, dem ,,man according to Rousseau". Die Prinzipien, die diese Denker formuliert haben,
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waren universell und gaben den Menschen das Recht, sich im Einklang mit ihren Bedürfnissen und ihrer Vorstellung eines politischen Ideals eine andere Welt als ihre eigene zu schaffen. Worin auch immer die Unterschiede zwischen den großen Denkern der Aufklärung bestanden haben mögen, der gemeinsame Nenner ihrer jeweiligen Ansichten war ihre Zurückweisung des Bestehenden. Die Kultur der Aufklärung war eine kritische Kultur und sah keine Ordnung als legitim an, nur weil sie bestand. Keine bestehende Ordnung ist legitim, wenn sie ungerecht ist. Gerechtigkeit und Glück sind legitime Werte und valide Ziele politischen Handelns und sollten nicht als Subversion der Freiheit gesehen werden, denn soziale Gerechtigkeit und Freiheit sind keine konzeptuellen Gegensätze. Der Mensch ist fähig voranzuschreiten, solange er auf die Vernunft baut. Es war nicht der "belief in a universal truth", der die Massaker des 20. Jahrhunderts verursachte; es war nicht das Streben, aus der bestehenden Ordnung auszubrechen, oder die Idee des Rechts auf Glückseligkeit, das sie motivierte, sondern im Gegenteil ein Ausbruch an Irrationalität, die Zerstörung der Vorstellung von der Einheit der Menschen und ein absolutes Vertrauen in die Fähigkeit der politischen Macht, die Gesellschaft zu gestalten. Dies waren genaujene Übel, gegen die die Autklärung kämpfte, und die Aufklärung, wie Spengler und Sorel richtigerweise, jedoch in verunglimpfender Weise feststellten, existierte zu jeder Zeit. Der Fortschritt mag nicht kontinuierlich sein, die Geschichte mag in Zickzack-Bewegungen voranschreiten, aber das bedeutet nicht, dass man sich auf den Zufall verlassen muss, dass man sich dem Regime der Stunde unterwerfen und soziale Übel akzeptieren muss, als ob sie natürliche Phänomene wären und nicht Resultat eines Verzichts auf die Vernunft.
6. Ende des Utopismus Dies bringt uns schließlich zur Frage, die allen Formen der Ablehnung der Aufklärung zugrunde liegt, von der moderatesten bis zur extremsten. Ist die Welt, in der wir leben, die einzig mögliche, weil sie die einzige ist, die existiert? Wenn Furet es auf sich nimmt, Nolte mit solcher Entschlossenheit zu verteidigen, dann tut er dies deshalb, weil er den Nutzen von Noltes Werk darin liegend sieht, dass es die Vorstellung untermauert, wonach der Ursprung der alles zersetzenden Krankheit in der Modeme nicht im Partikularismus von Blut und Boden, sondern in der Allgemeingültigkeit des Marx'schen "Utopismus" zu finden ist. Der Fall des Kommunismus bedeutete nicht nur das Ende der Geschichte des Kommunismus, sondern eben auch des "Utopismus" oder, in anderen Worten, der Idee der Aufklärung, nämlich dass eine andere Welt als die unsere denkbar und erstrebenswert ist. Die Lektion, die Furet aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts zieht, ist, dass "die Vor-
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stellung von einer anderen Gesellschaft praktisch undenkbar geworden ist und in der Welt von heute diesbezüglich im übrigen niemand auch nur ansatzweise ein neues Konzept entwirft" (Furet 1996: 625, Hervorhebung im Original). Der Begriff "Illusion" im Titel seines Werks ist für Furet fundamental: Der Glaube in die Möglichkeit der Existenz eines anderen Systems als dem unseren ist selbst eine Illusion. Es ist schwer zu verstehen, aufwelchen methodologischen Prämissen diese Abkehr von der Vernunft basiert - in einer Welt, die sich in den letzten 100 Jahren tief greifender verändert hat als in jeder anderen Ära der Geschichte der Neuzeit. In Zeiten von Frieden, Glück und Wohlstand hat die Negation der Grundwerte der Aufklärung keine unmittelbaren Konsequenzen. Die reine Idee eines Korpus an Wahrheiten, die dem menschlichen Verstehen zugänglich sind, zu verachten oder die Gültigkeit universeller Werte zu verhöhnen, hat keine unmittelbaren Implikationen für den Alltag, solange dies auf der Ebene geistiger Spekulationen bleibt. Aber in schwierigen Zeiten, wenn die Verteidigung von Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenrechten zur praktischen Frage wird, die unmittelbare Antworten und große Opfer verlangt, wird der Preis ihrer Verunglimpfung unmittelbar sichtbar. In den 1920ern und 1930ern in Italien und Deutschland und bedeutsamer noch in Frankreich im Sommer 1940 brachen die Prinzipien der Demokratie wie ein Kartenhaus zusammen. Vergessen wir nicht, dass in den drei großen westeuropäischen Ländern die Demokratie bei weitem nicht von einem Staatsstreich zerstört, sondern von der moderaten, liberalen oder konservativen Rechten einem Diktator ausgeliefert wurde. In dieser Hinsicht ist Croce eine emblematische Figur: Am Vorabend der Einladung, die Mussolini vom König erhalten hatte, um eine Regierung zu bilden, und nachdem der frühere liberale Premierminister Salandra sich zum "honorary fascist" erklärt hatte, verkündete der größte italienische Intellektuelle seit Vico, dass der Faschismus mit dem Liberalismus alles in allem kompatibel wäre (Payne 1995: 107; vgl. dazu auch Sternhell 1999). Petain wurde durch eine parlamentarische Abstimmung zum Diktator - im Schatten eines schrecklichen militärischen Desasters -, aber die Niederlage als solche muss nicht notwendigerweise als Niederlage des 18. Jahrhunderts und der Französischen Revolution betrachtet werden. Sie selbst war nicht der Grund für eine nationale Revolution, die in sechs Monaten eineinhalb Jahrhunderte französischer Geschichte ausradieren und Rassengesetze beinhalten würde. Dies zeigt uns, dass keine Gesellschaft, ganz gleich, welche Geschichte sie hat und welchen Beitrag sie zur Geschichte als Geschichte der Freiheit - wie der zweite Croce gesagt hätte - geleistet hat, gegen die Kräfte der Zerstörung immun ist, die heute wie gestern einen integralen Teil unserer Kultur ausmachen. Deswegen muss man die große Fragilität von Prinzipien und Traditionen berücksichtigen, welche uns gewöhnlich als in der Natur der
Von der Gegenaufklärung zu Faschismus und Nazismus
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Dinge liegend erscheinen, und damit auch die große Unsicherheit der jüdischen Lage impliziert. Das europäische Desaster war möglich, weil zu viele Menschen in Europa zu lange und zutiefst von der moralischen und geistigen Unterlegenheit der von der Aufklärung ausgehenden rationalistischen, universalistischen und humanistischen Kultur überzeugt waren.
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Nationalistische Rassisten Ulrich Biele/eld
Immer wieder wird die Frage aufgeworfen, ob die Neue Rechte, die Rechtsextremen oder Rechtsradikalen von heute, Nationalsozialisten seien oder in welchem Verhältnis sie zum Nationalsozialismus stehen. Man könnte darauf antworten, dass sie sich zumindest anstrengen würden, dem Vorbild gerecht zu werden; dass es auf die konkreten Segmente ankomme, die man sich anschaut; aber natürlich könnte man auch fragen, was unter "Nationalsozialist sein" zu verstehen ist. Beobachter der Szene können einem dann genauer erzählen, wie sie sich strukturiert, wie radikale, nationalsozialistische Kader sich zu eher "angepassten" Gruppierungen stellen, Jung zu Alt, Zentrum zu Peripherie, aber auch, welche Bedeutung Ideologie, Weltanschauung, ja, auch Theorie für die Bewegung haben (Klämer 2008; KlämerlKohlstruck 2006). Was, so kann man fragen, bedeutet es, heute in Deutschland Nationalsozialist zu sein? Die Antwort kann man auf zwei Ebenen suchen. Einmal lässt sich das Heute betonen. Es kann etwa beschrieben werden, wie auf der ideologischen Ebene der Rassismus von einem biologischen in einen differentialistischen umgeformt wird (inklusive dem möglichen Rückweg); es können die für die Gemeinschaft der ,,Kameraden" wichtigen Differenzgewinne zu den "Normalen", die immer wieder neu inszeniert werden müssen, betont werden, ebenso wie eine Modernisierung durch Rückgriffe auf ein neues Vokabular des "Protestes" vollzogen werden kann. Es können aber auch lokal und regional differierende Formen von Ausschluss oder Anerkennung, die einige von ihnen erneut finden, ohne sich jedoch politisch tatsächlich etablieren zu können, beobachtet werden. All diese möglichen Differenzierungen ändern nichts daran, dass die radikalen Rechten mit einiger Berechtigung kurz als Nationalisten und Rassisten bezeichnet werden können und von vielen so angesehen werden. Nationalistische Rassisten wäre dann eine prägnante Bezeichnung, die auch die Verbindung zum historischen Nationalsozialismus in einer kurzen Formel herstellen würde. Als politisch alltägliche und einigermaßen präzise Etikettierungsformel würde das durchaus hinreichen. Die radikale Rechte als Nationalisten zu bezeichnen, wäre hingegen unzureichend. Dann müsste zumindest immer von extremem Nationalismus (Lepsius 1966) gesprochen werden, denn Nationalismen C. Globisch, et al. (Hrsg.), Die Dynamik der europäischen Rechten, DOI 10.1007/978-3-531-92703-9_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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als überhebliche Selbstfeier der Nation, ihr schon von Ernest Renan konstatiertes Angebertum, das wir bei jeder oder jedem Einzelnen als nur schwer erträglich empfinden würden, ihr Selbstbild des, obwohl gerade erst entstanden, dennoch aber Schon-immer-dagewesen-Seins und ihre Attitüde, dass nur ihr die Zukunft gehöre, die Vereinnahmung von Vergangenheit und Zukunft also, bilden Grundcharakteristika der variationenreichen europäischen Nationalismen des 19. und 20. Jahrhunderts, des Westens wie des Restes (Kohn 1950) in kultur-, staats- und ethnonationalistischen Versionen und ihren Überschneidungen.
1. Zur Realisierung einer Fiktion: Nation, Volk, Rasse Der Nationalsozialismus schloss an die Eigenschaften der Nationalismen an, blieb aber keineswegs dabei stehen, diese "nur" ins Extrem umzuformen. Er feierte sich, zur Macht gekommen, in endlosen Ritualen und Totenfeiern selbst, verlängerte seine Zeit ins kurze 1000-jährige Reich und behielt alle schlechten Eigenschaften des Nationalismus bei. Gleichzeitig aber löste er die Grundlagen der Existenz des Nationalstaates auf. Mit der Ausdehnung in den Raum hob er die Begrenzung der Nation auf ein Territorium auf, mit dem Begriff des Volkes als Rasse, als rassistisch verstandener, das heißt vorsozialer und vorpolitischer, Volksgemeinschaft behauptete er die immer schon vorausgesetzte Existenz einer Gruppe, die doch erst unter Aufkündigung der moralischen Grundlagen herzustellen, zu produzieren, zu erzeugen war (Bielefeld 2003). In diesem Prozess der Herstellung löste der Nationalsozialismus das Gebiet der Nation in den unbegrenzten Raum auf, in dem sich schließlich die Einheiten der Armee tatsächlich verlieren sollten, und er begrenzte die Zugehörigkeit auf rassische, immer also rassistische Angehörigkeit. Die ins Unendliche des Raumes und ins Unauffindbare der Rasse und damit ins Beliebige der Definition und Herstellung verlagerte Nation sollte in Niederlage und Gewalt schließlich tatsächlich untergehen. Denn Nation ist aufs Territorium beschränkte Selbstherrschaft des rechtlich konstituierten, faktisch aber "unauffindbaren Volkes" (Rosanvallon 1998), nicht aber räumlich und rechtlich unbegrenzte Herrschaft selbsternannter Vertreter einer fiktiven Herrenrasse. 1 Unauffindbar und unendlich suchte sich das beliebige "Volk der Rasse" in der Volksgemeinschaft als ihrer scheinbaren Konkretisierung zu realisieren (Wildt 2007). Kann sich das "Volk der Nation" schließlich rechtlich setzen und im ProDer Faschismus hingegen, folgt man Zeev Sternhell, fasst die Natinn als organische Einheit, gründet sie auf Gemeinschaftsgeist, predigt einen Kult der Gewalt und des Antirationalismus und huldigt dem Aktivismus (siehe Sternhell et al. 1999). All diese Elemente sind im Nationalsozialismus enthalten. Sie radikalisieren sich durch die beschriebenen Aufhebungen.
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zess einer Demokratisierung der Demokratie Einheit durch Mehrheit bestimmen, setzt sich das "Volk der Rasse" als vorpolitische und vorsoziale Einheit. Im Prozess ihrer Realisierung folgt die Differenzierung der Volksgemeinschaft dabei dem allgemeinen Schema der Differenz. Sich zu unterscheiden bedeutet, sich von den anerkannten anderen abzusetzen, solchen, die sich auf einer geteilten Grundlage unterscheiden lassen; ein anderes Volk, eine andere Nation. Es heißt zugleich, sich von den anderen als den ganz Anderen, als denen, mit denen es keinerlei Gemeinsamkeit gibt, zu unterscheiden. Der Nationalsozialismus hierarchisierte noch die erste Form der Unterscheidung in wertvolle und weniger wertvolle andere. Diejenigen aber, die unter die zweite Gruppe subsumiert und zu ganz Anderen gemacht wurden, sollten nicht nur aus den Augen, das heißt hier also aus den Gemeinden, Städten und Regionen und dem Land, sondern sie sollten aus der Welt verschwinden. Die an dieser Stelle für diesen Zweck unlimitierte Gewalt hatte die Funktion, das nur Fiktive zu realisieren. Die Stelle des ganz Anderen konnte durchaus unterschiedlich besetzt werden. Es wurden Angehörige, die nicht richtig geraten, "entartet" oder "krank" waren und die früh und rastlos unter den eingebildeten Gesunden gesucht wurden, da sie von innen heraus das Eigene gefährdeten, deren Nähe also als besondere Perfidie gelten konnte, im Rahmen der Euthanasie getötet. Der Volkskörper musste gesund erhalten bleiben. Die Ausgestoßenen waren Andere. Auch die ,,zigeuner" konnten an diese Stelle gesetzt werden. Exemplarisch aber standen die Juden der in der Rasse aufgelösten Nation für das Prinzip des Anderen. Sie verkörperten das Andere selbst, jedes Andere, sei es des Volkes, der Kultur, der Nation, des Menschen, der Substanz, der Kunst, des Sozialen. Daher ist die Beschreibung des typisierten Juden durch Zygmunt Bauman als "Schleimiges", als "universelle Viskosität" so treffend. Denn es ist gerade die "Multi-Dimensionalität der jüdischen Unschärfe" (Bauman 1992), die sie so besonders geeignet machte, die Position des großgeschriebenen Anderen zu besetzen, sodass ihnen gegenüber mehr und mehr alle moralischen Verhaltenstandards ausgesetzt werden konnten. Man konnte ihre Synagogen, Läden und Häuser anzünden, sie brandmarken und kennzeichnen, entwürdigen und enteignen und schließlich töten. Es ist die Realisierung einer Fiktion, die gegen jede Wirklichkeit der sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Existenz von Gruppen und Menschen durchgesetzt wurde. Das die nationale Gesellschaft konstituierende Volk muss sich rechtlich konstituieren, es findet "seine Freiheit überhaupt in einer gesetzlichen Abhängigkeit (...) unvermindert wieder" (Kant 1973). Es ist die Differenz von empirischem Volk, dem Volk der Unfreiheit bei Kant, und seiner notwendigen rechtlichen Konstitution, die sichtbar wird. Nicht das gegebene Volk ist frei, sondern das durch die Herrschaft des Rechts gesetzte Volk. Nation bezieht sich aufdie Selbstbestimmung des
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Volkes, kann diese aber nur rechtlich begründen. Die Nation ist keine Gruppe und sie muss sich dennoch aus sich selbst begründen. Die Nation ist nicht der Staat, aber sie muss sich dennoch auf ihn beziehen, um sich verwirklichen zu können. Das Volk konstituiert sich rechtlich, aber um sich gegen die Formen der "natürlichen" Herrschaft der Stärkeren, der Mächtigen und der Reichen zu behaupten, muss es sich selbst voraussetzen, um sich immer wieder auf sich selbst beziehen zu können: Wir sind das Volk. Es realisiert sich aber nur von Zeit zu Zeit, zu historischen Gelegenheiten, in Momenten, auf die man sich dann in großen Erzählungen beziehen kann. In der demokratischen Bestimmung der Gesellschaft steckt die unauflösbare Ambivalenz der Selbstbestimmung. Das Volk kann nicht selbst herrschen. Der Nationalsozialismus ist unter anderem der Versuch, die strukturelle Ambivalenz des modemen Nationalstaates zu tilgen. Die unterschiedlichen Pole sollen faktisch zur Deckung gebracht werden. Das nicht existierende Volk der Unfreiheit (Kants empirisches Volk) wird an die Stelle der Herrschaft gesetzt. Anders formuliert: Das Volk wird als frei behauptet, da es herrsche. Die Ausnahmeform der Identität wird so zur allgemeinen gemacht. Die getilgte Unterscheidung radikalisiert die anderen schon genannten Unterscheidungen. Das an die Stelle der Herrschaft gesetzte, als gegeben behauptete Volk aber gibt es nicht. In einer ersten identitären Konstruktion aber repräsentieren Partei und Führer das Volk nicht mehr, sie sind es beziehungsweise wird behauptet, dass sie es sind. In einer zweiten muss schließlich das Volk gemacht, hergestellt werden. Die Realität wird der als real behaupteten Fiktion angepasst, das ,,reale" Volk des Rechts als "bloß" rechtliches etikettiert.2 Die Realisierung des Fiktiven geschieht in der gewaltförrnigen Auflösung der beschriebenen ambivalenten Struktur des Nationalen und in der Konstitution der Volksgemeinschaft als Einverständnis- und Unterwerfungsgemeinschaft (Bielefeld 2003).
