Scan by: der_leser K: tigger März 2004: V.1.0
FREEWARE Nicht für den Verkauf bestimmt
Wilbur Smith
DER SONNENVOGEL
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Scan by: der_leser K: tigger März 2004: V.1.0
FREEWARE Nicht für den Verkauf bestimmt
Wilbur Smith
DER SONNENVOGEL
Marion von Schröder Verlag in der Econ-Gruppe
Titel der bei William Heinemann, Ltd., London, erschienenen Originalausgabe THE SUNBIRD Copyright © Wilbur A. Smith 1972
Aus dem Englischen von Alfred Starkmann
1. Auflage 1974 Copyright © 1974 by Marion von Schröder Verlag GmbH, Düsseldorf. Alle Rechte der Verbreitung in deutscher Sprache, auch durch Film, Funk, Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten. Gesetzt aus Garamond.
ISBN 3547785537
Für meine Frau Danielle
I
Es schnitt durch den verdunkelten Projektionsraum und explodierte lautlos gegen die Leinwand – und ich erkannte es nicht. Ich hatte fünfzehn Jahre darauf gewartet, und als es kam, erkannte ich es nicht. Das Bild war wirbelig und undeutlich; ich hatte die Fotografie irgendeines kleinen Objekts erwartet, eines Schädels etwa, einer Tonscherbe, oder auch ein Werkzeug, eine Goldarbeit, Perlen – aber ganz gewiß nicht dieses surrealistische Muster aus Grau, Weiß und Schwarz. Louren gab mir mit erregter Stimme den entscheidenden Hinweis. »Aufgenommen in zehntausend Meter Höhe, um 6 Uhr 47 am vierten September«, das war vor acht Tagen, »mit einer 35-mm-Leica.« Eine Luftaufnahme also. Und fast sofort spürte ich den ersten Kitzel meiner eigenen Erregung, während Louren im gleichen knappen Ton fortfuhr. »Eine Charterfirma macht für mich einen Luftüberblick all meiner Konzessionsgebiete. So lassen sich die Schichten und der Verlauf der geographischen Formationen am besten erkennen. Diese Fotografie hier ist nur eine von 200 000 von diesem Gebiet – der Navigator wußte nicht einmal, was er fotografierte. Wie auch immer, die Leute bei der Analyse entdeckten es und schickten es mir zu.« Er blickte mich an. Sein Gesicht wirkte im Blendlicht des Projektors blaß und feierlich. »Du kannst es erkennen, Ben? Gleich neben der Mitte. Oberes rechtes Viertel.« Ich wollte antworten, doch mir versagte die Stimme. Überrascht stellte ich fest, daß ich zitterte. »Geradezu klassisch! Akropolis, doppelte Einzäunung und die ›phallischen Türme‹.« Er übertrieb – es waren nur unklare Umrisse, manchmal überhaupt nicht auszumachen, aber generell waren Form und Zuordnung richtig. »Norden«, stieß ich hervor. »Wo ist Norden?«
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»Oben im Bild – liegt richtig, Ben. Nach Norden hin. Könnten die Türme sonnenorientiert sein?« Ich kombinierte jetzt blitzschnell. Ich war zu oft enttäuscht worden. Ich suchte nach den Haken. »Lagerungen«, sagte ich. »Vielleicht Kalkstein verbunden mit dem Landgranit. Aufgeworfene Oberflächenmuster.« »Ach Quatsch!« unterbrach Louren. Die Erregung blubberte immer noch in seiner Kehle. Er sprang auf, lief zur Leinwand hinüber und zeigte mit dem Stab auf die zellenartigen Tupfen am Umriß, den er unzweifelhaft für die Haupteinzäunung hielt. »Sag mir, wo du je solche geologischen Muster gesehen hast.« Ich wollte es nicht akzeptieren. Ich wollte mich nicht ein weiteres Mal durch eine voreilige Hoffnung irreführen lassen. »Vielleicht«, sagte ich. »Geh mir doch weg.« Er lachte jetzt, und der Klang tat gut; in letzter Zeit hatte er nicht oft gelacht. »Ich hätte wissen müssen, daß du dich wehrst. Du bist der erbärmlichste Pessimist in ganz Afrika.« »Es könnte schließlich alles mögliche sein, Lo«, protestierte ich. »Eine Täuschung des Lichts, der Form, des Schattens. Und selbst angenommen, daß es von Menschenhand stammt – es könnten Gärten jüngeren Datums oder Äcker sein –« »Hundert Meilen vom nächsten Wasserspiegel entfernt? Unsinn, Ben! Du weißt so gut wie ich, dies ist –« »Sag es nicht«, ich schrie fast, war mit einem Satz aus dem gepolsterten Ledersessel quer durch den Projektionsraum und packte seinen Arm. »Sag es nicht«, wiederholte ich. »Es bedeutet – es bedeutet Unglück.« Ich stottere immer, wenn ich erregt bin. Aber das ist nur die geringste meiner physischen Unzulänglichkeiten, und ich kümmere mich schon lange nicht mehr darum. Louren lachte erneut, jedoch mit einem leichten Unbehagen wie jedesmal, wenn ich mich schnell bewege oder meine kräf-
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tigen Arme einsetze. Er beugte sich jetzt über mich und lockerte den Griff meiner Finger, die sich in seinen Unterarm gebohrt hatten. Ich schaute zu ihm auf, beschämt wegen meiner Heftigkeit gerade eben, aber immer noch erregt. Er hatte den Projektor ausgeschaltet und das Licht wieder angeknipst. »Wo ist es, Lo? Wo hast du es gefunden?« »Erst will ich, daß du es zugibst. Ich will, daß du dich einmal in deinem Leben hervorwagst – bevor ich dir mehr erzähle«, frotzelte er. »All right.« Ich schaute weg und überlegte meine Worte. »Es sieht, auf den ersten Blick, ganz interessant aus.« Er warf seinen Kopf zurück und brach in schallendes Gelächter aus. »Da mußt du schon was Besseres bieten. Versuchen wir’s noch einmal.« Sein Lachen ist unwiderstehlich, und ich lachte sofort mit, obwohl ich wußte, wie vogelhaft es gegen seines klang. »Es scheint so«, flötete ich, »als hättest du etwas gefunden.« »Du Prachtjunge!« schrie er. »Du kleiner Prachtjunge.« Seit Jahren hatte ich ihn nicht so erlebt. Die feierliche Bankiersmaske abgelegt, vergessen die Sorgen des SturvesantFinanzimperiums, er war wie ausgewechselt in diesem Augenblick der verheißungsvollen Erwartung. »Sag mir’s endlich«, flehte ich. »Wo hast du es gefunden?« »Komm«, sagte er, nun wieder ernsthaft. Wir gingen zu dem langen Wandtisch. Auf seinem grünen Überzug war eine Karte ausgebreitet und mit Nadeln festgesteckt. Der Tisch war hoch. Ich kletterte schnell auf einen Stuhl und lehnte mich darüber, so daß ich fast auf gleicher Höhe war mit Louren, der neben mir stand. Wir vertieften uns in die Karte. »Aeronautische Serie A. Südliches Afrika. Karte 5. Botswana und Westrhodesien.«
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Ich forschte nach einem Anhaltspunkt – einem Kreuz oder Bleistiftzeichen vielleicht. »Wo?« sagte ich. »Wo?« »Du weißt, daß ich 25 000 Quadratmeilen Mineralkonzessionen habe, hier unten, südlich von Maun –« »Jetzt komm schon, Lo. Verkauf mir hier nicht Aktien von Sturvesant-Erzen. Wo zum Teufel ist es?« »Wir haben hier eine Landebahn angelegt, lang genug für den Lear-Jet. Ist gerade fertig geworden.« »Es kann nicht weit südlich von der Goldzone sein.« »Ist es auch nicht«, versicherte mir Louren. »Reg dich ab, du zerreißt sonst noch was.« Es bereitete ihm offensichtlich Vergnügen, mich zu quälen. Sein Finger glitt über die Karte und hielt plötzlich an – mein Herz schien gleichzeitig stillzustehen. Es sah nur zu gut aus. Der Breitengrad stimmte genau – all die Hinweise, die ich jahrelang so gewissenhaft gesammelt hatte, deuteten auf diese Gegend hin. »Hier«, sagte er. »Zweihundertzwölf Meilen südöstlich von Maun, sechsundfünfzig Meilen vom südwestlichen Leuchtturm des Wankie-Wildparks, unter einer Kette niedriger Hügel, verloren in einer Wildnis aus Felsen und trockenem Buschwerk.« »Wann können wir abfahren?« fragte ich. »Oha!« Louren schüttelte den Kopf. »Du glaubst es also. Du glaubst es wirklich!« »Jemand anders könnte darüber stolpern.« »Es hat tausend Jahre dagelegen – eine Woche wird –« »Eine Woche!« rief ich gequält. »Ben, ich kann vorher nicht weg. Ich habe am Freitag die jährliche Generalversammlung von Anglo-Sturvesant, und am Samstag bin ich geschäftlich in Zürich – aber das werde ich abkürzen, deinetwegen.« »Sag ganz ab«, bettelte ich. »Schick einen von deinen begab-
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ten Nachwuchsleuten.« »Wenn dir jemand fünfundzwanzig Millionen leiht, ist es nicht mehr als höflich, den Scheck selbst abzuholen.« »Himmel, Lo. Es ist doch bloß Geld – und dies hier ist wirklich wichtig.« Einen Augenblick starrte Louren mich an. »Fünfundzwanzig Millionen sind nur Geld?« Er schüttelte erst zögernd, dann entschieden den Kopf. »Du hast sicher recht.« Er lächelte, sanft jetzt, das Lächeln für einen guten Freund. »Tut mir leid, Ben. Dienstag. Wir fliegen im Morgengrauen, ich verspreche es dir. Wir werden von der Luft aus erkunden. Dann landen wir in Maun. Peter Larkin – du kennst ihn?« »Ja, sehr gut.« Peter hatte ein großes Safari-Unternehmen außerhalb von Maun. Ich hatte ihn auf meinen KalahariExpeditionen schon zweimal in Anspruch genommen. »Gut. Ich habe schon mit ihm gesprochen. Er wird die Expedition ausrüsten. Wir werden schnell und ohne viel Gepäck reisen – ein Landrover und zwei Unimog-Dreitonner. Ich kann nur fünf Tage erübrigen – und das mal gerade –, aber ich werde einen Hubschrauber chartern und mich abholen lassen, du kannst dann weiter herumschürfen –« Unterdessen geleitete mich Louren aus dem Projektionsraum in die lange Galerie. Sonnenlicht flutete durch die hohen Fenster und ließ die Bilder und Skulpturen in der Galerie aufleuchten. Louren Sturvesant und seine Vorfahren hatten ihr Geld klug angelegt. Selbst in der gegenwärtigen Spannung wurden meine Augen durch das weiche, glühende Inkarnat eines Renoir-Aktes abgelenkt. Louren schritt leichtfüßig über die weichen Orientteppiche. »Wenn du entdeckst, was wir beide erhoffen, kannst du voll einsteigen. Ein ständiges Lager, Flugplatz, Assistenten nach Wahl, eine komplette Mannschaft und sämtliche Geräte, die du willst.«
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»Lieber Gott, laß es eintreffen«, sagte ich leise. Oben an der Treppe blieben wir stehen. Louren und ich grinsten uns an wie Verschwörer. »Du weißt, was es kosten könnte?« fragte ich. »Wir müssen vielleicht fünf oder sechs Jahre graben.« »Hoffentlich«, stimmte er zu. »Es könnte – auf Zweihunderttausend kommen.« »Es ist ja bloß Geld, wie dieser Mensch sagte!« Wir gingen, laut lachend der eine, kichernd der andere, die Treppe hinunter zur Eingangshalle. »Ich werde Montagabend um 7 Uhr 30 zurück sein. Kannst du mich am Flughafen treffen, Alitalia-Flug 310 von Zürich? Sieh zu, daß du inzwischen alle deine Sachen erledigst.« »Ich brauche einen Abzug des Fotos.« »Ich habe schon eine Vergrößerung durch Boten zum Institut bringen lassen.« Er schaute auf die goldene Piaget an seinem Handgelenk. »Verdammt. Ich habe mich verspätet.« Er wandte sich gerade zur Tür, als Hilary Sturvesant im kurzen weißen Tenniskleid vom Innenhof hereinkam – ein großes Mädchen mit goldbraunem Haar, das glänzend und sanft auf ihre Schultern fiel. »Liebling, du gehst doch nicht?« »Tut mir leid, Hil. Ich kann nicht zum Mittagessen bleiben. Aber Ben braucht jemanden, der ihn festhält.« »Du hast es ihm gezeigt?« Sie wandte sich um und kam zu mir, beugte sich nieder, um mir leicht und wie selbstverständlich einen Kuß zu geben, ohne das geringste Anzeichen von Widerwillen, dann trat sie zurück und lachte mich hinreißend an. »Was hältst du davon, Ben? Ist es möglich?« Louren hatte seinen Arm um ihre Taille gelegt. »Er dreht durch. Er will sofort in die Wüste rasen, noch in dieser Minute.« Dann zog er Hilary an sich und küßte sie. Eine ganze Minute vergaßen sie bei ihrer Umarmung meine Anwesenheit. Sie
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sind für mich der Inbegriff von Schönheit und Männlichkeit. Hilary ist zwölf Jahre jünger als er, seine vierte Frau und die Mutter nur des jüngsten seiner sieben Kinder. Erst Mitte Zwanzig, hat sie die Reife und Sicherheit einer wesentlich älteren Frau. »Gib Ben was zu essen, Liebling. Ich komme spät nach Hause.« Louren löste sich aus der Umarmung. »Du wirst mir fehlen«, sagte Hilary. »Und du mir. Wir sehen uns Montag, Ben. Schick Larkin ein Telegramm, wenn dir irgendwas Wichtiges einfällt, was wir brauchen. Bis dahin, Partner.« Und fort war er. Hilary nahm meine Hand und führte mich in den weiten beflaggten Innenhof. Zehntausend Quadratmeter gepflegter Rasen und herrliche Blumenbeete fielen sanft ab zu dem Fluß und dem künstlichen See. Beide Tennisplätze waren besetzt, und ein schreiender Haufen kleiner, fast nackter Körper schlug das Wasser im Schwimmbecken zu einem sonnenfunkelnden Weiß. Zwei Diener in Livree breiteten ein kaltes Büffet auf dem langen, aufgebockten Tisch aus, und mit einem leichten Anflug von Angst erblickte ich ein halbes Dutzend junger Frauen in Tenniskleidern, hingestreckt in die Klubsessel neben der Bar. »Komm«, sagte Hilary und führte mich zu ihnen. Ich straffte mich in der Hoffnung, neben der strahlenden, hochgewachsenen Frau drei Zentimeter Größe zu gewinnen. »Mädchen – hier bekommen wir Gesellschaft. Darf ich Herrn Dr. Benjamin Kazin vorstellen. Herr Dr. Kazin ist Direktor des Instituts für Afrikanische Anthropologie und Vorgeschichte. Ben, das ist Marjorie Phelps.« Ich wandte mich jeder einzelnen zu und erwiderte die leicht überschwenglichen Begrüßungsworte, wobei ich allen eine Probe meiner Vorzüge gab – das sind meine Augen und meine Stimme. Es war für die anderen genauso schwierig wie für mich. Man erwartet nicht von seinem Gastgeber, daß er bei den
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Drinks vor dem Mittagessen einen Buckligen präsentiert. Die Kinder waren meine Rettung. Bobby sah mich und kam mit dem Schrei »Onkel Ben! Onkel Ben!« angerannt. Sie schlang ihre kalten, nassen Arme um meinen Hals und drückte ihr triefendes Badekostüm gegen meinen neuen Anzug, bevor sie mich fortzog, damit der Rest der Sturvesant-Sippe und die Horden ihrer kleinen Freunde über mich herfallen konnten. Bei Kindern macht es mir nichts aus, sie bemerken es entweder nicht oder fragen geradeheraus: »Warum gehst du so vornübergebeugt?« Besonders unterhaltsam war ich diesmal nicht. Ich war innerlich zu erregt, um mich ihnen ganz widmen zu können, und bald zogen sie ab – alle außer Bobby, die immer zu mir hält. Hilary übernahm mich von ihrer Stieftochter und brachte mich zu der Gruppe junger Mütter zurück, wo ich einen besseren Eindruck machte. Wenn die anfängliche Unsicherheit erst einmal vorüber ist, kann ich hübschen Frauen nicht widerstehen. Es war bereits drei Uhr, als ich in bester Laune zum Institut fuhr. Ein Umschlag lag auf meinem Tisch mit dem Vermerk »Privat und vertraulich«, an eine Ecke war ein Zettel geheftet: »Das ist um Mittag für Sie angekommen. Sieht aufregend aus! Sal.« Mit einem Stich der Eifersucht prüfte ich das Siegel des Umschlags. Es war unversehrt. Es mußte Sallys ganze Selbstbeherrschung gekostet haben; ihre Neugier ist schier unbezwinglich. Sie nennt das wissenschaftlichen Forschertrieb. Vermutlich würde sie in den nächsten fünf Minuten auftauchen; deshalb nahm ich das Päckchen Pfefferminz aus meiner obersten Schublade und steckte ein Bonbon in den Mund, um den Whisky-Geruch zu bekämpfen. Ich öffnete den Umschlag und zog die glänzende Vergrößerung heraus, knipste die Schreibtischlampe an und richtete sie und die Tischlupe auf
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den Abzug. Dann schaute ich auf die Zeugnisse der Vergangenheit ringsum. Alle vier Wände des großen Raums sind mit Regalen bestellt, die vom Boden bis in Schulterhöhe – meine Schulterhöhe – voll sind mit Büchern. Tausenden von Bänden. Auf den Regalen über den Büchern stehen Gipsnachbildungen – Kopf und Schultern – all der Kreaturen, die dem Menschen in seiner Entwicklung vorausgingen. Australopithecus, Proconsul, Robusta, der Rhodesische Mensch, Peking – alle bis zum Neanderthaler und schließlich dem Cro-Magnon selbst – homo sapiens in seiner ganzen Herrlichkeit und Niedertracht. Die Regale rechts von meinem Schreibtisch sind mit Gipsbüsten aller ethnischen Typen Afrikas beladen, Hamiten, Araber, Pygmäen, der Negroiden, Boskops, Buschneger, Griqua, Hottentotten und all der anderen. »Gentlemen«, sagte ich, »ich glaube, wir sind auf dem richtigen Weg.« Ich rede nur laut mit ihnen, wenn ich erregt oder betrunken bin. Diesmal war ich beides und zwar ziemlich stark. »Mit wem sprechen Sie?« fragte Sally an der Tür, was mich vom Stuhl hochschnellen ließ. Sie wußte verdammt genau, mit wem ich sprach! Sie lehnte am Türpfosten, die Hände tief in die Taschen ihres weißen Kittels vergraben. Dunkles Haar, mit einem Band aus der tiefen vorspringenden Stirn gehalten, große grüne Augen, schön weit auseinanderliegend über der kekken Nase. Hohe Backenknochen, ein breiter, sinnlich lächelnder Mund. Ein großes Mädchen mit langen muskulösen Beinen in den engen Blue Jeans. Warum gefallen mir bloß die Großen immer am besten? »Gutes Mittagessen?« fragte sie, wobei sie sich langsam seitwärts meinem Schreibtisch näherte, um eine Position zu erreichen, von der aus sie die Dinge leicht übersehen konnte. Sie kann, wie ich zu meinem Entsetzen feststellen mußte, Dokumente verkehrt herum lesen. »Großartig«, antwortete ich, absichtlich die Fotografie mit
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dem Umschlag bedeckend. »Kalter Truthahn, Hummersalat, geräucherte Forelle und eine fabelhafte Ente mit Trüffeln in Aspik.« »Gemeiner Hund«, flüsterte sie leise. Sie liebte gutes Essen und hatte mein Spiel mit dem Umschlag außerdem bemerkt. Zwei Meter von mir entfernt schnüffelte sie. »Und Malzwhisky mit Pfefferminzgeschmack! Prima!« Ich errötete. Auch so etwas, das ich nicht abstellen kann – wie mein Stottern. Sie setzte sich lauthals lachend auf die Kante meines Schreibtischs. »Kommen Sie schon, Ben.« Sie blickte unverhohlen auf den Umschlag. »Ich bin fast geplatzt vor Neugierde, seit er eingetroffen ist. Ich hätte ihn ja über Dampf geöffnet, aber der elektrische Kessel ist kaputt.« Dr. Sally Benator ist seit zwei Jahren meine Assistentin. Genauso lange bin ich nebenbei in sie verliebt. Ich rückte zur Seite, um ihr hinter dem Schreibtisch Platz zu machen, und deckte den Umschlag auf. »All right«, stimmte ich zu, »sehen wir, was Sie davon halten.« Sie trat dicht an mich heran, ihr Oberarm berührte meine Schulter – ein Kontakt, der meinen ganzen Körper wie ein elektrischer Schlag durchfuhr. Innerhalb von zwei Jahren war es bei ihr wie bei den Kindern geworden – sie schien meinen Buckel nicht wahrzunehmen. Sie benahm sich ungezwungen und natürlich – und nach dem Zeitplan, den ich ausgearbeitet hatte, würde unsere Beziehung in zwei weiteren Jahren gereift sein. Ich mußte langsam vorgehen, sehr langsam, um sie nicht zu verschrecken, aber dann würde sie sich wohl an die Vorstellung von mir als ihrem Liebhaber und Ehemann gewöhnt haben. Waren die vergangenen zwei Jahre schon furchtbar lang gewesen – den Gedanken an die nächsten zwei Jahre haßte ich geradezu. Sie beugte sich über den Schreibtisch, um durch die Vergrößerungslinse zu schauen und verharrte reglos und still.
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Lichtreflexe fielen in ihr Gesicht. Als sie schließlich aufblickte, hatte sie einen begeisterten Gesichtsausdruck, ihre grünen Augen funkelten. »Ben«, sagte sie, »oh Ben – ich freue mich so für Sie!« Irgendwie ärgerte mich ihre Leichtgläubigkeit. »Sie sind voreilig«, krittelte ich. »Es könnte ein Dutzend natürliche Erklärungen geben.« »Nein«, sie schüttelte den Kopf, »Wehren Sie sich nicht dagegen. Sie haben so lange gearbeitet und so lange daran geglaubt, seien Sie jetzt nicht ängstlich. Akzeptieren Sie es.« Sie schritt quer durch den Raum zu dem Buchregal mit dem Buchstaben »K«. Unter den zwölf Bänden mit dem Autorennamen »Benjamin Kazin« nahm sie einen heraus. »Ophir«, las sie, »von Dr. Benjamin Kazin. Eine persönliche Studie zur prähistorischen goldverarbeitenden Zivilisation von Zentralafrika, unter besonderer Berücksichtigung der Stadt Zimbabwe, der Legende der Alten und der versunkenen Stadt der Kalahari.« »Haben Sie es gelesen?« fragte sie. »Es ist ganz unterhaltsam.« »Die Möglichkeit besteht, Sal. Das gebe ich zu. Nur eine Chance, aber –« »Wo liegt es?« unterbrach sie. »In der Mineralschicht, wie Sie vorausgesagt haben?« Ich nickte. »Ja, es ist im Goldgürtel. Aber es könnte, vielleicht, viel mehr erbringen als Langebeli und Ruwane.« Sie grinste triumphierend und beugte sich wieder über die Linse. Mit dem Finger berührte sie den Tuschepfeil in der Ecke des Fotos, der nach Norden zeigte. »Die ganze Stadt –« »Falls es eine Stadt ist«, unterbrach ich. »Die ganze Stadt«, wiederholte sie mit Emphase, »liegt nach
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Norden hin. Zur Sonne. Mit der Akropolis dahinter – Sonne und Mond, die beiden Götter. Die phallischen Türme – da sind vier, fünf, sechs. Vielleicht sieben.« »Sal, das sind keine Türme, nur dunkle Flecken auf einer Fotografie aus 10 000 Meter Höhe.« »Zehntausend!« Sals Kopf ruckte nach oben. »Dann ist es riesig! Man könnte Zimbabwe ein halb dutzendmal in das Hauptgehege stecken.« »Langsam, Mädchen. Um Himmels willen!« »Und die Unterstadt außerhalb der Mauern. Es zieht sich meilenweit hin. Es ist enorm, Ben – aber warum ist es so halbmondförmig?« Sie richtete sich auf, und zum ersten Male – zum ersten wundervollen Male – warf sie spontan die Arme um meinen Hals und drückte mich an sich. »Oh, ich könnte sterben vor Aufregung. Wann fahren wir?« Ich antwortete nicht, hörte kaum die Frage, stand nur da und genoß das Gefühl ihrer weichen, an mich gepreßten Brüste. »Wann?« fragte sie wieder, indem sie sich zurücklehnte und mir ins Gesicht blickte. »Was?« fragte ich. »Was sagten Sie?« Ich errötete, stotterte – und sie lachte. »Wann fahren wir ab, Ben? Wann gehen wir auf die Suche nach Ihrer versunkenen Stadt?« »Nun«, ich überlegte, wie ich es vorsichtig ausdrücken sollte, »Louren Sturvesant und ich gehen zuerst. Wir fahren am Dienstag ab. Louren hat nichts von einem Assistenten gesagt – ich glaube also nicht, daß Sie zur Erkundung mitkommen.« Sally trat zurück und stemmte ihre Fäuste in die Hüften; sie sah mich böse an und fragte mit trügerischer Sanftheit: »Wollen wir wetten?« Ich lasse es beim Wetten nicht gern darauf ankommen, also sagte ich Sally, sie solle packen. Sie ist ein Profi und reist mit wenig Gepäck. Ihre persönlichen Sachen füllen einen kleinen
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Handkoffer und eine Schultertasche. Ihre Skizzenblocks und Farben waren sperriger, aber wir legten unsere Bücher zusammen, um keines doppelt mitzunehmen. Meine Fotoausrüstung war ein weiterer großer Posten, und die Probensäcke und -kisten ergaben zusammen mit meiner eigenen Leinwand in der Ecke meines Büros einen gewaltigen Stapel. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden waren wir fertig, und während der nächsten sechs Tage töteten wir die Zeit mit quälenden Streitgesprächen über das Foto, das allmählich an Glanz verlor. Wenn die Spannung unerträglich wurde, verriegelte sich Sally in ihrem Büro und versuchte, an der Übersetzung der Felsgravuren von Drie Koppen zu arbeiten oder der gemalten Symbole vom WitteBerg. Felsgemälde, Gravuren und die Übersetzung der alten Schriften sind ihre Spezialität. Ich wanderte mürrisch durch die öffentlichen Räume, suchte nach Staub auf den Ausstellungsstücken, dachte mir irgendeine neue Anordnung der Kostbarkeiten aus, die unser Lager und die Vorratsräume oben füllten, zählte die Namen im Besucherbuch, spielte den Führer für Schulkindergruppen – ich tat alles außer arbeiten. Schließlich ging ich nach oben und klopfte an Sallys Tür. Manchmal hieß es: »Kommen Sie rein, Ben«. Ein andermal: »Ich habe zu tun. Was wollen Sie?« Dann schlenderte ich in die Abteilung afrikanische Sprachen, um eine Stunde bei meinem verdrießlichen Riesen, Timothy Mageba, zuzubringen.
Timothy hatte vor zwölf Jahren als Besenkehrer und Reiniger im Institut angefangen. Erst nach sechs Monaten entdeckte ich, daß er außer seinem eigenen südlichen Sotho noch sechzehn andere Dialekte sprach. Ich brachte ihm in achtzehn Mo-
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naten fließendes Englisch bei; zwei Jahre später konnte er es auch schreiben. Er immatrikulierte sich zwei Jahre danach, legte nach weiteren drei Jahren das erste Staatsexamen ab, das zweite nach wiederum zwei Jahren – und jetzt arbeitete er an seiner Dissertation über afrikanische Sprachen. Ich kenne außer ihm und mir keinen Menschen, der die Dialekte der nördlichen und der Kalahari-Buschmänner spricht. Für einen Linguisten ist er ein selten schweigsamer Mensch. Wenn er redet, dann mit einem »basso profunde«, der gut zu seiner stattlichen Figur paßt. Er ist zwei Meter groß; seine Muskeln gleichen denen eines professionellen Ringkämpfers. Dennoch bewegt er sich mit der Grazie eines Tänzers. Er fasziniert – und ängstigt mich zugleich ein wenig. Sein Kopf ist völlig kahl, der runde Schädel rasiert und geölt, so daß er wie eine mitternachtsschwarze Kanonenkugel glänzt. Die Nase breit und flach mit weiten Nüstern, die Lippen von tiefem purpurnem Schwarz, und dahinter starke weiße Zähne. Hinter seiner stoischen Maske lauert eine gefesselte tierische Wildheit, die zuweilen in den Augenwinkeln aufzuckt. Es ist etwas von satanischer Präsenz an ihm, trotz seines weißen Hemdes und dunklen Business-Anzugs, und obwohl ich zwölf Jahre lang viel Zeit in seiner Gegenwart verbrachte, habe ich nie die dunklen Tiefen unter diesen dunklen Augen und der noch dunkleren Haut ausgelotet. Unter meiner lockeren Aufsicht leitet er im Institut die Abteilung afrikanische Sprachen. Fünf jüngere Afrikaner, vier Männer und ein Mädchen, arbeiten unter ihm; sie haben bisher Standardlexika der sieben afrikanischen Hauptsprachen ediert, die im südlichen Afrika gesprochen werden. Sie haben außerdem so viel schriftliches Material und Tonbandaufnahmen gesammelt, daß sie für die nächsten sieben Jahre beschäftigt sind. Aus eigener Initiative hat er zwei Bände über afrikanische Geschichte veröffentlicht, die einen Sturm geradezu hysterischer Beschimpfungen von weißen Historikern, Archäologen
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und Kritikern hervorgerufen haben. Als Kind war Timothy Lehrling seines Großvaters, des Medizinmannes und Geschichtshüters in seinem Stamm. Bei Timothys Initiation in die Geheimnisse versetzte der Großvater ihn in Hypnose und prägte ihm die gesamte Stammesgeschichte ein. Selbst heute, nach dreißig Jahren, kann Timothy sich in Trance versenken und die vollständige Erinnerung an diese Fülle von Legende, Folklore, ungeschriebener Geschichte und Zauberdoktrinen heraufbeschwören. Timothys Großvater wurde, ein Jahr bevor Timothy seine Ausbildung beendet hatte und in den Priesterstand trat, von einem bornierten weißen Richter wegen Teilnahme an einer Serie ritueller Morde zum Tode verurteilt und gehängt. Jedoch seine Hinterlassenschaft an Timothy ist ein ungeheurer Fundus an Material – vieles sicher unecht, ein Großteil nicht verwertbar, aber der Rest faszinierend, rätselhaft oder einfach beängstigend. Vieles von Timothys unveröffentlichtem Material habe ich für mein Buch Ophir benutzt – besonders für jene unwissenschaftlichen und »populären« Abschnitte, welche die Legende der Alten behandeln, einer Rasse hellhäutiger, goldhaariger Krieger jenseits des Meeres, die Gold schürften, die einheimischen Stämme versklavten, mauerbefestigte Städte bauten und jahrhundertelang in Wohlstand und Sicherheit lebten, bevor sie fast spurlos verschwanden. Ich weiß, daß Timothy die Informationen frisiert, die er mir gibt – einiges daran ist zu geheim, die Tabus zu mächtig, um es einem nicht in die Mysterien Eingeweihten zu enthüllen. Ich bin mir sicher, daß vieles dieser zurückgehaltenen Informationen mit der Legende der Alten zu tun hat. Ich gebe jedoch meine Versuche, sie ihm zu entlocken, niemals auf.
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Am Montagmorgen, als Louren aus der Schweiz zurückkehren sollte, war Sallys Nervosität kaum noch auszuhalten, so sehr fürchtete sie, Louren könnte ihre Teilnahme an der Vorexpedition ablehnen. Um ihrer Gesellschaft zu entrinnen und die letzten langen Wartestunden herumzubringen, ging ich hinunter zu Timothy. Er arbeitet in einem winzigen Zimmer – wir haben im Institut nicht viel Platz –, das mit säuberlich gestapelten Pamphleten, Büchern, Aktenordnern und Haufen loser Blätter fast bis zur Decke vollgestopft ist. Trotzdem bleibt für meinen Stuhl immer genug Raum. Der sieht mit seinen langen Beinen eher wie ein Barhocker aus; während nämlich meine Arme und Beine Normalmaße haben, oder mehr, ist mein Rumpf zusammengedrückt und höckerig, so daß ich von dem Sitz eines gewöhnlichen Stuhls aus nur mit Mühe über die Fläche eines Schreibtisches gucken kann. »Machane! Gesegneter!« Timothy stand bei meinem Eintreten mit seiner üblichen Begrüßung auf. Nach der Bantu-Sage sind die Klumpfüßigen, die Albinos, die Schielenden und Buckligen von den Geistern gesegnet und mit heilenden Kräften ausgestattet. Ich schwang mich auf meinen Sitz und begann eine zwanglose Unterhaltung, die von einem Thema zum anderen sprang und von einer Sprache zur anderen. Timothy und ich sind stolz auf unsere Fähigkeiten – und geben damit wohl auch ein wenig an. Keiner könnte unserer Unterhaltung von Anfang bis Ende folgen. »Es wird seltsam sein«, sagte ich schließlich, ich weiß nicht mehr in welcher Sprache, »ohne Sie zu reisen. Zum erstenmal in zehn Jahren, Timothy.« Er wurde sofort mißtrauisch. Er wußte, daß ich wieder von der versunkenen Stadt anfangen würde. Ich hatte ihm vor fünf Tagen die Fotografie gezeigt und ihn seitdem ständig zu irgendeinem aufschlußreichen Kommentar gedrängt. Ich wechselte ins Englische.
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»Wie auch immer, Sie werden wahrscheinlich nichts verpassen. Wieder einmal ein Schattensuchen. Davon haben wir weiß Gott schon viele hinter uns. Wenn ich nur wüßte, wonach ich ausschauen soll.« Ich brach ab und gefror vor Erwartung. Timothys Augen hatten einen glasigen Ausdruck, bei dem eine opake bläuliche Trübung seine Augäpfel zu bedecken scheint. Sein Kopf sinkt auf die dicke, sehnige Säule des Halses hinunter, seine Lippen zucken. Sooft ich es auch schon gesehen hatte, kann ich doch nie den geheimen Schauder abschütteln, wenn Timothy in Trance versinkt. Manchmal geschieht es unwillkürlich – ein Wort, ein Gedanke löst es aus, und der Reflex folgt beinahe blitzartig. Es kann aber auch ein bewußter Akt der Selbsthypnose sein, der Vorbereitung und rituelle Einstimmung erfordert. Es kam spontan. Ich wartete begierig, falls es sich um TabuMaterial handelte, würde Timothy mit einer bewußten Willensanstrengung nach wenigen Sekunden nur den Zauber brechen. »Unheil –«, er sprach mit der zittrigen, hohen Stimme eines alten Mannes, der Stimme seines Großvaters, Speicheltropfen netzten seine dicken purpurnen Lippen, »– ein Unheil, das von der Erde und aus dem Gedächtnis der Menschen getilgt werden muß, für immer.« Sein Kopf zuckte, das Bewußtsein regte sich, seine Lippen arbeiteten unkontrolliert. Der kurze innere Kampf – und plötzlich klärten sich seine Augen. Er blickte mich an und erkannte mich. »Tut mir leid«, murmelte er auf Englisch und wandte seine Augen ab, verlegen wegen der ungewollten Schaustellung und der Notwendigkeit, mich auszuschließen. »Möchten Sie einen Kaffee, Doktor? Der Kessel ist endlich repariert.« Ich seufzte. Timothy hatte abgeschaltet. »Nein, danke, Timothy.« Ich schaute auf meine Uhr und glitt
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vom Stuhl. »Muß noch ein paar Dinge erledigen.« »Geh in Frieden, Machane, die Geister mögen deinen Schritt leiten.« Wir schüttelten uns die Hände. »Bleibe in Frieden, Timothy, und wenn die Geister freundlich gesonnen sind, werde ich nach dir schicken.«
Von der Theke der Kaffee-Bar in der Haupthalle des JanSmuts-Flughafens konnte ich den Eingang zum internationalen Terminal gut überblicken. »Verdammt«, fluchte ich. »Was ist los?« fragte Sally besorgt. »K.J.M. – ein ganzes Aufgebot.« »K.J.M.?« »Kluge Junge Männer. Leitende Angestellte von Sturvesant. Da, sehen Sie die vier neben dem Bankschalter?« »Woher wissen Sie, daß es Sturvesant-Leute sind?« fragte sie. »Haarschnitt, hinten und an den Seiten kurz. Uniformen: dunkle Kaschmir-Anzüge und einfarbige Schlipse. Gesichtsausdruck angespannt und von Magengeschwüren gezeichnet, aber auf blühend getrimmt, wie der große Mann selbst.« Und dann fügte ich in einem ungewohnten Anfall von Ehrlichkeit hinzu: »Außerdem kenne ich zwei von ihnen. Buchhalter. Freunde von mir – muß jedesmal Geld aus ihnen rauspressen, wenn ich eine Rolle Toilettenpapier fürs Institut haben will.« »Ist er das?« fragte Sally und deutete mit dem Finger. »Ja«, sagte ich. »Das ist er.« Louren Sturvesant kam durch die Tür des internationalen Terminal, als erster Passagier der Zürich-Maschine durch Zoll-
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und Paßkontrolle, neben ihm, Schritt haltend, der PublicRelations-Beamte des Flughafens. Zwei andere K.J.M. einen Schritt dahinter zu beiden Seiten. Ein dritter kümmerte sich wahrscheinlich um sein Gepäck. Die vier wartenden Männer brachen in ein Lächeln aus, das die Halle zu erhellen schien, eilten, nach Rang gestaffelt, zu einem kurzen Händedruck vor und nahmen ihren Platz in Lourens Gefolge ein. Zwei von ihnen bahnten vorn einen Weg, die anderen schützten beide Flanken. Der Public-Relations-Beamte fiel verwirrt ans Ende des Feldes zurück, und Anglo-Sturvesant zog durch den überfüllten Raum wie eine heranrückende Panzerdivision. Aus ihrer Mitte ragte Lourens goldgelockter Kopf hervor. Wir fingen Anglo-Sturvesant an der gläsernen Eingangstür ab, und ich ließ Sallys Hand los, um den inneren Kreis zu sprengen. Beim ersten Versuch brach ich durch, Louren stolperte fast über mich. »Ben.« Ich merkte sofort, wie müde er war. Blaß unter der goldenen Haut, rote Schmierflecken unter den Augen – aber ein warmes Lächeln vertrieb für einen Augenblick die Erschöpfung. »Entschuldige. Ich hätte dich warnen sollen. Es ist etwas Wichtiges dazwischengekommen. Ich bin auf dem Weg zu einer Konferenz.« Er sah den Ausdruck auf meinem Gesicht und er griff mich schnell bei der Schulter. »Nein. Zieh keine falschen Schlüsse. Wir machen weiter. Komm morgen früh um fünf zum Flughafen. Ich treffe dich dort. Ich muß jetzt gehen. Tut mir leid.« Wir schüttelten uns kurz die Hände. »Bis zum bitteren Ende, Partner?« fragte er. »Bis zum bitteren Ende«, pflichtete ich bei, über die Schuljungen-Albernheit grinsend, und dann rauschten sie vorbei und verschwanden durch die Glastür. Wir hatten den Rückweg nach Johannesburg schon halb hinter uns, als Sally anfing: »Haben Sie ihn wegen mir gefragt? Ist das geregelt?«
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»Es war keine Zeit, Sal. Sie haben ja gesehen. Er war in solcher Eile.« Wir redeten beide nicht mehr, bis ich in das Gelände des Instituts einbog und den Mercedes neben ihrem kleinen roten Alfa parkte. »Möchten Sie eine Tasse Kaffee?« fragte ich. »Es ist schon spät.« »Sie würden heute nacht sowieso nicht schlafen. Wir könnten eine Partie Schach spielen.« »All right.« Ich öffnete die Vordertür, und wir näherten uns durch die öffentlichen Räumen mit ihren Glasvitrinen und Wachsfiguren der privaten Treppe zu meinem Büro und meiner Wohnung. Sal zündete das Feuer an und stellte die Schachfiguren auf, während ich Kaffee kochte. Als ich aus der Küche zurückkam, saß sie mit gekreuzten Beinen auf einem handgearbeiteten Lederpuff, über dem Schachbrett aus Elfenbein und Ebenholz brütend in einem gemusterten Poncho der gleichen leuchtenden Farben wie die Orientteppiche auf dem Fußboden; das sanfte Wandlicht glühte auf dem zarten sonnengetränkten Olivgrün ihrer Haut. Bei ihrem Anblick meinte ich, das Herz müßte mir zerspringen. Sie blickte mit ihren großen sanften Augen auf. »Kommen Sie«, sagte sie. »Spielen wir.« Wenn ich den Ansturm ihrer ersten blitzartigen Attacken überstehe, kann ich sie einfangen und durch Bauernspiel und überlegene Entwicklung ermüden. Sie nennt das den schleichenden Tod. Schließlich warf sie ihre Dame mit einem leichten Stöhnen der Verzweiflung um und begann, ruhelos durch das Zimmer zu wandern, die Arme unter dem bunten Poncho um ihre Schultern geschlungen. Ich schlürfte Kaffee und betrachtete sie mit unverhohlenem Vergnügen, bis sie plötzlich herumwirbelte und mich ansah – die langen Beine leicht ge-
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spreizt, die Fäuste in die Hüften gestützt. »Ich hasse diesen Kerl«, sagte sie mit schmaler, gepreßter Stimme. »Ein großer, arroganter Gottmensch. Ich habe seinen Typ sofort erkannt. Warum, zum Teufel, muß der mitkommen? Wenn wir irgendeine bedeutende Entdeckung machen, können Sie sich ja vorstellen, wer den ganzen Ruhm einheimst.« Ich wußte sofort, daß sie Louren meinte – und ich war erschreckt über die gallige Schärfe ihres Tons. Später sollte ich mich daran erinnern und den Grund erkennen. Aber jetzt war ich bestürzt und auch ärgerlich. »Wovon in aller Welt reden Sie eigentlich?« verlangte ich. »Das Gesicht, der Gang, die Herde der Verehrer, die herablassende Art, mit der er seine Gunst verteilt, die ungeheure, bezwingende Selbstgefälligkeit dieses Mannes –« »Sally!« »Seine nachlässige, gedankenlose Grausamkeit –« »Hören Sie auf, Sally.« Ich war aufgesprungen. »Haben Sie seine armen kleinen Männer gesehen – sie zitterten vor Angst!« »Sally, ich lasse nicht zu, daß Sie so über ihn reden – nicht in meinem Beisein.« »Haben Sie sich selbst gesehen? Einer der sanftesten, freundlichsten, anständigsten Männer, die ich kenne. Einer der klügsten Köpfe, mit denen ich je die Ehre hatte zusammenzuarbeiten. Haben Sie sich selbst gesehen, wie Sie umhergesaust sind und mit dem Schwanz gewedelt haben – Ihren Bauch zum Kitzeln dargeboten haben –« Sie war jetzt fast hysterisch. Sie weinte. Tränen der Wut liefen ihr übers Gesicht. Sie bebte. »Ich habe Sie gehaßt – und ihn! Ich habe Sie beide gehaßt. Er hat Sie gedemütigt, erniedrigt und, und –« Ich konnte nicht antworten. Ich stand da, betroffen, und reglos. Ihre Stimme wechselte. Sie hob die Hand und preßte sie gegen den Mund. Wir starrten einander an.
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»Ich muß verrückt sein«, flüsterte sie. »Warum habe ich das gesagt? Ben, oh Ben. Es tut mir furchtbar leid.« Sie kam und kniete vor mir nieder, ihre Arme umschlangen mich und zogen mich zu ihr. Ich stand wie eine Statue. Mir war kalt aus Angst vor dem Kommenden. Denn obwohl ich lange darum gebetet hatte, war es so plötzlich gekommen … Sally hob den Kopf, mich immer noch umklammernd, und blickte mir ins Gesicht. »Verzeih mir, bitte.« Ich küßte sie. Ihre Lippen waren warm und salzig vor Tränen. Als sich ihre Lippen unter meinen öffneten, war meine Furcht verschwunden. »Liebe mich, Ben – bitte.« Sie spürte instinktiv, daß sie mich führen mußte. Sie nahm mich zur Couch. »Die Lampen«, flüsterte ich rauh, »schalte die Lampen aus.« »Wenn du willst.« »Bitte, Sally.« »Gut«, sagte sie, »ich verstehe, mein Liebling.« Und sie schaltete die Lampen aus. Zweimal schrie sie in der Dunkelheit auf. »Oh bitte, Ben – du bist so stark. Du bringst mich um. Deine Arme sind – deine Arme!« Nicht lange danach stieß sie einen wirren Schrei aus, und mein eigener heiserer Schrei mischte sich mit ihrem. Dann war nichts mehr als das schartige Geräusch unseres Atems in der Dunkelheit. Ich glaube, mein Geist habe sich vom Körper befreit und schwebte in Wärme und Dunkelheit. Zum ersten Male in meinem Leben war ich vollkommen ruhig, ausgeglichen und sicher. Als Sally schließlich sprach, kam ihre Stimme wie ein leichter Schock. »Würdest du für mich singen?« Und sie schaltete die Lampe auf dem Tisch neben der Couch ein. Wir blinzelten einander in dem gedämpften Schimmer an.
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»Ja«, sagte ich. »Ich möchte singen.« Ich ging in mein Ankleidezimmer und nahm die Gitarre aus dem Schrank; während ich die Tür schloß, erblickte ich mein Bild in dem langen Spiegel – ein Fremder stand vor mir. Grobes schwarzes Haar umrahmte ein eckiges Gesicht mit dunklen Augen und mädchenhaft langen Wimpern, ein breites, affenartiges Kinn und eine hohe blasse Stirn. Der Fremde lächelte mir zu, halb scheu – halb stolz. Ich blickte auf den seltsam verkürzten Körper, der mir von Kindheit an Qualen bereitet hatte. Die Beine und Arme waren überentwickelt, dick und knotig vor Muskelschwellungen, die Glieder eines Riesen. Instinktiv blickte ich auf die BodyBuilder-Gewichte in der Ecke des Zimmers – und dann zurück in den Spiegel. Ich war perfekt an den Seiten – aber in der Mitte war dieser gedrungene, bucklige, krötenartige Rumpf, bedeckt von einem zotteligen Pelz krauser schwarzer Haare. Ich betrachtete diesen merkwürdigen Körper und haßte – zum ersten Male in meinem Leben haßte ich ihn nicht. Sally lag noch immer auf dem weichen Fell der Couch. Ich hockte mich mit gekreuzten Beinen neben sie, die Gitarre im Schoß. »Sing etwas Trauriges – bitte, Ben«, flüsterte sie. »Aber ich bin glücklich, Sal.« »Sing ein trauriges Lied – eins von deinen eigenen«, beharrte sie, und als ich die ersten Noten spielte, schloß sie die Augen. Ich beugte mich vor, und während ich die klingenden Saiten berührte, streichelten meine Blicke ihren langen, ebenmäßigen Wuchs, die blassen Ebenen, Rundungen und geheimen Schatten. Wie ich diesen Körper liebte! Ich sang. Eine Träne quoll nach einer Weile durch ihre geschlossenen Lider; meine Stimme hat eine Magie, die Tränen oder Lachen hervorrufen kann. Ich sang, bis meine Kehle rauh wurde und mein Daumen schmerzte. Dann legte ich die Gitarre beiseite und schaute Sally weiter an. Ohne die Augen zu öffnen, wandte
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sie mir leicht ihren Kopf zu. »Erzähl mir von dir und Louren Sturvesant«, sagte sie. »Ich möchte das verstehen.« Die Frage überraschte mich, ich schwieg einen Augenblick. Sie schaute auf. »Es tut mir leid, Ben. Du brauchst nicht –« »Nein«, antwortete ich schnell. »Ich möchte darüber sprechen. Weißt du, ich glaube, du schätzt ihn falsch ein. Ich glaube, man kann keine normalen Maßstäbe an sie legen, diese Sturvesants. An Louren und seinen Vater, als er noch lebte. Mein eigener Vater hat für sie gearbeitet. Er starb ein Jahr nach dem Tod meiner Mutter, sozusagen an gebrochenem Herzen. Mr. Sturvesant hatte von meinen Lernerfolgen gehört, und mein Vater war ein sehr treuer Angestellter gewesen. Es gibt einige von uns, den Sturvesant-Waisen. Wir bekommen nur das Beste. Ich besuchte Michaelhouse, die gleiche Schule wie Louren. Ein Jude in einer kirchlichen Schule, und noch dazu ein Krüppel – du kannst dir vorstellen, was das hieß. Kleine Jungen sind absolut gnadenlose Wesen. Louren hat mich aus der Toilette geschleift, wo mich vier von ihnen ertränken wollten. Er hat sie furchtbar verprügelt, und danach war ich sein Schützling. Bis auf den heutigen Tag. Er finanziert dieses Institut, jeden Pfennig. Zunächst war es nur für mich gedacht, aber nach und nach engagierte er sich selbst immer mehr. Es ist sein Hobby und mein Leben – du wirst überrascht sein, wie viel er weiß. Er liebt dieses Land, genau wie wir, und er ist von seiner Geschichte und Zukunft mehr gefesselt, als wir es je sein werden.« Ich brach ab, denn sie starrte mich an. »Du liebst ihn, Ben, nicht wahr?« Ich errötete und schlug die Augen nieder. »Er war für mich Vater, Beschützer, Wohltäter und Freund. Der einzige Freund, den ich je hatte.«
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Sie berührte meine Wange. »Ich werde versuchen, ihn zu mögen. Deinetwegen.«
Es war noch dunkel, als wir durch die Tore des GrandCentral-Flughafens fuhren. Sal kauerte in ihrem Mantel, schweigend und in sich gekehrt. Ich fühlte mich benommen und schwach nach dieser schlaflosen Nacht der Liebe und des Redens. Als wir uns der Startbahn näherten, sah ich Lourens Ferrari auf seinem reservierten Parkplatz, daneben schimmerten ein halbes Dutzend andere neue Limousinen. »Oh Gott«, stöhnte ich, »er hat die ganze Mannschaft bei sich.« Ich parkte neben dem Ferrari, und Sal und ich begannen, unsere Geräte aus dem Koffer räum zu holen. Sie hob ihre Staffelei auf, warf sie sich über die Schulter; dann duckte sie sich mit einer großen Mappe voll Pergamentpapier in der einen Hand und einer Farbenkiste in der anderen durch das Türchen in den Hangar. Ich hätte natürlich mit ihr gehen sollen, aber ich war so sehr in das Überprüfen meines Gepäcks vertieft, daß ich erst drei oder vier Minuten später folgen konnte. Da war es schon zu spät. Als ich durch die niedrige Öffnung in den hellerleuchteten Hangar trat, sackte mir vor Schreck der Magen. Die glänzende, haifischartige Silhouette des Lear-Jets bildete den Hintergrund einer spannungsgeladenen Szene. Louren Sturvesant verliert selten die Beherrschung. Sally Benator hatte in weniger als zwei Minuten geschafft, was vielen Profis vor ihr nie gelungen war. Louren bebte schmallippig in einem solch fürchterlichen Zorn, daß seine sieben K.J.M. in ihrer vorschriftsmäßig lässigen Tracht – gutgeschnittene Safari-
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Anzüge und fellgefütterte Automäntel – eingeschüchtert Abstand hielten. Sally hatte ihre Last auf den Betonboden fallen lassen, stand da, die Fäuste in den Hüften, brennende Farbexplosionen auf den Wangen, und erwiderte die zornigen Blicke Lourens. »Herr Dr. Kazin hat mir gesagt, ich kann mitkommen.« »Selbst wenn, verdammt noch eins, der König von England Ihnen erzählt hätte, daß Sie mitkommen können: Ich sage, das Flugzeug ist voll – und ich habe auch nicht im mindesten die Absicht, bei meinem ersten Urlaub seit sechs Monaten eine Frau mitzuschleppen.« »Ich wußte nicht, daß es ein Vergnügungsflug ist –« »Würde jemand bitte dieses Weibsbild hier rauswerfen!« rief Louren. Die K.J.M. erhoben sich und kamen vorsichtig näher. Sally hob die schwere Holzstaffelei hoch und hielt sie in beiden Händen. Der Vorstoß blieb stecken. Ich rannte in die Lücke und ergriff Lourens Arm. »Bitte, Lo. Können wir reden?« Ich schleppte ihn beinahe ins Flugbüro. »Das Ganze tut mir furchtbar leid, Lo. Ich hatte keine Gelegenheit zu erklären –« Fünf Minuten später schritt Louren aus dem Büro, und ohne einen Blick auf Sal oder die erstarrte K.J.M.-Gruppe zu werfen, stieg er in die Düsenmaschine. Einen Augenblick später erschien sein Kopf neben dem Piloten im Fenster des Cockpit, wo er seine Kopfhörer anlegte. Ich ging zu dem jüngsten K.J.M. und teilte ihm den Spruch des Gesetzes mit. »Mr. Sturvesant läßt Ihnen ausrichten, Sie sollten für sich selbst einen Charterflug nach Gaberones buchen.« Dann wandte ich mich an die anderen. »Könnten Sie uns bitte mit dem Gepäck helfen?« Während eine Schar der höchstbezahlten Stauer Afrikas das
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Gepäck von Sally trug, strahlte sie in unverschämtem Triumph. Ich flüsterte ihr eine scharfe Warnung zu. »Rücksitz«, zischte ich. »Und versuch dich unsichtbar zu machen. Du wirst nie begreifen, wie gefährlich das war. Du hättest dir um ein Haar nicht nur den Trip vermasselt, sondern fast deinen Job eingebüßt.« Wir waren vielleicht zehn Minuten in der Luft, als der Pilot durch den Gang nach hinten kam. Er blieb neben uns stehen und sah Sally bewundernd an. »Alle Achtung, gnädige Frau.« Er schüttelte den Kopf. »Ich hätte ein Monatsgehalt gegeben, um das nicht zu versäumen. Sie waren großartig.« Sally, die sich seit meiner Warnung gehörig zurückgehalten hatte, lebte sofort auf. »Bei Jungs dieser Größenordnung spucke ich nicht einmal die Knochen aus«, erklärte sie. Zwei der K.J.M. schauten erschreckt auf. Der Pilot lachte und wandte sich mir zu. »Er will mit Ihnen sprechen, Doktor. Ich tausche den Platz mit Ihnen.« Louren sprach über Funk mit der Flugkontrolle, aber er winkte mich auf den Sitz des Kopiloten. Ich zwängte mich hinter das Rad und wartete. Louren beendete seine Übertragung und drehte sich zu mir. »Frühstück?« »Danke, ich habe gegessen.« Er ignorierte das und reichte mir einen Truthahnschenkel aus dem Eßkorb neben sich. »Kaffee in der Thermosflasche. Gieß dir selbst ein.« »Hast du die 25 Millionen Pfund Anleihe bekommen?« fragte ich mit vollem Mund. »Ja – trotz einer Panik in letzter Minute.« »Ich dachte nicht, daß du borgen mußt. Geht es dir schlecht?«
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»Ölsuche.« Er lachte über meine Frage. »Risikogeld. Ich spiele lieber mit dem Geld anderer Leute und setze selbst auf die sicheren Gewinner.« Er wechselte geschickt das Thema. »Entschuldige den Umweg. Ich setze die Jungs in Gaberones ab. Sie haben eine Konferenzserie mit der Regierung von Botswana. Reiner Routinekram, um die Einzelheiten der Konzession zu regeln. Es liegt sowieso nicht weit ab von unserem Kurs. Dann können wir allein weiterfliegen.« Er stopfte sich Truthahn in den Mund. »Der Wetterbericht ist lausig, Ben. Das kommt in der Wüste einmal in drei Jahren vor – und ausgerechnet heute. Trotzdem, wir machen uns dran, die Hügel und die Ruinen aufzuspüren. Auch kein Beinbruch, wenn wir’s nicht schaffen.« Er war entspannt und gelockert, keine Spur seines früheren Zorns; er konnte es ganz nach Belieben an- und abschalten, und so redeten und lachten wir miteinander. Ich kannte seine Stimmung: es waren Ferien, zudem eine Befreiung. Versunkene Stadt oder keine versunkene Stadt, es war ein Grund, in das wilde Land zu fahren, das er liebte. »Es ist wie in den alten Zeiten. Gott, Ben, wie lange ist es her, seit wir zusammen fort waren? Muß fast zehn Jahre sein. Erinnerst du dich an die Kanufahrt den Oranje Fluß hinunter – wann war das? 1956 oder 57? Und die Suchexpedition nach den wilden Buschmännern?« »Wir müssen es öfter machen, Lo.« »Ja«, sagte er – als ob er die Wahl hätte. »Wir müssen, aber die Zeit verrinnt so schnell – ich werde nächstes Jahr vierzig.« Und seine Stimme klang nachdenklich. »Gott, wenn man Zeit nur mit Geld kaufen könnte!« »Wir haben fünf Tage«, sagte ich, das Gespräch wieder aus der Sackgasse führend: er nahm es eifrig auf. Es dauerte eine weitere halbe Stunde, bevor er Sally erwähnte. »Diese Assistentin von dir, die Preiskämpferin. Wie heißt sie?« Ich sagte es ihm.
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»Treibst du’s mit ihr?« fragte er. Es klang so natürlich, so leicht hingeworfen, daß ich einen Augenblick lang nicht begriff, was er da gesagt hatte. Dann fühlte ich Zorn aufsteigen, fühlte das Blut an den Schläfen pochen und meine Kehle trokken werden. Ich hätte ihn erwürgen können, aber statt dessen log ich mit gepreßter zitternder Stimme. »Nein«, sagte ich. »Um so besser«, brummte er. »Die hat’s in sich. Na, solange sie uns den Trip nicht verdirbt.« Hätte ich es ihm erzählen sollen? Aber es war zu persönlich – zu kostbar und zerbrechlich, um es durch Worte zu zerstören. Dann war dieser schreckliche Augenblick vorüber, und er plauderte weiter über die fünf Tage vor uns. Während des Fluges verdichteten sich die Wolken unter uns zu einer schmutzig-grauen Decke. Wir überquerten die Grenze zwischen Südafrika und dem unabhängigen afrikanischen Staat Botswana. In Gaberones reichte die Wolkendecke bis dreihundert Meter hinunter, als wir landeten. Louren versicherte, daß wir schnell weiterfliegen würden, doch eine Abordnung leitender Regierungsbeamter wartete auf uns – eine Einladung zum Dinner im privaten Restaurant des Flughafens. Heißes, klebriges Wetter, gespannte weiße Gesichter, die auf glänzende schwarze Gesichter einredeten. Drei Stunden vergingen, bevor der Lear-Jet mit uns vier an Bord wieder in die Wolkendecke eintauchte, dann hindurchstieß in den hellen Sonnenschein darüber. »Pah!« sagte Louren. »Eine teure kleine Party. Dieser schwarze Bastard Ngelane hat eben den Preis seiner Ehre um weitere 20 000 erhöht. Ich muß natürlich zahlen. Er könnte den ganzen Vertrag abwürgen. Er geht durch sein Ministerium.« Louren flog nordwärts, mit der Karte auf dem Schoß und einer Stoppuhr in der Hand. Seine Augen glitten vom Kompaß zum Geschwindigkeitsmesser und zurück auf die Uhr.
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»Okay, Ben. Roger übernimmt jetzt besser die Kontrollsteuerung. Wir gehen runter in den Brei und gucken uns um.« Louren und der Pilot, Roger van Deventer, saßen an den Steuergeräten. Sal und ich hielten uns dahinter am Türrahmen des Cockpits fest, als der Jet schräg auf den Boden der schmutzigen Wolken hinuntersank. Ein paar Fetzen von diesem Zeugs zuckten vorbei, dann war plötzlich die Sonne verschwunden, und wir waren von dunklem, grauem Nebel eingehüllt. Roger flog, gespannt auf die Instrumententafel schauend. Als die Nadel des Höhenmessers langsam fiel, sah ich, wie seine Hände sich am Rad verkrampften. Wir sanken beständig tiefer durch den grauen Nebel. Roger zog die Klappen und die Luftbremse und nahm das Gas zurück. Wir drei starrten nach vorn und nach unten, um einen Blick auf die Erde zu erhaschen. Tiefer ging es, noch tiefer. Die Spannung des Piloten ging über in handfeste Furcht. Ich konnte sie riechen, ihren ranzigen, öligen Geschmack. Es war ansteckend. Wenn er, der abgebrühte Flugvogel, Angst hatte, dann durfte ich schreckensstarr sein. Ich wußte, daß er uns eher direkt in den Grund fliegen würde, als Lourens Zorn riskieren. Ich beschloß einzuschreiten und wollte gerade ansetzen, als Lour en brummte: »Zu weit geflogen«, er prüfte die Stoppuhr, »entspann dich, Roger.« »Tut mir leid, Mr. Sturvesant, dieses Zeug hat keinen Boden.« Roger stieß es aus wie einen Seufzer und hob die Nase der Lear. Er gab Gas und löste die Luftbremse. »Kein Glück!« murmelte ich erleichtert. »Vergiß es, Lo. Fliegen wir weiter nach Maun.« Louren drehte sich nach mir um und schaute statt dessen in Sallys Gesicht. Sie stand hinter seiner Schulter. Ich konnte ihren Ausdruck nicht sehen, aber ich konnte ihn mir gut vorstellen nach dem Ton, in dem sie sanft fragte: »Angst?« Louren starrte sie noch einen Moment an, dann grinste er.
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Ich hätte Sally übers Knie legen und ihren köstlichen Hintern windelweich schlagen können. Die warme, kindliche Furcht, die ich eine Minute zuvor gespürt hatte, wandelte sich jetzt in eiskalte Angst, denn ich hatte Louren schon früher so grinsen gesehen. »Okay, Roger«, sagte er, wobei er Karte und Stoppuhr in die Tasche neben seinen Sitz steckte. »Ich habe sie.« Und die Lear hing an einem Flügel, als er sie in der steilsten Schräge herumzog. Es war so perfekt gemacht, daß Sally und ich lediglich ein wenig in den Knien einknickten, als die Schwerkraft uns erfaßte. Er ging in die Gerade und flog drei Minuten in ebener Lage, zurück auf unseren Kurs. Ich warf einen kurzen Blick auf Sallys Gesicht. Es war helläugig und vor Erregung gerötet – sie starrte nach vorn in die undurchdringliche Düsternis. Wieder legte Louren das Flugzeug in eine steile Kurve; er kam aus ihr in entgegengesetzter Richtung zu unserem vorigen Kurs heraus und senkte die Nase nach unten. Diesmal war es kein vorsichtiges Tasten mit Klappen und Drosselung. Louren flog uns kühn und schnell hinein. Sallys Hand suchte nach meiner und drückte sie. Ich hatte Angst und ärgerte mich über die beiden; ich war zu alt für solche Kinderspiele, aber ich erwiderte ihren Druck. Zu ihrer und meiner Beruhigung. »Du lieber Himmel, Lo«, stieß ich hervor. »Halt dich zurück, ja!« Aber niemand nahm die geringste Notiz von mir, Roger war auf seinem Sitz wie erstarrt, die Hände um die Armlehnen geklammert und nach vorn starrend. Louren wirkte verdächtig entspannt hinter den Steuergeräten, während er uns in Todesgefahr stürzte – und Sally grinste, hielt sich aber an meiner Hand fest wie ein Kind auf der Achterbahn. Plötzlich gerieten wir in Regen. Perlenschnüren und Schlangen gleich zischte er nach hinten über die gerundete PerspexWindschutzscheibe. Ich wollte erneut protestieren, aber die
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Stimme blieb mir irgendwo in der ausgedörrten Kehle stecken. Draußen war Wind aufgekommen. Er schüttelte den schlanken, glänzenden Rumpf der Lear, daß die Tragflächen schwankten. Mir war zum Heulen zumute. Ich wollte jetzt nicht sterben. Gestern hätte es mir nichts ausgemacht, aber nach der vergangenen Nacht … Ehe meine eigenen Reflexe es registrierten, hatte Louren den Boden gesehen und den Sturzflug der Maschine abgefangen. Mit einem leichten Beben, das Sally und mich weich gegeneinander warf, brachte er uns wieder in die Gerade. Das war noch fürchterlicher als der blinde Fall durch den Raum. Die dunklen, nebelhaften Umrisse der niedrigen struppigen Baumwipfel zuckten greifbar nahe an unseren Flügelspitzen vorbei, während überraschend vor uns aus dem Regenschleier ein großer Affenbrotbaum ragte und Louren den Jet über seine gierig ausgreifenden Arme hob. Sekunden verstrichen, die endlos zu sein schienen; dann riß der schmutzige Vorhang aus Regen und Wolken plötzlich auf, und wir schossen in ein merkwürdiges Wetterloch. Vor uns, direkt auf unserem Kurs und von wässerigem Sonnenlicht übergossen, stand ein Wall aus roten Felsenklippen. Wir hatten nur eine winzig kurze, flüchtige Sicht auf den uns entgegenrasenden roten Fels, dann hatte Louren den Jet auf den Schwanz gestellt. Der Fels schien fast unseren Bauch zu kratzen, als wir über den Gipfel nach oben in die Luft schossen. Niemand sprach, bis wir in das Sonnenlicht hoch oben tauchten. Sally löste ihre Hand sanft aus meiner, als Louren sich zu uns umdrehte. Ich bemerkte mit grimmiger Genugtuung, daß er und Sally leicht grünlich aussahen. Einen Augenblick starrten sie einander an. Dann schnaubte Louren vor Lachen. »Gucken Sie sich Bens Gesicht an!« brüllte er, und Sally fand das sehr lustig. Als sie aufhörten zu lachen, fragte Sally eifrig: »Hat jemand die Ruinen gesehen? Ich konnte nur einen
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kurzen Blick auf die Hügel werfen. Aber hat jemand die Ruinen gesehen?« »Ich habe nichts gesehen, mir ging der Hintern mit Grundeis«, murmelte Roger. Und ich wußte, wie er sich fühlte.
Die Wolkendecke lockerte auf, als wir Maun erreichten. Roger flog uns durch eine Lücke und landete glatt. Peter Larkin erwartete uns schon. Männer wie Peter Larkin gibt es kaum noch. Er ist ein Anachronismus, mit dicken Patronen vorn auf seinem Buschjackett und die Hosen in Moskitostiefel gestopft, einem großen, fleischigen Gesicht und riesigen Händen, der rechte Zeigefinger genarbt vom Rückstoß schwerer Gewehre. Gefühle scheint er nicht zu kennen, die Intelligenz ist unterentwickelt. Angst ihm unbekannt. Sein ganzes Leben hat er in Afrika verbracht, aber sich nie die Mühe gemacht, eine einheimische Sprache zu erlernen. Er benutzt die südafrikanische Lingua franca, das Bastard-Fanagalo, und unterstreicht seine Absichten mit Stiefel oder Faust. Seine Kenntnis der Tiere, die er jagt, beschränkt sich darauf, wo sie zu finden und wie sie umzulegen sind. Trotzdem ist an seiner elefantenhaft-einfältigen Art irgend etwas Reizvolles. Während seine Bande von Treibern unsere Ausrüstung in den Lastwagen verstaute, rief er Louren und mir freundliche Albernheiten zu. »Wollte, ich käme mit euch. Aber hab morgen diesen Haufen von Yankees – mit einem großen Sack voll grüner Dollars. Sie haben mir nicht viel Zeit gelassen, Mr. Sturvesant. Aber ich geb’ Ihnen meine besten Jungs. Guter Regen im Süden, wird ‘ne Menge Wild in der Gegend sein. Sollten Gemsantilopen um
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diese Jahreszeit finden. Und Jumbos natürlich. Wäre gar nicht überrascht, wenn Sie ein, zwei Simbas kriegten –« Das verächtliche Anwenden von Kosenamen auf Freiwild bringt mich in Rage, besonders wenn man es mit einem Schnellfeuergewehr erschießen will. Ich ging zu Sally, die das Verladen unserer Ausrüstung überwachte. »Es ist schon nach ein Uhr«, maulte sie. »Wann legen wir los?« »Wir werden wahrscheinlich heute abend bis zum oberen Ende der Makarikari-Mulde vorstoßen. Das sind etwa 200 Meilen auf anständiger Straße. Morgen gehts dann richtig in den Busch.« »Kommt Ernest Hemingway mit uns?« fragte sie, wobei sie Peter Larkin abfällig musterte. »Leider nicht«, versicherte ich ihr. Ich versuchte mir ein Bild zu machen von den Leuten, die uns begleiteten. Zwei Fahrer, deren gehobener Status sich in weißen Hemden, langen grauen Hosen und richtigen Schuhen dokumentierte; sie trugen sogar schottengemusterte Schals um den Hals geknotet. Je einer für die Drei-Tonnen-Laster. Dann der Koch, der vom vielen Abschmecken eine Menge Gewicht mit sich rumschleppte, die Haut glänzend vor guter Kost. Zwei knorrige, grauhaarige Gewehrträger, die eifersüchtig Lourens Jagdgewehre aus dem übrigen Gepäck gezogen, sie aus den Reisehüllen gepackt hatten und sie jetzt liebevoll hätschelten und streichelten. Das war die Elite. Sie beteiligte sich nicht am aufgeregten Treiben der Camp-Boys, die unsere Ausrüstung verstauten, Bamangwatos die meisten, deren Geschnatter ich kurz zuhörte. Die Gewehrträger waren Matabele, wie erwartet, die Fahrer Shangaans. Gut – ich würde auf dieser Expedition jedes Wort verstehen können. »Nebenbei, Sal«, sagte ich ihr leise, »sag nicht, daß ich die Sprache verstehe.«
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»Warum?« Sie war beunruhigt. »Ich möchte die Vorgänge verfolgen. Wenn sie aber wissen, daß ich verstehe, halten sie den Mund.« »Svengali!« Sie schnitt mir eine Fratze. Ich hätte wohl kaum gelacht, wenn mich jemand anders so genannt hätte. Es ging mir doch etwas an die Nieren. Wir verabschiedeten uns von Roger. »Erschrecken Sie mir die Löwen nicht«, sagte Roger zu Sally. Sie hatte offensichtlich wieder eine Eroberung gemacht. Er kletterte in den Jet, während wir in einer Gruppe herumstanden und beobachteten, wie er zum Ende der Startbahn rollte, dann abhob und fort nach Süden flog. »Worauf warten wir noch?« fragte Louren. »Ja, worauf?« stimmte ich zu. Louren setzte sich ans Steuer des Landrovers, und ich kletterte neben ihn. Sally hockte sich auf den Rücksitz, die Gewehrträger auf die Sitzbänke. »Bei euch beiden – fühle ich mich auf dem Erdboden verdammt viel sicherer«, sagte ich.