2. Die Realisierung von"Volksgemeinschaft" in der Nachkriegszeit 1945 waren nicht nur Städte, sondern war die Welt des NS-Staates in Schutt und Asche gelegt. Die Schornsteine der Vernichtungslager - angesichts der kommenden Niederlage umso heftiger angefeuert - hörten aufzu rauchen. Nichts war mehr wie zuvor, wie vor 1941,1939 oder auch vor 1933, wo immer das Datum gesetzt wird; und doch war nicht plötzlich alles anders geworden. Es brauchte lange, bis der offensichtliche Zivilisationsbruch in seinen vielen Dimensionen anerkannt 2
Noch der Begriff des "politischen Volkes" von Hans Freyer distanziert sich nicht von dieser Vorstellung, sondern bringt sie auf den Punkt: Das "politische" Volk ist das zu realisierende "organische" (siehe Bielefeld 2005).
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werden konnte; zu verständlich schienen Reaktionen der Derealisierung: nicht des Geschehenen, sondern des Gemachten, des Angerichteten. Noch das pathetisch herausgestrichene SchweigenlBeschweigen konnte als besondere Leistung der nun - im Moment der tatsächlichen Zerstörung des Nationalstaates, der Gesellschaft und unabweisbarer Schuld - realisierten Volksgemeinschaft gewertet werden. Schuld konnte in einem intellektuellen Entwurf der frühen Bundesrepublik als übernommene und aufrecht getragene, nicht als tätig erworbene stilisiert werden. Nur erduldetes Leid stand dann der aktiven, schweigend aufrecht getragenen Schuld gegenüber (dieser Vorschlag zum Umgang mit der Schuld nach 1945 findet sich bei Hans Freyer, hierzu ausführlicher Bielefe1d 2006). Sollten, so schrieb es Hitler in "Mein Kampf', die einfachen nationalsozialistischen Männer lernen, bei Recht und Unrecht zu schweigen, so war die neue Haltung die des Schweigens - bei Schuld und Unschuld. Der Zivilisationsbruch brachte außer Schuld weitgehende Zerstörung. Der Nationalsozialismus hatte den Nationalstaat schon durch Entgrenzung aufgelöst, nun waren Städte und Lebensgrundlagen, Moral und Gesellschaft zerstört. Zwar kontinuierten sich einige Praktiken, Institutionen und auch Einstellungen und mit ihnen ihre Träger, aber es gab einen kaum beobachteten, paradoxen und perversen Effekt - um nicht zu sagen: Erfolg - der todbringenden Praxis der Herstellung der Volksgemeinschaft. Nie zuvor gab es ein "deutsches Volk", das tatsächlich so ,,rein" war wie in den kurzen und manchmal auch längeren Jahren nach 1945 und 1949. In aller Kürze und so prägnant wie möglich formuliert: Die Volksgemeinschaft realisierte sich in der Niederlage als nun tatsächlich weitgehend homogene deutsche Bevölkerung. In der schließlich geschlossenen Gesellschaft der sozialistischen DDR konnte diese Homogenität aufrechterhalten werden; in der Bundesrepublik Deutschland wurde sie zum bestimmenden Bild, zum Selbstverständnis, das noch dann aufrechterhalten wurde, als die Gesellschaft sich beginnend in den 1960er Jahren längst verändert hatte. Trotz des Chaos von Niederlage, Zerstörung, Besatzung als Befreiung, aber auch von Flucht und Vertreibung war man nun mehr "unter sich", als dies je zuvor der Fall gewesen war und als es unter Bedingungen moderner, demokratischer Gesellschaft vorstellbar ist. Was man den Morgenthau-Plänen unterstellte, Deutschland zu einer vormodernen (hier: agrarischen) Gesellschaft machen zu wollen, hatte man tatsächlich auf einer anderen Ebene schon erreicht. Deutschland war nun erstmals eine ethnisch homogene Gesellschaft. Die Fiktion der Homogenität als Grundlage des Politischen schien in einer Situation verwirklicht, als die Möglichkeit zur Politik nicht mehr vorhanden war. Staat und Gesellschaft waren aufgelöst, Staatlichkeit und Souveränität verloren; die Gesellschaft war eine Gesellschaft der
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Überlebenden und des Überlebens geworden. Die Leute suchten ihre Orte, die sie zum Teil nicht mehr fanden, und mussten sich neue schaffen. Man entledigte sich der alten Uniformen (Leggewie 1998). Das Volk war wieder zum empirischen Volk geworden, homogen, aber ohne rechtlich konstituiert zu sein, das heißt ohne Souveränität und orientiert am Leben als Überleben. Die Gemeinschaft der Aufgelösten wurde als "Stamm" imaginiert, der nun kolonisiert wurde (thematisiert etwa im Karnevalsschlager von 1948: "Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien").3 Die alten Zeiten sind vorbei und andere, Diplomaten, machen nun die Politik. Die "Eingeborenen", die niemand vorher kannte, haben "Mägdelein"; sie sind trotz allem keine Menschenfresser, küssen (besser) und haben Kultur. 4 Es wird eine Kontinuität sichtbar, die trotz des Verlustes staatlicher Souveränität, kollektiver Anerkennung und individueller Glaubwürdigkeit in der Zusammenbruchs- (Niethammer 1983) und Übergangsgesellschaft (Gerhardt 2005) die neue Realität gut beschreibt. Man nimmt sich nun tatsächlich als "empirisches Volk" wahr, als ein homogenes, nun schicksalhaft vereintes Volk ohne Staat, das in den Urzustand versetzt ist, weil es die politische, rechtliche und moralische Konstituierung verloren hat. Der teilweise dramatischen Unordnung und Zusammenhanglosigkeit der Zusammenbruchsgesellschaft, die sich ja erst im Nachhinein als Übergang zu erkennen gibt und sich zwischen die nationalsozialistische und die neuen Gesellschaften schiebt, stand eine unwahrscheinliche Homogenität als Folge von Vernichtungspolitik und Krieg gegenüber. Flüchtlinge gehörten zur neuen, nun realisierten Gemeinschaft des empirischen Volkes. "Dass die sich hier breit machten, das Geschirr anstießen und das Klo nicht in Ordnung hielten, hatte mit, Volksgemeinschaft' zu tun", so beschreibt Walter Kempowski (2006) die Situation mit den ersten Flüchtlingen, die in den westlicher gelegenen Städten, Dörfern und Häusern unterkamen. Konflikte, auch solche, die mit "Kulturkonflikten", zumindest mit Problemen, die als solche beschrieben und empfunden wurden, zu tun hatten, gab es auch in der Folgezeit. Aber welche praktischen Probleme mit der Integration der Flüchtlinge auch auftauchten, sie hatten mit "Volksgemeinschaft" zu tun. Es waren die realen Folgen des Versuchs, eine Fiktion zu verwirklichen. Auch daher waren die Integrationsanstrengungen groß und letztlich erfolgreich. 3 4
Der Wortlaut des Textes ist zu finden unter http://www.lyrlcs.de/songtextJkarlberbuer/ trizonesiensong_43c35.html (letzter Zugriff am 24.4.2010). Der Wahl-Kölner Kabarettist Konrad Beikircher hat 1996 eine kammennusikalische, leise, mit Klavier- und Streicherarrangement arbeitende Fassung veröffentlicht (zu finden auf der CD 360 Grad von 1996, Verlag Bouvier Literaturbühne). Die Veränderung des Arrangements macht eindringlich deutlich, worum es bei dieser Selbstthematisierung ging. Ein kurzer Versuch des Mitklatschens aus dem Publikum verstummt sofort.
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Nach Krieg, Niederlage und Vernichtungspolitik, nach dem Chaos der Übergangsgesellschaft als einer des Zusammenbruchs und des Neustarts, die faktisch und symbolisch mit dem Sozialdarwinismus des Schwarzmarktes und mit der großen Zahl freigesetzter Bevölkerungsgruppen, die auf dem Weg waren und manchmal nicht wussten, wohin dieser ging, zusammenfiel, gab es schließlich auf dem Gebiet der gerade gegründeten Bundesrepublik praktisch keine Fremden, Minderheiten und andere mehr. Sehr wohl aber gab es soziale Ausgrenzung von Neuankömmlingen, unterschiedlichste lokale Mischungen von Insidern und Outsidern, die in manchen ländlichen Gebieten und kleineren Städten fast die Hälfte der Bevölkerung ausmachten. Aber sie alle, fast alle, gehörten dazu, zum engen oder weiten Begriffdes als gemeinsam Definierten. Der jüdische Bevölkerungsanteil betrug nur noch 0,1 Prozent (Angabe für den 13.9.1950). Die Zahl der Ausländer innerhalb und außerhalb der Lager war auf einen Bevölkerungsanteil von nur noch 1,1 Prozent gesunken (Angaben für den 1.10.1950) und sollte bis zum 1.1.1955 weiter auf0,9 Prozent zurückgehen. In der schließlich geschlossenen Gesellschaft der DDR konnte eine vergleichbare Homogenität weitgehend aufrechterhalten werden. Für den 31.8.1950 werden 0,02 Prozent Israeliten angegeben, Angaben zu Ausländern finden sich nicht, da nicht nach dem Inländer-/Ausländerkriterium differenziert wurde. Allerdings stammten, bezogen auf den Gebietsstand von 1937, fluchtbedingt 7,2 Prozent der Bevölkerung aus dem Ausland. Insgesamt aber hatte ein Viertel der Bevölkerung einen Flüchtlingshintergrund. Sozialpolitik, Umverteilung von Wohnraum und Bodenreform stellten eine frühe Integrationspolitik dar, die früher als in der Bundesrepublik begann. Eine Zentralverwaltung für deutsche Umsiedler (ZVU) wurde gegründet und schon 1950 wurde das Umsiedlergesetz erlassen. Deutsche Umsiedler sollten keine gesonderte Gruppe darstellen. Sie wurden schließlich dennoch überproportional zu "Republiksflüchtlingen" (das Thema der Speziallager kann ich hier nicht weiter berühren, verdient aber eine eigene Betrachtung, wie zum Beispiel bei Greiner 2010). Die Ungeordnetheit der Zusammenbruchs- als Übergangsgesellschaft und Homogenität widersprechen sich nicht. Letztere wurde zur Grundlage einer schließlich fast als erstarrt erscheinenden Gesellschaft der ,,kleinen Habe" und des, falls vorhanden, Rückzugs in die Familien und Kirchen der 1950er Jahre. Der Kulturkampf hatte ein Ende, das Selbstbild des homogenen Volkes mündete in die formierte Gesellschaft, die sich selbst als ,,nicht mehr von sozialen Kämpfen geschüttelt und von kulturellen Konflikten zerrissen" beschrieb. 5 Im Folgenden werfe ich
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So sollte schließlich Bundeskanzler Ludwig Erhard die formierte Gesellschaft auf dem XIII. enD-Parteitag im März 1965 in Düsseldorfbeschreiben (Archiv der Gegenwart 1965: 11776).
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einen kurzen Blick darauf, wie die entstandene homogene Gesellschaft mit NichtZugehörigkeit umging.
3. Nicht-Zugehörigkeit Eine Gruppe Nicht-Zugehöriger, die sich auf dem ehemaligen Territorium des Deutschen Reiches aufhielten, waren die sechs bis sieben Millionen "displaced persons", Überlebende der Lager, befreite Häftlinge, ehemalige Zwangsarbeiter. Ein Teil von ihnen wohnte weiter in zunächst 63 als exterritorial definierten Lagern, die meisten warteten aufAusreisemöglichkeiten. Sie waren eine Übergangserscheinung, Transferpopulation, die allerdings immer wieder zum Thema wurde, häufig als "Sicherheitsproblem" etikettiert. Schon 1953 sollte das letzte jüdische Flüchtlingslager in der US-Zone aufgelöst werden: Föhrenwald, das heutige Waldram (bei Wolfratshausen). Seit 1946, so ein zeitgenössischer Spiegel-Bericht aus dem Jahr 1953, sei es zu "Massenauswanderungen" aus den Lagern gekommen. Von einigen 1000 Bewohnern waren vor allem 350 Tbc-Kranke mit ihren Familien, Alte und chronisch Kranke zurückgeblieben: "die letzten Reste von Hitlers großen Morden" (,,Rückkehr nach Föhrenwald" in Der Spiegel vom 3.6.1953; zu Föhrenwald vgl. auch Ander et al. 2005). Ende 1952/Anfang 1953 - der exterritoriale Charakter der Lager war aufgelöst - kam es zu einer aus heutiger Perspektive bizarren Situation. Im Dezember 1952 "näherten sich 200 illegale jüdische Flüchtlinge dem Lager" (ebd.: Der Spiegel vom 3.6.1953). Im Juni 1953 zählte man 371 "illegale" Rückkehrer, die, so der Kommentar, den Härten des Aufbaus in Israel entkommen wollten; weitere 600 seien im ,,Anmarsch", weitere ,,3000 bis 4000 Flüchtlinge" würden sich, so wurde vermutet, in Italien, Österreich, Frankreich und einigen anderen europäischen Ländern darauf vorbereiten, nach Föhrenwald zu kommen. Tatsächlich stieg die Zahl der damals von deutscher Seite als heimatlose Ausländer (Der Spiegel spricht von "heimatlosen Rückwanderern") bezeichneten Personen leicht an: von 1600 auf 1986 Personen. In einem Bericht zur Lage zitiert Oberländer aus der Schweizer Jüdischen Zeitung: "Föhrenwald ist kein Barackenlager, sondern ein Städtchen mit freier Möglichkeit für alle Berufe. Die deutsche Regierung zahlt jedem Insassen 100 Mark, der Joint leistet Beiträge; Miete, Heizung und Elektrisch sind umsonst, medizinische Hilfe ist gratis. Die Rückkehrer erhalten vom ersten Tag an gleiche Leistungen (...)" (ebd.). Durch solche Hinweise, so Oberländer, werde das oberbayerische Lager zum Sammelpunkt heimatloser Rückwanderer. Illegale Zuwanderung, als jüdisch initiiert dargestellt, sollte gestoppt werden. Ab 1956 wurden schließlich vor allem kinderreiche Heimatvertriebene angesie-
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delt, 1957 wurde das Lager als solches aufgelöst. Die wenigen übrig gebliebenen Bewohner hatten nicht die Möglichkeit, eines der Häuser zu kaufen. Es wurden ihnen Sozialwohnungen in Großstädten, vor allem in München und Frankfurt, angeboten. "Adolf-Hitler-Platz", "Independence Platz", "Kolpingplatz": An der sukzessiven Namensgebung des Dorfplatzes verdeutlicht sich die Geschichte des Ortes. Heimatlose Zugehörige ersetzten die heimatlosen Nicht-Zugehörigen im nun nach Waldram umbenannten Ort (vgl. Gay 2001; Schoeps 2001; Jacobmeier 1983; Brenner 1995; KönigsederlWetze1l994). Zugehörigkeit konnte weiter auch nach offenkundig rassischen Mustern gedacht und praktiziert werden. Erste schwarze Kinder wurden schon 1945 geboren (39 von insgesamt 2132 unehelichen Kindern von Besatzungsangehörigen). Die meisten Besatzungskinder wurden 1946 geboren: 21.117, darunter 1504 schwarze. 1955 war schließlich wieder das Niveau von 1945 erreicht (41 schwarze Kinder), deren Gesamtzahl sich im Laufe von zehn Jahren (1945-1955) auf 4681 Kinder belief (die Zahlen entstammen Lemke Muniz de Faria 2002: 202; vgl. auch Fehrenbach 2005). Erneut ist es nicht die Zahl, sondern die Existenz, die problematisiert wurde. Die Möglichkeit der Exklusion über die Ausländerdefinition stand in diesem Fall nicht zur Verfügung. Im Sommer 1949 wird folgendes Problem, zu dem es in Gießen gekommen war, geschildert: "Es hat sich nämlich die Praxis herausgebildet, Kinderwagen mit Mischlingsbabies einfach auf den Marktplatz zu stellen, wenn die schwarzen Soldatenväter nach den Staaten zurückgedampft sind" (aus dem Beitrag ,,Hafen der Hoffnung für kleine Negerlein" in Der Spiegel vom 14.7.1949). Die allgemeine Not, die oft nicht einmal vorhandene ,,kleine Habe" diente zur Erklärung des Phänomens. Aber nicht Säuglinge, sondern schwarze Säuglinge wurden einem ungewissen Schicksal überlassen. An der Bereitschaft aber, die eigenen Kinder gerade in Notsituationen zu versorgen, kann abgelesen werden, wer im buchstäblichen Sinn durchgefüttert werden soll und wer nicht. Die Babys wurden zudem zum Objekt einer spezifischen Fürsorge. Sie wurden als ein Problem für die Waisenhäuser dargestellt, da "über die Negerbabies" (ebd.) gelacht wurde. Ein Verein kümmerte sich nicht nur um ihre Versorgung, sondern auch um die Gewährleistung einer speziellen Sozialisation. Ziel war es, ein eigenes Heim für die schwarzen Kinder zur Verfügung zu stellen, um sie vor Diskriminierung zu schützen, um sie gleichsam "artgerecht" erziehen zu können und um für sie möglichst schwarze Adoptionsfamilien in den USA zu finden; die Verhinderung von "Rassenvermischung" als Fürsorge.
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4. Selbstthematisierung nach der deutschen Wiedervereinigung Die Beispiele aus der Bundesrepublik Deutschland könnten ergänzt werden durch solche aus der DDR. Auch hier gab es kleine Gruppen, etwa um 1300 Griechen. Die Fremden, ob sie zu "Freunden" wurden oder nicht, aber muss man suchen, so etwa auch eine weitere Gruppe von 100 schwarzen Kindern. Die im Lande waren, auch die so genannten Vertragsarbeiter, sollten unter sich bleiben. Wir finden so zunächst zwei Staaten mit einer weitgehend ethnisch homogenen Bevölkerungsstruktur, die keineswegs typisch ist für Nationalstaaten, sondern die Folge eines Herstellungsprozesses. Die DDR, die sich eine republikanische Verfassung gab und ein antirassistisches Selbstbild vertrat, blieb ein homogenes Land. Die Bundesrepublik, die an einem ethnonationalen Zugehörigkeitsrecht festhielt und eine ethnokulturelle Selbstthematisierung ausbildete, veränderte jedoch ihre Struktur. Sie wird zum Einwanderungsland, ohne ihre Rechtsstruktur und ihre Selbstthematisierung umzustellen; die DDR wurde zu einem homogenen Staat des Volkes als Klasse, der sich selbst als fortschrittlich, antinationalistisch und republikanisch darstellte. In beiden Fällen klaffte eine Lücke zwischen Selbstthematisierung und der tatsächlichen Struktur und dem Leben der Gesellschaft, jeweils jedoch im genau umgekehrten Sinn. Die Vereinigung beider Staaten schloss die Möglichkeit ein, aufdieser Grundlage erneut einen Zusammenschluss von Struktur und Selbstthematisierung zu versuchen. Die in der DDR vorhandene Struktur musste dann mit der ethnokulturellen Selbstthematisierung der Bundesrepublik verbunden werden, um auf dieser Grundlage die erneute Herstellung von Homogenität zu fordern. Das Volk sollte dann zum Volk gemacht, das rechtliche erneut vom empirischen ersetzt werden. Diese Chance suchten die nationalistischen Rassisten zu nutzen. Nicht zum ersten Mal brannten Flüchtlingsheime, aber es kam zum ersten Mal zum Flächenbrand, zu einer nationalistisch-rassistischen Meute (Rostock-Lichtenhagen) und zur expliziten Forderung, Reinheit wieder praktisch herzustellen. Man konnte sich dazu institutionell berechtigt fühlen (Bielefeld 1993), verkannte aber die strukturelle Kraft einer europäisierten demokratischen Gesellschaft, die Teilnahme und Teilhabe von kollektiver Identität getrennt hat. Faktisch wurde das Staatsbürgerschaftsrecht umgestellt, vom ius sanguinis zu einem allerdings restriktiven republikanischem Recht umgeformt. Nun entsprach die (Bevölkerungs-)Struktur der Gesellschaft auch dem Recht der Gesellschaft. Die nationalistisch-rassistische Ideologie konnte und kann so weder an eine gesellschaftliche Realität anknüpfen noch kann sie eine Form der Selbstthematisierung anbieten, die angemessen auf diese Wirklichkeit reagiert.
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Das ist nicht das Ende einer nationalsozialistischen Rechten. Vielmehr kann hierin gerade eine Erklärung ihrer ideologischen Radikalisierung gesehen werden. Wenn die Suche nach Akzeptanz, etwa indem die Selbstdarstellung nach außen die Gewaltfönnigkeit zurücknimmt oder man sich ideologisch kulturalistischer gibt, als man ist, scheitert, dann kann die Strategie der Konfrontation mit den so genannten Systemparteien und -kräften radikalisiert werden. Zumindest gibt es dann möglicherweise interne Zusarnmenhaltsgewinne, lokale Erfolge und imaginäre Herrschaftsgewinne. Im kleinen Reich des Größenwahns aber herrscht der gleiche Wille zur gewaltsamen Realisierung der vorgestellten Welt der Herrenrasse. Dann müssen von Zeit zu Zeit Aufmärsche durchgeführt werden, um sich selbst der Existenz zu vergewissern; immer wieder muss auch die Gewaltbereitschaft faktisch durch Angriffe auf andere bestätigt werden. Und schließlich kann man doch noch an die Möglichkeit des Erfolgs glauben. Empfinden nicht doch viele, dass es zu viele Fremde gibt? Lassen sich die Fremden nicht doch im Gefühl vieler zu ganz Anderen transfonnieren? Kann man nicht doch mit neuen Partnern die alten Feinde wieder an die Stelle rücken, wo sie vermeintlich hingehören? Gibt es nicht doch noch immer die jüdische Gefahr - an der Börse und in Israel? Werden nicht doch die "Protokolle" wieder aktuell? Derzeit lassen sich so keine stabilen (Wähler-)Gruppen überzeugen. Gewinne sind lokal, regional und zeitlich wenig stabiL Aber es gibt sie, die nationalistischen Rassisten, die ihre Anschlussmöglichkeiten noch nicht gefunden haben.
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Strukturen und Ideologien in Osteuropa
"Die Märtyrer sind die Magyaren" Der Holocaust in Ungarn aus der Sicht des Hauses des Terrors in Budapest und die Ethnisierung der Erinnerung in Ungarn
Magdalena Marsovszky
Über das Museum Haus des Terrors in Budapest sind seit seiner Eröffnung im Jahre 2002 zahlreiche Publikationen erschienen (vgl. zum Beispiel Marsovszky 2002; Seewann/Kovacs 2006; Ungväry 2006; Halpert 2007). In der deutsch- und englischsprachigen Fachliteratur beginnt sich langsam ein Konsens darüber zu entwickeln, dass seine Konzeption nicht der wünschenswerten reflexiven Gedächtnispolitik: der ungarischen Gesellschaft dient. Im vorliegenden Beitrag gehe ich einen Schritt weiter und konzentriere mich auf die Frage, warum die Konzeption der ständigen Ausstellung des Hauses des Terrors strukturell als antisemitisch bestimmt werden kann beziehungsweise warum sie den Antisemitismus in der ungarischen Gesellschaft nährt. Das Haus des Terrors wurde 2002 mit dem Anspruch eröffnet, den Besuchern sowohl die nationalsozialistische als auch die kommunistische Diktatur durch eine interaktive Vermittlung aufzuzeigen. Doch durch den ,,nationalen Blick" und den ,,methodologischen Nationalismus" (Beck 2004: 39), die dieAusstellungskonzeption bestimmen und übrigens auch große Teile der Wissenschaft in Ungarn beherrschen, wird die "ethnische Schließung" (Salzborn 2004) der Gesellschaft und die damit vollzogene Verwandlung in eine Volkstumsgemeinschaft gefdrdert, die aufgrund ihres Homogenitätsideals Ausgrenzungstendenzen verstärkt.
1. Ethnisierung der Erinnerung Die ethnische Schließung der Gesellschaft und die damit vollzogene Verwandlung in eine "geschlossene Gesellschaft" geschieht vor allem durch die "Ethnisierung der Erinnerung" (Seewann/Kovacs 2006: 193)1, die auch die Konzeption Der durch Seewann und Kovacs geprägte Begriff ,,Ethnifizierung der nationalen Erinnerung" ist nicht nur im Hinblick auf die Konzeption des Hauses des Terrors, sondern auch hinsichtlich eines Großteils der kulturellen Konzeptionen, ja auch für die Struktur der Kulturpolitik Ungarns von großer Wichtigkeit (vgL auch Marsovszky 2006a). Was jedoch genau darunter zu verstehen ist, wird leider nicht ausreichend erklärt.
C. Globisch, et al. (Hrsg.), Die Dynamik der europäischen Rechten, DOI 10.1007/978-3-531-92703-9_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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des Hauses widerspiegelt. In ihr wird das ungarische nationale Opfernarrativ in den Vordergrund gestellt. Der nationale Opfennythos ist ein wichtiger Baustein des in Ungarn vorherrschenden ethnisch-völkischen Denkens und hängt stark mit dem Phänomen zusammen, das man "Kulturpessimismus" nennt (zum völkischen Denken in Ungarn vgl. Marsovszky 2006b). Beide sind wichtige Bestandteile von Strukturen, die den Antisemitismus fördern (vgl. Salzborn 2006; Stern 1986). In beiden erleben wir eine letztendlich antisemitisch implementierte Identifizierung mit der magyarischen Nation (wobei hier Nation im völkisch-ethnischen Sinne Abstammungsgemeinschaft meint). Der Kulturpessimismus entspringt dem Gefühl der Angst vor dem Verlust altüberkommener Traditionen und Glauben und traditioneller sozialer Bindungen infolge von Modernisierung und Reformen sowie aus einer psychisch determinierten Wahrnehmung, nämlich einer vermeintlichen peripheren Lage (vgl. den Begriff der "in-between peripherality" von Tötösy de Zepetnek 2002: 8). Man fürchtet den Verlust der ,,nationalen Einheit" und letztendlich den "Tod der Nation", sieht sich als Opfer der Modernisierung, der europäischen Integration und des westlichen Liberalismus und meint, dass das, was die Kommunisten zwischen 1945 und 1990 nicht zerstörten, jetzt endgültig von den Liberalen vollbracht werde. Opfermythos meint aber auch die Abwehr von Schuld und Erinnerung sowie die Projektion von Verbrechen auf "Andere", "Fremde" und letztendlich stellvertretend dafür auf "Juden". Mit dem nationalen Opfermythos wird versucht, die in der eigenen Schuld zum Ausdruck kommende Täterschaft zu leugnen. Es ist nichts anderes als eine Schuldumkehr, mit der die Verfolger ihre Angst, als Kollektivtäter beschuldigt zu werden, auf die Verfolgten projizieren. In der Forschung wird die Umkehr der Täter-Opfer-Relation als typische Erscheinungsform des Antisemitismus betrachtet (vgl. zum Beispiel Haury 2002: 115ff.).
2. Täter-Opfer-Umkehr, antikommunistischer und antiliberaler Antisemitismus Klaus Holz bezeichnet die Täter-Opfer-Umkehr als "demokratischen Antisemitismus" (Holz 2005: 56; vgl. auch ders. in diesem Band), weil sie weniger dem "radikalen Rand" einer Gesellschaft zuzuordnen sei als vielmehr der "demokratischen", politischen Mitte, die die so genannte "Vergangenheitsbewältigung" oft durch die Täter-Opfer-Umkehr zu vollziehen versucht. Der demokratische Antisemitismus bezeichnet dabei keinen eigenen Typus des Antisemitismus, sondern ,,nur die ungefähre Eingrenzung eines Phänomens". Holz unterscheidet drei Haupttypen der Täter-Opfer-Umkehr: Zum ersten gehört der bereits erwähnte Opfermythos, des-
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sen Virulenz auf der Leiderfahrung des eigenen, ethnisch gedachten Volkes beruht und durch die Schuldabwehr motiviert wird. In der zweiten Variante wird zwar die historische Tatsache des Holocausts nicht geleugnet, dafür aber die Zeitdimension betont und die ständig wiederkehrende "Dauerrepräsentation" von Schande und deren Instrumentalisierung kritisiert. Profiteure dieser "Instrumentalisierung" der Schande seien nach dieser antisemitischen Variante letztendlich die Juden, die so sogar einen illegitimen Schaden aus der Shoah ziehen würden. In der dritten Variante wird den Tätern ein Teil ihrer Schuld abgesprochen, während die Opfer nicht mehr als gänzlich unschuldig betrachtet werden. Typisch fiir die Konstruktion des ,jüdischen Täters" ist es einerseits, die Juden mit den Nationalsozialisten zu vergleichen beziehungsweise jüdische Handlungen als nazistische darzustellen. Die Konstruktion des ,jüdischen Nazis" ist typisch fiir diese Sichtweise. Typisch ist aber andererseits auch, dass die Juden mit den Kommunisten verglichen beziehungsweise kommunistische Handlungen als jüdische dargestellt werden. Dies ist der so genannte antikommunistische Antisemitismus, dessen Grundlage der "Mythos vom jüdischen Kommunismus" ist (Gerrits 2009). Dabei wird das Schreckgespenst des ,jüdischen Bolschewismus" immer mit historischen Fakten "angereichert". Meistens kommen in den Begründungen Stichworte wie "Russische Revolution", "Räterepublik" sowie "bolschewistische Akteure" oder Namen wie Trotzki, Bela Kun oder aber der ungarische Stalin, Mlityäs Räkosi, vor. Damit wird die Weltrevolution zur ,jüdischen Revolution" und sowjetische Kommunisten und Juden werden stillschweigend zu Synonymen erklärt. Dieses Argumentationsmuster gehört zur traditionellen judenfeindlichen Demagogie, die letztlich in den Holocaust führte (vgl Benz 2004a: 45, 46). In Ungarn spielt die Täter-Opfer-Umkehr nicht nur in der so genannten Vergangenheitsbewältigung beziehungsweise in der Erinnerungspolitik eine enorme Rolle, sondern auch und vor allem im gesamten politischen Leben. Man könnte sogar behaupten, dass selbst der Sieg der völkischen Parteien bei den Parlamentswahlen im Frühjahr 2010, den ich nach Fritz Stern (1986) als ,,konservative Revolution" oder "völkische Wende" bezeichne, zum großen Teil auf dem Prinzip der soeben beschriebenen Täter-Opfer-Umkehr basiert, mit dessen Hilfe sich "die (völkisch gedachte) Nation", vertreten durch die völkischen Parteien FideszBürgerliche Union (Fidesz-MPSZ) und die Christlich-Demokratische Volkspartei (KDNP), seit Mai 2010 an der Regierung, sowie die rechtsradikale Partei Jobbik, momentan in der parlamentarischen Opposition, vom vermeintlichen "Joch" der Güdischen) Postkommunisten und der Güdischen) Liberalen zu befreien meint. Der antikommunistische Antisemitismus kam zum Beispiel in einem Film der jetzigen Regierungspartei Fidesz in der Wahlkampagne zu den Parlaments-
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wahlen 2010 in den folgenden Sätzen eines Regisseurs zum Ausdruck (vgL "Mär csak harom nap", deutsch: "Nur noch drei Tage", Veranstaltung zur :finalen Wahlkampagne von Fidesz in der Syma-Halle, in HirTV vom 8.4.2010): ,,Die magyarische Staatlichkeit ist eintausendeinhundert Jahre alt. Die ungarische Linke ist einhundert Jahre alt. Am 11. April wählen wir! Stephan der Heilige oder Bela Kun, das ist hier die Frage! Ich meine: Am 11. April wird Stephan der Heilige das Land von Bela Kun und seinen Nachfolgern zurückerobern."
Im antikommunistischen Antisemitismus Ungarns ist zu beobachten, dass nicht nur Bolschewiki und sowjetische Kommunisten sowie Juden zu Synonymen erklärt werden, sondern sogar "deren Nachfolger", die heutigen Russen. Wenn Viktor Orbän - noch als Oppositionsführer im Januar 2007 - sagt, "wir wollen nicht die lustigste Baracke von Gazprom sein", dann hat dieser Satz eine für jedermann in Ungarn verstehbare antisemitische Konnotation (vgl. den Beitrag "Orbän: Nem akarunk a Gazprom legvidamabb barakkja lenni" in MT! vom 3.1.2007).2 Zum antikommunistischen Antisemitismus gesellt sich in Ungarn eine weitere Variante, die man nach dem gleichen Muster antiliberalen Antisemitismus nennen könnte. Ungarns Antisemiten sind sich darin einig, dass die größte Gefahr für Europa der (östliche) Bolschewismus einerseits und der (westliche) Liberalismus andererseits sind, welche von den "Juden" erfunden worden seien. Sie meinen, dass das, was die Kommunisten (im Realsozialismus) nicht hätten kaputt machen können, in den letzten 20 Jahren von den Liberalen vollbracht worden wäre. Beide, sowohl die kommunistische als auch die liberale Denkweise beziehungsweise das Denken in den Kategorien der liberalen Demokratie, werden als ,jüdische Unterwanderung" der Volksgemeinschaft aufgefasst. In der ungarischen Variante der Täter-Opfer-Umkehr ist vor allem der genannte Opfermythos bedeutend, wenn also die (völkisch gedachte) Nation permanent und ohne jede Selbstreflexion als das Opfer historischer Ereignisse dargestellt wird. Die antisemitische Konstruktion des ,jüdischen Täters" wird sowohl auf die Nationalsozialisten, hier vor allem auf Hitler, übertragen als auch auf die Kommunisten und auf die Liberalen, aber in einem viel geringeren Maße aufErstere als auf die Letzteren. Der antikommunistische und der antiliberale Antisemitismus schlugen sich in Ungarn in den letzten Jahren einerseits in der Aggression und in Angriffen gegenüber ,,kommunistischen" beziehungsweise "liberalen" Denkmälern oder Büsten nieder. So wurde in Budapest sowohl das sowjetische Denkmal des Öfteren beschädigt (Marsovszky 2010) als auch die Büste des britischen Politikers Sir Winston Churchill immer wieder mit roter Farbe besprüht und 2
Unter http://index.hu/politikalbelfold/ovdem9525/.