Die Straße verlief durch offenes Buschgebiet und eine Affenbrotbaumgegend. Trocken und sonnenverbrannt. Der Landrover wirbelte einen Wall wehenden Staubes auf. Die beiden Lastwagen folgten in so großem Abstand, daß er sich erst setzen konnte. Gelegentlich mußten wir eine Steigung, oder felsübersäte, ausgetrocknete Flußbetten überwinden, und hin und wieder kamen wir durch Dörfer mit strohgedeckten Lehmhütten, wo kleine, dickbäuchige Negerkinder die Straßenränder säumten. Die Sonne war ein fetter Feuerball zwischen den zerfetzten
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Wolkenstreifen am Horizont, als wir den Rand der Mulde erreichten. Louren parkte den Landrover. Wir kletterten hinaus, um auf die Lastwagen zu warten und starrten in schweigender Ehrfurcht über die stille, glitzernde Salzebene, die sich hinstreckte, soweit das Auge reichte. Als die Lastwagen eintrafen, quoll die Ladung der schwarzen Diener heraus, noch bevor sie richtig angehalten hatten. Ich zählte siebzehneinhalb Minuten, bis die Zelte aufgeschlagen, die Feldbetten gerichtet waren und wir drei um das Feuer saßen, »Glen-Grant«-Malzwhisky mit glitzerndem Eis trinkend. Vom Kochfeuer zog der aufreizende Geruch des Jägertopfes. Es war eine gute, fröhliche Bande, die Larkin uns mitgegeben hatte. Nach dem Essen versammelten sie sich etwa fünfzig Meter entfernt um ihr eigenes Feuer und verschönten die Nacht mit ihren alten Jagdliedern. Ich saß da und hörte halb ihnen, halb der angestrengt hitzigen Debatte zwischen Sal und Louren zu. Ich hätte sie warnen können, daß er den Advocatus diaboli spielte und sie dadurch nur noch mehr reizte, aber ich genoß das Wechselspiel zweier brillanter Köpfe. Wenn die Diskussion in persönliche Beschimpfungen und Gewalttätigkeiten auszuarten drohte, schritt ich widerstrebend ein und lenkte sie auf ungefährlicheres Terrain zurück. Sally verteidigte tapfer die Prämisse meines Buches Ophir, das eine Invasion des südlichen Zentralafrikas durch phönizische oder karthagische Siedler um etwa 200 v. Chr. annimmt, eine Blütezeit bis etwa 450 n. Chr., dann ein plötzliches Verschwinden. »Sie waren so früh für eine lange Entdeckungsreise nicht ausgerüstet«, forderte Louren sie heraus. »Gar nicht zu reden vom Kolonisieren –« »Sie werden feststellen, Mr. Sturvesant, daß Herodot eine Umseglung Afrikas unter der Regierung von König Necho verzeichnet. Sie wurde bereits 600 v. Chr. oder so von sechs phö-
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nizischen Navigatoren angeführt. Sie starteten von der Spitze des Roten Meeres, und nach drei Jahren kehrten sie durch die Säulen des Herkules zurück.« »Eine Ausnahme«, verwies Louren. »Keine Ausnahme, Mr. Sturvesant. Hanno segelte etwa 460 v. Chr. von Gibraltar zu einem südlichen Punkt an der Westküste Afrikas – eine Reise, von der er mit genügend Elfenbein und Gold zurückkehrte, um all den abenteuernden Kaufleuten den Mund wässrig zu machen.« Louren griff immer noch ihre Daten an: »Wie kommen Sie auf ein Datum 200 v. Chr., wenn die frühesten Kopiedatierungen der Fundamente von Zimbabwe aus der Mitte des fünften nachchristlichen Jahrhunderts stammen, und die meisten aus noch späterer Zeit?« »Wir reden nicht über Zimbabwe, sondern die Kultur davor«, parierte Sally. »Zimbabwe könnte gegen Ende der Regierung der Alten erbaut worden sein, war wahrscheinlich nur kurze Zeit bewohnt, bevor sie verschwanden; das würde genau zu Ihrer Kopiedatierung von etwa 450 n. Chr. passen. Außerdem zeigen die Kopiedatierungen der alten Minen von Shala und Inswezwe Befunde um 250 und 300 v. Chr.« Dann schloß sie mit schöner weiblicher Logik: »Kopiedatierungen sind ohnehin nicht so akkurat. Sie können um Hunderte von Jahren danebenliegen.« »In den Minen arbeiteten die Bantus«, erklärte Louren. »Und Caton-Thompson – und natürlich später Summers – sagen –« Zornig griff sie Louren an: »Haben die Bantus, die wahrscheinlich erst um 300 n. Chr. in dem Gebiet eintrafen, urplötzlich ein brillantes Schürftalent entwickelt, mit dem sie die Metalladern lokalisieren konnten, wo keine Spur von Gold oder Kupfer im Erzgestein sichtbar war? Und gleichzeitig haben sie wohl auch noch ein technisches Wissen entwickelt, so daß sie 250 Millionen Tonnen Erz tief aus dem Felsen holen konnten –
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denken Sie daran, solche Talente haben sie zuvor nie bewiesen –, und dann haben sie unvermittelt verlernt oder aufgehört, sie in den nächsten tausend Jahren zu nutzen?« »Nun, die arabischen Händler, sie könnten –«, begann Louren, aber Sally überfuhr ihn rücksichtslos. »Warum haben sie mit solchem Risiko und einem derartigen Einsatz an Energie geschürft? Gold hat für die Bantus keinen Wert – Rinder sind ihr Reichtum. Wo haben sie gelernt, Felsen für Gebäude zu bearbeiten und zu nutzen? Die Bantus haben es schließlich nie zuvor getan. Plötzlich war die Kunst voll entwickelt und stand in Hochblüte, und dann – statt sich zu verfeinern – verfiel sie und starb aus.« Mit gespieltem Widerstreben zog sich Louren langsam vor ihren Attacken zurück, aber er stellte sich zur letzten Schlacht, als meine eigene Theorie eines Eindringens vom Westen statt vom Osten her zur Sprache kam. Louren hatte die Ansichten und Argumente all meiner Kontrahenten und Kritiker gelesen und wiederholte sie jetzt. Nach der allgemein anerkannten Theorie erfolgte der Eintritt von der Sofala-Küste oder der Mündung des Sambesi. Ich hatte dagegen die Theorie aufgestellt – die auf Beweisen der frühen Texte und umfangreicher eigener Ausgrabungen basierte –, daß ein mediterranes Volk das Mittelmeer durch die Säulen des Herkules verlassen hatte, allmählich die Westküste Afrikas hinuntergesegelt war und wahrscheinlich Handelsstationen an der Gold-, Elfenbein- und der nigerianischen Küste errichtet hatte, bis ihre südlichen Expeditionen sie in eine unbewohnte Gegend führten. Ich vermutete eine Flußmündung, die seitdem längst ausgetrocknet oder heute in Verlauf und Tiefe verändert war. Ein Fluß, der die damaligen riesigen Seen von Makarikari, Ngami und andere entwässerte – Seen, die längst verschwunden sind, geschrumpft in der fortschreitenden Dürre des südlichen Afrika. Sie befuhren den Fluß, wahrscheinlich den Cune-
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ne oder den Oranje, bis hin zu seiner Quelle, und von dort schickten sie ihre Metallurgen über Land, die die alten Minen von Manica entdeckten – und wer weiß, ob nicht auch die Diamanten im Kies der Seen und Flüsse – und bestimmt jagten sie die großen Elefantenherden. Genügend Reichtum also, um den Bau einer Stadt, einer mauerumgebenen Festung und Handelsstation zu rechtfertigen. Wo würden sie diese Stadt angelegt haben? Sicherlich am Ende des Wasserweges. An den Ufern des letzten Sees. Des Makarikari vielleicht? Oder an dem See, der die gegenwärtigen Grenzen der großen Salzmulde überfloß. Sally und Louren stritten mit wachsender Schärfe und Bitternis. Dann plötzlich gab Louren auf, und im nächsten Augenblick freuten wir uns alle drei auf die Entdeckung der versunkenen Stadt von Makarikari. »Der See müßte mindestens 75 Kilometer über die Grenzen der jetzigen Mulde hinaus gereicht haben«, meinte Louren. »Noch vor hundert Jahren beschrieb Burchell den Ngami-See als ein Landmeer, und heute kann man mühelos über die Pfütze springen. Allem Anschein nach ging der alte See bis zum Fuß der Hügel, wo unsere Ruinen liegen. Wir haben eine Fülle von Beweisen für die fortschreitende Dürre und Trockenheit im südlichen Afrika, man braucht nur Cornwallis Harris’ Beschreibung der Wälder und Flüsse zu lesen, die nicht mehr existieren.« »Ben.« Sally ergriff aufgeregt meinen Arm. »Die Halbmondform der Stadt, erinnerst du dich, wie ich daran herumgebastelt habe? Es könnte die Form des alten Hafens sein, mit der Stadt dahinter längs der Küste.« »Mein Gott«, flüsterte Louren. »Ich kann kaum bis morgen warten.« Mitternacht war längst vorbei, als Louren und Sally endlich in ihre Zelte gingen. Ich wußte, ich würde nicht schlafen kön-
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nen, deshalb verließ ich das Lager, ging an dem Feuer vorbei, um das herum unsere Diener in Decken eingewickelt lagen, und schritt hinaus auf die Oberfläche der Mulde. Die Sterne erhellten das Salz zu einem merkwürdigen Grau, es knirschte und knackte unter jedem meiner Schritte. Ich wanderte lange. Nur einmal hielt ich an, um dem fernen Brüllen eines Löwen vom Rande des Busches zu lauschen. Als ich ins Lager zurückkehrte, brannte in Sallys Zelt noch Licht und ihre Silhouette war gegen die blasse Leinwand vergrößert – ein großes, dunkles Porträt meiner Liebe. Sie las, mit gekreuzten Beinen auf ihrem Feldbett sitzend, aber während ich noch hinschaute, reichte sie hinüber und löschte die Laterne. Ich wartete eine Weile, um Mut zu sammeln, dann ging ich zu ihrem Zelt, während mein Herz sich aus dem ungestalten Brustkasten herauszuhämmern schien. »Sal?« »Ben?« Sie antwortete leise auf mein Flüstern. »Darf ich reinkommen?« Sie schien zu zögern. »All right – für eine Minute.« Ich trat ins Zelt. In der Düsternis war ihr Nachthemd nur ein blasser Flecken. Ich tastete nach ihrem Gesicht und berührte ihre Wange. »Ich wollte dir sagen, daß ich dich liebe«, sagte ich leise und hörte, wie sie den Atem anhielt. Als sie antwortete, klang ihre Stimme sanft. »Ben«, flüsterte sie. »Du lieber Ben.« »Ich möchte heute nacht bei dir sein.« Und es schien mir ein Bedauern in ihrer Stimme, als sie erwiderte: »Nein, Ben. Alle würden es erfahren. Das will ich nicht.«
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Am Morgen waren alle in gehobener Stimmung. Am Frühstückstisch wurde gelacht. Die Diener alberten, als sie das Lager abbauten und aufs neue die Lastwagen beluden. Um sieben Uhr hatten wir die Straße verlassen und folgten dem Rand der Mulde. Der Landrover führte den Konvoi an, und die Laster folgten unserer Spur durch Buschwerk, üppiges Gras und trokkene Senken. Wir waren knapp eine Stunde gefahren, als ich zwischen den Bäumen vor uns ein Aufblitzen fahler Bewegung wahrnahm; drei stattliche Gemsantilopen erschienen auf der offenen Mulde und liefen schwerfällig hintereinander von uns fort. Das fahle Blaurot ihres Fells und die geschnörkelten schwarz-weißen Gesichtsmasken hoben sich deutlich von dem Grau der Muldenoberfläche ab. Louren stieg auf die Bremse des Landrover. Mit der Routine des Profis legte der alte Matabele-Gewehrträger die große »375 Magnum Holland and Holland« in Lourens Hand, und fort war er, lief geduckt hinter dem Grasgürtel am Rand der Mulde. »Will er sie töten?« fragte Sally mit ihrer Klein-MädchenStimme. Ich nickte, und sie fuhr fort: »Warum denn bloß?« »Sowas tut er eben gern.« »Aber sie sind so schön«, protestierte sie. »Ja«, stimmte ich zu. Draußen in der Mulde, etwa fünfhundert Meter vom Landrover entfernt, waren die Gemsantilopen witternd stehengeblieben, die langen, schlanken Hörner aufgerichtet. »Was macht er?« Sally zeigte auf Louren, der immer noch am Rand der Mulde entlanglief. »Er hält die Spielregeln ein«, erklärte ich. »Man muß wenigstens 400 Meter von einem Fahrzeug entfernt sein, bevor man schießen darf.« »Wie anständig«, murmelte sie, indem sie sich auf die Lippen biß und von Louren zu den fernen Gemsantilopen blickte.
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Dann war sie plötzlich aus dem Landrover gesprungen und auf die Motorhaube gestiegen. Sie legte die Hände an den Mund und schrie: »Rennt, ihr Idioten. Rennt, verdammt nochmal!« Sie schnappte ihren Hut und wedelte ihn über dem Kopf, johlend und auf der Haube auf- und abspringend. Die Gemsantilopen stürzten erschrocken davon, diagonal von uns im Rudel fortgalloppierend. Ich blickte nach Lourens kleiner Gestalt und sah, wie er in die Hocke ging und den Kopf über das Zielfernrohr beugte. Das Gewehr zuckte, Rauch quoll aus der Mündung – aber es dauerte eine oder zwei Sekunden, bevor der flache Knall des Schusses uns erreichte. Draußen in der Mulde glitt die vorderste Antilope zu Boden und rollte im aufwehenden weißen Staub. Louren feuerte noch einmal, und das zweite Tier fiel nieder, mit den Beinen in der Luft strampelnd. Die letzte Antilope rannte allein weiter. Hinter mir sagte der alte Gewehrträger in Sindebele zu dem anderen: »Höh! Der ist viel Mann.« Sally kletterte von der Haube herunter. Sie saß schweigend da, während ich zu dem wartenden Louren fuhr. »Warum haben Sie nicht alle drei getötet?« fragte sie ihn sachlich und ohne Vorwurf. »Man darf nur zwei mit einer Lizenz.« »Gott«, sagte Sally mit einer Stimme, die jetzt vor Zorn und Empörung rauchte, »wie unglaublich rührend. Es geschieht selten, daß man einen echten Gentleman trifft.« Louren fuhr uns hinaus zu den toten Tieren. Während die Boys die Kadaver häuteten und zerlegten, blieb Sally mit abgewandtem Gesicht auf dem Hintersitz, den Hut tief in die Stirn gezogen, die Augen in ein Buch geheftet. Ich stand neben Louren im Sonnenlicht. »Du hättest mir sagen können, daß wir so eine bei uns auf dem Trip haben«, sagte Louren bitter. »Muß ich bis zum Schluß bereuen, daß ich dir nachgegeben und sie mitgenom-
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men habe? Ich habe verdammt Lust, sie in einem der Laster nach Maun zurückzuschicken.« Der Gedanke war so abwegig, daß ich nicht mal zusammenzuckte, und Louren sprach gleich weiter: »Sie ist deine Assistentin, versuch sie unter Kontrolle zu halten, ja!« Ich ging weg, damit er sich von seiner Wut erholen konnte, und nahm die Kartentasche vom Sitz neben Sally. Sie schaute nicht von ihrem Buch auf. Ich schritt um das Fahrzeug und breitete die große aeronautische Karte auf der Haube des Landrover aus. Innerhalb von zwei Minuten war Louren neben mir. Navigation ist eine seiner besonderen Vorlieben, er hält sich da für sehr kompetent. »Wir verlassen die Mulde hier«, er zeigte auf die Stelle, wo ein trockenes Flußbett in den östlichen Ausläufer der Mulde mündete, »und stoßen weiter nach dem Kompaß vor.« »Welchen Boden werden wir haben?« »Sand wahrscheinlich. Ich bin noch nie dagewesen.« »Fragen wir die Fahrer«, schlug ich vor. »Gute Idee.« Louren rief die zwei herüber, und die Gewehrträger, die ihre Arbeit beendet hatten und den Rest nun den Camp-Boys überließen, kamen dazu. »Hier wollen wir hin.« Louren zeigte es auf der Karte. »Diese Hügel hier. Ein Name steht nicht da, aber sie verlaufen parallel zum Rand der Mulde, so.« Die Fahrer brauchten einige Zeit, um sich auf der Karte zurechtzufinden, dann ging eine merkwürdige Veränderung mit beiden vor. Ihre Züge erstarrten zu leeren Masken des Unverständnisses. »Welche Art Land liegt zwischen der Mulde und den Hügeln?« fragte Louren. Er hatte die Veränderung an ihnen nicht gemerkt. Die Fahrer tauschten verstohlene Blicke aus. »Nun?« fragte Louren. »Ich kenne das Land nicht. Ich habe nie von diesen Hügeln
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gehört«, murmelte Joseph, der ältere Fahrer, aber dann verriet er sich selbst. »Außerdem gibt es da viel Sand und Flußbetten, die man nicht überqueren kann.« »Es gibt kein Wasser«, stimmte David, der zweite Fahrer zu, »ich bin nie dagewesen. Ich habe auch nie von diesen Hügeln gehört.« »Was suchen die weißen Männer?« fragte der alte Gewehrträger in Sindebele. Offenbar verstand er nichts von Karten. »Sie wollen nach Katuba Ngazi«, erklärte der Fahrer schnell. Sie waren mittlerweile alle davon überzeugt, daß weder Louren noch ich die Sprache verstanden und sie vor uns frei sprechen konnten. Zum ersten Male hörte ich jetzt den Namen. Katuba Ngazi – Die Bluthügel. »Was habt ihr ihnen gesagt?« wollte der Gewehrträger wissen. »Daß wir den Ort nicht kennen.« »Gut«, erklärte der Gewehrträger. »Sagt ihnen, daß es dort keine Elefanten gibt, sondern daß Großwild südlich der Mulde ist.« Der Fahrer teilte uns pflichtschuldig die Nachricht mit und war enttäuscht, daß wir so gar keine Bestürzung zeigten. »Fein«, sagte Louren freundlich zu ihnen, »dann lernt ihr heute was Neues kennen: ihr werdet zum ersten Male diese Hügel sehen.« Er rollte die Karte zusammen. »Jetzt ladet das Fleisch auf, wir wollen weiterfahren.« In fünf Minuten war die Atmosphäre der Expedition vollkommen verändert. Sally und das gesamte Personal waren zutiefst bedrückt. Das Lächeln und die Albereien waren vorüber, die Gesichter wirkten verschlossen, man stand in murmelnden Gruppen. Das Arbeitstempo sank fast auf den Nullpunkt; das Aufladen der zerlegten Gemsantilopen dauerte fast eine halbe Stunde. Unterdessen führte ich Louren außer Hörweite von den Fahrzeugen und berichtete ihm schnell über die Unterhaltung zwischen den afrikanischen Männern.
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»Bluthügel! Wunderbar!« sagte er begeistert. »Sie wissen also fast mit Sicherheit von den Ruinen – vielleicht liegt ein Tabu darauf.« »Ja«, stimmte ich zu. »Aber jetzt müssen wir mit Sabotageversuchen rechnen. Schau sie dir an.« Wir beobachteten die fast zeitlupenhaften Bewegungen des Personals. »Ich schätze, wir werden länger zu den Bluthügeln brauchen als vorgesehen.« Wir verließen die Mulde wieder, denn der Boden ist trügerisch unter der Kruste mit weichen Stellen, und folgten dem sandigen, aber festen Grund am Rand. Wir überquerten eine steile Senke und fuhren etwa zwanzig Minuten weiter, als wir merkten, daß die beiden Lastwagen nicht folgten. Nach zehn Minuten des Wartens, während Louren und ich vor Ungeduld kochten, drehten wir um und fuhren zu dem trockenen Flußbett zurück. Ein Lastwagen hing halb über dem Rand der Senke, ein Vorderrad und ein Hinterrad in der Luft, dafür den Bauch schwer auf dem Grund. Der andere Laster war in der Nähe geparkt. Vierzehn erwachsene Männer saßen oder standen herum, ohne den geringsten Versuch zu machen, den gestrandeten Laster zu befreien. »Joseph«, Louren rief den Fahrer. »Wie ist das passiert?« Joseph zuckte gleichgültig die Schultern, aber er konnte nur mit Mühe seine Befriedigung verbergen. »All right, Gentlemen, holen wir ihn raus«, schlug Louren mit böser Ironie vor. Trotz der gespielten Anstrengungen aller vierzehn Männer und Josephs beherztem Gangwechseln, verzweifeltem Hochtreiben und Abwürgen des Motors, hing der Laster eine halbe Stunde später noch immer über dem Rand der Senke. Schließlich kletterten sie alle aus der Senke hoch und sahen Louren und mich interessiert an. »Okay, Ben?« wandte sich Louren an mich, während er sein
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Buschjackett auszog. »All right, Lo«, stimmte ich zu. Es war eine Freude zu sehen, wie gut Louren in Schuß war. Sein Körper wirkte felsenhart und frei von Fettgewebe. An seinen ein Meter neunzig trug er eine Muskelmasse, deren Umrisse klar unter der Haut hervortraten. »Erst das Vorderteil«, schlug Louren vor. Da der Laster entladen und der Benzintank etwa halb voll sein durfte, schätzte ich das Vorderteil auf etwas über zwanzig Zentner. Ich ließ meine Arme kreisen, während ich das Problem durchdachte, und lockerte meine kalten Muskeln. Die Diener schauten verdutzt, einer von ihnen kicherte. Sogar Sally legte ihr Buch beiseite und sah uns gespannt zu. Louren und ich gingen zur Vorderseite des Lasters und beugten uns herunter, die Hände sorgfältig anlegend, mit eingedrückten Knien, die Beine leicht gespreizt. »Bis zum bitteren Ende, Partner?« »Bis zum bitteren Ende, Lo.« Wir begannen zu heben. Ich fing langsam an, nur die Schlaffheit in den Muskeln verringernd, die Straffung allmählich steigernd und sie anwachsen lassend in Schultern, Schenkeln und Bauch. Es war eine tote, reglose Masse, und ich begann die Reserven zu verbrauchen; die Spannung wandelte sich in Schmerz, und mein Atem versengte mir fast die Kehle. »Jetzt«, keuchte Louren neben mir, und ich stemmte mich mit aller Kraft dagegen, während Sterne und Feuerräder vor meinen Augen kreisten. Wir schafften es, und ich hörte das Aufstöhnen und die verblüfften Kommentare der Zuschauer. Wir hoben das Vorderteil des Lasters aus der Senke, gingen nach hinten und taten dort das gleiche. Dann fingen wir an zu lachen, ein wenig zitterig zuerst, dann aber immer lauter und herzhafter. Louren legte den Arm um meine Schulter und führ-
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te mich zu dem Zug unserer Gefolgsleute, die betreten und verlegen dreinschauten. »Ihr seid«, sagte Louren immer noch lachend, »ein Haufen schwacher alter Waschweiber und kichernder Gänse. Übersetze ihnen das, Joseph.« Ich hörte, daß Joseph ihnen diese Schmeichelei korrekt wiedergab. »Und was dich betrifft, Joseph, du bist ein Narr.« Louren schritt auf Joseph zu, ein schneller Tanzschritt, und schlug ihm mit der offenen Hand gegen die Kopfseite. Es klatschte erschreckend laut, und die Kraft des Schlags wirbelte Joseph einmal um die eigene Achse, bevor sie ihn zu Boden warf. Etwas benommen setzte er sich auf, ein dünnes Blutrinnsal lief ihm aus dem Mundwinkel, wo die Zähne die dicke Unterlippe zerbissen hatten. »Ihr seht, daß ich immer noch lache«, erklärte Louren seinem erschreckten Publikum. »Ich bin nicht einmal ärgerlich. Aber denkt mal darüber nach, was dem passieren kann, der mich wirklich ärgert.« Der Laster wurde eifrig beladen, und wir fuhren weiter. »Gut«, sagte Sally. »Für den Rest des Trips können wir der Kooperation völlig sicher sein. Warum hat der große weiße Bwana nicht eine Nilpferdpeitsche benutzt, statt sich die Hände zu beschmutzen?« »Ich bin sicher, es hat Louren keinen Spaß gemacht, den Mann zu schlagen, Sal. Aber der hat den Laster absichtlich in den Graben gesetzt. Und wir haben nur noch dreieinhalb Tage bis zu den Bluthügeln, wir können uns keine Mätzchen mehr leisten.« Sally vergaß sofort ihre Sorge um Joseph. »Bluthügel«, wiederholte sie aufgeregt. »Mein Gott, es beschwört Visionen von Menschenopfern herauf und –« »Eher meint es wohl die rote Farbe der Klippen«, dämpfte ich ihre Begeisterung.
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»Und diese Tabu-Sache!« Sie ignorierte mich. »Es muß wegen der Ruinen sein. O Gott – Tempel, vollgestopft mit Schätzen, Relikten und schriftlichen Dokumenten einer ganzen Zivilisation, Gräber, Waffen –« »Beachten Sie die unvoreingenommene und absolut wissenschaftliche Haltung meiner Assistentin«, sagte ich zu Louren. »Es ärgert mich zu Tode, aber ausnahmsweise empfinde ich wie sie«, gestand Louren ein.
Es war zwei Uhr nachmittags, bevor wir am östlichen Ausläufer der Mulde ankamen, von wo aus wir nach dem Kompaß zu den Hügeln vorstoßen wollten. An diesem Tag würden wir sie nicht mehr erreichen. Der Boden war schwierig, Sand hemmte die Räder der Fahrzeuge und drosselte unsere Geschwindigkeit zu einem Stampfen in niedrigem Gang. Ein halb dutzendmal blieben die Laster stecken und mußten mit dem Vierradantrieb des Landrovers herausgezogen werden. Jedesmal gab es überschwengliche Entschuldigungen des Fahrers und der Mannschaft. Der Sand hatte jede Spur der jüngsten Regenfälle aufgesogen, aber sie wirkten nach in dem neuen Grün der Dornenbüsche und Akazien – und aufregender noch in den wilden Blumen, die überall in dichten Büscheln standen. Ihre Samen und Knollen hatten während drei langer Dürrejahre brach gelegen und auf die Zeit der Fülle gewartet – und jetzt brannte das karminrote Feuer der King Chaka hell zwischen Sternlilien, Heidekraut und goldenen Gasanien. Bei Sonnenuntergang waren wir immer noch fünfzehn Meilen von den Hügeln entfernt. Als ich in die höchsten Äste einer flachwipfeligen Akazie kletterte, konnte ich ihre niedrigen Um-
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risse in den letzten schrägen Strahlen der Sonne am östlichen Horizont sehen. Ich saß in der Gabel des Stammes und betrachtete sie, bis die Sonne versunken war und die Hügel mit dem dunklen Himmel verschmolzen. Eine seltsame Stimmung ergriff mich. Eine mystische Ahnung von Schicksalhaftigkeit erfüllte mich mit tiefer Melancholie – eine Ahnung von Beklommenheit und Unheil. Als ich ins Lager hinunterstieg, saß Louren allein am Feuer, starrte in die Flammen und trank Whisky. »Wo ist Sally?« fragte ich. »Zu Bett gegangen. Beleidigt. Wir hatten eine Diskussion über harten Sport und das Verprügeln von Schwarzen.« Vom Feuer der Diener kam kein Gesang. »Ich bin hundemüde«, sagte Louren schließlich und stand auf. »Ich will nur eben Larkin anrufen. Ich habe versprochen, mich jeden zweiten Abend zu melden. Also bis morgen früh, Ben.« Ich beobachtete ihn, wie er zum Landrover hinüberging und den Zweiweg-Funkapparat einschaltete. Ich hörte Larkins trunkene Stimme durch das Summen und Knistern der Störungen. Nach ein paar Minuten stand ich auf und ging langsam vom Lagerfeuer fort. Ruhelos und immer noch in meiner merkwürdigen Vorahnung von Unheil, wanderte ich wieder in die Dunkelheit. Die Kadaver der Gemsantilopen hatten ein Rudel Hyänen zum Lager gelockt, ich hörte sie unter den Dornenbäumen kichern und kreischen. Ich hielt mich in der Umgebung des Lagers, ging vorbei an Sallys Zelt, wo ich ein wenig verharrte, um Trost aus ihrer Nähe zu schöpfen und schritt dann weiter zum Feuer der Diener. Meine Füße gaben auf dem weichen Sand keinen Laut. Einer der alten Gewehrträger sprach gerade, als ich mich näherte. Alle anderen, die im Kreis um das niedrige Feuer hockten, hörten ihm aufmerksam zu. Seine Worte klangen deutlich zu mir herüber.
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»Dieses Unheil muß von der Erde und aus dem Gedächtnis der Menschen getilgt werden, für immer.« Es waren die Worte Timothy Magebas – die gleichen Worte, in einer anderen Sprache. Ich starrte gebannt auf die gefurchten und verwitterten Züge des alten Matabele. Als ob er meinen forschenden Blick gespürt hätte – er schaute auf und sah mich im Schatten dastehen. Er warnte sie. »Seid vorsichtig, die Spinne ist hier.« So nannten sie mich wegen meines kleinen Körpers und meiner langen Glieder. Ich drehte mich um und ging, aber die Worte des alten Mannes blieben haften und steigerten noch meine Unruhe. Sallys Zelt war dunkel, Lourens ebenso. Ich ging ins Bett, lag aber bis tief in die Nacht hinein wach, lauschte auf die Hyänen. Eins stand fest: bis zum Mittag des nächsten Tages würden wir wissen, ob die Muster auf der Fotografie natürlichen Ursprungs waren oder von Menschenhand stammten. Mit diesem Gedanken schlief ich endlich ein.
Am nächsten Morgen um zehn Uhr konnten wir vom Vordersitz des Landrovers die Hügel sehen. Orangerot leuchteten sie über den Gipfeln der Akazien, zur Mitte des Gesichtsfeldes leicht ansteigend und zu beiden Seiten hin abfallend. Ich übernahm das Steuer von Louren, während er über Karte und Fotografie brütete und mich zum höchsten Punkt der Klippen hin dirigierte. Auf der Klippensilhouette stand eine Gruppe riesiger Euphorbia-Bäume – die auch auf der Fotografie deutlich zu erkennen waren. Louren orientierte sich an ihnen. Die stark gefurchten, verwitterten Klippen waren zwischen siebzig und hundert Meter hoch; fast senkrecht stiegen sie an.
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Später stellte ich fest, daß es sich um eine Art verhärteten, reich mit Mineraloxyden pigmentierten Sandstein handelte. Unterhalb der Klippen wuchs eine kleine Waldung aus großen Bäumen; es mußte dort also, um diese Riesen zu nähren, gestautes Grundwasser geben. Ihre Wurzeln wanden sich wie erregte Pythonschlangen an der Oberfläche die Klippenfront hoch, und ihr dichtes, dunkelgrünes Laub war eine willkommene Abwechslung von dem faden, grünlichen Grau der Dornenbüsche und Akazien. Im Umkreis von etwa einer halben Meile lag offenes Gelände mit niedrigem Strauchwerk und blassem Gras, durch das ich den Landrover steuerte, während das Schweigen ständig gespannter wurde. Näher schoben wir uns an die ragenden roten Klippen heran, bis Sally, die ebenso enttäuscht und verärgert war wie wir, schließlich ihrem Unmut Luft machte: »Wir müßten jetzt innerhalb der großen Mauern der Haupteinfriedung sein – falls es eine gegeben hat.« Keine Spur einer Stadt, keinen einzigen behauenen Steinblock, keine Erdwölbung, nicht den geringsten Umriß einer Mauer oder eines Turms. Es war jungfräulicher afrikanischer Busch, Hügelung, unberührt und ungezeichnet von Menschenhand. »Seid ihr sicher, daß dies die richtige Stelle ist?« fragte Sally niedergeschlagen; wir antworteten nicht. Die Diener kletterten aus den Lastwagen heraus, spähten zu den Klippen hoch und sprachen in gedämpftem Ton miteinander. »All right«, sagte Louren. »Während sie das Lager aufschlagen, erkunden wir das Gebiet. Ich gehe in diese Richtung. Ihr beide geht in die andere Richtung – und, Ben, nimm ein Gewehr mit.« Wir bahnten uns einen Weg am Fuß der Klippen längs durch die Waldung. Drei oder vier Meilen vom Lager entfernt machten wir Rast auf einem Sandsteinblock, der aus der Klippenwand gestürzt war.
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»Ich könnte heulen«, sagte Sally. »Wirklich.« »Ich weiß. Mir geht’s genauso.« »Aber die Fotografie. Verdammt, da war doch wirklich etwas drauf!« »Ich weiß nicht. Offenbar irgendeine optische Illusion. Die Schatten der Klippen und Wolken vielleicht.« »Aber diese Muster!« beharrte sie. »Sie sind geometrisch und symmetrisch.« »Das Licht kann merkwürdige Täuschungen bewirken, Sal«, sagte ich. »Vergiß nicht, dieses Foto ist um sechs Uhr abends aufgenommen worden – beinahe Sonnenuntergang. Schattenwurf der niedrigen Sonne, das gibt alle möglichen Effekte.« Sie sah wirklich aus, als wollte sie in Tränen ausbrechen. Scheu legte ich meinen Arm um sie. »Es tut mir leid«, sagte ich. »Komm, Ben. Laß uns in einem Bogen zum Lager zurückgehen, weg von den Klippen. Vielleicht ist da drüben was.« Wir stapften langsam durch die Hitze. Auch hier Blumen, geschäftige Bienen krochen von Blüte zu Blüte, dicke gelbe Pollenhöschen an den Hinterbeinen. Wir fanden eine vom Regen ausgewaschene Hohlsenke, obwohl keine Spur von Nässe übriggeblieben war. Ich kletterte hinunter und untersuchte die offen liegenden Stein- und Erdschichten. Einen Meter von der Oberfläche waren die Kiesel rund und von Wasser abgeschliffen. Als ich ein paar aufhob, fand ich in dem halbgeformten Sandstein eine verkrustete Muschelschale. »Das beweist zumindest ein Teilchen unserer Theorie. Irgendwann war dies das Bett eines Sees – schau.« Eilig kletterte Sally zu mir herunter. »Was ist das?« »Eine Art der ›unionidae‹, afrikanische Süßwassermuschel.« »Ich wünschte«, sagte Sally, »es wäre ein wenig aufregender.« Sie ließ die alte Schale in den Sand fallen.
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Ich gab ihr recht und kletterte aus der Senke. Zu meiner Entschuldigung kann ich nur anführen, daß mein Denkvermögen durch die tiefe Enttäuschung und die kürzliche physische Erregung mit Sally blockiert war. Denn normalerweise übersehe ich nicht gleich vier Hinweise in einer einzigen Stunde. Wir gingen, ohne uns umzusehen, weiter. Das Lager war fertig aufgeschlagen, als Sally und ich verschwitzt und staubig ankamen und uns zu einem Mittagessen aus Dosenschinken und Windhoek-Bier niederließen. Wir aßen schweigend, bis Louren dann sagte: »Ich habe Larkin über Funk alarmiert, als ihr weg wart. Er schickt morgen einen Hubschrauber. Wir machen eine letzte Erkundung aus der Luft. Das wird’s endgültig entscheiden. Wenn sich nichts tut, fliege ich ab. Es braut sich einiges in Johannesburg zusammen, und es gibt nur einen Passagiersitz, fürchte ich. Ihr beide müßt leider den beschwerlichen Weg zurückfahren.« In dem Augenblick traf eine Abordnung ein, angeführt von Joseph, um uns mitzuteilen, daß irgendeine dumme Person die Hähne an vier der Wassertanks offen gelassen hatte. Wir hätten für den Rest des Trips also noch fünfunddreißig Gallonen Wasser für siebzehn Leute. »Deshalb«, fügte Joseph mit sichtlichem Vergnügen hinzu, »müssen wir diesen Ort morgen verlassen und zur nächsten Wasserstelle an der Straße nach Maun zurückfahren.« Es fielen ein paar unwillige Bemerkungen über diesen jüngsten Sabotageakt, aber keiner von uns brachte einen richtigen Zorn zustande. »All right, Joseph«, stimmte Louren resigniert zu. »Brecht das Lager morgen früh ab. Wir fahren noch vor Mittag los.« »Ich weiß nicht, was ihr beide am Nachmittag vorhabt«, Louren zündete beim Sprechen eine Zigarre an, »aber mir ist heute morgen bei meinem kleinen Erkundungsgang eine Elefantenfährte aufgefallen. Ich nehme den Landrover und die
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Gewehrträger. Macht euch keine Sorge, wenn ich heute nacht nicht zurückkomme, wir könnten an der Fährte hängenbleiben.« Ich beobachtete den Landrover, wie er an den Klippen längs davonfuhr, bevor Teh Sally vorschlug: »Ich will versuchen, einen Pfad nach oben zu finden – kommst du mit?« »Verzichte auf mich, Ben«, antwortete sie. »Ich möchte am Nachmittag ein bißchen zeichnen.« Ich verbarg meine Enttäuschung, so gut es ging, und machte mich auf den Weg. Nach einer halben Meile hatte ich einen Wildpfad gefunden, der in eine der buschüberwachsenen Rinnen in der roten Felswand führte. Es war ein mühsamer Aufstieg, während mir die Sonne auf den Rücken brannte und vom Fels in mein Gesicht zurückstrahlte. Meine Arme zerkratzt von dem dornigen Gestrüpp und mit schweißnassem Hemd kam ich nach gut vierzig Minuten oben an. Ich fand am vorderen Rand der Klippen unter dem weiten Schatten einer riesigen Euphorbia einen günstigen Aussichtspunkt und begann sofort, mit dem Fernglas nach irgendwelchen Ruinenspuren Ausschau zu halten. Das Dornenbuschgelände unter mir war ziemlich offen und kaum mit Gras bestanden; eine Spur menschlicher Behausung oder Kultivierung war da nirgends. Ich hätte eigentlich nichts anderes erwarten dürfen und richtete die Gläser auf das Lager tief unten. Ein Bantu hackte Feuerholz. Weiter vom Lager entfernt am Rand der Waldung machte ich Sallys rosa Bluse aus. Sie hatte offenbar jede Hoffnung auf eine bedeutsame Entdeckung aufgegeben und versuchte das Beste aus der Expedition zu machen. Ich beobachtete sie lange Zeit – wie könnte ich sie wohl ganz für mich gewinnen? Ich hatte eine Nacht mit ihr verbracht, aber ich war nicht so naiv anzunehmen, daß dies bei einer so welt-
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gewandten, hochintelligenten und ungewöhnlich gebildeten jungen Frau eine unsterbliche Leidenschaft bedeutete. Meine Sally hatte das gleiche Spiel sicherlich mit anderen Männern gespielt, bevor Dr. Ben mit großen Augen in ihr Bett stolperte; und gewiß war es mehr geistige Achtung als Begeisterung für meinen Körper gewesen, was sie dazu bewegt hatte; vielleicht auch ein wenig Mitleid und perverse Neugier. Ich mußte nur weiter daran arbeiten, um Respekt und Mitleid in etwas Tieferes und Dauerhaftes zu verwandeln. Ein schönes, beruhigendes Gefühl des Friedens überkam mich, als ich da auf den hohen Klippen saß; langsam erkannte ich, daß diese ganze Reise sich doch gelohnt hatte. Ich erhaschte eine zuckende Bewegung im Augenwinkel und drehte langsam den Kopf. Etwa zwei Meter von mir entfernt saugte ein Sonnenvogel Nektar aus den Blüten einer wilden Aloe; sein metallisch grüner Kopf schimmerte, als er den langen gebogenen Schnabel in die feuerroten Blüten tauchte. Ich freute mich sehr über ihn, und als er mit pfeilschnellen Flügeln fortgeflogen war, hatte ich irgendwie das Gefühl, etwas verpaßt zu haben. Das Gefühl wurde stärker, beunruhigte mich direkt; da war irgendwo eine Botschaft für mich, aber sie kam nicht durch. Ich entspannte mein Gehirn und spürte, daß die Botschaft unmittelbar an der Grenze meines Bewußtseins war. Noch eine Sekunde, und ich mußte sie haben. Dumpf in der heißen, atemlosen Stille des Nachmittags zerriß doppeltes schweres Gewehrfeuer meine Konzentration. Ich setzte mich auf und lauschte weitere dreißig Sekunden – dann kam es wieder, und wieder. Louren hatte offenbar seinen Elefanten gefunden. Ich richtete das Fernglas auf Sally. Sie hatte es auch gehört und stand, in den Busch starrend, neben ihrer Staffelei. Ich stand ebenfalls auf und begann den Abstieg. Ich wurde diese Unruhe nicht los, sie wurde noch bedrängender. Hier ist etwas,
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dachte ich, etwas Seltsames und Unerklärliches. »Du und ich haben Glück, mein Freund«, hatte Timothy Mageba mir einmal gesagt. »Wir sind von den Geistern gezeichnet und besitzen das innere Auge, das nach jenseits sehen, und das Ohr, das die Geräusche des Schweigens auffangen kann.« Es war jetzt kühl in der schattigen Rinne, aber mein Hemd war noch feucht von Schweiß. Ich spürte eine Gänsehaut, allerdings nicht bloß von der Kälte. Ich begann zu laufen. Ich wollte zurück ins Lager und zu Sally. Zu Abend aßen wir dünn geschnittenes und mit scharfer Pfeffersauce übergossenes Elefantenherz. Das Bier war, wie versprochen, eiskalt, und Louren war guter Stimmung. Er hatte eine erfolgreiche Jagd hinter sich, die ihn für die anderen Enttäuschungen vollauf entschädigte. Bei seinem Zelt lagen vier lange gelbliche Stoßzähne aus Elfenbein. Wenn Louren charmiert, ist er unwiderstehlich. Obwohl Sally zunächst bei ihrer mißbilligenden Haltung bleiben wollte, gab sie bald seinem Charme nach und lachte mit, als Louren den Toast ausbrachte: »Auf die Stadt, die nie existiert hat, und auf den Schatz, den wir nicht gehoben haben.« Ich ging ein wenig betrunken zu Bett und hatte seltsame Träume – aber am Morgen wachte ich mit klarem Kopf auf und mit dem unbestimmten Gefühl, daß mir heute etwas Gutes widerfahren würde.
Eine Stunde vor Mittag kam der Hubschrauber, herbeisignalisiert von den Rauchfahnen ölgetränkter Lumpen. Zwanzig Minuten später war Lourens notwendigstes Gepäck im Hubschrauber, und während der Pilot den Motor anwarf, verab-
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schiedeten wir uns. »Seh dich wieder im guten, alten Johannesburg. Paß mir auf die Stoßzähne auf.« »Gute Reise, Lo.« »Bis zum bitteren Ende, Partner?« »Bis zum bitteren Ende, Lo.« Dann duckte er sich unter den wirbelnden Rotor und kletterte auf den Passagiersitz des Hubschraubers, der in die Luft stieg wie eine fette Hummel und knapp über die Baumwipfel ratterte. Hummel? Biene? Biene! Mein Gott, das hatte mich gekitzelt. Bienen, Vögel und Affen! Ich schnappte Sallys Arm, meine Erregung erschreckte sie. »Sally, wir bleiben.« »Was?« Sie sperrte den Mund auf. »Wir haben ein paar Dinge übersehen.« »Zum Beispiel?« »Die Vögel und die Bienen«, sagte ich ihr.
Wir teilten den Wasservorrat in achtundsechzig zu einundneunzig Liter auf. Damit hatte jeder Diener zwei Tage lang über zwei Liter pro Tag – genug, um sicher zurückzukommen. Sally und ich hatten für zehn Tage viereinhalb Liter täglich. Ich behielt den Landrover, vergewisserte mich, daß die Benzintanks voll und einhundertzehn Liter in Reservekanistern waren. Außerdem behielt ich das Funkgerät, ein Zelt, Bettzeug, eine Auswahl an Arbeitsgeräten einschließlich Spaten, Axt und Spitzhacke, Seile, Gaslaternen und Reservezylinder, Taschenlampen und Batterien, Konserven, Lourens Gewehr und ein halbes Dutzend Patronenschachteln, dazu Sallys und meine
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persönliche Habe. Der Rest der Ausrüstung wurde in die zwei Lastwagen gepackt. Als alle Diener eingestiegen waren, nahm ich den alten Matabele-Gewehrträger beiseite. »Mein alter und verehrter Vater«, sagte ich in Sindebele, »ich habe dich von einem großen Geheimnis sprechen hören, das an diesem Ort lebt. Ich bitte dich jetzt wie ein Sohn und als ein Freund, mir davon zu erzählen.« Er brauchte mehrere Sekunden, seiner Überraschung Herr zu werden. Dann sprach ich einen Satz aus, den Timothy Mageba mich gelehrt hatte. Es ist eine geheime Formel, ein besonderes Erkennungssignal für die in innerste Geheimnisse Eingeweihten. Der alte Mann keuchte. Er konnte mich jetzt weder anzweifeln, noch meine Bitte ignorieren. »Mein Sohn«, sagte er sanft. »Wenn du diese Worte kennst, mußt du von der Legende erfahren. Als die Felsen noch weich und die Luft neblig waren« – eine Bezeichnung für die älteste Vorzeit – »herrschten hier Greuel und Unheil. Unsere Vorfahren löschten diese aus. Sie belegten diese Hügel mit einem Todesfluch und ordneten an, daß dieses Unheil von der Erde und aus dem Gedächtnis der Menschen getilgt werden müsse für immer.« Wieder diese Worte, exakt wiederholt. »Ist das die ganze Legende?« fragte ich. »Nichts sonst?« »Nichts sonst«, sagte der alte Mann, und ich wußte: es war die Wahrheit. Wir gingen zu den wartenden Lastwagen zurück, und ich sprach erst zu Joseph, in Shangaan. »Geh in Frieden, mein Freund. Fahr vorsichtig und achte gut auf die Leute, die mit dir fahren – sie sind mir sehr teuer.« Joseph bekam vor Staunen den Mund nicht mehr zu. Dann wandte ich mich an die Camp-Jungs und wechselte zu Sechuana. »Die Spinne entbietet euch Grüße und wünscht euch Frieden.« Sie waren erschrocken, als ich meinen Spitznamen benutzte, aber bis sie abfuhren, hatten sie sich von dem Schock
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erholt und lachten erleichtert. Dann verschwanden die Laster zwischen den Dornenbüschen. »Weißt du«, murmelte Sally nachdenklich, »ich glaube, ich bin aufgeschmissen. Zweihundert Meilen von jeder menschlichen Siedlung entfernt, hilflos einem Mann ausgeliefert, dessen Moral absolut zweifelhaft ist.« Worauf sie kicherte: »Ist das nicht schön?«
Ich hatte oben auf den Klippen eine Stelle gefunden, von wo aus ich mich über die senkrechte Wand herabbeugen und die Felsen zu beiden Seiten wie die offene Ebene überblicken konnte. Sally war unten neben der stillen Waldung deutlich erkennbar. Für sie schien die Sonne im richtigen Winkel, mich aber blendete sie. Sie stand nur zehn oder fünfzehn Grad über dem Horizont, und ihre goldenen Strahlen brachten neue sanfte Farben in Felsen und Laubwerk hervor. »Juhuh!« Sallys Ruf klang schwach zu mir herauf. Sie hielt beide Hände zum Himmel gestreckt. Das war unser verabredetes Signal: »Näher zu mir.« »Gut«, grunzte ich. Sie mußte sie entdeckt haben – ich hatte ihr genau erklärt, wie sie ihre Augen gegen die schrägen Sonnenstrahlen abschirmen und Ausschau halten mußte nach dem pfeilgeraden Flug der winzigen goldenen Lichtstäubchen; es war ein alter Trick von Bienenjägern, um den Stock aufzuspüren. Ich kannte ihn von einem Buschmann. Ich zog mich von den Klippen zurück und bahnte mir einen Weg durch die Dornen und dichten Büsche, die den Gipfel überwucherten. Ich hatte den Ausgangspunkt der Suche ziemlich genau festgelegt; alles deutete darauf hin, daß sich der Bienenstock in dieser ho-
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hen, roten Felswand mit ihren vielen Rinnen und Spalten befand. Sally rief mir jetzt von unten die Richtung zu, und es dauerte nur fünfzehn Minuten, bis sie mit den Armen ruderte und ich ihren Zuruf hörte. »Da ist es! Genau unter dir.« Wieder lehnte ich mich über den Rand, und jetzt sah ich den geschwinden sonnenhellen Flug der heimkehrenden Bienen an der Felswand unter mir. Wenn ich mich weit hinüberbeugte, konnte ich den Einlaß zu dem Stock ausmachen – ein langer, diagonaler Riß, dessen Ränder von altem Wachs verfärbt waren. Es mußte sich der Zahl der eintreffenden Arbeitsbienen und der Wachsfläche am Eingang nach zu urteilen um einen riesigen Stock handeln. An einer so unzugänglichen Stelle war er wahrscheinlich jahrhundertelang vor dem Zugriff von Mensch oder Tier geschützt geblieben: Eine Seltenheit in diesem Land, wo Honig so kostbar ist. Ich knüpfte mein weißes Taschentuch an einen herabhängenden Ast, um die Stelle zu markieren, und in der rasch einfallenden Dunkelheit kletterte ich zu Sally hinunter. Sie war sehr erregt von unserem kleinen Erfolg. »Du bist wirklich unheimlich klug, Doc Ben.« »Im Gegenteil, ich mußte meinen Kopf volle zwei Tage gegen all die Zeichen schlagen, bevor mir ein Licht aufging«, widersprach ich selbstgefällig. »Es wimmelt hier von Vögeln, Tieren und Bienen, die alle einen anständigen Wasservorrat brauchen. Angeblich existiert im Umkreis von zweihundert Meilen keine ständige Wasserquelle – aber das stimmt mit Sicherheit nicht.« Als ich an diesem Abend im Schlafanzug ins Zelt kam – nachdem ich mich sittsam draußen umgezogen hatte –, lag sie schon im Bett, die Decken bis unters Kinn gezogen. Ich zögerte im Gang zwischen den beiden Feldbetten, bis sie schelmisch grinsend Mitleid bewies und einladend die Decken neben sich
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hob. Ein paar Stunden später, noch vor Anbruch der Dämmerung, hockte ich – wiederum ein sehr glücklicher Mann – in meiner Lederjacke auf den Klippen über dem Bienenstock. Der Tag kam rasch herbei. Er kündete sich an mit sanftem Rosa und Rot, nebligem Lila und Blaurot – dann brach die Sonne am Horizont durch, und die Bienen begannen ihren Flug. Zwanzig Minuten lang beobachtete ich sie, um Plan und Ziel ihrer Flüge zu erkunden. Eine Gruppe von Arbeitsbienen streifte weit in die Ebene aus. Das waren die Pollensammler. Dann entdeckte ich ein anderes Flugmuster. Ein stetiger Strom von Arbeitsbienen fiel fast senkrecht in das dunkle Laubwerk unter mir – sie trugen bei der Rückkehr keine Pollen an ihren Beinen. Wasserträger also! Ich dirigierte Sally zum Fuß der Klippen; diesmal, am Morgen, waren unsere Rollen wegen der Schräge und des Winkels der Sonnenstrahlen vertauscht. Sie gab mir nach einer Weile durch Winken zu verstehen, daß sie sie erspäht hatte. Ich begann den mühsamen Abstieg zur Ebene. Sie sollte mir den unbestimmten Flug der Bienen die Klippen hinunter zur Waldung anzeigen, die aber vom Schatten der Klippen verschluckt wurden, bevor wir ihr genaues Ziel in der Waldung feststellen konnten. Nach dreißig Minuten gaben wir auf und gingen auf Zufallssuche in den Wald. Um die Mittagszeit hätte ich geschworen, daß es kein Zeichen von Oberflächenwasser in der Umgebung der Waldung gab. Sally und ich ließen uns nebeneinander rückwärts gegen den kräftigen Stamm eines Mhoba-hoba-Baumes sinken, des wilden Mispelbaums, den der Legende zufolge die Alten aus ihrem Heimatland mitgebracht haben; und wir blickten uns verzweifelt an. »Wieder Fehlanzeige!« Kleine Schweißtropfen überzogen ihre Stirn und Schläfen, und eine dunkle Locke klebte an ihrer Haut. Mit einem Finger schob ich sie sanft zurück hinter ihr
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Ohr. »Es ist hier irgendwo. Wir werden es finden«, sagte ich zuversichtlich. »Es muß hier sein. Es muß einfach.« Sie wollte antworten, als ich meine Finger auf ihre Lippen drückte. Hinter den letzten Bäumen der Waldung hatte ich eine Bewegung entdeckt. Wir beobachteten die Gruppe der Katzenaffen, wie sie mit den Schwänzen in der Luft über die offene Ebene galoppierten. Als sie die Waldung erreichten, schössen sie den nächsten Baum hoch. Ihre kleinen schwarzen Gesichter spähten besorgt aus dem dichten grünen Laubwerk herunter, aber sie bemerkten uns nicht. Eilig strebten sie jetzt durch die Baumwipfel auf die Klippen zu. Sie erreichten die obersten Äste eines gewaltigen wilden Feigenbaums, dessen Wurzeln und Stamm in die senkrechte rote Klippenwand eingebettet waren und dessen Äste sich weit und grün über dem Erdboden breiteten – und verschwanden allmählich. Es war ein erstaunliches Phänomen: sechzig Affen stiegen in den Baum und verloren sich unversehens, bis die Äste leer waren. »Was ist mit ihnen passiert?« flüsterte Sally. »Sind sie die Klippen hochgelaufen?« »Nein, glaub ich nicht.« Ich grinste sie fröhlich an. »Ich glaube, wir haben’s gefunden, Sal. Ich glaube, wir haben’s, aber warten wir noch, bis die Affen zurückkommen.« Zwanzig Minuten später erschienen die Affen plötzlich wieder in den Ästen der wilden Feige und entfernten sich allmählich die Klippen entlang. Wir warteten, bis sie alle außer Sicht waren. Die gewundenen Wurzeln der wilden Feige bildeten eine Treppe aus unregelmäßigen Stufen bis zu dem Punkt, wo der Stamm aus den Klippen ragte. Wir kletterten hinauf, um den deformierten Stamm zu untersuchen. Er war gigantisch, bestimmt zehn Meter im Umfang. Wir entdeckten einen glattpolierten Fußweg in den lebenden Felsen – einen Weg, der im
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Verlauf von Jahrtausenden durch Füße, Pfoten und Hufe ausgetreten war. Er zwängte sich zwischen den groben gelben Stamm der wilden Feige und die Felsmauer. Wie sich oft eine Höhle hinter einem Wasserfall verbirgt, geschützt von dem fallenden Wasser, so schirmte unsere wilde Feige den Eingang ab. Sally und ich spähten in den dunklen Winkel hinter dem Stamm. Sie nahm meine Hand, und wir gingen vor Glück strahlend, hinein. Die Öffnung bestand aus einem langen senkrechten Riß in der Klippenwand, mit steilem Lichteinfall von oben. Wir schritten den Gang hinunter, die Wände ragten an beiden Seiten etwa sechs Meter hoch zu einem engen, v-förmigen Dach. Wir waren nicht die ersten menschlichen Wesen an diesem Ort. Die glatten roten Wände waren mit einer Fülle großartiger Felsenzeichnungen von Buschmännern bedeckt. Die schönsten und besterhaltenen, die ich je gesehen hatte. »Ben! Oh Ben! Schau dir das an!« Die Kunst der Buschneger gehört zu Sallys Spezialitäten. »Die reinste Schatzkammer!« Ihre Augen leuchteten in der Düsternis. Ich zog sie weiter. »Dafür haben wir später noch genug Zeit.« Wir gingen langsam den engen Gang entlang, der stetig nach unten abfiel, während das Dach über uns höher und höher stieg, bis es in der Finsternis oben verschwand. Wir hörten das Quietschen von Fledermäusen aus den dunklen Winkeln des Ganges. »Vor uns ist Licht«, sagte ich, und wir gelangten in einen offenen runden Raum von vielleicht hundert Metern Durchmesser mit steilen, ungefähr sechzig Meter hohen Wänden. Wie die Innenwände eines Kegels verengten sie sich zu einer schmalen Öffnung hoch oben, die den Blick auf einen wolkenlosen blauen Himmel freigab – eine typische Senkformation. Den Grund der Höhle bildete ein Bassin, das zu einem Wasserteich hinunterführte. Das Wasser war kristallklar, nach seiner blaßgrünen Farbe zu urteilen sehr tief, vielleicht vierzig, fünfzig
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Meter im Durchmesser, die Oberfläche spiegelglatt und still. Sally und ich standen und staunten. Die Schönheit dieser großen Höhle verschlug uns die Sprache. Durch die winzige Öffnung hoch über uns ergossen sich die Sonnenstrahlen, prallten auf die glimmenden Kalksteinwände und erhellten die ganze Höhle mit einem gespenstisch reflektierten Schimmer. Große Schmetterlingsflügel und Stalaktiten aus sprühendem Weiß hingen von den Seiten herab. Die Wände des Hauptgemachs waren ebenfalls bis zu einer bestimmten Höhe mit herrlichen Felszeichnungen überzogen. An manchen Stellen hatte aus dem Felsen sickerndes Wasser die Muster zerstört, aber insgesamt war alles gut erhalten. Ich schätzte, daß es für Sally und mich zwei Jahre Arbeit an diesem phantastischen Ort gab. Langsam schritt Sally hinunter zum smaragdgrünen Teich. Ich blieb an der Öffnung des Tunnels stehen und sah verzückt zu, wie sie am Rand des Teiches verharrte und sich über das stille Wasser beugte. Dann richtete sie sich auf und legte langsam, mit bewußten Bewegungen, ihre Kleider ab. Nackt stand sie am Rand des Teiches, ihre Haut schimmerte so blaß und durchsichtig wie die Kalksteinklippen. Trotz seiner Größe und Stärke hatte ihr Körper eine Grazie, die mich an altes chinesisches Porzellan erinnerte. Wie die Priesterin einer frühen heidnischen Religion hob sie die Arme. In einem seltsamen atavistischen Schauder erinnerte mich diese Geste an ein altes vergessenes Ritual. Ich wollte irgend etwas tief in meinem Innern hinausschreien, einen Segen vielleicht oder eine Anrufung. Sie tauchte hinein, eine lange anmutige Schwingung aus weißem Körper und fließendem dunklen Haar. Sie schlug aufs Wasser und tauchte tief hinunter. Ihre herrlich reine Gestalt zeigte sich klar im Kristallwasser, und als sie wieder emporkam, hing ihr langes dunkles Haar naß an Nacken und Schulter. Sie hob einen
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schlanken Arm und winkte mir zu. Ich hätte vor Erleichterung laut aufweinen mögen. Ich erkannte in diesem Augenblick, daß ich nicht mit ihrer Rückkehr aus diesen geheimnisvollen Tiefen gerechnet hatte. Ich half ihr aus dem Wasser. Überwältigt von der Fülle der Malereien und Gravuren, schritten wir langsam an den Wänden der Höhle vorbei. »Hier sind Arbeiten aus zweitausend Jahren, Ben. Dies muß ein sehr heiliger Ort gewesen sein.« Das Licht schwand, bevor wir die Höhle nur halb durchschritten hatten. Es war kühl jetzt und unheimlich in dem Gang, als wir uns nach draußen tasteten. Später rief ich über Funk Peter Larkin an und war erleichtert: die beiden Lastwagen waren wohlbehalten in Maun angekommen. Ich bat Larkin, eine Botschaft an Louren weiterzugeben. »Sagen Sie ihm, daß wir ein paar sehr interessante Felsmalereien gefunden haben und vorläufig hierbleiben.« »Wie kommt ihr mit dem Wasser hin?« fragte Larkin. »Ausgezeichnet. Wir haben hier ausreichenden Vorrat gefunden.« »Ihr habt Wasser gefunden?« brüllte er. »Da gibt’s doch kein Wasser!« »Ein kleines Becken im Felsen, vom letzten Regen.« »Oh, ich verstehe. Okay dann. Haltet Verbindung. Bis demnächst.« »Danke, Peter. Bis demnächst.« »Du bist ein Schwindler«, grinste Sally mir zu, als ich das Gerät ausschaltete. »Alles für einen guten Zweck, meine Liebe.«
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Der alte Elefantenbulle war tödlich verwundet. Blut floß aus den Wunden in Hals und Schulter, und die Schäfte von fünfzig Pfeilen ragten aus seinem massigen Rumpf. Er stand in Abwehrstellung, den Rücken in Todesschmerz gekrümmt, während die tapferen kleinen gelben Jäger mit gezückten Bogen um ihn schwärmten. Ein Dutzend von ihnen waren auf dem Jagdpfad verstreut, ihre gebrechlichen Körper zertrampelt und zerstoßen von den großen runden Fußballen und den grausamen Elfenbeinzähnen. Der Künstler hatte den Fels mit so dramatischen Szenen überzogen, daß man an der Jagd teilzunehmen glaubte. Trotzdem, die Lichtverhältnisse waren sehr problematisch, und ich beschloß daher, mit Blitzlicht zu arbeiten, obwohl ich das nach Möglichkeit vermeide – es verzerrt die Farben und bringt falsche Obertöne. Ich baute gerade die Kamera auf, als Sally rief. »Ben! Hierher, bitte!« Ihre Stimme klang aufgeregt. Sie war in der Haupthöhle hinter dem smaragdgrünen Teich, wo die schräg aufsteigende Rückwand eine niedrige Nische bildete. Es war dunkel hier, und der Strahl von Sallys Taschenlampe huschte über die glatte Felsenfläche. »Was ist, Sal?« »Sieh!« Sie bewegte den Lampenstrahl nach unten, und ich erblickte das Bild einer massigen menschlichen Gestalt. »Mein Gott!« schluckte ich. »Die Weiße Dame von Brandberg!«* Sally ließ den Lichtstrahl an der Gestalt heruntergleiten, bis *
Die Weiße Dame von Brandberg gehört zu den berühmtesten und umstrittensten der bisher entdeckten Höhlenmalereien in Afrika. Als Entstehungsdatum gilt der Zeitraum von 0 bis 200 n. Chr., aber die Interpretation hat viele Dispute hervorgerufen. Einer Quelle zufolge handelt es sich um einen mit weißem Ton bestrichenen Beschneidungskandidaten (eintausend Meilen vom Territorium der Xhosa). Der bekannte Abbé Breuil bezeichnete es als Dame, und Credo Mutwa gibt in seinem jüngsten Buch Idaba meint Kinder eine faszinierende Interpretation, in der er folgert: »Es handelt sich keineswegs um eine Dame, sondern um einen auffallend schönen weißen Mann, einer der großen Eroberer, die fast zwei Jahrhunderte im afrikanischen Reich der Maiti (Phönizier) herrschten.«
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er die enorme Erektion zwischen den Schenkeln erfaßte. »Die Dame ist prächtig ausgestattet«, murmelte sie. Die Gestalt war ein Meter achtzig groß, mit gelbem Brustpanzer und verziertem Haubenhelm. An der linken Schulter trug sie einen runden Schild, auf dem gelbe RosettenOrnamente eingelegt waren. In der anderen Hand trug sie Bogen und Pfeilköcher, an der Hüfte hingen Schwert und Streitaxt. Die Beine waren von Schienen aus dem gleichen gelben Metall geschützt und an den Füßen trug sie leichte offene Sandalen. Die Haut war in einem fahlen Weiß gehalten, aber ein feuerroter Bart hing ihr auf die Brust. Die Schaustellung der Sexualorgane war offensichtlich ein stilisierter Hinweis auf den herrscherlichen Status. Das wirkte in keiner Weise obszön, es verlieh der Gestalt männlichen Stolz und Hochmut. »Ein weißer Mann«, flüsterte ich. »Rüstung, runder Schild, Bogen und Streitaxt. Könnte es –« »Ein phönizischer König sein?« brachte Sally meinen Satz zuende. »Aber der phönizische Typ war eher dunkelhaarig und höckernasig. Dieser Mann wäre bei den Alten eine äußerst ungewöhnliche Gestalt gewesen. Ein Nachkömmling vielleicht von irgendwelchen nördlichen Mittelmeer-Vorfahren? Wie alt mag er sein, Sal?« »Ich bin mir noch nicht sicher, aber ich würde sagen 2000 Jahre. Die Bemalung dieser Wand hier ist die älteste in der ganzen Höhle.« »Gut, Sal.« Ich kombinierte fieberhaft. Eine Armee von Strichfiguren folgte dem König, nicht so detailliert ausgeführt, doch Schwerter und Helme waren unverkennbar. »Und sieh hier.« Sally richtete die Lampe auf eine Reihe weißgewandeter Gestalten, zu Füßen des Königs. Winzige Gestalten, vielleicht 23 Zentimeter groß. »Priester vielleicht – und, oh Ben! Sieh doch!« Sie ließ den Strahl über die Felswand gleiten. Wie ein riesi-
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ger Fries, an manchen Stellen durch Feuchtigkeit, Moos und Flechten verwischt und durch die zahllosen Menschen- und Tiergestalten überwuchert, dennoch von imponierender Majestät, zog sich die Zeichnung einer steinernern Festungsmauer hin. Sie war aus Blöcken mit klar erkennbaren Fugen gebaut, und oben war das dekorative Sparrenmuster, wie das auf der Tempelmauer in den Ruinen von Zimbabwe. Hinter der Mauer erhoben sich die Umrisse der phallischen Türme, nach denen wir gesucht hatten. »Es ist unsere Stadt, Ben. Unsere versunkene Stadt.« »Und unser versunkener König, Sally, und seine Priester und Krieger und – oh mein Gott! Sally, sieh dir das an!« »Elefanten!« quietschte sie. »Kriegselefanten mit Bogenschützen auf ihren Rücken, wie Hannibal sie gegen die Römer eingesetzt hat. Kathargisch – phönizisch!« Als wir am Abend total erschöpft ins Lager zurückkamen, hatte Larkin eine Botschaft von Louren für uns: »Er wünscht euch viel Glück. Einer der Ölhubschrauber wird in den nächsten Tagen in eurer Gegend sein. Wenn ihr irgendwas braucht, gebt mir eine Liste durch. Sie werden es euch runterbringen.« Die nächsten zehn Tage waren die glücklichsten meines Lebens. Der Hubschrauber mit der Aufschrift ›Sturvesant-Öl‹ am Rumpf traf ein, wie versprochen, und brachte uns eine volle Ladung notwendiger und luxuriöser Dinge – ein zweites Zelt, Klappstühle, einen Theodoliten, Gas für die Lampen, Lebensmittel, zusätzliche Kleidung für beide, mehr Papier und Farben für Sally, Filme für mich und sogar ein paar Flaschen Malzwhisky, dieses unübertreffliche Heilmittel gegen alle Krankheiten des Menschen. Ein kurzer Brief Lourens sagte mir seine volle Unterstützung zu, nur sollte ich ihn nicht zu lange im Ungewissen lassen, da er »vor Neugier sterbe«. Ich schickte ihm zum Dank eine Filmrolle mit den Malereien
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und ein Bündel Plastiktüten mit Pigment-Proben aus der Höhle. Wir arbeiteten von früh bis spät; wir fertigten eine zweidimensionale Zeichnung der Höhle an, fotografierten eine überlappende Schichtung der Wände und verzeichneten sie auf unserer Karte. Zunächst störten wir die Ökologie der ansässigen Fauna empfindlich, aber dann gewöhnten sich die Tiere doch schnell an uns. Bald ignorierten uns die Vögel, wenn sie kreischend und schnatternd zum Trinken und Baden an den Teich kamen. Sogar die Affen krochen schließlich, vom Durst getrieben, durch den Felsengang, um einen Mundvoll Wasser zu erhaschen, bevor sie wieder davonschossen. Sehr schnell wurden ihre Vorstöße kühner, bis sie zu einer wahren Belästigung ausarteten. Sie klauten unser Essen und die Geräte, wenn sie unbewacht herumlagen. Es waren wunderbare Tage im tiefen Frieden dieser schönen Gegend, voll befriedigender Arbeit und Harmonie. Nur einmal wurde mein Glück ein wenig getrübt. Als Sally und ich unter dem Porträt unseres wunderbaren weißen Königs saßen, sagte ich: »Das werden sie nicht abstreiten können, Sal. Das nicht!« Sie wußte, daß ich eine Bestimmte Sorte von Eiferern und Politarchäologen meinte, die alle Beweise verdrehten, um sie ihrer eigenen Ideologie anzupassen. »Sei nicht zu sicher, Ben«, warnte Sally. »Sie werden auch das nicht akzeptieren. Ich höre jetzt schon ihr Genörgel: Es sind nachempfundene Beobachtungen von Buschmännern, die sich verschieden deuten lassen.« »Ja. Das ist das große Mißgeschick – es ist nachempfunden. Wenn wir ihnen die Malereien der Festungsmauern zeigen, werden sie höhnisch fragen, ›Ja, aber wo sind die Mauern selbst?‹« »Und unser König, unser schöner männlicher Kriegerkönig«, sie schaute zu ihm auf, »sie werden ihn entmannen. Er wird
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auch zu einer ›Weißen Dame‹. Aus seinem Schild wird ein Blumenbukett, sein feuerroter Bart wird sich plötzlich in einen Schal oder ein Halstuch verwandeln, und auf Reproduktionen wird man sein Porträt fein ordentlich abändern.« »Ich wünschte – wie sehr ich wünschte, wir hätten irgendeinen definitiven Beweis«, sagte ich zerknirscht. Ich stand auf. »Gehen wir schwimmen, Sal.« Als wir uns nach dem Bad im hellen Sonnenschein trockneten, berührte ich Sallys Arm, und mit dem Zartgefühl eines Rhinozeros platzte ich heraus: »Heiratest du mich, Sally?« Sie wandte mir erschreckt ihr Gesicht zu, die Wangen und Augenwimpern noch perlend von Wassertropfen, und starrte mich volle zehn Sekunden an, bevor sie zu lachen anfing. »Oh Ben, du komisches altmodisches Haus! Wir leben im zwanzigsten Jahrhundert. Nur weil du mich verführt hast – brauchst du mich nicht gleich zu heiraten!« Und bevor ich protestieren oder Erklärungen abgeben konnte, war sie aufgestanden und wieder in den grünen Teich getaucht. Den Rest des Tages war sie völlig in ihre Arbeit vertieft und hatte nicht einmal Zeit, in meine Richtung zu blicken, geschweige denn mit mir zu reden. Ihre Reaktion war unmißverständlich – bestimmte Themen hatte Sally mit einem Tabu belegt. Die Ehe gehörte dazu. Es war ein schlimmer Tag, aber ich hatte meine Lektion verstanden und beschloß, mich mit dem gegenwärtigen Maß an Glück zu begnügen, statt auf mehr zu dringen. Am Abend hatte Larkin wieder eine Botschaft von Louren: »Eure Proben 1-16 ergeben C. 14 Durchschnitt 1620 Jahren ± 100. Glückwunsch. Sieht gut aus. Wann erfahre ich das Geheimnis? Louren.« Bei dieser Nachricht lebte ich auf. Angenommen, unser alter Buschmann hatte die Objekte seiner Zeichnungen selbst gesehen, dann hatte irgendwann zwischen 200 und 400 n. Chr. ein
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bewaffneter phönizischer Krieger seine Armeen und Kriegselefanten durch dieses Land geführt. Ich fühlte mich schuldig, daß ich Louren von dem Geheimnis der Höhle ausschloß, aber ich wollte es noch etwas für mich allein behalten. Außerdem war sie der Tempel meiner Liebe zu Sally geworden – ein heiliger Ort, wie einst für die Buschmänner. Am folgenden Tag schien Sally den Kummer wieder gutmachen zu wollen, den sie mir zugefügt hatte. Mittags, während das Sonnenlicht auf uns niederbrannte, lagen wir auf dem Felsen neben dem Teich eng umschlungen, schläfrig murmelnd, als ich plötzlich die Anwesenheit eines Fremdlings in der Höhle spürte. Schreck durchfuhr mich. Ich stützte mich mühsam auf einen Ellbogen und schaute zum Eingangstunnel. In der düsteren Mündung stand eine goldbraune menschliche Gestalt, bekleidet mit einem kurzen ledernen Lendenschurz. Ein Köcher und ein kurzer Bogen ragten über seine Schulter, und um seinen Hals hing eine Kette aus Schalen von Straußeneiern und schwarzen Affenbohnen. Die Gestalt war winzig, von der Größe eines zehnjährigen Kindes, hatte aber das Gesicht eines erwachsenen Mannes. Geschlitzte Augen und hohe flache Bakkenknochen verliehen ihm ein asiatisches Aussehen, doch die Nase war breit, und die Lippen waren dick und sinnlich geformt. Der kleine gewölbte Schädel war von einem Pelz dichter schwarzer Locken bedeckt. Eine Sekunde lang blickten wir einander in die Augen, dann war das Männchen wie im Nu in dem dunklen Felsengang verschwunden. »Was ist?« Sally richtete sich auf. »Buschmann«, sagte ich. »Hier in der Höhle. Hat uns beobachtet.« Sie spähte ängstlich umher. »Wo?« »Jetzt ist er fort. Zieh dich an – schnell!« »Ist er gefährlich, Ben?« Ihre Stimme klang heiser.
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»Ja. Sehr!« Ich streifte schnell meine Sachen über, wobei ich überlegte, wie wir uns am besten verhalten sollten und was ich sagen sollte. Dank der Übungen mit Timothy war mir die Sprache der nördlichen Buschmänner vertraut. »Sie werden uns doch nicht angreifen, Ben?« Sally war angezogen. »Wenn wir jetzt falsch reagieren, ja. Wir wissen nicht, wie heilig ihnen dieser Ort ist. Wir dürfen sie nicht verängstigen, sie sind zweitausend Jahre lang verfolgt und gejagt worden.« »Oh, Ben.« Sie schmiegte sich an mich, und trotz meiner eigenen Beunruhigung genoß ich es, wie sie sich auf mich verließ. »Sie würden uns doch nicht – töten, oder?« »Wenn man ein wildes Wesen bedroht oder verstört, greift es an. Ich muß es schaffen, mit ihnen zu reden.« Ich schaute mich nach einer Art Schild um, um notfalls einen Schilfpfeil mit vergifteter Spitze abzuwehren – Gift, das einen lauernden, aber sicheren Tod unter unsäglichen Qualen bedeuten würde. Ich nahm den Lederbehälter des Theodoliten, riß ihn an den Nähten auseinander und breitete ihn aus, um eine möglichst große Fläche zu bekommen. »Folge mir durch den Gang, Sal. Dicht hinter mir.« Ihre Hand lag auf meiner Schulter, als ich sie langsam durch den Felsengang leitete; vorsichtig leuchtete ich jede dunkle Ecke und Nische mit der Taschenlampe aus, bevor wir weitergingen. Das Licht schreckte die Fledermäuse auf, die quietschend um unsere Köpfe flatterten. Der Druck von Sallys Hand an meiner Schulter wurde schmerzhaft. Endlich erreichten wir den Baumstamm am Eingang zur Höhle. Das helle Sonnenlicht draußen schmerzte meine Augen. Sorgfältig prüfte ich die Bäume und Grasnarben im Umkreis, jede Höhlung und Unregelmäßigkeit im Boden – ohne Ergebnis. Aber sie waren dort, ich wußte es, versteckt, wartend, mit der Geduld und Konzen-
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tration der geschicktesten Jäger der Welt. »Jetzt hör gut zu, Sally. Du mußt hier bleiben, was auch geschieht. Ich gehe zu ihnen hinaus, spreche mit ihnen. Falls«, die Kehle wurde mir eng, »falls sie mich mit einem Pfeil treffen, habe ich eine halbe Stunde Zeit oder so, bevor –« ich wandelte den Satz ab – »habe ich Zeit genug, um den Landrover hierherzubringen. Du kannst ihn dann ohne Schwierigkeiten unseren Spuren nach zurück zur Makarikari-Mulde fahren.« »Ben – geh nicht. Ben – bitte.« »Sie werden warten, Sal – bis zur Dunkelheit. Ich muß jetzt gehen, bei Tageslicht.« »Ben –« »Warte hier. Was immer geschieht, warte hier.« Ich schüttelte ihre Hand ab und trat nach draußen. »Frieden«, rief ich ihnen in ihrer eigenen Sprache zu. »Wir haben keinen Streit.« Ich schritt weiter ins Sonnenlicht. »Ich bin ein Freund.« Noch ein langsamer Schritt über die gewundenen Wurzeln des wilden Feigenbaums, mit der ausgebreiteten Ledertasche unten um meine Hüften. »Freund!« rief ich wieder. »Ich gehöre zu eurem Volk. Ich gehöre zu eurem Stamm.« Ich ging langsam hinunter in die schweigende, feindselige Waldung. Es kam keine Entgegnung auf meine Worte, weder Laut noch Bewegung. Vor mir lag ein gestürzter Baum. Ich schritt seitwärts auf ihn zu, den Hals eingeschnürt vor Spannung und Furcht. »Ich trage keine Waffen«, rief ich, und die Waldung blieb bedrohlich ruhig in der Stille des Nachmittags. Ich hatte fast den gestürzten Baum erreicht, als ich das Sirren der Bogensehne hörte. Ich warf mich sofort nieder in den Schutz des toten Stammes. Dicht neben meinem Kopf zischte
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der Pfeil vorbei, in der Stille summend. Ich duckte mich. Mein Gesicht war an den trockenen Boden gepreßt, mein Herz starr vor Schrecken. Ich hörte schnelle Fußschritte hinter mir und rollte verteidigungsbereit auf die Seite. Entgegen meinen Anordnungen rannte Sally auf mich zu, ihr Gesicht eine fahle Maske tödlichen Entsetzens, den Mund geöffnet in einem lautlosen Schrei. Sie hatte mich fallen und reglos liegen sehen, und der Gedanke, ich sei tot, hatte sie in Panik versetzt. Als ich mich jetzt bewegte, erkannte sie ihren Irrtum, und sie zögerte; plötzlich wurde ihr bewußt, in welcher Gefahr sie selbst schwebte. »Lauf zurück, Sal«, schrie ich. »Lauf zurück!« Ihre Unsicherheit wandelte sich in Verzweiflung, und sie blieb auf halbem Weg zwischen dem Höhleneingang und meinem Baumstamm stehen, unentschlossen, welche Richtung sie einschlagen sollte. Im Augenwinkel sah ich, wie sich der kleine, gelbe Buschmann hinter einem blassen Grasbüschel aufrichtete. Ein Pfeil lag in seinem Bogen. Er war etwa fünfzig Schritte von Sally entfernt und nahm sich etwa eine Sekunde Zeit zum Zielen. In dem Augenblick, als der Pfeil losschnellte, stürzte ich vorwärts durch den Raum, der Sally und mich trennte. Der Pfeil und ich flogen auf Abfangkurs, zwei Seiten eines Dreiecks mit Sally an der Spitze. Ich sah den summenden Pfeil in halber Höhe auf Sally zublitzen und wußte, daß ich sie nicht erreichen konnte, bevor er traf. Auf sie zustürzend, warf ich mit einem verzweifelten Ruck aus dem Handgelenk das harte Lederstück. Es schlingerte schwerfällig durch die Luft – und der Pfeil fuhr hinein. Die todbringende Eisenspitze mit den giftbeschmierten Widerhaken stak im zähen Leder der Tasche. Pfeil und Tasche fielen vor Sallys Füße. Ich hob Sally auf, wirbelte unter ihrem Gewicht herum und rannte zurück in die Deckung des toten Baum-
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stamms. Der Buschmann kniete noch immer im Gras. Er griff über die Schulter und zog einen neuen Pfeil aus dem Köcher; mit einer einzigen geschickten Bewegung hatte er ihn eingespannt. Diesmal gab es kein Ausweichen. Ich rannte entschlossen weiter. Die Bogensehne sirrte, der Pfeil flog, und zugleich spürte ich einen harten Stoß am Hals. Ich wußte, ich war getroffen, und mit Sally in den Armen fiel ich hinter den toten Baumstamm. »Ich glaube, es hat mich erwischt, Sal.« Ich fühlte den Pfeil gegen meine Brust baumeln, als ich von ihr fortrollte. »Brich den Schaft ab – versuch nicht, ihn mit den Widerhaken rauszuziehen.« Wir lagen uns dicht gegenüber. Seltsamerweise spürte ich jetzt, da ich dem Tod geweiht war, keine Furcht. Es war geschehen; selbst wenn ich noch ein dutzendmal getroffen würde, wäre mein Schicksal das gleiche. Es kam jetzt nur darauf an, Sally in Sicherheit zu bringen, bevor das Gift wirkte. Sie streckte zitternd die Hand aus und hob behutsam den zerbrechlichen roten Pfeil – dann erhellte sich ihr Gesicht. »Dein Kragen, Ben, er steckt im Kragen deiner Jacke. Er hat dich nicht verletzt.« Erleichterung durchströmte mich, als ich die Hände am Pfeilschaft entlanggleiten ließ. Ich blieb vorsichtig auf der Seite liegen und schüttelte meine Khaki-Jacke ab, während Sally die Pfeilspitze von meinem Fleisch fernhielt. Einen Augenblick starrte ich angewidert auf die handgeschmiedete eiserne Pfeilspitze mit dem klebrigen toffeefarbenen Zeug zwischen den tückischen Widerhaken, dann warf ich Jackett und Pfeil beiseite. »Da hat nicht viel gefehlt«, flüsterte ich. »Hör zu, Sal, ich glaube, es ist nur einer von ihnen hier. Er ist jung, nervös, wahrscheinlich genauso verängstigt wie wir. Ich versuche nochmal, mit ihm zu reden.«
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Ich robbte im sicheren Schutz des toten Baumes vorwärts und legte alle Eindringlichkeit in meine Stimme, die meine ausgedörrte Kehle hergab. »Ich bin dein Freund. Obwohl du deine Pfeile auf mich abschießt, werde ich nicht mit dir kämpfen. Ich habe unter deinem Volk gewohnt, ich bin eins mit dir. Woher kenne ich sonst deine Sprache?« Undurchdringliches Schweigen. »Woher kenne ich sonst die Zunge deines Volkes?« fragte ich wieder und hörte angestrengt auf einen Laut. Da, endlich sprach er, mit einer hohen Stimme, unterbrochen von weichen Schnalz- und Klicklauten. »Die Teufel des Waldes reden in vielen Zungen. Ich verschließe deinen Täuschungen meine Ohren.« »Ich bin kein Teufel. Ich habe als einer von euch gelebt. Hast du nie von einem namens Sonnenvogel gehört«, ich benutzte meinen Buschmännernamen, »der bei dem Volk von Xhai wohnte und ihr Bruder war?« Ein weiteres langes Schweigen folgte, aber jetzt spürte ich, daß der kleine Buschneger unentschlossen war, verwirrt, nicht mehr verängstigt und gefährlich. »Kennst du den alten Mann namens Xhai?« »Ich kenne ihn«, gab der Buschneger zu, und ich atmete ein wenig leichter. »Hast du von dem gehört, den sie Sonnenvogel nannten?« Eine weitere lange Pause, dann widerstrebend: »Ich habe Männer von ihm reden hören.« »Ich bin es.« Jetzt dauerte das Schweigen zehn oder noch mehr Minuten. Ich wußte, daß er meine Behauptungen von allen möglichen Gesichtspunkten prüfte. Schließlich sprach er weiter: »Xhai und ich jagen gemeinsam dieses Jahr. Schon heute nacht kommt er. Wir werden ihn erwarten.«
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»Gut, warten wir auf ihn«, stimmte ich zu. »Aber wenn du dich rührst, werde ich dich töten«, drohte der Buschmann, und ich glaubte ihm aufs Wort.