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mit einem Davidstern beschmiert (vgl. den Beitrag "Churchill vörös arccal varja a költsegverest" in Nepszabadsag vom 22.4.2009).3 Andererseits äußerte sich der Hass gegen die so genannten Kommunisten und Liberalen in den letzten Jahren immer wieder in konkreten Anschlägen gegen sozialistische und liberale Politiker (Marsovszky 2009). An dieser Stelle ist es wichtig zu erwähnen, dass also der Antisemitismus in Ungarn auf keinen Fall im engeren Sinne als Judenhass zu verstehen ist. Dass der Antisemitismus nicht allein "die Abneigung gegen Juden" bedeutet, wissen wir spätestens seit Adorno und Horkheimer (dies. 1988; Benz 2001: 129). Der heutige Antisemitismus in Ungarn ist viel eher eine Abneigung gegen symbolische "Juden", gegen "Fremde an sich", und zielt daher eher gegen Politiker und medienpräsente Personen, hier vor allem gegen sozialistische und liberale, die man nicht mag, und weniger gegen Juden im Allgemeinen. Der Antisemitismus kann in diesem Sinne auch als Zeichen einer Weltanschauung (Holz 2001) oder ,,Alltagsreligion" (Claussen 2000: 18) betrachtet werden, in der die Abneigung gegen Juden mit einer Abneigung gegen alle "Anderen" verbunden ist, denen man vorwirft, keine "echten" Zugehörigen der völkisch gedachten Nation zu sein. "Fremde" können so zum Beispiel neben Minderheiten auch demokratische Einrichtungen, die demokratisch gewählte Regierung, ja selbst die Europäische Union sein. Ein gutes Beispiel dafiir, dass die ehemalige demokratisch gewählte sozialliberale Regierung fiir eine "verjudete Regierung" oder ZOG (Zionistic Occupied Government; siehe Grumke 2009: 10) gehalten wurde, ist in diesem Zusammenhang der Ausdruck eines Kommunalpolitikers im Jahr 2009, der das ungarische Parlament "die Synagoge am Kossuthplatz" nannte, die ausgeräuchert werden solle. Als der Politiker gefragt wurde, wie er das meint, sagte er, "na ja, im alltäglichen Gebrauch würde man das Parlament so nennen" (vgl. "Rajka varos önkormänyzati kepviselöje pogromra buzdit. Abol zsinag6gakat füstölnek, ort nacizmus van" in MT! vom 22.2.2009).4 Im völkischen kollektiven Narrativ beinhaltet der Opfermythos, dass die Magyaren eine moralisch saubere Nation seien, welche zwar Terror erleiden musste, die jedoch im Grunde nicht daran teilgenommen habe und auch vom Holocaust unbefleckt geblieben sei. 3 4
Deutsch: "ChurehilI wartet mit rotem Gesicht auf den Haushaltsbeschluss" (unter http://www. nol.hu/lrult/lap-20090422-20090422-31). Deutsch: "Der Kommunalabgeordnete der Stadt Rajka ruft zum Pogrom auf. Dort, wo man Synagogen ausräuchert, gibt es Nazismus" in: A Wesley Janos Lelk6szkepzö Föiskola es a Magyarorszagi Evangeliumi Testverközösseg közlemenye (Mitteilung der Hochschule für Theologie Janos Wesley und der Evangelischen Brudergemeinschaft Ungarns, Original Textservice MTI, Ungarische Nachrichtenagentur, unter http://ots.mti.hu/print.asp?view=2&newsid=54313).
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3. Die Schuldumkehr in der Konzeption des Hauses des Terrors Die Konzeption des Hauses des Terrors ist derart aufgebaut, dass das ungarische Volk als hilfloses und unschuldiges Opfer "fremder Mächte" dargestellt wird. Die Täter sind demnach nicht oder kaum im eigenen Volk zu suchen, sondern ausschließlich oder vor allem bei den ,,Anderen", den "Fremden" oder höchstens bei den "inneren Fremden", das heißt bei den "Kollaborateuren der Fremden" im eigenen Land. Das sind einerseits die ungarischen "Faschisten" oder "Nazis". Die Begriffe Faschist oder Nazi gehören heute zu den schlimmsten Schimpfwörtern überhaupt, wobei diejenigen, die als "nationaler Sozialist" oder "national und sozial" bezeichnet werden, vielfach damit einverstanden sind. Andererseits sind die Täter eben die "Bolschewiki" und die "Kommunisten", wobei diese Begriffe ebenfalls zu den gängigen Schimpfwörtern in Ungarn gehören. Entsprechend dem Mechanismus der Verdrängung wird die Geschichte des Hauses exakt erst ab Oktober 1944, mit dem Putsch und der Machtübernahme durch die Pfeilkreuzier (die ungarischen Nazis), gezeigt. Nicht einmal erwähnt werden die Hinweise auf den Prozess der beiden vorausgegangenen Jahrzehnte unter dem christlich-nationalen Reichsverweser Horthy (1920-44), in dem die antisemitische und völkische Atmosphäre die Verabschiedung der Judengesetze erst ermöglichte und den Weg zur Herrschaft der Pfeilkreuzier in Ungarn ebnete. Über die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen steht im Begleitmateriallediglich, dass Ungarn nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg im Vertrag von Trianon (1920) von den Siegermächten um zwei Drittel seines Territoriums gebracht wurde. Infolge der Revolution nach dem Ersten Weltkrieg und des darauf folgenden ,,Bolschewik-Putsches" sei das Land in eine ,,hoffnungslose Lage" geraten. Hier entsteht also der Eindruck, dass der ,,Bolschewik-Putsch" als Ursache am Anfang des langen und mörderischen Prozesses zum Holocaust hin stehe. Weiter steht geschrieben, dass das politisch isolierte und militärisch entwaffnete Land somit, "umgeben von feindlichen Ländern, zum kleinsten und schwächsten Land Mitteleuropas geworden [sei], das in den Mittelpunkt seiner Politik fortan den Kampf um die territoriale Revision und die Wiederherstellung des historischen Ungarns mit friedlichen Mitteln" gestellt habe. Ab den 1930er Jahren sei Ungarn dann ins Kreuzfeuer der immer aggressiveren Politik Nazi-Deutschlands einerseits und der machtpolitisch erneut erstarkenden Sowjetunion andererseits geraten (Begleitmaterial "Kettös megszallas", deutsch: "Doppelte Belagerung"). Historisch richtig und mit der nötigen Selbstreflexion ausgestattet hätte aber das Begleitmaterial die zitierten Sätze folgendermaßen formulieren müssen: Nach dem Friedensvertrag von Trianon (1920) wurde nach und nach die Revision der Grenzen von 1914 die wichtigste Frage der Politik, der Kultur und des alltäglichen Lebens und der
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Revanchismus die Leitideologie des ungarischen nationalen Sozialismus (Ränki 1999). Mit der Konzeption der Verteidigung der ,,reinrassigen Kultur" verstärkte sich der Antisemitismus in der politischen Kultur Ungarns, was zum Beispiel im Sommer 1944 in der - mit dem deutschen Vorgehen vergleichbar gründlichen, bürokratischen - Konsequenz jene destruktive Dynamik ermöglichte, die in kurzer Zeit zur Deportation von beinahe einer halben Million ungarischer Juden führte (vgl. Aly/Gerlach 2002: 429). In der Ausstellung findet man zwar auch konkrete Aussagen, die historisch nicht haltbar sind (vgl. Ungväry 2006: 211ff.) und die man ganz konkret widerlegen kann. Um jedoch die Konzeption als strukturell antisemitisch zu bestimmen, ist es meines Erachtens wichtiger, ihre Insinuierungen in Worte zu fassen, aus denen der Großteil der Ausstellung besteht. Eine wichtige insinuierte Aussage ist zum Beispiel die, dass Ungarn bis zur quasi schlagartigen Belagerung durch Hitler-Deutschland ein demokratisches Land gewesen sei. Im Text des Begleitmaterials (,,Kettös megszallas") steht dazu: ,,Bis zur Belagerung durch die Nazis im Jahre 1944 stand an der Spitze Ungarns eine durch Wahlen legitimierte Regierung und ein Parlament, und es waren oppositionelle Parteien tätig, deren Abgeordnete im Parlament vertreten waren. Trotz der kriegsbedingten Einschränkungen war die Pressefreiheit gewährleistet. Die ungarischen Bürger lebten besser und freier als ihre Nachbarn. Nach dem 19. März bekam aber das Land einen Vorgeschmack dessen, was passiert wäre, hätten die Nazis gewonnen."
In dieser Passage ist vor allem wichtig, was verschwiegen wird, nämlich die bereits erwähnten innergesellschaftlichen Strukturen als Voraussetzung für den Holocaust. Hier wird der eindeutige Versuch unternommen, die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, nämlich die Horthy-Ära, zu rehabilitieren und "reinzuwaschen", was aber notwendigerweise voraussetzt, dass man sich auch vom Holocaust säubert (Braharn 2001; Shafir 2005).
3.1 Parallelisierung von Gulag und Auschwitz, Relativierung des Holocausts Genau diese Bestrebung wird aus der weiteren Konzeption des Hauses ersichtlich. Diese suggeriert nämlich die Gleichrangigkeit des Nazi- und des kommunistischen Regimes, was die Parallelisierung von Gulag und Auschwitz, aber gleichzeitig die moralische Relativierung des Holocausts bedeutet (vgl. Krausz 2000).
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Abbildung 1: Darstellung auf der Internetseite des Hauses des Terrors
Quelle: www.terrorhaza.hu
Der Eindruck einer gewollten Gleichsetzung zwischen dem Nazi- und dem kommunistischen Regime ereilt den Besucher bereits vor dem Eingang. In der breiten, schwarz gestrichenen Granitklinge, die als hauchdünn erscheinende Verlängerung des Dachsimses wie ein Passepartout hinausragt, steht "TERROR" in Spiegelschrift und links und rechts daneben sind die gleich großen Machtsymbole Pfeilkreuz und fiinfzackiger Stern eingestanzt (vgL Abbildung l). Am Eingang wird der Besucher dann durch zwei, einen roten und einen schwarzen, zueinander symmetrisch angeordnete Granitblöcke empfangen, die zum Gedenken an die Nazi- und die kommunistische Diktatur aufgestellt wurden (Abbildung 2). Die Parallelisierung von Gulag und Auschwitz und die damit einhergehende moralische Relativierung, das heißt die Leugnung des Holocausts, werden in der Wissenschaft "sekundärerAntisemitismus" genannt (Benz 2004b: 19f.). Doch nach der Antisemitismustheorie geht der sekundäre Antisemitismus noch einen Schritt weiter. Aus dem Motiv der Erinnerungsabwehr heraus entsteht eine neue ,)udenfeindschaft". In dieser Logik werden die Juden in typisch antisemitischer Weise von unschuldigen Opfern zu schuldigen Tätern erklärt und das (völkisch gedach-
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te) Volk wird zum Opfer jüdischer Täter stilisiert. Täter und Opfer werden also erneut verkehrt (Haury 2002: 138).
Abbildung 2: Granitsteine am Eingang des Hauses
Quelle: www.terrorhaza.hu
In der Konzeption des Hauses unterliegt die Gleichwertigkeit von Gulag und Auschwitz aber einer Verschiebung. Dort stehen nämlich zwei die Nazi-Zeit darstellende Räume 21 Ausstellungsräumen für die kommunistische Zeit gegenüber. Nach offizieller Aussage zeigt die Ausstellung die Zeit bis Mitte der 1960er Jahre (vgl. die Mitteilung über die bevorstehende Eröffnung des neuen Museums in MT! vom 11.2.2002), da nach der ungarischen Revolution 1956 verschiedene Firmen das Gebäude in Besitz nahmen. Im Gegensatz zum Ausstellungsbeginn gingen jedoch die Kuratoren nach einer anderen Logik vor, als sie das Ende der Ausstellung mit einem fließenden Übergang bis ins Jahr 1990 ausdehnten: Der letzte Raum "Abschied" zeigt den Abzug der sowjetischen Truppen aus Ungarn, sodass man den Eindruck bekommt, der Terror hätte bis fast in die Gegenwart gedauert. Verschwiegen werden jedoch reforrnkommunistische Bestrebungen und die damals illegale demokratische Opposition, aus der die heutigen Liberalen, der Bund Freier Demokraten (SZDSZ)5, erwuchs. Zudem werden verschiedene Ebenen mit5
Die liberale Partei hat bei den Parlamentswahlen im April 2010 die Fünfprozenthürde nicht geschaffi und versank danach in der Bedeutungslosigkeit.
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einander vermischt, sodass nicht klar ist, ob es in der Ausstellung um den kommunistischen Terror, um die Geschichte des Staatssicherheitsdienstes, der AVW AVO, um die kommunistische Diktatur als politisches System oder aber um die ungarische Geschichte nach 1945 geht. Die Kuratoren scheinen die ohne Zweifel zusammenhängenden, aber dennoch verschiedenen Interpretationsebenen bewusst miteinander verbunden zu haben, um die pauschale Aussage zu machen: "Kommunismus ist gleich Terror."
3.2 Haus des " kommunistischen Terrors" Das Haus des Terrors ist somit das ,,Haus des kommunistischen Terrors" und die Philosophie der Ausstellung ist die Sicht des Opfers des Kommunismus, denn schließlich bleiben die Opfer und Täter der Nazi-Zeit beinahe gänzlich ausgeklammert. Dem Betrachter wird die Aussage insinuiert, dass im Unglück des Landes der bolschewistisch-kommunistische Terror eine größere Rolle gespielt habe als der Nationalsozialismus und der Holocaust. Ein weiteres Problem ist, dass, da etliche der "kommunistischen Täter" noch am Leben sind, es schnell zur aktuellpolitischen Hetze kommen kann, wenn deren Bilder nicht sachlich und historisch richtig eingeordnet gezeigt werden. Genau dies passiert im Haus des Terrors, wie es vom Historiker Krisztian Ungväry bereits nachgewiesen wurde (vgl. seinen Beitrag ,,Akäosz häza'" in Magyar Narancs vom 7.3.2002). Zwei ehemalige Stasi-Mitarbeiter auf dem Tableau (Abbildung 3) sind die Väter zweier Politiker, die in beziehungsweise im Umkreis der ehemaligen liberalen Partei (SZDSZ) zu finden sind, die aber entgegen der väterlichen Tradition bereits im Realsozialismus in der damaligen demokratischen Opposition zum Teil im Untergrund tätig waren. Durch die unreflektierte, kommentarlose Darstellung der Väter auf dem Tableau wird nicht nur aktuellpolitisch zu Rache und Hass gegen speziell diese demokratischen Politiker mobilisiert, sondern auch der bereits erwähnte und für den antisemitischen Diskurs des Landes typische antiliberale Antisemitismus gestärkt, zumal die ehemalige Partei der Demokratischen Opposition, die liberale Partei, im Alltag oft schlicht "die Judenpartei" genannt wird. Es genügt in Ungarn, in einem bestimmten Kontext das Wort "liberal" zu nennen, und jeder weiß, dass es sich um die "liberale Konstruktion" des Juden handelt. Während also die vorherrschenden Mythen über die Stasi-Mitarbeiter nicht in einen sachlichen Kontext gestellt werden, werden durch den Aufbau und den Gesamtkontext der Ausstellung sowie durch die Insinuierungen die bereits erwähnten und besonders lebendigen Varianten des Antisemitismus, nämlich der antikommunistische und der antiliberale Antisemitismus, gestärkt.
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Abbildung 3: Tableau Staatssicherheitsdienst
Quelle: www.terrorhaza.hu
Der Raum mit dem Tableau der ungarischen Stasi-Mitglieder bildet daher in dieser Hinsicht sogar einen, wenn nicht den Höhepunkt der ständigen Ausstellung. Nimmt man in einer Gruppe ungarischer Besucher an einer Führung teil, beginnen einige von ihnen spätestens in diesem Raum beispielsweise etwa "dreckige Juden" zu flüstern. Sie meinen natürlich die gegenwärtigen Sozialisten und Liberalen beziehungsweise stellvertretend das Denken in liberalen Kategorien. Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass die Wirkung des Hauses des Terrors eine Mobilisierung gegen die "ve:rjudeten Sozialisten" und gegen die "ve:rjudeten Liberalen" bedeutet und strukturell antisemitisch ist.
3.3 Tätertransfer - Opfertransfer Dieser Prozess, in dem aus den ehemaligen tatsächlichen Tätern mithilfe des antikommunistischen und des antiliberalen Antisemitismus die Täterschaft auf die heutigen Sozialisten und Liberalen (sprich "Juden") verlagert wird, kann Tätertransfer genannt werden. Das, was im Haus des Terrors insinuiert wird, wird an anderer Stelle von Politikern der völkischen Parteien immer wieder direkt ausgesprochen, was beweist, dass die Insinuierungen des Hauses des Terrors sehr wohl in den gesamtgesell-
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schaftlichen Kontext passen. So ist zum Beispiel vom Vorsitzenden des Parteiausschusses der Fidesz, Lasz16 Köver, der Ausdruck bekannt, dass es in der sozialliberalen Regierung "gigantische, bolschewisierende und satanischen Kräfte" gäbe (in Het; Vitaggazdasag vom 7.10.2005)6, vor allem "Ferenc Gyurcsany und seine Mittäter" (vgl. die Sendung Napi aktuälis auf Echo TV vom 7.3.2008)1, in deren Person sich - nach Meinung des Vorsitzenden der Christlich-Demokratischen Volkspartei, Zsolt Semlyen, heute stellvertretender Ministerpräsident - ,,(...) der mal als Bolschewik, mal als Liberaler erscheinende echte Antichrist" zeige (vgl. die Sendung Vasamapi Ujsag auf Kossuth Radi6 vom 17.7.2005). Semjen nannte 2009 auf einer Konferenz seine Partei national und sozial und meinte, der nationale Gedanke werde in Ungarn von zwei Seiten attackiert: erstens durch die Sozialisten, die aufgrund ihres Internationalismus dem nationalen Dasein immer schon feindlich gesonnen waren, und zweitens durch die Liberalen, die Kosmopoliten, in deren Augen alle provinzialistisch seien, die sich für das Magyarentum einsetzen. 8 Als Beispiel dafür, wie lebendig diese Begriffe im ungarischen antisemitischen Diskurs sind, sei an dieser Stelle noch die neue Abgeordnete der rechtsradikalen Partei Jobbik im EU Parlament, Dr. Krisztina Morvai, zitiert. Sie sagte im September 2008, damals noch als Kandidatin, anlässlich einer Großdemonstration gegen den "Magyarenhass" vor tausenden von Teilnehmern: "Mein letzter Rat an die liberal-bolschewistischen Zionisten, die unser Land ausraubten, ist, sich damit zu beschäftigen, wohin sie fliehen und wo sie sich verstecken! Denn es gibt keine Gnade!"9 Und somit sind wir wieder bei dem antisemitischen Stereotyp "verjudete Regierung", ZOG (Zionistic Occupied Govemment), angelangt. Diesem Stereotyp entsprechend wurden die beiden ehemaligen sozialistischen Reformministerpräsidenten Ferenc Gyurcsany (2004-2009) und Gordon Bajnai (2009-2010) im rechtsradikalen Diskurs immer wieder "die Stadthalter des Judenstaates in Ungarn" genannt. Oft wurde die sozialistische Regierung - über den Umweg des Antizionismus, mit dem Israel für den "Holocaust an den Palästinensern" verantwortlich gemacht wird (vgl. Haury 2006: 28) - mit dem Hitler-Faschismus identifiziert1o, was notwendigerweise auch die Vorstellung nach sich zieht, dass es ein "Genozidium am Magyarentum" gäbe. Genau diese Begriffe waren im Zusammenhang mit 6 7 8 9 10
Unter http://hvg.hu/itthon/20051 007kover.aspx?s=20051 07nl. Unter http://www.echotv.hu/video/index.php?akt_menu=1038&media=2927. V gl. http://kdnp.hu/news/hagyomanyos-ertekek-kepviselete-nemzeti-gondolat-es-szoci-alisigazsagossag. Bericht von Jobbik-TV über die Demonstration (unter http://www.youtube.comlwatch? v=WCOjNKmcsNc&feature=channetpage). Zum Beispiel unter http://www.videoplayer.hu/videos/play/44931 (Stichwort ,,Führer").
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der gescheiterten Gesundheitsreform der sozialliberalen Koalition 2007 zu hören. So sagten Vertreter der Ärztekammer, die Gesundheitsreform sei der ,,Holocaust an den Magyaren". Der berühmte Herzchirurg Lajos Papp sagte zum Beispiel Folgendes (in der Sendung Esti Gyors aufHirTV am 4.6.2007): "Die Ärzte leiden (...) unter einem Auschwitz-Syndrom. Damals, in Auschwitz, wusste jeder, dass niemand das Krematorium verlässt (...), höchstens in Form des Rauches. Das heutige Zauberwort (...), das heutige Bad heißt Reform (...). Das ist beinahe ein Genozidium." Der Arzt wurde auch auf der Homepage der heutigen Regierungspartei Fidesz (damals noch in der Opposition) zitiert (vgl. den Beitrag) "Egeszsegügyi reform - Ostobasag vagy tudatos nepirtas?").l1 Auch das Wort "Hungarocidium"12 wurde immer wieder im Zusammenhang mit der sozialliberalen Koalition genannt, der unterstellt wird, sie wolle "den Untergang des Magyarentums und der magyarischen Nation". Im Grunde wird von den völkischen Parteien und den völkisch Denkenden die gesamte ungarische Linke als "verjudet" angesehen. So sagte selbst Viktor Orbän im Jahre 2005 in Rumänien anlässlich einer Versammlung Folgendes (vgl. den Beitrag "Orbän a valaszmsokra hangolta közönseget Tusnädfürdön" vom 26.7.2005): "In Ungarn ist der nationale Lebenswille nicht stark genug (...). Wenn die Linke ab und zu dazu die Möglichkeit bekam, griff sie ihre eigene Nation an. So wurden die ihrigen 1919 durch Bela Kun angegriffen und so hat auch Räkosi seine Arteigenen angegriffen. Genau dies taten in der neuzeitlichen Ausgabe diejenigen, die die Revolution 1956 niederschlugen. Zwar nicht mit den gleichen Mitteln, aber auch die gegenwärtige Regierung griff unsere Nation an (...). Die Linke müsste eine nationale Wende vollziehen (...). Sie hat aber genetisch oder eher wegen ihrer historischen Determination dazu wenig Chancen."13
Wurde vorhin der Ausdruck Tätertransfer benutzt, so kann man in diesem Fall von einem Opfertransfer sprechen, wenn also der Status der Holocaustopfer auf das Magyarentum übertragen wird. Auch das erscheint in der Ausstellungskonzeption des Hauses, allerdings nicht deklariert, sondern ikonografisch. An erster Stelle sei das bekannte Motiv des Viehwagons zu nennen, das inzwischen sinnbildlich für Auschwitz und damit für den Holocaust steht. Der Genozid an den Juden ist zu einer globalen Metapher für das Böse geworden; den Inszenierungen unterliegen die Traumata vom Holocaust beziehungsweise die traumatisierten Bil11 12 13
Deutsch: "Gesundheitsreform - Blödsinn oder bewusster Völkermord?" (unter http://www./idesz. huJindex.php?Cikk=80636). Das Wort nannte Dr. Anna Szöör, führendes Mitglied des Civil Jogäsz Forum (Ziviles Juristisches Forum), in einer Gesprächsendung von Budapest TV (,,zu Gast bei Dr. Csaba Ilkei" am 10.6.2009). Deutsch: "Orbän stimmte sein Publikum auf die Wahlen ein" (unter http://hvg.hu/ vilag/20050726balvanyos).
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der vom Holocaust. Diese haben sich inzwischen auch verselbstständigt, bilden die Einzelelemente einer "Ikonographie des Holocausts" und werden universell verstanden. Ein solches universell verstandenes Motiv ist das des Zuges (Abbildung 4), das hier transferiert und für den Gulag übernommen wurde: Der so genannte Gulag-Raum, ist so gestaltet, als ob wir uns, das heißt die Besucher, die Magyaren, im Viehwagon befinden würden (Abbildung 5). Der Raum ist dunkel gehalten, das Licht dringt nur durch die Schlitze, an den Seitenwänden sind Monitore wie Fenster eingebaut und in bestimmten Abständen fängt der Viehwagon an, quasi mit uns loszufahren, indem in den Monitor-Fenstern die vorbeiziehende Landschaft zu sehen ist. Ebenso transferiert wurde das berühmte Motiv "Eingang ins Konzentrationslager", das im Haus des Terrors für den Gulag steht (vgl. Abbildung 6 und 7). Und auch das von den Holocaust Memorial Centers bekannte Motiv der "Gedenkwand der Opfer" mit den Aufzählungen der Namen wurde übernommen und im ,,Raum der Tränen" verwirklicht (vgl. Abbildung 8 und 9).
Abbildung 4: Wagon nach Auschwitz
Quelle: http://en.wikipedia.org/wiki/US_Holocaust_Memorial_Museum
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Abbildung 5: Gulag-Ausstellungsraum
Quelle: eigene Fotografie.
Abbildung 6: Aufschrift ,,Arbeit macht frei"
Quelle: Internetseite der StaatlichenAUBchwitz-Gedenkstätte in Polen (unter http://forsttu-muenchen. deI-refo/tradukoj/aUBchwitzldelmuzeumlindex.html).
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Abbildung 7: Aufschrift "In der Sowjetunion zu arbeiten, ist eine Sache der Ehre"
Quelle: eigene Fotografie.
Abbildung 8: Gedenkwand der Opfer im Holocaust-Gedenkzentrum in Budapest
Quelle: Intemd:zeitung Parameter (unter http://www.param.eter.sklrovatlkulturaJ2009/0l/27/ma-van-
nemzetkozi.-holokauszt-emleknap).
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Abbildung 9: ,,Raum der Tränen" im Haus des Terrors
Quelle: www.terrorhaza.hu
3.4 Die wissenschajiliche Leitung des Hauses Wenn wir uns nun die Personen anschauen, die für die Konzeption des Hauses des Terrors verantwortlich sind, dann sehen wir auch in dieser Hinsicht eine Bestätigung. Die Direktorin des Museums ist Dr. Maria Schmidt, die während 1998 und 2002 erste Beraterin des damaligen Ministerpräsidenten Viktor Orbän war und als Historikerin den Holocaust relativiert. So schrieb sie 1999 zum Beispiel Folgendes (Schmidt 1999): "Im Zweiten Weltkrieg ging es nicht um das Judentum, um den Vö1kermord. So leid es uns auch tut: Der Holocaust, die Ausrottung oder Rettung des Judentums war ein nebensächlicher, sozusagen marginaler Gesichtspunkt, der bei keinern der Gegner das Kriegsziel war (...). Es muss auch festgehalten werden, dass die Alliierten Nazi-Deutschland auf keinen Fall deshalb den Krieg erklärt hatten, um die geplante völkerrnörderische Politik gegen die Juden zu verhindern. Sie hatten weder vor, die Vertriebenen aufzunehmen, noch sie zu schützen. Daher ist flir sie nichts Außergewöhnliches, mit anderen Worten Unikates, passiert. In unserem Jahrhundert (...) ist ja eine ganze Reihe von Massenmorden und Genoziden passiert, wobei diese von der Außenwelt mit oder ohne Anteilnahme, aber bewusst wahrgenommen wurden. Ebenso wusste die Welt - jedenfalls die Interessierten oder die Betroffenen -, was seit der bolschewistischen Revolution in dem die Neue Welt verheißenden sozialistischen Russland, Sowjet-Russland bzw. in der Sowjetunion, passierte. Die kommunistischen Regimes haben im Interesse der Festigung ihrer Herrschaft die Massenmorde zur wirklichen Regierungsmethode erhoben."
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Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für das 21. Jahrhundert, das das Haus des Terrors unterhält, ist Tamas Fricz, der immer wieder, so zum Beispiel Anfang 2009, nachdem ein Roma-Vater und sein kleiner Sohn bei einem rassistischen Anschlag ermordet wurden, vom ,,Antimagyarismus" in Ungarn spricht (Fricz in Napi Aktuälis aufEcho TV am 4.3.2009). Eines der Mitglieder im Aufsichtsrat der das Museum betreibenden Stiftung ist überdies der Staatssekretär für Minderheiten und frühere Präsident des Komitees für Menschenrechte im Parlament, Pfarrer Zoltän Balog, nach dessen immer wieder kommunizierter Meinung die Menschenrechte nicht nur für die Minderheiten gelten, sondern auch für die Mehrheit (vgl. ,,Az emberi jogok mindenkit megilletnek" auf der Homepage der Partei FideszBürgerliche Union).14 Dass zudem das Haus des Terrors im Kleinen den fließenden Übergang zwischen großen völkischen Parteien und den äußersten, extremen Rechten in der Gesellschaft widerspiegelt, zeigt die Person des Kuratoriumsmitglieds und Politologen Laszlo Toth Gy, der bis vor kurzem zugleich der Vorsitzende im Redaktionskomitee der rechtsradikalen Internetzeitung der Partei Jobbik war (www.barikad.hu).
4. Fazit Wie in den vorliegenden Ausführungen aufzuzeigen versucht wurde, ist das Schlüsselelement in der Konzeption des Hauses des Terrors die "Täter-Opfer-Umkehr" und innerhalb dieser der antikommunistische beziehungsweise der antiliberale Antisemitismus. Die Ausstellungskonzeption ist nicht einfach der angemessenen historischen Erinnerung verpflichtet, sondern nationaler Identität, weshalb sie den bitter nötigen gesamtgesellschaftlichen Konsens in Ungarn nicht nur nicht vorantreibt, sondern sogar verhindert. Durch die Tatsache, dass sie aus den Opfern Täter macht, bestärkt sie gerade diejenigen "wahren Magyaren" in ihrer Haltung, die sich von den "vaterlandslosen Verrätern" und "Fremden in der eigenen Heimat" (sprich "Juden") unterdrückt fiihlen. Durch diese vermeintliche ,,Anklage" wird die als legitim und notwendig empfundene Gegenwehr formuliert, die "uns" aus der "Judenknechtschaft" befreit. Diese Befreiung erlebte Ungarn mit den Parlamentswahlen 2010. Jetzt fordern die Regierungsparteien die ,,Abrechnung" mit den "Tätern".
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Deutsch: "Jeder hat das Recht auf Menschenrechte" (unter http://www.fidesz.hu/nyomtathato. php?Cikk=104846).
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Der Zweite Weltkrieg im Geschichtsbild der polnischen Rechten Tomasz Konicz
Das landläufige Klischee vom "erzkatholischen Polen" trifft zumindest am rechten Rand des politischen Spektrums dieses Landes immer noch zu. Mit ihrer engen Bindung an reaktionäre Teilorganisationen der römisch-katholischen Kirche stellen die dominanten Strömungen innerhalb der extremen Rechten Polens sicherlich ein spezifisch polnisches Phänomen dar, das zumindest bei der gegebenen Intensität der organisatorischen und ideologischen Verflechtung zwischen rechtem Klerus und rechter Politik kaum eine Entsprechung in Europa findet. Das Geschichtsbild der extremen polnischen Rechten ist stark von religiösnationalen Mythen und Vorstellungen geprägt. Eine zentrale Bedeutung flillt hierbei dem polnischen Messianismus zu, der Polen als ein von Gott auserwähltes Land imaginiert, dem aufgrund seiner entbehrungs- und opferreichen Geschichte innerhalb der universellen Gemeinschaft der katholischen Kirche eine besondere Rolle als "Christus der Völker" zukomme. Die Geschichte Polens erscheint vor allem als eine Leidensgeschichte, die der Passion Jesu Christi gleichgesetzt wird. Dieser national-religiöse Messianismus ist aufs Engste mit einer Opfermythologie verbunden, in der die polnische Nation die historische Rolle eines - moralisch überlegenen - Opfers einnimmt. Gerade durch diesen christusgleichen Opfergang werde Polen erneut auf dem Fundament katholischer Werte christusgleich auferstehen (vgl. Pufelska 2007: 29ff.). Diese Opfer- und Erlösungsmythologie ist eingebettet in einen Manichäismus, der Polen - wie eigentlich die gesamte Welt - als den Schauplatz eines Kampfes zwischen den "guten", nationalkatholischen Kräften des polnischen Patriotismus und den "bösen" nationalfeindlichen Heerscharen der Finsternis wahrnimmt. Als fremd und dem Polentum äußerlich werden nicht nur die Juden und die beiden übermächtigen Nachbarstaaten Deutschland und Russland wahrgenommen, sondern auch alle Denksysteme und sonstigen Vorstellungen, die den katholischen Moralvorstellungen wie auch der nationalkatholischen Ideologie zuwiderlaufen. Nachfolgend soll ein kurzer Überblick über Geschichtsbild, Geschichtspolitik, Entwicklungstendenzen und zunächst die maßgeblichen Kräfte und Parteien der klerikalen Rechten gegeben werden, die zwischen 2005 und 2007 immerhin an C. Globisch, et al. (Hrsg.), Die Dynamik der europäischen Rechten, DOI 10.1007/978-3-531-92703-9_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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der rechtskonservativ-nationalistischen Regierung von Premierminister Jaroslaw K.aczynski beteiligt war. Rechtsextremismus wird dabei im Folgenden vor allem als ein "Extremismus der Mitte" verstanden, der insbesondere in Phasen der gesellschaftlichen Krise und des Umbruchs an Dynamik gewinnen kann. Bei den meisten ideologischen Versatzstücken rechtsextremer Ideologie handelt es sich um ins Extrem getriebene - und teilweise irrationalisierte - Elemente kultureller, politischer und ideologischer Vorstellungen und Werte, wie sie in der gegebenen kapitalistischen Gesellschaft dominant oder hegemonial sind. Ihre ideologische Vorstellungswelt und das korrespondierende autoritäre, homogene und als widerspruchsfrei imaginierte Gesellschaftsbild bezeichnen Rechtsextremisten zumeist als "naturgegeben" oder ,,natürlich". Zentral ist in wohl allen rechtsextremen Ideologien die Idealisierung der ,,zurichtung" des Individuums zum bürgerlichen Konkurrenzsubjekt im Kapitalismus. Der Konkurrenzkampf "Aller gegen Alle" im Kapitalismus wird zum "naturwüchsigen" Kampfder Nationen, Rassen oder Religionen irrationalisiert und idealisiert. Im Falle Polens fungiert dabei vor allem der Katholizismus als ideologischer "Resonanzboden", auf dem die rechtsextreme Ideologie erwächst. Es handelt sich in diesem Sinne um eine "Rebellion der Konformisten" oder "konformistische Rebellion", bei der die Rechtsextremen sich - oftmals in der Pose des "Underdogs" - einem verdinglichten oder personifizierten äußeren Feind gegenüber wähnen, mit dessen "zersetzenden" und fremdartigen Einfluss die krisenhafte oder transformatorische gesellschaftliche Dynamik in Zusammenhang gebracht wird, von der die Gesellschaft (unter Einsatz extremer Mittel) befreit werden müsse. Die Massenanhängerschaft der entsprechenden Gruppierungen stammt zumeist aus der "Mitte" der Gesellschaft, aus Klassen und Schichten, die sich in ihrem gesellschaftlichen Status bedroht sehen und in Krisenzeiten mit einer erheblichen Emphatisierung ihrer ideologischen Vorstellungen - wie auch der entsprechenden Praxis - fiir einen Fortbestand des Status quo (oder fiir eine Restauration idealisierter früherer Zustände) kämpfen. Gruppen und Parteien, die dies in militanter Weise und unter Einsatz von Gewalt wie Terror tun, werden fortan als faschistisch bezeichnet. Der Rechtsextremismus stellt somit eine ins Extrem gesteigerte Krisenform herrschender kapitalistischer Ideologie dar und kann folglich nicht radikal sein; er kann nicht, wie es bei Marx heißt, "die Sache an die Wurzel fassen".