Xhai, der alte Buschmann, reichte mir bis zur Schulter, und ich bin weiß Gott kein Riese. Die kleinen Haarknoten auf seinem Schädel waren vor Alter rauchgrau, aber seine Zähne waren blendend weiß und die Augen funkelnd schwarz. Als ich ihm erzählte, daß sein Freund uns beinahe getötet hätte, hielt er das für einen großartigen Scherz und brach in kleine grunzende Lachsalven aus, wobei er gleichzeitig scheu mit einer Hand den Mund bedeckte. Der jüngere Buschmann hieß Ghal und war mit einer von Xhais Töchtern verheiratet; deshalb durfte Xhai ihn hänseln. »Sonnenvogel ist ein weißer Geist!« schnaufte er. »Erschieß ihn, Ghal, schnell! Bevor er fortfliegt.« Von seinem eigenen Spaß begeistert, torkelte er im Kreis herum, wobei er einen davonfliegenden Geist imitierte. Ghal blickte verlegen auf seine Füße, mit denen er im Sand scharrte. Mir saß der Schreck noch zu sehr in den Knochen, um mitlachen zu können. Xhai hörte abrupt auf zu lachen und fragte gierig: »Sonnenvogel, hast du Tabak?« »Oh mein Gott«, sagte ich in Englisch. »Was ist?« Sally war beunruhigt, sie fürchtete wieder etwas Schreckliches. »Tabak«, sagte ich. »Wir haben keinen.« Weder Sally noch ich rauchten das Zeug. Für einen Buschmann war es sehr kostbar. »Louren hat eine Kiste Zigarren im Landrover gelassen«, erinnerte mich Sally, »nutzt das was?«
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Ghal und Xhai waren fasziniert von den Aluminiumröhrchen, in denen die »Romeo und Julia«-Zigarren steckten. Als ich ihnen zeigte, wie man den Tabak herauszog, gurrten und schnatterten sie vor Vergnügen. Dann beroch Xhai wie ein richtiger Kenner die Zigarre, nickte anerkennend und nahm einen großen Bissen. Er kaute eine Weile und schob dann den nassen Pfropfen unter die Oberlippe. Den Rest reichte er Ghal weiter, der Xhais Beispiel folgte und ebenfalls hineinbiß. Die beiden strahlten vor Zufriedenheit und mir wurde wieder wohler. Mit so wenig konnte man sie glücklich machen. Sie blieben über Nacht bei uns; auf unserem Feuer brieten sie eine Mahlzeit aus Buschratten, ohne vorher die Eingeweide oder die Haut entfernt zu haben. Die Haare verschmorten im Feuer und stanken wie brennende Lumpen. »Ich glaube, ich muß kotzen«, murmelte Sally bleich, als sie unsere beiden Freunde genüßlich essen sah, aber sie riß sich zusammen. »Warum nennen sie dich Sonnenvogel?« fragte sie später, und ich wiederholte Xhai ihre Frage. Er sprang auf und zeigte seine berühmte Imitation eines Sonnenvogels, den Kopf vorschnellend und mit den Händen flatternd. Es war eine überzeugende Darstellung, denn Buschmänner beobachten die Natur genau. »Sie finden, daß ich mich so benehme, wenn ich aufgeregt bin«, erklärte ich. »Genau!« rief Sally und klatschte vor Vergnügen in die Hände. Dann lachten wir alle. Am Morgen gingen wir alle vier gemeinsam zur Höhle, in der sich die kleinen Männer völlig zu Hause fühlten. Ich fotografierte sie, und Sally zeichnete sie, wie sie auf den Felsen am Teich saßen. Die Buschmänner waren begeistert von Sallys Skizzen, und
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so konnte ich das Gespräch zwanglos auf die Felsmalereien bringen. »Das sind Malereien unseres Volkes«, prahlte Xhai. »Dieser Ort gehört uns von Anbeginn an.« Ich zeigte auf das Porträt des weißen Königs, und Xhai erklärte frei heraus, ohne die Scheu, die ich erwartet hatte: »Das ist der König der weißen Geister.« »Wo hat er gelebt?« »Er lebt mit seiner Geisterarmee auf dem Mond«, erklärte Xhai – und meine kritischen Kollegen beschuldigen mich, ich sei romantisch! Ich erfuhr, wie die Geister zwischen Mond und Erde fliegen, wie geneigt sie den Buschmännern wären, aber man müsse aufpassen, weil die gemeinen Waldteufel sich manchmal als weiße Götter verstellen. Ghal hatte mich für einen von ihnen gehalten. »Sind die weißen Geister je Menschen gewesen?« fragte ich. »Nein, nie.« Die Frage verstimmte Xhai ein wenig. »Sie waren immer Geister und haben immer auf dem Mond und diesen Hügeln gelebt.« »Hast du sie je gesehen, Xhai?« »Mein Großvater hat den Geisterkönig gesehen.« Xhai wich der Frage geschickt aus. »Und das, Xhai«, ich wies auf die Zeichnung der Steinmauer mit ihren Sparren und Türmen. »Was ist das?« »Das ist die Mondstadt«, erwiderte Xhai willig. »Wo ist sie – auf dem Mond?« »Nein. Sie ist hier.« »Hier?« insistierte ich, indem mein Puls zu hämmern begann. »Du meinst, auf diesen Hügeln?« »Ja.« Xhai nickte und nahm noch einen Biß von der FünfDollar-Zigarre.
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»Wo, Xhai? Wo? Kannst du’s mir zeigen?« »Nein.« Xhai schüttelte bedauernd den Kopf. »Warum nicht, Xhai? Ich bin dein Bruder. Ich gehöre zu deinem Stamm«, drängte ich. »Deine Geheimnisse sind meine Geheimnisse.« »Du bist mein Bruder«, stimmte Xhai zu, »aber ich kann dir nicht die Stadt des Mondes zeigen. Es ist eine Geisterstadt. Nur wenn bei Vollmond die weißen Geister hinuntersteigen, steht die Stadt in der Ebene unter den Hügeln – aber am Morgen ist sie verschwunden.« Mein Puls beruhigte sich. »Hast du die Mondstadt gesehen, Xhai?« »Mein Großvater hat sie gesehen, einmal vor langer Zeit.« »Großvater ist viel rumgekommen«, bemerkte ich bitter auf Englisch. »Was ist?« wollte Sally wissen. »Ich erklär’s dir später, Sal«, sagte ich und wandte mich wieder dem alten Buschneger zu. »Xhai, hast du in deinem Leben je eine solche Stadt gesehen? Mit hohen Steinmauern und runden Steintürmen? Ich meine nicht hier an diesen Hügeln, sondern irgendwo. Im Norden, an dem großen Fluß vielleicht – irgendwo?« »Nein«, sagte Xhai, »ich habe nie einen solchen Ort gesehen.« Es konnte also keine versunkene Stadt nördlich der großen Mulde oder südlich des Sambesi geben, denn sonst hätte Xhai sie in siebzig Jahren unaufhörlicher Wanderung gefunden. »Wahrscheinlich ist irgend ein alter Buschneger 270 Meilen östlich von hier entlanggewandert und hat den Tempel von Zimbabwe gesehen«, überlegte ich abends, als wir am Feuer saßen und die Geschichte des alten Buschnegers diskutierten. »Er war so beeindruckt, daß er ihn nach seiner Rückkehr malte.« »Wie erklärst du dann deinen weißen König?«
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»Ich weiß nicht, Sal«, sagte ich ehrlich. »Vielleicht ist er eine weiße Dame mit einem Blumenbukett.« Es hat den Anschein, daß mein Gehirn jedesmal nach einer schlimmen Enttäuschung eine Zeitlang aussetzt – erst Sallys Ablehnung meines Antrags, dann die Geschichte mit der Mondstadt. Ich übersah den Hinweis vollkommen, dabei war die Verbindung so offensichtlich. Und ich soll einen IQ von 156 haben – ich bin wirklich ein Genie! Am Morgen kehrten die zwei Buschmänner zurück zu den Familien; sie nahmen die Geschenke mit, ein Beil, Sallys Make-up-Spiegel, zwei Messer und eine halbe Kiste »Romeo und Julia«-Zigarren.
In der folgenden Woche brachte uns der Hubschrauber eine große Ladung an Vorräten und die Spezialgeräte, um die ich Louren gebeten hatte. Sally und ich trugen das Schlauchboot in die Höhle und bliesen es gleich auf, bis uns schwindlig wurde. Unter den übrigen Geräten war eine kurze schwere Angelrute aus Fiberglas, und in der Tasche, die eine 12/0 »Penn Senator«-Rolle enthielt, steckte eine Notiz von Louren: »Wonach jagst du so lauthals? Nach Sandfischen oder Wüstenforellen? L.« Ich hakte die Rolle an die Rute, fädelte die Schnur durch die Halter und befestigte an ihrem Ende das fünfpfündige Bleigewicht. Sally paddelte uns in die Mitte des Teiches. Ich warf das Bleigewicht über den Rand, löste den Hebel an der Rolle und ließ die Schnur ablaufen. Wie ich angeordnet hatte, war die geflochtene DacronSchnur in Abständen von fünfzehn Metern markiert; wir zähl-
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ten laut mit, während die bunten Markierungen im leuchtend grünen Wasser verschwanden. »Fünf, sechs, sieben – mein Gott, Ben. Es gibt keinen Grund.« »Diese Kalksteinlöcher sind manchmal unheimlich tief.« »Elf, zwölf, dreizehn.« »Hoffentlich haben wir genug Schnur.« Sally blickte skeptisch auf den Rest der Spule. »Wir haben 700 Meter«, sagte ich. »Das ist mehr als genug.« »Sechzehn, siebzehn.« Ich war selbst überrascht, ich hatte eine Tiefe von etwa 120 Metern geschätzt, wie im rhodesischen Schlafenden Teich von Sinoia, aber die Schnur lief immer noch stetig von der großen Rolle. Endlich spürte ich das Gewicht auf den Grund stoßen, und die Schnur wurde schlaff. Wir sahen einander staunend an. »Etwas mehr als 280 Meter«, sagte ich. »Beängstigend, über einem so tiefen Loch in der Erde zu hängen.« »Eigentlich hatte ich vor, den Grund mit einer Scuba zu erforschen«, sagte ich entschieden, »aber das kommt ja wohl nicht mehr in Frage. Was immer da unten sein mag, bleibt dort für immer. So tief kann niemand tauchen.« Sally schaute hinunter in die grüne Tiefe, und die gesprenkelten schwankenden Lichtreflexe erhellten geisterhaft ihr Gesicht. In ihren Augen nisteten Schatten, und ihr Ausdruck war benommen. Plötzlich schüttelte sie sich heftig, wie in einem Schauder, der ihren ganzen Körper durchzuckte, und riß ihre Augen von der grünen Oberfläche. »Oh! mir war eben so seltsam zumute. Ein richtig gruseliges Gefühl, als ob mich jemand in meinem eigenen Grab störte.« Während ich die Leine einholte, lag Sally flach auf dem Boden des Schlauchbootes und starrte nach oben zum Felsendach. »Ben«, rief sie plötzlich. »Schau nach oben.« Ich unterbrach
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meine Arbeit und blickte hoch. Wir hatten die Öffnung im Dach noch nie aus diesem Blickwinkel gesehen. »Da, Ben. An der Seite«, zeigte Sally. »Dieses vorspringende Felsstück. Es ist rechteckig, regelmäßig und seine Form bestimmt nicht natürlich, oder?« »Mag sein«, sagte ich nach einigem Bedenken. »Du weißt, daß wir nie nach der Stelle gesucht haben, wo die Höhle in den Gipfel der Hügel ausläuft, Ben.« Sally richtete sich erregt auf. »Können wir das nicht tun? Sehen wir uns das rechteckige Steinstück an. Laß uns am besten gleich gehen, ja, Ben?« »Mein Gott, Sal, es ist schon nach zwei Uhr. Wir geraten in die Dunkelheit.« »Oh, komm! Wir können doch Taschenlampen mitnehmen.«
Die Vegetation auf dem Gipfel der Hügel war dicht und dornig. Ich mußte uns mit dem Buschmesser einen Pfad hacken. Wir hatten die Position des Lochs von unten ungefähr lokalisiert, irrten aber trotzdem zwei Stunden im Unterholz umher, bis ich fast hineinstolperte. Plötzlich gähnte zu meinen Füßen ein fürchterlicher schwarzer Schacht, ich warf mich zurück, wobei ich Sally fast zu Boden riß. »Das war nahe dran.« Ich zitterte und hielt mich in gehöriger Entfernung vom. Rand, während wir uns zu der Stelle vorarbeiteten, wo eine Steinplatte rechteckig in die Leere ragte. Ich kniete nieder, um den Stein zu untersuchen. Weit unten in der düsteren Tiefe glühte das grüne Auge des Teiches. Ich hasse solche schwindelnde Höhe und mir war ausgesprochen übel, als ich mich zu dem Stein nach vorn beugte.
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»Er ist ohne Zweifel regelmäßig, Sal.« Ich fuhr mit der Hand darüber. »Aber ich kann keine Meißelspuren fühlen. Er ist allerdings stark verwittert, vielleicht –« Ich schaute auf und erstarrte vor Entsetzen. Sally war auf die steinerne Plattform hinausgeschritten, als sei sie ein Sprungbrett. Sie stand jetzt mit den Zehen über dem Rand, und während ich entsetzt zusah, hob sie ihre Hände über den Kopf. Sie streckte sie gerade zum Himmel, mit gespreizten Fingern, in der gleichen Geste wie schon einmal am Teich. »Sally!« schrie ich, und ihr Kopf zuckte. Sie schwankte leicht. Ich raffte mich auf die Knie. »Nein, Sally, tu’s nicht!« Ich schrie wieder, denn ich wußte, daß sie sonst gleich in den gierigen Steinschlund springen würde. Langsam beugte sie sich über die Kluft. Ich rannte auf die Steinplattform und als sie die Balance zu verlieren drohte, packte meine Hand ihren Oberarm. Mehrere gräßliche Sekunden wankten und kämpften wir an dem steinernen Abgrund, dann zog ich sie zurück, in Sicherheit. Plötzlich begann sie zu zittern und hysterisch zu weinen. Ich klammerte mich an sie, denn auch ich war schwer mitgenommen. Etwas Unbegreifliches war geschehen, etwas Mystisches und tief Aufrührendes. Als Sallys Schluchzen nachgelassen hatte, fragte ich sie sanft: »Was ist passiert, Sal? Warum hast du das getan?« »Ich weiß nicht. Mir war einfach schwindlig, und in meinem Kopf tobte es schwarz – und – oh, ich weiß nicht, Ben. Ich weiß es einfach nicht.« Es dauerte zwanzig Minuten, ehe Sally sich genügend erholt hatte, um den Rückweg zum Lager anzutreten. Die Sonne ging bereits unter, und bevor wir den Pfad an der Klippenwand erreichten, herrschte völlige Dunkelheit. »Der Mond geht in wenigen Minuten auf, Sal. Ich möchte nicht im Dunkeln hinuntersteigen. Warten wir.«
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Wir saßen aneinandergeschmiegt am Rand der Klippen, denn wir standen beide noch ziemlich unter Schock. Der Mond erschien erst als große silberne Glut am Horizont, dann stieg er fett, gelb, rund über die Bäume und tauchte das Land in weiches blasses Licht. Ich schaute Sally an. Ihr Gesicht war silbergrau im Mondlicht, mit dunkel umschatteten Augen, und ihr Ausdruck war abwesend und unsagbar traurig. »Sollen wir gehen, Sal?« Ich umarmte sie sanft. »Noch eine Minute. Es ist so schön.« Ich blickte über die mondsilberne Ebene. Afrika hat viele Stimmungen, viele Gesichter, und ich liebe sie alle. Dies hier war eines seiner bezauberndsten Schauspiele. Wir saßen lange Zeit schweigend und versunken. Plötzlich regte sich Sally, richtete sich halb auf. »Ben!« Sie umklammerte erstaunlich kraftvoll mein Handgelenk und schüttelte meinen Arm. »Was ist, Sal? Geht’s dir nicht gut?« Ich fürchtete, ihre frühere Stimmung sei zurückgekehrt. »Schau doch nur, Ben!« Ihre Stimme schien in Empfindung zu ersticken. Mit einer Hand schüttelte sie meinen Arm, mit der anderen deutete sie auf die Ebene unter uns. »Ben, da ist es!« »Sally!« Ich legte besänftigend beide Arme um sie. »Ruhig, mein Liebes. Bleib nur still sitzen.« »Sei nicht verrückt, Ben. Ich bin völlig normal. Schau da unten.« Sie immer noch festhaltend, starrte ich hinunter, sah aber nichts. »Siehst du es, Ben?« »Nein.« Und dann war es auf einmal da, gleich einem PuzzleBild. Es war da, wie es von Beginn an hätte sein sollen. »Kannst du es sehen?« Sally bebte. »Sag mir, daß du es auch
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sehen kannst, Ben. Sag mir, daß ich’s mir nicht einbilde.« »Ja«, murmelte ich, immer noch unsicher, »ja, ich glaube –« »Es ist die Stadt des Mondes, Ben. Die Geisterstadt der Buschmänner – unsere versunkene Stadt, Ben. Sie ist es – sie muß es sein!« Es war vage, schemenhaft. Ich schloß fest die Augen und öffnete sie wieder. Es war immer noch da. Die doppelte Einfriedung um die schweigende Waldung, riesige symmetrische Umrisse auf der silbernen Ebene, dunkle schattenhafte Linien. Drüben die dunklen Kreise, welche die Stellen markierten, an denen die phallischen Türme gestanden hatten. Jenseits der Mauern lagen die Wabenzellen der Unterstadt, halbmondförmig hingestreckt am Ufer des alten, verschwundenen Sees. »Der Mond«, flüsterte ich. »Tiefer Winkel. Macht den Umriß der Fundamente sichtbar. Sie müssen so abgeflacht sein, daß wir einen Monat über sie weggeschritten sind, auf ihnen gelebt haben! Das Licht des Vollmonds hat gerade die richtige Stärke, um Schatten der winzigen Resterhebungen zu werfen.« »Die Fotografie!« »Ja. von 10 000 Meter, das Licht niedrig und weich genug, um denselben Effekt zu erzielen«, stimmte ich zu. »Aber es existieren keine Mauern, Ben, keine Türme, nichts. Nur die Fundamente. Was ist mit ihnen geschehen? Was ist mit unserer Stadt geschehen?« »Wir werden’s herausfinden, Sal«, versprach ich. »Aber wir wollen es jetzt markieren, bevor es wieder verschwindet.« Ich gab ihr die Taschenlampe aus dem Rucksack. »Ein Blitz bedeutet ›näher zu mir‹; zwei Blitze ›fort von mir‹; drei ›nach links‹; vier ›nach rechts‹; und eine Windmühle bedeutet ›du hast es‹.« Wir einigten uns schnell auf diesen einfachen Schlüssel. »Ich gehe runter in die Ebene, und du signalisierst mir. Wir müssen schnell arbeiten, weil wir nicht wissen, wie
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lange der Effekt anhält. Wenn er nachläßt, gib mir ein ›Aus‹Zeichen.« Über eine Stunde hetzte ich nach Sallys Signalen durch die Ebene, dann verblaßte die Stadt und verschwand allmählich, je höher der Mond zum Zenit stieg. Ich ging nach oben um Sally von den Klippen zu holen. Ich war nackt bis zur Taille, da ich mein Hemd in Streifen zerrissen und sie als Markierungen an Grasbüschel und Sträucher befestigt hatte. Im Lager fachten wir ein riesiges Feuer an. Wir diskutierten das Beleuchtungsphänomen noch einmal im Detail und erinnerten uns beschämt, wie nahe wir der Wahrheit gekommen waren, als wir am ersten Tag den Effekt der niedrigen Sonne erörtert hatten. »Ich schwöre hier und heute bei allen Göttern, daß ich nie wieder ein wichtiges wissenschaftliches Beweisstück über meine Schulter schleudern werde«, verkündete ich, und wir tranken darauf. Dann kamen wir auf die Geschichte des alten Buschmannes. »Sie beweist wieder einmal, daß jedes Stück Legende, jedes Stück Folklore irgendwie auf Tatsachen beruht, wenn auch noch so verstümmelten.« Sally wird nach einem Schuß Glen Grant ganz philosophisch. »Und wenn wir bedenken, daß mein Blutsbruder Xhai schon immer ein Rekordverstümmler von Tatsachen war – die Stadt des Mondes, fürwahr!« Es war weit nach Mitternacht, bis Sally die Frage des praktischen Vorgehens anschnitt. »Was machen wir, Ben? Weihen wir jetzt Louren Sturvesant ein?« Ich überlegte eine Weile. »Meinst du nicht, Sal, wir sollten eine Grube auf die Fundamente senken, eine kleine natürlich. Nur um sicherzugehen, daß wir uns nicht lächerlich machen?«
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»Ben, du kennst die Grundregel: scharre nicht aufs Geratewohl herum. Du könntest etwas Wertvolles zerstören. Wir sollten warten, bis wir ordentlich und systematisch vorgehen können.« »Ich weiß, Sal. Aber ich kann mir einfach nicht helfen. Nur ein winziges kleines Loch?« »Okay«, grinste sie. »Nur ein winziges kleines Loch.« Kurz bevor wir endlich einschliefen, murmelte Sally an meiner Brust: »Ich frage mich immer noch, was mit unserer Stadt geschehen ist. Falls das Bild der Buschmänner stimmt, sind riesige Mauern und Türme aus Quadern in der Luft verschwunden.« »Die Suche wird aufregend werden.«
Mannhaft wies ich die Versuchung zurück, einen Graben innerhalb der Tempeleinfriedung zu öffnen, und wählte statt dessen eine Stelle auf den Fundamenten der äußeren Mauer, wo ich nur minimalen Schaden anrichten konnte. Ich markierte mit Streifen aus zerrissenen Bettüchern die Umrisse der geplanten Ausgrabung. Ein schmaler Graben von einem Meter Breite und sechs Metern Länge, im rechten Winkel zu den Fundamenten, sollte einen horizontalen Querschnitt freilegen. Wir bezifferten die Streifen in Abständen von dreißig Zentimetern, und Sally trug in ihrem Notizbuch die Kreuzverweise ein. Unser Graben war nur fünfundzwanzig Meter von den Zelten entfernt. Wir hatten fast direkt auf der alten Mauer kampiert. Ich breitete die Zeltplane aus, um die Erdmasse aus dem Graben hineinzuschaufeln, spuckte in beide Handflächen, hob die Spitzhacke und blinzelte Sally zu. »Okay?« grinste ich.
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»Bis zum bitteren Ende, Partner?« sagte sie, und ich fuhr hoch. Die Worte stimmten nicht, sie gehörten Louren und mir. Wir benutzten sie nicht bei anderen Leuten. Dann dachte ich, was zum Teufel! Ich liebe sie auch. »Bis zum bitteren Ende, Mädchen!« stimmte ich zu und schwang die Spitzhacke. Sally sollte die Erde, die ich aus dem Graben schaufelte und auf die Zeltplane häufte, sorgfältig sieben. Mittags hatte ich den Graben in voller Länge über einen Meter tief geöffnet. Der Sandboden wich in vierzig Zentimeter Tiefe einem dunkelrötlichen Lehm, der noch die Feuchtigkeit der jüngsten Regenfälle gespeichert hatte. »Weißt du«, Sally betrachtete mich nachdenklich. »Wenn man sich daran gewöhnt, hat dein Körper eine seltsame Art Schönheit.« Ich errötete, bis mir die Augen tränten. Ich arbeitete noch eine Stunde, und dann kam plötzlich die Hackenspitze schwarz aus dem Boden. Ich schlug erneut zu – wieder schwarz. Ich ließ die Hacke fallen und kniete mich in den Graben. »Was ist?« Sally war sofort da. »Asche«, sagte ich. »Holzkohle!« »Eine alte Feuerstelle?« riet sie. »Vielleicht.« Ich legte mich glücklicherweise nicht fest, so daß ich sie später wegen ihrer Vermutung hänseln konnte. »Nehmen wir ein paar Proben zur Datierung.« Ich arbeitete jetzt noch vorsichtiger, versuchte die Ascheschicht bloßzulegen, ohne sie zu beschädigen. Wir vermaßen sie und stellten fest, daß sie über den ganzen Graben hin zwischen einem halben und fünf Zentimeter Tiefe variierte. Sally notierte die Daten von der Oberfläche aus und die Lage aller Kohleproben, während ich den Graben und die Streifen fotografierte. »Für eine Feuerstelle zu groß«, sagte sie. Ich nickte. »Wir
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sollten nicht tiefer graben, Ben. Nicht so mit Spitzhacke und Schaufel.« »Ich weiß«, sagte ich. »Wir hören in der Mitte des Grabens auf, lassen die Ascheschicht drüben unberührt, aber auf dieser Seite, zum Teufel, gehe ich tiefer, bis auf den Fels, wenn ich kann.« »Das freut mich«, begrüßte Sally meinen Entschluß. »Genau, was ich möchte.« »Du fängst am unteren Ende an, ich beginne hier, und wir arbeiten aufeinander zu«, ordnete ich an, und wir begannen, die Ascheschicht aus der einen Hälfte des Grabens zu heben. Unmittelbar darunter lag eine harte Tondecke – ich vermutete, daß es sich um eine Bauschüttung handelte; es war eine transportierte Schicht, keine natürlich gewachsene. »Sei vorsichtig«, warnte ich Sally. »Da spricht der Hacke-und-Schaufel-Mann«, murmelte sie sarkastisch und im selben Moment entdeckte sie die ersten Überbleibsel der Mondstadt. Während ich jetzt schreibe, habe ich ihr Notizbuch vor mir, mit ihren schmutzigen, erdigen Fingerabdrücken auf den Seiten und ihrer großen schulmädchenhaften Handschrift. Graben I: Verweis AC 6.11.4. Tiefe 12 cm. Gegenstand: Eine Glasperle. Oval. Blau. Umf. 2½ cm. Durchlocht. Leicht hitzeverbrannt. Bemerkungen: In Ascheschicht auf Ebene I gefunden. Index No. CM. I. Diese lakonische Notation gibt keinen Begriff von unserem Jubel und davon, daß wir uns vor Glück in die Arme fielen. Es war eine typische blaue phönizische Handelsperle, und ich verschloß das winzige Glaskügelchen in meiner Hand. Fünfzehn Minuten später machte ich die nächste Entdek-
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kung. Ein verkohltes Knochenfragment. »Menschlich?« fragte Sally. »Vielleicht das Oberteil eines menschlichen Schenkelbeins – ich glaube, daß auf dieser Ebene die Mondstadt geplündert und ausgebrannt worden ist, ihre Einwohner hingeschlachtet, die Mauern abgerissen und die Gebäude zerstört.« Sally pfiff leise, mich spöttisch überrascht anstarrend. »Mit dem Beweis einer Glasperle und eines Knochenstücks – du mußt der größte Phantast aller Zeiten sein.«
Am Abend antwortete ich auf Larkins gebrüllte Fragen: »Danke, Peter. Es geht uns gut. Nein, wir brauchen nichts. Ja. Gut. Sagen Sie bitte Mr. Sturvesant, hier gibt’s nichts Neues zu berichten.« Ich schaltete den Apparat aus und vermied Sallys Augen. »Du hast selbst gesagt, es ist nur eine Glasperle und ein Knochenstück.« Zwei Tage später hatte ich keine Entschuldigung mehr, denn ich hatte meinen Graben zwei Meter tief getrieben und die oberste von vier Lagen getrockneten Quaderwerks bloßgelegt. Die Steine waren kunstvoll behauen und zugeschnitten, die Fugen zwischen den Blöcken so eng, daß keine Messerschneide dazwischenging. Die Steine waren größer als in Zimbabwe, offensichtlich dafür gedacht, das Gewicht eines schweren Gebäudes zu tragen. Ohne jeden Zweifel handelte es sich um Handwerksarbeiten einer mächtigen und reichen Zivilisation. An diesem Abend sprach ich wieder mit Larkin. »Wie schnell können Sie eine Nachricht an Mr. Sturvesant durchgeben, Peter?« »Er müßte heute von New York zurückgekommen sein. Ich
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kann ihn gleich anrufen.« »Bitten Sie ihn, sofort zu kommen.« Der Hubschrauber traf am folgenden Nachmittag ein; mein Hemd überstreifend lief ich auf ihn zu. »Was hast du für mich, Ben?« verlangte Louren, als er groß und blond aus der Kabine stieg. »Ich glaube, es wird dir gefallen«, sagte ich beim Händeschütteln. Fünf Stunden später saßen wir ums Feuer, und Louren lächelte mir über den Rand seines Glases zu. »Du hattest recht, Junge. Es gefällt mir!« Zum erstenmal seit seiner Ankunft tat er seine Meinung kund. Er war Sal und mir von der Ausgrabung zur Höhle und zum Felsengipfel gefolgt, hatte aufmerksam unseren Erklärungen zugehört, reumütig den Kopf geschüttelt, als ich ihm unsere Theorie des tiefwinkligen Lichts auf den Ruinen erklärte, und gelegentlich Fragen gestellt, jedesmal präzise und forschend, als ob er ein Geschäft einschätzte. Wenn Sally redete, stand er dicht neben ihr, sah ihr offen ins Gesicht, seine prächtigen klassischen Züge ruhig und konzentriert, und sie lächelten einander an. Es freute mich, daß sie sich endlich so gut verstanden, denn es waren die beiden Menschen in der Welt, die ich liebte. Er kniete neben mir auf dem Grund des Grabens, streichelte den bearbeiteten Stein mit den Händen und drehte den verkohlten Knochen und die geschmolzene Glasperle nachdenklich hin und her. Kurz vor Sonnenuntergang kehrten wir auf Lourens Drängen zu der Höhle zurück und setzten uns im Halbkreis um das Bild des weißen Königs. Wir studierten jedes Detail. Der Kopf des Königs war im Profil gezeichnet, und Sally deutete auf die Züge, die lange gerade Nase und die hohe Stirn. »Ein solches Gesicht stammt niemals aus Afrika«, sagte sie. Lourens Aufmerksamkeit blieb an dem König haften. Er schien ihm sein Geheimnis abzwingen zu wollen, aber der Kö-
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nig verharrte in seiner herrscherlichen Unnahbarkeit. Schließlich fiel Lourens Blick auf die weißgewandeten Priesterfiguren zu Füßen des Königs. »Wer sind sie?« fragte er. »Wir haben sie Priester genannt«, erzählte ich ihm, »aber Sally meint, es könnten arabische Händler sein oder –« »Die Gestalt in der Mitte –« er deutete auf die zentrale Priesterfigur, und seine Stimme war scharf, fast verschreckt, »was macht er?« »Er verneigt sich vor dem König«, schlug Sally vor. »Aber warum ist er größer als die anderen?« wandte Louren ein. »Der Buschmann hat Wichtigkeit durch Größe ausgedrückt. Betrachte die Größe des Königs. Die Größe des mittleren Priesters würde bedeuten, daß er der Hohepriester ist oder, falls Sally recht hat, der Anführer der Araber.« »Wenn er sich verneigt, dann nur mit dem oberen Drittel seines Körpers, und als einziger. Die anderen stehen aufrecht.« Louren war immer noch nicht überzeugt. »Es ist fast, als ob –« Seine Stimme verklang, und er schüttelte den Kopf. Dann schauderte er plötzlich kurz, und ich sah die Gänsehaut auf seinen glatten gebräunten Oberarmen. »Gehen wir ins Lager zurück«, sagte Louren, und erst später am Feuer sprach er wieder. »Du hast recht, Junge, es gefällt mir!« Er nahm einen Schluck Malzwhisky. »Reden wir jetzt von Geld«, schlug er vor. »Rechne es uns vor, Lo.« »Ich werde mit der Regierung von Botswana verhandeln. Ich kann sie ein bißchen unter Druck setzen. Wir brauchen eine schriftliche Abmachung, Funde werden wahrscheinlich fünfzig-fünfzig geteilt; sie müssen uns Zugang garantieren und die Exklusivrechte. Und so weiter.«
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»Gut. Das kommt bestimmt aus deiner Trickkiste.« »Wie ich dich kenne, Benjamin, hast du deine eigene Bedarfsliste: du brauchst Leute, Geräte – habe ich recht?« Ich knöpfte lachend meine Brusttasche auf. »In der Tat –«, gab ich zu, indem ich ihm drei lange Seiten überreichte. Er überflog sie schnell. »Sehr spartanisch, Ben«, gratulierte er mir. »Aber ich denke, wir können größer einsteigen. Ich will hier zunächst eine provisorische Landebahn, daß wenigstens eine Dakota landen kann. Das heiße Wetter kommt. Du würdest unter der Zeltleinwand sterben. Wir brauchen feste Unterkünfte, dazu Büro- und Lagerräume mit Klimaanlagen. Das hieße einen Generator für Licht und eine Wasserpumpe aus dem Teich.« »Dich kann wirklich niemand der Halbherzigkeit beschuldigen, Lo«, sagte ich bewundernd. »Komm, Ben. Heute abend haben wir Grund zum Feiern.« Sally lachte und schenkte mir noch ein großes Glas ein. »Höh! Langsam, Doktor«, protestierte ich schwach, aber an diesem Abend betrank ich mich, wohlig, zufrieden, beschwingt. Würdevoll wies ich Lourens Hilfsangebot zurück und machte mich allein auf den Weg zu dem Zelt, das Sally mir nach Lourens Ankunft diskret zugewiesen hatte. Ich fiel voll angekleidet aufs Bett und schlief sofort ein. Ich wachte halb auf, als Louren hereinkam und in sein Bett an der anderen Zeltwand stieg. Ich erinnere mich, daß ich ein Auge öffnete und den Schein des schwindenden Mondes im Eingang sah – oder war es die erste Morgendämmerung? Es schien damals nicht wichtig. Am wichtigsten war das Personal für das Unternehmen. Ich hatte Glück. Peter Willcox stand ein Sonderurlaub von der Universität Kapstadt zu. Ich flog hin und überzeugte ihn innerhalb von sechs Stunden. Heather, seine Frau, war ein wenig schwieriger umzustimmen, bis ich ihr die Fotografien des wei-
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ßen Königs zeigte. Höhlenkunst ist ihre wie Sallys große Leidenschaft. Man konnte gut mit ihnen zusammenarbeiten. Wir waren gemeinsam bei der Ausgrabung in den Slangkop-Höhlen gewesen. Sie waren beide in den Dreißigern, hatten keine Kinder, waren heiter, kenntnisreich und fleißig. Peter stellte mir zwei seiner Forschungsstudenten vor, die er ohne Einschränkung empfahl. Ral Davidson war ein junger Mann von einundzwanzig Jahren mit einem gewaltigen Haarwust, seine Verlobte war eine ernste bebrillte junge Frau, die das Staatsexamen als Beste ihres Jahrgangs bestanden hatte. Peter Larkin trieb sechsundvierzig afrikanische Arbeiter aus den südlichen Gebieten Botswanas für mich auf, die nie von den Bluthügeln oder einem Fluch darauf gehört hatten. Nur Timothy Mageba enttäuschte mich. Ich verbrachte auf dem Rückweg von Kapstadt fünf Tage im Institut in Johannesburg, hauptsächlich um Timothy zu überzeugen, daß ich ihn an den Bluthügeln brauchte. »Machane«, sagte er, »es gibt hier Arbeit, die kein anderer tun kann.« Ich sollte mich später an diese Worte erinnern. »Aber für deine Arbeit gibt es genug fähige Leute. Du brauchst mich nicht.« »Bitte, Timothy. Es wäre nur für sechs Monate oder so. Deine Arbeit hier kann warten.« Er schüttelte heftig den Kopf, aber ich insistierte weiter. »Ich brauche dich. Manches kannst nur du allein klären. Timothy, wir haben mehr als 5000 Quadratmeter Malereien an den Felsen. Vieles davon ist symbolisch – stilisierte Embleme, die nur du –« »Dr. Kazin, Sie können mir ja Kopien schicken, die ich Ihnen dann interpretieren kann.« Timothy wechselte ins Englische, was bei ihm immer ein schlechtes Zeichen ist. »Ich hoffe, Sie bestehen nicht darauf, daß ich das Institut jetzt verlasse. Meine Assistenten können nicht ohne meine Anleitung arbeiten.« Wir
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starrten einander wenige Sekunden an – ein rebellischer Geist schwelte in Timothys dunklen Augen, und ich erkannte, daß er einen tieferen Grund hatte für seine Weigerung, mich zu begleiten. »Ist es –« ich zögerte. Ich wollte ihn fragen, ob der alte Fluch der Grund war. Es schmerzt mich immer, wenn Aberglaube einen intelligenten und gebildeten Mann beeinflußt. »Es gibt immer mehrere Gründe, Doktor. Bitte glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, daß ich Sie diesmal besser nicht begleite.« »All right, Timothy«, resignierte ich und stand auf. Er schien mir verändert. Die flackernden Feuer in seinen Augen brannten heller. Wieder spürte ich tief in mir diese Regung des Unbehagens, ja der Furcht. »Es wird mich sehr interessieren, wenn Sie soweit sind, Timothy.« Meine vier neuen Assistenten trafen am nächsten Morgen mit dem Linienflug von Kapstadt ein, und wir fuhren sofort zum Sturvesant Hangar, wo die Dakota auf uns wartete. Der Flug war laut und fröhlich. Peter hatte sein Akkordeon dabei, und ich reise nie ohne meine alte Gitarre. Vor drei Wochen hatte ich die Bluthügel verlassen, und als wir jetzt über ihnen kreisten, erkannte ich sofort die Veränderungen, die in meiner Abwesenheit stattgefunden hatten. Eine Landebahn war in die staubige Ebene geschnitten, daneben stand eine Gruppe vorfabrizierter Gebäude. Rundherum verlief der lange Hauptbungalow mit den Wohnräumen. Ein skelettartiger Metallturm trug einen 9000-Liter-Wassertank aus galvanisiertem Eisen, dahinter befand sich das Lager der afrikanischen Arbeiter. Sally wartete auf uns an der Landebahn. Ich hatte damit gerechnet, daß Louren da war, aber Sally teilte mir mit, er sei nach mehreren Tagen Aufenthalt am Tag zuvor abgeflogen.
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Stolz führte Sally uns durch das Lager. Der klimatisierte Hauptbungalow war unterteilt in einen kleinen Aufenthaltsund Speiseraum am einen Ende, in der Mitte ein großes Büro und auf der anderen Seite ein Lagerhaus. Es gab vier Wohnhütten, mit Klimaanlagen, aber spärlich möbliert. Sally hatte eine dem Ehepaar Willcox zugewiesen, eine Leslie und sich selbst, eine Ral und mir und die vierte Louren oder anderen Besuchern, Piloten und übernachtenden Gästen. »Ich könnte mir einige Verbesserungen in den Schlafarrangements vorstellen«, murmelte ich bitter. »Armer Ben.« Sally lächelte grausam. »Die Zivilisation hat dich eingeholt. Nebenbei, hoffentlich hast du deine Badehose mitgebracht – kein Nacktschwimmen mehr im Teich.« Fast bedauerte ich, was Louren alles für mich getan hatte. Die Bluthügel waren kein einsamer, geheimnisvoller Ort in der Wildnis mehr, sondern eine geschäftige kleine Gemeinschaft, mit regelmäßig landenden Flugzeugen, mit staubaufwirbelnden Landrovern, und sogar dem Rasseln einer elektrischen Wasserpumpe, die das träumerische Schweigen der Höhle brach und die stillen grünen Wasser meines verwunschenen Teichs aufstörte. Meine Truppe fand sich schnell mit ihren Aufgaben zurecht. Sally arbeitete mit einem einzigen jungen afrikanischen Assistenten in der Höhle weiter. Die anderen vier wurden als Leiter eines Teams von jeweils zehn Arbeitern eingesetzt und erhielten ein bestimmtes Gebiet zugewiesen. Peter und Heather wählten raffiniert ihren Arbeitsbereich jenseits der Hauptmauern, in den Ruinen der Unterstadt. Hier hatten die Bewohner wahrscheinlich ihren Müll fortgeworfen. Tonscherben, alte Waffen, verbrauchte Glasperlen. Ral und Leslie stürzten sich in ihren Träumen von Gold und Schätzen auf die Grabungen innerhalb der Einfriedung, einen Bereich, den die Alten bestimmt makellos sauber gehalten hatten, der
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deshalb voraussichtlich weniger interessante Funde erbringen würde. Das ist eben der Unterschied zwischen jugendlichem Ungestüm und der kühlen Kalkulation eines erfahrenen Kopfes. Ich behielt mir die Position des Aufsehers und Beraters vor, um meine Zeit dort zu verbringen, wo ich am meisten nutzte. Ich konnte wirklich beruhigt sein. Es waren kluge, begeisterte, junge Leute, und – noch wichtiger – sie kannten sich mit Ausgrabungen aus. Unsere erste bedeutende Entdeckung: die Ascheschicht auf Ebene I verlief, wenn auch in unterschiedlicher Dichte, durch die gesamte Baustelle, sogar in der Unterstadt. Die Kohledatierung ergab ein ziemlich konstantes Resultat, 450 n. Chr. Dieses Datum schien um die ältesten Buschmänner-Malereien der Höhle zu liegen, oder kurz davor. Wir kamen zu dem Schluß, daß die Buschmänner unmittelbar nach dem Verschwinden der Alten aus der Stadt die Höhle besetzt haben mußten. Solange unbewiesen war, daß es sich bei den Ureinwohnern um Phönizier handelte, sprachen wir nur von den »Alten«. In der Ascheschicht fanden sich Spuren menschlicher Überreste. Ral grub in der Asche am Fuß des Hauptturms einen Schneidezahn aus, Peter Knochenreste. Solche unbestatteten menschlichen Reste unterstützten meine Theorie, daß die Mondstadt von einem gewaltsamen Ende getroffen worden war. Das wurde auch durch das verblüffende Fehlen der Mauern und Türme bestätigt, die unseren Schlüssen nach einst auf den Tonsockeln standen, deren rudimentäre Steinfundamente in unregelmäßigen Abständen am Umriß der Tempeleinfriedung zum Vorschein kamen. Ral meinte zögernd, es könne ein Feind so blind vor Haß gewesen sein, daß er bewußt jede Spur der Alten von der Erde tilgen wollte. »Gut. Aber was ist mit den tausenden Tonnen massiven Quaderwerks geschehen?« fragte Sally für uns alle.
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»Sie haben es über die Ebene verstreut«, vermutete Ral. »Eine herkulische Aufgabe, außerdem war die Ebene damals ein See. Um es loszuwerden hätten sie es eher in dem Gebiet zwischen Klippen und See verstreut. Aber da fehlt jedes Anzeichen.« Dagegen erinnerte Peter Willcox uns an die Darstellung in Credo Mutwas Buch Indaba meine Kinder, wie ein altes Volk seine Stadt Block für Block aus dem Westen getragen und sie dann in Zimbabwe wiederaufgebaut hatte. »Dies ist roter Sandstein«, unterbrach Sally brüsk. »Zimbabwe ist Granit, aus dem Felsen gebrochen, auf dem es steht. Zimbabwe liegt 420 Kilometer östlich von hier. Der erforderliche Aufwand wäre unvorstellbar. Man mag die Methoden und das technische Wissen transportiert haben, aber nicht das Material selbst.« Wir gaben diese Theorie auf und wandten uns wieder den Fakten zu. Nach sechs Wochen besuchte uns Louren Sturvesant zum ersten Male. Alle Arbeiten wurden ausgesetzt, während wir ein zweitägiges Seminar unter meiner Leitung hielten, um Louren all unsere bisherigen Leistungen und Folgerungen zu präsentieren. Sie waren beeindruckend. Allein die Liste der Fundgegenstände, der Tonscherben und anderen Relikte füllte 127 Schreibmaschinenseiten. Peter und Heather waren für die meisten verantwortlich, und sie eröffneten das Seminar. »Bisher waren alle Ausgrabungen außerhalb der Einfriedung auf das Gebiet nördlich davon beschränkt und auf einen Umkreis von dreihundert Metern. In der Hauptsache scheint es sich um einen Komplex kleiner Räume und Gebäude aus Ziegelton zu handeln, gedeckt mit Holz und Stroh –« Schließlich kam Peter zu seinem Schluß: »Es hat daher den Anschein, daß dieses Gebiet ein großer Basar und Marktplatz war.«
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Und er führte uns ins Lagerhaus, um uns die Funde aus diesem Gebiet zu zeigen. Da lagen stark verrostete Eisenfragmente, ein Bronzekamm, ein Messergriff in der Form eines weiblichen Körpers, vierzehn Bronzerosetten wahrscheinlich von einem Lederschild, fünfundzwanzig Ein-Pfund-Gewichte aus Bronzescheiben und Stern- und Sonnenornamente, sechzehn bearbeitete Bronzeplatten – wie wir hofften, Teile einer Rüstung –, ein großartiger Bronzeteller von 65 Zentimeter Durchmesser mit einer Sonnenabbildung und eingefaßt mit einem kunstvollen Saummuster, ein weiteres Vierzig-PfundGewicht aus Bronzeschrott und bis zur Unkenntlichkeit zerbrochene und beschädigte Fragmente. »Das sind alle Bronzeobjekte, die wir bisher geborgen haben«, sagte Peter zu Louren. »Die Bearbeitung ist grob, aber nach Idee und Ausführung nicht erkennbar Bantu. Sie ähnelt mehr dem, was wir an phönizischer Handwerkskunst kennen. Im Gegensatz zu den Römern und Griechen legten sie wenig Wert auf die künstlerische Gestaltung. Ihre Gegenstände waren wie ihre Gebäude massig und roh. Außerdem wird ihre Verehrung der Sonne deutlich. Es war offenbar eine polytheistische Gesellschaft, aber die Sonnenanbetung hatte wohl zentrale Bedeutung. In dieser Siedlung scheint die Sonne eine Verkörperung Baals, der männlichen Gottheit der Phönizier, gewesen zu sein.« Peter drohte in seiner Spekulation ein wenig zu weit zu gehen, aber ich ließ ihn ohne Unterbrechung fortfahren. Nachdem er jedes Stück gesondert erörtert hatte, führte er uns zu den Tischen mit den Glas- und Tonsachen. »Einhundertfünfundzwanzig Pfund Glasperlen – Blau und Rot sind die dominierenden Farben, phönizische Farben. Rote und weiße und gelbe Perlen wurden nur auf den Ebenen I und II gefunden. Mit anderen Worten: später als 50 n. Chr. – was in etwa mit der Schlußphase in der Absorption der phönizischen Zivilisation durch die Römer im Mittelmeerraum und ihrem
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allmählichen Untergang übereinstimmt.« Ich unterbrach. »Die Römer haben Phönizien und all seine Werke so gründlich absorbiert, daß wir sehr wenig von ihnen wissen …« Meine Aufmerksamkeit wandte sich Sally zu. Sie war in sprühender Laune, völlig verändert zu den vergangenen sechs Wochen, die sie niedergeschlagen und in sich gekehrt gewesen war. Ihr frisch gewaschenes Haar glänzte und wallte in sanftem Schein; ihre Haut schimmerte in goldenen Farben. Sie hatte Lippenstift aufgetragen und ihre Augen geschminkt. Ihre Schönheit nahm mir den Atem. »… ein Beispiel ist die Bergung von Tonscherben«, sagte Peter gerade. Er deutete auf die umfangreiche Auslage von Fragmenten. »Mit einer Ausnahme findet sich nirgendwo eine Aufschrift. Dies ist die Ausnahme.« Er hob eine Scherbe von ihrem Ehrenplatz und reichte sie Louren. In den gebrannten Ton war ein Symbol geprägt. »Ein Splitter von einem Tassenrand oder eine Vase. Das Symbol könnte ein punisches T sein.« Louren sprudelte es impulsiv heraus, indem er sich nach mir umdrehte und eine Hand auf meine Schulter legte. »Wirklich, Ben. Das müssen sie akzeptieren, oder?« »Nicht unbedingt, Lo.« Ich schüttelte bedauernd den Kopf. »Sie werden schreien ›Importiert‹. Der alte Trick, alles zu diskreditieren, was man nicht erklären kann oder was nicht die eigenen Theorien unterstützt, man sagt einfach, es sei auf dem Handelsweg hereingelangt.« »Du scheinst auf keinen grünen Zweig zu kommen«, bemitleidete mich Louren und ich grinste. »Wenigstens haben wir keine Nanking-Tonscherben aus dem vierzehnten Jahrhundert entdeckt – oder einen Nachttopf mit dem Porträt der Königin Viktoria!« Lachend gingen wir zur nächsten Auslage von Kupfer und
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Kupferwaren, grün verkrusteten und angefressenen Armringen und Broschen, dann zu den Eisenarbeiten, die wir geborgen hatten. Sie waren alle so schlimm verrostet und beschädigt, daß man die Originalform nur erraten konnte: hunderte von Pfeilspitzen, meist aus den Ebenen I und II, Speerspitzen und Schwertschneiden, Axtblätter und Messer. »Nach der Anzahl der Waffen zu urteilen oder was wir für Waffen halten, waren die Alten ein kriegerisches Volk. Oder sie fürchteten Überfälle und bewaffneten sich dementsprechend«, argumentierte ich. Wir widmeten uns meinen Fotografien, die jede Stufe der Ausgrabungen zeigten, Ansichten der Unterstadt, des Tempels, der Akropolis und der Höhle. »Sehr gut, Ben«, gestand Louren ein. »Hast du noch mehr für mich?« »Das Beste kommt zuletzt.« Ich konnte mir ein wenig Effekthascherei nicht verkneifen und hatte daher das Ende des Lagerhauses abgeteilt. Ich führte ihn hinter die erste Trennwand, während das gesamte Team gespannt auf seine Reaktion wartete. Die Wirkung war zufriedenstellend. »Großer Gott!« Louren starrte auf die phallischen Säulen mit ihren verzierten Köpfen. »Zimbabwe-Vögel.« Wir hatten drei Säulen. Obwohl unvollständig, hatten sie eine Höhe von 1,50 Meter und einen Umfang von achtzig Zentimetern. Nur eine von ihnen war relativ gut erhalten, die beiden anderen waren total verstümmelt und kaum noch zu erkennen. Die Meißelung am Kopf jeder Säule hatte ursprünglich offenbar einen Geiervogel mit großem Schnabel und Raubklauen dargestellt. Sie glichen in Entwurf und Ausführung denen, die Hall, MacIver und andere in Zimbabwe ausgegraben hatten. »Keine Zimbabwe-Vögel«, verbesserte ich Louren. »Nein«, bestätigte Sally. »Die Zimbabwe-Vögel sind nach diesen hier kopiert worden.« »Wo habt ihr sie gefunden?« fragte Louren, indem er die
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grünen Specksteinfiguren näher betrachtete. »Im Tempel.« Ich lächelte Ral und Leslie zu, die sich bescheiden zurückhielten. »In der inneren Einfriedung. Es sind wahrscheinlich religiöse Objekte – beachte die Sonnensymbole um den Säulenkragen –, sie haben offensichtlich mit der Verehrung Baals als Sonnengott zu tun.« »Wir haben sie Sonnenvögel genannt«, erklärte Sally. »Warum sind sie so beschädigt?« Louren deutete auf die Stellen wo mutwillige Schläge den brüchigen grünen Stein zertrümmert hatten. »Eine gute Frage.« Ich zuckte die Schultern. »Aber wir wissen, daß sie umgestürzt worden sind und ungeordnet und ziellos in der Ascheschicht auf Ebene I lagen.« »Ist ja sehr interessant, Ben.« Lourens Augen wurden von der letzten Trennwand am Ende des Lagerhauses angelockt. »Jetzt komm schon, du alter Gauner, was hast du dahinter noch versteckt?« »Worauf die ganze Stadt und Kolonisation gegründet war –« ich öffnete die Wand, »– Gold!« Irgend etwas an diesem herrlichen Metall nimmt einen gefangen. Schweigend bewunderten wir die Objekte, die wir vorher sorgfältig gereinigt hatten. Es war eine faszinierende Sammlung, insgesamt 683 Feinunzen. Darunter waren fünfzehn Stäbchen aus einheimischem Gold so dick und lang wie ein männlicher Finger, achtundvierzig grob gearbeitete Schmuckstücke, Nadeln, Broschen und Kämme, eine zehn Zentimeter hohe Statuette einer weiblichen Figur. »Astarte – Tanith«, flüsterte Sally und streichelte sie. »Göttin des Mondes und der Erde.« »Und dann«, sagte ich, »haben wir dies«, wobei ich den schweren Kelch aus purem Gold aufhob. Er war zerbeult und verbogen, aber der Ständer war unbeschädigt. »Schau,« ich wies auf das Muster von ungewöhnlich feiner Linienführung.
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»Ankh? Das ägyptische Zeichen ewigen Lebens?« Lourens Blick suchte meine Zustimmung. Ich nickte. »Für die Christen und Heiden unter euch. Wir wissen, daß die Pharaonen gelegentlich bei den Phöniziern Schatzlieferungen für ihr Reich bestellten. War dies«, und ich drehte den Kelch in meinen Händen, »das Geschenk eines Pharaos an den König von Ophir?« »Und erinnerst du dich an den Pokal in der rechten Hand der Weißen Dame vom Brandberg?« fragte Sally. Die Gespräche und Diskussionen rissen nicht ab bis zum frühen Morgen. Am nächsten Tag präsentierte Sally, assistiert von Heather Willcox ihre Zeichnungen und Malereien aus der Höhle. Als sie den Aufriß des weißen Königs zeigte, runzelte wieder die gleiche Konzentration Lourens Brauen. Er betrachtete ihn lange und wandte sich dann an Sally: »Ich möchte eine Kopie davon haben, für meine private Sammlung. Geht das?« »Mit dem größten Vergnügen.« Sally lächelte ihn glücklich an. Ihre sprühende Laune hielt sichtlich noch immer vor; sie genoß die Sensation, die sie mit der Darstellung ihrer Arbeit bewirkte. Wie die meisten schönen Frauen ist Sally einem Auftritt im Rampenlicht nicht unbedingt abgeneigt. »Hiermit bin ich zu keinem Schluß gelangt.« Sally lächelte, als sie ein neues Blatt an die Tafel im Aufenthaltsraum hängte. »Wir haben siebzehn noch nicht isolierte Symbole, die diesem gleichen. Heather nennt sie die wandernden Gurken oder die vierbeinigen Gurken. Habt ihr irgendeine Idee?« »Eine Bireme!« sagte Louren leise. »Und eine Trireme.« »Verdammt.« Ich sah es sofort. »Du hast recht!« »Quinquereme von Ninive, aus dem fernen Ophir«, zitierte Peter freudig. »Die Form eines Schiffsrumpfs und die Ruderbänke«, ergänzte ich. »Natürlich – wenn wir recht haben, müssen solche
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Boote regelmäßig auf den Seen verkehrt haben.« Wir akzeptierten es; andere würden es bestimmt nicht tun. Nach dem Mittagessen besichtigten wir die Ausgrabungen. Peters Team hatte in dem von den Klippen und der Einfriedungsmauer gebildeten Winkel eine Reihe großer regelmäßiger zellenartiger Räume freigelegt, die durch einen langen Korridor verbunden waren. Es gab Überreste gepflasterter Böden und eines Drainagesystems. Jeder Raum maß annähernd acht Quadratmeter. Es schienen die einzigen Bauwerke aus Steinblökken statt Ziegelton außerhalb der Einfriedung zu sein. »Elefantenställe?« fragte ich. »Haargenau, Junge!« Louren schlug mir auf die Schulter. Nach dem Abendessen arbeitete ich eine Stunde in meiner Dunkelkammer, um drei Filme zu entwickeln, und danach suchte ich Louren. Er flog am nächsten Morgen wieder früh ab, und wir hatten noch viel zu besprechen. Er war weder im Gästezimmer noch im Speiseraum, und als ich nach ihm fragte, sagte mir Ral: »Ich glaube, er ist zur Höhle gegangen, Doktor. Er hat sich eine Taschenlampe von mir geliehen.« Leslie blickte ihn offensichtlich warnend an, mit gerunzelten Brauen und einem kurzen Kopfschütteln, aber das sagte ihm anscheinend ebensowenig wie mir. Ich holte meine eigene Taschenlampe und machte mich auf den Weg durch die schweigende Waldung. Ich konnte kein Licht sehen. Ich blieb stehen und rief wieder »Louren!« Meine Stimme dröhnte in der Höhle. Es kam keine Antwort, und ich ging weiter den Gang entlang. Als ich aus der Mündung des Tunnels trat, zuckte plötzlich der Strahl einer starken Taschenlampe vom anderen Ende der Höhle auf und schien mir voll in die Augen. »Louren?« fragte ich. »Bist du es?« »Was willst du, Ben?« verlangte er aus der Dunkelheit hinter der Lampe. Seine Stimme klang gereizt, fast wütend.
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»Ich will mit dir die Pläne für die nächste Phase besprechen.« Ich schützte meine Augen vor dem Strahl. »Das hat Zeit bis morgen.« »Du fliegst früh los – laß uns jetzt reden.« Ich ging durch die Höhle auf ihn zu, meine Augen von dem blendenden Strahl abwendend. »Richte das Licht bitte woanders hin«, protestierte ich schwach. »Bist du taub?« Lourens Stimme knirschte, es war jetzt die Stimme eines Mannes, der Gehorsam gewöhnt ist. »Ich habe gesagt, morgen, verdammt.« Ich erstarrte. Er hatte mich nie in meinem ganzen Leben so angefahren. »Lo, was ist los mit dir?« fragte ich beunruhigt. Irgend etwas stimmte hier nicht in der Höhle. Ich spürte es. »Ben«, seine Stimme knisterte, »dreh dich um und geh bitte. Ich seh dich morgen früh.« Ich zögerte noch einen Augenblick. Dann drehte ich mich um und tastete mich durch den Gang zurück. Ich hatte nicht einmal einen Blick auf Louren in der Dunkelheit hinter der Lampe erhascht. Am Morgen war Louren so charmant, wie nur er es sein kann. Er entschuldigte sich beredt wegen gestern abend. »Ich wollte einfach allein sein, Ben. Es tut mir leid. Manchmal bin ich so.« »Ich weiß, Lo. Mir geht’s genauso.« In zehn Minuten hatten wir uns darauf geeinigt, daß die Indizien eine phönizische Besetzung der Stadt zwar sehr nahelegten, aber nicht endgültig bewiesen. Wir wollten noch keine öffentliche Verlautbarung formulieren. Er flog in der Dämmerung ab. Zum Frühstück würde er in London sein.