1. Die polnische Rechte: Akteure und Triebkräfte Die wichtigste politische Gruppierung des katholisch-nationalistischen Spektrums stellt die Liga der polnischen Familien (LPR: Liga Polskich Rodzin) dar, die bei
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den Parlamentswahlen 2005 knapp acht Prozent der Stimmen erhalten hat. Der Parteichef der LPR, Roman Giertych, stellte im KaczyDski-Kabinett den Bildungsminister. Der LPR-Mann Piotr Farfal wiederum schaffte es bis zum Direktor des öffentlich-rechtlichen Fernsehens in Polen (TYP). Publizistisch werden diese vom Medienimperium des Redemptoristen-Paters Tadeusz Rydzyk unterstützt. Dieser betreibt eine nationalkatholische, oftmals mit antisemitischen Ambitionen und wilden Verschwörungstheorien einhergehende Politik (vgl. "Die graue Eminenz" in Internetmagazin Telepolis vom 8.8.2007). Der katholische Medienkonzem Rydzyks umfasst unter anderen den Fernsehsender Trwam ("Ich harre aus"), den wegen seiner antisemitischen Inhalte bekannten Radiosender Radio Maryja, die Tageszeitung Nasz Dziennik ("Unsere Tageszeitung") und eine Medienakademie in Tonul, in der nationalkatholisch indoktrinierter Journalistennachwuchs ausgebildet wird. Daneben gibt es in Polen auch rechtsextreme Kräfte, die in ihrer ideologischen Ausrichtung den faschistischen Gruppierungen anderer Länder ähneln. Die wichtigste politische Partei stellt innerhalb dieses engen Spektrums die Nationale Wiedergeburt Polens (NOP: Narodowe Odrodzenie Polski) dar, die teilweise an die ,,klassische" nationalsozialistische Ideologie anknüpft, ohne sich jedoch gänzlich vom Katholizismus zu trennen, der selbst von der NOP als integraler Bestandteil des polnischen Nationalbewusstseins aufgefasst wird. Des Weiteren gibt es auch eine starke, gut vemetzte rechtsextreme Hooligan-Szene wie auch viele lose vernetzte und regional agierende Skinhead-Gruppen. Dennoch kann dieses Spektrum zumindest bei Wahlen als weitgehend marginalisiert betrachtet werden. So hat die NOP bei den letzten Parlamentswahlen 2007 gerade einmal 42 407 Wählerstimmen erhalten. l Diese faschistischen Kräfte konnten somit nicht vom Wählereinbruch der klerikalen Rechten profitieren. Die gesamte extreme Rechte Polens befindet sich somit in einer Krise, nachdem bei den Parlamentswahlen 2007 der Zuspruch zur Liga der Polnischen Familien von acht auf 1,3 Prozent der Wählerstimmen abgestürzt ist. Auch scheint die rechtsextreme Gewalt in Polen bei weitem nicht die Ausmaße zu erreichen wie beispielsweise in Ostdeutschland. Da die staatlichen Stellen in Polen diesbezüglich keine offiziellen Statistiken führen, gelten die von der antifaschistischen Organisation Nigdy Wi~cej ("Nie Wieder") erhobenen Zahlen als einzige zuverlässige Quelle. In ihrem Braunbuch ("Brunatna Ksi~ga") hat sie allein für das Jahr 2007 rund 130 Übergriffe oder Propagandade1ikte festgehalten, bei denen es teilweise zu schwerer Körperverletzung kam. Zum Vergleich: In Ostdeutschland zählte der
Hier die Wahlergebnisse in den Bezirken Bydgoszcz, TOnnl, Lublin, Gdynia (siehe http://wybory2007.pkw.gov.pl/).
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Verein Die Opferperspektive im selben Zeitraum 861 Fälle "rechtsextremer Aggression" (Nigdy Wi~cej/Opferperspektive2009: 17,20). Wenn im Folgenden das Geschichtsbild der extremen polnischen Rechten thematisiert wird, dann gilt es zu bedenken, dass es sich um eine ehemals einflussreiche politische Strömung handelt (vgl. "Die rechte Szene in Polen verliert an Bedeutung" in Internetmagazin Telepolis vom 25.1.2008), welche zumindest derzeit noch nicht von den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise profitieren konnte, die in Polen im regionalen Vergleich bislang relativ schwach verlief. Selbst die rechtskonservative ehemalige Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (piS: Prawo i Sprawiedliwosc) der K.aczyilskis hat weiterhin mit niedrigen Um:fragewerten zu kämpfen; sie lag im Januar 2010 klar hinter der regierenden rechtsliberalen Bürgerplattform (pO: Platforma Obywatelska, vgl. hierzu "Platformajest climle mocna" in Rzeczpospolita vom 13.1.2010).
2. Geschichtsbild: Opfermythologie und Zweiter Weltkrieg Generell bemüht sich die extreme Rechte Polens, mit ihrer Ideologie wie auch tagespolitischen Propaganda an die eingangs kurz umrissenen nationalen Mythen anzuknüpfen, die sich im Zuge der Nationalstaatsbildung im 19. Jahrhundert herauskristallisierten. Der polnische Widerstands- und Opfermythos entwickelte sich dabei im Verlaufder - immer wieder von Aufständen erschütterten - Geschichtsperiode der Teilungen Polens2 , das der nationalen Mythologie folgend als ein "Christus der Völker"3 imaginiert wird: Die Passion Christi findet ihre Entsprechung im jahrhundertlangen "Opfergang" der polnischen Nation, in den heroisierten und romantisiertenAufständen gegen die Teilungsrnächte. 4 Diese nationale Mythologie ermöglichte es den polnischen Nationalisten, die Niederlagen bei diesen Aufständen zu verkraften und zu verklären. Erst in diesem historischen Kontext wurde die katholische Kirche in der polnischen Gesellschaft dominant und avancierte zum wichtigsten institutionellen Träger des sich herausbildenden polnischen Nationalbewusstseins. Die Kirche nahm als eine landesweit agierende Organisation schlicht 2 3
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Seit der dritten Teilung der polnischen Adelsrepublik: 1795 existierte bis zum Ende des Ersten Weltkrieges kein wirklich unabhängiger polnischer Staat. Kein Geringerer als der polnische Nationaldichter Adam Mickiewicz evozierte in seinem Dramenzyklus ,,Dziady" (,,Die Vorväter", deutscher Titel: ,,Die Ahnenfeier") diese mythische Vorstellung. Das während der Arbeit an diesem vierteiligen Werk zwischen 1823 und 1832 von den Teilungsmächten Russland, Österreich-Ungarn und Preußen besetzte Polen würde, laut Mickiewicz, nach seiner Passion letztendlich christusgleich wiederauferstehen. In der polnischen Geschichtsschreibung spielen vor allem der Novemberaufstand von 1830 und der Januaraufstand von 1863/64 eine herausragende Rolle. Heide richteten sich gegen das zaristische Russland.
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den Charakter eines Ersatzstaates fiir die staatenlose polnische Nation an. Hieraus schöpft der polnische Klerus noch immer seine moralische und politische Legitimation. Der kirchlich-institutionelle Rahmen, in dem sich der Prozess der polnischen Nationalstaatsbildung vollzog, lieferte somit das Fundament fiir die Vorstellung vom "Gottesstaat" Polen. Während im europäischen Vergleich die polnische Adelsrepublik bis zu ihrem Untergang im Jahr 1795 durchaus multikonfessionell geprägt war, da viele Adlige sich auch zu diversen protestantischen und orthodoxen Glaubensgemeinschaften bekannten5, ist das "katholische Polen" folglich vor allem ein Produkt des 19. Jahrhunderts. Für die Persistenz dieses Opfermythos ist vor allem der Zweite Weltkrieg von besonderer Relevanz. Er gilt der polnischen Rechten als Kulminationspunkt der opferreichen Geschichte, wobei insbesondere der gescheiterte Warschauer Aufstand als Anknüpfungspunkt dient und im rechten Geschichtsbild in eine Reihe mit den Aufständen des 19. Jahrhunderts gestellt wird. 6 Die klerikale Rechte Polens sieht sich als Erbe und eigentliches Subjekt dieser Mythologie. Sie sei es, die auf diesem von göttlicher Vorsehung vorgezeichneten Weg als eine Art nationale Avantgarde voranschreitet. Das konservative wie rechtsextreme Geschichtsbild über den Zweiten Weltkrieg ist dabei von einem strikt totalitären Denken durchtränkt. Die Rechte Polens propagiert in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg eine Art "Gleichgewicht des Schreckens" zwischen Hitler-Deutschland und Stalins Sowjetunion. In Anlehnung an die Totalitarismustheorie kann konstatiert werden, dass keine substanzielle Unterscheidung zwischen der durch Massenmord gekennzeichneten deutschen Besatzungszeit und der Volksrepublik Polen als sowjetischem Satellitenstaat getroffen wird.? Die beiden übermächtigen Nachbarstaaten zielten demnach darauf ab, 5 6
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In Polen gehörten immerhin ca. zehn Prozent der Bevölkerung zum Adel (polnisch: Szlachta), in den meisten anderen europäischen Ländern lediglich ein bis drei Prozent (siehe beispielsweise Jäger-Dabek 2006: 34). Der Warschauer Aufstand sei zu einem "Mythos gewachsen", erklärte Polens rechtskonservativer und vor kurzem verstorbene Präsident Lech Kaczyilski anlässlich des 65. Jahrestages: "Bei den anderen Aufständen hat es ebenfalls nicht an Entschlossenheit gefehlt. Aber es ist nie vorgekommen, dass einige zehntausend sehr junge Menschen in den Kampf zogen mit einer bis an die Zähne bewaffneten Armee, die karnpfgestählt war." Er habe die Hoffnung, dass dieser Mythos "ewig in unser Geschichte bleiben" werde, betonte Kaczyilski (siehe ,,Kaczyilski: Powstanie zasluZylo na sw6j mit" in Gazeta JJYborcza vom 2.8.2009). Der rechte Publizist J6zef Szaniawski schrieb beispielsweise: "Zwei totalitäre Banditen - Adolf Hitler und Josef Stalin - tragen die gleiche Verantwortung für den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges (...). Man muss mit allem Nachdruck betonen: Beide Regimes - das Hitler'sche und das sowjetische - waren linke politische und ideologische Systeme." Den Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion verglich er mit ,,(...) dem Kampf zweier Gangster, die zuerst gemeinsam eine Bank überfallen, sich dann um die Beute streiten und anschließend aufeinander schießen". Doch eigentlich habe Stalin den Zweiten Weltkrieg von langer Hand geplant, so Szaniawski:
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die polnische Nation auszulöschen, so der Tenor der extremen Rechten: physisch im Falle Deutschlands, kulturell- durch die "Sowjetisierung" - im Falle der Sowjetunion. 8 Das ambivalente Verhältnis vieler Polen zur sowjetischen Befreiung von der deutschen Okkupation, die in die anschließende Gründung eines Satellitenstaates mündete, soll durch eine Gleichsetzung zwischen der Sowjetunion und dem faschistischen Deutschland ausgehöhlt und schließlich überwunden werden. Dieses Geschichtsbild erfllhrt eine tagespolitische Instrumentalisierung durch die polnische Rechte. Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg fungiert als Mittel zur Belebung antideutscher und antirussischer Vorurteile wie auch antisemitischer Ressentiments; Letztere insbesondere in Wechselwirkung mit einer geschichtspolitischen Opferkonkurrenz, in deren Verlauf polnischem Leiden und der Opferrolle Polens im Zweiten Weltkrieg eine zentrale Stellung eingeräumt und der Holocaust an den Juden Europas entweder ausgeblendet oder marginalisiert wird. Diese aus machtpolitischem Kalkül betriebene, rechte Geschichtspolitik dient somit vorrangig der Verbreitung und Mobilisierung der eigenen Wählerbasis und ist daneben zugleich auch identitätsstiftend, indem sie den polnischen Opfermythos bestätigt und reproduziert.
3. Antideutsche Geschichtspolitik im Spannungsverhältnis zwischen klerikal-nationalistischer und faschistischer Orientierung Ähnliches gilt aber umgekehrt auch für die deutsche Seite. Rechte und revisionistische Gruppierungen in Deutschland und Polen betätigten sich in den letzten Jahren als Aggressoren der geschichtspolitischen Auseinandersetzungen zwischen beiden Ländern. Von herausragender Bedeutung ist hierbei der Fall der Vorsitzenden des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, die trotz erbitterter polnischer Opposition auf einen Sitz im Stiftungsrat des Berliner Zentrums gegen Vertreibungen
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"Um die Jahreswende 1938/39 hat Stalin im engen Führungskreis des Politbüros der Bolschewistischen Partei einen weitgehenden Plan zum Entfachen des Zweiten Weltkrieges formuliert" (vgl. ,,1 wrzeSnia - pamill;tamyl 69. TOcznica wybuchu II wojny ~wiatowej" in Nasz Dziennik vom 1.9.2008). Der rechtskatbolische Publizist Jerzy Robert Nowak interpretiert die in der stalinistischen Periode eingeleitete "Sowjetisierung" als "einen gnadenlosen Kampfmit den [polnischen; T.K.] nationalen Traditionen in Kultur und Wissenschaft, mit dem Polentum". Zur Benennung der angeblichen Zielsetzung der Sowjetisierungskampagne zitiert er zustimmend die polnische Schriftstellerin Maria D~rowska: "Von den Deutschen drohte Polen die biologische Ausrottung, aus Moskau - hundertmal schrecklicher - die geistige und moralische" Ausrottung (siehe beispielsweise "Czerwone dynastie - Rodzina Bierutow" in Nasz Dziennik vom 22.7.2009).
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beharrte. 9 Sobald dieses Ansinnen Steinbachs Anfang 2009 öffentlich wurde, geriet die rechtsliberale Regierung von Ministerpräsident Donald Tusk unverzüglich unter Druck von Seiten der polnischen Rechten, die dank massiver antideutscher Rhetorik erneut zu erstarken drohte. Tusk und der Deutschlandbeauftragte der polnischen Regierung, Wladyslaw Bartoszewski, sahen sich infolgedessen im Februar 2009 zu scharfen diplomatischen und öffentlichen Reaktionen gegenüber Berlin genötigt. 10 Die revisionistischen Zirkel in Deutschland und die polnische Rechte schaukeln sich bei diesen geschichtspolitischen Auseinandersetzungen gegenseitig hoch, sie profitieren indirekt von den Provokationen der jeweils anderen Seite. Die antideutsche Geschichtspolitik der polnischen Rechten war dabei über einen langen Zeitraum relativ erfolgreich. Die Gründe für diesen mit der Instrumentalisierung des Zweiten Weltkrieges verbundenen Erfolg liegen schlicht in der ungeheuren Brutalität der deutschen Besatzung. Diese Tatsache wird aber aus ihrem historischen Kontext herausgelöst und zu einem ewigen Wesensmerkmal des ,,Deutschtums" ideologisiert, sodass Polens Rechte auftatsächlich von Deutschen begangene Gräuel propagandistisch zurückgreifen können. In dieser "polnischen Ideologie" droht jederzeit ein erneuter Überfall der Deutschen: eine permanente Vorkriegssituation, die permanente Wachsamkeit und Mobilisierung erfordert. 11 Das zentrale Moment dieser Ideologie bildet folglich eine "ewige", über Jahrhunderte fortbestehende - und nur die konkreten historischen Erscheinungsformen wechselnde - deutsche Bedrohung. Der Zweite Weltkrieg wird als Höhepunkt eines überhistorischen, das "Germanentum" als solches konstituierenden "Dranges nach Osten" begriffen: von der Ostkolonisation im Mittelalter über die Kreuzritter, das Preußentum bis hin zu Hitler-Deutschland. Aktuell wird deshalb zum Beispiel auch die starke Position deutscher Unternehmen in mehreren Wirtschaftszweigen Polens in diesen Kontext gestellt. 12 Infolgedessen wird auch das heutige 9 10
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Allein aufgrund ihrer Ablehnung, die Oder-Neiße-Grenze bei der entsprechenden Abstimmung im Deutschen Bundestag 1990 anzuerkennen, ist Steinbach für die polnische Seite absolut inakzeptabel. Im Vorfeld seiner Mitte Februar absolvierten Deutschland-Visite hat der Widerstandskämpfer und Auschwitz-Überlebende Bartoszewski die Beteiligung Steinbachs am Berliner Vertriebenenzentrum scharfkritisiert: Eine Mitwirkung Steinbachs im Gründungsrat des Zentrums sei so, als ob der Papst den Holocaust-Leugner BischoffWilliamson zum Beauftragten für die Beziehungen mit Israel ernannt hätte (siehe "Ein Kämpfer mit neuem Feindbild" in FAZ vom 2.3.2009). Die Allgegenwart der ewigen deutschen Bedrohung in der nationalkatholischen Ideologie lässt sich anband unzähliger Artikel in der Tageszeitung Nasz Dzienniknachweisen, so beispielsweise mit ,,Przyklejeni do Bundesbanku" vom 19.9.2007, "Gazocillg zagraZa suwerennosci Polski" vom 16.5.2008, "Odszkodowania za Ziemie Odzyskane" vom 7.1.2010, "Weimarskie resentymeuty wsp6lczesnych Niemiec" vom 8.-9.8.2009 oder auch ,,Polskie srodowiska naukowe powinny zaprotestowae" vom 13.-14.8.2008. Deutsche Konzerne konnten vor allem bei den Printmedien (der Springer-Verlag veröffentlicht mit dem Bild-Ableger Fakt die auflagenstärkste Tageszeitung Polens und die Passauer Neue
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Polen von der klerikalen Rechten als fremdbestimmt - als gewissermaßen "okkupiert" - wahrgenommen. In ihrem eigenen Land seien die Polen eine durch "ausländische Kräfte" entmachtete und einflusslose Masse. Neben Deutschland sind es wahlweise Russland, die EU oder Israel, die in diesem Zusammenhang genannt werden. Die Rechte sieht Polen durch einen moralischen, wirtschaftlichen und politischen Ausverkauf bedroht. 13 Hierbei werden sehr deutlich Analogien zur Teilungszeit und vor allem zum Zweiten Weltkrieg gezogen. Dennoch weisen Teile der polnischen Rechten - hier insbesondere die offen faschistisch auftretenden Gruppierungen und Strömungen - ein durchaus widersprüchliches Verhältnis zum Zweiten Weltkrieg und insbesondere zum deutschen Faschismus auf: Die antideutsche Rhetorik dient einerseits als wichtiges politisches Instrument. Die Rechte sieht sich als Hüter und Verteidiger der Interessen Polens gegen äußere Feinde. Anderseits herrscht kaum verhohlene Bewunderung für den deutschen Faschismus am rechten Rand der polnischen Rechten vor und darüber hinaus gibt es auch personelle Überschneidungen zwischen dem klerikal-nationalistischen und dem faschistischen Spektrum. Der geschichtspolitische Zwiespalt äußerte sich bereits in etlichen Affären und Skandalen. Bei der "Ein-Bier-Affäre" haben sich beispielsweise stark alkoholisierte Mitglieder der LPR-JugendorganisationAllpolnische Jugend (Mlodziez Wszechpolska) beim Zeigen des Hitlergrußes in einer Kneipe fotografieren lassen ("LPR: Kto jeszcze bawil sil( w nazistl(" in Gazeta Wyborcza vom 2.11.2005). Nachdem dies ausgerechnet die Springerzeitung Fakt publiziert hat (Fakt vom 29.130.10.2005 und vom 8.12.2005), meinte Giertych, "seine Jungs" hätten einfach nur "ein Bier" bestellen wollen. Ein weiterer Skandal erschütterte die LPR, nachdem Mitglieder der Allpolnischen Jugend an einer Nazi-Party teilnahmen, bei der Hakenkreuze und andere nationalsozialistische Symbole Verwendung fanden. Diese andauernden Vorfiille führten schließlich zum Bruch zwischen der LPR und der Allpolnischen Jugend im Jahr 2007 (siehe ,,Mlodziez Wszechpolska zostanie zlikwidowana" in Gazeta vom 26.10.2007).14 Und die offen faschistische Nationale Wiedergeburt Polens (NOP) wiederum hat etwa indirekt der NPD zu ihrem Wahlsieg in Mecklenburg-Vorpommern gratuliert: Die NOP ist im europäischen Nazi-Netzwerk International Third Position vertreten. Dessen ChefRoberto Fiore gratulierte der NPD im Jahr 2006 im Namen
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Presse hat den Markt fiir polnische Regionalzeitungen nahezu monopolisiert) und im polnischen Einzelhandel (die Metro-Gruppe gilt als einer der größten privaten Arbeitgeber Polens) starke Positionen aufbauen. ,,Ein Prozent" der Bevölkerung Polens zählte Tadeusz Rydzyk beispielsweise während einer Sendung des Radios Maryja vom 1.9.2005 zur "Oligariche": ,,(...) hiervon halten diese Reichtümer zu 70 Prozent Juden und Deutsche", behauptete er weiter (http://www.radiomaryja.pl.eu. org/nagrania/2005090 l-rydzyk/20050901-rydzyk.html). Unter www.gazeta.pl.
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der in seinem Netzwerk vertretenen Parteien zum Wahlerfolg. Laut der Zeitschrift Nigdy Wi~cej soll es außerdem auch ein Treffen im Rahmen einer Sommerakadernie zwischen NPD und NOP gegeben haben. 15 Mitglieder der NOP erklärten darüber hinaus bereits 1999 gegenüber polnischen Medien, auch von ausländischen "Freunden" aus Frankreich, Spanien und auch Deutschland finanziert zu werden. Es gibt dabei vereinzelt auch explizite ,,Hitler-Fans" unter Polens Faschisten, die offensiv Hitler als großen Politiker feiern und den Zweiten Weltkrieg als eine ,,Fehlentwicklung" zu verharmlosen suchen (vgl. zum Beispiel auch den polnischen Dokumentarfilm "My - Polska Rasa"). Daneben betrachte man schließlich noch den bekanntesten polnischen Historiker, den im März 2009 verstorbenen Pawel Wieczorkiewicz, der als Apologet Nazi-Deutschlands auftrat, Mitarbeiter der Warschauer Universität war und eine eigene Fernsehsendung im polnischen Fernsehen hatte. Dieser meinte, Polen hätte mit Hitler-Deutschland gemeinsam die Sowjetunion angreifen sollen. Hierzu wäre es notwendig gewesen, Nazi-Deutschland Danzig zu überlassen. Hitler sei ein großer Staatsmann gewesen, der Holocaust-Leugner David Irving sei ein großer Kenner des Zweiten Weltkrieges, so Wieczorkiewicz in einem Interview für das rechte Magazin Templum Novum. 16 Symbolfigur dieser fließenden Übergänge zwischen der faschistischen und klerikal-nationalistischen Rechten ist der eingangs erwähnte Piotr Farfal, der ehemalige Direktor des polnischen öffentlichen Fernsehens, der erst nach langwierigen Auseinandersetzungen von der derzeitigen rechtsliberalen Regierung im September 2009 entmachtet werden konnte. I? In seiner Jugend war er in der NOP organisiert und publizierte im antisemitischen Hetzblatt Szczerbiec. Hiernach wechselte er zur LPR. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Beziehung zwischen Farfal und Wieczorkiewicz. Laut Nigdy Wi~cej lieferte Wieczorkiewicz Expertisen an Farfal während eines Gerichtsverfahrens, in dem die rechtsextreme Vergangenheit des Fernsehdirektors verhandelt wurde. Die Rechte ist letztlich auch an geschichtspolitischen Auseinandersetzungen um Intensität und Auswirkungen des polnischen Antisemitismus während und nach dem Zweiten Weltkrieg beteiligt. Rechte Publizisten und Medien übten beispielsweise in den vergangenen Jahren insbesondere heftige Kritik an den Büchern des polnisch-amerikanischen Sozialwissenschaftiers Jan Tomasz Gross. In den Werken "SltSiedzi" ("Nachbarn") und "Strach" ("Angst") setzt sich dieser mit dem Pogrom von Jedwabne und dem polnischen Antisemitismus in der Nachkriegszeit ausein15 16 17
Siehe ,,NOP, ,PATRIOCI' i FOLKSDOJCZE" in Nigdy Wi~cej (www.nigdywiecej. org). Siehe ,,AdolfHitler wybitnym m~m stanu?" (www.tvn24.pl; 3.2.2009). Siehe "Jest nowy prezes TYP, ale odbije sil( od drzwi" (www.tvn24.pl; 19.9.2009).
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ander (Gross 2000, 2008; für einen Überblick vgL Lesser 2001: 363ff.). Jerzy Robert Nowak, ein rechter Publizist aus dem Umfeld von Radio Maryja, tat sich bei der Kritik an Gross besonders hervor. Er polemisierte in seinem Buch "Die hundert Lügen von Jan Gross" unter Rückgriff auf antisemitische Stereotype gegen dessen Publikationen (Nowak 2001a). Gross habe sein Werk im Auftrag jüdischer Organisationen geschrieben, die Entschädigungen für Enteignungen und erlittenes Unrecht von Polen erstreiten wollen, so Nowak. 18 Auch an dieser geschichtspolitischen Front bemüht sich die polnische Rechte, in eine Opferrolle zu schlüpfen. Innerhalb rechter Medien findet oftmals der antisemitische Vorwurf an "die Juden" Verbreitung, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges mit der Sowjetunion bei der Besetzung Polens ,,kollaboriert" zu haben (Nowak 2001b: 9). Hierbei werden einfach diejenigen kommunistischen Funktionäre oder Mitglieder des Sicherheitsapparates der Volksrepublik Polen als ,,Beleg" angeführt, die eine jüdische Herkunft aufweisen. Für die polnische Rechte galt und gilt es als erwiesen, dass eine jüdisch dominierte "Judäo-Kommune" (Zydokomuna) Polens "Patrioten" seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges unterdrückt hat (Szaynok 2005: 269; Pufelska 2007: 164ff.). Bagatellisiert oder schlichtweg geleugnet wird der aggressive Antisemitismus vieler nationalistischer und antikommunistischer Gruppierungen in Polen, der vor allem in der Phase der bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen zwischen 1945 und 1948 virulent war und noch viele Auschwitzüberlebenden in Polen das Leben kostete.1 9
4. Ausblick: Entwicklungstendenzen des katholisch-nationalistischen Spektrums sowie ideologischer Wandel und europäische Vernetzung der faschistischen Rechten Im katholisch-nationalistischen Spektrum entspringt der Wählerzuspruch für Parteien wie die LPR vor allem aus einem katholischen, kleinstädtischen oder bäuerlichen Milieu, das sich inzwischen hauptsächlich aus älteren Menschen zusammensetzt. Tendenziell befindet sich die klerikale Rechte im Niedergang, wie dies 18
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Im ersten Absatz der Einleitung seines Buches behauptet Nowak unter Berufung aufAussagen von "Prof. Nonnan Finkelstein", dass jüdische Organisationen von Polen ca. 60 Milliarden USDollar an Entschädigung flir enteignetes und konfisziertes jüdisches Eigentum "erpressen" wollen. "Um den Druck auf Polen in dieser Sache zu verstärken, verstärkt man seit Jahren weltweit eine giftige antipolnische Propaganda, in der versucht wird, die Polen als angebliche Mittäter der Deutschen bei dem Judenmord darzustellen. In dieser Propaganda nehmen die tendenziösen und polenfresserischen Texte des jüdischen Soziologen aus den USA Jan Tomasz Gross eine zentrale Rolle ein ( ...)" (siehe http://www.jerzyrobertnowak.com/ksiazki/100_klamstw..Nossa.htm).
So wurden beispielsweise während des Pogroms von Kie1ce am 4.7.1946 42 Juden getötet (vgl. Szaynok 1992).
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auch die jüngsten Wahlergebnisse widerspiegeln. 2o Infolgedessen verblasst auch das Geschichtsbild der polnischen Rechten. Die Menschen in den Großstädten wie auch die Jugend wählten bei den letzten Parlamentswahlen in Polen überwiegend die rechtsliberale Bürgerplattfonn. Aufdie polnische Rechte mag das Klischee des katholischen Polens damit noch zutreffen, in weiten Teilen der polnischen Gesellschaft nimmt aber der Einfluss der katholischen lUrche wie auch der rechtsklerikalen Ideologie spürbar ab (vgl. "Polen fällt vom Glauben ab" in Süddeutsche Zeitung vom 2.4.2010). Für die Zukunft stellt sich deshalb die Frage, ob es einer modernen rechtsextremen Partei in Polen gelingt, auch junge Wählerschichten zu erschließen und den weiterhin bestehenden Ressentiments und Vorurteilen einen politisch-organisatorischen Ausdruck zu verleihen. Zu berücksichtigen ist dabei, dass trotz der geschilderten Wahlniederlagen der LPR die klerikale Rechte immer noch die mit Abstand wichtigste und größte politische Strömung rechts von der nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) darstellt. In der Dominanz der nationalistisch-katholischen Strömung liegt auch die Spezifik der polnischen Rechten, die bislang eine europaweite Vemetzung dieser Gruppierungen - ausgenommen der punktuellen Zusammenarbeit im Europaparlament, etwa beim Kampf gegen die Evolutionstheorie (vgl. zum Beispiel Giertych vs. Darwin in internetmagazin Telepolis vom 30.10.2006) - ungemein behinderte. Es fehlte der LPR europaweit schlicht an ideologisch ähnlich ausgerichteten Gruppierungen, die mit ihr im Europaparlament in der Periode 2004-2009 hätten zusammenarbeiten können. Symptomatisch für diesen Isolationismus ist der anfangs vollzogene Beitritt der LPR zur im EU-Parlament am stärksten europakritisch ausgerichteten Fraktion Unabhängigkeit und Demokratie. Eine Zusammenarbeit mit anderen rechtsextremen Gruppierungen, die dieses religiös durchtränkte Weltbild der LPR nicht teilen, war folglich schwierig oder gar - vor allem bei deutschen Rechtsextremen - undenkbar. Anders verhält es sich bei den offen faschistisch agierenden Gruppierungen, die auch eine größere ideologische Schnittmenge mit anderen europäischen rechtsextremen Strömungen aufweisen. Die NOP engagiert sich, wie bereits erwähnt wurde, durchaus in internationalen Nazi-Netzwerken und kooperiert sogar mit deutschen Faschisten. Neben der ähnlichen ideologischen Ausrichtung, die bei diesen sich oftmals selbst als nationalsozialistisch bezeichnenden Gruppierungen gegeben ist, spielen adaptierte und rassisch modifizierte, neurechte Konzeptionen wie die 20
So zum Beispiel das Wahlergebnis der Parlamentswahlen von 2007, bei der die LPR nur noch 1,3 Prozent der Stimmen erreichte (http://wybory2007.pkw.gov.pl/). Und bei den Wahlen zum Europaparlament 2009 konnten die beiden nationalkatholischen Gruppierungen Libertas Polska und Prawica Rzeczypospolitej gemeinsam gerade einmal drei Prozent aller Stimmen erringen (http://pe2009.pkw.gov.pl/PUE/PLIWYN/W/index.htm).