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Die Wochen nach Lourens Abflug waren unbefriedigend für mich. Wir machten weitere Funde, aber sie brachten nichts Neues. Ich streifte ruhelos durch die Baustelle und wartete gespannt an jedem neuen Graben oder jeder freigelegten Schicht, ob der nächste Spatenstich nicht eine beschriftete Tafel oder den Türsturz eines Grabgewölbes aufdecken würde. Irgendwo lag hier der Schlüssel zu dem alten Geheimnis, aber er war gut versteckt. Meine Beziehung zu Sally hatte sich in eigenartiger Weise verschlechtert, was ich mir nicht erklären konnte. Meine dilettantischen Versuche, sie allein zu erwischen, wurden mit Bestimmtheit abgewehrt. Sie schien in sich gekehrt, schweigsam, sogar mürrisch. Sie arbeitete mit grimmiger Konzentration an ihrer Staffelei und verschwand nach dem Abendessen gewöhnlich gleich in ihrer Hütte. Einmal folgte ich ihr, klopfte leise an die Tür und stieß sie dann zögernd auf, als keine Antwort kam. Sie war nicht da. Ich wartete im Schatten. Sie kehrte erst nach Mitternacht zurück und ging direkt in ihr Zimmer, wo Leslie schon lange das Licht ausgeschaltet hatte. Schließlich suchte ich sie in der Höhle auf. »Ich möchte mit dir reden, Sal.« »Worüber?« Sie sah mich leicht überrascht an, als ob sie mich seit Tagen zum ersten Male bemerkte. Ich schickte den jungen afrikanischen Assistenten fort und bat Sally, sich mit mir auf die Felsen neben dem Teich zu setzen, in der Hoffnung, daß seine Schönheit und die mit ihm verbundenen Erinnerungen sie besänftigen würden. »Stimmt etwas nicht, Sal?« »Lieber Himmel, wieso denn?« Die Unterhaltung war peinlich und ergebnislos Ich ergriff ihre Hand, auf mich selbst wütend, weil ich heiß errötete, und sagte zärtlich: »Ich liebe dich, Sal. Vergiß das nicht – wenn ich irgend etwas tun kann –«
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Wahrscheinlich hatte ich genau das Richtige gesagt, denn ihre Hand erwiderte meinen Druck, ihr Gesicht entspannte sich, und Tränen trübten ihr die Augen. »Ben, du bist ein lieber Mensch. Beachte mich einfach eine Zeitlang nicht. Ich bin nur in Katerstimmung, daran ist nichts zu machen. Es geht von allein vorbei, wenn du mich in Ruhe läßt.« Ein schwaches Lächeln zuckte in ihren Mundwinkeln und in den großen grünen Augen. »Sag mir Bescheid, wenn es vorbei ist, ja?« Ich stand auf. »In Ordnung, Doktor. Sie werden es als erster erfahren.«
In der Woche danach flog ich für zehn Tage nach Johannesburg zurück, um an der jährlichen Generalversammlung des Institutskuratoriums teilzunehmen und eine Vortragsreihe an der Archäologischen Fakultät der Universität von Witwatersrand zu halten. Ich ließ alles in Peter Willcox’ bewährten Händen, der sofort ein Telegramm schicken wollte, falls sich etwas Neues ereignete. Die Kuratoriumsversammlung wurde zu einer festlichen Angelegenheit, Louren machte mir vom Sessel des Vorsitzenden aus schmeichelhafte Komplimente und lud mich zum Diner in sein Haus, wo vierzig Personen um den gelben Holztisch im riesigen Eßzimmer saßen und ich der Ehrengast war. Hilary Sturvesant, die ein gelbes Brokatkleid und dazu die sagenhaften Sturvesant-Diamanten trug, widmete mir während der Mahlzeit ihre fast ungeteilte Aufmerksamkeit, und da der Wein meine Zunge gelöst und meine verflixte Schüchternheit fortgespült hatte, fühlte ich mich wie in Herrgotts Schoß – und fast zwei Meter groß. Dieses neu erworbene Selbstbewußtsein trug mich durch die
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Vorträge an der Universität. Bei dem ersten waren fünfundzwanzig Studenten und Fakultätsangehörige zugegen, doch die Sache kam an und sprach sich herum, so daß die letzte Vorlesung in einen großen Hörsaal verlegt werden mußte, um das Auditorium von sechshundert Leuten unterzubringen. Ich hatte glänzenden Erfolg; der Rektor der Universität deutete sogar unverblümt an, daß im nächsten Jahr der Lehrstuhl für Archäologie vakant werde. Während der letzten drei Tage meines Besuchs verbrachte ich jede Minute im Institut. Erleichtert stellte Ich fest, daß in meiner Abwesenheit alles bestens weiterlief. Die Buschmänner-Ausstellung zum Beispiel, im Kalahari-Raum, war prächtig arrangiert. Die zentrale Figur der Hauptgruppe erinnerte mich lebhaft an meinen kleinen Freund Xhai. Das Modell war beim Bemalen der Steinwand in einer Höhlenwohnung dargestellt. So stellte ich mir den Künstler vor, der meinen weißen König gemalt hatte. Es berührte mich seltsam – als ob zwei Jahrtausende fortgeräumt seien, als ob mein Geist durch die Jahre zurückstrahlte. Ich sprach mit Timothy Mageba darüber. »Ja, Machane. Ich habe Ihnen schon früher gesagt, daß Sie und ich gezeichnet sind. Wir tragen das Mal der Geister, wir haben das zweite Gesicht.« Ich schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, Timothy, aber ich setze immer nur auf Verlierer –« »Ich scherze nicht, Doktor«, wies er mich zurecht. »Sie besitzen die Gabe. Nur hat man Sie nicht gelehrt, sie zu entwickeln.« Ich erkenne Hypnotismus an, aber wenn von Hellsicht, Totenbeschwörung, Wahrsagen und so weiter die Rede ist, werde ich verlegen. Um das Gespräch von mir abzulenken, fragte ich: »Sie sagten, daß Sie auch von den Geistern gezeichnet sind …« Timothy sah mich fest mit seinen durchdringenden dunklen Augen an. Zuerst dachte ich, meine direkte Frage hätte ihn beleidigt, aber plötzlich nickte er, stand auf und verriegelte die
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Tür seines Büros. Dann zog er schnell Schuh und Strumpf von seinem rechten Fuß und zeigte ihn mir. Die Mißbildung erschreckte mich, obwohl ich schon vorher Fotografien davon gesehen hatte. Sie kam im Batonga-Stamm des Sambesitals recht häufig vor. Das British Medical Journal hatte 1969 einen Artikel über dieses »Straußenfuß« genannte Phänomen veröffentlicht. Es bestand aus einer beträchtlichen Lücke zwischen der großen Zehe und der zweiten Zehe. Infolgedessen glich der Fuß der Klaue eines Straußes oder eines Raubvogels. Timothy schämte sich offenbar der Mißbildung, er zog Strumpf und Schuh sofort wieder an. Er wollte mit dieser Enthüllung sicherlich meine Sympathie gewinnen und das Band zwischen uns festigen. »Beide Füße?« fragte ich, und er nickte. »Im Sambesital gibt es das häufig«, beschwichtigte ich ihn. »Meine Mutter war eine Batonga-Frau«, antwortete er. »Wegen dieses Zeichens bin ich zur Einweihung in die Geheimnisse ausgewählt worden.« »Behindert es Sie?« fragte ich. »Nein«, antwortete er brüsk, und fuhr dann beinahe herausfordernd in Batonga fort: »Wir mit den Pferdefüßen laufen schneller als die schnellste Antilope.«
Ich wurde durch ein leises, aber anhaltendes Klopfen an meiner Wohnungstür im Institut geweckt. Ich schaltete die Nachttischlampe an, es war drei Uhr morgens. »Wer ist da?« rief ich. Das Klopfen hörte auf. Ich schlüpfte schnell in meinen Morgenrock und ging zur Tür, als mir einfiel, daß ich besser meine große Automatik 45 mitnahm. Mit einem etwas melodramatischen Gefühl pumpte ich eine Runde
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in die Patronenkammer und ging zur Tür. »Wer ist da?« wiederholte ich. »Ich bin’s, Doktor. Timothy!« Ich zögerte einen Augenblick – jeder konnte sich Timothy nennen. »Sind Sie allein?« fragte ich im Dialekt der KalahariBuschmänner. »Ich bin allein, Sonnenvogel«, antwortete er in der gleichen Sprache. Ich steckte die Pistole in die Tasche und öffnete. Thimothy hatte dunkelblaue Hosen und ein weißes Hemd an mit einer Windbluse um die Schultern. Ich bemerkte das frische Blut auf dem Hemd und das ziemlich schmutzige Tuch um seinen linken Unterarm. Er war sichtlich erregt, die Augen weit geöffnet und starr im Licht, seine Bewegungen ruckhaft und nervös. »Großer Gott, Timothy, was ist passiert?« »Ich habe eine furchtbare Nacht hinter mir, Doktor. Ich mußte Sie sofort sehen.« »Was ist mit Ihrem Arm?« »Ich habe mich an der Glasscheibe meiner Wohnungstür geschnitten, ich bin im Dunkeln gefallen«, erklärte er. »Lassen Sie mich sehen.« Ich ging auf ihn zu. »Nein, Doktor. Es ist nur ein Kratzer. Was ich Ihnen erzählen will, ist wichtiger.« »Setzen Sie sich wenigstens«, sagte ich. »Möchten Sie einen Drink?« »Einen Drink, danke, Machane. Wie Sie sehen, bin ich aufgeregt. Deshalb habe ich mir den Arm verletzt.« Ich goß uns beiden einen Whisky ein. Er nahm sein Glas in die rechte Hand und lief weiter nervös durch mein Wohnzimmer, während ich mich in einen der großen Ledersessel setzte. »Was ist los, Timothy?« drängte ich. »Es ist schwierig, einen Anfang zu finden, Machane, weil
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Sie nicht glauben. Aber ich muß Sie überzeugen.« Er trank einen Schluck Whisky. »Gestern abend Haben wir lange über die Mondstadt geredet, Doktor. Sie sagten, es gebe dort Geheimnisse, die Sie immer noch verwirren.« »Ja.« Ich nickte ihm aufmunternd zu. »Der Friedhof der Alten«, fuhr Timothy fort. »Sie können ihn nicht finden.« »Das stimmt, Timothy.« »Ich habe seitdem angestrengt darüber nachgedacht. Ich bin in meinem Gedächtnis all die Legenden unseres Volkes durchgegangen.« Ich konnte mir genau vorstellen, wie er sich in hypnotische Trance versenkt hatte. »Und da war irgend etwas, wie ein Schatten hinter dem Feuerschein, eine dunkle Erinnerung, die mir entglitt.« Er schüttelte den Kopf und murmelte leise vor sich hin, als ob er immer noch in den dunklen Archiven seines Geistes suche. »Es hat nichts genutzt, Doktor. Ich wußte, es war da, aber ich konnte es nicht greifen. Aber im Schlaf endlich, der voller Dämonenträume war, da …« er zögerte, »da erschien mein Großvater.« Ich rutschte unruhig auf meinem Stuhl. »All right, Doktor. Ich weiß, Sie glauben nicht an solche Dinge. Ich will es Ihnen erklären. Meine Phantasie, erhitzt von der Suche nach einem längst vergessenen Wissensfragment, beschwor das Traumbild meines Großvaters herauf – des Mannes, von dem ich ursprünglich mein Wissen habe.« Es war mir unheimlich. Zu dieser nächtlichen Stunde spürte ich mich von diesem halb wahnsinnigen Schwarzen, der hier über dunkle Dinge redete, wie gebannt. »Mein Großvater kam zu mir, berührte meine Schulter und sagte, ›Geh mit dem Gesegneten zu den Bluthügeln, dort werde ich euch die Geheimnisse enthüllen und die verborgenen Orte
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öffnen‹.« Ich bekam eine Gänsehaut. Timothy hatte »die Bluthügel« gesagt, obwohl ihm gegenüber niemand diesen Namen erwähnt hatte. »Die Bluthügel«, wiederholte ich. »Diesen Ausdruck hat er benutzt«, bekräftigte Timothy. »Ich kann mir nur vorstellen, daß er Ihre Mondstadt meinte.« Ich schwieg; Vernunft und primitiver Aberglaube stritten in mir. »Wollen Sie morgen mit mir kommen, Timothy?« fragte ich schließlich. »Ich komme mit Ihnen«, stimmte Timothy zu. »Vielleicht kann ich Ihnen einiges zeigen, wonach Sie suchen – vielleicht aber auch nicht.« Ich hatte nichts zu verlieren. »Sie erinnern sich, Timothy, ich hatte es Ihnen angeboten mitzukommen.« »Danke, Doktor. Wann fliegen Sie?« Ich schaute auf meine Uhr. »Du lieber Himmel, es ist schon vier Uhr. Wir fliegen um sechs.« »Dann muß ich nach Hause und schnell packen.« Timothy stellte sein Glas auf die Vitrine. »Es gibt nur einen kleinen Haken, Doktor. Mein Reisepaß ist abgelaufen, und wir müssen nach Botswana eine internationale Grenze überqueren.« »Verdammt«, murmelte ich enttäuscht. »Sie müssen ihn verlängern lassen und können dann erst beim nächsten Flug mitkommen.« »Wie Sie wollen, Doktor. Es dauert natürlich zwei oder drei Wochen – und bis dahin könnte mir die ganze Sache entschwunden sein.« Ich bin ein gesetzestreuer Mensch, aber ich sah keine Gefahr. »Würden Sie es wagen, Timothy?« fragte ich. Die Formalitä-
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ten für Sturvesant-Flugzeuge waren auf ein Minimum reduziert. Ein Anruf bei der Flughafenbehörde vor dem Start würde genügen. Der Name Sturvesant hatte solches Gewicht, daß die Passagiere weder bei der Ankunft noch beim Abflug gezählt würden. Für die Mondstadt hatte Louren ein Sonderabkommen mit der Regierung von Botswana getroffen, und wir waren praktisch von jeglicher Bürokratie unbehelligt. Innerhalb von drei Tagen konnte ich Timothy hinein- und wieder herausbringen, ohne daß jemand davon erfuhr oder irgendein Schaden entstand. Roger van Deventer würde meinem Wort vertrauen, daß Louren den Flug genehmigt hatte. Ich sah keine Probleme. »Sehr gut, Doktor, wenn Sie es für möglich halten«, Timothy stimmte meinem Vorschlag zu. »Seien Sie vor sechs am Sturvesant-Hangar.« Ich setzte mich hin, um eine Notiz zu kritzeln. »Falls Sie am Flughafen angehalten werden, was ich bezweifle, zeigen Sie ihnen dies. Damit sind Sie befugt, Waren am Sturvesant-Hangar abzuliefern. Parken Sie Ihren Wagen hinter dem Flugbüro, und warten Sie im Büro auf mich.«
Am nächsten Morgen ging alles nach Wunsch. Timothy saß schon im Flugbüro, als ich mit Roger eintraf. »Ich hole eben die Startgenehmigung, Roger«, schlug ich beiläufig vor. »Werfen Sie die Motoren schon an.« »Okay, Doktor.« Er gab mir den Flugplan. Wir waren schon früher so verfahren. Roger kletterte durch die Rumpftür, während ich schnell ins Büro ging. »Hallo, Timothy.« Ich blickte ihn besorgt an. Er hockte da in seiner blauen Windbluse, Schmerzfalten zeichneten sich ab auf seiner Stirn und in den Winkeln der Nasenlöcher. Seine Haut
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war grau und die Lippen blaßblau. »Wie fühlen Sie sich?« »Mein Arm schmerzt ein bißchen, Doktor.« Er öffnete sein Jackett. Der Arm lag frisch verbunden in einer Schlinge. »Aber es wird schon gehen. Ich habe mich verarzten lassen.« »Schaffen Sie die Reise?« »Ja, bestimmt.« »All right.« Ich griff zum Telefon. Die Antwort erfolgte nach dem ersten Klingeln. »Flughafenpolizei!« »Hier ist Dr. Kazin – von Sturvesant, Afrika.« »Oh, guten Morgen, Doktor. Wie geht’s Ihnen?« »Gut, danke. Ich möchte einen Flug nach Botswana unter ZA-CEE klären.« »Einen Moment, Doktor. Geben Sie mir die Details. Wer sind die Passagiere?« »Ein Passagier, ich selbst – und der Pilot ist wie gewöhnlich Roger van Deventer.« Ich diktierte, während der Beamte am anderen Ende der Leitung alles notierte. Schließlich sagte er: »Geht in Ordnung, Doktor. Guten Flug. Ich leite die Genehmigung an den Kontrollturm weiter.« Ich legte auf und lächelte Timothy zu. »Alles klar. Gehen wir.« Und ich schritt aus dem Büro voran. Die Motoren der Dakota liefen leer. Die drei Schwarzen vom Bodenpersonal verließen unerklärlicherweise ihre Stellung neben der Landeanlage und kamen schnell auf mich zu. »Doktor!« Timothys Stimme hinter mir, und ich drehte mich nach ihm um. Ich brauchte vier oder fünf Sekunden, um zu begreifen, daß er eine kurzläufige chinesische Maschinenpistole in der unverletzten Hand hatte und die Mündung auf meinen Bauch gerichtet hielt. Ich starrte ihn an. »Tut mir leid, Doktor«, sagte er leise, »aber es muß sein.« Die Bodenbesatzung kam von beiden Seiten auf mich zu, sie
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ergriffen meine Arme. »Glauben Sie mir bitte, Doktor, daß ich Sie töten werde, falls Sie Schwierigkeiten machen.« Er hob seine Stimme, ohne die Augen von mir zu wenden. »Kommt«, rief er in Venda. Fünf weitere Personen kamen durch die Außentür des Hangars. Ich erkannte sofort zwei der jungen Bantu-Assistenten aus dem Institut und eines der Mädchen. Alle trugen Maschinenpistolen, und sie stützten gemeinsam einen schwerverwundeten Fremden. Seine Füße baumelten haltlos, und blutgetränkte Binden bedeckten seine Brust und seinen Hals. »Schafft ihn ins Flugzeug«, befahl Timothy scharf. Die ganze Zeit stand ich stumm, wie gelähmt von dem Schock, aber jetzt zwängte sich die Gruppe mit dem Verwundeten zwischen den Terroristen und der seitlichen Wand vorbei, sie blockierten sich gegenseitig die Schußlinie, und in diesem Augenblick gewann ich meine Geistesgegenwart wieder. Ich versteifte meine Beine, lehnte mich leicht nach vorn und schleuderte los. Die Männer an meinen Armen schossen durch die Luft, stießen mit den Köpfen gegen Timothy und rissen ihn in einem wirren Haufen zu Boden. »Roger!« schrie ich. »Funk! Hol Hilfe!« – in der Hoffnung, daß meine Stimme den Lärm der Flugzeugmotoren übertönte. Der dritte Mann der Bodenbesatzung sprang auf meinen Rükken und preßte einen Arm um meine Kehle. Ich reichte hoch, faßte ihn an Handgelenk und Ellbogen und kugelte ihm den Unterarm aus. Sein Ellbogen gab mit einem gummiartigen Schnapplaut nach, und er schrie laut auf, den Arm reglos und schlaff in meinem Griff. »Nicht schießen«, rief Timothy. »Keinen Lärm.« »Hilfe!« brüllte ich, aber die Motoren verschluckten meinen Schrei. Sie ließen den Verwundeten fallen und rannten auf mich zu. Ich duckte mich und griff von unten an. Ich trat nach der Leistengegend des Anführers und spürte meinen Stiefel
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fleischig und federnd einschlagen. Er krümmte sich, während ich ihm mein anderes Knie hoch in sein Gesicht stieß. Es knirschte, als sein Nasenbein brach. Timothy und die Bodenbesatzung rappelten sich auf. »Nicht schießen!« Timothys Stimme klang verzweifelt. »Keinen Lärm.« Jetzt griff ich ihn mit aller Kraft an, rasend vor Zorn, voll Haß wegen seines Verrats. Eines der Mädchen erwischte mich mit dem Stahlknauf der Maschinenpistole, als ich an ihr vorbeilief. Ich spürte die scharfe Kante auf meinen Schädel hacken, es warf mich aus dem Gleichgewicht. Ein Mitglied der Bodenbesatzung packte mich, ich hob ihn an die Brust und drückte zu. Er schrie, und ich spürte, wie seine Rippen sich unter meinem Griff bogen. Sie schlugen mich wieder, Stahl biß in meinen Schädelknochen. Blut floß mir warm übers Gesicht, so daß ich nichts mehr sehen konnte. Meine Arme erschlafften, ich ließ den Mann fallen und raste auf die anderen zu. Ich war blind von meinem eigenen Blut, taub von meinem wahnsinnigen Gebrüll, und sie schlugen von allen Seiten nun auf mich ein, während ich wahllos drauflosdrosch. Die Hiebe regneten auf meinen Kopf und meine Schultern. Meine Knie gaben nach, ich ging zu Boden. Aber ich war noch immer bei Bewußtsein, heiße Wut durchströmte mich. Dann traten sie mir mit ihren Stiefeln in Brust und Bauch. Ich krümmte mich, blind, wie ein Ball zusammengerollt auf dem kalten öligen Beton und versuchte irgendwie noch, diesem Ansturm gestiefelter Füße auszuweichen. »Genug, hört auf«, Timothys Stimme. »Schafft ihn ins Flugzeug.« »Mein Arm. Ich bringe ihn um.« Die Stimme quietschte vor Schmerz. »Schluß damit.« Wieder Timothys Stimme und das Klatschen einer Ohrfeige. »Wir brauchen Geiseln. Schafft ihn in die Maschine.«
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Viele Hände schleiften mich über den Boden. Ich wurde hochgehoben und roh auf den Metallboden des Flugzeugrumpfs geworfen. Die Tür schlug zu, der Motorenlärm erstarb. »Sagt dem Piloten, er soll starten«, befahl Timothy. »Bringt den Doktor in die Funkabteilung.« Ich wurde den Gang entlanggetrieben. Aus meinen blutverschmierten Augen sah ich den weißen Bordmechaniker und seine schwarze Bodenbesatzung gefesselt und geknebelt an der Rumpfwand liegen. Die Bande hatte ihnen die Overalls abgenommen und sich selbst angezogen. Grobe Hände stießen mich in den Stahlsessel in der Funkabteilung und fesselten mich so scharf, daß mir die Stricke ins Fleisch schnitten. Mein Gesicht war geschwollen und taub und der Geschmack des Blutes lag dick und metallisch in meinem Mund. Im Cockpit saß Roger van Deventer an den Kontrollgeräten. Unter seinem Auge war eine bläulich-rote Schwellung, sein Haar war zerzaust, sein Gesicht blaß. Einer von ihnen stand über ihm, die Mündung einer Maschinenpistole fest gegen seinen Hinterkopf drückend. »Starten Sie«, befahl Timothy. »Beachten Sie sämtliche Routinemaßnahmen. Verstanden?« Roger nickte ruckartig. »Tut mir leid, Doktor«, versuchte er zu erklären. »Sie sind sofort über mich hergefallen, als ich an Bord stieg.« Er war ganz darauf konzentriert, das Flugzeug in das noch dunkle Rollfeld hinauszulenken. Er schaute mich nicht an. »Ich hatte keine Chance.« »Schon in Ordnung, Roger. Ich habe mich auch nicht gerade hervorgetan«, antwortete ich matt. »Ich konnte nur zwei von ihnen polieren.« »Keine Unterhaltung mehr bitte, Doktor. Mr. van Deventer muß jetzt starten«, warnte mich Timothy. Der Start verlief routinemäßig. Die angespannten schwarzen
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Gesichter lockerten sich, und man hörte vereinzeltes nervöses Lachen. »Sie fliegen den Kurs nach Botswana«, wies Timothy Roger an. »Sobald Sie jenseits der Grenze sind, gebe ich Ihnen einen neuen Kurs.« Roger nickte steif, die Maschinenpistole immer noch am Kopf. Außer Timothy und den acht, die mich überwältigt hatten, waren fünf weiterer Personen anwesend, die Roger und die Bodenbesatzung gefangengenommen hatten. Der Verwundete, und die zwei, die ich verletzt hatte, lagen am Boden des Gepäckraums. Die zwei Mädchen, beide vom Institut, versorgten sie; sie legten eine Schiene an und wechselten blutige Binden aus. Während ich zuschaute, tauschten die Bandenmitglieder ihre Zivilkleidung gegen Kampfanzüge von Fallschirmjägern. Ich sah den roten Stern auf den Schulterstücken, und meine letzten Zweifel waren beseitigt. Ich sah Timothy an. »Ja, Doktor.« Er nickte. »Soldaten der Freiheit.« »Oder Apostel der Dunkelheit, wie man’s nimmt.« Timothy runzelte die Brauen. »Ich habe Sie immer für einen Anwalt der Humanität gehalten, Doktor. Von Ihnen hatte ich erwartet, daß Sie unsere Ziele verstehen und unterstützen.« »Es fällt mir schwer, Gangster zu unterstützen, die Gewehre in den Händen tragen.« Wir starrten einander an. Dann stand er abrupt auf und schritt zu dem Funkgerät neben meinem Sessel. Er schaltete den Apparat ein, blickte auf seine Uhr und probierte die Skala. Der Sender ertönte laut, und sofort war alles still im Flugzeug; jeder horchte der Stimme des Ansagers: »Hier ist Radio Südafrika. Die Zeit: sieben Uhr. Wir bringen Nachrichten. Ein Sprecher der südafrikanischen Polizei teilte mit, daß eine Abordnung der Sicherheitspolizei heute morgen um zwei Uhr fünfzehn ein Gehöft bei Randburg, einem Vorort von Johannesburg, durchsucht hat. Es kam zu einem Feuergefecht zwischen
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der Polizei und einer großen Gruppe bewaffneter Unbekannter. Elemente der Gruppe flohen in vier Autos, zwei Wagen konnten nach einer Verfolgung durch die Polizei entkommen. Ersten Berichten zufolge wurden acht Mitglieder der Bande erschossen, vier weitere verwundet oder unverletzt gefangengenommen. Man nimmt an, daß auch viele der Entflohenen verwundet sind. Die Polizei hat eine umfangreiche Fahndungsaktion eingeleitet. Alle Straßen aus dem Witwatersrand-Gebiet sowie sämtliche Flughäfen werden bewacht. Mit tiefer Trauer geben wir den Tod von drei Angehörigen der südafrikanischen Polizei bekannt und die lebensgefährliche Verletzung von zwei –« Ein schartiger Jubel durchklang das Flugzeug, und ein oder zwei Bandenmitglieder hoben die geballte Faust im kommunistischen Gruß über den Kopf. »Herzlichen Glückwunsch«, murmelte ich sarkastisch Timothy zu, und er blickte auf mich nieder. »Der Tod ist häßlich, die Sklaverei schlimmer«, sagte er gleichmütig. »Doktor, zwischen uns existiert ein Band.« »Mein Kopf und mein Gesicht schmerzen zu sehr, um mir Ihre Heuchelei anzuhören«, erwiderte ich. »Sie sind mein Feind. Zwischen uns gibt es kein Band – nur ein Messer.« »Bis aufs Messer also!« Er wandte sich ab. Während die Dakota stetig nordwärts flog, begannen meine Verletzungen zu brennen. Ich schloß die Augen. Der Mirage-Jäger kam von Osten und blitzte silberschlank an unserer Nase vorbei. Als er mit unglaublicher Geschwindigkeit vorüberflitzte, erspähte ich die runden Luftwaffenzeichen und das Gesicht des Piloten hinter der Schutzbrille. Dann war er verschwunden, aber sofort knackte der Lautsprecher. »ZA – CEE. Hier ist Luftwaffenjäger zwei. Hören Sie mich?« Ich blickte aus dem Fenster neben meinem Kopf und sah die Mira-
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ge funkelnd im Sonnenlicht hoch über uns wenden. Timothy rannte vorwärts zum Funkgerät. Die Atmosphäre war wie elektrisch geladen. Timothy konnte nicht antworten, sein BantuAkzent war zu stark, um jemanden zu täuschen. Wieder heulte der Düsenjäger an unserer Kanzel vorbei. Der Bandit versteckte sich hinter Rogers Sitz. »ZA-CEE.« Der Ruf wurde wiederholt. Timothy schwitzte leicht, sein Gesicht war blaugrau vor Anstrengung. Er winkte zweien seiner Leute. »Bringt ihn her«, er deutete auf den weißen Bodenmechaniker. Sie schleiften ihn in die Funkabteilung. Sein Gesicht war bleich und schweißglänzend; seine entsetzten Augen suchten mitleidheischend nach meinen, der Knebel schnitt in seinen Mund. Einer von ihnen riß ihm den Kopf zurück, so daß sich der Hals vorwölbte, unter dessen gestraffter Haut die Adern blau pulsierten. Er legte die glitzernde Schneide eines Stechmessers an seine Kehle. »Es ist mir ernst, Doktor«, versicherte Timothy, während er den Strick von meinen Armen löste und mir das Mikrophon des Funksenders in die Hand drückte. »Sie müssen sie beruhigen. Sagen Sie ihnen, daß nur zwei Personen an Bord sind und daß es sich um einen Routineflug zur Mondstadt handelt.« Er legte seinen Finger auf den Sendeknopf, um jederzeit unterbrechen zu können. Der verschreckte Mechaniker stöhnte in den Knebel, das Messer an seiner Kehle. Sie stießen ihn noch näher zu mir, damit ich sein Gesicht deutlich sah. »Luftwaffenjäger zwei, hier ist ZA-CEE«, krächzte ich ins Mikrofon. »Geben Sie Passagiere und Zielort an.« »Hier ist Dr. Kazin von Sturvesant, Afrika, auf einem Routineflug von –« Erleichterung machte sich breit. Timothy nahm seine Hand vom Sendeknopf des Geräts. Die Augen des Mechanikers hafteten an mir. Ich wollte ihm sagen, daß es mir leid
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tat, daß ich wünschte, ihn retten zu können. Ich wollte erklären, daß ich sein Leben gegen das von vierzehn der gefährlichsten Feinde meines Landes eintauschte, daß sich dieses Opfer lohnte und daß ich mein eigenes Leben gern mit drangeben würde. Statt dessen rief ich ins Handmikrofon: »Entführt von Terroristen! Schießt auf uns! Ohne Rücksicht auf unsere Sicherheit!« Timothys Hand schoß zum Sendeknopf, und im gleichen Augenblick wandte er sich der Geisel zu. Vielleicht wollte er einschreiten, es doch noch aufzuhalten versuchen. Aber es war zu spät. Das Messer durchschnitt die gestraffte Kehle. Blut barst heraus, eine rote Fontäne, die Timothy und mich bespritzte. Der Mechaniker stieß einen pfeifenden Klagelaut aus, die Atemluft seiner Lungen brach rosa schäumend aus der zerschnittenen Luftröhre. Der Lautsprecher knisterte: »Gehen Sie auf Gegenkurs! Gehorchen Sie! Gehorchen Sie sofort, oder ich eröffne das Feuer.« Timothy fluchte, während er mir das Mikrofon aus der Hand wand. Ich schrie und rüttelte an den Stricken: »Ihr Tiere! Ihr schmutzigen mörderischen Tiere!« Ein Mitglied der Bande hob seine Maschinenpistole, um mir ins Gesicht zu schlagen, aber Timothy fegte seinen Arm beiseite. »Schafft ihn hier raus!« Er wies mit einem Kopfruck auf den immer noch zuckenden, strampelnden Körper des Mechanikers – und sie schleiften ihn hinaus in den Gepäckraum. »Die Mirage greift an!« rief Roger aus dem Cockpit, und wir sahen sie von vorn herankommen, einen silbernen Blitz, der einen direkten Kollisionskurs einhielt. Timothy riß das Mikrofon an den Mund. Ich sah, daß sein Gesicht vom Blut des Mechanikers besprenkelt war. »Nicht schießen«, rief er. »Wir haben Geiseln an Bord!« »Greift an!« schrie ich, an meinen Fesseln zerrend. »Sie werden uns sowieso ermorden! Eröffnet das Feuer!«
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Der Mirage-Jet zog kurz vor uns steil hoch, ohne das Feuer zu eröffnen, und heulte wenige Meter über uns weg. Die Dakota schwankte heftig im Luftsog. Ich schrie immer noch und versuchte mich loszureißen. Wieder hob der Aufpasser seine Maschinenpistole. »Nein«, rief Timothy. »Wir brauchen ihn lebendig. Mary soll das Morphium bringen.« Die Mirage schwenkte ab, dann kreiste sie zurück, um dreißig Meter neben der Spitze unseres Steuerbordflügels Position zu beziehen. Ich konnte sehen, wie der Pilot uns ratlos beobachtete. »Sie haben mit Dr. Kazin gesprochen«, warnte Timothy den Jet-Piloten. »Wir haben noch vier andere Geiseln. Eine weiße Geisel haben wir bereits hingerichtet, und wir werden nicht zögern, eine zweite hinzurichten, falls Sie angreifen.« »Sie bringen uns sowieso um«, rief ich, aber Timothy unterbrach die Verbindung. Fünf von ihnen mußten mich für die Spritze festhalten, aber sie kriegten sie schließlich doch in meinen Arm. Ich glitt langsam in Bewußtlosigkeit. Meine letzte Erinnerung war, daß Timothy Roger einen anderen Flugkurs angab. Schmerz und Durst weckten mich. Mein Mund war ekelhaft verklebt und mein Kopf ein einziger brennender Klumpen. Ich wollte mich hinsetzen und schrie laut auf. »Wie fühlen Sie sich, Doktor? Nur vorsichtig.« Roger van Deventers Stimme. Ich blinzelte ihn an. »Wasser?« fragte ich. »Leider nicht, Doc.« Er schüttelte den Kopf, und ich versuchte, mich in dem leeren weißgetünchten Raum umzusehen. Das gesamte Mobiliar bestand aus vier Wandbetten und einem Toiletteneimer, die Tür war verriegelt und vergittert. Die drei Mitglieder der Bantu-Bodenbesatzung hockten verloren und unglücklich auf einem der Betten. »Wo sind wir?« wisperte ich.
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»Sambia. Irgendein Militärlager. Wir sind vor einer Stunde gelandet.« »Was ist aus dem Luftwaffen-Jet geworden?« »Er ist umgekehrt, als wir den Sambesi überquerten. Sie konnten nichts machen.« Und wir konnten auch nichts machen. Fünf Tage saßen wir in diesem ungelüfteten Brutkasten mit dem stinkenden Eimer, bis mich am fünften Tag unsere Bewacher herausholten. Unter lautem Geschrei und vielen Stößen wurde ich einen Korridor entlang in ein spärlich möbliertes Zimmer bugsiert, das von einem großen Mao-Porträt beherrscht wurde. Timothy Mageba stand hinter dem Schreibtisch auf und bedeutete den Wächtern zu verschwinden. »Setzen Sie sich, Doktor, bitte.« Er trug die Tarnuniform der Fallschirmjäger und die Streifen und Sterne eines Obersten der chinesischen Volksarmee. Ich saß auf der Holzbank, und meine Augen verschlangen die sechs Flaschen Tusker-Bier, auf dem Tablett vor mir. Die Flaschen waren eiskühl betaut, mir krampfte sich die Kehle zusammen. »Ich weiß, wie sehr Sie eine Flasche gut gekühltes Bier schätzen.« Timothy öffnete eine Flasche und bot sie mir an. Ich schüttelte den Kopf. »Nein, vielen Dank. Ich trinke nicht mit Mördern.« »Ich verstehe.« Er nickte, und ich bemerkte den leisen Schatten des Bedauerns in seinen dunklen brütenden Augen. Er hob die Flasche an seine Lippen und trank einen Schluck. Ich beobachtete ihn durstig. »Der Mechaniker«, sagte er, »die Hinrichtung war nicht geplant. Ich wollte das nicht. Verstehen Sie das bitte, Doktor« »Und wenn der Rauch unseres brennenden Landes den Himmel schwärzt und selbst Ihnen von dem Gestank unserer
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Toten übel wird, werden Sie auch dann ausrufen: Ich wollte nicht, daß es geschieht?«. Timothy wandte sich ab und beobachtete vom Fenster, wie auf dem Exerzierplatz Truppen uniformierter Bantus unter der sengenden Sonne gedrillt wurden. »Es ist mir gelungen, Ihre Freilassung zu erwirken, Doktor. Sie können in der Dakota zurückfliegen.« Er schritt auf mich zu und blieb dicht vor mir stehen. Dann wechselte er vom Englischen in Venda. »Mein Herz weint, da du fortgehst, Machane, denn du bist ein Mann der Güte und Kraft und großen Mutes. Einst habe ich gehofft, daß du uns beistehen würdest.« In Venda antwortete ich: »Auch mein Herz weint um einen Mann, der mein Freund war, dem ich vertraut habe, den ich für einen Mann guten Willens hielt, aber er ist jetzt in die Halbwelt der Verbrecher und Zerstörer getaucht. Er ist tot für mich, und mein Herz weint.« Ich spürte, es war ehrlich. Ich wollte ihn nicht bloß beschämen. Unter meinem Haß und Zorn lag Trauer, ein Gefühl des Verlusts. Ich hatte an ihn geglaubt. Ich hatte in ihm eine Hoffnung gesehen für unseren armen gequälten Kontinent. Wir schauten einander an, zwischen uns die Spanne von einem Meter, sie klaffte wie die Abgründe der Hölle. »Auf Wiedersehen, Doktor«, sagte er weich. »Geh in Frieden, Machane.« Die Mirages der Luftwaffe brachten uns eine Stunde nach der Überquerung des Sambesi-Flusses auf und eskortierten uns zum Militärflughafen bei Voortrekker Hoogte. Meine fast hysterische Erleichterung über unsere Rückkehr dauerte jedoch nicht lange. Nachdem ein Arzt die verkrusteten und eiternden Wunden an meinem Kopf verbunden hatte, wurde ich in einem verschlossenen Wagen abtransportiert zu einem Verhör mit
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vier überaus korrekten Beamten der Polizei und des militärischen Nachrichtendienstes. »Dr. Kazin, ist das Ihre Unterschrift?« Es war meine Empfehlung für die Ausstellung eines Reisepasses an Timothy Mageba. »Dr. Kazin, erinnern Sie sich an diesen Mann?« Ein Chinese, den ich kennengelernt hatte, als ich Timothy an der Universität London besuchte. »Wissen Sie, daß er ein Agent der kommunistischen chinesischen Regierung ist, Doktor?« Sie hatten eine Fotografie von uns dreien, wie wir an der Themse Bier tranken. »Können Sie uns bitte sagen, worüber Sie gesprochen haben, Doktor?« Timothy hatte mir erzählt, der Chinese sei ein bedeutender Anthropologe, und wir hatten Leakeys Entdeckungen in der Olduvai-Schlucht diskutiert. »Haben Sie Mageba für das Sturvesant-Reisestipendium empfohlen, Doktor?« »Wußten Sie, daß er in China war und dort als GuerillaFührer ausgebildet wurde?« »Haben Sie diesen Bestellschein über siebenundzwanzig Bottiche Bleicherde von Hongkong unterschrieben, Doktor – und diese Zollerklärung?« Es handelte sich um Standardformulare des Instituts, ich konnte von diesseits des Schreibtischs meine Unterschrift auf dem Zollformular erkennen. An die Ware erinnerte ich mich nicht. »War Ihnen bekannt, daß die Ware 150 Pfund plastischen Sprengstoff enthielt, Doktor?« »Erkennen Sie dies hier, Doktor?« Pamphlete in einem Dutzend afrikanischer Sprachen. Terroristische Propaganda.
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»Wußten Sie, daß dies mit der Presse im Institut gedruckt worden ist, Doktor?« Die Fragen nahmen kein Ende. Ich wurde müde, verwirrt und begann, mir zu widersprechen. Ich wies auf die Wunden an meinem Kopf hin, auf die Seilschnitte an meinen Hand- und Fußgelenken, doch die Fragen hörten nicht auf. Mein Kopf war wie zerschlagen. »Erkennen Sie dies hier, Doktor?« Maschinenpistolen, Munition. »Ja!« schrie ich sie an. »Man hat mir solche Pistolen an den Kopf gedrückt, in meinen Bauch!« »Wußten Sie, daß sie in Buchkisten, adressiert an Ihr Institut, importiert worden sind?« »Als Sie die polizeiliche Genehmigung für den Dakota-Flug einholten, Doktor, haben Sie angegeben –« »Ich wurde nach dem Anruf überfallen. Das habe ich ein Dutzendmal erklärt, verdammt!« »Sie kennen Mageba seit zwölf Jahren. Er war Ihr Protegé, Doktor.« »Wollen Sie uns weismachen, daß Mageba sich Ihnen nie genähert hat? Nie mit Ihnen über Politik geredet hat?« »Ich gehöre nicht zu ihnen! Ich schwöre es –« Ich erinnerte mich an das Blut, an das Knirschen des Stahls, wie er in meinen Schädelknochen schlug, »Sie müssen mir glauben, bitte! Oh Gott, bitte!« Und mir schwanden die Sinne, ich sank seitwärts vom Stuhl auf den Boden. Ich wachte in einem Krankenhauszimmer zwischen frischen Laken auf – Louren Sturvesant saß neben dem Bett. »Lo, oh Gott sei Dank.« Aber er beugte sich vor, ohne zu lächeln, das wundervolle Gesicht kalt und hart wie aus Bronze. »Sie glauben, daß du zu der Bande gehörst. Du hättest alles aufgebaut und das Institut als Hauptquartier für eine terroristische Organisation benutzt.«
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Ich starrte ihn an, und er fuhr erbarmungslos fort: »Wenn du mich und dein Land betrogen hast, wenn du zu unseren Feinden übergelaufen bist, kannst du von mir keine Gnade erwarten.« »Nicht du auch, Lo. Das kann ich nicht ertragen.« »Ist es wahr?« verlangte er. »Nein!« Ich schüttelte den Kopf. »Nein! Nein!« Und plötzlich rannen Tränen über mein Gesicht, und ich zitterte und weinte wie ein Baby. Louren lehnte sich vor und faßte mich bei der Schulter. »Okay, Ben.« Er sprach mit unendlicher Sanftheit. »Okay, Partner. Ich biege es hin. Es ist jetzt alles gut, Ben.«
Louren wollte nicht, daß ich in meine Junggesellenwohnung im Institut zurückging. Er brachte mich in einem Gästeappartement der Sturvesant-Residenz unter. Während der ersten Nacht weckte er mich aus einem schreienden Alptraum voll Blut und höhnender schwarzer Gesichter. Er setzte sich auf meine Bettkante, und wir redeten über die guten vernünftigen Dinge, die wir zusammen unternommen hatten und die wir noch vorhatten, bis ich schließlich in ruhigen Schlaf sank. Zehn Tage blieb ich dort, verwöhnt von Hilary und den Kindern, geschützt vor der nachrichtenhungrigen Presse. Meine Wunden heilten. Einen unangenehmen Tag lang mußte ich bei der öffentlichen Untersuchung über die Entführung Bericht erstatten und stellte mich hinterher der Weltpresse. Dann flog mich Louren im Lear-Jet nach Norden, zurück zur Mondstadt. Ich wurde wie ein Held empfangen, sie hatten meine Aben-
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teuer im Radio verfolgt. Aber natürlich mußte ich jetzt die ganze Geschichte noch einmal erzählen. Nach Lourens Abflug am nächsten Morgen suchte ich als erstes nach Ral Davidson. Ich fand ihn auf dem Boden eines Grabens, wie er eine Sandstein-Scheibe vermaß. Die Sonne hatte ihn tief mahagonibraun gebrannt, er war schlank, sympathisch, fit. Ich mochte ihn gern. Wir saßen mit baumelnden Füßen am Grabenrand, und ich erklärte ihm die Idee des Steinbruchs. »Heh, Doktor, warum sind wir nicht früher darauf gekommen?« begeisterte er sich. Am Abend legten wir ein ausgeklügeltes Suchmuster fest, nach dem wir das Suchgebiet jeden Tag spiralenförmig erweitern wollten. Die Sache hatte System. Ral und ich prüften die neuen Sprechfunkgeräte. Ich führte mein mit Lebensmitteln und Geräten beladenes Häuflein zu der Lücke in den Klippen und zehn Stunden später wieder hinunter, verschwitzt, schmutzig, dornenverkratzt, gestochen von Hippofliegen, von der Sonne verbrannt und in saumäßiger Stimmung. Wir wiederholten den Vorgang zehn Tage lang. Als wir am zehnten Abend auf halbem Weg hinunter zu der Klippenlücke rasteten, blickte Ral plötzlich auf die steilen Seitenwände und rief erstaunt: »Heh, Doc! Das ist es!« Zehn Tage hatten wir die Stufen benutzt, die die Alten in ihren Steinbruch geschlagen hatten. Dichtes Untergehölz hatte die sauberen Terrassen bedeckt, von denen der rote Stein stammte. Wir fanden einige der halbbearbeiteten Blöcke immer noch »in situ«, fast unverwittert in der geschützten Rinne. Außerdem standen rohe Blöcke umher, halb behauen und dann liegengelassen. Andere lagen wie fertig für den Abtransport – und wieder andere waren auf dem Weg die Rinne entlang abgestellt.
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Wir entfernten das Unterholz um sie herum und konnten danach jede Stufe des Herstellungsprozesses verfolgen. Das gesamte Team kam nach oben. Wir zeichneten und kartographierten, vermaßen, fotografierten, diskutierten – unser Enthusiasmus war neu entflammt. Ral und ich blieben, als wir die Hilfe der anderen nicht länger brauchten, allein im Steinbruch zurück und begannen, die Ausdehnung und die Menge des gebrochenen Steins zu errechnen: Es mußten ungefähr anderthalb Millionen Kubikmeter Fels entfernt worden sein. Nach einer Untersuchung der Abbaumethoden schätzten wir, daß das Verhältnis zwischen Fertigprodukt und Abfall ungefähr vierzig zu sechzig betrug. So kamen wir schließlich auf eine Zahl von 600 000 Kubikmeter. In ein Meer von Vermutungen gerieten wir danach, als wir anhand der Skizze der Tempelfundamente und unseren Kalkulationen des Felsvolumens die Ausmaße der verschwundenen Mondstadt zu rekonstruieren versuchten. Jeder trug seine speziellen Fachkenntnisse bei; so schufen wir eine Bilderreihe unserer Stadt. Massive rote Mauern, geschmückt mit den Sparrenmustern der Meere, die Phönizien groß gemacht hatten. Rote Mauern, die die Strahlen der sinkenden Sonne einfingen, den Abendsegen des großen Gottes Baal. Die hohen Türme, Symbole der Fruchtbarkeit und des Wohlstands, emporragend aus dem dunkelgrünen Laub der schweigenden Waldung. Dahinter der senkrechte Riß in den Klippen, der durch einen Geheimgang in die mysteriöse Höhle führte. Wieder ein Symbol der Zeugungsorgane. Es war mit Sicherheit Astarte geweiht, Göttin der Erde und des Mondes, weshalb Scharen weißgewandeter Priester in Prozession durch die Waldung zogen, vorbei an den Türmen und in die geheime Höhle. Wir wußten, daß die Phönizier ihren Göttern und Göttinnen Menschenopfer darbrachten. Das Alte Testament beschreibt, wie unmündige Kinder in den flammenden Bauch Baals geworfen wurden, und wir fragten uns, welche grausamen Riten
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unser friedlicher smaragdgrüner Teich bezeugt hatte. In dem Gebiet zwischen den inneren und äußeren Mauern des Tempels, wo wir die meisten Goldperlen und wertvolleren Schmuckstücke gefunden hatten, zeichneten wir die Wohnungen der Priester und Priesterinnen ein. »Was ist mit dem König und seinem Hof?« verlangte Peter. »Hätten sie nicht auch innerhalb der Hauptmauern gelebt?« Wir unterteilten also das Gebiet in die Wohnungen der Priester und den Königshof, indem wir auf unser geringes Wissen über Knossos, Karthago, Tyrus und Sidon zurückgriffen, um unseren Bildern Leben zu verleihen. Ral hatte das Tor an der Außenwand gefunden; es war die einzige Öffnung, und sie ging nach Westen. »Von da aus führte wohl eine Straße direkt zum Hafen.« Sally zeichnete sie ein. »Ja, aber da muß auch ein Markt gewesen sein, ein Handelsplatz neben dem Hafen«, schlug Ral vor und wies auf die Karte. »Hier etwa. In der Gegend, an der Peter herumgerätselt hat.« »Stellt euch mal die Stapel von Elfenbein, Kupfer und Gold vor«, seufzte Leslie. »Und Sklaven zum Verkauf auf den Blöcken«, trug Heather bei. »Und die ankernden Schiffe am Ufer.« Sally begann sie einzuzeichnen. »Halt mal! Stop! Wir betreiben hier wissenschaftliche Forschungen.« Ich versuchte, sie zu bremsen. Aber vergeblich. Das Projekt machte Spaß und regte unsere Phantasie an. Als Sally letzte Hand an unser Gemälde legte, waren vier Wochen verflossen, und Peter hatte tatsächlich die von Sallys Biremen angedeutete Schiffswerft unterhalb der Stadt entdeckt. Wir fanden einen aufgelegten Schiffskiel, dem Kohle-14Test nach um 300 n. Chr. zu welcher Zeit wir auch das »große
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Feuer« ansetzten. Das Projekt lieferte mir einen Vorwand, mehr Zeit mit Sally zu verbringen. Ich nahm mein Mittagessen und meine Badehose mit zur Höhle. Zunächst herrschte einige Verlegenheit zwischen uns, aber ich bemühte mich intensiv, ihre Hemmungen abzubauen und bald hatten wir wieder den alten frotzelnden Ton gefunden, in dem wir so gut zusammenarbeiteten. Nur einmal erinnerte ich an unsere intimere Beziehung. »Bist du immer noch in Katerstimmung, Sal?« fragte ich, und sie blickte mich lange offen an, bevor sie antwortete. »Laß mir bitte Zeit, Ben. Ich muß erst etwas mit mir selbst ins Reine bringen.« »Okay.« Ich lächelte sie freundlich an, und bereitete mich auf eine lange, lange Wartezeit vor. Fünf Wochen nach meiner Rückkehr stieg ich mit guter Nachricht zur Höhle. »Ich habe eben einen Funkspruch von Larkin erhalten, Sal. Louren kommt morgen.« Ich war von ihrer negativen Reaktion enttäuscht, weil ich fest glaubte, sie hätte ihre anfängliche Antipathie gegen Louren meinetwegen überwunden – und daß sie ihn mittlerweile mochte. Ich war entsetzt, als ich Louren sah. Er hatte zwanzig Pfund abgenommen, und seine Haut, die sonst vor Gesundheit golden glühte, war kreidig grau. Unter seinen Augen waren dunkelblaue Schmierflecken, die wie Beulen aussahen. »Ben!« Er legte liebevoll seinen Arm um meine Schulter und drückte mich. »Es tut gut, dich zu sehen, du alter Gauner.« Aber seine Stimme war müde, und ich bemerkte zum erstenmal silberne Strähnen an seinen Schläfen. »Mein Gott, Lo, du siehst schrecklich aus.« »Ich war in der Mangel, Ben«, bekannte er, als er neben mir in den Landrover kletterte. »Vier Wochen am Verhandlungstisch, ich mußte alles selbst machen – konnte es niemand ande-
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rem anvertrauen. Die gegnerische Seite schickte ganze Mannschaften und wechselte sie aus, wenn sie müde wurden.« »Du machst dich kaputt«, schimpfte ich beinahe wie eine nörgelnde Ehefrau. Er beugte sich lachend zu mir herüber und stieß mich leicht an. »Du bist eine Aufmunterungsspritze, Partner.« »Hat es sich wenigstens gelohnt?« »Ja, eine große Sache, Ben! Ganz enorm! Kupfer und Eisen, Südwestafrika, nahe am Cunene-Fluß, massive Erzschichten nebeneinander, tiefgradiges Kupfer und hochgradiges Eisen – zusammen eine wahre Schatzkammer.« Der müde Ton war aus seiner Stimme gewichen. »Was verdienst du dabei?« fragte ich schließlich, und er blickte mich leicht entgeistert an. »Meinst du an Geld?« fragte er. »Sicher! Was sonst?« »Himmel, Ben. Ich hab’s dir schon früher erklärt. Das ist nicht wichtig. Nicht das Geld. Es sind Export und Arbeitsplätze und die Erschließung neuer Quellen und Aufbau für die Zukunft, das Bewußtsein des Potentials unseres Landes und – und –« »Und das rasante Vergnügen an der Sache«, ergänzte ich. Er lachte wieder. »Du bist zu schlau, Ben. Wahrscheinlich spielt das eine große Rolle. Das Spiel und nicht das Ergebnis.« »Hast du das Time-Magazin der letzten Woche gesehen?« fragte ich. Ich wußte, es würde ihn reizen. »Oh, um Gottes willen, Ben«, protestierte er. »Dein Name steht auf der Liste der dreißig reichsten Leute der Welt.« »Diese Gauner«, murmelte er dumpf. »Jetzt verdoppeln alle ihre Preise. Warum kümmern sie sich nicht um ihre eigenen Angelegenheiten und lassen mich in Ruhe?« »Und deswegen bringst du dich um.«
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»Du hast recht, Ben. Ich fühle mich etwas ausgelaugt; deshalb nehme ich mir eine Woche frei. Eine ganze Woche Urlaub. Fahr mich zur Höhle, Ben. Ich will zur Höhle hoch. Ich habe wochenlang an diesen Ort gedacht.« Seine Stimme wurde weich und sinnend. »Wenn es hart herging am Konferenztisch, dachte ich an den Frieden und die Ruhe dort. Es schien …« Er hielt inne und hustete verlegen. Louren redete nicht oft in diesem Ton. Sally arbeitete an der Rückwand der Höhle. Sie trug eine grüne Seidenbluse und maßgeschneiderte Khaki-Hosen, das Haar gelöst und glänzend. Als sie aufschaute, um Louren zu begrüßen, sah ich, überrascht, daß sie zum erstenmal seit Wochen Lippenstift aufgetragen hatte. Sie bemerkte die Veränderung an ihm sofort, und ich sah Besorgnis in ihren Augen, obwohl sie nichts sagte. Ihr Gruß war zurückhaltend, fast beiläufig, und sie wandte sich wieder ihrer Staffelei zu. Louren ging sofort auf das Porträt des weißen Königs zu und betrachtete die seltsame Figur lange. Schließlich sagte er zu mir: »Hast du nicht auch manchmal das Gefühl, daß er uns etwas mitteilen will, Ben?« Eine für Louren ungewöhnlich träumerische Frage, aber ich nahm sie ernst. »Nein, Lo, das würde ich nicht sagen.« »Da ist irgendetwas, Ben«, sagte er überzeugt. »Irgendetwas, was du – was wir übersehen haben. Der Schlüssel zu diesem Ort, sein ganzes Geheimnis liegt in dieser Höhle.« »Nun, Lo, wir könnten …« fing ich an, aber er hörte nicht zu. Sally verließ ihre Staffelei und gesellte sich zu uns, sie setzte sich neben Louren und beobachtete aufmerksam sein Gesicht. »Dieses Gefühl hat mich noch nie getäuscht, Ben. Erinnerst du dich an die Mine im Tal der Verwüstung? Meine Geologen
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hatten abgewinkt, aber ich hatte dieses Gefühl. Erinnerst du dich?« Ich nickte. Das Tal der Verwüstung erbrachte jetzt zwanzigtausend Karat Diamanten pro Monat. »Hier ist irgend etwas. Das weiß ich, aber wo?« Er starrte mich an, als ob ich versteckt hätte, wonach er suchte. »Wo ist es, Ben? Der Boden, die Wände, das Dach?« »Und der Teich«, sagte ich. »All right, fangen wir mit dem Teich an«, stimmte er zu. »Er ist zu tief, Lo. Kein Taucher –« »Was verstehst du vom Tauchen?« forderte er. »Nun, ich habe es gelegentlich selbst getan.« »Mein Gott, Ben!« unterbrach er brüsk. »Wenn ich eine Herzoperation brauche, gehe ich zu Chris Barnard, nicht zum lokalen Tierarzt. Wer ist der beste Taucher der Welt?« »Cousteau, nehme ich an.« »Gut. Ich setze meine Leute auf ihn an. Damit hätten wir den Teich erledigt. Jetzt der Boden.« Wenn man mit Louren verhandelt, wird man in einen Wirbelsturm fortgerissen. Nach einer Stunde hatte er einen Plan für die gründliche Erforschung der Höhle entworfen, und zum Schluß schlug er nebenhin vor: »Okay, Ben. Warum gehst du nicht zum Lager zurück. Ich möchte hier eine Stunde oder so allein bleiben.« »Kommst du mit, Sal?« fragte ich. »Louren will allein sein.« »Oh Ben. Ich bin mitten in –« »Das ist okay, Ben«, sagte Louren, »sie stört mich nicht.« Und ich ließ sie in der Höhle. Am Abend setzten wir uns alle im Kreis um Louren, berichteten über die Entdeckung des Steinbruchs und diskutierten die Schlüsse, die man daraus ziehen konnte. Und wir zeigten ihm auch unser schönes Phantasiegemälde. Auf einmal war Louren ganz aufgeregt und packte mich am
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Arm: »Ben. Wir müssen herausfinden, was mit ihnen und ihrer Stadt geschehen ist. Es spielt keine Rolle, wie lange es dauert und wieviel es kostet. Ich muß es wissen.« Er drückte seine Zigarre aus, sprang auf und begann erregt hin und her zu laufen. »Es ist an der Zeit, daß wir es bekanntgeben, Ben. Ich berufe eine Pressekonferenz ein. Ihr seid alle dabei. Die Welt muß von diesen Menschen erfahren.« »Wir haben noch nicht genügend Beweise.« Ich durfte gar nicht daran denken, wie mich meine Kritiker auseinander nehmen würden, wenn ich mit einem so dünnen Text auf der Bildfläche erschiene. »Sie werden uns skalpieren, Lo. Sie werden uns in Stücke reißen.« »Wir werden ihnen dies zeigen.« Er deutete auf die Bilder. »Gott!« Mir schauderte bei dem Gedanken. »Das sind pure Vermutungen, Phantasie; auf diesem Gemälde könnten wir als einziges Detail den Kelch nachweisen.« Louren sah plötzlich sehr schuldbewußt aus. Er schlug sich mit dem Handrücken gegen die Stirn. »Natürlich!« lachte er. »Ich muß müde sein! Einen Augenblick lang waren diese Bilder real, lebendig!« Er stellte sich wieder vor das Gemälde. »Ich muß es wissen, Ben«, sagte er wieder. »Ich muß es einfach wissen.« Am nächsten Tag verriet mir Louren seinen Plan, wie wir gemeinsam das Lager verlassen würden. Mit Sallys Kohlestift zeichnete er die Route auf den glatten Fels. »Wir sind hier – und hier, hundert Kilometer nordöstlich, sind die Ruinen von Domboshaba. Wenn deine Theorie stimmt, gab es einen alten Karawanenweg zwischen den beiden Städten. Wir nehmen den Landrover und machen uns auf die Suche nach dem alten Pfad.« »Das Gelände ist ziemlich unwegsam«, wandte ich ohne Begeisterung ein. »Völlig unerforscht, keine Straßen, kein Was-
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ser.« Aber Louren blieb dabei, und unsere Abfahrt wurde auf den nächsten Morgen festgesetzt. Es dauerte fast den ganzen Tag, bis Louren und ich einen befahrbaren Weg über die Bluthügel gefunden hatten. Wir folgten nordwärts dem Rand der Klippen, bis sie in kleine Anhöhen ausliefen und wir eine Rinne zwischen ihnen hochfahren konnten, aber dann ging es durch offene Grassteppe und verstreute Akazienwälder. Am Abend lagerten wir an der Stelle, wo wir den alten Karawanenweg vermuteten. Wir brieten ein paar Waldhühner über dem Kohlenfeuer, tranken Whisky mit lauwarmem Wasser aus Emaillebechern und rollten uns anschließend neben dem Landrover in unseren Schlaf sacken zusammen. Träge und zufrieden schwatzten wir noch, bis wir einschliefen. Im Morgengrauen massierte Louren seinen Rücken und bearbeitete vorsichtig seine steifen Muskeln. »Mir fällt eben ein, daß ich nicht mehr zwanzig bin«, stöhnte er, aber am dritten Tag sah er wieder so aus. Die Sonne bräunte ihn, die Falten unter seinen Augen waren verschwunden, und er lachte sorglos. Wir kamen nur langsam voran. Oft mußten wir unsere Spur aus zerklüftetem Gelände zurückverfolgen, wenn Hügel und Grate kein Weiterfahren zuließen. Dann stiegen wir aus und versuchten, zu Fuß einen Weg zu erkunden. Wir ließen uns Zeit und genossen jeden Kilometer, während wir uns ost- und nordwärts vortasteten durch eine Gegend, die so zauberhaft schnell ihren Charakter und ihre Stimmung änderte, wie es nur in Afrika möglich ist. »Wasser in der Nähe«, kommentierte Louren, als wir den Landrover vor einer der offenen Lichtungen aus gelbem Gras anhielten und eine Herde Rappenantilopen beobachteten, die auf die Bäume am anderen Ende zuliefen.
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»Auch eine bedrohte Gattung«, bemerkte ich traurig, »die der Gier des Menschen zum Opfer fällt.« »Ja«, stimmte Louren zu. »Und dabei sind sie so schön.« Er ging zum Landrover, um das Radio einzuschalten. »Was hatten wir abgemacht?« fragte ich vorwurfsvoll. »Nur die Nachrichten.« Wenigstens blickte er schuldbewußt. »Kann nicht ganz die Verbindung abreißen lassen.« Wir hörten den Sorgen und Nöten einer verrückt gewordenen Welt zu. Irgendwie schienen an diesem entlegenen und friedvollen Ort die Probleme der Menschheit unwichtig, flüchtig. »Schalte ab, Lo«, sagte ich. »Wer will das schon?« Er wollte gerade abstellen, als der Ansager einen vertrauten Namen erwähnte. »Radio Lusaka berichtet, daß der Anführer der Terroristenbande, die gestern eine Polizeiabordnung im rhodesischen Wankie-Distrikt überfallen und vier Personen getötet und zwei verletzt hat, der selbsternannte ›Oberst‹ Timothy Mageba ist, der vor zwei Monaten mit seiner dramatischen Flugzeugentführung internationale Schlagzeilen gemacht hat. Ein Sprecher der rhodesischen Polizei erklärte, Mageba sei wahrscheinlich einer der gefährlichsten Terroristen Afrikas. Für Hinweise, die zu seinem Tod oder seiner Gefangennahme führen, ist eine Belohnung von 10 000 rhodesischen Dollar ausgesetzt.« Wütend schaltete Louren den Apparat aus und kam zum Feuer zurück. »Er operiert nur 150 Kilometer oder so nördlich von hier. Ich würde alles tun, ihn zu erwischen.« Die Nachricht über Timothy verstörte mich, und ich lag diese Nacht lange wach. Erst gegen Morgen fiel ich in einen quälenden Schlaf voll böser Träume. Um die Morgenmitte sahen wir Geier nach Norden kreisen, ein riesiges Fleckenrad, das sich langsam unter dem stahlblauen Himmel drehte. Jedesmal führen sie an den Schauplatz irgendeines schlimmen Geschehens in dem nie endenden Drama
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der Wildnis. »Zwei Meilen weiter.« Louren spähte eifrig durch die Windschutzscheibe. Und ich war genauso neugierig. Zum Teufel mit den Ruinen und versunkenen Zivilisationen; hier war das nackte harte Leben mit seinen unerbittlichen Gesetzen, und wir wollten es beobachten. Wenige hundert Meter vor uns sahen wir die Geier in den Baumwipfeln hocken, dicht wie Teufelsfrüchte in den Gärten der Hölle. »Sie wagen sich nicht an die Beute.« Louren frohlockte. »Irgend etwas hält sie in den Bäumen und in der Luft.« Er stoppte den Landrover und schaltete die Zündung ab. Wir stiegen aus, und Louren prüfte die Ladung seiner großen 375Magnum. Er wechselte die massiven Patronen gegen abgeplattete mit einer stärkeren Schlagwirkung aus. »Wir gehen zu Fuß hin«, sagte er. »Ich bin scharf auf einen großen langmähnigen Löwen.« Er ließ den Gewehrbolzen einschnappen. »Nimm du die Schrotflinte, Ben.« Louren streifte durch das hüfthohe Gras, ich folgte ihm an der Flanke, um meine Schußlinie zu sichern, die Schrotflinte für den Löwen geladen und meine Taschen ausgeheult von Reservepatronen. Vorsichtig bewegten wir uns vorwärts, jeder Schritt erhöhte unsere Spannung. Bald mußten wir auf das Löwenrudel stoßen. Von den Bäumen um uns stiegen die Vögel auf, wobei sie sich aus seltsam plumper Eckigkeit in graziöse und schöne Wesen verwandelten. Meine Kehle war trocken vor Aufregung und Furcht. Lourens Hemdrücken war naß vor Schweiß. Jede seiner Bewegungen vibrierte von gezügelter Energie, zum Ausbruch bereit beim ersten Zeichen. Ich liebte diese Phase der Jagd, ein atavistischer Jägerdrang steckt noch in den meisten Menschen. Nur das Töten stieß mich ab. Louren gefror, das Gewehr im Anschlag.
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Lautlos trat ich neben ihn. Vor uns war ein Gebiet aus flachem, zertrampeltem Gras. In der Mitte lag die Leiche eines Büffels, mit aufgedunsenem Bauch und großen grünglänzenden Schmeißfliegen, die über seinen toten Augen und in sein offenes Maul schwärmten. Ich konnte in dem dichten Fell keine Klauenspuren entdecken. Als ich zu Boden blickte, um auf keinen Zweig zu treten, sah ich die kindlich kleine menschliche Fußspur in einem von Ameisen aufgewühlten Erdstück. Das Haar sträubte sich mir im Nacken; auf was wir hier gestoßen waren, war verdammt gefährlicher als ein Löwenrudel. Erst jetzt bemerkte ich das fünf Zentimeter lange Schilfrohr im Nackenwulst des Büffels. »Lo!« krächzte ich heiser. »Nichts wie weg hier – dies ist ein Buschmänner-Fang.« Lourens Kopf zuckte herum, und er starrte mich an. Der Rand seiner Nüstern verfärbte sich porzellanweiß. »Woher weißt du das?« verlangte er rauh. »Fußspuren zu deinen Füßen.« Er blickte nach unten. »Der Pfeil im Büffelnacken.« Er begriff. »Ben, was tun wir?« Er schwitzte jetzt ebenso heftig wie ich. Ich sagte: »Langsam, langsam! Dreh dich nicht um und mach keine plötzliche Bewegung. Sie beobachten uns, Lo. Wahrscheinlich aus unmittelbarer Nähe.« Wir zogen uns vorsichtig zurück, unsere Waffen in schweißklebenden Händen im Anschlag. »Versuch um Gottes willen mit ihnen zu reden, Ben!« flüsterte Louren. Das drohende Gift machte selbst einen Mann wie Louren zaghaft. »Ich kann es nicht riskieren. Sie könnten sofort losschießen.« »Sie sind vielleicht hinter uns«, seine Stimme zitterte. Ich spürte, wie sich meine Haut zwischen den Schulterblättern zusammenzog, während ich auf das Sirren des Pfeils wartete.
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Mit jedem Schritt rückwärts ließ meine Angst etwas nach, und fünfzig Meter von dem Fang entfernt wagte ich es, ihnen zuzurufen. »Frieden«, rief ich. »Wir wollen euch nichts Böses tun.« Die Antwort kam prompt, vogelhaft und körperlos, wie aus der erhitzten Luft selbst fließend. »Sag dem großen Weißkopf, er soll seine Waffen niederlegen, denn wir kennen ihn nicht.« »Xhai«, rief ich erleichtert und begeistert. »Mein Bruder!«
»Sein Auge war hell wie der gelbe Mond, Sein Huf schlug Feuer aus den Eisenhügeln.« Wir sangen das Büffellied. Die Männer hockten um das flakkernde Feuer, und klatschten die Hände im komplizierten Rhythmus. Die Frauen tanzten im Kreis um uns herum, sie imitierten schwankend und schlurfend den Büffel und seinen tapferen Jäger. »Der Pfeilvogel flog aus meiner Hand, Wie eine Biene, ein schweifender Falke.« Die Baumäste um uns waren beladen mit Girlanden roher Fleischstücke, die zum Trocknen aufgehängt waren. Jenseits des Feuers heulten gierig Schakale und Hyänen in den sternhellen Himmel. »Blumenhell war das fließende Blut und süß wie Honig das Blut seines Körpers.« Als schließlich der Tanz endete, scharten sich die Frauen kichernd um das Feuer, um noch mehr Fleisch in ihre kleinen runden Bäuche zu stopfen. Ich saß zwischen Xhai und Louren, der eine rauchte, der andere aß eine »Romeo und Julia«-Zigarre, und ich dolmetschte
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für sie. Beide liebten die Jagd. Sie sprachen über tapfere Tiere und große Jagden, und sie wurden neben dem Feuer zu Freunden. Xhai sagte schließlich scheu zu mir: »Mit einem Mann wie ihm möchte ich gemeinsam jagen. Ich könnte ihm einen Elefanten zeigen, wie mein Großvater sie kannte, mit Zähnen dick wie mein Leib und lang wie der Schaft eines Wurfspeers.« Und damit war an eine Suche nach Ruinen und Karawanenwegen überhaupt nicht mehr zu denken, das wußte ich genau, als ich Lourens Gesicht bei dem Vorschlag aufleuchten sah. »Aber«, fügte ich hinzu, »er sagt, du mußt den Landrover hierlassen. Sie haben uns schon eine halbe Stunde gehört, bevor wir heute eintrafen, und er sagt, dieser Elefant ist alt und schlau. Was bedeutet, wir sollten jetzt ein wenig schlafen. Wir haben einen verteufelt harten Tag vor uns.« Als die Sonne aufging, waren wir schon drei Stunden auf dem Marsch; Tau hatte unsere Hosen bis an die Knie durchnäßt, aber wir liefen uns die Nachtkälte aus den Gelenken. Xhai und Ghal liefen in dem lockeren Trab, in dem sie den ganzen Tag über ohne zu ermüden die Meilen fressen konnten, vor uns durch die dichter werdenden Dornen- und JessieBüsche. Sie führten uns in wild zerklüftetes Gebiet, wo scharfe schwarze Eisensteinkanten aus dem Boden ragten und der Dornenbusch grau und stachelig verfilzt wurde, wo tiefe Schluchten steil ansteigende Hochplateaus durchschnitten und die wütend brennende Hitze uns die Feuchtigkeit aus dem Körper sog und in weißen Salzringen auf unseren Hemden trocknen ließ. Dieses Land mochte ein kluger alter Elefantenbulle, sein ganzes Leben lang von Menschen verfolgt, wohl als Zuflucht wählen. Mittags rasteten wir eine halbe Stunde im schattigen Schutz eines Felsbrockens und tranken einige Schluck lauwarmes Wasser; dann ging’s weiter.
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»Da und da.« Mit der Spitze eines Giftpfeils zeichnete Xhai den Umriß eines Fußabdrucks auf dem eisenharten Boden nach. »Seht ihr sie nicht?« fragte er, doch obwohl wir das Gebiet mit gebeugtem Kopf abschritten, wir konnten sie nicht ausmachen. Nahe der Gipfelkuppe lag ein Haufen Elefantendung, noch feucht, trotz der ofentrockenen Hitze, und eine Wolke gelber und organgefarbener Schmetterlinge schwebte darüber. »Der Mann ist ein verfluchter Zauberer.« Louren schüttelte verwundert den Kopf, während er das schwere Gewehr von der Schulter nahm und unter den Arm klemmte. Wir gingen weiter, aber langsam jetzt, häufig anhaltend, wenn Xhai und Ghal die undurchdringlich dichten Dornenbüsche vor uns untersuchten. Die Spannung wurde schier unerträglich. Jeder einzelne Schritt war geplant, erfolgte nur auf ein Zeichen von Xhais zierlicher rosaroter Innenhand. »Kommt«, bedeutete die Hand, und wir gingen weiter vor, dann abrupt – »Halt!« ein rasches Zeichen, die Hand wie eine Klinge, sich dann zur Faust ballend und nach vorn zeigend; denn es bedeutet Unglück, mit dem Finger auf die Beute zu zeigen. Wir standen totenstill, mit schweißglänzenden Gesichtern in die Dornenwand starrend – und dann ragte plötzlich der Elefant geistergrau im grauen Dorn auf, bewegte sich in müßig schwankendem Wiegen von uns fort, die graue Haut gerunzelt und alt, in Säcken und Beuteln am Bauch und zwischen den Hinterbeinen hängend, der Schwanz haarlos, die Wirbel des Rückgrats deutlich unter der Haut abgezeichnet. Großer alter Elefant! »Bleibt hier!« Xhai wies auf Ghal und mich. Ich nickte. »Komm mit mir!« Xhais Zeigefinger winkte Louren, und sie schlichen zusammen durch den Busch auf die Flanke des Elefanten zu. Der Buschneger führte ihn seitwärts, um ihm Gele-
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genheit zu einem sauberen Schuß auf Kopf oder Schulter zu geben. Der Elefant blieb stehen und begann an dem Dickicht zu weiden, zupfte behutsam mit der Spitze seines Rüssels die blaßgrünen Schößlinge, stopfte sie ins Maul. Der Schuß zerriß die hitzegetränkte Stille. Ich hörte die Kugel ins Fleisch schlagen. Der Elefant wirbelte herum. Die langen gelben Stoßzähne aufgerichtet, die riesigen grauen Ohren angelegt, wandte er sich Louren zu und trompetete zornerregt, als er den Mann entdeckte. Lang angestauter Haß brach aus ihm hervor. Er schleppte sich im Angriff zur Seite, schnitt Louren die Feuerlinie hinter einem Dornendickicht ab. Louren drehte sich um und rannte seitwärts, um ein klares Schußfeld zu öffnen, als sein Fuß in ein Ameisenbär-Loch geriet. In vollem Lauf fiel er hin, schwer aufschlagend, wobei ihm das Gewehr aus der Hand flog; er lag betäubt direkt im Angriffsweg. »Louren!« schrie ich und rannte los, nur mit einer Schrotflinte bewaffnet, einem verwundeten angreifenden Elefantenbullen entgegen. »Hier!« schrie ich im Laufen. »Hier!« Während ich den Elefanten abzulenken versuchte, sah ich im Augenwinkel, wie Louren schmerzgekrümmt auf Händen und Knien zu seinem Gewehr kroch. »Hah! Hah!« Ich brüllte aus voller Kraft, und der Bulle unterbrach seinen Angriff, den Kopf zu mir herumschwingend, mich mit mißtrauischen Augen suchend, mit dem Rüssel nach mir schnaubend. Ich warf die Schrotflinte in Anschlag und zielte aus dreißig Meter Entfernung auf seine Augen, in der Hoffnung, ihn zu blenden. Krach! Krach! Ich feuerte aus allen Rohren auf sein Gesicht, und er kam weiter auf mich zu. Ich verspürte ein unendliches Gefühl der Erleichterung, als er mich angriff; ich hatte ihn von
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Louren abgelenkt – das war entscheidend. Ungeschickt tastete ich nach neuen Patronen, wobei ich wußte, daß er über mir sein würde, bevor ich laden konnte. »Lauf, Ben, lauf!« klang Lourens Stimme hell über dem dumpfen Trommeln der Elefantenfüße. Aber meine Beine versagten den Dienst. Ein Schuß aus Lourens Gewehr dröhnte, einmal – zweimal, der graue Berg stürzte wie eine Lawine auf mich zu, bereits tot, das Gehirn zerschmettert durch den Einschlag der schweren Kugel. Meine Füße blieben an den Boden geheftet, ich konnte mich nicht regen, nicht ausweichen, so daß mich der vorgestreckte Rüssel mit brutaler Gewalt erwischte. Ich wurde durch die Luft geschleudert, und dann löschte der grausame Aufprall in grellen Farben und stechendem Licht mein Bewußtsein. »Du dummer Kerl! Oh, du dummer tapferer kleiner Kerl.« Ich hörte Lourens Stimme wie durch einen langen Tunnel. Kalte Nässe spritzte über mein Gesicht, gesegnete Nässe auf meine Lippen, ich öffnete die Augen. Louren saß auf der Erde, meinen Kopf in seinen Schoß gebettet, und spritzte mir aus der Flasche Wasser ins Gesicht. Ich war steif und arg mitgenommen, hatte Prellungen an Schultern und Rücken und über der Schläfe eine derart schmerzende Beule, daß ich sie nicht zu berühren wagte. »Kannst du laufen?« fragte Louren. »Ich will’s versuchen.« Es ging, ohne allzusehr zu schmerzen. »Wir kampieren heute nacht am Wasser-im-Felsen«, sagte Xhai, »und morgen kehren wir zurück und holen die Zähne.« »Wie weit ist es?« fragte ich zweifelnd. »Ganz nahe!« versicherte mir Xhai. Ich sah ihn skeptisch an. Er hatte schon mit den gleichen Worten einen Marsch von fünfundsiebzig Kilometern bezeichnet. »Hoffentlich stimmt das«, sagte ich auf Englisch, aber zu
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meiner Überraschung war es tatsächlich viel näher, als ich erwartet hatte. Es blieb nicht die einzige Überraschung. Wir überquerten einen Gipfel, ich an Lourens Arm humpelnd, und gelangten in ein weites Granitgelände, einen großen geschwungenen Felsendom von fast fünfzehn Quadratkilometern Ausdehnung. Ich warf einen Blick auf die Umrisse der flachen runden Löcher, die die ganze Oberfläche eindellten, und stieß einen Freudenschrei aus. Plötzlich brauchte ich Lourens stützenden Arm nicht mehr. Aufgeregt rannten wir beide hinunter zu dem steinigen Boden, um die regelmäßigen Linien der abgewetzten Vertiefungen zu untersuchen. »Es muß groß gewesen sein«, jubelte Louren. Er schätzte die Zahl der Löcher: »Tausend?« »Mehr«, rief ich. »Eher zweitausend.« Ich hielt inne, indem ich mir die langen, geraden Reihen nackter Sklaven vorstellte, wie sie auf dem Felsboden knieten, jeder neben einer der glatten Vertiefungen, jeder durch die eiserne Sklavenkette an seinen Nachbarn gefesselt, jeder mit einem schweren Stößel in der Hand, an dem goldhaltigen Erzgestein zwischen seinen Knien meißelnd. In meiner Phantasie sah ich die Aufseher die Kolonnen entlang schreiten, die Lederpeitsche in der Hand, während sie prüften, ob der Fels auch puderfein zerrieben wurde. Ich sah die endlosen Reihen der Sklaven, die mit erzgefüllten Körben auf ihren Köpfen aus dem Schacht stiegen. All das hatte hier vor fast zweitausend Jahren stattgefunden. »Wo ist wohl die Mine?« Louren erriet meine Gedanken. »Und das Wasser?« fügte ich hinzu. »Sie brauchten Wasser, um das Gold auszuwaschen.« »Zum Teufel mit dem Wasser«, rief Louren. »Ich will die Mine. Diese alten Knaben haben nur im Gewicht von drei Unzen und darüber gefördert, und sie haben auf der Grundwasserebene aufgehört – verdammt, hier liegt irgendwo eine Schatz-
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kammer.« So waren all die alten Minen zerstört worden. Es sprach für das Geschick der alten Metallurgen, daß sie die Lage fast jeder modernen Mine in Zentralafrika schon zweitausend Jahre vorher entdeckt hatten. Die modernen Ingenieure rissen in ihrer Hast, an die verlassenen Flöze zu gelangen, alle Reste der alten Anlagen ab. Ich schwor mir, hier würde ich als erster hinuntersteigen, vor den Vandalen mit ihren Bohrern und ihrem Dynamit. Das Wasser war auf dem Grund eines fünfzehn Meter tiefen, sauber in den Felsen getriebenen Brunnens, die Wände gesäumt mit Steinmetzarbeiten. Das beste Exemplar eines alten Brunnens, das ich je gesehen hatte. Die Buschneger hatten ihn offensichtlich in gutem Zustand gehalten. Xhai holte aus einem Versteck im Felsen Seil und Ledereimer. Er zog den Eimer randvoll mit klarem Wasser hoch, in dem ein paar tote Frösche und eine ertrunkene Buschratte schwammen. Ich nahm mir vor, jeden Tropfen abzukochen, bevor er mir über die Lippen kam. Louren verweilte volle dreißig Sekunden in Bewunderung des Brunnens, dann schritt er in das schmale Tal zwischen den beiden Granitgraten. Er verschwand eifrig suchend in den Bäumen, und zwanzig Minuten später drangen seine Rufe schwach zu mir herauf. »Ben! Komm her! Schnell!« Ich mühte mich von der Brunnenmauer und humpelte in das Tal hinunter. »Hier ist es, Ben.« Louren war wild vor Erregung, und es bestürzte mich wieder einmal, wie die Macht des Goldes den trägsten Puls beschleunigt und glitzernde Gier in die müdesten Augen treibt. Ich bin kein Materialist, aber seine Lockung und sein Zauber beschleunigten auch meinen Atem, als ich neben Louren stand und wir auf die Mine der Alten schauten. Dabei war der Anblick selbst nicht einmal beeindruckend, eine flache Vertiefung, ein etwa drei oder vier Fuß abfallender Graben, die Ränder weich gerundet; er verlor sich in den Bäumen wie ein ausgetretener Fußpfad.
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»Offene Straße«, sagte Louren. »Sie sind der Flözlagerung gefolgt.« »Und wieder aufgefüllt.« Ich meinte damit die seltsame Gewohnheit der Alten, all ihre Minen aufzufüllen, bevor sie sie aufgaben. Der flache Graben war durch das Einsinken der Füllerde entstanden. »Komm«, sagte Louren. »Folgen wir ihm.« Zwei Kilometer folgten wir der alten Straße durch den Wald, bis sie versickerte. »Wenn wir nur ihre Halden fänden«, murmelte Louren, während wir die üppige Vegetation nach einem Stapel loser Felsen absuchten. »Oder wenigstens ein Erzstück, das sie übersehen haben.« Mein Rücken schmerzte so sehr, daß ich auf einem umgestürzten Baumstamm ausruhen und die weitere Suche Louren überlassen mußte. Der Wasserspiegel im Brunnen lag bei fünfzehn Metern, deshalb schätzte ich, daß die Alten ihre Strosse bis in diese Tiefe getrieben hatten. Sie besaßen keine Pumpen oder anderes Gerät, um die Schächte trockenzuhalten, und sobald Wasser sprudelte, schütteten sie sie zu und suchten nach einem anderen Flöz. Diese Mine hatte aus einem zwei Kilometer langen, fünfzehn Meter tiefen und zwei Meter breiten offenen Graben bestanden, mit eisernen Krummäxten in den Boden gehauen und mit Eisenkeilen, die von Steinhämmern in den Felsen getrieben wurden. Wenn der Fels zu hart wurde, zündeten sie Feuer darauf an und gössen mit saurem Wein gemischtes Wasser über die erhitzte Oberfläche, um sie aufzureißen. Mit der gleichen Methode hatte Hannibal die Felsblöcke gesprengt, die seinen Elefanten den Weg über die Alpen blockierten – man könnte es einen karthagischen Trick nennen. Aus den Flözen brachen sie Goldquarzbrocken, packten sie in Körbe und zogen sie an Lederseilen nach oben.
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Mit dieser Methode förderten sie aus Bergwerken in einem 450 000 Quadratkilometer weiten Gebiet Zentral- und Südafrikas schätzungsweise 700 Tonnen Feingold, dazu riesige Mengen Eisen, Kupfer und Zinn. »Das sind 22 Millionen Unzen Gold zum Preis von 40 Dollar pro Unze, 800 Millionen Dollar.« Ich rechnete es laut aus und fügte hinzu: »Eine Menge Geld.« »Ben, wo bist du?« Louren kam aus den Bäumen zurück. »Ich habe ein Flözstück gefunden.« Er hatte einen Felsbrocken in der Hand und reichte ihn mir. »Was hältst du davon?« »Blauer Zuckerquarz«, sagte ich. Ich befeuchtete mit der Zunge seine Oberfläche, hielt ihn dann ins Sonnenlicht. »Heh!« rief ich aus, als das Gold mir feucht aus den Spalten und kleinen Rissen im Quarz entgegenfunkelte. »Tatsächlich!« stimmte Louren zu. »Das Zeug ist gut. Ich werde zwei meiner Jungs herschicken, damit sie das ganze Gebiet abstecken.« »Lo, vergiß mich nicht«, bat ich. Er runzelte die Brauen. »Du wirst beteiligt, Ben. Habe ich je versucht…« »Sei nicht blöd, Lo. Das meine ich nicht. Ich will nur nicht, daß deine Felsenhunde das Land verwüsten, bevor ich’s erforscht habe.« »Okay, Ben. Ich verspreche es«, lachte er. »Du wirst dabei sein, wenn wir die Schächte öffnen.« Er jonglierte das Quarzstück in seiner Hand. »Gehen wir zurück, ich will mir einen Überblick und ein Bild von seinem Wert verschaffen.« Mit einem Stein aus der Granitschicht und einem Brocken Eisenstein als Mörser zerrieb Louren ein Stück des Quarzes zu feinem weißen Pulver. Er schüttete es in unseren Kochtopf und wusch das Steinpulver mit Brunnenwasser fort. In leichten Kreisbewegungen schüttelte er den Inhalt des Topfes, wobei er bei jeder Drehung ein wenig vergoß. Nach fünfzehn Minuten
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hatte er den goldenen »Schwanz« gesondert. Er lag gekrümmt auf dem Topfboden, gelbfett glänzend. »Hübsch«, sagte ich. »Hübscher geht es nicht!« grinste Louren. »Das Zeug gibt fünf Unzen pro Tonne her.« »Du bist ein habgieriger Gauner«, neckte ich ihn. »Sagen wir’s so, Ben«, er grinste noch immer. »Der Profit finanziert dein Institut wahrscheinlich für die nächsten zwanzig Jahre. Spuck nicht darauf, Partner. Geld ist nicht die Wurzel allen Übels, wenn man es richtig nutzt.« Wir kampierten diese Nacht neben dem Brunnen. Am nächsten Morgen schnitten wir die Stoßzähne aus und gruben sie unter einem riesigen Steinhaufen ein. Es war bereits Nachmittag, als wir uns auf den Rückweg zum Landrover machten. Die Nacht holte uns wieder ein, aber um die Mitte des folgenden Morgens erreichten wir den Landrover. Ich hatte traubengroße Blasen an den Fersen, und meine Prellungen und Beulen schmerzten höllisch. Dankbar sank ich auf den Beifahrersitz. Wir überließen Xhai und seinen kleinen Stamm ihren ewigen Wanderungen in der Wildnis und kamen acht Tage nach unserer Abfahrt wieder in der Mondstadt an. Wir waren schwarz von Sonne und Schmutz, uns sproß der Bart, und unser Haar war steif vor Staub und Dreck. Lourens Bart glitzerte rotgolden im Sonnenlicht. Er war seit drei Tagen fahnenflüchtig, und die Meute lärmte. Ein großer Stapel Nachrichten harrte seiner im Funkraum. Und bevor er sich rasieren oder baden konnte, mußte er eine Stunde am Funkgerät verbringen, um die dringendsten Probleme zu erledigen, die während seiner Abwesenheit aufgetreten waren. »Ich müßte eigentlich sofort zu den Salzminen zurück«, sagte er, als er aus dem Raum kam. »Es ist vier Uhr dreißig. Ich könnte es schaffen.« Er zauderte kurz, dann entschloß er sich. »Nein, verdammt! Ich stehle mir noch eine Nacht. Hol den
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Whisky, während ich bade.« »Jetzt redest du vernünftig.« Ich lachte. »Bis zum bitteren Ende, Partner.« Er stieß mir gegen die Schulter. »Bis zum bitteren Ende, Lo«, versicherte ich ihm. Wir redeten viel und sangen ein wenig und tranken Whisky bis Mitternacht. Kurz vor dem Schlafengehen kam Louren noch auf die Fotos zu sprechen: »Ben, du hast mir Fotos von dem Bild des weißen Königs zum Mitnehmen versprochen.« »Sicher, Lo.« Ich stand leicht schwankend auf und holte ihm ein Bündel Hochglanzabzüge aus meinem Büro. Im Licht sah er sie durch. »Was stimmt an dieser Aufnahme nicht, Ben?« fragte er plötzlich und gab sie mir. »Was? Mir fällt nichts auf.« »Das Gesicht, Ben. Es trägt ein Zeichen.« Da entdeckte ich es; ein schwarzes Schattenkreuz entstellte das totenbleiche Gesicht des Königs. Ich betrachtete es einen Augenblick. Es verwirrte mich – ein graues Kreuz wie auf Aschermittwochstirnen. »Vielleicht ein Fehler beim Entwickeln«, vermutete ich. »Ist es auch auf den anderen Abzügen?« Er überflog sie schnell. »Nein, nur auf diesem.« Ich gab ihm das Foto zurück. »Wohl nur ein fehlerhafter Abzug«, sagte ich. »Okay.« Louren akzeptierte meine Erklärung. »Gute Nacht.« Ich gebe zu, daß ich keinen weiteren Gedanken auf das Zeichen am Gesicht des weißen Königs verschwendete. Ich war mehr als ein wenig betrunken.
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Die nächsten zwei Monate verstrichen schnell. Ral und ich konzentrierten uns auf die gründliche Ausgrabung des Höhlenbodens. Aber die Höhle war nie von Menschen bewohnt worden, es gab weder eine Müllgrube noch eine Herdstelle. Wir fanden Tierknochen bis hinunter zur Felsenschicht, und in der Felsenschicht selbst einen einzigen zubehauenen Steinblock – das war die ganze Ausbeute. Wie versprochen, rief Louren mich über Funk an, als seine Gesellschaft mit der Wiedereröffnung der alten Mine beginnen wollte, die wir auf der Elefantenjagd entdeckt hatten. Ein Hubschrauber holte mich ab, und ich verbrachte drei Wochen mit den Ingenieuren. Das Flöz lag, wie erhofft, unterhalb der Wasserebene, und obwohl seine Ergiebigkeit von Stelle zu Stelle wechselte, war der Durchschnittswert außerordentlich hoch. Heimlich freute ich mich über meinen zehnprozentigen Anteil an der Mine, trotz meiner kaum materialistischen Einstellung. Wir bargen Hunderte von Gegenständen, meist Abbaugeräte, darunter verrostete Krummäxte und Keile, Steinhämmer, Kettenglieder, ein paar gut erhaltene Faserkörbe und die üblichen Perlen und Tonscherben. Mich freuten die Faserkörbe am meisten, weil sie uns im Labor eine Kohle-14-Datierung ermöglichten. Diese fiel kurz vor das Datum des großen Feuers und stellte somit einen Zusammenhang zwischen der Elefanten-Mine und der Mondstadt her.
Der interessanteste Fund in der Elefanten-Mine bestand jedoch in fünfzehn menschlichen Skeletten, die dicht nebeneinander am tiefsten Punkt der Strosse lagen. Einem Felssturz waren diese Menschen bestimmt nicht zum Opfer gefallen –
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dafür waren ihre Körper zu regelmäßig gebettet. Obwohl das Gewicht der Erde sie zerdrückt hatte, konnte ich fünf von ihnen als weiblich und zehn als männlich erkennen. Alle waren fortgeschrittenen Alters, einer verriet Zeichen von Arthritis. Einem anderen fehlte der Unterarm, aber der Knochen war verkapselt, so daß es sich um eine ältere Verletzung handeln mußte. Die meisten hatten ihre Zähne verloren. An allen fand ich Spuren von Eisenketten. Ich kam zu dem Schluß, daß man fünfzehn ältere und kranke Sklaven absichtlich auf den Grund der Strosse gelegt hatte, bevor sie aufgefüllt worden war. Ich überwachte Katalogisierung, Verpackung und den Versand all der Funde ans Institut und kehrte in die Mondstadt zurück, wo ich mich unverzüglich zur Höhle begab. Wie ich gehofft hatte, war Sally dort hart bei der Arbeit. Ich glaube nicht, daß sie ihre Freude heuchelte, als sie auf mich zukam und mich küßte. »Oh Ben, ich habe dich vermißt!« Sie begann dann aber sofort ein Fachgespräch, und obgleich ich die richtigen Antworten gab, war ich in Gedanken gar nicht bei der Sache. Wie sich ihre Nase beim Sprechen kräuselte, und wie sie sich mit dem Handrücken ständig das Haar aus der Wange strich – mein ganzes Wesen erbebte vor Liebe zu ihr. Tief in mir spürte ich Angst. Unsere Arbeit in der Mondstadt war fast beendet, bald mußten wir in die gedämpften Räume des Instituts nach Johannesburg zurück. Ich fragte mich, welche Wirkung das wohl auf Sally und mich ausüben würde. »Wir fliegen bald ab, Sal.« »Ja«, pflichtete sie bei, sofort ernüchtert. »Es macht mich traurig. Ich war hier so glücklich. Es wird mir fehlen.« Sally stand auf und stellte sich nachdenklich vor das Porträt des weißen Königs. »Wir haben hier so viel gelernt.« Nach einem Augenblick des Schweigens fuhr sie dann fort: »Und trotzdem ist uns so
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viel versagt geblieben. Als hätten wir nach Wolken gejagt; oft glaubte ich es fast schon mit den Händen greifen zu können.« Sie schüttelte ärgerlich den Kopf. »Es gibt so viele Geheimnisse, die uns noch immer verborgen sind, Ben. Dinge, die wir nie erfahren werden.« Sie drehte sich um und hockte sich vor mir hin. »Weißt du, Ben, daß wir keinen einzigen wirklichen Beweis haben? Daß alle unsere Funde die alten Argumente nicht widerlegen?« Sie beugte sich näher zu mir. »Wir haben ein Symbol auf einer Tonscherbe – importiert auf dem Handelsweg, werden sie sagen. Wir haben den goldenen Kelch – eine Arbeit einheimischer Goldschmiede, die zufällig das Ankh-Motiv benutzten, werden sie behaupten. Wir haben die Gemälde – Vermutungen sind kein Beweis, werden sie sagen.« Sie starrte mich an. »Weißt du, was wir haben, Ben, wenn alles gesiebt und sortiert ist? Wir haben überhaupt NICHTS!« »Ich weiß«, sagte ich elend.
Ich plante, die Grabungen am 1. August zu beenden, und die letzten Juliwochen verbrachten wir mit Aufräumungsarbeiten. Wir ließen die Fundamente für eventuell nachfolgende Forscher frei, packten mit liebevoller Sorgfalt unsere Schätze, nahmen die letzten Eintragungen in den Notizbüchern vor, tippten die langen Inventarlisten und kümmerten uns um tausend andere Details. Die Erkundung des Geländes war abgeschlossen, vor mir lagen Monate der Arbeit, um alle unsere Entdeckungen zu katalogisieren und miteinander in Beziehung zu setzen; jedes Fak-
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tum mußte eingeordnet und mit Funden anderer Grabungen verglichen werden. Und schließlich waren der Endbericht und seine Veröffentlichung vorzubereiten. Ursprünglich hatte ich mein Buch Die Phönizier in Südafrika nennen wollen. Jetzt mußte ich einen anderen Titel finden. Die Dakota traf ein, um die erste Kistenfracht abzuholen. Peter und Heather Willcox flogen mit. An jenem Abend sprach Louren mit mir über Funk. »Wir haben Cousteau endlich aufgespürt, Ben. Er ist die nächsten acht Monate voll ausgebucht.« Damit entfiel für mich der letzte Grund, in der Mondstadt zu bleiben. Sally half mir beim Packen meiner privaten Papiere, bis spät in die Nacht sortierten wir Tausende von Fotografien aus, bis wir schließlich bei der Mappe mit den Bildern des weißen Königs ankamen. »Mein schöner, geheimnisvoller König«, seufzte Sally. »Kannst du uns nichts mehr mitteilen? Woher stammst du? Wen hast du geliebt? In welchen Schlachten hast du deinen Kriegsschild getragen, und wer weinte über deine Wunde?« Langsam gingen wir den dicken Stapel der Abzüge durch, die aus jedem Winkel, unter allen möglichen Lichtverhältnissen, mit den verschiedensten Blenden und Entwicklungsmethoden aufgenommen worden waren. Bis mir auf einem der Abzüge ein Detail auffiel. Wahrscheinlich war ich unbewußt auf so etwas vorbereitet gewesen. Ich starrte mit Augen drauf – die zum erstenmal wirklich zu sehen begannen. »Sal«, stieß ich hervor. »Das Licht! Erinnerst du dich, wie wir die Stadt im Mondlicht entdeckten? Erinnerst du dich an den Winkel und die Lichtintensität?« Sie nickte eifrig. »Siehst du es, Sal?« Ich berührte das Gesicht des weißen Königs. »Erinnerst du dich an den Abzug, den ich Louren gegeben habe? Erinnerst du dich an das Zeichen?«
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Sie blickte gebannt auf die Fotografie. Das Foto war blasser als Lourens Abzug, aber man konnte auf dem totenbleichen Gesicht das gleiche dunkle Kreuz erkennen. »Was ist es?« rätselte Sally, während sie das Bild in ihren Händen hin und her wendete, um das Licht einzufangen. »Ich weiß nicht.« Ich eilte zum Geräteschrank und wühlte darin herum. »Aber verdammt, ich werde es herausfinden.« Ich gab ihr eine der vierzelligen Taschenlampen. »Nimm das, und folge mir, Watson!« »Wir scheinen unsere beste Arbeit immer nachts zu leisten«, begann Sally, merkte aber sofort, was sie gesagt hatte, und kam einem zweideutigen Kommentar zuvor: »So habe ich’s nicht gemeint!« Die Höhle war still wie ein altes Grab. Laut hallten unsere Schritte wider, als wir um den Teich herum zum Porträt des weißen Königs gingen. Die Strahlen unserer Taschenlampen tanzten über ihn. Königlich-erhaben schaute er auf uns nieder. »Auf seinem Gesicht ist kein Zeichen«, sagte Sally enttäuscht. »Warte.« Ich nahm mein Taschentuch. Doppelt gefaltet legte ich es über das Glas des Scheinwerfers. Der helle Strahl dämpfte sich unter dem Tuch zu einem matten Leuchten. Ich kletterte auf das Holzgerüst. »Knips deine Lampe aus, Sally«, ordnete ich an, und im Halbdunkel stieg ich zu dem Porträt hoch und untersuchte in dem gedämpften Licht das Gesicht. Die Wange war weiß, makellos. Langsam bewegte ich die Lampe nach oben, nach unten, in weitem Kreis um des Königs Kopf. »Da!« Wir riefen das Wort gleichzeitig aus, als auf den bleichen Zügen plötzlich das verschwommene Kreuzzeichen erschien. Ich richtete das Licht genau darauf, um es zu untersuchen. »Es ist ein Schatten, Sal«, sagte ich.»Unter der Farbe muß eine Unebenheit sein. Eine Art Furche, oder zwei Furchen
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im rechten Winkel zueinander.« »Risse im Fels?« fragte Sally. »Vielleicht«, sagte ich. »Aber sie scheinen zu gerade, für eine natürliche Linie scheinen die Winkel zu präzise und genau.« Ich nahm das Tuch von der Lampe und fragte: »Hast du irgend etwas aus Seide bei dir?« »Seide?« Sie schaute verblüfft, reagierte aber schnell. »Meinen Schal.« Sie faßte sich an den Hals. »Leih ihn mir bitte.« »Was hast du vor?« verlangte sie, die Hand schützend auf das hübsche Tuch in ihrem Halsausschnitt gelegt. »Ein echter Cardin. Hat mich verdammt viel gekostet.« »Er wird nicht beschädigt«, versprach ich. »Sonst mußt du mir einen neuen kaufen«, warnte sie mich, während sie ihn mir hochreichte. »Jetzt gib Licht«, wies ich sie an, und sie richtete ihre Taschenlampe auf den König. Ihn mit den Fingern der linken Hand festhaltend, breitete ich den Schal über den Kopf des Königs. Mit den Fingerspitzen der rechten Hand tastete ich durch die Seide die Oberfläche des Gemäldes ab. Auf dem Tuch glitten meine Fingerspitzen leicht über den Fels, seine Textur schien vergrößert. Ich spürte eine kleine Rinne, folgte ihr zu einer Kreuzung, tastete weiter die andere Achse entlang, dann die nächste und weiter, bis zum Ausgangspunkt zurück. Meine Fingerspitzen hatten eine gleichmäßige rechteckige Form entdeckt, ungefähr zwanzig mal vierzehn Zentimeter. »Spürst du was?« Sally konnte ihre Ungeduld nicht zügeln. Ich antwortete nicht, meine Finger glitten auf der Seide über den Fels, von dem Porträt fort bis fast hinunter zum Boden und hinauf, soweit ich reichen konnte. »Oh, Ben. Sag schon! Was ist es?« »Warte!« Meine Fingerspitzen zitterten vor Erregung.
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»Ich will nicht warten, verdammt!« schrie sie. »Sag’s mir.« Ich sprang vom Gerüst und ergriff ihre Hand. »Komm.« »Wo gehen wir hin?« fragte sie, als ich sie durch die Höhle fortzog. »Die Kamera holen.« »Wozu denn?« »Wir machen ein paar Aufnahmen.« Ich hatte zwei Kodak-Elektrachrom-Luftfilme in dem kleinen Kühlschrank, wo ich meine Filmvorräte aufbewahrte. Ich hatte diese Infrarotfilme eigens bestellt, um mit Aufnahmen der verschütteten Stadtfundamente von den Klippenhöhen aus zu experimentieren, aber die Resultate waren nicht ermutigend. Zu viele Felsschichten und eine zu dichte Vegetation verdarben die Abzüge. Ich spannte einen Infrarotfilm ein und stülpte einen Filter über die Linse. Sally ließ mir keine Ruhe, aber ich antwortete auf all ihre Fragen mit »Abwarten und Tee trinken«. Mit zwei Bogenlampen kamen wir kurz nach Mitternacht wieder in der Höhle an. Ich stellte direktes Frontallicht her und machte zwanzig Aufnahmen mit verschiedenen Belichtungen. Sally starb unterdes fast vor Neugier, bis ich mich ihrer endlich erbarmte. »So fotografiert man die Leinwand von Gemälden, um Signaturen und übermalte Details zu entdecken. Ebenso bei Luftaufnahmen über den Wolken, um Meeresströme aufs Bild zu bekommen – Dinge, die dem menschlichen Auge verborgen sind.« »Es klingt wie Zauberei.« »Ist es auch«, sagte ich, eifrig knipsend. »Der Filter siebt alles außer den infraroten Strahlen aus, und die nimmt der Film auf. Er zeigt Temperatur- und Texturschwankungen des Gegenstandes in unterschiedlichen Farben an.« Ich hatte eine Stunde in der Dunkelkammer zu tun, bevor ich
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die Fotos auf den Schirm projizieren konnte. Alle Farben waren geisterhaft, total entstellt. Das Gesicht des Königs erschien giftgrün, sein Bart purpurn. Da waren seltsame Tupfen, Flekken und Sprenkel, die wir vorher nicht bemerkt hatten – Unregelmäßigkeiten an der Oberfläche, fremdes Material in den Farbpigmenten und andere Mängel. Sie glühten wie exotische Juwelen. Ich nahm sie kaum wahr. Meine ganze Aufmerksamkeit richtete sich, während mein Puls raste, auf das Gitter der rechteckigen Formen, die unter dem Gemälde lagen. Ein unregelmäßiges Karo-Muster in blaßblauen Linien. »Wir müssen sofort Louren holen«, platzte ich heraus. »Aber was ist es denn? Ich verstehe noch immer nicht. Was bedeutet das?« Ich blickte Sally erstaunt an. Mir war es so klar und deutlich, daß ich das gleiche von ihr erwartet hatte. »Es bedeutet, Sal, daß hinter unserem weißen König eine Öffnung in der Felswand ist, die der Steinmetzmeister mit perfekt gefügten Sandsteinblöcken verschlossen hat. Darüber ist der weiße König gemalt worden.«
Louren Sturvesant stand vor der Felswand in der Höhle und starrte, die Hände auf dem Rücken verschränkt, aufgebracht den weißen König an. Wir standen im Halbkreis um ihn – Ral, Sally, Leslie und ich – und beobachteten besorgt sein Gesicht. Plötzlich riß sich Louren die Zigarre aus dem Mund und schleuderte sie zu Boden. Wie wild zermalmte er den Stummel zu Pulver, wandte sich von uns ab, trat an den Rand des smaragdgrünen Teiches. Er starrte in seine schattige Tiefe hinunter. Wir harrten schweigend. Er kam zurück. Wie mit magischer Kraft zog das Bild ihn
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an. »Dies hier«, sagte er, »ist eines der großen Kunstwerke der Welt. Es ist zweitausend Jahre alt. Unersetzlich. Von unschätzbarem Wert.« »Richtig«, bekräftigte ich. »Es gehört nicht uns. Es ist Teil unseres kulturellen Erbes. Es gehört der Nachwelt.« »Ich weiß«, gab ich zu, aber ich wußte noch mehr. Seit Monaten hatte ich bemerkt, wie das Porträt Louren immer stärker in seinen Bann zog. Es hatte für ihn eine tiefe, mir rätselhafte Bedeutung gewonnen. »Und jetzt wollt ihr, daß ich es zerstöre«, sagte er. Wir schwiegen. Louren wandte sich ab und begann, vor dem Porträt auf und ab zu schreiten. Unsere Blicke folgten ihm wie beim Tennisspiel. Er blieb abrupt vor mir stehen. »Du und deine verfluchten Fotos«, sagte er und lief weiter. »Könnten wir nicht –«, begann Leslie furchtsam, aber sie verstummte, als Louren herumfuhr und sie anblitzte. »Ja?« sagte er scharf. »Nun, man könnte vielleicht von hinten, ich meine, nun –«, ihre Stimme versagte und gewann wieder an Kraft. »Man könnte an der Seite einen Gang in die Wand bohren und dann hinter dem König abbiegen.« Zum erstenmal in meinem Leben spürte ich das Verlangen, sie zu umarmen und zu küssen. Louren ließ einen seiner Minensteiger mit einem fünfköpfigen Spezialtrupp von der Little Sisters Goldmine bei Welcome einfliegen. Sie brachten einen Kompressor mit, Luftdruckhämmer, Bohrmeißel und das übrige Zubehör ihres Gewerbes. Der Steiger, ein großer rotblonder Mann mit lustigen kornblumenblauen Augen und einem sommersprossigen Baby-Gesicht hieß Tinus van Vuuren und machte sich begeistert an seine Aufgabe.
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»Das kriegen wir leicht hin, Doktor. Dieser Sandstein ist wie Käse, verglichen mit dem Serpentin und Quarz, das ich gewohnt bin.« Sally und ich zeichneten die Umrisse der Gangöffnung an die Höhlenwand, an einer Stelle, wo keine der schöneren und bedeutenderen Malereien beschädigt werden konnten. Wir nahmen Tinus beim Wort und setzten die Öffnung nur sechzig Zentimeter breit und 1,20 Meter hoch, einen Meter von dem weißen König entfernt, damit die Bohrschwingungen keine Steinsplitter oder Farbpigmente lockerten. Tinus wollte den Gang zehn Meter vortreiben, ihn dann im rechten Winkel hinter das Gemälde des Königs wenden. Er sollte früh am nächsten Morgen beginnen, aber wir luden ihn abends in den Aufenthaltsraum ein. Die Atmosphäre glich einer Fliegeroffiziersmesse am Vorabend eines gefährlichen Einsatzes. Wir redeten alle erregt und tranken ein wenig zuviel. »Wozu brauchen Sie die Sauerstoffmasken, Doc?« fragte Tinus. »Rechnen Sie mit Gas oder Feuer?« »Sauerstoffmasken?« Louren unterbrach sein Gespräch mit Sally. »Wer hat sie bestellt?« »Mir ist ausdrücklich gesagt worden, sechs Sauerstoffmasken.« Tinus war bestürzt. »Das hat man mir gesagt, Sir.« »Es stimmt, Lo.« Ich kam dem armen Mann zur Hilfe. »Ich habe sie angefordert.« »Warum?« »Nun, Lo. Wir hoffen einen Gang zu finden, ein –«, ich wollte gerade »Grab« sagen, aber ich wollte die Götter nicht versuchen, »– eine Höhle.« Er nickte. Sie sahen mich alle an. »Diese Höhle wäre seit zweitausend Jahren luftdicht versiegelt, es drohe also die Gefahr –«
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»Der Fluch der Pharaonen!« warf Sally ein. »Natürlich. Erinnert ihr euch daran, was den Männern widerfahren ist, die als erste Tutenchamons Grab betraten?« Sie strich mit dem Finger über ihre Kehle und rollte wild die Augen. Sie trank bereits ihr zweites Glas Glen Grant. »Sally, reiß dich zusammen«, wies ich sie zurecht. »Der Fluch der Pharaonen ist selbstverständlich ein Mythos. Aber es besteht die Gefahr einer besonders bösartigen Lungenkrankheit.« »Nun, ich muß sagen, daß ich nicht an Verwünschungen und solchen Mist glaube«, lachte Tinus, ein wenig zu laut. »Ich auch nicht«, pflichtete Ral Davidson bei. »Es geht um nichts Übernatürliches«, sagte Leslie steif, »sondern um eine Pilzkrankheit.« Ich schien völlig die Kontrolle über die Situation zu verlieren, deshalb erhob ich meine Stimme. »Wenn ihr fertig seid, hört mir zu!« Das wirkte. »Die Bedingungen müssen ideal gewesen sein für die Entwicklung von ›cryptococcus neuromyces‹, einer Fäulnispflanze, deren vom Wind getragenen Keime tödliche Krankheit verbreiten.« »Wie?« fragte Tinus. »Wenn man die Keime einatmet, wachsen sie sofort in der feuchten Lungenwärme und bilden dichte Virenkolonien.« »Puh!« sagte Tinus angeekelt. »Meinen Sie damit, es wächst Schimmel in der Lunge wie auf altem Brot?« »Was sind die Folgen?« fragte Louren. Ich wußte es auswendig: »Zunächst wird das Lungengewebe zerfressen, wobei Blutungen, hohes Fieber und Atemstörungen auftreten; danach produzieren die Viren Giftstoffe, die in den Blutkreislauf gelangen und das Gehirn und das zentrale Nervensystem lähmen.« »Mein Gott!« Tinus war bleich vor Entsetzen, seine Augen starrten blau aus dem weißen sommersprossigen Gesicht. »Was
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geschieht dann?« »Das Gift wirkt wie Neurotoxin und ruft Halluzinationen hervor. Die Hirnhaut entzündet sich, und die Gehirnfunktion setzt aus wie unter dem Einfluß von Lysergsäure oder Mescalin.« »Toll!« sagte Ral. Leslie trat ihm gegen das Schienbein. »Man dreht also durch?« verlangte Tinus. »Schlimmer geht’s nicht«, versicherte ihm Sal. »Tödlich?« fragte Louren. »Zu fünfundsiebzig Prozent. Es hängt von der individuellen Immunität und Körperresistenz ab.« »Wenn man überlebt, bleiben dauernde Schäden zurück?« »Lungennarben wie nach einer Tuberkulose.« »Gehirnschäden?« »Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Verdammt«, sagte Tinus beunruhigt, indem er sein Glas hinstellte. »Ich weiß nicht, ob ich scharf bin auf diesen Job. Felseinbrüche, Methangas, Druckexplosionen – das macht mir nichts aus. Aber diese Pilzsache«, es schauderte ihn, »das ist gruselig, verflucht gruselig.« »Welche Vorsichtsmaßnahmen planst du, Ben?« fragte Louren. »Die erste Gruppe nimmt die Sauerstoffmasken mit«, erklärte ich. »Ich mache mikroskopische Luft- und Staubproben.« Louren nickte und lächelte Tinus zu. »Zufrieden?« »Und was, wenn Sie’s nicht finden – wenn es nicht feststellbar ist und verborgen lauert, wie in diesen Zukunftsromanen?« beharrte Tinus. »Falls es vorhanden ist, dann massenhaft, in jeder Staubprobe. Unter dem Mikroskop kann man es nicht übersehen. Ein schwarzes dreipunktiges Gebilde wie ein Pfandleiherschild.« »Sind Sie sicher, Doc?«
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»Ich bin sicher, Tinus.« Er atmete tief ein, zögerte einen Augenblick und nickte dann. »Okay, Doktor. Ich vertraue Ihnen.«
Das stoßende Rattern der Felsbohrer erschütterte mein schmerzendes Gehirn bis zur Bewußtlosigkeit. Die Feier hatte erst in den frühen Morgenstunden geendet. Tinus sah frisch und rosig aus, als ob er am Abend zuvor nur heiße Milch und Honig getrunken und zwölf Stunden geschlafen hätte. Ich kannte diesen Typ – auch Louren zählte dazu. »Hier gibt’s in den nächsten zwei Tagen noch nichts zu sehen«, rief Tinus. »Warum legen Sie sich nicht hin, Doktor?« »Ich bleibe«, erwiderte ich, dem Beispiel der anderen folgend. Louren leitete das Sturvesant-Imperium vom Funkraum, er konnte sich nicht von der Mondstadt losreißen. Sally katalogisierte und ordnete ein wenig, aber es dauerte nie länger als eine oder zwei Stunden, bis sie wieder in der Höhle war. Ral und Leslie heuchelten keine Vorwände, sie verbrachten den ganzen Tag in der Höhle – bis auf kurze gemeinsame Pausen, die sie nach Lourens und meiner Meinung zu gymnastischen Übungen nutzten. Tinus war ein hervorragender Fachmann, und sein Team trieb den Tunnel schnell und gekonnt vor. Die Wände wurden präzis geglättet und mit dicken Holzbalken abgestützt, und an der Decke hingen elektrische Lampen. Nach zehn Metern erweiterte Tinus den Raum, von wo aus er einen neuen Stollen in das Gestein hinter dem Gemälde des weißen Königs trieb. Tinus und ich hatten sorgfältige Messungen und Kalkulationen vorgenommen und genau errechnet, wo wir auf unser Ziel stoßen mußten. Wir wiesen die Bantu-Arbeiter an, ihre Sauer-
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stoffmasken anzulegen, und Tinus und ich krochen hinter ihnen in den engen Tunnel, als sie mit dem Durchbruch begannen. Donnernder Lärm erfüllte den Stollen, und trotz der Ventilation herrschte furchtbare Hitze. Die Spannung wurde fast unerträglich. Die lange Stahlspitze des Bohrers hämmerte Zentimeter um Zentimeter in der Felsen, schmutziges Ölwasser rann aus dem Bohrloch. Ich blickte seitwärts auf Tinus. Er wirkte gespenstisch in seiner schwarzen Gummimaske, aber die blauen Augen zwinkerten unter den Gläsern, und er hob zuversichtlich den Daumen. Plötzlich stürzte der Mann am Bohrer vornüber, er versuchte krampfhaft, das enorme Stahlgewicht unter Kontrolle zu bekommen, als der Bohrer widerstandslos in ein Loch glitt. Tinus klopfte ihm auf die Schulter, und er klemmte das Ventil ab. Die Stille schmerzte beinahe, nur unser Atem rasselte. »Durch«, dachte ich, »wir sind durch, was immer dahinter sein mag.« Auch Tinus’ blaue Augen verrieten Erregung. Er entließ die beiden Bohrarbeiter mit einer Daumenbewegung. Wir beide krochen zu der Öffnung. Behutsam zogen wir den Stahlbohrer aus dem Loch, eine feine Staubwolke folgte, die sich im gleißenden elektrischen Licht kräuselte. Dann winkte ich ihn mit dem Kopf fort. Er folgte seinem Team zurück durch den Tunnel. Ich werkte allein weiter an der Durchbruchstelle. Mit dem langen Plastikstab, um dessen Spitze ein sterilisiertes Leinentuch gebunden war, tastete ich nach dem Ende des Bohrlochs. Er reichte über vier Meter in den Felsen hinein, und als ich ihn herauszog, war das Tuch mit mehlgrauem Staub bedeckt. Ich warf es in den Probenbehälter und umwickelte den Stab mit einem frischen Tuch. Insgesamt nahm ich sechs verschiedene Proben. In der Felsenkammer standen eine Bank und eine Spiegellampe bereit. Das Mikroskop war unter der Spiegellampe schon genau eingestellt, und ich untersuchte systema-
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tisch alle Proben, bevor ich die Sauerstoffmaske abriß und erleichtert in tiefen Zügen atmete. Dann hastete ich durch die Passage in die Höhle. »Wir sind in einen Hohlraum gestoßen«, rief ich, »und er ist sauber!«
Drei Tage arbeiteten Louren und ich Schulter an Schulter, nackt bis zur Hüfte, beharrlich am Felsen hämmernd, bis unsere Hände trotz der Schutzhandschuhe mit Blasen und Hautfetzen bedeckt waren. Langsam legten wir eine behauene Steinplatte in ihrer vollen Höhe und Breite bloß, nur um festzustellen, daß sie zu beiden Seiten an gleiche Platten stieß und daß ebenso massive Querbalken auf ihr zu lasten schienen. Wir setzten hydraulische Fünfzig-Tonnen-Hebel an, um das Gewicht der Balken abzufangen. Dann bohrten wir Schraubenhaken in die Platte und hängten Stahlketten daran. Wir rammten Stahlträger in den Tunnel, um die Ketten zu verankern, und mit zwei schweren Zahnwinden begannen wir die Platte aus den Fugen zu zerren. Wir knieten nebeneinander, uns im Takt gegen die Winden stemmend. Bei jedem Klicken der Zahnräder spannten sich die Ketten, bis sie wie feste Stahlstangen wirkten. Wir konnten die Griffe kaum noch bewegen. »Okay, Ben. Jetzt zusammen an einer«, keuchte Louren. »Klick!« Das Zahnrad und die Kette bewegten sich um einen Millimeter. »Klick!« Wieder ein Bruchteil weiter. Unser Atem zischte und pfiff. »Bis zum bitteren Ende, Partner«, keuchte Louren neben mir.
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»Bis zum bitteren Ende, Lo.« Und mein Körper krümmte sich wie ein gespannter Bogen; ich spürte die Muskeln in meinem Rücken reißen, die Augen traten mir aus den Höhlen. Mit einem leise scharrenden Geräusch rutschte die große Sandsteinplatte aus den Fugen und fiel dumpf auf den Boden des Tunnels. Dahinter sahen wir eine rechteckige schwarze Öffnung. Wir schnappten Seite an Seite nach Luft; der Schweiß rann uns über Gesicht und Körper. Wir starrten in das finstere Loch. Ein schaler, trockener, toter Geruch von zweitausend Jahre alter Luft strömte heraus. »Komm!« Louren war als erster auf den Füßen. Er nahm eine elektrische Birne mit dem kleinen Drahtkorb von der Decke; wir krochen durch die Öffnung. Die Stufe zum Boden der Felsenkammer war über einen Meter tief. Wir befanden uns in einem bequemen Gang, der fünfzig Meter lang schnurgerade vom Höhlenende aus verlief und vor einer glatten Steinwand aufhörte. Er war drei Meter hoch und noch etwas breiter. Die Decke war von Wand zu Wand mit horizontalen Sandsteinstreben abgestützt, und die Wände selbst waren gekachelt mit Platten der gleichen Art, die wir entfernt hatten. Der Boden war quadratisch gepflastert. Zu beiden Seiten des Ganges waren steinumrahmte Nischen in die Wände eingelassen; sie maßen vom Boden bis zur Decke zwei Meter in der Breite und eineinhalb Meter in der Tiefe. Im Abstand von einem Meter reihten sich darin Steinregale übereinander, und auf den Regalen standen aberhunderte von Tonkrügen. »Es ist eine Art Lagerraum«, sagte Louren, während er die Lampe hochhielt und langsam den Gang entlangschritt. »Ja, und vielleicht ist Wein oder Getreide in den Krügen.« Ich denke immer laut nach.
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Die Zahl der Nischen betrug zwanzig, zehn an jeder Seite des Ganges. Ich wagte wieder eine Schätzung. »Es müssen zwei- oder dreitausend Krüge sein«, sagte ich. »Öffnen wir einen.« Louren reagierte mit der Ungeduld des Laien. »Nein, Lo, das muß richtig vorbereitet werden.« Dichter weißer Staub lag über allem; er rundete die Umrisse und Kanten der Formen. Gemächlich wie Schilfnebel stieg er an unseren Beinen hoch. »Bevor wir irgendetwas unternehmen, müssen wir aufräumen«, sagte ich, als mir der Staub in die Nase stieg. »Geh langsam«, sagte Louren. »Wirbel keinen Staub auf.« Er blieb stehen. »Was ist das?« In dem Gang lagen Dutzende unförmige Gestalten unter einer verhüllenden Staubschicht. Sie lagen vereinzelt und in Haufen, seltsam hingestreckte Formen. Verglichen mit den ordentlichen Reihen der Tonkrüge auf den Regalen wirkten sie wahllos verstreut. »Halt die Lampe näher«, sagte ich zu Louren und beugte mich über eine von ihnen. Ich berührte sie vorsichtig, glitt mit den Fingern durch den samtweichen Staub, wischte ihn behutsam beiseite – bis ich erkannte, was es war, und mit einem unwillkürlichen Ausruf des Entsetzens zurückwich. Durch den Staubschleier starrte mich ein uraltes Gesicht an, ein Mumiengesicht mit tabakbrauner trockener Haut. Die Augen waren leere dunkle Höhlen, und die geschrumpften Lippen entblößten grinsende gelbe Zähne. »Männerskelette«, sagte Louren. »Dutzende.« »Opfer?« überlegte ich. »Es sieht nach einer Schlacht aus. Als ob sie im Kampf gefallen wären.« Ein Skelett kauerte grau verstaubt mit dem Rücken zur Wand, den Kopf auf die Brust gesunken; sein ausgestreckter
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Arm hatte vier Krüge vom Regal gerissen – sie lagen neben ihm wie dicke Brotlaibe. »Es muß eine fürchterliche Schlacht gewesen sein«, sagte ich ehrfürchtig. Eines jedoch war ich mir absolut sicher: wir standen vor einer großen Sache, gleichwertig den Entdeckungen Leakeys in Olduvai Gorge. Wir würden die archäologische Fachwelt aufrütteln. Darum hatte ich seit zwanzig Jahren gebetet, davon geträumt. Wir erreichten das Ende des Ganges, das wieder aus einer Sandsteinplatte bestand; aber diese war mit einer stilisierten Sonnengravur verziert. Sie hatte einen Durchmesser von einem Meter, und sie wirkte mit ihren vom inneren Kreis ausgehenden Strahlen wie ein Feuerrad. Das Bild erweckte in mir ein seltsames Gefühl der Ehrfurcht, einen Anhauch des Geistes, wie ich ihn manchmal in einer Synagoge oder dem Kreuzgang einer Kathedrale spüre. Louren und ich standen und starrten es lange an, dann wandte er sich plötzlich um und blickte auf die fünfzig Meter entfernte Mauer zurück. »Ist das alles?« fragte er, und seine Stimme klang gereizt. »Nur dieser Gang und alte Krüge und Knochen? Es muß noch etwas anderes geben!« Ich merkte schockiert, daß er tatsächlich enttäuscht war. Mir konnte das ganze Universum keinen reicheren Lohn bieten, dies war der Höhepunkt meines Lebens – und Louren war enttäuscht. Ich begann vor Wut zu kochen. »Was zum Teufel willst du noch?« verlangte ich. »Gold und Diamanten und Sarkophage und –« »Ja, solche Sachen.« »Du weißt nicht einmal, was wir hier haben, und schon willst du mehr.« Er stieß mir leicht an die Schulter. »Komm, Ben. Sehen wir nach, was in den Krügen ist.« »Lieber nicht, Lo.« Ich schämte mich jetzt meines Aus-
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bruchs und wollte ihn wiedergutmachen. »Erst müssen wir vermessen und –« »Zwei liegen auf dem Boden.« Louren zeigte darauf. »Hier stehen tausende von den Dingern rum. Wir klemmen uns nur eins. Himmel nochmal, Ben, das richtet doch keinen Schaden an!« Louren Sturvesant bat nie um Erlaubnis, er gab nur auf möglichst höfliche Art Befehle. Schon ging er zu der Stelle, wo die Krüge neben dem gekrümmten Skelett im Staub lagen, und ich eilte hinter ihm her. »Okay«, stimmte ich überflüssigerweise zu, um den Anschein meiner Aufsicht über den Fund zu wahren. »Wir nehmen einen mit.« Ich fühlte mich heimlich erleichtert, daß man mir diese falsche Entscheidung abgenommen hatte. Auch ich fieberte vor Ungeduld zu sehen, was in den Krügen war.
Der Krug stand mitten auf der Werkbank in unserem Lagerschuppen. Nacht war draußen gefallen, aber sämtliche Bogenlampen brannten. Wir standen um die Bank geschart, Sally, Ral, Leslie und ich. Tinus van Vuuren war noch oben in der Höhle, sein Status hatte sich vom Minensteiger zum Nachtwächter gewandelt. Louren hatte angeordnet, den Tunneleingang rund um die Uhr zu bewachen, und dafür war Tinus abkommandiert – bis wir anderes Personal bekamen. Durch die dünne Trennwand konnte ich Lourens Stimme hören, als er ins Funkmikrophon rief. »Einen Staubsauger. Staubsauger. STAUBSAUGER! S wie Schuft, T wie Trinker – jawohl. Staubsauger. Die schwere Ausführung für Fabrikreinigungen. Zwei davon. Verstanden? Gut!
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Dann rufen Sie Robeson an, den Leiter der Sicherheitsabteilung in den Sturvesant-Diamantenminen. Er soll mir seine zwei besten Männer schicken und ein halbes Dutzend BantuWächter. Ja, so ist es. Ja, bewaffnet.« Wir horchten kaum hin, da wir alle gebannt auf den Tonkrug starrten. »Mit Gold ist er nicht gefüllt.« Ral war überzeugt. »Nicht schwer genug.« »Auch keine Flüssigkeit – Wein oder Öl«, stimmte Leslie zu. Wir verstummten. Der Krug war ungefähr 40 Zentimeter hoch und rund wie ein Zwiebeltopf. Er bestand aus unglasiertem roten Ton, ohne eine Aufschrift oder Verzierung, mit einer Art Teekannendeckel. Er war mit einer schwarzen Substanz versiegelt, wahrscheinlich Gummi oder Wachs. »Packen Sie alles morgen früh in die Dakota, hören Sie?« Louren war immer noch am Funkgerät. »Er soll sich doch beeilen!« Sally regte sich ungeduldig. »Ich sterbe vor Neugier.« Plötzlich hatte ich Angst. Ich wollte es nicht wissen – vielleicht war afrikanische Hirse oder irgendein anderes einheimisches Getreide in dem Krug. Plötzlich zweifelte ich an meiner Vorahnung einer bedeutenden Entdeckung, und ich hockte unglücklich auf meinem Stuhl, meine verdreckten Hände aneinanderreibend und auf den Krug starrend. Vielleicht hatte Louren recht, vielleicht würden wir seinen Ruf wiederholen: »Ist das alles?« Louren beendete das Funkgespräch und kam in den Lagerschuppen. Er stand in der Tür, die Daumen in seinen Gürtel gesteckt, und grinste mich an. »Okay, Ben. Was hast du uns zu bieten?« fragte er und schlenderte in den Raum. Er schaute mir über die Schulter. Automatisch drängten sich die anderen im Kreis näher, und ich legte die Spitze des Operationsskalpells an die Fuge unter dem
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Deckel. »Bienenwachs, glaube ich.« Behutsam kratzte ich ihn ab, legte dann das Skalpell beiseite und drehte vorsichtig am Deckel. Er löste sich überraschend leicht. Alle reckten die Hälse, aber der erste Anblick des Inhalts war enttäuschend. Eine amorphe Substanz, von der Zeit schmutzig gelbbraun verfärbt. »Was ist es?« verlangte Louren von seinen Experten, aber niemand konnte antworten. Ich wußte nicht, ob ich enttäuscht oder erleichtert sein sollte. Jedenfalls war es kein Getreide. »Es riecht«, sagte Sally. »Den Geruch kenne ich«, sagte ich. »Ja«, pflichtete Leslie bei. Wir versuchten ihn zu identifizieren. Dann fiel es mir plötzlich ein. »Es riecht nach Gerbsäure.« »Leder?« fragte Louren. »Wir werden sehen«, sagte ich und kippte den Krug vorsichtig nach vorn. Sorgfältig lockerte ich den Inhalt. Der Krug enthielt einen zylindrischen Gegenstand von harter, brüchiger Textur. Er schien an der Innenseite festzukleben, aber ich zog behutsam und bekam ihn mit einem schwachen Reißgeräusch frei. Ich zupfte ihn Zentimeter um Zentimeter aus dem Krug, und legte ihn auf den Tisch – und wußte in diesem Augenblick, daß all meine Träume erfüllt waren. Ich wußte, was es war. Ein Schatz reicher als das Gold und die Diamanten, die Louren erhofft hatte. Ich blickte schnell zu Sally auf, ob sie es erraten hatte. Ihr Ausdruck war lebhaft, aber verwirrt. Dann trafen sich unsere Augen, und sie begriff meinen Jubel. »Ben!« Sie erriet es. »Oh, Ben, es kann nicht wahr sein! Öffne es, Mensch! Um Gottes willen, öffne es!«
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Ich nahm eine Pinzette, aber meine Hände zitterten zu stark. Ich ballte sie zu Fäusten und atmete zweimal tief ein, um meinen rasenden Puls und das Klopfen in meinen Ohren zu beruhigen. Sie warteten bis ich meine Hände wieder unter Kontrolle hatte. Vorsichtig schälte ich die brüchige gelbe Tuchhülle von dem Zylinder. »Ben!« flüsterte sie. »Ich freue mich so für dich.« Und sie weinte vor Freude. Es handelte sich um eine enggewickelte Lederrolle. Die Ränder waren ausgefranst und zerfressen, der Rest aber war erstaunlich gut erhalten. Schriftzeichen liefen wie kleine schwarze Insektenreihen über die Rolle. Ich erkannte die Symbole sofort: Buchstaben des punischen Alphabets. Die ersten dreißig Zeilen erschienen in flüssiger punischer Schrift auf der alten Lederrolle. Ich beherrschte die Sprache nicht, deshalb schaute ich wieder Sally an. Das war ihr Spezialgebiet, sie hatte mit Hamilton in Oxford gearbeitet. »Sal, kannst du es lesen? Was ist es?« »Es ist Karthagisch«, sagte sie absolut überzeugt. »Punisch!« »Bist du sicher?« fragte ich. Als Antwort las sie laut mit immer noch tränenerstickter Stimme vor: »Nach Opet an diesem Tag eine Karawane von …« Sie zögerte. »Diese Stelle ist unverständlich, aber es geht weiter, ›Einhundertsiebenundzwanzig Finger Feingold, der zehnte Teil davon für‹ –« »Was zum Teufel geht hier vor?« verlangte Louren. »Was bedeutet das alles?« Ich wandte mich zu ihm. »Es bedeutet, daß wir die Archive unserer Stadt gefunden haben – völlig intakt und entzifferbar. Wir haben die gesamte Historie unserer Stadt, unserer toten Zivilisation, geschrieben von den Menschen selbst in ihrer eigenen Sprache. Ihre eigenen Worte.«
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Louren starrte mich an. Offensichtlich hatte er die Bedeutung unserer Entdeckung noch nicht begriffen. »Darum, Lo, betet jeder Archäologe. Das sind unwiderlegliche Beweise, detailliert und umfassend wie keine anderen.« Er schien immer noch nicht zu verstehen. »Mit einer einzigen Schriftzeile können wir die Existenz eines Volkes nachweisen, welches das alte Punisch Karthagos sprach und schrieb, das in Gold handelte, das seine Stadt Opet nannte, das –« »Und das geht aus einer einzigen Zeile hervor«, unterbrach Sally. »Wir haben tausende von Krügen und in jeder eine Schriftrolle. Wir werden die Namen und Taten ihrer Könige erfahren, ihre Religion, ihre Zeremonien –« »Ihre Schlachten und Kämpfe, wann und woher sie kamen.« »Mein Gott!« Louren begriff endlich. »Danach haben wir doch gesucht, Ben. Jetzt haben wir den ganzen herrlichen Kram zusammengerollt in einem Haufen.« »Alles!« stimmte ich zu. »Wirklich alles!« Eine Stunde nach meinem Triumph, als mir auf dem Zenit meiner Karriere eitel Ruhm und brillanter Erfolg winkten, brachte Dr. Sally Senator alles ins Wanken. Wir saßen wieder gemeinsam um die Schriftrolle, eifrig diskutierend. Sally hatte die Schriftzeichen auf der Rolle übersetzt. Es waren Eintragungen in den städtischen Handelsbüchern, Waren- und Güterkataloge, die faszinierende Hinweise auf andere Orte und Völker gaben. »Zwanzig große Amphoren Rotwein aus Zeng, erworben von Habbakuk Lal, ein Zehntel für den Grau-Löwen.« »Grau ist ein Superlativ«, erklärte Sally. »Ein Grau-Löwe ist ein großer Löwe. Wahrscheinlich der Titel des Königs oder Gouverneurs der Stadt.« »Aus den Gras-Seen des Südens einhundertzweiundneunzig große Elfenbeinstoßzähne insgesamt zweihunderteinundzwan-
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zig Talente schwer wovon ein Zehntel für den Grau-Löwen und der Rest auf der Bireme von Al-Muab Adbm.« »Wieviel ist ein Talent?« fragte Louren. »Ungefähr 56 Pfund Gewicht.« »Mein Gott, mehr als 10 000 Pfund Elfenbein in einer Ladung.« Louren pfiff durch die Zähne. »Es müssen großartige kleine Jäger gewesen sein.« Wir hatten jedes Detail der sichtbaren Schriftzeichen diskutiert, und wieder brach Lourens Ungeduld durch. »Rollen wir sie noch weiter auf«, schlug er vor. »Das muß ein Experte tun, Lo.« Ich schüttelte bedauernd den Kopf. »Dieses Leder war fast zweitausend Jahre eingerollt. Es ist so trocken und brüchig, daß es zerfällt, wenn man es nicht richtig behandelt.« »Ja«, pflichtete Sally mir bei. »Ich brauche mehrere Wochen für jede einzelne Rolle.« Ihre Schätzung bestürzte mich. Ihr praktisches Wissen von Paläographie und alten Schriften stammte lediglich aus drei Jahren Tätigkeit als dritte Assistentin von Hamilton. Ich bezweifelte, daß sie viel Erfahrung in der Präservierung und Aufbereitung von Leder- oder Papyrusrollen hatte. Sie las Punisch mit dem gleichen Verständnis, wie ein zehnjähriges Kind Shakespeare liest, und doch betrachtete sie es als selbstverständlich, daß sie die alleinige Kontrolle über den reichsten je entdeckten Schatz alter Schriften erhielt. Sie mußte meinen Gesichtsausdruck verstanden haben, denn sie wurde gleich nervös. »Ich bekomme doch die Aufgabe, nicht wahr, Ben?« Ich versuchte es ihr schonend beizubringen. Ich verletze niemanden gern, und schon gar nicht das Mädchen, das ich liebe. »Es ist ein enormes und schwieriges Unterfangen, Sal. Wir
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sollten jemanden wie Hamilton selbst bitten, oder Levy in Tel Aviv oder sogar Rogers in Chikago.« Ihr Gesicht verzog sich, die Lippen begannen zu zittern. Tränen stiegen ihr in die Augen. Ich fuhr schnell fort. »Aber wir können es bestimmt einrichten, daß du erste Assistentin wirst.« Fünf Sekunden herrschte tödliches Schweigen, und in diesen fünf Sekunden wandelte sich Sallys Verzweiflung in tödlichen Zorn. »Benjamin Kazin«, fing sie mit trügerisch sanfter Stimme an. »Du bist der schlimmste Schuft, den ich je das Unglück hatte kennenzulernen. Drei lange schwierige Jahre habe ich treu und unermüdlich für dich gearbeitet –« Dann verlor sie die Selbstbeherrschung; es war ein hinreißendes Schauspiel. Obwohl ihre Worte blutende Wunden in meine Seele schlugen, konnte ich nicht umhin, ihre blitzenden Augen, die hochroten Wangen und ihre hervorragend formulierten Beleidigungen zu bewundern. »Du bist ein kleiner Mann, körperlich und geistig.« Sie benutzte das Adjektiv ganz bewußt, und ich stöhnte auf. Niemand darf mich so beschimpfen. Dieses Wort schneidet in meine Seele, und sie wußte es. »Ich hasse dich. Ich hasse dich, du kleiner Mensch.« Das Blut strömte mir ins Gesicht, und ich versuchte stotternd, Worte der Verteidigung zu finden. Aber bevor ich dazu kam, hatte Sally sich auf Louren gestürzt. Rasend vor Zorn schrie sie ihn im gleichen Ton an. »Zwingen Sie ihn. Sagen Sie ihm, er muß es mir überlassen!« Trotz meiner eigenen Qual fürchtete ich um Sally. Sie redete jetzt nicht mit einem krüppeligen, weichherzigen kleinen Doktor der Archäologie. Ich konnte nicht fassen, daß sie so töricht die freundliche Haltung ausnutzte, die Louren ihr gegenüber bewiesen hatte.
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Ich konnte nicht fassen, daß sie bei ihm diesen Ton anzuschlagen wagte, als ob sie einen besonderen Anspruch auf seine Rücksichtnahme hätte, als ob zwischen ihnen eine emotionelle Bindung bestünde, die sie zu solchen anmaßenden Worten berechtigte. Selbst ich, der dieses Recht besaß, würde es nie derart mißbrauchen – niemand würde es tun. Lourens Augen blitzten kaltblau gleich funkelnden Speerspitzen. Seine Lippen zogen sich grimmig zusammen, und seine Nasenflügel bebten. »Weib!« Seine Stimme knarrte wie brechendes Eis. »Halt den Mund!« Ich sank noch tiefer in Verzweiflung, als Louren genau so reagierte, wie ich es befürchtet hatte. Die zwei Menschen, die ich liebte, prallten aufeinander, und ich kannte beide gut genug, um zu wissen, daß sie in ihrem Stolz und Eigensinn nicht nachgeben würden. Eine unausweichliche Katastrophe drohte. Aber Sallys Attacke brach ab. Ihr Ärger und Kampfgeist erloschen. Sie schien sich unter Lourens peitschender Stimme zu winden. »Gehen Sie in ihr Zimmer, und bleiben Sie dort, bis Sie gelernt haben, sich zu benehmen.« Sally stand auf und verließ mit niedergeschlagenen Augen den Raum. Ich konnte nicht fassen, was geschehen war. Wie ein gezüchtigtes Kind starrte ich auf die Tür, durch die sie gegangen war, meine freche, rebellische Sally. Ral und Leslie wußten vor Verlegenheit nicht wohin. »Schlafenszeit, glaube ich«, murmelte Ral. »Entschuldigen Sie uns bitte. Komm, Les. Gute Nacht.« Und sie ließen Louren und mich allein. Louren brach das lange Schweigen. Er stand auf und redete ungezwungen. Er legte die Hand in einer zärtlichen Geste auf meine Schulter.
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»Es tut mir leid, Ben. Gräm dich nicht. Bis morgen früh.« Und er schlenderte nach draußen in die Nacht. Ich saß allein mit meiner Lederrolle, die mir plötzlich nichts mehr bedeutete, und meinem gebrochenen Herzen. Ich brauchte lange Zeit, um mich so zu betrinken, daß der Schmerz nachließ, und als ich die Stufen hinuntertorkelte ins silberhelle Mondlicht, hatte ich den Entschluß gefaßt, mich bei Sally zu entschuldigen und ihr den Job zu übertragen. Nichts war so wichtig wie ihre Zuneigung. Ich ging zu der Hütte, in der Sally jetzt allein schlief. Leslie war in das Zimmer von Peter und Heather gezogen. Ich kratzte leise an der Tür, aber es kam keine Antwort. Ich klopfte lauter und rief ihren Namen. »Sally! Bitte, ich muß dich sprechen.« Schließlich öffnete ich die Tür und wäre beinahe in den dunklen Raum gegangen, aber der Mut verließ mich. Ich schloß vorsichtig die Tür und torkelte zu meiner eigenen Hütte. Mit dem Gesicht nach unten fiel ich aufs Bett; schmutzig und voll angezogen fand ich Vergessen im Schlaf. »Ben! Ben! Wach auf.« Sallys Stimme. Sie schüttelte mich sanft. Ich drehte mich um und öffnete meine brennenden Augen. Es war heller Morgen. Sally saß über mich gebeugt auf meiner Bettkante. Sie war angezogen, obwohl ihre Haut noch vom Bad glühte. Ihr Haar war frisch gekämmt und von einem scharlachroten Band zusammengehalten. Aber sie hatte Säcke unter den Augen, als ob sie schlecht geschlafen oder geweint hätte. »Ich möchte mich wegen gestern abend entschuldigen, Ben. Wegen meiner dummen, häßlichen Worte und meines widerlichen Benehmens –« Während sie redete, wurde meine zertrümmerte Welt wieder heil, und der Schmerz in meinem Kopf und Herzen ließ nach. »Auch wenn du dich vielleicht anders entschlossen hast, ich verdiene es sowieso nicht, würde ich es als Ehre betrachten,
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unter Hamilton oder wem immer zu arbeiten.« »Du hast den Job.« Ich grinste sie an. »Das verspreche ich dir.«
Als erstes mußten wir im Archiv die dicke graue Staubschicht entfernen, die alles bedeckte. Mir war schleierhaft, wie der Staub in einen solch versiegelten und luftleeren Raum gelangen konnte, aber bald stellte ich fest, daß die Deckenfugen nicht so dicht waren wie die der Wände. Im Verlauf von Jahrhunderten war feiner Staub durch die Ritzen gesickert. Als die von Louren angeforderten Geräte und eine Abordnung seiner Sicherheitspolizei in der Dakota eintrafen, konnten wir mit der Arbeit beginnen. Die Polizisten errichteten eine Hütte am Eingang des Tunnels, der von nun an ständig bewacht wurde. Nur wir fünf durften passieren. Mit den Saugapparaten reinigten wir das Archiv vom Staub. Ral und ich arbeiteten uns durch den Gang vor. Wir mußten in den erstickenden grauen Staubschwaden Sauerstoffmasken tragen. Danach konnten wir unsere Entdeckung genauer einschätzen. In den Felsnischen zählten wir 1142 versiegelte Tonkrüge; 148 davon waren umgekippt und 127 zerbrochen oder geplatzt, wodurch Luft an die Schriftrollen gelangt war und sie beschädigt hatte. Wir bespritzten sie mit Paraffinwachs, um sie vor dem Zerbröckeln zu retten, bevor wir sie beschrifteten und verpackten. Dann untersuchten wir eingehend die Spuren der tödlichen Schlacht, die in den Archiven getobt und die Krugregale beschädigt hatte. Achtunddreißig Leichen lagen, offenbar von einem plötzli-
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chen und gewaltsamen Tod getroffen, zwischen den Regalen; sie waren erstaunlich gut erhalten. Einige waren sterbend in die Nischen gekrochen, um dort ihr Leben auszuhauchen. Die verzerrten Züge verrieten noch ihre Todesqualen. Andere waren schnell gestorben, und die meisten von ihnen wiesen schreckliche Verletzungen auf wie abgehackte Glieder oder bis auf die Schultern gespaltene Schädel oder in einigen Fällen glatt vom Rumpf getrennte Köpfe. Es waren Zeugnisse einer teuflischen Raserei, einer Entfesselung fast übermenschlicher Vernichtungskraft. Alle Opfer gehörten unverkennbar einem negroiden Typ an. Sie trugen Lendenschürze aus gegerbtem Leder mit Perlschnüren oder Knochenornamenten. An den Füßen hatten sie leichte Ledersandalen und auf den Köpfen Kappen oder Helme aus Leder, Federn oder geflochtenen Fasern, die ebenfalls mit Perlen, Muscheln oder Knochen verziert waren. Um sie verstreut lagen ihre Waffen, roh geschmiedete eiserne Speerspitzen an Schäften aus poliertem Hartholz; viele waren abgebrochen oder von den Hieben rasiermesserscharfer Waffen durchschnitten. Dazwischen lagen Hunderte von Schilfpfeilen, gefiedert mit den Federn von Wildenten und mit bösartigen Widerhaken aus handgeschmiedeten Eisen besetzt. Die Pfeile hatten die weichen Sandsteinwände geritzt; sie waren eindeutig von der Öffnung des Ganges herabgeschossen worden, bevor dieser verschlossen wurde. Keiner hatte sein Ziel in einem menschlichen Körper gefunden, und daraus schlössen wir, daß dem Angriff dieser tot im Gang hingestreckten Männer ein Sperrfeuer von Pfeilen vorausgegangen war. Fünf Meter von der verschlossenen Mündung des Ganges entfernt entdeckten wir Überreste eines großen Scheiterhaufens, der die Wände, Decke und Boden geschwärzt hatte. Ein Stapel verkohlter Holzscheite lag noch an der Stelle, wo sie erloschen waren, als die Tunnelöffnung verschlossen wurde. Dieses Feuer konnten wir uns nicht erklären, bis Louren den
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Verlauf der Schlacht rekonstruierte. Er schritt ruhelos in dem Gang auf und ab, seine Tritte hallten von den Steinplatten wider, und sein Schatten geisterte über die Wände. »Man hat sie hier hineingetrieben, unsere letzten Männer von Opet, eine kleine Schar der Stärksten und Tapfersten.« Seine Stimme verkündete hell die Wahrheit gleich der eines Troubadours, der die Legenden alter Helden besang. »Der Feind schickte seine besten Kämpfer vor, um sie abzuschlachten, aber die Männer von Opet mähten sie nieder, und die anderen flohen. Dann versammelten sie ihre Bogenschützen an der Gangöffnung und feuerten Pfeile hinein. Wieder stießen sie vor, aber die Männer von Opet erwarteten sie, und wieder starben sie zu Dutzenden.« Er drehte sich um und kam den Gang herunter zu mir unter die schwankende Elektrobirne. Wir schwiegen eine Zeitlang, in die Vorstellung versunken. »Mein Gott, Ben. Was für ein Kampf. Welchen Ruhm diese Männer an ihrem letzten Tag erwarben.« Obwohl ich ein friedliebender Mensch bin, riß er mich mit. Mein Herzschlag beschleunigte sich, und ich fragte wie ein Kind bei der Märchenstunde: »Und was ist dann geschehen?« »Sie starben, schon geschwächt von zahlreichen Wunden. Sie hatten keine Kraft mehr, und sie standen Schulter an Schulter, Gefährten im Leben und jetzt auch im Tode, müde auf ihre Waffen gestützt, aber die Feinde griffen nicht wieder an. Stattdessen entzündeten sie ein Feuer in der Gangöffnung, um sie auszuräuchern, und als das nicht wirkte, ließen sie ab und vermauerten die Öffnung. Sie schufen ein Grab für die Toten und die Lebenden.« Wir dachten alle schweigend über Lourens Geschichte nach. Sie stimmte vollkommen mit dem Beweismaterial überein, bis auf einen Punkt. Ich wollte ihn nicht erwähnen, um den Zauber
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nicht zu brechen, aber Sally kannte keine solche Hemmungen. »Wenn das zutrifft, was ist dann mit Ihrer Heldenschar geschehen – haben sie sich im Mondenschein aufgelöst und sind fortgeflitzt?« Ihr Ton klang leicht spöttisch, aber sie hatte natürlich recht. Ich wünschte das Gegenteil. Louren lachte ein wenig verlegen. »Lassen Sie sich etwas Besseres einfallen«, forderte er sie heraus. Wir fanden keine Spur der Helden dieses antiken Dramas, außer einem Gegenstand, der unter dem eingravierten Sonnenbild Baals auf dem Boden des Ganges lag. Von einer dicken grauen Staubschicht überzogen, bildete er unsere letzte Entdeckung in dem Archiv. Es war eine Streitaxt, eine außerordentlich schöne und vielseitige Waffe. Als ich sie vom Boden hob, wo sie fast zweitausend Jahre gelegen hatte, schloß sich meine Hand eng um den Griff; meine Finger paßten wie maßgeschneidert in die Kerben. Am unteren Ende des Stiels baumelte ein gerissenes ledernes Armband. Der Stiel war über einen Meter lang; er bestand aus stahlartig gehärtetem Rhinozeroshorn. Der Griff war aus Elfenbein, und das Ganze mit Goldsilberdraht umwickelt, um die ohnehin phantastische Schlagkraft der Waffe noch zu erhöhen und sie vor feindlichen Klingen zu schützen. Die Klinge war wie eine doppelte Mondsichel geformt, rasiermesserscharf und auf beiden Seiten zwanzig Zentimeter breit. Aus dem oberen Ende ragte ein dreißig Zentimeter langer Dorn. Man konnte die Waffe sowohl im Hieb wie im Zustoß anwenden. Das obere Stielende war exquisit ausgearbeitet und beide Seiten der Doppelklinge ziseliert mit Geiervögeln, die ihre Schwingen breiteten. Jede Feder der Schwingen war deutlich erkennbar, und dahinter stieg strahlenförmig gleich einer Blüte die Sonne auf. Die Gravuren waren in Silbergold eingelegt und die silbern glänzenden Axtblätter gehärtet. Getrocknete Blutflecken bedeckten die Waffe, die vermutlich diese furchtbaren Wunden 187
deckten die Waffe, die vermutlich diese furchtbaren Wunden in die auf dem Gang verstreuten Körper geschlagen hatte. Als ich sie in der Hand hielt, überkam mich ein plötzlicher Wahn. Ich merkte es erst, als die Axt in einem weiten glitzernden Kreis um meinen Kopf wirbelte. Ihr Gewicht war so perfekt ausbalanciert, daß ich keine Anstrengung spürte, während ich sie hochschwang und zum tödlichen Streich ansetzte. Die Luft pfiff zischend an der hellen Schneide entlang. Aus irgendwelchen atavistischen Tiefen meiner Seele, stieg ein Schrei auf, ein jubelnder Ruf, der wie eine natürliche Begleitung zu dem Todesgesang der Axt schien. Nur mit Mühe stoppte ich den Flug der Axt und unterdrückte den Schrei, bevor er mir über die Lippen kam. Ich blickte die anderen an. Sie starrten auf mich, als ob ich wahnsinnig geworden sei und mir der Mund schäumte. Schnell senkte ich die Axt. Ich fühlte mich wie ein Narr, entsetzt über meine Behandlung eines solch seltenen Schatzes. Der Horngriff hätte unter dem harten Druck leicht brechen können. »Ich habe sie nur ausprobiert«, sagte ich lahm. »Es tut mir leid.«
Bis tief in die Nacht hinein rätselten wir an dem faszinierenden Geheimnis der Archive. Wir fanden keine Antwort, und Louren ging hinterher mit mir zu meiner Hütte. »Die Lear holt mich morgen früh ab, Ben. Ich bin jetzt seit zwei Wochen hier und kann mir keinen weiteren Tag mehr leisten. Mein Gott, ich darf gar nicht daran denken, wie ich meine Aufgaben vernachlässigt habe, seit wir mit den Grabungen angefangen haben!« Wir blieben vor der Tür stehen, und Louren zündete eine Zigarre an.
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»Woran liegt es, daß wir uns hier alle so seltsam verhalten, Ben? Spürst du es auch? Dieses seltsame Gefühl des …«, er zögerte, »des Schicksalhaften.« Ich nickte, und Louren war ermutigt. »Die Axt. Sie hat dich verzaubert, Ben. Einige Minuten lang warst du nicht du selbst.« »Ich weiß.« »Ich will unbedingt den Inhalt der Schriftrollen kennen, Ben. Wir müssen sobald wie möglich damit anfangen.« »Hier gibt es Arbeit für zehn Jahre, Lo. Du mußt dich gedulden.« »Geduld gehört nicht zu meinen Tugenden, Ben. Ich habe gestern abend über die Entdeckung von Tutenchamons Grab gelesen. Lord Carnarvon hat die Entdeckung ermöglicht, und er starb, bevor er den Sarkophag des toten Pharao sah.« »Sei nicht morbid, Lo.« »All right«, stimmte Louren zu. »Aber verschwende keine Zeit, Ben.« »Hol mir Hamilton«, sagte ich. »Ohne ihn können wir nichts tun.« »Ich bin am Freitag in London«, sagte Louren. »Ich suche ihn selbst auf.« »Er ist ein schwieriger alter Kauz«, warnte ich ihn. Louren grinste. »Überlaß das mir. Jetzt hör zu, Benjamin, mein Junge. Falls du hier noch irgend etwas findest, benachrichtigst du mich sofort, verstanden? Ich will hier sein, wenn es geschieht.« »Wenn was geschieht?« »Ich weiß nicht – irgendwas. Es ist hier noch irgendwas, Ben. Ich weiß es.« »Ich hoffe, du hast recht, Lo.« Und er schlug mir auf die Schulter und schritt in die Nacht zu seiner eigenen Hütte.
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Während wir in den Archiven arbeiteten, die menschlichen Überreste und die Waffenstapel bargen, traf ein Bautrupp in der Dakota ein, um ein Magazin für die Schriftrollen zu errichten. Es handelte sich wieder um ein vorfabriziertes Lager mit luftdichten Türen und einer starken Klimaanlage, um die Rollen in der optimalen Temperatur und Luftfeuchtigkeit aufzubewahren. Um das Gebäude wurde aus Sicherheitsgründen ein hoher Stacheldrahtzaun gezogen, und wir trafen jede Maßnahme zum Schutz der Rollen. Der Bautrupp errichtete gleichzeitig ein halbes Dutzend neuer Wohnräume für das erweiterte Team, und zu den ersten Bewohnern zählten vier hohe Beamte der Regierung von Botswana. Die Regierung hatte verboten, die Rollen aus dem Gebiet zu schaffen, und dadurch den Bau der zusätzlichen Gebäude notwendig gemacht. Die Abordnung blieb zwei Tage und fuhr dann ab in dem Bewußtsein, daß ihre Interessen an der Entdekkung angemessen gewahrt waren. Vorher mußten sie jedoch einen feierlichen Schwur der Verschwiegenheit leisten. Die öffentliche Bekanntgabe durfte nur auf mein Signal erfolgen. Wir holten die Tonkrüge aus den Regalen und beschrifteten sie. Dabei achteten wir peinlich darauf, sowohl fotografisch wie schriftlich jeweils ihre genaue Position zu registrieren. Wahrscheinlich waren sie chronologisch angeordnet, und das würde uns später die Interpretation erleichtern. Am Montag erlitten meine Pläne einen bösen Rückschlag durch eine lakonische Nachricht von Louren. »Hamilton unabkömmlich. Schlag bitte Alternative vor.« Ich war enttäuscht, verletzt und zornig. Enttäuscht, weil Hamilton der beste Mann in der ganzen Welt war, und seine Anwesenheit meiner Ausgrabung sofort Gewicht und Authentizität verliehen hätte. Ich war verletzt, weil Hamilton offensichtlich meine Behauptungen für unwahrscheinlich hielt; die Attacken meiner Kritiker und wissenschaftlichen Gegner hatten
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meinem Ruf geschadet, Hamilton war klar davon beeinflußt. Er wollte keinen Teil haben an einer falschen oder glatt betrügerischen Entdeckung. Zornig war ich schließlich, weil Hamiltons Absage eine direkte Beleidigung darstellte. Er hatte mir das Zeichen des Parias aufgedruckt, was andere davon abhalten würde, mir die Hilfe zu gewähren, die ich so dringend brauchte. Ich könnte diskreditiert werden, bevor ich angefangen hatte. Wir saßen eine Zeitlang in Schweigen versunken. Dann lebte Sally auf. »Wir fahren hin und holen ihn!« schlug sie vor. »Vielleicht empfängt er uns nicht«, bemerkte ich düster. »Mich wird er empfangen«, versicherte Sally, und hinter den Worten steckte eine unbekannte Geschichte, die mir sengende Eifersucht durch die Adern jagte. Sally hatte drei Jahre für ihn gearbeitet, und ich konnte mich nur damit trösten, daß ihre Ansprüche über dem Niveau von Eldridge Hamilton lagen.