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des "Ethnopluralismus" bei der europaweiten Vernetzung eine zentrale Rolle. Diese modifizierte rassistisch-pluralistische Europakonzeption zugrunde legend wird allen "homogenen" Völkern ein Existenzrecht im Rahmen ihrer "angestammten" Territorien zugestanden. Der dabei implizit mitgeführte faschistische Volksbegriff weist aber immer noch eine starke rassistische Konnotation auf. Der "Modernisierungsschub" in dieser Konzeption besteht aber insbesondere im Wandel der Feindbilder: Der Schwerpunkt verlagert sich von einem national fixierten Feindbild, das die Bevölkerungen anderer Staaten als zentrale Bedrohung ausmacht, hin zu einem Kampf gegen supranationale oder nicht-nationale Kräfte, Organisationen, Institutionen oder Minderheiten, die auf eine ,,zersetzung" der (oftmals rassisch definierten) "natürlichen" Volksgemeinschaften hinarbeiten würden. Ein ganzes Sammelsurium von Feindbildern, seien es die EU, das Finanzkapital, die zunehmenden Migrationsströme oder bestimmte Minderheiten - hier insbesondere die Juden oder auch die Roma -, können ein einigendes "Band des Hasses" zwischen den faschistischen Bewegungen unterschiedlicher Länder begründen. Zweifelsohne spiegelt diese Ideologie dabei zu großen Teilen den europäischen Integrationsprozess wie auch die Auswirkungen der Globalisierung rassistisch verzerrt wider. Im Augenblick ihrer drohenden ,,Auslöschung" scheinen den Faschisten nun alle angestammten Völker Europas gleich wertvoll: Grenzüberschreitend will die völkische Internationale die Volksgemeinschaften Europas vor den Erosionsprozessen durch die oftmals personifizierten (Juden, Roma) und verdinglichten (die EU) antinationalen Feinde bewahren. Folglich ist die europaweite Verflechtung bei den extremsten, faschistischen Gruppierungen Osteuropas bereits weit vorangeschritten. Wie sehr ein einigendes "Band des Hasses" zur Überwindung nationaler Animositäten zwischen den sich als nationalsozialistisch bezeichnenden Gruppierungen beitragen kann, wurde Anfang August 2009 in der ostslowakischen Ortschaft Sarisske Michalany offenkundig. Dort haben sich slowakische, tschechische und sogar ungarische Neonazis während einer verbotenen Demonstration gegen die Minderheit der Roma gemeinsam eine Straßenschlacht mit der Polizei geliefert. 21 Bezeichnend ist dabei insbesondere die Teilnahme ungarischer Faschisten, gelten doch die Beziehungen zwischen der Slowakei und Ungarn aufgrund schwelender Minderheitenkonflikte als schwer belastet (vgl. etwa "Spannungen zwischen Ungarn und Slowakei" in Welt vom 12.11.2008). Selbstverständlich bestehen daneben auch zwischen slowakischen und polnischen Faschisten enge Kontakte. 22 21 22
Siehe hieIZu den Artikel "Slowakei: Neonazis liefern sich Straßenschlacht mit Polizei" auf dem antifaschistischen Portal Recherche Nord (http://recherche-nord.com). So nahmen am 14.3.2010 Mitglieder der polnischen faschistischen Partei Falanga an einer Demonstration und Kundgebung der faschistischen Slowakischen Gemeinschaft (Slovenslci
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In Osteuropa werden diese rechten Vemetzungsprozesse insbesondere durch den Erfolg der ungarischen faschistischen Partei Jobbik vorangebracht, deren militante politische Strategie auf die Entfachung ethnischer Konflikte mit der Minderheit der Roma abzielt und von den faschistischen Gruppierungen in Tschechien und der Slowakei kopiert wird. Die Minderheit der Roma dient hierbei als das gemeinsame handgreifliche Feindbild, als das gemeinsame Hassobjekt, das die Kooperation in Pogrom und Hetze auch konkret werden lässt. Daneben bestehen auch Kontakte zwischen deutschen Autonomen Nationalisten und entsprechenden faschistischen Gruppierungen Tschechiens und Ungarns (siehe "Rassismus und Rechtsextremismus gedeihen in Osteuropa" in Internetmagazin Telepolis vom 18.5.2009). Es sind somit vor allem militant faschistische Gruppierungen der extremsten Rechten, die zumindest in Osteuropa die Herausbildung europäischer Organisationsstrukturen vorantreiben.
Literatur Gross, Jan Tomasz, 2008: Strach. Antysemityzm w Polsce tuZ po wojnie. Historia moralnej zapasci. Krakow. Ders., 2000: SllSiedzi. Historia zaglady ~dowskiego miasteczka. Sejny: Pogranicze. Jäger-Dabek, Brigitte, 2006: Polen: eine Nachbarschaftskunde für Deutsche. Berlin: Ch. Links. Lesser, Gabriele, 2001: Die ,,1edwabne-Dislrussion" in antisemitischen und rechtsextremen Medien, TransOdra 23: 363-379. Nigdy Wi~ej und Opferperspektive (Hg.), 2009: Hate Crime Monitoring and Victim Assistance in Poland and Germany. Warschau u.a. (pdf-downioad unter http://www.opferperspektive.de/ Home/873.html). Nowak, Jerzy Robert, 200 la: 100 ldamstw J.T.Grossa 0 :zydowskich Sllsiadach i Jedwabnem. Warszawa. Ders., 2001b: Kogo musZllPrzeprosic Zydzi. Warszawa. Pufelska, Agnieszka, 2007: Die "Judäo-Ko=une" - ein Feindbild in Polen. Das polnische Selbstverständnis im Schatten des Antisemitismus 1939-1948. Paderbom: Schöningh. Szaynok, Bozena, 2005: Antisemitism in Postwar Polish-Jewish Relations. S. 265-283 in: Robert Blobaurn (Hg.): Antisemitism and its opponents in modem Poland. New York: Comell University Press. Dies., 1992: Pogrom Zyd6w w Kielcach: 4. vn 1946r. Warszawa. Pospolitost') teiL Der Führer der Falanga, Bartosz Bekier, rief seinen Kameraden während einer Ansprache die "wachsende Gefahr seitens der antikatholischen und antinationalen bürokratischen Diktatur der Europäischen Union" in Erinnerung (,,14 m AD 2010 Falanga na Slowacji", http:// www.falanga.boo.pl/).
Restauratives versus revolutionäres imperiales Denken im Elitendiskurs des postsowjetischen Russlands Eine spektralanalytische Interpretation der antiwestlichen Wende in der Putin'schen Außenpolitik! Andreas Umland
Die im öffentlichen Diskurs als auch in der politischen und teils akademischen Spezialistengemeinde vorherrschenden Erklärungen für den mit jedem Jahr tiefer gehenden Wandel im russischen politischen Handeln sowie außenpolitischen Denken lassen sich in zwei Gruppen teilen: personalistisch-biographische Ansätze einerseits sowie geschichtsphilosophische Interpretationen andererseits. Analysten, die ersteren Ansatz vertreten, konzentrieren sich auf die Biographien der wichtigsten Entscheidungsträger, etwa aufden KGB- und/oder militärischen beziehungsweise polizeilichen Hintergrund der dominanten Führungseliten nach Boris EI'cin. Historiosophisch orientierte Interpreten hingegen entwickeln ein "tiefes" Verständnis der russischen Politik und bewerten den jüngsten Verlaufder russischen Geschichte vor dem Hintergrund als axiomatisch angesehener Gesetzmäßigkeiten der historischen Entwicklung Russlands, wenn nicht der Menschheitsgeschichte insgesamt. Auch einzelne nicht-russische Putin-Apologeten unterstützen das heute in Russland vorherrschende Diktum, dass Russland seinen eigenen geschichtlichen (Sonder-)Weg gehen dürfe oder gar müsse (zur Sonderwegsidee vgl. Luks 2005), dass es keine europäische Nation, sondern eine eigenständige Zivilisation darstelle, kein gewöhnlicher Nationalstaat, sondern ein natürlich gewachsenes Imperium sei, sowie keine westliche, sondern eine eigene "souveräne" Demokratie benötige. Andere geschichtsphilosophisch engagierte Beobachter und Akteure gehen davon aus, dass Russland heute in einer Übergangsphase ist und die jüngsten Einschränkungen politischer Freiheiten im Land temporär sind beziehungsweise sein sollten. Wieder andere Geschichtsphilosophen sehen die Entwicklung der russischen Geschichte als einen sich wiederholenden Zyklus sich ablösender protorevolutionärer, restaurativer und konservativer Phasen an. ObwoW beide Erklärungsansätze Zuerst erschienen in ForumjUr osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte (Umland 2009b), Wiederabdruck mit freundlicher Genehmigung des Böhlau-Verlages; ein zum folgenden Interpretationsversuch komplementärer Erklärungsansatz bei Luks 2009.
C. Globisch, et al. (Hrsg.), Die Dynamik der europäischen Rechten, DOI 10.1007/978-3-531-92703-9_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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- der personalistische sowie der geschichtsphilosophische - als plausibel und gegenüber politökonomischen Interpretationen des Demokratieverfalls in Russland (zum Beispiel Fish 2005) ebenbürtig erscheinen, befriedigen sie nur teilweise. Der personalistische Ansatz überzeichnet die Rolle einzelner politischer Figuren und ist auf die unmittelbare Akteurs- beziehungsweise Mikroebene fixiert. Die historiosophischen Ansätze hingegen tragen fatalistische Züge und operieren auf einer Makro-, wenn nicht Metaebene, ja scheinen letztlich eher Weltanschauungen als sozialwissenschaftliche Theorien zu sein. Ob man obige Ansätze befürwortet oder nicht - was Not tut, sind Interpretationsvorschläge auf der Meso- beziehungsweise mittleren Ebene, also Erklärungsansätze, die zwischen den Charakteristika einzelner involvierter Individuen einerseits und den Deduktionen aus historischer Metapolitologie andererseits operieren. Im Weiteren wird versucht, die jüngste antiwestliche Wende in der russischen Innen- und Außenpolitik anband einer Analyse des sich restrukturierenden politischen Spektrums unter Purin zu interpretieren (siehe auch Umland 2008c). Die Veränderungen im internationalen Verhalten Moskaus sollen verständlicher gemacht werden, indem jüngere Modifikationen im innerrussischen intellektuellen und Mediendiskurs sowie entsprechende Verschiebungen in der Komposition des Moskauer Establishments und des politischen Mainstreams einschließlich der teilautonomen Zivilgesellschaft beziehungsweise "unzivilen Gesellschaft" berücksichtigt werden (Umland 2003, 2009b). Wie unten deutlich werden wird, sind auf Grundlage heutiger westlicher Ideologietypologien entwickelte eurozentrische oder gar postmaterialistische Denkschablonen für die Konzipierung des Spektrums relevanter politischer Ideen im Putin'schen Russland nur teilweise geeignet. Im Folgenden wird versucht, zu einer Art "Hermeneutik" jüngster russischer politischer Rhetorik beizutragen. In diesem Zusammenhang wird darauf verwiesen, dass eine - aus westlicher Sicht - ungewöhnlich aggressive Form von Neoimperialismus, die in den 1990er Jahren noch marginal war, heute politisch hoffähig geworden ist. Dieser revolutionäre Imperialismus hat sich rechts vom derzeit dominanten restaurativen Irredentismus 2 als ein öffentlich akzeptiertes politisches Teillager etabliert und ist in den relevanten Massenmedien, Expertenrunden und Sozialwissenschaften inzwischen kontinuierlich präsent. Im Zuge der Konsolidierung der gesellschaftlichen Positionen der so genannten Liberal-Demokratischen Partei Vladimir Zirinovskijs sowie der Internationalen Eurasischen Bewegung Aleksandr Dugins im offiziell zugelassenen TV- sowie im intellektuellen Diskurs der 2
Die Natur und Größe der Irredenta unterscheiden sich in den verschiedenen nationalistischen Ideologien teils erheblich (Überblicksdarstellungen zum postsowjetischen russischen Nationalismus und dessen ideologischen Variationen finden sich bei Parland 2004; Lamelle 2009).
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letzten Jahre kam es zu einer Verschiebung des politischen Zentrums nach rechts. Diese Restrukturierung des politischen Spektrums kann entweder als ein Bestimmungsfaktor oder aber als ein Ergebnis von Veränderungen in der personellen Komposition und/oder den politischen Einstellungen der obersten Führungsspitze betrachtet werden. 3 Sie stellt jedoch in jedem Fall einen beachtenswerten Begleitumstand des Wandels politischer Debatten unter Putin dar. Obwohl der dritte Präsident Russlands, Dmitrij Medvedev, als prowestlich eingestellter Reformer zu bewerten ist, muss auch er bei seiner Positionierung und Koalitionsbildung im Zentrum des russischen politischen Spektrums dieser Koordinatenverschiebung im nach wie vor existenten Moskauer Ideenwettbewerb Rechnung tragen. Die revolutionäre Spielart des postsowjetischen Imperialismus operiert, wie unten gezeigt wird, zwar mit ausgesprochen phantastischen Ideen, manifesten Utopien, bizarren Geschichtsbildern und extravaganten Konzepten. Nichtsdestoweniger stellt die jüngste Verankerung dieser politischen Strömung im offiziellen russischen Politikdiskurs eine relevante Facette der Verschlechterung in den russisch-westlichen Beziehungen der letzten Jahre dar.
1. Konzipierungen politischer Spektra in der modernen westlichen Welt und im heutigen Russland Westliche Sichtweisen auf ideologische Konfliktlinien der Nachkriegszeit sind typischerweise von einer zwar in verschiedenen Ländern unterschiedlich abgestuften, aber doch insgesamt uniformen Zwei- beziehungsweise Dreiteilung politischer Spektren geprägt (Abbildung I). Auf der linken Seite des ideologischen Spektrums - und nun folgt eine stark vereinfachte Darstellung - werden in der RegelIdeengebäude und außenpolitische Doktrinen angesiedelt, die auf einem optimistischen Menschenbild beruhen sowie auf innenpolitischen oder internationalen mehr oder minder radikalen, als "Demokratisierung" verstandenen Wandel ausgerichtet sind (Bobbio 1994; Backes/Jesse 2005). Erstaunlicherweise ähneln sich die USA und das heutige Russland betreffs dieser Teile ihrer Parteienspektra in gewisser Hinsicht (siehe auch Abbildung 2).
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Diese Ambivalenz dürfte Beobachtern, die mit methodologisehen Problemen sozialwissensehaftlieher Analyse vertraut sind, als generelle Herausforderung derartiger Forsehungsprojekte bekannt sein (siehe zum Beispiel Bailey 2007: 50).
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Abbildung 1: Simplifizierte Darstellung ideologischer Spektra im politischen Mainstream ausgewählter zeitgeschichtlicher Situationen: "Westen" ,,Rechte" (Konservative, "Realisten")
"Linke"
"Mitte"
Sozialisten, Sozialdemokraten, Grüne, Sozialliberale, Labour, Democrats etc.
Zentristische Fraktionen und Rechte Fraktionen der ChristdeParteien mokraten, GOP, Tones etc.
In beiden - ansonsten grundverschiedenen - Staaten befinden sich links vom Zentrum relativ ähnlich ausgerichtete liberale Demokraten: in Russland etwa die Jabloko-Partei sowie die so genannte Union Rechter (sie!) Kräfte und in den USA die Demokratische Partei beziehungsweise deren linke Fraktionen. Diese beiden Staaten reproduzieren damit bis heute die klassische Rechts-Links-Unterscheidung, wie sie nach der Französischen Revolution entstanden war. Auf der rechten Seite des politischen Spektrums werden in der heutigen Selbstbetrachtung des Westens in der Regel solche Ideengebäude verortet, die auf einem mehr oder minder skeptischen Menschenbild beruhen und daher radikalen gesellschaftlichen sowie internationalen Wandlungsprozessen distanziert beziehungsweise kritisch gegenüberstehen (EatwellJO'Sullivan 1989). Der fiir diese Denkfigur zumeist gebrauchte Begriff lautet ,,Konservatismus" beziehungsweise "Konservativismus". Im in der politischen Mitte angesiedelten ideologischen Zentrum hingegen werden im heutigen Westen schließlich jene Kräfte vermutet, die - zumindest in ihrer Selbstdarstellung - einen Ausgleich reformerischer und konservativer Bestrebungen beziehungsweise idealistischer und "realistischer" Impulse versuchen sowie einen schrirtweisen, an aktuelle Herausforderungen angepassten, moderaten Wandel befiirworten. Dieses vereinfachte, viele Teilphänomene ignorierende Schema zur Konzipierung moderner ideologischer Konflikte dürfte trotz seiner Simplizität ein Axiom zeitgenössischen weltpolitischen Denkens im Westen sein. Zumindest kann ein Großteil heutiger internationaler und innerstaatlicher Auseinandersetzung in der westlichen Welt unter Zuhilfenahme des beschriebenen Schemas mehr oder minder erhellend interpretiert werden. Auch fiir innen- und außenpolitische Programme der neuen gesellschaftlichen Kräfte und Eliten der Russischen Föderation der 1990er Jahre schien diese Zwei- beziehungsweise Dreiteilung zumindest teilweise Geltung zu haben (Abbildung 2; vgl. Simonsen 2001). Der erste russische Präsident Boris El'cin versuchte während seiner Amtszeit, die reformerischen Impulse der prowestlich eingestellten liberalen Demokraten auf der einen Seite und die reaktionären Widerstände der antiwestlich orientierten alten Eliten auf der anderen
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zu balancieren. Allerdings war schon damals eine Abweichung von im heutigen Westen typischen Konfliktlinien zu beobachten. Dies betraf zum einen das Paradoxon, dass die rechts vom Zentrum angesiedelten politischen Kräfte nach 1991 auch beziehungsweise in erster Linie die (man muss womöglich sagen: so genannten) "Kommunisten" umfasste, da diese eindeutig rückwärtsgewandt waren und sind (Vujacic 2001). Zwar werden die heutige Kommunistische Partei in der Russischen Föderation als links und die Demokraten als rechts bezeichnet. Jedoch war bereits in der ausgehenden UdSSR klar, dass die Gruppierungen, aus denen später die KPRF und andere kommunistische Parteien hervorgingen, keine reformerischemanzipatorischen, sondern, im Gegenteil, reaktionär-traditionalistische politische Kräfte darstellten (GlybowskilWinkelI991; Moses 1991).
Abbildung 2: Simplifizierte Darstellung ideologischer Spektra im politischen Mainstream ausgewählter zeitgeschichtlicher Situationen: El'cins Russland 1991-1999 "Linke"
,,Mitte"
"Rechte" (Restauration)
Demokraten, Jabloko, Demokratische Wahl Russlands
Zentristische Gruppierungen und Zentrismus der tOderalen Regierung
Nationalisten, ,,Kommunisten", Imperiumsbewahrer
Eine noch folgenträchtigere Abweichung von politischen Spektren heutiger westlicher Staaten war bereits unter EI'ein, dass die postsowjetischen russischen Rechten nicht einen Erhalt des Status quo, sondern eine zumindest teilweise Wiederherstellung der Zustände während des Kalten Krieges, nicht zuletzt des von Moskau kontrollierten Territoriums, und in vieler Hinsicht eine mehr oder minder weitgehende Neubelebung des zaristisch-sowjetischen Imperiums anstrebten. Es scheint daher gerechtfertigt, solche Bestrebungen weniger als ,,konservativ" denn als, enger gefasst, "restaurativ