Zweiundsiebzig Stunden später saß ich vor einem Glas guten englischen Biers im vorderen Schankraum der »Glocke« in Hurley und wartete unruhig. Der silberne Jaguar glitt auf den Parkplatz, und ich sah Sally am Steuer. Mit dem Schal um ihr Haar und dem Lächeln auf ihren Lippen zeigte sie keinerlei Nachwirkungen des vierzehnstündigen Flugs auf dem schmalen Sitz einer interkontinentalen Düsenmaschine. Sie schlüpfte aus dem Wagen, wobei ich einen Blick auf ihre hinreißenden sonnengebräunten Schenkel erhaschte, und kam auf mich zu. Sie hatte Eldridge Hamilton untergehakt und lachte fröhlich. Hamilton war ein großer Mann mit hängenden Schultern, in den fünfziger Jahren. Um seine hagere Gestalt hing schlotternd
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so ein ausgebeulter Anzug aus Harris-Tweed mit Lederflicken an den Ellbogen. Er hatte eine krumme Nase, und seine Schädelplatte glänzte im blassen Sonnenlicht. Seine kleinen Augen sprühten hinter der starken Hornbrille, und seine gierig herabgezogenen Lippen entblößten eine Reihe schlechter Zähne, als er Sally anhimmelte. Ein teurer Preis für seine Dienste. Sally führte ihn an meinen Tisch, und erst aus zwei Meter Entfernung erkannte er mich. Er blieb unvermittelt stehen und blinzelte kurz. Sofort wußte er, daß Sally ihn hintergangen hatte, und einen Moment lang hing die Sache in der Schwebe. Er hätte sich leicht auf dem Absatz umdrehen und fortgehen können. »Eldridge!« Ich sprang auf die Füße, ihn überschwenglich begrüßend. »Wie großartig, Sie zu sehen.« Und während er noch zögerte, ergriff ich samtweich seinen Ellbogen. »Ich habe Ihnen einen doppelten Gin mit Soda bestellt – das ist doch Ihr Gift, nicht wahr?« Wir waren das letztemal vor fünf Jahren zusammengetroffen, und es versöhnte ihn einigermaßen, daß ich mich an seine persönlichen Vorlieben erinnerte. Er gestattete Sally und mir, ihn zu einem Stuhl zu leiten und den Gin griffbereit neben seine rechte Hand zu stellen. Während Sally und ich ihn gemeinsam mit unserem beträchtlichen Charme bombardierten, bewahrte er ein mißtrauisches Schweigen – bis der erste Gin wirkte. Ich bestellte noch einen, und er taute auf. Beim dritten wurde er ausgelassen und redselig. »Haben Sie Wilfred Snells Entgegnung auf ihr Ophir-Buch im ›Journal‹ gelesen?« fragte er. Wilfred Snell war der wortgewaltigste und erbarmungsloseste all meiner wissenschaftlichen Feinde. »Ganz lustig, wie?« Eldridge wieherte laut und umklammerte mit der Hand einen von Sallys wunderschönen Schenkeln. Ich bin ein friedliebender Mensch, aber in diesem Augen-
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blick hätte ich es beinahe vergessen. Sally wand sich unter seiner tastenden Hand, und ich schlug mit erstickter Stimme vor: »Gehen wir in den Speiseraum, ja?« Dort ergab sich ein Kampf um die Plätze, da Eldridge in Reichweite Sallys sitzen und ich das vermeiden wollte. Wir manövrierten ihn geschickt aus, indem wir ihm zunächst gestatteten, sich triumphierend mit seiner Speisekarte neben Sally niederzulassen, die in die Ecke gedrängt war. Dann rief ich: »Sally, du sitzt im Durchzug.« Und leicht wie Ballett-Tänzer wechselten wir unsere Plätze. Danach konnte ich mich entspannen und dem Fasan die Aufmerksamkeit widmen, die er verdiente, obwohl der Burgunder, den Eldridge empfohlen hatte, überhaupt nicht dazu paßte. Mit charakteristischem Taktgefühl brachte Eldridge die Sprache aufs eigentliche Thema. »Habe da kürzlich Ihren Freund getroffen, ein auffallender Bursche, wie eine Kreuzung zwischen männlichem Modell und Berufsringer. Akzent wie ein verschnupfter Australier. Hat irgendwelchen Unsinn geredet über Schriftrollen, die Sie in einer Höhle vor Kapstadt gefunden haben.« Und Eldridge ertränkte jegliche Unterhaltung in einem wiehernden Lachen. »Hatte die verdammte Frechheit, mir Geld anzubieten. Ich kenne den Typ; nichts dahinter und angeberisch. Ein Gauner, wie er im Buch steht.« Sally und ich starrten ihn offenen Mundes an, verblüfft über seine scharfsinnige Einschätzung der Tatsachen und Louren Sturvesants Charakter. »Habe ihn natürlich rausgeschmissen«, sagte Eldridge selbstzufrieden, während er sich mit Fasanenbrust vollstopfte. »Sie haben wahrscheinlich richtig gehandelt«, murmelte ich. »Nebenbei, die Ausgrabungen finden im nördlichen Botswana statt – 1500 Meilen von Kapstadt entfernt.«
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»Tatsächlich?« fragte Eldridge. »Und Louren Sturvesant stand im ›Time‹-Magazin auf der Liste der dreißig reichsten Männer der Welt«, murmelte Sally. »Ja«, bestätigte ich. »Er finanziert meine Ausgrabung. Bisher hat er 200 000 Dollar investiert, und er hat kein Limit gesetzt.« Eldridge sah mich bestürzt an. Solche Mäzene wissenschaftlicher Forschungen waren so selten wie Einhörner. Er begriff plötzlich, daß er eine einmalige Möglichkeit verpaßt hatte. Die Aufgeblasenheit von Professor Hamilton war verpufft. Ich winkte der Kellnerin, damit sie das Geschirr abräumte, und ich schwöre, daß ich echtes Mitleid für Eldridge empfand, als ich meine Aktentasche öffnete und ein in Leinwand gehülltes zylindrisches Bündel hervorholte. »Ich habe morgen eine Verabredung mit Ruben Levy in Tel Aviv, Eldridge.« Ich löste die Leinwandhülle. »Wir haben 1142 dieser ledernen Schriftrollen. Ruby wird also in den nächsten Jahren eine Menge zu tun haben. Natürlich stiftet Louren Sturvesant 100 000 Dollar für die Archäologische Fakultät der Universität von Tel Aviv als Anerkennung für ihre Kooperation. Es würde mich zudem nicht wundern, wenn die Fakultät einige der Schriftrollen als Geschenk erhielte.« Eldridge schluckte an dem Fasanenfleisch, als sei es zersplittertes Glas. Er wischte sich mit der Serviette Finger und Mund, bevor er sich über die Schriftrolle beugte. »Aus den südlichen Grasebenen«, las er flüsternd, und ich bemerkte den Unterschied zu Sallys Übersetzung, »empfangen 192 große Elfenbeinzähne, 221 Talente schwer –« Seine Stimme erstarb, aber seine Lippen bewegten sich beim Lesen weiter. Dann redete er wieder, und seine Stimme zitterte vor Erregung. »Punisch im Stil des zweiten Jahrhunderts v. Chr. Sehen Sie
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die Ligaturen in der Mitte des ›m‹, die an die senkrechten Striche anschließen? Das ist definitiv vor dem ersten Jahrhundert v. Chr. Hier, Sally, sehen Sie den archaischen Querstrich im ›A‹?« »Wir haben mehr als tausend dieser Schriftrollen, chronologisch geordnet – Levy ist sehr gespannt«, unterbrach ich seine technischen Erklärungen mit einer weißen Lüge. Levy wußte nicht einmal, daß sie existierten. »Levy«, schnaubte Eldridge, und seine Brille funkelte vor Zorn. »Levy! Außer Hebräisch und Ägyptisch hat er keine blasse Ahnung!« Er umklammerte mein Handgelenk. »Ben. Ich bestehe darauf, ich muß diese Arbeiten leiten.« »Und was ist mit Wilfred Snells Kritik meiner Theorien? Sie schienen das amüsant zu finden.« Ich hatte ihn jetzt bei den Hammelbeinen und konnte mir ein wenig Stichelei erlauben. »Wie können Sie mit jemandem zusammenarbeiten, dessen Meinungen so suspekt sind?« »Wilfred Snell«, sagte Eldridge ernst, »ist ein monumentaler Esel. Wo hat er je tausend punische Schriftrollen gefunden?« »Kellner!« rief ich. »Bringen Sie uns bitte zwei doppelte Cordon-Argent-Kognaks.« »Bringen Sie drei«, sagte Sally. Eldridge folgte eine Woche nach unserer Rückkehr in die Mondstadt, und wir holten ihn von der Landebahn ab. Ich machte mir Sorgen, daß der Übergang aus dem nördlichen Winter in 40 Grad Hitze vielleicht seine Fähigkeiten beeinträchtigte. Dazu bestand kein Grund. Er gehörte zu den Engländern, die mit dem Tropenhelm im Genick in der Mittagssonne umherlaufen konnten, ohne zu schwitzen. An Gepäck hatte er einen kleinen Handkoffer mitgebracht, der seine persönlichen Sachen enthielt, und sechs große Kisten voll Chemikalien und Geräten. Ich führte ihn durch die gesamte Baustelle, wobei ich ver-
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geblich sein Interesse an der Stadt und der Höhle zu wecken versuchte. Eldridge war einseitiger Spezialist. »Ja«, sagte er. »Ganz interessant – wo sind die Schriftrollen?« Ich glaube, er hatte immer noch Zweifel, aber ich nahm ihn ins Archiv. Er schnurrte wie ein alter Kater, als er die beladenen Steinregale entlangschritt. »Ben«, sagte er, »eines müssen wir noch regeln. Ich schreibe den Fachbericht über die Schriftrollen, einverstanden?« Wir sind ein seltsames Völkchen, wir arbeiten nicht für Gold, sondern für Ruhm. Eldridge wollte sich seinen Anteil sichern. »Ja«, sagte ich. »Dem steht nichts im Wege.«
Die Aufbereitung der Rollen war eher eine Kunst als eine wissenschaftliche Methode. Jede mußte auf andere Art behandelt werden, was abhing von ihrem Erhaltungszustand, der Qualität des Leders, der Tintenmischung und anderen verwandten Faktoren. Sally gestand mir in einem schwachen Augenblick, daß sie die Aufgabe nicht hätte bewältigen können; sie erforderte eine lange Erfahrung, über die sie nicht verfügte. Eldridge arbeitete wie ein mittelalterlicher Alchemist, in feuchten Dämpfen sprühend und malend. Sein Reich stank vor Chemikalien und anderen unheimlichen Gerüchen; seine und Sallys Finger waren farbgefleckt. Sally berichtete, er sei so in seine Aufgabe versunken, daß seine animalischen Instinkte bis auf gelegentliche und halbherzige Griffe nach den gerundeten Teilen ihrer Anatomie ausgeschaltet seien. Während sie die Rollen eine nach der anderen entfalteten, prüften sie jeweils gleich ihren Inhalt und begannen mit der gründlichen Übersetzung. Es waren ausschließlich Handelsver-
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zeichnisse der Stadt oder Proklamationen des Grau-Löwen und des Rates der neun Familien. Die Autoren waren namenlose Beamte, ihr Stil knapp und sparsam ohne poetische Anflüge oder unnötige deskriptive Passagen. Diese rein praktische Einstellung entsprach ihrem Lebensstil, wie wir ihn bisher auf Grund unserer Funde rekonstruiert hatten. Wir diskutierten darüber bei unseren abendlichen Gesprächssitzungen. »Es ist typisch Punisch«, stimmte Eldridge zu. »Sie hatten wenig übrig für die Bildenden Künste, ihre Tongefäße waren grob und Massenproduktion. Nach meiner Meinung sind ihre Skulpturen, die wenigen überhaupt vorhandenen, absolut schrecklich.« »Um Kunst hervorzubringen, braucht man Reichtum und Muße und Sicherheit«, gab ich zu bedenken. »Das stimmt – Rom und Griechenland sind Beispiele dafür. Karthago und früher noch Phönizien waren oft bedroht, sie mußten zuweilen um ihr Überleben kämpfen – sie waren fleißige Arbeitstiere. Händler und Krieger, denen es mehr um die Ansammlung von Reichtümern und den Erwerb von Macht ging als um die Annehmlichkeiten des Lebens.« »So weit braucht man gar nicht zurückzublicken; die moderne Kunst stammt aus den großen reichen und gesicherten Nationen.« »Und wir weißen Afrikaner sind wie die alten Karthager«, sagte Sally. »Wenn wir da in den Hügeln Gold wittern, pfeifen wir doch auf Wandmalereien.« Die Schriftrollen bestätigten unsere Theorie. Gold aus Zimbao und Punt, Elfenbein aus den südlichen Grasebenen oder den Wäldern am großen Fluß, Tierfelle und Trockenfleisch, gesalzener Fisch aus den Seen, Wein und Öl aus den Terrassengärten von Zeng, Kupfer aus den Hügeln von Tuya und Salz aus dem Gebiet an den Westufern der Seen, Zinn von der Mündung der beiden Flüsse, Getreide aus dem Mittleren Kö-
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nigreich in geflochtenen Körben, Sonnensteine aus dem südlichen Krokodil-Fluß, Eisenbarren aus den Minen von Sala – und Sklaven, tausende und tausende menschlicher Wesen, die wie gezähmte Tiere behandelt wurden. Die Chronik begann an einem bestimmten, aber nicht verzeichneten Zeitpunkt. Wir vermuteten, es handele sich um das Gründungsjahr der Stadt. Vor jeder Eintragung stand eine Datierung wie »Im Jahre 169, dem Monat des Elefanten«. Daraus schlossen wir, daß sie nach einem zehnmonatigen Jahr und 365 Kalendertagen rechneten. Nachdem wir die Natur der Schriftrollen analysiert hatten, schlug ich Eldridge vor, eine Auswahl zu treffen und die Geschichte unserer Stadt in großen Zügen zu verfassen, statt systematisch die gesamte Kollektion von Anfang bis zum Ende durchzuarbeiten. Er ging auf meinen Wunsch ein, und wir rekonstruierten die Szene: eine weitverzweigte Kolonisierung im mittleren und südlichen Afrika durch ein kriegerisches und tatkräftiges Volk, mit der Stadt Opet als Mittelpunkt und beherrscht von einem Erbkönig, dem »Grau-Löwen«, und einer Oligarchie neun adeliger Familien. Die Edikte dieses Rates reichten von Anweisungen für das Ausbaggern der Seekanäle und Maßnahmen gegen das wuchernde Schilf bis zu der Auswahl von Boten an die Gottheiten Baal und Astarte. Astarte schien die karthagische Tenith abgelöst zu haben. Die »Boten«, so vermuteten wir, waren Menschenopfer. Wir entdeckten sorgfältig aufgezeichnete Stammbäume, wie im jüdischen System nach der mütterlichen Linie angelegt. Jeder Adelige, Mann oder Frau, konnte seine Abstammung bis zur Gründung der Stadt zurückverfolgen. Die Chronik bewies außerdem, daß ihre Religion Teil ihres täglichen Lebens bildete. Wir folgerten daraus mit einiger Gewißheit, daß es sich um eine konventionelle Form des Polytheismus handelte; der wich-
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tigste Gott war Baal, die wichtigste Göttin Astarte. Im Verlauf der Zeit kamen andere Faktoren ins Spiel, neue Mißstände nahmen die Aufmerksamkeit des herrschenden Königs in Anspruch. Das rapide Absinken des Opet-Sees bedrohte die Lebensadern der Stadt, und im Jahre 296 schickte der GrauLöwe 7000 Sklaven aus, um die Kanäle zum See zu vertiefen. Außerdem sandte er 1000 Männer seiner Leibgarde nach Osten, mit dem Auftrag, »in Richtung der aufsteigenden Sonne vorzudringen, ohne Aufenthalt und mit fester Entschlossenheit«. Der Kriegshauptmann Ramose führte die Truppe, er sollte das östliche Meer erreichen und den Weg zu den Ländern des Nordens finden, von denen der Seekapitän und Navigator Habbakuk Lal erzählt hatte. Ein Jahr später kehrte Ramose zurück, mit nur siebzig Mann. Die anderen waren in den fieberverseuchten Sümpfen des fernen Landes umgekommen. Er hatte jedoch das östliche Meer erreicht und dort eine Stadt gefunden, bevölkert von Händlern und Seefahrern, »dunkelhäutigen Männern mit Bärten, gekleidet in feine Leinengewänder und Binden aus dem gleichen Stoff um die Stirn«. Sie stammten aus einem Land jenseits der östlichen See. Ramose wird mit zwanzig Goldfingern und zwanzig Sklaven belohnt. Unsere Leute von Opet hatten zum ersten Male die Araber getroffen, die sie als »die Draven« bezeichneten; sie kolonisierten die Sofala-Küste. Wir lasen, wie der Grau-Löwe verzweifelt nach Sklaven suchte. Die Minen-Aufseher erhalten Befehl, alles zu unternehmen, um die Lebensdauer ihrer arbeitsfähigen Sklaven zu verlängern. Die Fleisch- und Getreiderationen werden erhöht, was die Produktionskosten steigert, aber der Lebenserwartung der Sklaven zugute kommt. Die Besitzer werden aufgefordert, regelmäßig ihre Sklavinnen zu schwängern, und das Verbot des Geschlechtsverkehrs mit ihnen wird abgeschafft. Die Sklavenkarawanen dringen immer weiter vor auf der Jagd nach den
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Yuyes. Aus der Beschreibung dieser gelbhäutigen Yuyes schlossen wir, daß sie die Vorfahren der Hottentotten waren. Dann freut sich der Grau-Löwe plötzlich über die Rückkehr einer nördlichen Expedition mit 500 »wilden Nubiern, groß und stark«, und der Expeditionsführer wird mit zehn Goldfingern belohnt. Die Freude läßt in den nächsten hundert Jahren langsam nach, da sich eine Masse schwarzer Stämme nördlich des großen Flusses ansammelt. Die riesigen BantuWanderungen haben begonnen, und der Grau-Löwe versucht, ihre Flut nach Süden zu dämmen. Seine Legionen halten ständige Wacht an der nördlichen Grenze. Die ausgewählten Schriftrollen vermittelten uns solche flüchtigen Einblicke in die Vergangenheit, aber es waren nur nüchterne, un-persönliche Angaben von Fakten. Wir sehnten uns nach den Schriften eines Plinius oder Livius, die diese exakten Kataloge der Vermögensbildung mit Blut und Leben erfüllen würden. Jedes Faktum schien uns vor hundert unbeantwortete Fragen zu stellen. Die dringendste lautete: wo waren sie hergekommen, diese Männer von Opet, und wann? Wohin zogen sie weiter, und warum? Wir hofften, die Antworten auf diese entscheidenden Fragen in dem Labyrinth der Schriftrollen zu finden. Mittlerweile konzentrierten wir uns auf die kleineren Probleme. Es fiel uns nicht schwer, die in der Chronik erwähnten Orte zu lokalisieren: Zimbao und Punt waren die südlichen und nördlichen Gebiete des heutigen Rhodesien, der große Fluß war der Sambesi, die Seen waren verschwunden, die Gärten von Zeng lagen ohne Zweifel an den hunderttausende Morgen weiten Berghängen im Inyanga-Gebiet Ostrhodesiens, die Hügel von Tuya mußten die kupferreiche Gegend oberhalb Sinoias sein. Schritt für Schritt verfolgten wir die Spuren unserer Männer von Opet an all den alten Orten, und gleichzeitig erhielten wir einen Begriff davon, welch gewaltige Schätze sie
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angehäuft hatten. Denn obwohl der größte Teil dieser Reichtümer »nach auswärts« verschickt worden war, tauchten immer wieder die Worte auf: »Ein Zehntel für den Grau-Löwen.« Wo hatten sie ihre Schätze aufbewahrt, und was war aus ihnen geworden? Waren sie mit der Stadt untergegangen, oder lagerten sie immer noch in einem verborgenen Raum an den roten Felshängen der Bluthügel? Als mathematische Übung schätzte ich den Wert dieses Schatzes ein. Davon ausgehend, daß ein »Finger« Gold den fingerartigen Stäben des Edelmetalls entsprach, die wir in den Fundamenten der Stadt entdeckt hatten, rechnete ich auf der Grundlage von mehr als zwanzig Jahresverzeichnissen zwischen 354 und 501 die gesamte Goldförderung aus. Unsere früheren Schätzungen lagen völlig falsch. Statt 750 Tonnen Gold mußten die alten Minen mindestens 4000 Tonnen ergeben haben – davon ein Zehntel für den Grau-Löwen. Angenommen, daß die Hälfte dieser 400 Tonnen, auf den Unterhalt der Armee, auf den Bau des Tempels und andere öffentliche Vorhaben verwandt wurde, so blieb immer noch die phantastische Summe von 200 Tonnen Gold übrig, die vielleicht in der Stadt oder ihrer Umgebung versteckt waren. Diese 200 Tonnen bedeuteten ein Vermögen von fast achtzig Millionen Pfund Sterling. Als ich Louren bei seinem nächsten Besuch meine Kalkulation zeigte, sah ich die Geldgier in seine Augen steigen. Er nahm die Seiten mit meinen Berechnungen an sich, und am nächsten Morgen, kurz bevor er in den Lear-Jet nach Johannesburg stieg, bemerkte er nebenhin: »Weißt du, Ben, Ral und du solltet euch mehr auf die Erforschung des Gebiets an den Klippen konzentrieren, statt auf die Archive.« »Wonach sollen wir suchen, Lo?« Als ob ich es nicht wüßte. »Diese alten Jungens waren Meister im Verstecken. Sie müssen das verschwiegenste Volk der Geschichte gewesen
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sein, und wir haben ihre Grabstätten noch nicht gefunden.« »Ich soll also auf Grabsuche gehen?« Ich grinste ihn an, und er lachte. »Natürlich, Ben. Wenn du zufällig über ihre Schatzkammer stolperst, werde ich dich nicht ausschimpfen. Achtzig große Mille sind schließlich nicht zu verachten.« Wir hatten 261 Tonkrüge aus dem Archiv ins Lager geschafft: Eldridge und Sally waren für die nächsten zwei oder drei Monate mit Arbeit eingedeckt. Deshalb beschloß ich, Lourens Vorschlag zu folgen und die Arbeit in den Archiven zu unterbrechen, um noch einmal gründlich das Gebiet zu erforschen. Genau zum falschen Zeitpunkt: Ral war nur noch fünf Fuß von der Stelle entfernt, wo die kleinen Krüge mit den Sonnenvogel-Siegeln an ihren Deckeln in der hintersten Nische standen. Ral arbeitete sich systematisch zu ihnen vor; noch drei Tage, und er hätte sie entdeckt, aber ich holte ihn fort, um die Klippen abzusuchen. Wir gingen noch einmal ganz gründlich das bereits untersuchte Gebiet durch. Noch einmal fotografierten wir jeden Zentimeter der Höhlenwände, aber diesmal mit Infrarotfilm. Doch wir fanden keine verborgenen Passagen mehr. Der November verging, und Mitte Dezember hatten wir einen halben Zentimeter Niederschlag, ungefähr alles, was in dieser Gegend Afrikas pro Jahr fällt. Er setzte eine Stunde lang oder so den Staub, und das war das Ende der Regensaison. Ich vermutete, daß der alte See von Opet größere und regelmäßigere Regenfälle in dem Gebiet garantiert hatte. Offenes Wasser zieht Regen an, sowohl durch seine Verdunstung wie durch die Kühlung der Luft. Ral und ich arbeiteten weiter ohne Ergebnisse, ohne allerdings in unserem Eifer und unserem Enthusiasmus nachzulassen. Trotz der harten Tagesarbeit in der mörderischen Sonne brüteten wir abends meist über dem Modell der Stadtfunda-
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mente. Wir versuchten herauszufinden, wo die Alten wohl ihre Gräber angelegt hatten. Im Gegensatz zu uns erntete Eldridge Hamilton, assistiert von Sally und Leslie, weiter die reichsten Früchte, die Schriftrollen waren eine unerschöpfliche Fundgrube. Früh im neuen Jahr hatten wir hohen Besuch. Hilary Sturvesant hatte endlich durchgesetzt, daß Louren sie zu der Ausgrabungsstelle mitnahm. Sie brachte auch die älteren Kinder mit, und ich war außer mir vor Freude über die Aussicht, alle meine bevorzugten Frauen in der Mondstadt versammelt zu sehen. Aber der Besuch begann sofort schiefzulaufen. Sally ließ ausrichten, sie habe Kopfschmerzen und werde sich hinlegen, obwohl ich beobachtete, wie sie sich mit Handtuch und Badezeug zu unserem Teich davonstahl. Eldridge Hamilton und Louren Sturvesant warfen einander giftige Blicke zu und beleidigten einander nach allen Regeln der Kunst. Ich war vollauf damit beschäftigt, zwischen den beiden zu vermitteln. Als ob das nicht genügte, wurde außerdem deutlich, daß Hilary und Louren in häuslichem Unfrieden lagen. Es schien kaum noch Kommunikation zwischen ihnen stattzufinden. Hilary war schweigsam und reserviert, was sich sofort auf alle anderen übertrug. Gleich nach dem Essen bat mich Louren um die Schlüssel für den Landrover, und ich sah zu, wie er seine Schrotflinte holte und nordwärts fuhr. Hilary und die Kinder überließ er mir. Ich führte Hilary durch das Ausgrabungsmuseum, und sie war so fasziniert von den ausgestellten Stücken, daß sie ihren Kummer für eine Weile vergaß. Wir stiegen auch zu der Höhle hinauf, zu unserem wunderschönen smaragdgrünen Teich. Obwohl Hilary und ich alte Freunde waren, dauerte es eine ganze Zeit, bis sie sich überwand und ihre Schwierigkeiten erwähnte.
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»Ben, ist dir irgend etwas an ihm aufgefallen?« Die alte Frage unglücklicher Frauen, und ich brachte die alte Entschuldigung vor. »Er arbeitet so schwer, Hil.« Und sie griff danach. Viel später, als wir in der Dämmerung zu den Hütten hinunterschlenderten, sagte sie plötzlich: »Glaubst du, daß er eine andere Frau hat, Ben?« Ich war betroffen. »Großer Gott, Hil. Wie kommst du denn darauf?« »Ich weiß nicht. Nur so –« Sie hielt inne und seufzte. »Wo könnte er mehr finden, als er besitzt?« fragte ich leise, und sie nahm meine Hand und drückte sie. »Guter Ben. Was würden wir ohne dich tun?« Beim Abendessen herrschte wider Erwarten die allerbeste Stimmung – erleichtert goß ich mir einen doppelten Whisky ein. »Für mich auch einen.« Sally trat neben mich. Ich konnte keine Anzeichen von Kopfschmerz erkennen. Ihr Mund war leuchtend rot, ihr Haar zu einer zauberhaften Frisur hochgesteckt, ich glaubte, sie nie so hinreißend gesehen zu haben. Louren bot im Gegensatz zu seiner früheren Stimmung seinen ganzen Charme auf, dem selbst Eldridge nicht widerstehen konnte. »Professor Hamilton hat hier höchst bemerkenswerte Arbeit geleistet, Ben«, begrüßte er mich. »Ich kann dir nur zu deiner Kollegenwahl gratulieren.« Eldridge zierte sich bescheiden. »Eines können wir nicht viel länger hinausschieben, Ben«, erklärte er. »Wir müssen bald eine Verlautbarung abgeben. Wir können das nicht mehr geheimhalten.« »Ich weiß«, stimmte ich zu. »Hast du dir schon Gedanken darüber gemacht?« »Nun, um ehrlich zu sein –« Ich zögerte. Ich hasse es, Louren um Geld zu bitten. »Ich hatte an eine Sache in ziemlich
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großem Stil gedacht.« »Ja?« ermunterte mich Louren. »Nun, ich dachte, wenn wir die Königliche Geographische Gesellschaft veranlassen könnten, ein außerordentliches Symposion über afrikanische Vorgeschichte einzuberufen. Eldridge ist Mitglied des Rates, ich bin sicher, er könnte es arrangieren.« Wir blickten ihn an, und er nickte. »Dann könnte vielleicht Sturvesant International als Gastgeber die Delegierten nach London fliegen lassen und ihre Spesen bezahlen, um sicherzustellen, daß alle teilnehmen, oder wenigstens einige.« Louren warf den Kopf zurück und lachte begeistert. »Du bist ein hinterhältiger Schuft, Ben. Ich durchschaue genau deinen Plan. Du holst dir alle deine Kritiker und Feinde zusammen in die geheiligten Hallen der K.G.G., und dann spielst du den Al Capone der Archäologie bei einem wissenschaftlichen St. Valentins-Tag-Massaker. Im Jargon, du ermordest de Fötte. Das stimmt, nicht wahr?« Ich errötete über diese rasche Aufdeckung meiner Pläne. »Nun«, und dann grinste ich dumm und nickte. »So ist’s ungefähr, Lo, nehme ich an.« Auch Eldridge genoß es. »Ich glaube, wir konnten es für April arrangieren.« Wir heckten und planten immer noch, als wir uns zu dem feurigen Curry aus Wildfasan niedersetzten, und das Mahl entwickelte sich zu einer festlichen Gelegenheit, als Sally sich plötzlich an Hilary wandte, die schweigend neben mir gesessen hatte. »Sie müssen uns entschuldigen, Mrs. Sturvesant. Für sie muß das furchtbar langweilig sein. Wahrscheinlich begreifen Sie kein einziges Wort.« Sallys Ton war honigsüß und besorgt. Ich war ebenso überrascht wie Hilary, denn ich verstehe die Geheimsprache der Frauen zur Genüge, um zu erkennen, daß
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es sich um eine offene Kriegserklärung handelte. Ich hoffte, daß ich mich irrte, aber fünf Minuten später griff Sally wieder an. »Sie müssen die Hitze und die primitiven Umstände hier sehr anstrengend finden, Mrs. Sturvesant. Nicht die Art Wetter wie bei Ihren Tennisparties, nicht wahr?« Ihre Stimme implizierte, daß Tennis der Zeitvertreib verwöhnter und nutzloser gesellschaftlicher Schmetterlinge sei. Aber diesmal war Hilary vorbereitet, und mit dem Gesicht eines Engels und ebenso honigsüßem Ton wie Sally schlug sie in einer vernichtenden Gegenattacke zu. »Sicherlich kann es sehr ungesund sein, besonders nach längerer Zeit, Dr. Benator. Die Sonne kann einem die Haut verheeren, nicht wahr? Und Sie sehen immer noch kränklich aus von Ihren Kopfschmerzen. Wir waren sehr besorgt um Sie. Ich hoffe, Sie fühlen sich jetzt besser.« Sally schoß einige Spitzen ab und mußte dann feststellen, daß Hilary trotz ihrer sanften, nonnenhaften Art ein ebenbürtiger Gegner war. Sie wechselte ihre Attacke. Sie widmete ihre ganze Aufmerksamkeit Louren, lachte laut über jedes seiner Worte und wandte kein Auge von seinem Gesicht. Hilary war dieser Taktik gegenüber wehrlos. Ich schien als einziger von allen den Verlauf dieses Duells wahrzunehmen, und ich versuchte schweigend, den Sinn des Ganzen zu ergründen – bis Hilary ihre Trumpfkarte ausspielte. »Louren, Liebling, es war ein solch langer, aufregender Tag. Würdest du mich jetzt bitte ins Bett bringen.« An Lourens Arm rauschte sie vom Feld, und ich mußte widerstrebend zugeben, daß meine Sally die Behandlung erfahren hatte, die sie verdiente.
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Das Gefühl der Anwesenheit einer anderen Person in meinem Schlafraum weckte mich auf, und ich straffte mich für eine plötzliche gewalttätige Aktion, während ich verstohlen den Kopf drehte und zur Tür schaute. Sie war offen. Der Mond draußen schien hell und klar. In der Öffnung stand Sally. Sie trug ein dünnes Nachthemd, das nicht die schönen Umrisse ihres nackten Körpers gegen den Silbermond verhüllte. Die langen Beine, die schwellenden fraulichen Hüften, die Kerbe der Taille und die Buchtung der Brüste, der lange gazellenhafte Hals mit der Neigung des zierlichen Kopfes. »Ben?« fragte sie weich. »Ja.« Ich setzte mich auf, und sie kam schnell zu mir. »Was ist, Sal?« Statt einer Antwort küßte sie mich mit offenem Mund und suchender Zunge. Sie überrumpelte mich völlig, ich gefror in ihren Armen, und sie legte ihre Wange an meine. Kaum hörbar, hauchte sie flüsternd: »Liebe mich, Ben.« Hier stimmte etwas nicht, absolut nicht. Ich spürte kein Erwachen der Begierde, sondern nur ein warm aufsteigendes Mitleid für sie. »Warum Sal?« fragte ich. »Warum jetzt?« »Weil ich es brauche, Ben.« »Nein, Sally. Das glaube ich nicht. Ich glaube, du brauchst jetzt nichts so wenig wie das.« Und plötzlich weinte sie, lautlos und abgehackt schluchzend. Sie weinte eine lange Zeit, und ich hielt sie fest. Als sie sich beruhigt hatte, legte ich sie aufs Kissen und deckte sie zu. »Ich bin ein Biest, nicht wahr, Ben?« flüsterte sie und schlief ein. Ich wachte die ganze Nacht neben ihr. Ich glaube, damals wußte ich schon, was vor sich ging, aber ich wollte es mir selbst nicht eingestehen. Am nächsten Morgen erklärte Louren unvermittelt, daß die Familie sofort nach Johannesburg zurückreise, statt – wie ge-
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plant – noch einen Tag zu bleiben. Ich konnte meine Enttäuschung kaum verbergen, und als ich Louren nach dem Grund fragte, zuckte er lediglich mit den Schultern und seufzte: »Preise dich glücklich, daß du nie geheiratet hast, Ben. Mein Gott – Frauen!« Das Leben in der Mondstadt verlief eine Woche lang mit der normalen, zufriedenstellenden Routine; Ral und ich setzten unsere Suche nach den Gräbern fort, und die anderen arbeiteten stetig an den Schriftrollen. Dann, eines Mittags, als Ral und ich im dürftigen Schatten eines Kameldornbusches saßen, erhob sich eine kleine, koboldartige Gestalt direkt vor uns aus dem Gras. »Sonnenvogel«, sagte Xhai leise. »Ich bin viele Tage gereist, um den Sonnenschein deiner Gegenwart zu suchen.« Er machte immer die hübschesten Komplimente. »Erinnert sich Sonnenvogel an den Wasser-im-Felsen, wo wir den Elefanten getötet haben?« Ich erinnerte mich gut. »Diese Löcher haben Sonnenvogel und dem großen Goldenen viel Vergnügen bereitet, nicht wahr?« Das hatten sie in der Tat. »Seit jenem Tag habe ich mir die Felsen mit anderen Augen angesehen während ich jagte. Möchte Sonnenvogel zu einem anderen Ort, wo viele solcher Löcher sind?« »Möchte ich!« »Ich werde dich dorthin führen«, versprach Xhai. »Und ich werde dir so viel Tabak geben, wie du tragen kannst«, versprach ich ihm dafür, und wir strahlten einander an. »Wie weit ist es zu diesem Ort?« fragte ich, und er begann zu erklären. Es sei hinter dem »großen Draht«, sagte er. Damit meinte er den 450 km langen Wildzaun entlang der rhodesischen Grenze, den man errichtet hatte, um die Wanderungen
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der wilden Tiere wegen der Maul- und Klauenseuche zu kontrollieren. Wir würden eine Genehmigung der Rhodesier brauchen und müßten Louren um die Ausrüstung einer Expedition bitten, denn der Ort lag offensichtlich mitten in der Zone der Terroristen. Wir verabredeten uns drei Tage später unter dem Kameldornbusch. Als ich am Abend anrief, war Louren glücklicherweise gerade aus Madagaskar zurückgekehrt. »Was gibt’s, Ben?« Seine Stimme dröhnte durch die Funkgeräusche. »Nichts, Lo. Dein kleiner Buschmann-Freund hat wieder eine alte Goldabbaustelle gefunden. Er will mich hinführen.« »Großartig, Ben. Die Elefantenmine produziert schon, sieht sehr gut aus.« »Ein Problem nur, Lo. Es ist in Rhodesien, im Sperrgebiet.« »Kein Problem, Ben. Ich regele das.« Und am nächsten Abend redeten wir wieder. »Nächste Woche Montag. Eine rhodesische Polizei-Eskorte trifft uns am Grenztor von Panda Matenga.« »Uns?« fragte ich. »Ich stehle mir zwei freie Tage, Ben. Ich konnte einfach nicht widerstehen. Nimm du den Buschmann mit und fahr mit dem Landrover durch nach Panda Matenga. Ich komme mit dem Hubschrauber von Bulawayo. Bis dann. Montag in einer Woche, morgens, okay?«
Der Kommandant der Polizei-Eskorte gehörte zu jenen jungenhaft-bulligen Rhodesiern mit der Ausstrahlung ruhiger Zuverlässigkeit, die einem sofort Vertrauen einflößen. Er war
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stellvertretender Inspektor mit einem Askari-Sergeanten und fünf Polizisten unter sich. Sein Rang und die Zusammensetzung der Eskorte deuteten an, auf welcher Ebene Louren um Kooperation nachgesucht hatte. Wir hatten zwei Landrover, beide mit montierten Maschinengewehren auf der Haube. Auch die Bewaffnung der Truppe war beeindruckend, wie nicht anders zu erwarten an den Grenzen eines Landes, das ständig von terroristischen Eindringlingen aus dem Norden heimgesucht wurde. »Dr. Kazin.« Der Inspektor salutierte, wir schüttelten uns die Hände. »Mein Name ist MacDonald. Alastair MacDonald. Darf ich meine Männer vorstellen?« Es waren alles Matabele, große, kräftige Männer in Tarnhosen aus Drillich und weichen Dschungelhüten. Xhai fühlte sich offensichtlich unwohl in ihrer Gesellschaft. Er blieb dicht an meiner Seite. »Wußten Sie, Doktor, daß immer noch ein Feldbefehl der Britischen Südafrika-Polizei existiert, der nie widerrufen wurde?« fragte MacDonald, während er Xhai interessiert betrachtete. »Er schreibt vor, alle Buschmänner ohne Vorwarnung zu erschießen. Dies ist der erste, den ich zu Gesicht bekomme. Diese armen Wichte.« »Ja.« Ich hatte von diesem Befehl gehört, den man als eine Kuriosität beibehielt und der nur zu getreu die Einstellung des letzten Jahrhunderts spiegelte. Die Zeit der großen BuschmannJagden, bei denen hundert berittene Männer sich zu einem Kommando zusammenschlossen, um diese kleinen gelben Kobolde zu jagen und zu töten, als seien sie gefährliche Tiere. Weiße und Schwarze hatten sie gnadenlos gejagt und furchtbare Greuel an ihnen begangen. 1869 hatte König Khama sogar einen ganzen Stamm vernichtet: er hatte sie zu einem Fest der Versöhnung gelockt, sie dann während des Mahls überwältigt, anschließend gefoltert und getötet.
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Ich erklärte MacDonald aufgrund von Xhais Beschreibung unseren Zielort. Der Inspektor machte ein ernstes Gesicht. »Kein sehr gutes Gebiet, Doktor.« Er besprach sich mit seinen Männern. Es war Mittag, als der Hubschrauber von Südosten über die Baumwipfel ratterte. Louren sprang aus der Kabine, seine Tasche hinter sich herschleppend. »Entschuldige die Verspätung, Ben. Ich mußte auf einen Anruf aus New York warten.« MacDonald trat vor und berührte seinen Mützenschirm. »Guten Tag, Sir.« Seine Haltung war respektvoll. »Der Premierminister hat mich gebeten, Ihnen seine Grüße auszurichten, Mr. Sturvesant, und mich Ihnen zur Verfügung zu stellen.« Wir verließen den Pfad und bogen nordwärts ab auf den Sambesi zu. MacDonald saß im ersten Landrover mit einem Fahrer und einem Polizisten am Maschinengewehr. Wir folgten in der Mitte; Louren fuhr, und ein Polizist bediente die Waffe. Xhai und ich saßen zusammen hinten. Der zweite PolizeiLandrover unter Sergeant Ndabuka bildete die Nachhut. Langsam wand sich die Kolonne durch Mopane-Wälder und die niedrigen Granithügel hoch. Xhai wies uns die Richtung, immer den Elefantenpfad entlang. Elefanten wählen stets die beste Route, finden immer die leichteste Steigung, den niedrigsten Paß über die Hügel und Flußläufe mit sanft abfallenden Ufern. Neben einem dieser Flußläufe kampierten wir. Das Bett war ausgetrocknet und übersät mit schwarzen glänzenden Steinen. Jenseits des Flusses stieg das Gelände wieder felsig steil an und war mit Buschwerk überzogen. Auf dieser Seite jedoch lag
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der Busch frei, was uns ein klares Feuerfeld rund um das Lager verschaffte. MacDonald postierte die drei Fahrzeuge im Dreieck und stellte die Wachen auf. Unterdessen gingen Louren und ich, gefolgt von Xhai, das Ufer hinunter zu dem Teich. Wir setzten uns auf die Felsen, beobachteten eine Kolonie gelber Webervögel. Es war fast dunkel, als MacDonald das Ufer hinunterkam. »Entschuldigen Sie, Mr. Sturvesant. Darf ich Sie jetzt bitten, in die Umgrenzung zu kommen. Ich möchte keine unnötigen Risiken eingehen.« Und bereitwillig flippte Louren seinen Zigarrenstummel in den Teich und stand auf. »Dies war einmal ein Land, in dem man nach Herzenslust umherstreifen konnte. Die Zeiten ändern sich, Ben.« MacDonald setzte sich zu uns ans Lagerfeuer. »Ich hätte Sie schon früher fragen sollen, aber können die Herren mit dem FN-Gewehr und dem 60-Kaliber-Maschinengewehr umgehen?« Louren und ich bejahten beide. »Gut.« MacDonald blickte nach Norden. »Je näher wir an die Grenze kommen, desto größer wird die Möglichkeit eines Zusammenstoßes. Die Terroristen haben seit kurzem ihre Aktivität sehr verstärkt. Irgendwas braut sich da zusammen.« Er nippte nachdenklich an seinem Becher Kaffee und fragte dann: »Nun, Gentlemen, welche Pläne haben Sie für morgen? Wie weit sind wir von unserem Zielort?« Ich schaute Xhai an. »Wie weit ist es zu den Höhlen im Felsen, mein Bruder?« »Wir werden dort sein, bevor die Sonne so steht«, er zeigte mit seiner zierlichen Hand die Mittagszeit an. »Mein Volk lagert an dem Wasserloch nahe den Felsen. Wir gehen erst zu ihnen, denn sie haben lange auf mich gewartet.«
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Mir kam zum ersten Male das Ausmaß seiner Freundschaft zu Bewußtsein und ich sagte zu Louren. »Weißt du, Lo, daß dieser kleine Teufel 150 Meilen zu Fuß gelaufen ist, nur um uns etwas zu erzählen, das uns freuen könnte?« »Was meinst du?« »Sobald er die alten Anlagen entdeckt hatte, ist er aufgebrochen und hat sich auf die Suche nach mir gemacht.« Diese Nacht schlief Xhai zwischen Louren und mir. Er traute den großen Matabele-Polizisten immer noch nicht. Es war elf Uhr am nächsten Morgen, als wir die Aasgeier am nördlichen Himmel entdeckten. MacDonald hielt die Kolonne an und kam zu unserem Fahrzeug. »Irgend etwas ist nicht in Ordnung da vorn. Vielleicht nur eine Löwenbeute, aber wir gehen besser kein Risiko ein.« Xhai glitt vom Sitz und kletterte auf das Dach des Landrover. Eine Minute beobachtete er die fernen Vögel, dann kam er herunter zu mir. »Mein Volk hat ein großes Tier getötet. Vielleicht sogar einen Büffel, denn die Vögel sind über meinem Lager. Wir brauchen nichts zu fürchten. Fahren wir weiter.« Ich übersetzte es MacDonald, und er nickte. »Okay, Doktor. Aber wir halten trotzdem die Augen offen.« Die Buschmänner hatten neben einem Loch mit Schlamm und schmutzigem Wasser fünf primitive Schutzdächer errichtet. Sie hatten einfach eine Anzahl junger Bäume nach innen zu einem Rahmenwerk gebogen, und es dann grob mit Zweigen und Gras bedeckt. Kein Rauch stieg auf, kein Anzeichen kündigte das kleine gelbe Volk an, als wir auf das Lager zufuhren. Xhai schaute verdutzt, seine Blicke huschten durch den dichten Busch, und er pfiff leise durch die Zähne. Geier saßen in den Baumwipfeln rund um das Lager. Als wir uns näherten, wurde es plötzlich unruhig zwischen den Hütten, und zwanzig oder dreißig der großen häßlichen Vögel flatterten schwerfällig in
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die Luft. Xhai stieß einen leisen, klagenden Ruf aus. Ich begriff nicht, was geschehen war, es verwunderte mich, daß die Geier auf dem Boden zwischen den Hütten waren. Aber Xhai wußte Bescheid. Er begann sich langsam auf dem Sitz zu wiegen, die Arme um die Brust verschränkt, diesen tiefen Klagelaut auf den Lippen. MacDonald hielt seinen Landrover an und stieg aus. Er beugte sich über einen Gegenstand auf dem Boden, dann richtete er sich auf und rief einen Befehl. Seine Polizisten sprangen aus dem Fahrzeug und schwärmten mit schußbereiter Waffe aus. Louren parkte unseren Landrover, und wir gingen zu MacDonald, der zwischen den Hütten stand. Xhai blieb auf dem Rücksitz, immer noch sich wiegend und klagend. Für die Bantus sind die Mädchen der Buschmänner ein Objekt absonderlicher Lust. Vielleicht verlocken sie ihre goldgelbe Farbe oder ihre winzigen, puppenhaften Körper. Sie hatten Xhais Frauen vergewaltigt, alle, selbst die noch kleinen Mädchen. Dann hatten sie sie mit dem Bajonett durchbohrt und sie in dieser rührend verletzlichen Liebeshaltung liegenlassen. Ghal und die beiden anderen Männer hatten sie erschossen. Feuerstöße aus automatischen Waffen hatten ihre Körper so zerschmettert, daß Knochensplitter aus dem zerfetzten Fleisch ragten. Das Blut war zu schwarzen Spritzern und Lachen getrocknet. Überall saßen die Fliegen, große grüne glänzende Fliegen. Auch die Vögel waren schon an den Körpern gewesen; das war das fürchterlichste, die Vögel. »Gott«, sagte Louren. »O Gott. Warum? Warum haben sie das getan?« »Das ist ihr Stil«, antwortete MacDonald. »Frelimo, MauMau, sie alle schlagen ihrer eigenen Rasse die schlimmsten
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Wunden.« »Aber warum?« wiederholte Louren. »Sie haben Gewehre. Sie wollen sie benutzen. Das ist leichter, als weiße Rancher oder Polizeiposten anzugreifen.« Zwei der Polizisten brachten Segeltuch aus einem der Landrover. Sie begannen die Körper einzuhüllen. Ich ging zu unserem Fahrzeug zurück und lehnte mich an die Tür. Plötzlich erbrach ich mich, eine saure, bittere Flut schoß mir die Kehle hoch, und ich würgte schmerzhaft. Ich merkte, daß Xhai mich beobachtete – ein Mann, dem man alles geraubt hatte außer der nackten Existenz. In seinen dunklen Augen lag eine solche Qual, solche Trauer verzerrte seinen Mund, daß ich es kaum ertragen konnte. »Wir werden sie finden, die das getan haben, Sonnenvogel«, wisperte er und führte mich in das kurze Gras um das Lager. Er arbeitete schnell wie ein Jagdhund. Hellbronzene Patronenhülsen lagen über den sandigen Boden verstreut. Zu hunderten, schludrig hergestellt und mit chinesischen Schriftzeichen gestempelt. Die Schützen hatten einen wahren Kugelregen in das Lager gefeuert. »Sie sind in der Nacht gekommen«, erklärte Xhai leise. »Schau! Hier haben sie gewartet.« Er deutete auf die kahlen Stellen zwischen den Büschen. »Es waren viele.« Und er hob dreimal beide Hände mit gespreizten Fingern. Dreißig. Eine große Gruppe. »Sie haben in der Morgendämmerung zugeschlagen. Gestern morgen.« Vor zweiunddreißig Stunden. Mittlerweile waren sie bestimmt meilenweit fort. Als wir zum Lager zurückkehrten, schaufelten die Polizisten ein flaches Gemeinschaftsgrab für die neuen Leichen. Xhai hockte sich neben die Reihe der Toten. Er schwieg jetzt, und das Schweigen war noch quälender als sein verzweifeltes Klagen. Einmal beugte er sich vor und berührte behutsam eines der Segeltuchbündel. In diesem Moment haßte ich die
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wilde Grausamkeit unseres Landes. Ich konnte Xhais Schmerz nicht mit ansehen und ging zu Louren hinüber. »Es sind viele, Ben«, empfing mich Louren. »Xhai sagt, es seien dreißig.« Louren nickte. »Sehr wahrscheinlich. Der Inspektor meint, wir sollten umkehren, und ich stimme ihm eigentlich zu.« MacDonald erklärte: »Sie sind uns zahlenmäßig hoch überlegen, Doktor. Außerdem sind diese Schweine gut ausgebildet und mit den modernsten Waffen ausgerüstet; nicht mehr so wie vor ein paar Jahren, als sie nur unerfahrenes Volk geschickt haben. Sie sind jetzt wirklich gefährlich, und wir sind keine Offensivpatrouille. Wir müssen so schnell wie möglich raus hier und die Hubschrauber rufen.« »Ja«, stimmte ich zu. Die alten Anlagen spielten angesichts dieses Entsetzens keine Rolle mehr. Ich blickte hinüber zu der Stelle, wo die Polizisten das Grab aufschütteten. Ich legte meinen Arm um Xhai. »Komm, kleiner Bruder«, sagte ich und führte ihn zum Landrover. Die Kolonne machte kehrt, wir traten den Rückweg nach Süden an. Die Fahrt entwickelte sich mehr und mehr zu einem Alptraum. Die Gangwechsel und das Aufheulen des Motors, unvermeidbar auf diesem rauhen, zerklüfteten Boden, kündigten unser Kommen weithin an. Überall gab es ideale Stellen für einen Hinterhalt, mit dichtem Gebüsch an beiden Seiten. Unsere Spur war deutlich zu sehen, wir mußten ihr auf dem Rückweg folgen. Sie wußten das, und sie würden auf uns warten. Da sie vielleicht Landminen bei sich hatten, hielten wir sorgfältig Ausschau nach aufgewühlter Erde auf dem Pfad vor uns. Wir standen alle unter furchtbarem Druck. Louren fuhr in grimmigem Schweigen, ein erloschener Zigarrenstummel rollte pausenlos in seinem Mundwinkel.
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Der Polizist neben ihm hatte den Kolben des Maschinengewehrs an die Schulter gedrückt. Wir drehten alle die Köpfe langsam von einer Seite zur anderen, unablässig suchend. »Hast du gemerkt, daß es gar kein Wild mehr gibt, Ben?« fragte Louren plötzlich. Er hatte recht. Seit wir das Lager der Buschmänner verlassen hatten, fehlte das Wild völlig, das bei unserer Hinfahrt so häufig aufgetreten war. Nicht einmal eine Herde zierlicher brauner Impalas zeigte sich. »Das gefällt mir nicht, Lo.« »Ganz meinerseits«, grunzte Louren. »In zweiunddreißig Stunden können die Hunde meilenweit marschiert sein. Sie können überall stecken.« Ich fummelte nervös an dem Feuerregler des Gewehrs auf meinem Schoß. MacDonald hatte darauf bestanden, daß wir die Waffen seiner zwei Männer nahmen, die an den schweren Maschinengewehren standen. Ich war jetzt froh darüber. Dieses Ding aus Holz und Stahl spendete einigen Trost. Plötzlich rutschte der Landrover vor uns zum Stillstand, Louren trat auf seine Bremse und schnappte das automatische Gewehr aus der Halterung hinter ihm. Wir saßen mit schußbereiten Waffen da und spähten in die Wildnis aus Felsen und Busch um uns her. Wir warteten auf das plötzliche Dröhnen von Maschinengewehren. Langsam vergingen Sekunden, während mein Puls mir betäubend in den Ohren trommelte. »Tut mir leid«, rief MacDonald vorne. »Blinder Alarm!« Die Motoren heulten auf, gräßlich laut in dem weiten Schweigen Afrikas, und wir fuhren weiter. »Um Himmels willen, hör doch auf, an dem verdammten Ding zu fummeln!« Louren herrschte mich mit unnötiger Schärfe an. Ich hatte gar nicht gemerkt, daß ich ständig den Feuerregler hatte einschnappen lassen. Es schien Stunden später, als wir uns endlich zu dem Teich
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in dem Wasserlauf hinabschlängelten, wo wir vorige Nacht kampiert hatten. MacDonald hielt die Kolonne am Ufer an und kam zu uns nach hinten. »Wir füllen hier die Benzintanks nach, Mr. Sturvesant. Darum kümmere ich mich. Gehen Sie bitte mit ein paar Mann hinunter zum Teich und füllen Sie die Wasserbehälter auf.« Louren ging mit zwei Polizisten, die Zwanzig-LiterBenzinkanister schleppten, die Böschung hinab, während ich zusah, wie MacDonald mit dem Nachtanken begann. Die Benzindünste wirbelten in der Hitze, und der Geruch drang mir beißend in die Kehle. »Bleib hier«, sagte ich zu Xhai. »Rühre dich nicht.« Und er nickte mir vom Rücksitz des Landrovers zu. Ich folgte Louren hinunter zum Rand des Teiches. Hohes Schilf stand mit schlaff gesenkten flauschigen Köpfen, schwarzer Schlamm, genarbt von den Hufen tausender Tiere, grünes, dickes Wasser und darauf Schleim, in dem träge das Marschgas brodelte. Plötzlich sah ich auf dem Fels am Rand des Wassers einen weißen Flecken. Ich wollte ihn nach einem kurzen Blick schon als einen Spritzer Vogelkot abtun, als ich noch etwas bemerkte: ich spürte den ersten kalten Schauder der Angst in meinem Nacken. Lässig schlenderte ich am Rand des Teiches entlang, wobei ich meine Augen von dem weißen Objekt fernhielt, bis es direkt vor meinen Füßen war. Dann schielte ich nach unten, der Atem blieb mir in der Kehle stecken. Mein erster Impuls bestand darin, Louren mit einem Schrei zu warnen und zum Landrover zu rennen, aber ich unterdrückte diese Reaktion und zwang mich, wie zufällig fortzuschauen. Trotz meines rasenden Pulses und meiner Atemnot schaffte ich es, mich zu bükken, einen Kieselstein vom Wasserrand aufzuheben und in den Teich zu werfen, wo er mit einem Plumps kleine Wellenkreise erzeugte. Schnell schaute ich wieder nach unten.
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Der weiße Fleck war ein Stück Haushaltsseife, ein nasser Kranz aus Schaumblasen umgab es noch. Auf den Felsen waren nasse Stellen, die die sengende Sonne noch nicht getrocknet hatte, und in dem Schlamm am Wasserrand war inmitten all der tausend Hufspuren ein Abdruck. Ein seltsamer, halb menschlicher Abdruck, wie der eines riesigen Vogels. Die großen Zehen waren weit von dem Rest des Fußes getrennt, halb bis zur Ferse aufgeschlitzt – und ich wußte, daß Timothy Mageba mich durch das Teleskop einer automatischen Waffe beobachtete. Meine Haut schauderte, Furcht kroch über meinen Körper und zog die Nervenstränge entlang. Langsam ging ich zu Louren zurück. Er hatte die Zigarre im Mund und entzündete gerade ein Streichholz. »Lo«, sagte ich leise. »Erschrick nicht. Benimm dich so natürlich, wie du kannst. Sie sind hier. Direkt hier, sie beobachten uns.« Er paffte viermal, dann wedelte er das Streichholz aus und schaute sich ungezwungen um. »Wo?« fragte er. »Ich weiß nicht, aber sie sind sehr nahe. Wir müssen hier sichtbar bleiben, bis Mac fertig ist.« »Sag’s den Polizisten«, sagte Lo. Die Polizisten verschraubten die Benzinkanister, und als sie an uns vorbei zurückkehrten, hielt ich sie an. »Geht sehr vorsichtig. Lauft nicht und schaut euch nicht um. Die Kerle sind hier. Geht zum Inspektor. Sagt ihm, er soll die Motoren starten; wenn wir sie hören, kommen wir gerannt.« Sie nickten mit ausdruckslosen Gesichtern, sie hatten sofort verstanden. Nicht umsonst genossen sie den Ruf der besten eingeborenen Truppen in Afrika. Ruhig stiegen sie die Böschung hinauf. »Ich fühle mich wie eine dieser kleinen mechanischen Enten auf dem Schießstand«, sagte ich und versuchte ein Lächeln. Es
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hing mir schief im Gesicht. »Worauf warten sie eigentlich?« fragte ich. »Sie haben uns wahrscheinlich noch nicht richtig im Visier.« Louren lachte, eine sehr gute Leistung. Es klang überzeugend. »Sie beziehen jetzt Position. Dann warten sie, bis wir alle zusammen sind, nicht so verstreut.« »Gott, wenn ich nur wüßte, wo sie sind, von wo man es erwarten soll.« »Wie hast du’s überhaupt gemerkt?« fragte Louren, die Unterhaltung mußte unbedingt natürlich weiterfließen. »Stück Seife und nasse Fußspuren auf den Felsen. Sie waren gerade beim Baden, als sie uns kommen hörten.« Louren tupfte die Asche von seiner Zigarre, und mit einem Blick auf die Felsen sah er die Seife. Dann zuckten seine Augen zu mir zurück. Oben an der Böschung hörten wir die Anlasser laut in das Schweigen rasseln und dann das gleichmäßige Motorengeräusch. Louren trat die frische Zigarre am Rande des Teiches in den Schlamm, dann legte er mir die Hand auf die Schulter. »Bis zum bitteren Ende, Partner?« fragte er. »Bis zum bitteren Ende, Lo.« Und wir wirbelten zusammen herum und rannten zu dem Pfad die Böschung hinauf. Ich fühlte mich erleichtert, daß das Warten endlich vorüber war. Mir war, als bewegte ich mich nicht, als ob ich stillstünde statt zu laufen. Die Böschung schien kein Ende zu nehmen, meine Füße schleppten bleiern, und es herrschte ein lähmendes Schweigen, in dem die Motoren der Landrover gedämpft schienen, unsere Fußschritte aber wie wilde Hufe stampften. Wir erreichten die Höhe der Böschung. Sergeant Ndabuka saß am Steuer unseres Fahrzeugs, er hielt auf uns zu und bremste, damit wir aufspringen konnten. Die beiden anderen Landrover setzten zurück, bereit, uns zu decken, und steuerten den Pfad an, während die Richtschützen
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die schweren Maschinengewehre drehten. »Springt!« schrie MacDonald. »Wir zischen los!« Ich warf mich seitlich in den Landrover. Louren fiel neben mich. »Los!« fuhr er den Sergeanten an. Der Motor heulte auf, und wir schössen vorwärts. Seit dem Augenblick, als wir losgerannt waren, waren vielleicht sechs Sekunden verstrichen. Es war alles sehr schnell gegangen. Ich kroch mit dem automatischen Gewehr auf die Knie, um eine Flanke zu decken. In diesem Moment eröffneten sie das Feuer. Die Luft um mich wurde zerfetzt von dem Klang wie von tausend Lederpeitschen, Schüsse gellten. MacDonalds Fahrzeug führte an unsere alte Spur zurück. Es lag ebenfalls unter Beschuß. Ich sah, wie der Richtschütze getroffen wurde. Es riß ihm den Kopf nach hinten, er sackte auf dem Sitz zusammen. Sie waren unten am Flußufer versteckt, lagen im Schilf und Gebüsch. Die Mündungsfeuer blitzten auf wie Schwerter. Ich feuerte eine Garbe in ihre Richtung, aber bei dem Holpern des Landrovers lag ich zu tief. Staub wirbelte vor dem Ufer auf. Ich korrigierte die Zielrichtung und schoß, die Waffe zitterte in meinen Händen. Ich sah das Schilf knicken und beben, als meine Kugeln einschlugen. Jemand schrie, ein dünner Laut. Ich schnappte ein neues Magazin und versuchte abzuschätzen, wie lange wir noch mit Beschuß rechnen mußten. MacDonald fuhr in den Wald ein; große Bäume zu beiden Seiten deuteten den Pfad an. Ich sah die lockere, säuberlich gefegte Erde auf der Bahn vor MacDonald. Da wurde mir klar, warum sie ihr Feuer zurückgehalten hatten – sie hatten uns in die Falle getrieben. Ich brüllte eine Warnung, aber sie ging unter in dem fortdauernden Lärm von Gewehrfeuer und Motorengedröhn. MacDonald fuhr direkt auf die Landminen, die sie auf unserer alten Spur gelegt hatten. Der grelle weiße Lichtstoß der
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Explosion versengte die Netzhaut des Auges, die Detonation knallte schmerzhaft gegen mein Trommelfell. MacDonalds Landrover bäumte sich auf, das Vorderteil aufgerissen, ein Rad drehte sich leer in der Luft. Der Wagen fiel hintenüber, die Insaßen unter sich erdrückend. Der zweite Landrover krachte mit fünfzig Stundenkilometern drauf. »Paß auf!« schrie Louren, und der Sergeant riß das Steuerrad herum, um den zerstörten Fahrzeugen auszuweichen. Unser Landrover hing auf zwei Rädern, stürzte auf die Seite. Wir wurden auf den felsigen Boden hinausgeschleudert. Drei oder vier Sekunden herrschte Schweigen, ein betäubtes Schweigen. Selbst der Feind schien erstarrt angesichts der plötzlichen Verheerung, die er angerichtet hatte. Wir waren etwa fünfzig Meter von dem Flußbett entfernt, wo Timothys Männer lagen. Der Grund dazwischen war spärlich mit Fieberbäumen bestanden. Diese Bäume und die Karosserien der Wagen gaben uns ein wenig Deckung. Ich hatte mein Gewehr verloren, und als ich danach tastete, kauerte Xhai neben mir. Ich sah sein entsetztes Gesicht, während ich zu Louren kroch. »Bist du verletzt?« Statt einer Antwort deutete er mit dem Finger zum Landrover hinüber. »Schau!« Zwanzig Fuß entfernt lag MacDonald auf dem Rücken, das volle Gewicht des Landrover auf seinem Becken. Mit schwachen, flatternden Händen stieß er gegen die Metallmasse. Er stöhnte leise. Ich wollte zu ihm hin, aber in dem Augenblick eröffneten sie wieder das Feuer. Sie spien Geschosse, die klirrend gegen die Landrover ratterten. Wogen von Staub und Stürme von Steinsplittern aufwirbelten, mit reißendem Geräusch querschlugen – und Louren zog mich nieder. Ich spürte eine Bewegung neben mir, und als ich mich um-
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wandte, klagte Xhai weich wie ein unruhiges Baby. Ich streckte die Hand aus, um ihn zu besänftigen, aber meine Berührung elektrisierte ihn. Er sprang auf, die dunkelgelben Augen vor Todesangst lodernd, und rannte los. »Warte, kleiner Bruder«, rief ich und raffte mich hoch, um ihm zu folgen. Aber Louren hielt mich fest. Ich beobachtete, wie Xhai in den Höllensturm hinausrannte. Er lenkte sofort das Feuer auf sich. Sie jagten ihn mit Kaskaden von Kugeln. Er rannte wie ein Kaninchen, das ins Licht eines Autoscheinwerfers geraten ist, ohne den geringsten Versuch zu machen, sich zu verstecken. Ich wand mich in Lourens Griff. »Nein!« schrie ich. »Laßt ihn! Nein! Nein!« Und sie trafen ihn, warfen ihn um, so daß er wie ein kleiner brauner Ball über die steinige Erde rollte. Er kam wieder auf die Füße, rannte noch immer, aber sein linker Arm war über dem Ellbogen durchschossen; er hing nur noch an einem Fetzen Fleisch und schlug haltlos gegen seine Flanke. Sie trafen ihn wieder, diesmal genau zwischen die Schulterblätter, und er fiel hart zu Boden, auf dem Gesicht rutschend. Er lag ganz still und klein in dem grellen weißen Sonnenlicht. Ich wurde ruhig in Lourens Griff. Louren rollte von mir fort und feuerte lang ausgestreckt eine Garbe um die Ladeklappe des umgestürzten Landrover. Als Entgegnung rauschte ein Kugelhagel über uns hinweg. MacDonald stöhnte immer noch. Niemand konnte diesen kugelschwirrenden Raum zu ihm durchqueren. Ich kniete auf dem harten Boden und starrte Xhais zarten kleinen Körper an. Und ich spürte die Hitze des Zorns in mir aufsteigen. Ich sprang auf und rannte zu dem von der Mine zerstörten Landrover; ich riß den Stift aus der Lafette und zerrte das schwere Maschinengewehr von dem Gestell. Dann warf ich mir vier Schlingen des Patronengurts über die Schulter und stürzte mich, das Gewehr an der Hüfte, auf sie. Ich rannte zum Flußbett hin, direkt in ihrer Schußlinie.
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Ich hörte mich selbst brüllen, während die Kugeln um mich flogen, scharf die Luft zerreißend, meine Ohren beutelten und mein Gesicht mit einem heißen trockenen Wind streiften. Ich rannte brüllend, und das Maschinengewehr schüttelte meinen Körper wie eine Riesenfaust. Die leeren Patronenhülsen flossen in einem glitzernden Strom aus der Ladevorrichtung. Der Uferrand überzog sich mit sprühenden, wirbelnden Staubwolken, als ich den Feuerstrahl an ihm entlangzog; einer von ihnen wurde getroffen und rückwärts geschleudert. Ihr Feuer ließ nach, sie rannten durch das wogende Schilf davon. Einer sprang auf die Füße und feuerte in die Runde. Neben mir splitterten weiße Rindenstücke vom Stamm eines Fieberbaums. Ich schwenkte das Gewehr auf diesen Mann. Er trug einen Tarnanzug und auf dem Kopf einen Helm; er duckte sich über seine Waffe, die Mündung blinzelte mir mit heißem rotem Auge zu, und ich wunderte mich, wie er auf diese kurze Entfernung fehlen konnte. Eine meiner Kugeln erwischte ihn im Mund, riß ihm den Helm ab und zerschmetterte seinen Schädel. Er fiel ans Ufer. »Folgt ihm! Gebt ihm Deckung!« hörte ich Louren irgendwo hinter mir schreien, aber ich achtete nicht darauf. Ich erreichte das Flußufer und blickte hinunter in das trockene Bett. Sie rannten von Panik erfüllt zum anderen Ufer, und ich richtete das Maschinengewehr auf sie. Ich sah zu, wie sie umfielen, wie der weiße Sand in plötzlichen weichen Fontänen zwischen ihnen tanzte. Ich brüllte immer noch. Die letzte Schlinge des Patronengurts rutschte von meiner Schulter und fütterte die hungrige Ladevorrichtung meiner Waffe. Das Gewehr verstummte, wurde nutzlos. Ich schleuderte es ihnen nach. Zorn und Trauer hatten mich weit über die Grenzen von Vernunft und Angst hinausgetrieben. Unbewaffnet und furchtlos stand ich da und am anderen Ufer drehte sich Timothy Ma-
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geba nach mir um. Er hatte eine Pistole in der rechten Faust und zielte auf mich. Ich spürte den Luftzug dicht neben meinem Kopf. »Mörder!« schrie ich, und er feuerte wieder, zweimal. Es war, als hätten die Todesengel schützend ihre Schwingen um mich gefaltet, denn ich hörte die Kugeln nicht einmal. Er funkelte mich an, mit diesen schrecklichen rauchigen Augen. Dann war plötzlich Louren neben mir, warf das Gewehr hoch und gab einen Schuß auf Timothy ab. Ich glaube, er streifte ihn, denn ich sah ihn zusammenzucken und leicht schwanken, aber dann war er in dem dichten Gebüsch am anderen Ufer verschwunden. Die Polizisten gingen in Schützenlinie an uns vorüber die Böschung hinunter und durch das Flußbett, wo die Toten lagen. Sie feuerten ein paar Runden in den Busch, dann rief Louren sie zurück. Louren starrte mich ungläubig an. »Sie haben dir kein Haar gekrümmt«, sagte er verblüfft. »Keine einzige Kugel – mein Gott, Ben, mein Gott!« Er schüttelte den Kopf. »Du hast mich erschreckt, du verrückter Hund. Du hast mich verdammt erschreckt.« Er legte seinen Arm um meine Schultern und führte mich zu den Fahrzeugen zurück. MacDonald stöhnte immer noch leise vor sich hin. Louren und ich hoben die Seite des Landrovers an. MacDonald schrie, als die Polizisten ihn unter dem Wagen herauszogen. Seine Beine waren in seltsamem Winkel gekrümmt, sein Gesicht war blaß unter der schmutzigen Sonnenbräune, kleine Schweißperlen glänzten auf seiner Oberlippe. Während Louren ihn mit Morphium versorgte und das übel zugerichtete Bein zu schienen versuchte, ging ich zu der Stelle, wo Xhai lag. Das Einschußloch in der Mitte des Rückens blutete nicht. Trotzdem lag er in einer Lache dicken geronnenen Blutes. Ich
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drehte ihn nicht um. Ich hockte mich nur neben ihn. »Geh in Frieden, kleiner Bruder«, flüsterte ich. »Komm, Ben. Sie werden bald wieder hier sein. Wir müssen uns beeilen«, rief Louren. Zwei unserer Polizisten waren tot, und der Sergeant rollte sie in ihre Decken. Wir kippten das dritte Fahrzeug wieder auf die Räder, Louren und ich prüften den Wagen. Zwei Reifen waren durchschossen, der Benzintank zersiebt, eine Kugel hatte die Lenkung beschädigt, eine andere die Ölwanne zertrümmert, Öl floß heraus, stinkend in der Hitze. Schnell verteilte Louren den Sergeanten und die drei übrigen Polizisten in einer Verteidigungslinie zwischen den Fieberbäumen. Den angeschlagenen Landrover schoben wir hinter die beiden zerstörten Fahrzeuge, um in ihrem Schutz besser arbeiten zu können. In MacDonalds Landrover war ein Werkzeugkasten. Schnell wie zwei Mechaniker bei einem Grand-Prix-Rennen wechselten wir die Räder, indem wir die Wracks plünderten. Als wir die letzte Radschraube festdrehten, fingen die Heckenschützen wieder an. Die Entfernung betrug ungefähr 250 Meter von dem Hügelgrat. Sie hatten ihre Lektion begriffen und hielten sich jetzt in respektvoller Distanz. Unsere Polizisten antworteten sofort mit den zwei schweren Maschinengewehren. Mitten in dem Feuergefecht arbeiteten Louren und ich, verschmiert bis zu den Ellbogen. In unserer Hast rissen wir uns an scharfem Stahl die Haut von den Knöcheln, brannten uns an dem glühend heißen Verteiler und Auspuff Blasen in die Haut. Wir zerrten die Ölwanne aus dem umgekippten Landrover, und als wir sie, auf dem Rücken liegend, in unser eigenes Fahrzeug einbauten, tropfte uns heißes Öl ins Gesicht. Die Dichtungsmanschette war gerissen, lecken würde sie, aber sie würde das Öl lange genug halten, um uns in Sicherheit zu bringen.
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Louren wechselte die Lenkung aus, während ich in meinem Bündel nach einem Stück Seife kramte und damit die Kugellöcher im Benzintank verstopfte. Bei unserer Arbeit priesen wir die chinesischen Handwerker, die diese schludrigen Waffen drüben auf dem Grat mit ihrer geringen Reichweite und Ungenauigkeit hergestellt hatten. Wir tankten auf und wechselten das Maschinenöl, wobei wir voll im Blickfeld der Scharfschützen auf dem Hügel standen. Wir zwangen uns, methodisch zu arbeiten, und versuchten, unsere Ohren dem erschreckenden Ton der vorbeiflitzenden Kugeln zu verschließen. Louren sprang auf den Fahrersitz und preßte den Anlasser; er krächzte elend, wieder und wieder, und ich schloß fest meine Augen und betete. Louren ließ den Startknopf los, und in dem Schweigen hörte ich ihn mit bitterer Leidenschaft fluchen. Er versuchte es noch einmal, die Batterie wurde jetzt schwach, das Surren der Maschine verebbte und versagte dann völlig. Eine verirrte Kugel zerschlug unsere Windschutzscheibe und übersprühte uns mit glitzernden Glassplittern. Louren fluchte immer noch. Verzweifelt blickte ich auf die sinkende Sonne – nur noch eine halbe Stunde oder so Tageslicht. In der Dunkelheit würden die Hyänen von dem Grat herunterkommen. Als ob sie meine Gedanken gelesen hätten, verstärkte sich das Feuer von drüben. Ich hörte eine Kugel jaulend von dem Metall des Landrovers abprallen. Louren sprang vom Fahrersitz und öffnete wieder die Haube. Während er arbeitete, schrie ich zu Ndabuka hinüber: »Warum schießen Sie nicht, Sergeant? Sie gestatten ihnen, uns als Zielscheiben zu benutzen. Zwingen Sie sie in Deckung, verdammt!« »Die Munition ist fast zu Ende, Sir«, rief er zurück. Mich durchzuckte ein Angstschauer. Keine Munition, und die Dunkelheit brach schnell herein.
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Louren knallte die Haube zu und kletterte geduckt auf den Fahrersitz zurück. Er sah mich durch die zerschmetterte Windschutzscheibe an. »Sag ein anderes Gebet auf, Ben. Das letzte war Scheiße.« Und er drückte auf den Anlasser. Er schnaufte mühsam, aber der Motor sprang nicht an. »Das war’s wohl, Ben. Die beiden anderen Batterien sind kaputt.« »Sergeant – ihr alle. Schieben«, rief ich. »Los, helft mir.« Sie rannten zu mir hinter den Landrover. »Versuch’s im zweiten«, schrie ich Louren an, und ein Kugelstoß wirbelte stechende Steinsplitter um meine Beine. Wir stemmten gemeinsam unser Gewicht gegen den Landrover, und er holperte über den rauhen Boden zum Fluß zurück. »Jetzt«, schrie ich Louren zu. Der Landrover vibrierte und wurde langsamer, und wir warfen uns gegen ihn, um ihn in Gang zu bringen. Er zündete einmal. »Weiter!« keuchte ich. Unvermittelt dröhnte der Motor auf und wir heulten triumphierend. »Steigt ein«, brüllte Louren und lenkte den Landrover auf den Pfad zurück, aber ich lief nebenher. »Streichhölzer!« japste ich. »Was?« »Gib mir deine Streichhölzer, verdammt.« Ich schnappte sie aus seiner Hand und rannte zu den verkeilten Wracks zurück. Aus einem der geborstenen Tanks tröpfelte Benzin. Ich warf ein brennendes Streichholz hinein. Die saugende, röhrende Flammenflut leckte über mein Gesicht, versengte mir die Augenwimpern. Ich drehte mich schnell um und rannte hinter dem Landrover her, kletterte von hinten über die Ladeklappe hinein und fiel mit dem Gesicht zuerst auf den Haufen der toten und verwundeten Männer. Louren brach eine neue Bahn durch einen Gürtel von Dorn-
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büschen, um den verminten Pfad zu vermeiden, und fuhr später wieder auf ihn zurück. Das Feuer von dem Hügel erstarb, als der Wald uns aufnahm. Ich beobachtete die Säule aus schwarzem, rußigem Rauch, die in den roten Abendhimmel stieg; wenigstens hatte ich ihnen die Siegesbeute verdorben. Plötzlich bebte ich wie in hohem Fieber. Eisige Stöße schüttelten mich. »Geht’s dir nicht gut, Ben?« rief Louren mir zu. »Doch, prima«, antwortete ich und blickte auf die kläglichen, in Decken gehüllten Bündel zu meinen Füßen. Die ganze Nacht hindurch krochen wir südwärts, über den unebenen Grund holpernd und stoßend. Oft kamen wir vom Pfad ab und mußten ihn suchen, zitternd vor Kälte in der afrikanischen Nacht, wenn der Wind durch die zerbrochene Schutzscheibe blies. Im Morgengrauen, das rauchblau heraufzog, bat ich Louren, den Landrover anzuhalten. Die Polizisten halfen mir ein flaches Grab in dem sandigen Tal zwischen zwei Anhöhen zu schaufeln. Ich hob Xhai in der dunkelblauen Polizeidecke aus dem Landrover, er war leicht wie ein schlafendes Kind in meinen Armen. Ich legte ihn auf die Erde, und wir standen im Kreis und schauten auf ihn nieder. Blut war durch die Decke gesickert und zu einem schwarzen Fleck getrocknet. Ich nickte den Polizisten zu. »All right. Schaufelt das Grab zu.« Es war immer noch kalt, und ich zitterte in meinem dünnen Baumwollhemd. Ich folgte den Polizisten zurück zum Landrover. »Ich fürchte sehr, sie sind über den Fluß entkommen«, sagte mir der stellvertretende Polizeichef. »Wir hätten liebend gern diesen Burschen Mageba gefangen.« Wir waren vor zwei Tagen mit MacDonald im PolizeiHubschrauber nach Bulawayo geflogen. Louren war direkt nach Johannesburg weitergeflogen, während ich der rhodesi-
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schen Polizei half, so gut ich konnte. »Er steht ganz oben auf der Liste von Leuten, mit denen wir uns gern unterhalten möchten. Eine häßliche Sache, aber das wissen Sie ja besser als jeder andere.« Er sah mich durchdringend an. »Ja, ich kenne ihn«, stimmte ich zu. Meine Rolle bei der Flugzeugentführung war allgemein bekannt. »Was halten Sie von dem Mann?« »Er ist intelligent, und er hat Persönlichkeit. Irgend etwas geht von ihm aus.« Ich suchte nach Worten, um ihn zu beschreiben. »Er gehört zu den Männern, die um ihre Ziele kämpfen, und denen andere Männer folgen.« »Ja«, nickte der stellvertretende Polizeichef. »Das stimmt so ziemlich mit unseren eigenen Berichten überein. Seit er zu ihnen gestoßen ist, haben die feindseligen Aktivitäten unserer Freunde jenseits des Flusses zugenommen.« Er seufzte. »Ich dachte, wir würden ihn diesmal erwischen. Sie haben ihre Toten unbegraben liegenlassen und sind zum Fluß geflüchtet. Wir können sie nur um Minuten verpaßt haben.« Er ging mit mir zu dem Polizeiauto. »Was haben Sie von MacDonald gehört?« fragte ich, als wir neben dem Polizeiauto standen. »Er kommt wieder in Ordnung. Die Ärzte haben beide Beine retten können.« »Das freut mich.« »Ja, ein feiner Kerl. Ich wünschte, wir hätten mehr von der Sorte. Nebenbei, Doktor, es wäre uns lieber, wenn sie in dieser Sache den Mund hielten. Wir machen von solchen Zwischenfällen nicht gern allzuviel Aufhebens. Das würde ihnen nur in die Hände spielen. Es gibt ihnen die Publicity, die sie wollen.«
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Meine Rückkehr zur Mondstadt war eine Enttäuschung. Die anderen hatten meine Abwesenheit anscheinend kaum bemerkt. Jeder war mit sich und seiner Arbeit beschäftigt, Routine überall und keine wesentlichen Fortschritte. Auf einmal stellte ich dies alles hier, das ganze Projekt in Frage, fühlte mich nutzlos und von Herzen elend. Ich kam nicht einmal mit den Vorbereitungen für meine Rede vor der Königlich-Geographischen Gesellschaft zurecht: Ich weiß nicht, wie lange meine Verzagtheit noch angedauert hätte, wenn wir nicht die Entdeckung gemacht hätten, die uns auf so viele Fragen die Antwort lieferte und Geheimnisse enthüllte, die immer noch unsere Stadt umgaben. Wir fanden eine Reihe kleinerer, dickerer Tonkrüge im Archiv, die in der hintersten Nische sorgfältig versteckt waren. Ich wußte sofort, daß wir bei unserer Suche nach den alten Geheimnissen wieder einen bedeutenden Schritt vorwärts gekommen waren. Es war, als ob ich diese kleinen Krüge nur einfach verlegt und jetzt wiederentdeckt hätte. Ral leuchtete die Nische mit der Bogenlampe aus. Sämtliche Krüge waren versiegelt – eine Schlinge aus geflochtenem Golddraht verband Deckel und Bauch des Kruges, und in das Tonsiegel war die Figur eines Vogels geprägt. Ich beugte mich vor und blies vorsichtig den Staub von dem Siegel. Es zeigte einen hockenden Geier, den klassischen Seifenstein-Vogel der Zimbabwe-Kultur, mit Sonnenscheiben und Strahlen als Grundlage. Es traf mich fast wie ein Schock, dieses Emblem des modernen Rhodesien auf einem Siegel zu finden, das unbestreitbar punischen Ursprungs und zweitausend Jahre alt war – so als ob man den Löwen und das Einhorn des britischen Wappens in einem ägyptischen Grab der zwanzigsten Dynastie fände. Wir arbeiteten so schnell, wie es die Gebote der Wissenschaft erlaubten; wir beschrifteten und fotografierten die gro-
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ßen Krüge, die die Nische verdeckten, und als wir sie herunterhoben, entdeckten wir fünf der kleineren Krüge dahinter versteckt. Meine Erregung wuchs, meine Hoffnung auf eine bedeutende Entdeckung wurde immer stärker. Daß die Krüge versteckt und versiegelt waren, wies auf ihre Wichtigkeit hin. Es war, als ob ich nur auf diese Krüge gewartet hätte. Endlich war es soweit. Ich balancierte auf der obersten Sprosse der Stehleiter und versuchte, den ersten Krug zu fassen. »Er steckt fest«, sagte ich, da der Krug auf seinem Bord sich nicht rührte. »Sie müssen ihn angeschraubt haben.« Ich tastete vorsichtig hinter dem Krug nach einer Montierung, aber zu meiner Überraschung war keine vorhanden. Ich versuchte den nächsten Krug, er war ebenso fest auf dem Regal verankert wie die nächsten drei auch. »Höchst seltsam«, murmelte Ral, und ich versuchte es noch einmal beim ersten Krug. Ich begann im entgegengesetzten Uhrzeigersinn zu drehen. Es erforderte meine ganze Kraft, bevor sich der Krug bewegte. Er rutschte ein paar Zentimeter auf mich zu, und ich merkte, daß der Krug nicht mit Bolzen an dem Bord befestigt war, sondern von seinem eigenen Gewicht gehalten wurde. Er war fünfzigmal schwerer als die doppelt so großen Krüge. Gemeinsam zogen wir den Krug an die Vorderkante des Regals, dann hoben wir ihn vorsichtig herunter. Wir betteten ihn auf das mit Glaswolle gepolsterte Transportgestell, brachten ihn langsam ins Lager und plazierten ihn genau in die Mitte unseres großen Tisches. »Eldridge, würden Sie sich das hier mal ansehen?« »Einen Moment.« Eldridge fuhr fort, eine entrollte Schrift durch seine Lupe zu betrachten, schließlich legte er das Glas beiseite und schaute auf. Dann reagierte er sofort. Ich sah Glitzern hinter seinen Brillengläsern. »Wo habt ihr ihn gefunden? Wie viele sind es? Er ist versie-
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gelt.« Seine Hand zitterte richtig, als er das Tontäfelchen berührte. Sein Ton alarmierte die anderen, und sie kamen alle herbeigerannt. Wir standen in einem ehrerbietigen Kreis um den Krug. »Nun, Professor Hamilton, worauf warten wir?« fragte ich. »Ja, worauf?« entgegnete er, und wir begannen mit der Arbeit. Wir kniffen den Golddraht durch, lockerten das Siegel und hoben den Deckel ab. Drin sahen wir den üblichen, leinenumwickelten Zylinder. Aber es fehlte jede Andeutung des unangenehmen Ledergeruchs. Ich kippte ihn vorsichtig auf die Seite, zog die schwere Rolle heraus. Die Hülle war gut erhalten und ließ sich in einem Stück lösen. Niemand sprach, als wir gebannt auf den Zylinder blickten. Ich hatte vermutet, was der Krug enthalten würde. Es gibt nur ein Metall, das so schwer ist. Aber trotzdem durchzog mich ein köstlicher Schauer, als meine Erwartung erfüllt wurde. Es war ebenfalls eine Schriftrolle, aber nicht aus Leder. Diese Rolle war eine fortlaufende gewalzte Folie aus purem Gold. Sie war ein sechstel Zentimeter dick, fünfundvierzig Zentimeter breit und etwa acht Meter lang. Sie wog 1954 Feinunzen mit einem spezifischen Wert von mehr als 85 000 Dollar. Wir hatten fünf davon – 425 000 Dollar, aber das war nur ein Bruchteil des Wertes, wenn man den Inhalt in Betracht zog. Das schöne weiche Metall entrollte sich so bereitwillig, als ob es danach dränge, uns seine alten Geheimnisse mitzuteilen. Die Schriftzeichen mußte ein Künstler mit einem scharfen Stichel eingeritzt haben. Das Licht reflektierte so stark auf der Oberfläche, daß wir geblendet waren. Eldridge gab Lampenschwarz darüber und wischte den Überschuß fort. Jetzt hob sich jedes Zeichen gestochen scharf gegen den goldenen Hintergrund ab. Er beugte
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sich tief über die engen punischen Zeilen. Dann begann er zu lesen. Es wurde sofort klar, daß wir die erste Rolle von einer Serie gewählt hatten und daß Eldridge die Anmerkung des Schreibers vorlas. »Gehe du in mein Lagerhaus und hole von dort fünfhundert Finger des feinsten Goldes von Opet. Fertige davon eine Rolle an, die nicht verdirbt, damit diese Gesänge auf ewig leben. Damit der Ruhm unseres Volkes ewig lebe in den Worten unseres geliebten Huy, Sohn des Amon, Hoherpriester des Baal und Schützling der Astarte, Träger des Lebenskelches und Axtkämpfer aller Götter. Laßt die Menschen seine Worte lesen und jubeln, wie ich gejubelt habe, laßt die Menschen seine Gesänge hören und weinen, wie ich geweint habe, laßt sein Lachen durch alle Jahre hallen und seine Weißheit ewig leben. Also sprach Lannon Hycanus, siebenundvierzigster GrauLöwe von Opet, König von Punt und der vier Königreiche, Beherrscher der südlichen Seen und Wasserwege, Herr der Grasebenen und der Berge dahinter.« Eldridge hörte auf zu lesen und schaute sich im Kreis unserer gespannten Gesichter um. Wir waren alle stumm. Das war etwas anderes als die trockenen Rechnungen, die Handelslisten und Ratsbeschlüsse. Diese Rolle war getränkt von dem Geist des Volkes. Eldridge las weiter, während wir völlig hingerissen lauschten. Die Stunden vergingen wie im Flug, als wir die Gedichte Huy Ben-Amons hörten, wie sie nach zweitausend Jahren wieder erklangen. Opet hatte seinen ersten Philosophen und Historiker hervorgebracht. Als ich den Worten dieses Dichters aus ferner Zeit zuhörte, spürte ich eine seltsame geistige Verwandtschaft mit ihm. Ich verstand seinen Stolz und seine kleinen Eitelkeiten, ich bewunderte seine kühne Einbildungskraft, vergab ihm die
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wilderen Flüge seiner Phantasie und seine Übertreibungen, und ich fühlte mich ganz und gar in seine Zeit verwoben. Seine Geschichte begann damit, wie Karthago von den Wölfen Roms umzingelt und belagert wurde, als die Legionen des Scipio Aemilianus mit dem Ruf »Karthago muß sterben« auf die Mauern der blutenden Stadt vorrückten. Er erzählt, wie Hasdrubal ein schnelles Schiff an der Mittelmeerküste entlang zu Hamilcar schickte, dem letzten Sproß der Barca, einer Familie, die schon vor langer Zeit aus dem Machtbereich und der Politik ausgeschieden war; Hamilcar lag mit einer Kriegsflotte von siebenundfünfzig großen Schiffen vor Hippo an der nordafrikanischen Küste. Wie der besiegte Feldherr nach Hilfe rief und sie ihm vom Sturm und von ungünstigen Winden verwehrt wurde. Scipio brach in die Stadt ein, und Hasdrubal starb mit einem blutigen Schwert in der Hand, von römischen Legionären unter dem großen Altar im Tempel Ashmuns in Stücke gehackt. Eldridge hielt inne, und ich fand meine Stimme wieder. »Das gibt uns ein erstes Datum. Der Dritte Punische Krieg und die endgültige Zerstörung Karthagos, 146 v. Chr.« »Sie werden wahrscheinlich feststellen, daß ungefähr um diese Zeit auch der Opet-Kalender anfängt«, stimmte Eldridge zu. »Fahren Sie fort«, flehte Sally. »Bitte lesen Sie weiter.« Zwei Biremen entkamen dem Gemetzel, der Plünderung und dem Untergang Karthagos. Sie flohen unter den großen Winden zu Hamilcar, der bekümmert und von den Stürmen gefangen vor Hippo lag; sie berichteten ihm, daß Hasdrubal tot war und Scipio die Stadt den Göttern der Unterwelt geweiht hatte, daß er sie niedergebrannt, ihre Mauern eingerissen, die 50 000 Überlebenden in die Sklaverei verkauft und die Felder mit Salz bestreut und jedermann unter Androhung der Todesstrafe verboten hatte, in den Ruinen zu wohnen.
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»Ein solch großer Haß, eine solch grausame Tat konnte nur dem Herzen eines Römers entspringen«, klagte der Dichter, und Barca Hamilcar betrauerte Karthago zwanzig Tage und zwanzig Nächte, bevor er nach seinen Seekapitänen schickte. Sie kamen zu ihm, alle neun, und Huy, der Dichter, nannte sie – Zadal, Hanis, Philo, Habbakuk Lal und die anderen. Einige wollten kämpfen, aber die meisten wollten fliehen, denn was konnte der klägliche Rest der karthagischen Macht gegen die Legionen Roms und seine schreckliche Galeerenflotte ausrichten? Es schien keine Zuflucht für einen Karthager zu geben, die ganze Welt war dem gepanzerten Rom Untertan. Da erinnerte Habbakuk Lal, der alte Steuermann, an die Fahrt, die Hanno dreihundert Jahre zuvor durch das Tor des Herkules in ein Land unternommen hatte, wo die Jahreszeiten umgekehrt waren, wo Gold gleich Blumen auf den Felsen wuchs und Elefanten in großen Herden auf den Ebenen lebten. Sie alle hatten den Bericht gelesen, den Hanno verfaßt und auf die Tafeln im großen Tempel des Baal Hammon in Karthago geschrieben hatte, der jetzt von den Römern zerstört war. Sie erinnerten sich, daß er von einem Fluß und einem riesigen See erzählte, wo ein sanftes gelbes Volk ihn willkommen geheißen hatte und ihm Gold und Elfenbein für Perlen und Tuch gab, und daß er dort verweilt hatte, um seine Schiffe zu reparieren und eine Kornernte anzupflanzen. »Es ist ein gutes Land«, hatte er geschrieben. »Und reich.« So hatte im ersten Jahr des Exodus Barca Hamilcar eine Flotte von 59 großen Schiffen, jedes mit 150 Ruderern und Offizieren an Bord, westlich unter den ragenden Säulen des Herkules und dann südlich in ein unbekanntes Meer geführt. Mit ihm fuhren 9000 Männer, Frauen und Kinder. Die Reise dauerte zwei Jahre, während deren sie langsam an der Westküste Afrikas vordrangen. Tausend Schwierigkeiten und Gefah-
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ren waren zu überwinden. Wilde Stämme schwarzer Männer, Tiere und Krankheiten, wenn sie an Land gingen, Untiefen, Strömungen, Winde und Windstillen auf dem Meer. Zwei Jahre nach der Abfahrt segelten sie in die Mündung eines weiten, ruhigen Flusses und folgten seinem Lauf sechzehn Tage, wobei sie ihre Schiffe durch die Untiefen zogen, bis sie schließlich den riesigen See erreichten, von dem Hanno berichtet hatte. Sie landeten am fernsten Ufer unter hohen Felsklippen, und Barca Hamilcar starb am Sumpffieber, das er aus den pestverseuchten Ländern des Nordens mitgebracht hatte. Sein unmündiger Sohn Lannon Hamilcar wurde zum neuen König gewählt, die neun Admirale waren seine Berater. Sie nannten ihr neues Land Opet, nach dem legendären Goldland, und sie bauten ihre erste Stadt an einer Stelle, wo ein tiefes Wasserbecken im Fels lag. Das Becken und die Stadt wurden der Göttin Astarte geweiht. »Mein Gott, es ist vier Uhr.« Wir hatten fast die ganze Nacht gelesen. Ich war total erschöpft, aber sehr glücklich. Ich hatte meinen Plinius gefunden, jetzt konnte ich nach London ziehen. Ich hatte alles. Wie schnell die Tage jetzt vergingen. Jeden Morgen vor Sonnenaufgang saß ich schon bei der Arbeit. Meine Schreibmaschine klapperte unaufhörlich, und die vollgeschriebenen Blätter stapelten sich neben mir. Den Nachmittag und Abend verbrachte ich jeweils im Magazin, um den Gesängen aus den goldenen Büchern des Dichters Huy zu lauschen. Vor dem ersten April würde die Übersetzung auf gar keinen Fall fertig sein, wir mußten schon froh sein, wenn wir bis dahin die ersten zwei der fünf Rollen schafften. Ebenso unmöglich war es aber auch, das Symposion zu verschieben, das der Rat der Königlichen Geographischen Gesellschaft für dieses Datum gebilligt hatte. Die Werbeabteilung der Londoner Niederlassung von Anglo-Sturvesant hatte die Vorbereitungen abgeschlossen, Ein-
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ladungen waren verschickt, Unterbringung, Transport und hundert andere Details arrangiert und bestätigt. In einem Wettlauf gegen die Zeit mußte ich soviel an Fakten und Legenden aus dieser Überfülle ordnen und präsentieren, wie irgend möglich. Immer galt es dabei, die Gefahr der Romantisierung des Themas zu vermeiden. Die Worte Huys erregten mein Gefühl, ich wollte seinen überschwenglichen Stil nachahmen, so wie er seine Helden preisen und die Schurken züchtigen. Wir alle in der Mondstadt versenkten uns in die Geschichte, sogar Eldridge Hamilton, der einzige Nichtafrikaner unter uns, war von ihrer Erhabenheit ergriffen. Wie oft stellte ich fest, daß unsere jüngste Vergangenheit nur ein Nachhall der Mühen und Abenteuer dieser Männer von Opet war. Wie eng schienen sie mit uns verbunden trotz der Spanne von fast zweitausend Jahren. Während der ersten fünf Jahre blühte die Siedlung an den Ufern des Sees. Die Männer von Opet errichteten Häuser aus Holz und Lehm und lebten sich in ihrem neuen Land ein. Sie knüpften Handelsbeziehungen mit den Yuye an, dem gelben Volk, das Hanno dreihundert Jahre zuvor beschrieben hatte, große sehnige Männer mit geschlitzten Augen und feinen Gesichtszügen. Sie waren offensichtlich die Vorfahren der Hottentotten, ein Weidevolk mit Herden von Ziegen und kleinen Buschrindern. Sie waren Jäger und Fallensteller und sammelten die angeschwemmten Goldkörnchen in den Kieselbetten der Flüsse. Im Namen des unmündigen Königs schloß Habbakuk Lal einen Vertrag mit Yuye, König der Yuye einen Vertrag, der den Männern von Opet für fünf Ballen Leinen und zwanzig Eisenschwerter das gesamte Land zwischen dem großen Fluß und den Hügeln von Tuya garantierte. Äußerst zufrieden kehrte Habbakuk Lal mit fünf seiner schnellsten Schiffe voll Gold und Elfenbein zum Mittelmeer zurück. Er legte die Rückreise in neun Monaten zurück, wobei
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er Stützpunkte an der Westküste Afrikas einrichtete, und er brachte eine Ladung von Perlen, Leinen und Luxusgütern der Zivilisation mit. Er hatte als erster die Handelsroute befahren, auf der die Schätze des südlichen Afrika in die bekannte Welt fließen sollten, aber der schlaue alte Seebär verbarg seine Spuren sorgfältig vor Roms rachedurstigen Augen. Er brachte auch neue Leute für die Kolonie in Opet mit. Metallurgen, Steinmetzen, Schiffsbauer und adelige Abenteurer. Der dünne Strom des Yuye-Goldes und Elfenbeins versiegte jedoch bald, die seit alters angesammelten Vorräte erschöpften sich. Habbakuk Lal führte eine Gruppe von hundert Männern in die Stadt der Yuye. Er beantragte das Recht, im ganzen Königreich der Yuye schürfen und jagen zu dürfen, und der König stimmte bereitwillig zu. Er besiegelte diesen Vertrag mit seinem Fußabdruck auf einer Rolle, die mit unverständlichen Schriftzeichen bedeckt war. Dann ordnete er ein Festessen für seine vornehmen Gäste an. Bier wurde in großen Kürbissen herbeigeschafft, ganze Ochsen rösteten über den offenen Feuern, und die biegsamen YuyeMädchen führten ihre Tänze vor, ihre nackten, gelben Körper glänzten im Sonnenlicht. Auf dem Höhepunkt des Gelages erhob sich Yuye, der König, und wies mit der Faust auf die Männer, deren Forderungen immer massiver wurden. »Tötet die weißen Teufel«, schrie er, und seine Krieger, die vor den Lehmmauern der Stadt gelauert hatten, stürzten sich auf sie. Habbakuk Lal erkämpfte sich mit seiner wild herumwirbelnden Streitaxt den Fluchtweg. Drei seiner Männer folgten ihm, aber die anderen wurden niedergerissen und ihre Schädel von den Kriegskeulen der Yuye zerschmettert.
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Habbakuk Lal und seine drei Tapferen konnten ihren Verfolgern entrinnen und erreichten das Ufer des großen Flusses, wo ihr Schiff ankerte. Unter weißen Segeln dahinfliegend trugen sie die Warnung nach Opet. Als die 40 000 Mann starken Yuye-Regimenter durch den Paß der roten Klippen drängten, stießen sie auf 5000 Männer von Opet. Den ganzen Tag lang brachen die gelben Horden wie die Wellen des Meeres über die Reihen der Bogenschützen von Opet herein, und den ganzen Tag über flogen die Pfeile wie Schwärme von Heuschrecken. In dem Augenblick, als die Yuye sich erschöpft zurückzogen und ihre Entschlossenheit gebrochen war, öffnete Habbakuk Lal seine Reihen und schickte seine Axtkämpfer vor. Unerbittlich jagten sie ihre Opfer, bis die Dunkelheit das Schlachten beendete. Yuye starb in den Flammen seiner brennenden Stadt, sein Volk wurde versklavt. Das ist das Gesetz Afrikas, eines Landes, das die Starken begünstigt, wo nur der Löwe stolz einhergeht. Die Kolonie, die sich still gefestigt, Wurzeln geschlagen und ihre Grundfesten gesichert hatte, nahm einen ungeheuren Aufschwung. Ihre Metallurgen suchten nach den Metalladern, ihre Jäger schweiften weit umher, ihre Viehzüchter paarten die Buschrinder der Yuye mit den vollblütigen Bullen, die Habbakuk Lals Schiffe aus dem Norden brachten. Ihre Bauern säten das Korn und bewässerten es vom See. Um ihre Bürger und Götter zu schützen, begann man mit dem Bau der Mauern von Opet. Das Land und seine Schätze wurden unter den neun adeligen Familien aufgeteilt, den Seekapitänen des Exodus, die jetzt den Rat des Königs bildeten. Habbakuk Lal starb schließlich im hohen Alter; schon lange zuvor war der flammend rote Turm seines Haares aschgrau geworden. Aber sein ältester Sohn, Admiral der Flotte von Opet, übernahm den Namen des Vaters. Ein zweiter Habbakuk
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Lal leitete die wachsende Flotte Opets bei Handelsfahrten und Erforschungen. Seine Schiffe befuhren nach wie vor die bekannten Seewege nach Norden, aber sie segelten auch südwärts, dorthin, wo das Land einen Bogen beschrieb und ein großer, flachgipfeliger Berg das südliche Kap bewachte. Hier zerstörte ein plötzlicher Orkan aus dem Nordwesten die halbe Flotte von Opet an den Felsen unterhalb des Berges. Die Priester sahen darin ein Omen der Götter, nie wieder sollte ein Schiff von Opet sich so weit nach Süden vorwagen. Jahrhunderte vergehen. Könige besteigen den Thron und sterben dahin. Neue Gewohnheiten entstehen, andere Götter kommen und bringen andere Riten, ein neues Volk entsteht durch die Blutmischung von Opet und Yuye. Aber nur die adeligen Familien dürfen regieren. Die Mischlinge genießen alle Privilegien und haben alle bürgerlichen Verantwortlichkeiten, außer der Lenkung von Staatsgeschäften. Das ist dem alten, reinen und makellosen Blut vorbehalten. Als ein Nebenzweig dieses Adels wächst eine Sippe von Krieger-Priestern heran. Das sind die Söhne Amons, und es belustigte mich, daß diese Sippe ihren Ursprung in einem Mann aus dem alten Königreich hatte, aus dem Königreich von Tyrus und Sidon also, an den Grenzen Kanaans. Diese Priester waren wahrscheinlich jüdischer Herkunft. Neue Helden treten auf und kämpfen an den Grenzen oder schlagen einen Sklavenaufstand nieder. Die alte Kunst des Elefantenzähmens wird weitergeübt, und des Königs Elefanten bilden die Spitze seiner Armee und helfen bei schweren Bauarbeiten und der Goldförderung. Die goldenen Bücher vermittelten zuweilen einen erregend lebendigen Kontakt mit der Vergangenheit. Huy beschreibt die Anordnung der Mauern und der Türme des Baal. Sie stimmten genau mit den Fundamenten überein, die wir bloßgelegt hatten.
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Huy gibt die Dimensionen der Mauern an mit zehn Metern Höhe und vier Meter Dicke, und wieder fragten wir uns, wie sie verschwunden waren. An einer anderen Stelle beschreibt er eine Schatzgabe der ägyptischen Agenten in Cadiz für den Grau-Löwen, wie der König jetzt genannt wird; unter den Stücken ist eine goldene, wunderschön mit den Zeichen des ewigen Lebens ziselierte Schale. Das war unser Kelch, den wir in den Tempelruinen entdeckt hatten. Ich sah seine verbeulte Schönheit jetzt mit anderen Augen. Bei allen Gesängen Huys hatten wir zu rätseln, wie die modernen Namen der Tiere und Orte lauteten, die er erwähnt. Städte und Garnisonen waren inzwischen längst verschwunden oder zu jenen mysteriösen Steinhaufen geschrumpft, die die Landschaft des zentralen Afrika durchsetzen. Wir hörten mit Entzücken, wie die Männer von Opet ihre Suche nach Land begannen, wo Wein und Oliven gedeihen könnten, Öl und Wein aus dem Norden waren wertvoller als ihr Gewicht in Gold, wenn sie in den Schiffen des fünften Habbakuk Lal die Reise vollendet hatten. Die Gärtner und Winzer des Grau-Löwen entdeckten fern im Osten eine Kette hoher Berge, Berge des Nebels und kühler, reiner Luft. Man beginnt Stufen anzulegen und die sanften Hänge zu erschließen; tausende von Sklaven arbeiten an dem Projekt. Die schnellsten Schiffe eilen mit Pflanzensetzlingen in Tonkrügen südwärts, Elefanten tragen die Krüge weiter zu den Bergen von Zeng, und von dort kommt der süße rote ZengWein, den der Dichter Huy so liebevoll preist. Es folgt eine Beschreibung vom Anlegen der Terrassengärten, die die Inyanga-Berge bis auf den heutigen Tag bedecken. Die meisten Tiere und wilden Vögel von Punt und den vier Königreichen konnten wir aufgrund der Beschreibungen er-
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kennen. Der geheiligte Sonnenvogel, der Fleischopfer zu Baal trug und hoch in den wolkenlosen Himmel flog, bis er aus der Reichweite des menschlichen Auges verschwand, war offensichtlich der Geier. Das erklärte die Bedeutung der geschnitzten Geiervögel und des Siegels an den goldenen Rollen. Der Geier war das Emblem der Krieger-Priester, der Söhne von Amon, Ben-Amon. Huy hatte sein persönliches Siegel an die Krüge mit den Rollen geheftet. Der Dichter beschreibt andere Tiere, bei denen es sich um inzwischen ausgestorbene Arten handeln mußte. Die wichtigste darunter war der Grau-Löwe; denn der König nahm seinen Titel von einem wirklichen Tier. Es war eine große Raubkatze, die an den südlichen Ufern des Sees in den Schilffeldern lebte. Bereits im Opet-Jahr 216 wurde ein Gesetz zum Schutz dieses Tieres erlassen, das schon damals von der Ausrottung bedroht war. Dieser Schutz wurde ihm wegen der Rolle zuteil, die es bei dem Einsetzungsritual eines neuen Königs spielte; Huy nannte die Zeremonie den »Fang des Grau-Löwen«. Er beschreibt ihn als rötlichbraun-grau, mit einer Gesichtsmaske aus schwarzen und weißen Linien und einer Schulterhöhe von eineinhalb Metern. Seine furchtbaren Zähne ragten in einem Satz großer, gekrümmter, fünfundzwanzig Zentimeter langer Fänge aus dem Kiefer. Obwohl die anderen Huys Wahrhaftigkeit bezweifelten, glaubte ich eine Beschreibung des riesigen schwertgezähnten Luchses zu erkennen. Man hatte auf der oberen Ebene der Knochen in den Sterkfontein-Höhlen das Skelett eines solchen Tieres entdeckt. Huy beschreibt, wie der Handel mit lebenden Tieren anfängt. Ihr alter Feind, Rom, beraubte Nordafrika der Löwen, Nashörner und Elefanten für seine Zirkusspiele. Hanis, der Jäger der südlichen Grasebenen, entwickelte eine Methode, diese Tiere lebend zu fangen und sie mit einem Extrakt aus dem Samen des wilden Hanfes zu betäuben. In einem koma-ähnlichen Zu-
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stand wurden sie dann auf die Schiffe Habbakuk Lals verladen und schnell von Stützpunkt zu Stützpunkt die Küste entlang nach Norden gebracht. Sie dienten der sensationshungrigen Bevölkerung Roms als Unterhaltung und erzielten astronomische Preise. Im Opet-Jahr 450 hat die Nation den Zenith ihres Reichtums und ihrer Macht erreicht, aber sie ist zu stark gewachsen. Ihre Grenzen werden vorgeschoben, ihre Sklavenbevölkerung reicht kaum, um die mannigfaltigen Unternehmungen zu tragen. In dieser verzweifelten Situation schickt der Grau-Löwe eine Sklavenexpedition auf einen Zehn-Tages-Marsch in das Gebiet nördlich des großen Flusses. Hasmon Ben-Amon kehrt mit 500 prachtvollen schwarzen nubischen Gefangenen zurück und verlangt seine Belohnung vom Grau-Löwen. Wir waren am Ende von Huy Ben-Amons zweitem goldenen Buch angelangt, und der Lear-Jet wartete auf uns. Widerstrebend mußten wir unsere Lesungen unterbrechen und gehen. Während Ral und Leslie blieben, um die Ausgrabungsstätte zu überwachen, flogen Eldridge, Sally und ich ab, um den internationalen Linienflug von Luanda zu nehmen. Wir mußten für 200 Pfund Übergewicht unseres Gepäcks bezahlen und für das Ticket des Polizeiinspektors aus Botswana, den seine Regierung geschickt hatte, um ihre Interessen an den alten Relikten zu wahren, die wir bei uns hatten.
In London hatten wir einen freien Tag, einen kostbaren Tag für uns selbst. Als wir ins Dorchester zurückkamen, war es nach Mitternacht, aber Sally war immer noch aufgedreht von dem ersten Eindruck dieser phantastischen Stadt. »Ich bin noch zu aufgeregt, um zu schlafen, Ben. Was sollen
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wir tun?« »Ich habe eine Flasche Champagner in meinem Appartement«, winkte ich mit dem Zaunpfahl, und sie sah mich mit einem amüsierten Augenzwinkern an. Wir liebten uns zum ersten Male seit sechs Monaten. Wenn überhaupt möglich, war das für mich ein noch erschütternderes Erlebnis als das erstemal. Hinterher lag ich physisch und seelisch erschöpft da, und Sally ging mit den leeren Gläsern in den Wohnraum. Sie brachte sie bis zum Rand mit hellem Wein gefüllt zurück und stand nackt und lieblich über mir. »Ich weiß nicht, warum ich das getan habe«, sagte sie, und reichte mir ein tulpenförmiges Glas. »Tut es dir leid?« fragte ich. »Nein, Ben. Ich habe nie etwas bereut, was zwischen uns beiden geschehen ist. Ich wünschte nur –« Aber sie hielt inne und nippte statt dessen an ihrem Glas und setzte sich neben mich aufs Bett. »Du weißt, daß ich dich liebe«, sagte ich. »Ja.« Sie blickte mich mit einem Ausdruck an, den ich nicht ergründen konnte. »Ich werde dich immer lieben«, sagte ich. »Was immer passiert?« fragte sie. »Was immer passiert«, sagte ich. »Ich glaube dir, Ben«, nickte sie, die Augen dunkel sinnend und grün. »Danke dir.« »Sally –« begann ich wieder, aber sie legte einen langen spitzen Finger auf meine Lippen und schüttelte den Kopf, so daß die weißen dunklen Schwingen ihres Haares an ihre Wangen schlugen. »Sei geduldig, Ben. Bitte, sei geduldig.« Aber ich hob ihren Finger von meinem Mund. »Sally –« Sie beugte sich vor und verschloß meine Lippen mit einem Kuß, stellte ihr Glas auf den Boden neben mein Bett, nahm mir meines aus den widerstandslosen Fingern und stellte
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es daneben. Dann liebte sie mich mit solch hinreißendem Geschick und Feingefühl, daß ich nicht mehr fragen noch protestieren konnte.
Um neun Uhr am nächsten Morgen packte ich Sally in ein Taxi. Lourens Maschine war schon gelandet, als ich zur Internationalen Ankunftshalle lief. Bobby Sturvesant stieß einen schrillen Schrei aus und flog mir um den Hals. Hilary trug einen weichen honigfarbenen Nerz, der unter dem Glanz ihres Haares schäbig wirkte, und über ihr ragte Louren, seine Haarmähne von der Sonne zu Weißgold gebleicht und das Gesicht nußfarben gebräunt. »Ben, du alter Bastard.« Er packte mich bei der Schulter. »Gott sei Dank, daß du es geschafft hast. Würdest du für mich auf Hil und die Kinder aufpassen. Ich muß ein paar Dinge erledigen, dann sehe ich dich im Dorchester.« Zwei große blitzende Limousinen warteten unter dem Vorbau. Ich saß Hilary gegenüber auf dem Klappsitz, den ich einem der K.J.M. vor der Nase weggeschnappt hatte. Es freute mich, wie blendend sie aussah. Sie hatte das helle, leuchtende Aussehen des Glücks, das man nicht mit Kosmetika und Augenstift vortäuschen kann. »Wir waren zehn Tage auf den Inseln, Ben. Es war wunderbar.« Sie blickte bei der Erinnerung daran ganz weich träumerisch drein. »Unser Hochzeitstag. Schau!« Und sie hob ihre linke Hand, die geziert war mit einem Ring aus rotem Gold und einem Solitär-Diamanten. Ich war an Lourens Lebensstil gewöhnt, aber selbst ich blinzelte. Der Diamant war bläulich-weiß und sah
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makellos aus, er wog mit Sicherheit nicht unter fünfundzwanzig Karat. »Er ist wunderschön, Hilary.« Und ohne rechten Grund dachte ich: »Je tiefer die Schuld, desto größer das Geschenk.« Als wir im Dorchester ankamen, stieß Hilary laut den Atem aus und bedeckte ihren Mund vor Überraschung angesichts der barocken Üppigkeit der Oliver-Messel-Suite. »Wau!« Sie ließ sich in einen der enormen Sessel fallen. »Du kannst einen Drink holen, Ben, Lieber. Ich brauche einen.« Während ich eingoß, fragte ich unnötigerweise: »Deine Probleme waren also vorübergehender Natur, Hil?« »Ich habe vergessen, daß ich je welche hatte, Ben. Er ist besser, als er je war.« Eldridge Hamilton wartete auf dem Platz vor der Königlichen Geographischen Gesellschaft auf mich, er war in seinem hellroten Mini aus Oxford gekommen. Obwohl er wie üblich seinen Tweed-Anzug mit den Ellbogenflicken trug, fieberte er dem kommenden Tag entgegen. Wir diskutierten die Eröffnung des Symposions, die für zwei Uhr dreißig am folgenden Nachmittag angesetzt war, und vergewisserten uns, daß die Ausstellungsstücke, die wir aus Afrika mitgebracht hatten, gut im Tresorraum der Gesellschaft aufbewahrt waren, dann brachte mich Eldridge an den Rand einer Herzattacke, als er mich zu Londons Hauptverkehrszeit in seinem satanischen roten Mini zum Dorchester fuhr. Wir hatten beide noch Herzklopfen, als ich ihn in die Cocktail-Bar führte und ihm zwei doppelte Gilbey-Gins verpaßte; dann verließ ich ihn. Ich hatte Pläne für den Abend, und es war schon nach sechs. Sally kam aus dem Lift, als ich einsteigen wollte. Ich entschuldigte mich im stillen bei ihrem Friseur. Er hatte ihr Haar locker und wolkig liegen gelassen. Auch ihr Gesicht hatte man
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irgendwie verzaubert. Es bestand nur aus Augen und einem weichen, rosaroten Mund. Sie trug ein bodenlanges Kleid aus fließendem grünen Material, das zum Grün ihrer Augen paßte. »Ben«, sie trat schnell auf mich zu. »Gut, daß ich dich finde. Ich habe dir einen Zettel unter die Tür geschoben. Wegen heute abend, es tut mir schrecklich leid, aber ich kann nicht, Ben.« »Macht nichts, Sal. Wir waren sowieso nicht fest verabredet«, sagte ich, indem ich meine Enttäuschung hinter einem Grinsen versteckte, als meine Pläne wie feuchter Blätterteig einstürzten. »Ida muß sie treffen. Es sind alte Freunde, Ben. Sie sind eigens aus Brighton gekommen.« Ich fuhr hoch zu Lourens Suite, schwatzte mit Hilary und den Kindern und lungerte auf seine Rückkehr wartend herum. Um sieben Uhr dreißig rief er an, und Hilary gab mir den Hörer, nachdem sie mit ihm gesprochen hatte. »Ich hatte gehofft, wir würden zusammen zu Abend essen, Ben, aber ich stecke hier weiß der Himmel wie lange fest. Sie haben die Steuerklausel in dem Kontrakt völlig vermasselt. Wir versuchen ihn jetzt neu aufzusetzen. Warum führst du nicht statt dessen Hilary zum Diner aus?« Aber sie schützte Müdigkeit vor und verkündete ihre Absicht, früh schlafen zu gehen. Ich aß allein. Ich fühlte mich noch einsamer und verzagter, rief in Sallys Zimmer an, als ich wenige Minuten vor Mitternacht zurückkam, und noch einmal eine Stunde später, beide Anrufe wurden nicht beantwortet. Es war beinahe Morgen, bevor ich einschlief. Louren weckte mich unverschämt gesund und herzhaft um acht Uhr morgens und brüllte ins Telefon: »Heute ist der große Tag, Ben.« Ich schwamm auf einer schäumenden Woge der Erwartung durch den Morgen und fühlte mich wie ein Löwe, als wir mittags hinuntergingen, um unsere Gäste zu begrüßen. Ich hatte
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meine glattrasierten Wangen mit einer doppelten Handvoll Dior-Rasierwasser gesalbt, ich trug meinen dunklen KaschmirAnzug mit weißem Hemd und kastanienbrauner Krawatte, und Hilary hatte mir eine Nelke fürs Knopfloch besorgt. Louren und ich traten gemeinsam in den privaten Gesellschaftsraum. Die summende Unterhaltung erstarb. Nur eine Stimme fuhr laut fort; Wilfred Snell stand in einem Kreis seiner Schmeichler, sie weit mehr als lebensgroß überragend. Seine Beine waren gespreizt und sein Körper in der steifen Haltung einer hochschwangeren Frau, um ein Gegengewicht zu dem monströsen Wanst zu bilden. Sein Gesicht hing ihm in einer Serie von Kinnen wie Kräuselungen in einem Teich auf die Brust. Sein Mund war ein tiefpurpurner Schlitz in der weißen Fläche, locker, ständig offen, selbst wenn er nicht redete, was selten der Fall war. Sein Haar bestand aus einem wilden, geringelten Büschel, aus dem ein sanfter weißer Schuppenregen auf seine Schultern und Rockaufschläge hinunterfloß, und er war behangen mit Sachen – um den Hals eine Lesebrille wie das Fernrohr eines Panzerkommandanten, einen goldenen Zigarrenabschneider aus der Geldtasche, ein Monokel an einem schwarzen Band vom Rockaufschlag, eine Uhrkette und einen Schlüsselring. Jemand drückte mir ein Glas in die Hand. Ich blickte mich um. »Whisky macht Mut«, lächelte Sally mir zu. »Ich brauche keinen, Schatz.« »Gehen wir und reden mit ihm«, schlug sie vor. »Ich wollte das Vergnügen etwas ausdehnen.« Wir sahen ihn offen an, diesen selbsternannten Trommler der Archäologie, von dessen halbem Dutzend Bücher 500 000 Exemplare verkauft waren – Bücher, die den populären Geschmack genau trafen. Bücher, in denen er gefährlich mit den Gesetzen des Plagiats und der kriminellen Verleumdung flirte-
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te; Bücher, in denen sich Gefasel als Bildung verkleidete und Fakten gewaltsam zurechtgerückt, ignoriert oder raffiniert geändert wurden, um die These zu unterstützen. Ich bin kein nachtragender Mensch, aber als ich diesen großen, aufgeblähten Scharfrichter anschaute, diesen Folterknecht, diesen – nun, als ich ihn anschaute, spürte ich das Blut hinter meinen Augen kochen und zischen. Ich ging direkt auf ihn zu. Alle im Raum merkten, was geschah, sie hatten diese Konfrontation wahrscheinlich von dem Tag an erhofft, als sie ihre Einladungen erhielten. Der Kreis um den Meister öffnete sich weit genug, damit ich mich seiner Erhabenheit nähern konnte. »Es besteht kein Zweifel –«, kreischte Wilfred, wobei seine Augen mehrere Fuß über meinen Kopf streiften. Er schickt gewöhnlich jeder seiner Feststellungen eine Anzeige voraus. »Wie ich schon immer gesagt habe –«, seine Stimme drang bis in die fernsten Winkel. Ich wartete geduldig. Ich habe ein sorgfältig einstudiertes Lächeln für solche Gelegenheiten. »Man ist sich darüber einig –« Eine solche Empfehlung von Wilfred bedeutet gewöhnlich, daß die betreffende Theorie Gegenstand einer heißen Kontroverse bildet. »Um die Wahrheit zu sagen –« Schließlich blickte er nach unten, hörte mitten im Satz auf, klemmte sich das Monokel ins Auge, und entdeckte zu seiner Freude und Überraschung seinen alten Freund und Kollegen Dr. Benjamin Kazin. »Benjamin, mein lieber kleiner Kerl«, rief er, und das Diminutiv stach wie ein Pfeil im Nacken des Bullen. »Wie schön, Sie zu sehen!« »Wir freuen uns schrecklich, daß Sie kommen konnten«, entgegnete ich ihm, und er gab einen leisen, muhenden Laut von sich. Während des Essens flogen Fetzen seines Monologs zu unserem Tisch herüber. Er »nahm kein Blatt vor den Mund« und »weihte sie in ein kleines Geheimnis ein«, er war wieder in
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bester Form. Soweit ich hören konnte, wiederholte er seine Überzeugung, daß das zentralafrikanische Ruinensystem aus dem Mittelalter stamme und Bantu-Ursprung sei; er schien meine Schriften obenhin und amüsant zu entlarven. Einmal spähte ich hinüber und sah, daß er Ophir geöffnet neben seinem Teller liegen hatte und zur allgemeinen Erheiterung seiner Tischgenossen daraus vorlas. Wie auch immer, ich mußte mich einer anderen drohenden Krise zuwenden, die zu verhindern mein ganzes Geschick in Anspruch nahm. Sally war meine Tischdame, und wir saßen den Sturvesants gegenüber. Fünf Sekunden, nachdem wir uns hingesetzt hatten, bemerkte Sally Hilarys neuen Diamanten. Sie konnte ihn kaum übersehen, er schleuderte Lichtpfeile hell wie Blitze durch den Raum. Sally schwieg die halbe Mahlzeit über, aber ihre Augen wurden alle paar Sekunden von diesem flammenden Juwel angezogen. Wir anderen machten uns die Worte streitig, und wir lachten und scherzten angeregt. Louren schien Hilary gegenüber besonders aufmerksam zu sein, doch plötzlich beugte Sally sich vor und sagte in ihrer süßesten Stimme zu Hilary: »Was für ein hübscher Ring. Sie haben solch ein Glück, daß Sie Modeschmuck tragen können, Liebe. Meine Knochen sind zu zart. Es steht mir nicht, fürchte ich.« Und sie wandte sich wieder zu mir und begann heiter zu schwatzen. Sie hatte mit einem gezielten Zustoß die Stimmung verdorben. Ich sah, wie Louren die Stirn runzelte und vor Zorn errötete. Hilary schürzte die Lippen, aber sie hielt sich zurück. Die Stimmung ließ sich nicht wiederherstellen. Ich war erleichtert, als Louren endlich auf seine Uhr schaute. Der Hörsaal der Königlich-Geographischen Gesellschaft war geradezu überfüllt. Wilfred saß auf seinem Platz, vorn in der Mitte, wo ich jeden Ausdruck seines Gesichtes beobachten
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konnte. »Vor sechs Jahren hatte ich schon einmal die Ehre, vor dieser Gesellschaft zu sprechen, über den mediterranen Einfluß auf Zentral- und Südafrika in der vorchristlichen Ära. Ich trete jetzt vor Sie mit dem gleichen Thema, aber mit neuem Beweismaterial, das in der Zwischenzeit an den Tag gekommen ist.« Ich mühte mich durch meine Einleitung. Sie war ein Resümee aller bisher bekannten Beweise und der verschiedenen Theorien, die sich darauf gründeten. Ich hielt sie bewußt langweilig, schwunglos, um Wilfred und seine Gruppe in dem Glauben zu wiegen, daß ich darüber hinaus nichts hatte, um meine Ansichten zu untermauern. »Im März vergangenen Jahres zeigte mir dann Mr. Louren Sturvesant eine Fotografie.« Ich sah Interesse in Gesichtern aufflackern, die schon einen verglasten Ausdruck angenommen hatten. Ich schürte es ständig. Plötzlich erzählte ich ihnen eine Detektivgeschichte. Zwischen Wilfreds pompösen Zwischenbemerkungen hinter vorgehaltenem Programmheft lagen nun längere Pausen. Das hämische Kichern seiner Bewunderer erstarb. Ich hatte das Auditorium gepackt. Die Lampen wurden ausgeschaltet, in der Dunkelheit leuchtete an der Leinwand hinter mir das erste Bild auf. Es war der weiße König, stolz, erhaben, herrscherlich. Das Auditorium saß in andächtigem Schweigen, die, einzige Bewegung bestand in dem hektischen Gekritzel der Presseleute in der ersten Reihe. Ich trug die Geschichte bis zu dem Punkt vor, als wir die Ebene und die Höhle erforscht, aber noch nicht den zugemauerten Tunnel hinter dem Porträt des weißen Königs entdeckt hatten. Auf mein Zeichen gingen die Lichter wieder an, die Zuhörer wurden in die Gegenwart zurückversetzt. Sogar Wilfred Snell sah mitgenommen und angegriffen aus. Er wälzte sich herum
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zu De Vallos und flüsterte mit durchdringender Stimme: »Typische Bantu-Steinarbeit aus dem dreizehnten Jahrhundert n. Chr. natürlich. Aber sehr interessant. Bestätigt meine Theorie über die Datierung der Einwanderungen.« Ich wartete schweigend, die geballten Fäuste auf dem Pult, den Kopf gebeugt. Manchmal glaube ich, ich wäre ein großer Filmschauspieler geworden. Langsam hob ich meinen Kopf und starrte Wilfred an, mein Ausdruck war trostlos. Er schöpfte Mut. »Das Gemälde bedeutet natürlich überhaupt nichts. Um ehrlich zu sein, es ist wahrscheinlich ein BantuInitiationskandidat, ähnlich der Weißen Dame vom Brandberg. Hier ist also kein neues Beweismaterial, fürchte ich.« Er drehte sich mit einem zufriedenen Grinsen um, und seine Anhänger nickten mit den Köpfen und lächelten süßlich wie Puppen. Dann redete ich ihn direkt an. »Wie Professor Wilfred Snell gerade bemerkt hat, war das Ganze zwar recht faszinierend, aber ohne neuen Beweis.« Alle nickten noch heftiger. »Und deshalb beschloß ich, tiefer zu schürfen.« Und erneut war ich mitten in der Beschreibung der Geschehnisse – die Entdeckung des vermauerten Tunnels, die Entscheidung, den weißen König zu bewahren und durch den Fels zu bohren, den Durchbruch zum Tunnel; während ich sprach, schob einer der Wärter eine mit einem grünen Samttuch bedeckte Radkarre herein. Sie zog aller Augen auf sich, und auf mein Zeichen nahm er das Tuch fort, und da lagen die große glänzende Schlachtaxt und eine der Rollen. Wilfred Snell sackte auf seinem Sitz zusammen. Ich las die Einleitung des Ersten Goldenen Buches von Huy. »Laßt die Menschen seine Worte lesen und jubeln, wie ich gejubelt habe, laßt die Menschen seine Gesänge hören und
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weinen, wie ich geweint habe.« Ich endete und schaute in die Runde. Es war nach sieben Uhr dreißig, stellte ich überrascht fest. Ich hatte meine Zeit um eine Stunde überschritten. »Unsere Zeit ist zu Ende, aber nicht die Geschichte. Morgen früh wird Professor Eldridge Hamilton seine Vorlesung über die Schriftrollen und ihren Inhalt geben. Ich hoffe, daß Sie teilnehmen können. Euer Gnaden, Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich danke Ihnen.« Das Schweigen war absolut, zehn Sekunden lang regte sich niemand oder sprach – dann waren sie plötzlich auf den Füßen und applaudierten wild. Zum ersten Male seit der Gründung der Gesellschaft im Jahre 1830 wurde ein Vortrag beklatscht wie eine Bühnenaufführung. Sie standen von ihren Sitzen auf, scharten sich um mich, um mir die Hand zu schütteln und Fragen zu stellen, die ich unmöglich beantworten konnte. Von meiner günstigen Position auf dem Podium sah ich, wie Wilfred Snell sich erhob und massig zur Tür schlurfte. Er ging allein. Die Zeitungen brachten es am folgenden Morgen, und sogar die »Times« hatte sich einen Anflug des Dramatischen gestattet. »Entdeckung eines karthagischen Schatzes«, hieß es, »einer der wichtigsten archäologischen Funde seit dem Grab Tutenchamuns.« Louren hatte sie alle kommen lassen, wir saßen in einem Zeitungsmeer, während wir wieder ein gewaltiges Frühstück aßen. Ich war gerührt von Lourens Stolz auf meine Erfolge. Er las jeden Artikel laut vor und streute seine eigenen Kommentare dazwischen: Er nahm eines der linksgerichteten Boulevardblätter von dem Stapel und schlug es auf. Sofort wechselte sein Ausdruck. Plötzlich runzelte er finster die Stirn, daß ich besorgt fragte: »Was ist, Lo?«
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»Hier.« Er schleuderte das Blatt fast auf mich. »Lies es selbst, ich ziehe mich derweil um.« Er ging ins Schlafzimmer und knallte die Tür zu. Ich fand es sofort. Eine ganze Seite Fotos unter einem großen Motto »Die Truppen der Freiheit«: Schwarze Männer mit Gewehren, mit Panzern. Schwarze Männer auf dem Marsch, Reihe endlos nach Reihe, eierförmige Helme wie große giftige Pilze des Hasses, moderne automatische Waffen über getarnten Schultern, ausgreifende Stiefel. Auf Seitenmitte das Foto eines großen Mannes zwischen zwei grinsenden Chinesen. Die fettgedruckte Bildunterschrift lautete: »Der Schwarze Kreuzfahrer. Generalmajor Timothy Mageba, der neuernannte Kommandeur der Volksbefreiungsarmee mit zwei militärischen Beratern.« Das Herz sank mir vor Furcht, als ich den dumpfen Haß in diesem Gesicht sah, die Kraft und schreckliche Entschlossenheit. Mein eigener Triumph wirkte mit einem Male belanglos. Was vor zweitausend Jahren geschehen war, schien weniger wichtig – jedoch, es ging mir auf, daß dieser Mann keineswegs einzigartig war, Afrika hatte viele seinesgleichen hervorgebracht. Timothy Mageba war nur der letzte in einer langen Reihe von Kriegern, die zurückreichte bis jenseits der schattigen, undurchdringlichen Schleier der Zeit. Louren kam aus dem Schlafzimmer, Hilary war bei ihm. Sie küßte mich und gratulierte mir wieder, und ich ließ das Zeitungsblatt aus der Hand fallen. »Es tut mir leid, daß ich heute morgen nicht mitkommen und deinem Freund Eldridge zuhören kann, Ben. Ich kann diese Konferenz nicht absagen. Kümmere dich bitte für mich um Hilary. Bestell ihr ein gutes Mittagessen, ja?« Louren redete, während wir drei im Lift herunterfuhren.
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Eldridge murmelte dreieinhalb Stunden von »Haken« und »Kürzeln«, wobei er gelegentlich ein Lachen ausstieß, das die Schläfer weckte. Langsam leerte sich der Saal. Eine Stunde vor dem Mittagessen steckte Sally mir von ihrem Sitz hinter mir einen Zettel zu: »Ich halte es nicht mehr aus. Gehe etwas einkaufen. Bis später. S.« Eldridge kam langsam mahlend zu einem glanzlosen Schluß. In der Vorhalle der Gesellschaft umgab mich wieder eine begeisterte Menge und wir kamen nur langsam zur Tür und zu unserem Mittagessen voran. Als wir endlich das Taxi erreicht und Eldridge und ich uns jeder auf einer Seite neben Hilary gesetzt hatten, wollte ich dem Fahrer gerade die Adresse der Trattoria Terrazza angeben, als Hilary auf die Hände in ihrem Schoß blickte und betroffen ausrief: »Mein Ring!« Und erst jetzt bemerkten wir, daß der große Edelstein nicht mehr an ihrer Hand flammte. »Wann hast du ihn das letztemal gesehen?« fragte ich sie, und nach einer Sekunde des Nachdenkens rief sie erleichtert: »Oh, jetzt erinnere ich mich. Im Hotel, ich habe meine Nägel lackiert. Ich habe ihn in die alabasterne Zigarettendose neben meinem Sessel gelegt.« »Welcher Raum? Welcher Sessel?« »Der Wohnraum, der Gobelinteppich neben dem Fernsehapparat.« »Eldridge, würden Sie bitte mit Mrs. Sturvesant zum Restaurant fahren? Ich nehme besser eine andere Taxe und sause zum Hotel zurück, bevor das Putzpersonal ihn entdeckt. Hast du deinen Schlüssel bei dir, Hil?« Ich schloß die Oliver-Messel-Suite auf und eilte an den Schlafzimmern vorbei den langen Korridor hinunter. Mit einem kleinen erleichterten Grunzen fand ich den Ring zwischen den Zigaretten in der Alabasterdose. Ich hielt ihn in der Hand und ging hinüber zum Fenster, um ihn im Licht zu bewundern. Er
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war von solch brillanter Schönheit, daß mir schwach wurde. Ich knotete ihn rasch in mein Taschentuch und schritt durch den Korridor zurück. Die Schlafzimmertür war angelehnt. Aus dem Zimmer drang eine Frauenstimme, eine Stimme heiser vor Erregung, eine Stimme unterbrochen von stöhnendem Atem, hoch und vibrierend. Die Stimmen wogten, wirbelten und brachen gemeinsam – daneben ein anderer Laut, rhythmisch, treibend, im Pulsschlag der Zeugung stoßend, ein Laut so alt wie die Menschheit, so unveränderlich wie die Bahn der Sterne. Es folgten das Geräusch heftigen Atmens und das leise Seufzen und Stöhnen von Befriedigung und Erschöpfung. Ich wandte mich ab wie ein Schlafwandler. Lautlos ging ich zur Wohnungstür; lautlos schloß ich sie hinter mir. Die Stimmen waren die von Sally Benator und Louren Sturvesant gewesen. Ich kann mich nicht mehr an die Rückfahrt zur Königlichen Gesellschaft erinnern, und nur vage Fetzen der abschließenden Vorträge und Zeremonien sind mir noch gegenwärtig. Ich saß gebeugt auf meinem Sitz in der ersten Reihe. Ich erinnerte mich an eine Nacht in der Mondstadt, als ich betrunken zu Bett gegangen war, betrunken von dem Whisky, den Sally selbst mir eingegossen hatte. Ich erinnerte mich, daß ich aufgewacht war, als Louren ins Zelt kam und ich durch den Eingang das blasse Rot der Dämmerung am Himmel sah. Ich erinnerte mich an meinen nächtlichen Besuch in der Höhle, als Louren mich mit dem Strahl der Taschenlampe geblendet und mich fortgeschickt hatte. Ich erinnerte mich an das Gespräch, das Ral und Leslie mitgehört hatten. Ich erinnerte mich an Sallys Freunde aus Brighton; an ihre aggressiven Angriffe gegen Hilary, ihre Stimmungen und ihr Schweigen, ihre plötzliche Fröhlichkeit und die noch plötzlicheren Depressionen, die halben Aussagen,
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das Schweben am Rand der Enthüllung, den Mitternachtsbesuch an meinem Bett und hundert andere Spuren und Hinweise – und ich wunderte mich über meine eigene Blindheit. Wie war es nur möglich, daß ich das nicht gesehen und gespürt hatte.
Ich sehnte mich nach Einsamkeit und einem Ende des Schmerzes, und ich fand beides in der Stadt des Mondes. Eldridge musste einen Monat Vorlesungen in England halten, und Sally war verschwunden. Ich hatte seit jenem Abend nicht mehr mit ihr gesprochen, aber Louren erzählte mir nebenhin, sie habe zwei Wochen ihres angesammelten Urlaubs genommen und sich einer Reisegruppe nach Italien und den griechischen Inseln angeschlossen. Für mich war sie tot, meinem Zugriff für immer entzogen. Louren besuchte die Ausgrabungsstelle für einen Tag. Es war, als seien wir Fremde. Er spürte die Kluft, die uns trennte, und versuchte hinüberzureichen. Ich konnte nicht darauf eingehen – aber anklagen oder hassen konnte ich ihn nicht. Ral und Leslie drangen nicht in die private Welt ein, in der ich jetzt lebte. Es war die Welt von Huy Ben-Amon, ein Ort jenseits von Schmerz und Trauer. Während der Zeit, als Eldridge an den Schriftrollen arbeitete, hatte ich täglich jedes Detail seiner Übersetzung verfolgt. Sprachen sind mein größtes Talent, sie fliegen mir ohne Anstrengung zu. Ich hatte mir selbst Punisch beigebracht und damit den Schlüssel zum Märchenland der goldenen Bücher Huys. Das dritte Buch setzte die Geschichte Opets bis zu Lebzeiten des Dichters fort, ein ebenso faszinierendes Dokument wie die beiden vorherigen, aber der wahre Zauber lag für mich in den beiden letzten goldenen Büchern.
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Sie enthielten die Gedichte und Gesänge Huys, Gedichte und Gesänge im modernen Sinn des Wortes. Hier schrieb Huy der Krieger, der Axtkämpfer aller Götter, eine Ode an die glänzende Schwinge des Sonnenvogels, seine Schlachtaxt. Er beschrieb das Erz aus den Minen des Südens und den Schmelzprozeß in dem schoßförmigen Ofen, den Geruch der glühenden Holzkohle und das Tröpfeln des geschmolzenen Metalls. Wie es gereinigt und legiert wurde, geschmiedet und geformt, das Schärfen und Gravieren, und als er die vier Geierfiguren und die vier Sonnen beschrieb, schaute ich voll Erstaunen zu der großen Axt hoch, die über meinem Arbeitstisch hing. Mit Huy hörte ich die glitzernde Axt im Flug, hörte die Schneide in Knochen schlagen; ehrfürchtig las ich die Namensliste der Feinde, die unter ihr gestorben waren, und ich fragte mich, welcher Verbrechen und Vergehen sie wohl schuldig gewesen waren. Dann wechselte Huys Stimmung, und er wurde zum lärmenden Zechbruder, der den Krug roten Zeng-Weins kippte und mit seinen Kampfgenossen im Feuerschein vor Lachen brüllte. Einmal war er der Geck, gekleidet in weißes Leinen, parfümiert mit süßen Ölen, den Bart gewickelt und zu Schnüren geflochten. Dann war er der Priester im Umgang mit seinen Göttern – ihrer sicher, ihre Geheimnisse pflegend und auf ihren Anteil an den Opfern bedacht: Huy allein in schweigendem Gebet kniend, Huy in der Morgendämmerung mit erhobenen Armen Baal begrüßend, den Sonnengott; Huy in der Ekstase religiöser Offenbarung. Dann wieder ist Huy der Freund, der treue Gefährte, der seine Freude an der Gesellschaft eines anderen Mannes beschreibt, gemeinsam erkannte und bestandene Gefahren. Den Fehlern seines Freundes gegenüber ist er blind; er beschreibt seine physische Schönheit mit fast weiblicher Einfühlung, gibt Einzelheiten über die Schulterbreite, den flammend roten Bart
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hinunter zur Brust, wo die Muskeln glatt und hart schwellen wie die Findlinge auf den Hügeln von Zamboa, die Beine wie kräftige Schößlinge, das Lächeln wie der warme Segen des Sonnengottes Baal, und er endet mit der Zeile: »Lannon Hycanus, du bist mehr als der König von Opet, du bist mein Freund.« Die Stimmung des Dichters wechselt erneut; er wird zum Beobachter der Natur, zum Jäger, der seine Beute mit liebevoller Sorgfalt beschreibt und kein Detail ausläßt, von dem Bogen des elfenbeinernen Stoßzahns bis zum cremefarbenen weichen Bauch einer Löwin. Dann ist er der Liebhaber, betäubt von der Schönheit seiner Liebsten. Taniths weite Stirn ist strahlend weiß und voll wie der Mond, ihr Haar weht zart und hell wie der Rauch von den großen Papyrusfeuern in den Sümpfen, ihre Augen leuchten grün wie der tiefe Teich im Tempel der Göttin Astarte. Doch plötzlich ist Tanith tot, und der Dichter schreit seinen Schmerz heraus, er sieht ihren Tod wie den Flug eines Vogels, ihre Elfenbeinarme schimmernd wie gespreizte Schwingen, während das Echo ihres letzten Schreis ans Himmelsgewölbe hallt, die Herzen der Götter selbst zu rühren. Huys Klage war meine, seine Stimme war meine, seine Ängste und Triumphe wurden zu meinen eigenen, und es schien, daß Huy ich und ich Huy war. Ich stand früh auf und schlief spät ein, ich aß wenig und mein Gesicht wurde hager und blaß, ein geisterhaftes Gesicht, das mich mit wilden Augen aus meinem Spiegel anstarrte. Dann holte mich plötzlich die Wirklichkeit ein, sie zerschmetterte die zerbrechlichen Kristallwände meines Märchenlandes. Louren und Sally trafen im gleichen Flugzeug gemeinsam in der Mondstadt ein. Die Folter, die ich so lange vermieden hatte, begann wieder. Wieder versuchte ich mich zu verbergen. Ich wählte das Ar-
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chiv als meinen Zufluchtsort und verbrachte jeden Tag dort, um jeden Kontakt mit Sally und Louren zu vermeiden. Diese fast 2000 Jahre lang versiegelte Höhle war steril, ohne jegliche Form von Leben, als wir sie öffneten. Jetzt entwickelte sie ihre eigene Ökologie: zunächst die winzigen Zuckmücken, dann Sandflöhe, Ameisen, Spinnen, Motten und schließlich die kleinen braunen Geckoeidechsen. Ich hatte ein Filmverzeichnis dieser Kolonisierung des Archivs begonnen. Viele Stunden am Tag saß ich still mit gezückter Kamera da und wartete auf die Chance, eine schwierige Großaufnahme einer Fliege oder eines Insekts zu bekommen. Und auf diese Weise machte ich die letzte bedeutende Entdeckung in der Mondstadt. Ich arbeitete allein im hintersten Winkel des Archivs, nahe der Wand mit dem gravierten Bild der Sonne. Eine Geckoeidechse rannte die Wand hinunter und quer über den Steinboden. An der Stelle, wo die große Schlachtaxt gelegen hatte, als wir sie entdeckten, hielt die Eidechse an. Sie stand still, die weiche Haut ihrer Kehle pulsierte, und ihre kleinen schwarzen Perlaugen leuchteten vor Erwartung. Dann bemerkte ich das Insekt, an das sie heranpirschte. Eine weiße Motte, die reglos mit gespreizten Flügeln auf dem Sonnenbild saß. Schnell griff ich nach meiner Kamera und stellte Blitzlicht und Blende ein. Ich wollte die Eidechse im Augenblick des tödlichen Zuschlagens aufnehmen. Langsam bewegte ich mich in eine Position, wo ich die Motte scharf im Sucher hatte, und wartete, während die Eidechse in geschwinden Vorstößen näherkam. Dreißig Zentimeter von der Motte entfernt hielt sie wieder an und schien sich auf den endgültigen Angriff vorzubereiten. Ich wartete atemlos, den Finger am Auslöser. Die Eidechse schoß vor, und ich ließ das Blitzlicht explodieren. Die Eidechse erstarrte mit dem Körper der Motte in ihrem Maul. Dann drehte sie sich um und eilte, den Kopf nach unten, über
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den Boden; als sie die von Wand und Boden gebildete Ecke erreichte, verschwand sie, und ich lachte über ihren drolligen Schrecken, als mir ein Gedanke kam. Ich ging zurück an die Stelle, wo die Eidechse verschwunden war, und ich bückte mich, um die Fuge von Boden und Wand zu untersuchen. Sie schien fest, und ich sah kein Loch und keinen Spalt, wo die Eidechse sich hätte verbergen können. Ihr Verschwinden ließ mir keine Ruhe. Ich holte eine der elektrischen Bogenlampen samt dem Kabel und stellte sie so auf, daß ihr Strahl voll auf die Wand fiel. Die Messerklinge glitt in voller Länge in den Riß. »Vielleicht«, flüsterte ich laut, »es wäre möglich …« Fieberhaft stocherte ich in dem Riß, folgte ihm am Boden längs, bis er sich abrupt um neunzig Grad drehte und die Wand hinanstieg. Hier war er überdeckt, vernietet und aufgefüllt und infolgedessen fast unsichtbar. Das schlaue Geschick, mit dem man diese Fuge verborgen hatte, überzeugte mich davon, daß dahinter etwas höchst Wichtiges lag. Die Handwerkskunst dieses Wandstückes war den groben Fugen der Dachplatten, durch die der Staub herabgerieselt war, bei weitem überlegen. Ich sprang auf und schritt ruhelos vor der kahlen Wand auf und ab. Ich lebte wieder zum erstenmal seit meiner Rückkehr zur Mondstadt und bebte vor Spannung. »Louren«, dachte ich plötzlich. »Er sollte hier sein.«
Ich kniete unter dem Sonnenbild, als Louren eintraf. »Lo, komm her. Ich muß dir was zeigen.« »Heh, Ben!« lachte Louren, vor Erleichterung und Freude, wie mir schien. »Zum erstenmal seit zwei Wochen habe ich dich richtig lächeln sehen. Gott, ich habe mir Sorgen um dich
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gemacht.« Er schlug mir auf die Schulter, immer noch lachend. »Das ist wieder der alte Ben.« »Lo, sieh dir das an.« Er kniete sich neben mich. Zehn Minuten später lachte er nicht mehr, sein Gesicht wirkte hart und angespannt. Er starrte die Wand an, als ob er durch den harten Fels blickte. »Lo«, begann ich, aber er befahl mir mit einer herrischen Geste Schweigen. Unverwandt sah er die Wand an, und jetzt schien es sogar, als ob er einer Stimme lauschte, die ich nicht hören konnte. Ich beobachtete dieses konzentrierte Gesicht mit Bewunderung, fast mit Ehrfurcht. Ich ahnte, daß etwas Unnatürliches geschehen würde. Langsam, Schritt für Schritt, näherte sich Louren dem Sonnenbild. Er streckte seine Hand aus und legte sie auf die Mitte der großen Scheibe. Seine Finger waren gespreizt, sie schienen die Form des Bildes zu wiederholen. Er begann gegen die Wand zu drücken, seine Fingerspitzen preßten sich an den Fels, wurden flach unter dem Druck der Hand. Mehrere lange Sekunden geschah nichts, dann begann sich plötzlich die Wand zu bewegen. Völlig lautlos, ohne jedes Knarren oder Quietschen eines Scharniers, drehte sich die ganze Wand sacht um eine verborgene Achse. Eine majestätische, sinnreiche Bewegung, die die rechteckige Öffnung eines weiteren, hinter dem Bildnis Baals verborgenen Ganges enthüllte. Als ich in diese dunkle, jahrhundertealte Öffnung starrte, flüsterte ich: »Wie hast du das gemacht, Lo? Wie hast du es erraten?« Seine Stimme klang verwirrt: »Ich wußte es – ich wußte es einfach, das ist alles.« Wir schwiegen wieder beide und starrten in die Öffnung. Mich ergriff plötzlich eine unerklärliche Furcht, was wir hier finden würden. »Hol die Lampe, Ben«, befahl Louren, ohne die Augen von dem Eingang zu wenden. Ich brachte die tragbare Bogenlampe,
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und Louren nahm sie mir aus der Hand. Ich folgte ihm in den Gang. Vor uns fiel der Boden in einem Winkel von fünfundvierzig Grad ab. Der Gang war zweieinhalb Meter hoch und fast drei Meter breit. Eine Steintreppe war in den Boden gehauen. Jede Stufe war abgewetzt, mit glatten, gerundeten Kanten. Wände und Decke des Tunnels bestanden aus schmucklosen Steinen, und seine Tiefen waren verborgen in Schatten und Dunkelheit. »Was ist das?« Louren zeigte auf zwei große runde Gegenstände oben an der Treppe. Ich sah Bronzerosetten darauf schimmern. »Schilde«, antwortete ich. »Kriegsschilde.« »Jemand hat sie hastig fortgeworfen.« Wir stiegen vorsichtig über sie hinweg und gingen die Treppe hinunter. Es waren 106 Stufen, jede fünfzehn Zentimeter hoch. »Kein Staub hier drinnen«, bemerkte Louren. »Nein, die Versiegelung der Tür war dicht.« Seine Beobachtung hätte uns warnen müssen, aber ich war viel zu sehr in Staunen und Erregung über diese neue Entdekkung versunken. Die Oberfläche der Stufen war so sauber, als hätte sie kürzlich erst jemand gefegt. Am Fuß der Treppe kamen wir an eine Gabelung. Rechts führte der Gang zu einem eisenbeschlagenen Tor, das verschlossen und verriegelt war. Links lief er wieder in eine Wendeltreppe aus, die im Fels verschwand. »Welche Richtung?« fragte Louren. »Sehen wir nach, was hinter dem Tor ist«, schlug ich vor Aufregung würgend vor, und wir gingen hin. Die schweren Riegel waren nicht eingerastet, aber Golddraht war um den Türpfosten geschlungen, und ein schweres Tonsiegel verschloß den Eingang. Auf dem Siegel war ein grob geformtes Tier dargestellt, dar-
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unter standen die Worte: »Lannon Hycanus. Grau-Löwe von Opet, König von Punt und den vier Königreichen.« »Gib mir dein Messer«, sagte Louren. »Lo, wir können nicht –« begann ich. »Gib es her, los.« Seine Stimme klang gepreßt vor seltsamer Gier und Leidenschaft. »Weißt du, was das ist? Das ist die Schatzkammer, das Goldgewölbe von Opet!« »Warte, laß uns vernünftig vorgehen, Lo«, bat ich, aber er faßte das Siegel mit den bloßen Händen und riß es von dem Tor. »Tu’s nicht, Lo«, protestierte ich, aber er schob den Riegel zurück und warf sich gegen das Tor. Es war eingerostet, aber er ging es mit seinem ganzen Gewicht an. Es gab nach, öffnete sich weit genug, daß Louren sich hindurchzwängen konnte. Er stürmte vorwärts, und ich rannte ihm nach. Der Tunnel bog wieder im rechten Winkel ab und führte direkt in eine große Kammer. »Gott!« schrie Louren. »Oh Gott! Sieh dir das an, Ben. Sieh dir das bloß an.« Die Schatzkammer Opets lag vor uns mit all ihren phantastischen, unberührten Reichtümern. Später würden wir sie zählen und wiegen und messen, aber jetzt standen wir nur fassungslos da. Die Kammer war 55 Meter lang und 6,50 Meter breit. Das gestapelte Elfenbein, insgesamt 1016 große Elefantenstoßzähne, überzog fast eine ganze Wand. Das Elfenbein war verfault und brüchig wie Kreide, aber vor 2000 Jahren mußte es ein enormes Vermögen gewesen sein. Wir fanden mehr als 900 große, mit Wachs versiegelte Amphoren. Ihr Inhalt an kostbaren ölen war längst zu einer schwarzen klebrigen Masse verdunstet. Daneben lagen Ballen von importiertem Leinen und Seide, ebenfalls vermodert, so daß es bei der leisesten Berührung zu Staub zerfiel. Die Metalle waren an der Wand gegenüber gestapelt – 190
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Tonnen einheimisches Kupfer, in Barren gegossen, 3 Tonnen Zinn, in dieselbe Form gegossen; 16 Tonnen Silber, 96 Blei, 2 Antimon. Wir schritten den Gang durch die Mitte des Gewölbes entlang und bestaunten diese unglaublichen Reichtümer. »Das Gold«, murmelte Louren. »Wo ist das Gold?« Wir fanden einen Stapel Holztruhen, aus Ebenholz geschnitzt, die Deckel verziert mit Elfenbein und eingelegt mit Perlmutter. Das waren die einzigen künstlerischen Gegenstände in dem Gewölbe, und selbst sie zeigten nur grob ausgeführte Kampfoder Jagdszenen. »Nein, tu’s nicht, Lo«, protestierte ich wieder, als Louren die Deckel aufzureißen begann. Sie waren mit Halbedelsteinen gefüllt, Amethysten, Beryllen, Tigeraugen, Jade und Malachit. Einige davon roh geschliffen und in Goldfassungen eingearbeitet – dicke, plumpe Stükke, Halsbänder, Broschen, Ketten und Ringe. Louren eilte weiter den Gang hinunter, und dann blieb er abrupt stehen. In einem Winkel der Hauptkammer, hinter einem zweiten Eisentor, war in säuberlichen Haufen das Gold gestapelt, gegossen in die übliche »Finger«-Form. Als wir die Barren Monate später wogen, belief sich das Gesamtgewicht auf mehr als sechzig Tonnen. Das entsprach einem Wert von über 60 000 Pfund Sterling. In derselben Nische wie das Gold standen zwei kleine Holztruhen. Sie enthielten 26 000 Karat ungeschnittener oder nur grob geschliffener Diamanten in allen möglichen Farben und Formen. Keiner war kleiner als anderthalb Karat, und der größte war ein riesiges trübgelbes Monstrum von 38 Karat; das war ein zusätzlicher Wert von 2 Millionen Pfund. Hier hatte man im Verlauf von 400 Jahren den Reichtum von siebenundvierzig Königen von Opet zusammengetragen. Kein
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anderer Schatz des Altertums konnte sich mit dieser Fülle vergleichen. »Wir müssen verdammt vorsichtig sein, Ben. Es darf kein Wort darüber hinausdringen. Du weißt, was sonst passieren könnte?« Er stand, Gold in jeder Hand, und blickte auf die gestapelten Schätze hinunter. »Das ist genug, um deswegen zu töten, ja um einen Krieg anzuzetteln.« »Aber was soll ich tun, Lo? Ich brauche Hilfe hier. Ral oder sogar Sally.« »Nein!« fuhr er mich an. »Niemand darf hier herein. Ich werde den Wächtern strikte Anweisung geben, niemand außer dir und mir.« »Ich brauche Hilfe, Lo. Ich schaffe es nicht allein, es ist zu viel.« »Ich werde dir helfen«, sagte Louren. »Es wird Wochen dauern.« »Ich werde dir helfen«, wiederholte er. »Niemand sonst. Kein Wort zu irgend jemandem.« Bis sechs Uhr abends erforschten Louren und ich das Schatzgewölbe. »Laß uns untersuchen, wohin der andere Teil des Tunnels führt«, schlug ich vor. »Nein«, entschied Louren. »Ich will hier die normalen Zeiten einhalten. Die anderen sollen nicht merken, daß wir auf etwas Besonderes gestoßen sind. Wir gehen jetzt ins Lager zurück. Morgen sehen wir uns den anderen Zweig des Tunnels an. Er wird ohnehin kaum so aufregend sein wie dieser.« Wir schlossen die Steintür hinter uns und verbargen den Geheimgang wieder. In der Wachhütte gab Louren seine Befehle, wiederholte sie, schrieb sie sogar ins Dienstbuch der Aufseher. Rals und Sallys Namen wurden von der Liste der Leute gestrichen, die Zugang zum Tunnel hatten. Er begründete ihnen das
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später mit einem Experiment, das er und ich anstellen würden. Es war ein schwieriger Abend für mich. Ich war überdreht von der Aufregung des Tages und reagierte, nachdem ich meine apathische Stimmung überwunden hatte, ohnehin übertrieben stark, schon in alltäglichen Situationen. Ich lachte zu laut, trank zu viel, und die Anfälle meiner Eifersucht waren stärker denn je. Wenn Louren und Sally einander nur ansahen, wollte ich schon schreien: »Ich weiß. Ich weiß über euch Bescheid, verdammt, ich hasse euch.« Aber es stimmte ja nicht. Ich haßte sie nicht. Ich liebte sie beide, und das machte alles noch schwerer. In dieser Nacht war an Schlaf nicht zu denken. An einem bestimmten Punkt nervlicher Anspannung kann ich manchmal zwei oder drei Nächte lang keine Ruhe finden. Ich wollte Sally nicht nachspionieren. Es war reiner Zufall, daß ich gerade am Fenster meiner Hütte stand und in die mondhelle Nacht blickte, als sie ihre Hütte verließ. Sie trug einen langen weißlichen Morgenrock, ihr Haar fiel locker auf ihre Schultern. Sie schaute sich erst vorsichtig um, vergewisserte sich, daß das Lager schlief, dann eilte sie über den offenen mondhellen Hof zu Lourens Hütte. Für mich begann eine lange, quälende Nachtwache. Bis mir auf einmal der Gedanke kam, daß Louren es ernst meinen könnte. Daß er Hilary Sallys wegen verlassen könnte. Ich fand den Gedanken unerträglich. Ich hielt es nicht länger aus, ich mußte mich ablenken. Schnell zog ich mich an und eilte in den Tresorraum, wo die goldenen Bücher aufbewahrt wurden. Ich nahm das vierte Buch Huys. Ich öffnete die Rolle aufs Geratewohl und las wieder Huys Ode an seine Schlachtaxt, die glänzende Schwinge des Sonnenvogels. Als ich das Gedicht zu Ende gelesen hatte, nahm
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ich, einem inneren Drang folgend, die große Axt von ihrem Ehrenplatz herunter. Ich streichelte ihre schimmernde Länge. Dies mußte die Waffe des Gedichts sein. Konnte es noch eine andere geben, die so genau der Beschreibung entsprach? Ich wünschte nur, ich könnte ihr die Geschichte der letzten Tage von Opet entlocken. Bestimmt hatte sie bei der letzten Tragödie eine Rolle gespielt. Warum hatte man sie liegenlassen, einen solch geliebten Gegenstand achtlos fortgeworfen? Was war mit dem Axtkämpfer Huy geschehen und mit seinem König und seiner Stadt? Ich las und träumte, jetzt weniger bedrängt vom Gedanken an Sally und Louren. Ich las weiter, versuchte Stellen der Rolle zu entziffern, die noch unerforscht waren, und fand dabei eine kurze Passage, die ein neues, tiefes Verständnis in mir auslöste. Huy stößt wie aus tiefster Seele einen Schrei aus – als ob eine lang unterdrückte Empfindung sich nicht mehr zurückhalten ließe und hinausdrängte in dieser Bitte, seiner physischen Gestalt nicht zu achten, wenn man seinen Wert messe. Gemeine Erde verbirgt das reinste Gold, ruft Huy, im mißgestalteten Lehm liegen Schätze verborgen. Ich las die Passage wieder und wieder und prüfte meine Übersetzung, bevor ich es akzeptierte, Huy Ben-Amon war wie ich. Ein Krüppel.
Erst in der Morgendämmerung legte ich das Buch beiseite und ging langsam zu meiner Hütte zurück. Eben trat Sally aus Lourens Tür und kam in der Dunkelheit auf mich zu. Ich stand ganz still und hoffte, daß sie mich nicht sehen würde, denn ich stand im tieferen Schatten. Sie schien über den Boden zu schweben, ihr Rock raschelte,
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als sie dicht neben mir in der Dunkelheit war. Dann ihr erschreckter Ausruf, als sie mich sah. Sie hatte mich gesehen, aber nicht erkannt. Ihr Gesicht war schreckensbleich. »All right, Sally«, sagte ich. »Ich bin’s nur.« »Ben?« sagte sie. Wir starrten einander an. »Wie lange bist du schon hier?« »Lange genug«, antwortete ich, und wieder das Schweigen. »Du weißt also?« Sie sagte es mit leiser Stimme, scheu und traurig. »Ich wollte nicht spionieren«, sagte ich, und wieder Schweigen. »Ich glaube dir.« Sie ging weiter. Dann kam sie zurück. »Ben, ich möchte es dir erklären.« »Das brauchst du nicht«, sagte ich. »Ja, doch. Ich möchte es.« »Es spielt keine Rolle, Sal.« »Es spielt wohl eine Rolle.« Und wir sahen einander an. »Es spielt eine Rolle«, wiederholte sie. »Ich will nicht, daß du glaubst, ich sei –, ich sei so schrecklich.« »Laß nur, Sally.« »Ich habe mich dagegen gewehrt, Ben. Ich schwöre es dir.« »Schon in Ordnung, Sally.« »Ich konnte nichts dagegen tun, bestimmt. Ich habe so hart dagegen angekämpft. Ich wollte nicht, daß es passierte.« Sie weinte jetzt, lautlos, ihre Schultern zuckten, als sie schluchzte. »Es spielt keine Rolle«, sagte ich wieder und trat zu ihr. Ich geleitete sie sanft in ihr Zimmer, zu ihrem Bett. Im Licht sah ich, daß ihre Lippen noch von den Küssen gerötet waren. »Oh, Ben. Ich würde alles dafür geben, daß es anders wäre.« »Ich weiß, Sally.« »Ich habe mich so bemüht, aber es war zu viel für mich. Er hat mich in seinen Bann gezogen, vom ersten Augenblick an.«
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»An dem Abend im Flughafen?« Ich konnte die Frage nicht unterdrücken, als ich mich daran erinnerte, wie sie ihn beim erstenmal beobachtet und dann gegen ihn gewütet hatte. »Darum – später, bei mir – darum haben wir –« Ich wollte die Antwort nicht hören, und trotzdem mußte ich wissen, ob sie in unserer ersten Nacht in einen anderen Mann verliebt gewesen war. »Nein, Ben.« Sie versuchte es abzustreiten, aber sie sah meine Augen und wandte ihr Gesicht ab. »Oh, Ben, es tut mir leid. Ich wollte dich nicht verletzen.« »Ja«, nickte ich. »Ich wollte dich wirklich nicht verletzen. Du bist so gut, so sanft, so anders als er.« »Ja«, sagte ich, während mein Herz sich zuammenkrampfte. »Oh, Ben, was soll ich nur tun?« weinte sie verzweifelt. »Ich bin von ihm gefangen. Ich kann nicht entfliehen.« »Will Lo – hat er gesagt, was er tun wird? Hat er gesagt – ob er Hilary verlassen und dich heiraten wird?« »Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Hat er dir einen Grund genannt –« »Nein! Nein!« Sie ergriff meine Hand. »Oh, Ben. Für ihn ist es – nur ein kleines Abenteuer.« Ich betrachtete ihr liebes gemartertes Gesicht; wenigstens schätzte sie Louren richtig ein. Es hatte viele Sallys in Lourens Leben gegeben, andere würden folgen. »Kann ich irgendwas tun, Sally?« fragte ich schließlich. »Nein, Ben. Ich glaube nicht.« »Wenn ja, laß es mich wissen«, sagte ich und ging zur Tür. »Ben«, hielt sie mich an und richtete sich auf. »Ben, liebst du mich immer noch?« Ich nickte ohne zu zögern. »Ja, ich liebe dich immer noch.« »Danke, Ben«, sie seufzte leise. »Ich glaube, ich hätte es nicht ertragen, wenn du dich von mir abgewandt hättest.«
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»Das werde ich nie tun, Sally«, sagte ich und schritt hinaus in das zitronen- und rosenfarbene Glühen der Dämmerung.
Louren und ich stiegen die Treppe jenseits des Sonnenbildes hinunter. Zuerst gingen wir in die Schatzkammer. Während Louren sich an den Stapeln von Gold weidete, beobachtete ich sein Gesicht und bemühte mich, Haß in meinem Herzen zu finden. Es gab keinen. Als er aufblickte und mir zulächelte, konnte ich nicht anders als sein Lächeln zu erwidern. Ich hatte vermutet, was wir jenseits der Tunnelgabelung finden würden, und als wir die letzte Wendeltreppe hinunterstiegen, wurden meine letzten Zweifel zerstreut. Die Passage endete an einer anderen festen Steinwand. Hier jedoch hatte man nichts verbergen wollen, denn in den Stein war eine Inschrift gemeißelt. Wir standen davor, und Louren richtete die Bogenlampe direkt darauf. »Was besagt sie?« fragte er. Ich las sie langsam durch. »Ihr, die ihr herkommt, um den Schlaf der Könige von Opet zu stören und ihr Grab zu schänden, begebt euch in Gefahr. Möge der Fluch Astartes und des großen Baal euch bis in eure eigenen Gräber verfolgen.« »Lies es noch einmal«, befahl Louren, und ich wiederholte es. Er nickte. »Ja«, sagte er und schritt an die Steintür. Das Symbol für den Namen des Sonnengottes Baal war wieder der Druckpunkt. Die Tür schwang auf, langsam und gewichtig. Ehrfürchtig schweigend gingen wir in die Mitte des langen, schmalen Grabgewölbes. Auch hier war die Luft verbraucht, aber sie roch noch moderiger. Ich glaubte, den schwachen, schalen Geruch von Staub und Pilzen zu spüren.
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Parallel zu den Wänden standen die Sarkophage der Könige von Opet. Sie waren aus massivem Granit gehauen, fest, gedrungen und grau. Die Deckel wurden von ihrem eigenen immensen Gewicht festgehalten. Die Oberfläche war poliert und mit dem eingravierten Namen und Bild des Toten versehen. Die gewaltigen Namen, die durch die goldenen Bücher Huys hallten, ich erkannte sie wieder: Hamilcar, Hannibal, Hycanus. Siebenundvierzig Särge, aber der letzte war leer, sein Deckel lehnte daneben an der Wand. Sein Inneres war in der Form eines Mannes ausgemeißelt, bereit, den letzten König von Opet aufzunehmen. Am Fuß des großen Steinsarges lag ein Mann rücklings hingestreckt auf dem Boden des Grabes. Sein Helm fehlte, und sein rotgoldenes Haar und der Bart bildeten einen weichen Rahmen um die welken, mumifizierten Züge. Sein Brustpanzer war entfernt worden, man sah die trockene Pergamenthaut, die sich über das hagere Skelett des Brustkastens spannte. Ein abgebrochener Pfeilschaft ragte aus der schon so lange toten Brust. Er trug einen mit Bronzerosetten besetzten Lederrock und Beinschienen aus Bronze, an den Füßen leichte Sandalen. Seine Arme lagen flach an seiner Hüfte, die Füße ausgestreckt nebeneinander. Der tote Körper war sorgfältig und offensichtlich liebevoll gebettet worden. Über ihn beugte sich eine andere Gestalt, wie im Gebet kniend. Eine Gestalt in voller Rüstung, nur Kriegshelm und Brustpanzer lagen auf dem Boden unter dem leeren Sarkophag. Langes schwarzes Haar verdeckte sein geneigtes Gesicht. Beide Hände hielt er in Höhe des Zwerchfells gegen die Brust gepreßt. Aus der Brust ragte eine Stahlklinge, ein umgekehrtes Schwert, den Knauf fest zwischen den Steinplatten des Bodens verankert, die Spitze unterhalb der Rippen ins Herz getrieben. Dies war ein Mann in der Haltung der letzten Flucht vor der Schmach der Niederlage, ein Mann, der sich verzweifelt ins
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eigene Schwert gestürzt hatte. Jahrhundertelang hatte ihn seine Waffe in dieser knienden Stellung gestützt. Vor uns auf dem kalten Steinboden hingestreckt lag Lannon Hycanus, der letzte König von Opet, über ihm kniete sein Freund und Hohepriester Huy Ben-Amon. Ich berührte seine hagere knochige, mit einer Tunika aus brüchigem Leinen bedeckte Schulter nur ganz leicht. Es war fast nur ein Hauch, aber es genügte, um die Mumie aus ihrem fragilen Gleichgewicht zu bringen. Der Leichnam sank nach vorn gegen den Körper des Königs. Stahl und Bronze klangen auf dem Steinboden und hallten durch das gewölbte Grab von Opet. Die beiden Figuren zerstoben beim Aufprall zu Staub, eine weiche Explosion von senfgelbem Staub, der wie Rauch im Bogenlicht quirlte. Nichts blieb von ihnen übrig als das Metall von Rüstung und Schwert, und zwei Strähnen goldenen und pechschwarzen Haares im puderfeinen Staub. Ich stand auf, in dem gelben Staub hustend. Meine Augen schwammen vor Tränen des Staunens und brannten vor Staub. Der Staub roch nach Pilzen. Louren Sturvesant und ich sahen einander schweigend an. Wir hatten ein Wunder miterlebt.
Ich wachte aus einem quälenden Alptraum auf, einem Inferno aus glänzenden schwarzen Gesichtern und schweißpolierten, von krachend röhrenden Flammen beleuchteten Körpern, Schreien der Sterbenden und dem Brüllen bluttrunkener Stimmen. Ich knipste die Nachttischlampe an und schaute auf die Uhr. Es war noch früh, kurz vor elf. Ich schlug das Bettlaken zurück und stand auf; es überraschte mich, daß meine Beine zitterten
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und mein Atem stockte. Bei jedem Atemzug spürte ich einen stechenden Schmerz und ein dumpfes Ziehen hinter den Augen. Mein Körper glühte fieberheiß. Ich ging zum Waschbekken und schüttelte drei Aspirin aus dem Röhrchen. Ich schluckte sie mit einem Mundvoll Wasser herunter, woraufhin das Kitzelgefühl in meinen Lungen noch stärker wurde. Ich hustete, als hätte ich sechzig Zigaretten geraucht, und zitterte und schwitzte vor Anstrengung. Meine Haut schien zu brennen. Ohne richtig zu wissen warum, zog ich meinen Bademantel an und ging hinaus auf den Hof. Am Himmel stand ein halber Mond, gehörnt und gelb. Die Schatten draußen waren dunkel und trüb. Ich fühlte immer noch die Furcht und den Schrecken meines Traums, als ich in mein Büro eilte. Ich blickte mich nervös um. Sogar den Anflug von Rauch in der Nachtluft roch ich, und auch das beschwerte mich. Ich schnupperte ihn, fühlte einen schwachen Stich tief in meiner Lunge. Ich erreichte die Tür meines Büros, irgend etwas wartete dort im Dunkel auf mich. Aus dem Augenwinkel sah ich es auf mich zustürzen, ein großes schwarzes Ding, rund und formlos und tödlich still. Ich drehte mich um, fiel schwach vor Entsetzen an die Hüttenwand. Ein Schrei gurgelte und erstarb in meiner Kehle, denn da war nichts. Es war verschwunden, ich hatte es mir eingebildet, aber jetzt schlug der Schmerz in meinem Kopf wie mit Hämmern. Ich zog die Tür auf und fiel in mein Büro, keuchend vor namenloser, unergründlicher Angst. Etwas kratzte draußen an der Tür, ein furchtbares Geräusch wie von Tierkrallen, das an meinen bebenden Nerven zerrte. Ich wich bis zum Schreibtisch zurück, wo ich mich zitternd, schüttelnd und schwach verkroch. Da war das Geräusch wieder, aber diesmal von der Wand neben mir. Ich wirbelte herum und hörte mich selbst wimmern. Ich brauchte eine Waffe, ich blickte verzweifelt in die Run-
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de. Huys große Schlachtaxt hing über meinem Schreibtisch an der Decke. Ich riß sie herunter und zog mich in eine Ecke zurück. Die Axt hielt ich kampfbereit vor der Brust. Ich hustete. Plötzlich fing der Packen Papier auf meinem Schreibtisch an zu schaukeln, zu schwanken, er wechselte seine Form, kroch über meinen Schreibtisch und breitete weiße Fledermausflügel aus. Ich spürte Gänsehaut über meinen Körper kriechen. Das Papier flog mir jetzt direkt ins Gesicht. Ich sah ein weit geöffnetes Maul mit einem Kranz von nadelscharfen Vampirzähnen, hörte schrilles Quietschen, als es angriff. Ich schrie vor Entsetzen und schlug mit der Axt zu. Das weiße Ding flatterte und quietschte an meiner Kehle, ich kämpfte und schrie, streckte es zu Boden, wo es kroch und sich ekelhaft wand. Ich schlug wieder zu, und tintenschwarzes Blut spritzte aus dem Ding. Ich begann wieder zu husten, noch heftiger jetzt. Der Husten beutelte meinen ganzen Körper, schüttelte mich und preßte mich gebückt gegen die Wand. Ich hustete, bis meine Sicht in helle Lichter zerbarst und hatte einen salzig-süßen Geschmack im Mund. Ich sank an der Wand in die Knie, mein Mund war voller warmer Nässe, und ich spuckte einen dicken Klumpen helles Blut. Ich starrte darauf, ohne zu begreifen, was mir widerfuhr. Ich wischte mir die Lippen. Als ich meine Hand ansah, war auch sie blutverschmiert. Da wußte ich, was es war. Louren und ich waren an zwei versiegelten Türen vorbei in die Tiefen eines seit zweitausend Jahren verschlossenen Grabes eingedrungen – wir hatten die Luft geatmet, die mit den Sporen von cryptococcus rieuromyces verseucht war, dem Fluch der Pharaonen. Es war zu spät, mich selbst wegen meiner Unvorsichtigkeit zu beschimpfen. Ich hatte angenommen, daß der restliche Teil ebenso sicher war wie das Archiv. In meinem Eifer und meiner Aufregung hatte ich überhaupt nicht mehr an die Pilzgefahr
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gedacht, selbst dann nicht, als Louren und ich über die Türsiegel gesprochen und ich den Pilzgeruch im Grab der Könige wahrgenommen hatte. Jetzt war meine Lunge verstopft mit den ekligen Kolonien des lebenden Pilzes, ein wachsendes, lebendiges Ding in meinem Inneren, das sich von dem weichen Gewebe meines Körpers nährte und sein Gift in mein Blut goß und so in mein Gehirn eindrang. »Behandlung«, keuchte ich, »muß behandelt werden.« Und ich schwankte auf mein Bücherregal zu. Ich versuchte die Buchrücken zu lesen, aber die Buchstaben verwandelten sich in kleine schwarze Insekten und krochen davon. Plötzlich rollte sich eine fleckige Schlange vom obersten Regal hinunter, eine widerliche Puffotter mit zuckender schwarzer Zunge. Zu Tode erschrocken floh ich in die Nacht hinaus. Der Rauch war dick, würgte mich, daß ich wild hustete. Flammen um mich erleuchteten alles mit einem fahlen Glühen, überall huschten dunkle Gestalten und seltsame Laute. Ich sah Lourens Hütte und rannte darauf zu. »Louren«, brüllte ich, indem ich durch die Tür stürzte. »Louren!« nach Luft schnappend, hustend. Das Licht ging an. Sally war allein in Lourens Bett, sie setzte sich auf, schläfrig, sanftäugig, nackt und sah mich blinzelnd an. »Wo ist er?« schrie ich sie an. Sie blickte verwirrt, begriff nicht. »Ben, was ist? Du blutest!« »Wo ist Lo?« Es ging um Leben und Tod. Ich mußte ihn finden. Er hatte dis Gift auch eingeatmet. Ich mußte ihn finden. Sally schaute auf das Kissen neben sich. Es trug noch die Delle von Lourens Kopf. »Ich weiß nicht«, sagte sie großäugig, verdutzt. »Er war hier. Er muß nach draußen gegangen sein.« Ich hustete in einem langen, würgenden Schluchzen und
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spürte frisches Blut in meinem Mund. Sally war jetzt ganz wach. Sie starrte mich an. »Ben, was ist?« »Neuromyces«, sagte ich, und sie stöhnte auf, als sie Blut mein Kinn hinunterfließen sah. »Louren und ich haben einen geheimen Gang hinter dem Sonnenbild im Archiv geöffnet. Er ist mit Sporen verseucht. Wir haben keine Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Es hat uns erwischt. Er ist jetzt bestimmt dort. Ich muß zu ihm.« Ich rang nach Atem. Sally sprang aus dem Bett, schlüpfte in ihren Morgenrock und kam zu mir. »Hol Ral Davidson. Atemgeräte. Seid vorsichtig. Folgt uns. Ich drehte die Türen auf. Die Stufen herunter. Geht unten nach links. Folgt uns. Louren hat es auch, es macht einen verrückt. Kommt schnell – verstehst du?« gurgelte ich heraus. »Ja, Ben.« »Hol Ral«, sagte ich und drehte mich um. Ich rannte hinaus in den Rauch und die Flammen und die Dunkelheit, rannte zu den Klippen und der Höhle. Die hohen Wände des Tempels ragten über mir, lange versunkene Wände. Die großen phallischen Türme Baals zeigten zum Mond, beleuchtet von den Flammen einer brennenden Stadt. Türme, die nach so langer Zeit wiedererstanden. Sie schrien, die Frauen die lebendigen Leibes mit ihren Kindern verbrannten. Tote Männer lagen über meinen Pfad verstreut, niedergemacht wie die Ernte des Teufels, ihre Gesichter schrecklich im Mondlicht. »Louren«, ich rannte weiter durch den Tempel. Sie verstellten mir den Weg, dunkel und wild, vorwärtsdrängend, um mir zu widerstehen. Dunkel, ungestalt, fürchterlich, und ich flog ihnen mit einem seltsamen Schlachtruf entgegen, der aus meiner blutverstopften Kehle gellte. Die riesige Axt beschrieb ihre Silberkreise im Feuerschein, und ich war durchgebrochen, rennend.
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Ich erreichte die Höhle, sah, daß sie von qualmenden Fakkeln erhellt war, sah das Steinpflaster an die runde stille Schönheit des smaragdgrünen Teiches grenzen. Drumherum stiegen die Reihen der Steinbänke an wie vor zweitausend Jahren. Mit einer letzten enormen Willensanstrengung zwang ich mein Gehirn, diese Phantasien zu verweisen und die Wirklichkeit zu erkennen. Ich stolperte auf die Wachhütte am Eingang zu. Der Nachtwächter schaute verblüfft auf. »Großer Gott, geht’s Ihnen nicht gut, Doktor?« »Mr. Sturvesant, ist er im Tunnel?« »Ja.« »Wann ist er hineingegangen?« »Vor einer Stunde.« Der Aufseher kam auf mich zu. »Stimmt etwas nicht? Sie bluten, Doktor!« »Warten Sie hier«, sagte ich ihm. »Die anderen kommen gleich. Sie wissen, was zu tun ist.« Ich eilte weiter ins Archiv, roch noch den Rauch und hörte den Lärm der sterbenden Stadt in meinen Ohren dröhnen. Vor dem Bild des Sonnengottes ließ ich die große Schlachtaxt aus der Hand gleiten und auf dem Steinboden liegen. Ich stieß die Steintür auf und zwängte einen der Kriegsschilde in die Öffnung, damit die Tür nicht hinter mir zuschlug. Ich rannte die Treppe hinunter. Auf halbem Wege nach unten sah ich ein Lichtglühen im Grab. Die Tür mit dem eingravierten Götterfluch stand offen, von dem Kabel der Bogenlampe in den Angeln festgeklemmt. Die Lampe lag seitlich mitten in dem Grab, wo Louren sie hatte fallen lassen. Die Birne brannte noch, das Grab war hell erleuchtet. Louren lag auf dem Rücken am Fuß des riesigen Granitsarkophages von Lannon Hycanus, dem letzten König von Opet. Er war nackt bis zur Taille. Sein Gesicht war totenbleich, die
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Augen geschlossen, helles Blut fleckte seine Mundwinkel und rann ihm über die Wangen in Ohren und Haare. Mit letzter Kraft wankte ich zu ihm und fiel neben ihm auf die Knie. Ich beugte mich über ihn, versuchte ihn aufzurichten, die Arme um seine Schultern gelegt. Seine Haut war feucht und brennend heiß, und sein Kopf rollte haltlos nach hinten. Ein neuer heller Blutstrom rann aus seinem Mund über meine Hände. »Louren«, rief ich, während ich ihn an meiner Brust hielt. »Oh, mein Gott, hilf mir doch! Hilf mir!« Es war noch Leben in ihm, ein letztes Zucken. Er öffnete die Augen, diese blaßblauen Augen, die bereits von den ersten Schatten des Todes verdunkelt waren. »Ben«, flüsterte er, an seinem eigenen Blut würgend. Er hustete, verspritzte Tropfen des hellen Lungenblutes. »Ben«, wisperte er so leise, daß ich es kaum hören konnte. »Bis zum bitteren Ende?« »Bis zum bitteren Ende, Lo«, flüsterte ich, während ich ihn wie ein schlafendes Kind hielt. Sein Kopf schmiegte sich an meine Schulter. Er schwieg eine kurze Weile, dann regte er sich plötzlich wieder, und als er sprach, war seine Stimme klar und fest. »Fliege!« sagte er. »Fliege für mich, Vogel der Sonne.« Und das Leben verließ ihn, er wurde ein Nichts in meinen Armen, der große wilde Geist entflogen. Ich kniete über ihm, meine eigenen Sinne schwanden. Die Welt schwankte und schaukelte unter mir. Ich glitt über den Rand hinunter in die quirlende Dunkelheit der Zeit. Hinunter in eine Art Tod, eine Art Leben, denn während meines Sterbens träumte ich einen Traum. In meinem vergifteten Todesschlaf, der einen Augenblick und eine Million Jahre dauerte, träumte ich von Menschen einer längst vergangenen Zeit …
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II
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An den dreißig Tagen der Prophezeiung fehlten nur noch zwei, als Lannon Hycanus und sein Gefolge an der Bucht des Kleinen Fisches am Ufer des großen Sees ankamen. Es war schon dunkel, als die zehn Schiffe der Flotte in den flachen Gewässern der Bucht vor Anker gingen, und ihre Fackeln und Lampen warfen lange verzerrte Lichtbahnen über das schwarze Wasser. Lannon stand neben dem hölzernen Schanzdeck und blickte über die Papyrusfelder und die versteckten Wasserwege im Süden, wo das offene Land begann und sich unendlich ins Unbekannte ausdehnte. Er wußte, hier lag seine Zukunft und die seines Volkes. Achtundzwanzig Tage lang hatte er gejagt, und jetzt fühlte er ein ungewohntes Angstfrösteln seine Arme entlangziehen. Es war nicht die Angst vor den schrecklichen Tieren, die er suchte, sondern die Angst, daß sie sich ihm weiter entziehen könnten. Er hörte hinter sich auf dem hölzernen Deck leichte Fußtritte und drehte sich schnell um. Die Hand auf dem Knauf seines Dolches unter dem Lederumhang entspannte sich, als er im Licht der Fackeln die unverkennbare Figur des Mannes sah. »Huy«, grüßte er ihn. »Mein Gebieter, du mußt jetzt essen und schlafen.« »Sind sie schon gekommen?« »Noch nicht, aber sie werden noch vor Morgengrauen eintreffen«, erwiderte der Bucklige, während er näher an seinen Prinzen herantrat. »Komm, du wirst morgen eine ruhige Hand und ein klares Auge brauchen.« »Manchmal kommt es mir vor, als hätte ich zehn Frauen, nicht nur neun«, lachte Lannon und bedauerte seinen Scherz, als er sah, wie die Röte ins Gesicht des Buckligen schoß; schnell fuhr er fort: »Du verwöhnst mich, alter Freund, aber ich glaube, heute nacht werde ich dem Schlaf so vergeblich nachjagen wie in diesen achtundzwanzig Tagen seit der Beerdigung
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meines Vaters dem Grau-Löwen.« Er schaute hinüber zu den anderen neun Schiffen, den Schiffen der neun Familien, die gekommen waren, um zu sehen, wie er sich sein Recht auf den Thron von Opet und die vier Königreiche nehmen und seinen Grau-Löwen töten würde. »Schau sie dir nur an, Huy.« Sein Freund rückte näher an seine Seite. »Wieviele haben wegen meines Versagens den Göttern Opfer gebracht?« »Und jene, die loyal sind, und das Haus Barca, auf die wir uns absolut verlassen können?« »Du kennst sie selbst, mein Gebieter, Habbakuk Lal wird dir zur Seite stehen, bis die Meere zu Sand werden – das Haus Amon, das Haus Hasmon –« »Freilich«, unterbrach Lannon. »Ich kenne sie, Huy, jeden einzelnen für uns und gegen uns. Ich wollte nur deine beruhigende Stimme hören.« Mit einer liebevollen Geste berührte er die Schulter des Buckligen, bevor er wieder in die südliche Wildnis starrte. »Haben sie je den Tag vorausgesehen, an dem der GrauLöwe das Land verlassen würde, als sie die Prophezeiung machten? Daß ein Prinz die ganzen dreißig Tage, die ihm für seine Aufgabe zur Verfügung stehen, suchen muß, ohne auch nur Tatzenspuren der Bestie im Sand von Opet zu entdecken?« Lannon war plötzlich zornig. Er warf seinen Umhang über die Schulter und faltete die Arme über der nackten Brust. Seine Haut war frisch gesalbt, die Muskeln glänzten im Schein der Fackeln. »Mein Vater hat seinen Löwen am fünfundzwanzigsten Tag getötet. Das war vor 64 Jahren. Und schon damals sagte man, daß es mit den Grau-Löwen vorbei sei. Wieviele haben die Kundschafter seitdem zu Gesicht bekommen?« »Mein Gebieter, die Götter werden entscheiden«, versuchte ihn Huy zu besänftigen. »Wir haben jedes Versteck durchsucht, in dem der Grau-
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Löwe in den letzten 200 Jahren gesehen wurde. Fünf ganze Legionen haben die Sümpfe im Norden durchkämmt, weitere drei die Gebiete an den Ufern des großen Flusses.« Er unterbrach seine Rede und schritt auf dem Deck auf und ab. Dann blieb er stehen und sah auf die Decks im Innern des Schiffs mit den nackten Sklaven, die an ihre Bänke gekettet schliefen, vornübergebeugt, so wie sie auch sterben würden. Der Gestank von den Ruderdecks stieg in dieser schwülen Nacht beißend zu ihm auf. Er drehte sich um zu Huy. »Dieser Teil der Sümpfe ist der letzte Ort in meinem Königreich, wo sich vielleicht ein Grau-Löwe versteckt hält. Aber wenn nicht, was passiert dann, Huy? Gibt es keine andere Möglichkeit, mein Recht zu beweisen? Geben die Rollen keinen Hinweis?« »Keinen, mein Gebieter.« Huy schüttelte bedauernd den Kopf. »Dann erlischt das Königtum?« »Wenn kein Grau-Löwe gefunden wird, wird Opet keinen König haben.« »Wer wird dann regieren?« »Der Rat der Neun – allein.« »Und das königliche Haus? Was geschieht mit dem Haus Barca?« »Laß uns nicht davon reden«, riet Huy sanft. »Komm, mein Gebieter. Ein Sklave bereitet gerade einen Krug mit heißem gewürztem Wein und eine Fischsuppe vor. Der Wein wird dir zu Schlaf verhelfen.« »Wirst du morgen weissagen, mein Priester des Baal?« fragte Lannon plötzlich. »Und wenn der Spruch ungünstig ist, wird es dir schlafen helfen?« fragte Huy, und Lannon starrte ihn einen Moment lang an, bevor er in ein bellendes Lachen ausbrach. »Du hast wie immer recht. Komm, laß uns gehen, ich bin
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hungrig.« Lannon aß mit großem Appetit, während er nackt auf seinem fellüberzogenen Bett saß. Er hatte sein Haar gelöst, es hing ihm auf die Schultern herab, ringelte sich und schimmerte merkwürdig golden im Licht der hängenden Lampe. Er war eine gott-ähnliche Figur inmitten seiner dunkelhaarigen Untertanen. Die lederne Plane wurde zurückgeschlagen, und eine leichte Brise wehte herein, die die Kabine kühlte und den Gestank aus der Kombüse vertrieb. Das Schiff schaukelte leicht, leise knarrte das Holz, und vom oberen Deck hörte man die Schritte der Nachtwache – es waren alles bekannte und beruhigende Geräusche. Lannon wischte die Schüssel mit einem Stück Hirsebrot aus und spülte es mit dem letzten Schluck Wein hinunter. Zufrieden lächelte er Huy an. »Sing für mich, mein Sonnenvogel.« Huy Ben-Amon hockte sich zu seinem Prinzen ans Fußende des Bettes. Er hielt die Laute im Schoß und beugte sich über sie. Die Kurve seines Rückens übertrieb die Pose. Seine teerschwarzen Haarsträhnen fielen weit in sein Gesicht. Seine übermäßig entwickelten Arme schienen zu stark für die langen, zarten Finger, die die Laute hielten. Er schlug einen Ton an, und sofort war Stille ringsumher. Die Fußschritte über ihnen verstummten, zwei Sklavenmädchen unterbrachen ihre Arbeit, um sich neben Lannons Bett zu knien, die streitenden Stimmen auf dem Schiff nebenan brachen ab: Huy sang. Seine Stimme tönte lieblich über das schwarze Wasser. Der Prinz und die Flotte lauschten. Dunkle Figuren kamen an die Reeling der anderen Schiffe, schauten schweigend hinüber zum Flaggschiff. Auf den Wangen einer der schönen Sklavinnen glitzerten Tränen, als Huy von verlorener Liebe sang. Dann brach Lächeln durch ihre Tränen, als Huy in eine zotige Marschmelodie der Sechsten Legion überwechselte.
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»Genug.« Huy schaute endlich von seiner Laute auf. »Morgen gibt es Arbeit, mein Gebieter.« Lannon nickte und berührte die Wange eines Sklavenmädchens. Sofort stand sie auf, löste das Schulterband ihrer Leinentunika und ließ sie zu Boden fallen. Sie war jung, geschmeidig, ihr Körper fast krankhaft schlank. Sie glitt an Lannons Seite. Das andere Mädchen blies die Lampe aus, und Huy stand vom Boden auf, die Laute über die Schulter gehängt. Dann ertönte eine Stimme in der Dunkelheit, wie das Brüllen eines großen Stieres drang sie von den Papyrusfeldern über das Wasser zum Flaggschiff, »Öffnet eure Linie für einen Freund!« »Wer nennt sich Freund?« fragte ein Wächter, und die Antwort dröhnte heiser. »Mursil, Jagdmeister des Hauses Barca.« Lannon sprang von seinem Bett auf. »Er ist gekommen!« rief er, warf seinen Umhang über die Schultern und eilte zur Leiter. Ein schmales Boot stieß an die Schiffsseite, und Mursil kam an Bord. Er war ein riesiger, ungeschlachter Mann, der mit seinem großen, fleischigen, von Sonne und Wein geröteten Gesicht fast wie ein Affe wirkte. Das Schiff war erwacht. Offiziere rannten an Deck, Fackeln loderten auf und erhellten die Nacht; die Aufregung und Betriebsamkeit erfaßte alle. Mursil eilte auf Lannon zu. Er öffnete sein Gewand und fiel wuchtig vor Lannon aufs Knie. »Ich bringe gute Nachricht, mein Gebieter.« »Dann bist du willkommen.« »Dieser hier«, Mursil griff hinter sich und zerrte einen kleinen Buschneger vor, den er mitgebracht hatte, »dieser hier hat gefunden, wonach wir suchen.« »Du hast ihn gesehen?« fragte Lannon.
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»Nur die Spur seiner Tatzen, aber dieser hier hat die Bestie mit eigenen Augen gesehen.« »Wenn es wahr ist, sollt ihr gut belohnt werden – ihr beide«, versprach Lannon Hycanus und wandte sich mit triumphierendem Grinsen zu Huy. »Die Götter haben entschieden. Das Haus Barca hat wieder eine Chance.«
Der Himmel war nur ein wenig heller als das dunkle, brütende Moor, geisterhaft strich eine Ente durch die Luft, und mit jeder Minute wurde das Licht stärker. Eine halbe Meile entfernt weidete eine Büffelherde wie ein dunkler Ballen auf dem offenen Flachland. Mit zunehmendem Licht bewegten sie sich schneller, eilten in die Sicherheit des Schilfs, an die 200 riesige Büffelkolosse mit gepanzerten Köpfen und gedrungenen schwarzen Schultern. Von dem sumpfigen Boden stiegen Nebelschwaden auf, und die endlosen Papyrusufer waren im Schweigen der Dämmerung erstarrt. Der große Leitstier hielt plötzlich vor dem Papyrusfeld inne. Er hob seine Nase hoch in die Luft und spreizte die Ohren weit auseinander. Mit kleinen, mißtrauischen Augen prüfte er das Schilffeld vor ihm. Hinter ihm hielt die Herde an, aufmerksam geworden durch seine Reglosigkeit. Der Grau-Löwe kam mit voller Geschwindigkeit aus dem Schilf geschossen, ein grau-brauner Schatten. Mit einem gewaltigen Satz fiel er den Büffel an und krallte sich in seinen Rücken. Die langen Zähne schlugen im Nacken ein, während eine Tatze nach vorn reichte und mit einem einzigen kraftvollen Ruck den Hals nach hinten drehte. Das Genick
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brach mit einem scharfen Knacken, und der Büffel stürzte im Lauf nieder. Bevor er fiel, hatte der Grau-Löwe ihn schon losgelassen. Leicht war er auf den Boden gesprungen, schien ihn kaum zu berühren, bevor er erneut sprang, ein weicher brauner Blitz, und eine Kuh tötete. Sechs Tiere schlug der Grau-Löwe, bevor er die panisch drängende Herde laufen ließ. Dann stand er da im seidenen Licht der Dämmerung. Sein langer Schwanz mit der schwarzen Quaste peitschte jagdlüstern hin und her. Jeder Muskel war gespannt und geschwollen. Die große Bestie stand halb geduckt, den flachen Kopf emporgehoben, als wolle sie das Gewicht der langen, weißen Zähne vermindern, die sich fast auf den flauschigen Pelz der Brust hinunterbogen. Groß wie ein Mann und schwer wie ein Pferd, bewehrt mit diesen legendären Zähnen und Krallen, war dies die gefährlichste Katze, die die Natur je hervorgebracht hatte. Das Tier drehte sich um und ging zu der Stelle, wo sein letztes Opfer im kurzen Steppengras lag. Der Grau-Löwe hob den Kopf, die massigen Kiefern teilten sich, die lange rosa Zunge rollte zwischen den unglaublichen Zähnen hervor, und er brüllte. Es war ein Geräusch, das den purpurnen Morgenhimmel zu erschüttern schien und die Erde erzittern ließ.
In der Morgendämmerung begrüßte Huy Ben-Amon auf dem schmalen schlammigen Strand seinen Gott. Huy trug eine leichte lederne Jagdrüstung, einen ledernen Brust- und Armschutz über einer kurzen Leinentunika und einen mit Bronze verzierten Lederrock. Seine Waffen hatte er neben sich gelegt,
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um das Opfer zu bringen, einen Boten zum großen Baal zu schicken. Einen Boten, der den Wunsch Lannon Hycanus’ zu seinem Gott tragen sollte. Der Prinz und seine Edelleute hatten sich im Halbkreis gen Osten um den Priester versammelt. Baal zeigte die Spitze seines goldenen Bogens am Horizont. Sie hoben die Arme zu ihm empor, ihre Finger zum Sonnenzeichen gespreizt. »Großer Baal«, rief Huy seinen Gruß zum Himmel. »Deine Kinder grüßen Dich!« Huys dunkles, habichtähnliches Antlitz war von mystischem Glanz beleuchtet, der ihm eine eigentümliche Schönheit verlieh. »Wir sind an diesen Ort gekommen, um einen König für Dein Volk zu wählen, und erbitten Deinen Segen für unser Bemühen.« Huy kannte seine Götter, und obwohl er sie liebte, wußte er doch von ihren allzu menschlichen Schwächen. Sie waren eitel, launisch, empfindlich, gierig und manchmal ganz einfach faul. Man mußte ihnen schmeicheln und gut zureden, mußte sie bestechen und ermutigen, mußte ihnen besondere Zeremonien und Schauspiele bieten, um ihr erschlafftes Interesse und ihre nachlassende Aufmerksamkeit zu erheischen. Opfer waren nötig, um ihr Verlangen nach warmem Blut zu stillen, was Huy persönlich widerwärtig fand. Aber das Opfer hatte auch in der vorgeschriebenen Form zu geschehen, wenn es den Göttern wohlgefällig sein sollte. Huy fragte sich, ob er richtig gehandelt hatte, als er Lannon überredete, anstelle eines Sklaven ein Tier zu opfern. Die Götter bevorzugten menschliches Blut, aber Huy hatte Lannon eingeredet, daß ein Bulle – bei dem Versprechen, später einen Sklaven zu opfern – mehr Erfolg verspräche. Es bereitete Huy keinerlei Gewissensbisse, mit den Göttern zu handeln, zumal wenn es den Augenblick hinauszögerte, wo er in die flehenden Augen eines verurteilten Sklaven blicken mußte. In den fünf Jahren, seit Huy das religiöse Leben
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von Opet überwachte, waren nicht mehr als 100 Menschenboten zu den Göttern gesendet worden. Es hatte aber in der Geschichte der Stadt Zeiten gegeben, da war diese Zahl bei einer einzigen Zeremonie entsandt worden. »Wir schicken Dir einen prächtigen weißen Bullen, um unsere Nachricht zu übermitteln.« Huy drehte sich um und ging auf das Tier zu. Es stand ruhig da, während Huy die Geieraxt von einem seiner Priester übernahm. Der Kreis der Edelleute zog sich etwas zurück. »Großer Baal, empfange unseren Boten!« schrie Huy und riß die Axt hoch, auf deren blanker Klinge die niedrigen Strahlen der Sonne blitzten. Mit einem bösartigen Zischen sauste sie herunter und durchschnitt den dicken Hals des Bullen. Der Kopf schien vom Rumpf zu schießen. Der Körper brach zu Boden, und das Blut sprudelte hervor. »Ein Zeichen, oh großer Baal!« schrie Huy mehr verlangend als bittend. »Gib Deinen Kindern ein Zeichen!« Seine Stimme war winzig in dieser Weite von Sumpf, Himmel und Wasser. Die Stille von Jahrtausenden schien über den Sümpfen zu liegen. Eine Schar Sporengänse flog mit schwer schlagenden Flügeln, die langen Hälse ausgestreckt, über ihre Köpfe hinweg; dunkle Silhouetten gegen die rosa Wolken des sonnenberührten Nebels. Huy beobachtete sie hoffnungsvoll. »Ein Zeichen, großer Baal!« Seine Ungeduld steigerte sich. Die Opfergabe war vorschriftsmäßig durchgeführt worden. »Ein Zeichen, großer Baal!« Dies war der dritte und endgültige Anruf, und er wurde fast sofort beantwortet. Ein Geräusch erhob sich aus der Richtung der Papyrusfelder, erschreckt stiegen Wasservögel auf, die flauschigen weißen Schilfkolben erbebten. Ein Geräusch, das wie Donnern am Hügel entlangrollte. Ein Geräusch, wie es keiner von ihnen je zuvor gehört hatte. Das Brüllen des Grau-Löwen. Huys finsteres Schmollen wich einem glückseligen Lächeln,
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er wandte sich seinem Prinzen zu. »Die Götter haben dir geantwortet, Lannon Hycanus.« Er sah die Gesichter der Priester, Edelleute, Krieger und Jäger, das abergläubische Staunen, mit dem sie ihn betrachteten. Später würde er Baal noch persönlich ein Opfer bringen, nichts Aufwendiges und Großes – ein Huhn vielleicht, als Dank für diese großartige Mitarbeit. »Zieh aus, Prinz von Opet, und schlag deinen Grau-Löwen«, sagte er.
Der kleine Buschneger führte sie einen Büffelpfad entlang. Es war ein grüner Schilftunnel, über ihren Köpfen schloß sich der Papyrus, verdeckte den Himmel. Unter ihnen der feuchte Torf des Moores mit dem schalen Geruch der Moortiere. Schließlich gelangten sie auf die offene Grassteppe. Kurzes, hellgrünes Gras, von unzähligen Büffelherden abgefressen. Der Buschneger ging am Rande des Papyrusfeldes weiter. Sie bildeten eine schwerfällige Prozession, vier- bis fünfhundert Mann stark; einige der edlen Neun waren nicht bereit gewesen, an Land zu gehen und nach dem Grau-Löwen zu suchen ohne den Schutz einer dichten Wand von Bogenschützen und Axtkämpfern um sich herum. Sie waren weit hinter Lannons Gruppe zurückgefallen, die aus Mursil, dem Jagdmeister, dem Buschneger, dem Priester Huy und seinen beiden Waffenträgern bestand. Die Götter hielten ihr Versprechen vom Morgen. Der Buschneger führte sie um ein Papyrusfeld in eine andere Grasbucht. Sie wirkte wie eine natürliche Arena, an drei Seiten eingefaßt von dunklen Schilfstauden – eine große, saftige Grasfläche, ungefähr eine halbe Meile im Durchmesser.
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In der Mitte dieser Schneise lagen in regelmäßigen Abständen, klar erkennbar auf der offenen Steppe, sechs große Gegenstände, die allerdings auf diese Entfernung nicht gleich zu identifizieren waren. Mursil, der Jagdmeister, sprach hastig mit dem Pygmäenspäher in einem unverständlichen Dialekt. »Mein Gebieter, er sagt, es seien tote Büffel, die der GrauLöwe geschlagen hat«, übersetzte Mursil mit dem warmen Hauch seiner Weinfahne. »Wo ist die Bestie?« fragte Lannon, und der Buschneger wies in die Richtung. »Dort drüben, hinter dem zweiten Kadaver. Sie hat uns gesehen und gehört und hält sich jetzt versteckt«, erklärte Mursil. »Kann er ihn sehen?« fragte Lannon. »Jawohl, mein Gebieter. Er kann die Spitze seiner Ohren und die Augen sehen. Er beobachtet uns.« »Auf die Entfernung?« fragte Lannon ungläubig und schaute auf den Buschneger hinunter. »Ich glaube das nicht.« »Es ist wahr, mein Gebieter. Er hat die Augen eines Adlers.« »Auf deine Verantwortung, wenn er Unrecht hat«, warnte Lannon. »Auf meine Verantwortung«, erwiderte Mursil bereitwillig, und Lannon wendete sich Huy zu. »Hilf mir bei den Vorbereitungen, mein Sonnenvogel.« Während sie Lannon die Rüstung abnahmen, seine Lenden mit Leinen umwickelten und seine Füße mit leichten Jagdsandalen bekleideten, wurden sie vom Rest der Prozession eingeholt. Einige der älteren Edlen wurden in kleinen Sänften getragen. Asmun, schwach und weißhaarig, ließ neben Lannon anhalten. »Mögt Ihr ihn sauber erlegen«, rief er dem Prinzen zu, »wie einst Euer Vater.« Die Jagdgesellschaft verteilte sich am Rande des Schilffeldes, ihre Waffen und Rüstungen blitzten in der
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Sonne. Stille trat ein, als Lannon sich an sie wandte. Er war nackt bis auf den Lendenschurz, seine Haut war geschmeidig und überraschend weiß gegen das von der Sonne gebräunte Gesicht. Es war ein bildschöner Körper, groß und edel proportioniert, mit breiten Schultern und schlanken Hüften. Seine Locken wurden von einem purpurnen Kopfband gehalten, sein Bart war unter dem Kinn zusammengebunden. Er betrachtete die wartende Menge. »Ich erhebe Anspruch auf die Stadt Opet und die vier Königreiche«, sagte er schlicht, und seine Stimme drang klar vernehmbar zu jedem von ihnen. Huy brachte ihm die Waffen, den mannsbreiten ovalen Schild aus Büffelleder. In der Mitte waren die ›Augen‹ aufgemalt, zwei finster blickende Eulenaugen in Weiß und Gelb. Auf ein wildes Tier wirkt dies als aggressiver Blick vor dem Angriff. »Möge der Schild dich beschützen«, sagte Huy mit sanfter Stimme zu ihm. »Ich danke dir, alter Freund.« Als nächstes reichte Huy ihm den Löwenspeer, eine schwere und unhandliche Waffe, die nur ein kräftiger Mann benutzen konnte. Der Schaft aus schwarzem Holz, im Feuer gehärtet und mit grünem Leder bezogen, war so dick wie Lannons Handgelenk und doppelt so lang wie er selbst. Die glatte Spitze war verhältnismäßig breit und schwer, mit Lederriemen am Schaft befestigt, die gerundete Spitze scharf wie eine Rasierklinge. Sie war dazu bestimmt, tief ins Fleisch einzudringen und dort eine klaffende Wunde zu schlagen. »Möge diese Speerspitze das Herz treffen«, flüsterte Huy und fügte dann lauter hinzu, »brüll für mich, Grau-Löwe von Opet.« Lannon berührte die Schulter des Priesters und drückte sie kurz.
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»Fliege für mich, Sonnenvogel«, sagte er und wandte sich ab. Mit dem Schild über der Schulter, darauf bedacht, daß die ›Augen‹ verborgen blieben, schritt Lannon auf die lauernde Bestie zu. Er wirkte groß und stolz im Sonnenlicht, ein wahrer König, und Huys Liebe begleitete ihn. Huy begann leise zu beten. Während Lannon durch das weiche Gras dahinschritt, erinnerte er sich an all die guten Ratschläge, die ihm seine ältesten und besten Jäger gegeben hatten. Er ging noch einmal jede einzelne Bewegung durch. »Warte, bis er grollt, bevor du ihm die Augen zeigst.« »Laß ihn im Winkel auf dich zukommen.« »Sein Schädel ist wie aus Eisen, die Knochen seiner Schultern würden auch das beste Metall verbiegen.« »Es gibt nur eine Stelle – der untere Teil des Halses, zwischen Rückgrat und Schulter.« Dann fielen ihm die Sätze dessen ein, der als einziger je selbst einem Grau-Löwen gegenübergestanden hatte, Hamilcar Barca, sechsundvierzigster Grau-Löwe von Opet: »Wenn der Speer eingedrungen ist, halte ihn fest, mein Sohn, klammere dich um dein Leben an ihn. Denn der Grau-Löwe lebt noch, und nur der Speerschaft hält ihn dir fern, bis er stirbt.« Lannon ging mit ruhigen Schritten, den aufgedunsenen Kadaver des Büffels stets im Auge behaltend, ohne die Bestie zu sehen. »Sie haben sich geirrt«, dachte er, »dort drüben ist nichts.« In der Stille konnte er sein eigenes Herz schlagen hören, seine eigenen Fußtritte und das Zischen und Saugen seines Atems. Er beobachtete den toten Büffel und schritt weiter, das Ende des Speeres fester unter den rechten Arm klemmend. »Er ist nicht da, der Grau-Löwe ist verschwunden«, dachte er, doch dann sah er plötzlich eine Bewegung vor sich. Lediglich das Zucken von zwei Ohren, die sich kurz aufrichteten. Er wußte, daß das Tier auf ihn wartete. Er merkte, wie seine
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Schritte schleppender wurden, die Beine bleischwer vor Angst, aber er zwang sich weiterzugehen. »Angst ist der Zerstörer«, dachte er und versuchte, sie zu unterdrücken, aber sie lastete kalt und schwer auf seinem Magen. Er schritt weiter, und plötzlich richtete sich der Grau-Löwe neben dem Kadaver des Büffels auf. Er stand dort, mit gespitzten Ohren, der Schwanz wedelte träge, und er beobachtete ihn mit erhobenem Kopf. Lannons Herz setzte aus, er zögerte. Wie unglaublich groß der Löwe war, wie das Geschöpf eines Alptraums. Er war nur noch zweihundert Schritte entfernt und ging weiter auf das Tier zu. Während er die ›Augen‹ zu verbergen suchte, sah er, wie der Schwanz des Löwen immer schneller, gespannter hin und her peitschte. Er war nur noch hundert Schritt entfernt, und der Schwanz des Löwen peitschte jetzt wütend gegen seine Flanken. Die Katze duckte sich leicht und legte die Ohren flach an. Lannon konnte jetzt die Augen erkennen, heiße, gelbe Augen in der gescheckten Gesichtsmaske. Er schritt weiter, und die Mähne des Grau-Löwen sträubte sich, ließ die Form seines Kopfes anschwellen, während er sich noch tiefer duckte. Sein Schwanz peitschte wütend, und Lannon schritt weiter auf ihn zu. Fünfzig Schritte trennten sie nun, der Grau-Löwe grollte. Es war die unterdrückte Drohung eines fernen Donners, das Trommeln eines Erdbebens, das furchterregende Geräusch von Wellen, die gegen sturmgepeitschte Küsten donnern. Lannon hielt inne, mit diesem Geräusch in den Ohren konnte er nicht weitergehen. Wie gelähmt starrte er auf das immer zorniger werdende schreckliche Tier. Lange Sekunden zögerte er, dann riß er mit einer von der Angst diktierten Bewegung den Schild vom Rücken und zeigte die ›Augen‹. Die beiden starrenden Kreise brachten die Wut
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der Bestie sofort zum Ausbruch. Den Schwanz mit der schwarzen Quaste hoch erhoben, reglos nun, den Kopf tief gegen die Brust gepreßt, griff er an. Im Augenblick des Angriffs richtete sich Lannon auf die Zehenspitzen und sprang vorwärts. Die Fesseln der Angst fielen von seinen Gliedern, und er lief mit langen, festen Schritten auf die Bestie zu. Er lief quer im Winkel, zwang den Grau-Löwen, sich zu ihm hinzuwenden und den Nacken und die Seite seiner Brust zu entblößen. Während er lief, tanzte die Spitze seines Speeres hoch vor ihm her, wie eine Feuerfliege im Licht der Sonne. Der Grau-Löwe raste auf ihn zu, den Kopf geduckt, so daß die unglaublichen gekrümmten Zähne fast seine Brust berührten. Er schien sich ins Gras zu drücken, während er zum Todessprung ansetzte. Seine enormen Maße füllten Lannons Blick. Im letzten Augenblick hob Lannon die Speerspitze leicht an und richtete sie auf die entscheidende Stelle am Ende des Nakkens, und mit voller Wucht sprang der Grau-Löwe in den Speer. Die Spitze drang tief in den braunen Körper. Das Ende des Speers schnellte im Aufprall nach oben und preßte Lannon in die Knie – aber er hielt den Speer fest. Er wurde von den Füßen gerissen, flog am Speerschaft durch die Luft, als der Grau-Löwe sich aufrichtete, dann schleuderte es ihn zu Boden, als die große Katze niederfiel. Er spürte, wie ihm die Muskeln und Sehnen in Arm und Schultern rissen, spürte die Krallen des Grau-Löwen nach dem dünnen Schild schlagen, spürte Schwäche in seinem Körper und Dunkelheit in seinem Kopf, aber der Sturm tobte weiter und erschütterte ihn. Noch einmal brüllte der Grau-Löwe und richtete sich auf. Lannon wurde emporgeschleudert, der Stab des Löwenspeers brach wie ein brüchiger Zweig, und Lannon flog sekundenlang durch die Luft, das Ende des Speers noch immer in der Hand;
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dann schlug ihm die Erde die Luft aus der Lunge. Halb ohnmächtig vor Schmerz hockte er sich auf und schaute benommen um sich, das abgebrochene Ende des Speers an die Brust gedrückt. Nur zehn Schritte entfernt kroch der Grau-Löwe durch das Gras auf ihn zu. Der abgebrochene Speer ragte aus der Stelle hervor, auf die Lannon gezielt hatte. Die Bewegungen des Grau-Löwen hatten ihm die Spitze erbarmungslos ins eigene Fleisch getrieben und eine entsetzliche Wunde geschlagen, aus der das starke Herz das Blut pumpte, aber die Augen waren weiterhin auf ihn gerichtet, und die großen gekrümmten Reißzähne lechzten nach seinem Fleisch. Langsam kroch das Tier auf ihn zu, sein Atem trommelte in der mächtigen Kehle. Es schleppte die gelähmten Hinterläufe hinter sich her – sterbend, aber immer noch todbringend. »Stirb«, dachte Lannon, und beobachtete es fasziniert, vom Kampf erschlagen, unfähig, sich zu bewegen. »Stirb«, dachte er, »um Gottes willen, stirb.« Und plötzlich erschütterten die letzten Zuckungen die riesige Katze. Ihr Rücken krümmte sich, die Beine wurden steif, die Krallen rissen tiefe Furchen in die Erde, das Maul öffnete sich weit und rosa zu einem letzten, furchtbaren Stöhnen, sie starb. Im Halbkreis schrien die Zuschauer auf – ein Jubelschrei, der sich im großen Schweigen des Sumpfes verlor – und sie gingen langsam auf die winzige Figur des Königs in der Grassteppe zu; Huy aber lief, seine Haarsträhnen wehten, und die Geieraxt tanzte an seinen Schultern. Er hatte die Hälfte der Strecke zurückgelegt, als der zweite Grau-Löwe, der hinter einem Büffel versteckt war, aufstand. Huy sah ihn und schrie im Lauf: »Lannon! Hinter dir! Gib acht!« Lannon drehte sich um und sah ihn. Es war eine Löwin, mit helleren Farben und leichterem Körperbau, aber gefährlicher
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als das männliche Tier. Sie kam mit der tödlichen Konzentration einer pirschenden Katze auf Lannon zu. »Baal, beschleunige mich!« betete Huy, als er auf seinen Prinzen zulief und sah, wie er sich aufzurichten versuchte. Der Grau-Löwe setzte in kurzen, niedrigen Sprüngen vorwärts. Huy lief mit aller Kraft, von Schrecken und Angst um seinen Prinzen getrieben. Lannon stand inzwischen auf den Beinen und wich schwankend der pirschenden Katze aus. Diese Bewegung weckte die Jagdreflexe des Grau-Löwen – unerbittlich kam er näher. Huy schrie ihn an. »Hier!« schrie er. »Komm!«, und erst jetzt bemerkte ihn die Katze. Sie hob ihren Kopf und blickte ihn an. Die langen Reißzähne blitzten, die Augen leuchteten gelb. »Jawohl!« schrie Huy. »Hier bin ich!« Er sah, wie Lannon stolperte und fiel. Huy behielt die Bestie im Auge, sah, wie der Schwanz erstarrte und der Kopf sich senkte. Sie griff an, und Huy parierte. Er stand mit der Axt über der Schulter; auf seine langen kräftigen Beine gestützt, ließ er den GrauLöwen direkt auf sich zukommen. Während sich der Abstand verringerte, konzentrierte er sich auf das schwarze Karo zwischen den Augen des Grau-Löwen und wartete. Die Axt flog hoch, und der Grau-Löwe legte die letzten Schritte flüchtig wie ein grau-brauner Schatten zurück, den kleinen Buckligen überragend. »Für Baal!« heulte Huy, die Axt klagte im Schwung. Das Axtblatt krachte gegen den Schädel, grub sich ins Gehirn des Grau-Löwen und sprang sofort vom Griff, als das volle Gewicht der Bestie auf seiner Brust landete. Huy kehrte von tief unten durch einen Tunnel röhrender Dunkelheit ins Bewußtsein zurück. Als er die Augen öffnete, kniete Lannon Hycanus im Sonnenlicht über ihm – der siebenundvierzigste Grau-Löwe von Opet. »Narr«, sagte der König, sein eigenes Gesicht verletzt und
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angeschwollen, von trockenem Blut verklebt. »Oh, dieser tapfere, kleine Narr!« »Tapfer, ja«, flüsterte Huy schmerzvoll, »aber niemals ein Narr, Majestät.« Und er sah, wie Lannons Augen erleichtert aufleuchteten.
Sie nagelten die feuchten Häute der beiden Grau-Löwen an den Großmast des Flaggschiffs, und die Oberhäupter der neun Häuser von Opet schworen dem vor ihnen auf weichen Fellen ruhenden Lannon Hycanus den Treueeid. Huy Ben-Amon trug trotz des Protestes seines Königs den Lebensbecher. »Du mußt ruhen, Huy. Du bist schwer verletzt, ich fürchte, deine Rippen sind …« »Mein Gebieter, ich bin der Mundschenk. Willst du mir diese Ehre verwehren?« Asmun leistete als erster den Treueschwur. Seine Söhne halfen ihm aus der Sänfte, aber er schob sie von sich, als er auf Lannon zuschritt. »Du mit dem Schnee auf deinem Haupt und den Narben auf deinem Körper brauchst nicht zu knien, Asmun.« »Ich werde knien, mein König«, erwiderte Asmun und fiel vor ihm nieder. Baal mußte Zeuge des Eides dieses alten Mannes sein. Huy hob den Lebensbecher an seine Lippen, Asmun trank einen Schluck, und Huy trug den Becher zum König. Lannon trank und reichte ihn Huy zurück. »Trink auch du, mein Priester.« »Es ist nicht Brauch«, wehrte Huy ab. »Der König von Opet und den vier Königreichen macht es zum Brauch. Trink!« Huy zögerte einen Augenblick, dann hob er den Becher und
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nahm einen großen Schluck. Als Habbakuk Lal, der letzte der Neun, vortrat, war der Becher bereits fünfmal mit dem süßen Zengwein nachgefüllt worden. »Bereiten dir deine Wunden noch Schmerzen?« fragte Lannon sanft, als Huy ihm den Becher zum letztenmal brachte. »Majestät, ich spüre keine Schmerzen«, erwiderte Huy, kicherte plötzlich und vergoß ein paar Tropfen Wein auf die Brust des Königs. »Steig in die Lüfte, Sonnenvogel«, lachte Lannon. »Brülle laut, Grau-Löwe«, sagte Huy und lachte mit ihm. Lannon wandte sich an die Edlen auf dem Ruderdeck. »Speisen und Getränke stehen bereit.« Die Zeremonie war vorüber. Lannon Hycanus war König. Er wollte Opet noch vor dem nächsten Mittag erreichen und ließ den Heckanker lichten. Der Trommler am Bug des Flaggschiffs schlug mit hölzernen Stöcken auf einem hohlen Baumstamm den Rhythmus zum Rennstart. Drei schnelle, zwei langsame, drei schnelle Schläge. Die Ruder tauchten ins Wasser, zogen durch, kamen wieder hoch, tauchten zurück im Rhythmus der Trommel. Es geschah in perfekt eingespielten schwingenden Bewegungen, und der schmale, lange Schiffsrumpf schnitt durch das vom Sonnenuntergang rot gefärbte Wasser des Sees. Die Standarte des Hauses Barca wehte am Großmast, und die hohen Aufbauten an Heck und Bug ragten stolz über die Papyrusufer zu beiden Seiten. Als das Flaggschiff vorbeiglitt, senkten die anderen Boote ihre Standarten und ordneten sich hinter ihm ein. Nur sein hinkender Gang verriet Huys Unbehagen, während er von einer Gruppe zur anderen über das von Fackeln beleuchtete Schiff schritt. Bei jeder trank er einen Schluck Wein, beteiligte sich hier und da am Würfelspiel. Der strahlend weiße Stern Astartes war untergegangen, als Lannon und Huy endlich zusammen unter den ausgebreiteten
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Fellen der Grau-Löwen standen und über das Deck schauten. Die Szene wirkte wie ein Schlachtfeld nach dem Kampf, Körper lagen verstreut umher im Licht der Fackeln, wo sie gerade besinnungslos hingesunken waren. Ein Weinfaß rollte hin und her im leichten Schlingern des Schiffes. »Wieder ein Sieg«, sagte Lannon mit schwerer Zunge, als er mit leicht glasigen Augen das Bild der Zerstörung betrachtete. Seine Knie gaben plötzlich nach, er schwankte eine Sekunde und fiel vorüber, Huy fing ihn geschickt auf und hob ihn sorgsam auf seine Schulter. Die eigenen Schmerzen nicht achtend, trug er den König in die Hauptkabine unter Deck. Er legte Lannon aufs Lager und bettete ihm Kopf und Glieder. Er verharrte noch eine kurze Weile über dem hingestreckten Mann. »Schlaf süß, mein schöner König«, lallte er und torkelte zu seiner eigenen Kabine. Wenige Augenblick später erschütterte sein Schnarchen das Schiff bis zum Kiel. Am nächsten Morgen gelangten sie in die flachen Gewässer, und Habbakuk Lal ging nach vorn zum Bug, um selbst das Schiff durch den engen Kanal zu lotsen. Wasserhyazinthen, Papyrus und andere Wasserpflanzen drohten die Lebenslinie von Opet zu verstopfen. Die Kanalboote wichen aus, als die zehn großen Schiffe wie auf silberfeuchten Flügeln vorüberflogen. Die Offiziere grüßten die Standarte am Großmast mit geballter Faust, während die Sklaventrupps, die für immer dazu verurteilt waren, den See von Algen zu reinigen, nur mit großen staunenden Augen zusahen. Sie näherten sich Opet und segelten nun an der Fischereiflotte vorbei. Die Netze voller silbern schimmernder Fische wurden über die Seite eingeholt, weiße Möwenwolken flogen kreischend über ihnen. Dann erkannten sie am Horizont die Klippen. Dunkelrot schimmerten sie im Sonnenlicht, und die Männer versammel-
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ten sich an der Reeling, um diesen Augenblick der Heimkehr zu genießen. Mursil, der Jagdmeister, kam aufs Ruderdeck und kniete vor Lannon nieder. »Ihr habt nach mir gerufen, Majestät.« »Ja – nach dir und dem Pygmäen.« »Er ist hier, König.« »Ich habe dir eine Belohnung versprochen. Nenn deinen Wunsch.« »Mein Gebieter, ich habe drei Frauen, alle drei geldgierig.« »Willst du Gold?« »Wenn es Euch beliebt, mein Gebieter.« »Huy, schreib einen Auftrag für fünf Finger Gold an den Schatzmeister.« »Möge das Licht Baals ewig über Euch leuchten.« »Und wie steht’s mit den Pygmäen?« Mursil rief den kleinen gelben Buschneger zu sich, und Lannon betrachtete ihn aufmerksam. »Wie heißt er?« »Xhai, mein Gebieter.« »Versteht er unsere Sprache?« »Nein, mein Gebieter, er spricht nur seine eigene primitive Sprache.« »Frag ihn, was er wünscht – seine Freiheit vielleicht?« »Er versteht den Begriff Freiheit nicht. Er ist wie ein Hund, Majestät. Nehmt ihm seinen Herrn, und Ihr nehmt ihm den Sinn seines Lebens.« »Frag ihn, was er wünscht.« Mursil und der Buschneger sprachen eine ganze Weile in dem vogelähnlichen, zwitschernden Dialekt, bevor sich der Jagdmeister wieder dem König zuwandte. »Es ist ein merkwürdiger Wunsch.« »Nenn ihn.«
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»Er wünscht, mit dem, der den Grau-Löwen geschlagen hat, zu jagen.« Lannon starrte auf den Buschneger, der ihn mit der unwiderstehlichen Offenheit eines Kindes anstrahlte. »Verzeiht die Unverschämtheit, mein Gebieter.« Mursil wurde ein wenig unsicher und fing an zu schwitzen. »Er glaubt, Ihr seid ein Gott, und er möchte Euch gehören.« Lannon brach in dröhnendes Gelächter aus und schlug sich auf die Schenkel. »So sei es denn. Er wird zum Meister der königlichen Jagd erhoben – mit Bezahlung und allen Rechten. Nimm dich seiner an, Huy. Unterrichte ihn in unserer Sprache, und sollte dir das nicht gelingen, erlerne die seine.« »Ich bekomme nur Krüppel und Aufgelesene«, dachte Huy traurig. Sein Haushalt war voll von ihnen. Wann immer er genügend Gold für ein üppiges Sklavenmädchen gespart hatte, floß es jemand anderem zu, der zu alt oder krank war, seinen Lohn selbst zu verdienen und der deshalb von seinem Herrn in das Opferbecken Astartes geschickt wurde. Der Pygmäe würde wenigstens seinen Jagdmeisterlohn haben, um zu den Unkosten beizusteuern. Endlich erschien die Stadt am Horizont. Die Mauern des Tempels leuchteten rosarot im Sonnenlicht, und der untere Teil der Stadt strahlte in blendendem Weiß. Die Kriegsflotte von Opet kam ihnen zur Begrüßung entgegen. Die Schilder und Helme der Legionäre funkelten, und auf dem Goldschmuck des pfeilscharfen Bugs brach sich das Sonnenlicht. Die rohen Häute unter der Standarte des Hauses von Barca waren weithin sichtbar, und ein Jubelschrei schallte über das Wasser. Habbakuk Lal steuerte auf die steinerne Mole unterhalb der Stadt zu, wo sich die Menge am Strand versammelt hatte. Die gesamte Bevölkerung war in ihren schönsten und farbenpräch-
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tigsten Gewändern erschienen. Tausendfach war der Jubel für den neuen König. Im letzten Moment sauste Habbakuk Lals Hand nach unten, als Zeichen für die Trommler und den Steuermann. Die Bordwand berührte leicht die steinerne Mole. Lannon Hycanus und sein Gefolge schritten an Land. Lannons Frauen begrüßten ihn als erste. Es waren neun, von jeder Adelsfamilie eine – junge Edelfrauen, stolz und hübsch. Einzeln traten sie vor, knieten vor Lannon nieder und nannten ihn zum erstenmal ›Herr‹. Huy blickte sie traurig an. Sie waren anders als die gefügigen, dummen Sklavenmädchen, mit denen er sich die Zeit vertreiben mußte. Sie waren richtige Frauen. Mit einer solchen würde er gern sein Leben teilen. Er hatte es immer wieder versucht. In jedem der großen Häuser von Opet hatte er vorgesprochen – und war überall abgelehnt worden. Sie schauten nur auf seinen Rücken, und er konnte das sogar verstehen. Die würdevolle Szene fand ein jähes Ende, als die Zwillinge sich von ihren Kindermädchen losrissen und mit lautem »Juhu! Juhu!« den Landesteg hinunterliefen. Ohne auf ihren Vater und die versammelten Edlen zu achten, rannten sie auf Huy zu, tanzten um ihn herum und zupften an seinem Gewand. Als er sie hochhob, gab es ein Gerangel um seine Küsse, das in Haarziehen ausartete. Aber dann befreiten ihn die Kindermädchen von den stürmischen Liebkosungen. Huy verschwand in der Menge. Auf dem Weg zum Tempel erhandelte er ein Huhn und machte ein gutes Geschäft dabei. Nachdem er sein Opfer gebracht hatte, ging er zu seinem eigenen Haus auf dem Gelände der Priester zwischen der Außenund der Innenmauer des Tempels. Alle kamen, um ihn willkommen zu heißen. Mit ihren grauen Häuptern standen sie um ihn herum, tätschelten und bestaunten ihn. Neugierig warteten sie auf einen
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Bericht über seine jüngsten Erfolge und wollten die Geschichte der Jagd hören, während sie ihn badeten und Essen auftrugen. Er hatte sich gerade hingelegt, als die vier älteren Prinzessinnen erschienen. Sie waren zwischen sechs und zehn; sie hatten die schwache Verteidigungslinie seiner Sklaven durchbrochen und waren wie selbstverständlich eingedrungen. Mit einem Seufzer gab er den Gedanken an Ruhe auf und schickte eine von ihnen los, um seine Laute zu holen. Während er zu singen begann, schlich ein Sklave nach dem anderen in den Raum und setzte sich still an die Wand. Huy Ben-Amon war heimgekehrt.
Im Jahre 533 nach der Gründung von Opet, sechs Monate nachdem er den Grau-Löwen geschlagen und die vier Königreiche übernommen hatte, verließ Lannon Hycanus, das Oberhaupt des Hauses Barca, die Stadt Opet, um die Grenzen seines Landes abzuschreiten – ein Brauch, der seinen Anspruch endgültig besiegeln würde. Er war in jenem Frühjahr neunundzwanzig Jahre alt, ein Jahr alter als sein Hohepriester. Vier seiner Frauen begleiteten ihn, die kinderlosen, denn er hoffte, diesen Zustand während der zwei Jahre dauernden Reise zu ändern. Er nahm zwei Legionen von jeweils 2000 Fußsoldaten, leichter Infanterie, Axtkämpfern und Bogenschützen mit sich. Die Legionen bestanden hauptsächlich aus freigelassenen Yuye, die Offiziere stammten aus den edlen Familien von Opet. Sie waren nach römischem Vorbild organisiert, wie es Hannibal während seiner Feldzüge von Italien übernommen hatte. Zehn Kohorten bildeten eine Legion und sechs Zenturien eine Kohorte. Ihre Uniformen bestanden aus ledernen Brustpanzern, konischen Eisenhelmen, und runden, mit bronzenen
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Rosetten verzierten Lederschilden. An den Beinen trugen sie lederne Schutzbänder und an den Füßen genagelte Sandalen. Sie sangen beim Marsch. Die Offiziere waren ihrer edlen Herkunft entsprechend prächtiger gekleidet. Ihre Rüstungen waren aus Bronze, ihre Umhänge aus feinstem purpurrot gefärbtem Leinen. Sie marschierten an der Spitze ihrer Divisionen. Es gab keine Kavallerie. In fünfhundert Jahren war jeder Versuch fehlgeschlagen, Pferde vom Norden einzuführen. Die Tiere verendeten entweder während der Seereise oder bald nach der Ankunft in Opet an einer mysteriösen Krankheit, die ihnen das Fell sträubte und ihre Augen in blutrotes Gelee verwandelte. Statt der Pferde gab es Elefanten. Riesige, bösartige Bestien, die den Feinden Opets Angst einjagten, wenn sie angriffen, wobei die Schützen in den Burgen auf ihren Rücken Schwärme von Pfeilen herabhageln ließen. Im Schlachtgetümmel konnten sie ebensoviel Verwüstung in der eigenen Armee anrichten wie in der des Feindes. Ihre Wärter hatten deshalb stets einen Hammer und einen Dorn bei sich, um ihn ins Gehirn des wahnsinnig gewordenen Tieres zu treiben. Lannon nahm fünfundzwanzig dieser Tiere mit auf den Marsch. Mit ihm zogen sein Hohepriester und ein Dutzend niederer Priester, Ingenieure, Ärzte, Waffenschmiede, Köche, Sklaven und ein riesiges Heer von Schlachtenbummlern: Händler, Marketender, Goldsucher, Glücksspieler, Wahrsager und Huren. Die Ochsenabteilung mit den Zelten und dem Proviant war sieben Meilen lang, während sich der gesamte ungefüge Zug über fünfzehn Meilen hinzog. In den riesigen Grassteppen des Südens bildete dies kein Problem, aber als Huy Ben-Amon mit seinem König auf einem Hügel stand und die langsam aus dem Norden sich heranschiebende Masse sah, dachte er daran, daß sie sich wieder in einem großen Bogen durch die Forste und
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die zerklüftete Landschaft den Fluß entlang gen Norden wenden mußten. Eine solche Ansammlung von Reichtümern würde die heidnischen Kriegerbanden in dem unbekannten Land am anderen Ufer reizen. Er teilte Lannon seine Befürchtungen mit, aber Lannon lachte nur. »Du denkst mehr wie ein Soldat als ein Priester.« »Ich bin beides.« »Selbstverständlich.« Lannon legte eine Hand auf seine Schulter. »Nicht umsonst kommandierst du die Sechste Legion. Nun, Huy, ich habe viel über diesen Marsch nachgedacht. Früher war er immer eine große Zeitverschwendung und eine traurige Belastung für das Schatzamt von Opet. Bei meinem Marsch soll das anders sein. Ich will Vorteile daraus schlagen. Wir werden im südlichen Königreich jagen – so jagen, wie du es nie für möglich gehalten hast. Das Fleisch werden wir trocknen und räuchern und an die Haushalte und Bergwerke verkaufen, um die Sklaven zu füttern. Wir werden auch Elefanten jagen. Ich hätte gern zweihundert von diesen Tieren, um gegen die Drohungen aus dem Norden, an die du mich eben erinnert hast, gewappnet zu sein.« »Ich hatte mich schon über die vielen leeren Karren gewundert, die uns folgen.« »Sie werden gefüllt sein, bevor wir uns wieder nach Norden wenden«, versprach Lannon, »und wenn wir durch die Gärten von Zeng ziehen, werde ich dort die Garnison ablösen und unsere Männer an ihrer Stelle zurücklassen. Truppen, die zu lange in derselben Kaserne bleiben, werden faul und korrupt. In Zeng werde ich den Gesandten der Draven aus dem Osten treffen und unser Bündnis mit ihm erneuern.« »Aber wie steht es mit dem Norden?« kam Huy auf seine ursprüngliche Frage zurück. »Von Zeng aus werden wir in Schlachtformation nördlich marschieren. Die Frauen und die anderen werden auf der Route
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durch das Mittlere Königreich zurück nach Opet geschickt. Wir stoßen mit zwei vollständigen Legionen hinunter zum Fluß, um die beiden dort stationierten zu verstärken, und wir werden den Fluß in einem Plünder- und Sklavenfeldzug überqueren zur Warnung der Stämme im Hinterland, daß ein neuer König in Opet herrscht.« Lannon drehte sich um und blickte in Richtung Norden. »Seit hundert Jahren belästigen sie uns nun, und wir waren immer viel zu nachsichtig mit ihnen. Jedes Jahr sind es mehr gewesen, sind sie herausfordernder geworden. Ich werde ihnen meine eiserne Faust zeigen, Sonnenvogel. Ich werde ihnen zeigen, daß vor dem Fluß ein helles Stahlband liegt und daß sie auf eigene Gefahr dagegen anlaufen.« »Wo kommen sie wohl her, frage ich mich. Und wieviele mögen es sein?« rätselte Huy. »Sie sind die Herren der Dunkelheit, schwarz, keine Kinder des Sonnengottes Baal wie wir. Sie stammen aus den Wäldern ewiger Nacht im Norden, und wenn du die gierigen Heuschrecken zählen kannst, kennst du ihre Zahl.« »Fürchtest du dich nicht, Lannon?« fragte Huy, und der König drehte sich finster um. »Du nimmst dir Freiheiten heraus, Priester«, fuhr er ihn an. »Nenn mich Freund, nicht Priester – und ich nehme mir die Freiheit, dir zu zeigen, daß unbeherrschter Haß auf Furcht beruht.« Lannons Ärger schwand, er sah sich um, ob seine Adjutanten außer Hörweite waren. »Es besteht Grund zur Furcht«, sagte er schließlich. »Ich weiß«, sagte Huy.
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Huy leitete im Morgengrauen den Dankgesang an Baal, aber sie dämpften ihre Stimmen, um die Herden in der Nähe nicht zu erschrecken. Anschließend bat Huy die Götter, wohlwollend auf die Jagd zu schauen; dafür versprach er, einen Teil der Beute zurückzulassen, damit die Sonnenvögel sie in die Lüfte tragen könnten. Dann warteten Huy und Lannon auf den Beginn der Jagd. Mursil, der Jagdmeister aus dem Süden, hatte das Gelände mit Bedacht ausgewählt. Von dem steilen Hügel, auf dem sie saßen, konnten sie die riesige, trichterförmige Steppe überblikken, die zu beiden Seiten von Hügeln eingefaßt war. Entlang den Hügelkuppen rauchten Feuer im frühen Morgen, zum Zeichen, daß die Krieger ihre Stellungen eingenommen hatten, um alles Wild, das aus dem Tal zu entkommen versuchte, abzulenken. In der Ferne, außer Sichtweite, hatten sich die zwei Legionen über die Steppe verteilt. Sie zogen bereits vorwärts. Die Staubwolke ihres Angriffs stieg bleich gegen den gelbblauen Morgenhimmel; nur gelegentlich blitzte unter dem dichten Schleier ein Helm oder eine Speerspitze auf. »Der Anfang ist gemacht«, sagte Lannon zufrieden. Huy schaute hinaus auf die Zehntausende grasender Tiere, die in Herden über die Steppe verstreut waren. Dies war die zehnte große Jagd in fünfzig Tagen, und das Massenschlachten wurde ihm langsam über. Er blickte hinüber zu der Stelle, wo sich die Steppe verengte und der Fluß, der sie durchschnitt, verschwand. Am anderen Ende war eine fünfhundert Schritt breite Öffnung, verheißungsvoller Ausweg in das unendliche Grasland. Die ganze Steppe war spärlich mit niedrigen Akazienbäumen überzogen. Selbst von ihrem Standort hoch über dem Einschnitt konnten sie kaum die drei langgezogenen, getarnten Gräben erkennen, die die Ausläufer der beiden Hügelketten verbanden. Tausend
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von Lannons Bogenschützen lagen an dieser Stelle versteckt. Jeder hatte ein Bündel von 300 Pfeilen und einen Reservebogen. Hinter ihnen befand sich eine doppelte Reihe von Netzen, grob geknüpfte Maschen an dünnen Stangen, die umfielen, sobald ein schweres Tier ins Netz lief und sich dort hoffnungslos verstrickte, bis einer der Fußsoldaten aus einem Versteck springen und vorwärts laufen konnte, um dem Tier den Garaus zu machen und das Netz wieder aufzustellen. Tausend Speerwerfer hielten sich an dieser Stelle versteckt. Eine gewisse Unruhe hatte die Herden auf der Ebene erfaßt. Es fing an bei den Tieren in Nähe der Treiber. Die schwarzen Gnus begannen ziellos mit fliegenden Mähnen im Kreis zu laufen, ihre Nasen strichen fast über den Boden. Eine Zebraherde schloß sich enger zusammen zu einer kompakten Masse von zweihundert oder dreihundert Tieren, die verwundert auf die anrückenden Reihen der Treiber starrten. Ihre gedrungenen Artgenossen, die braunen Quaggas, sammelten sich in kleineren Trupps. Sie mischten sich unter die hellgelben und roten Kuhantilopen, die purpurnen Sassabys und die gestreiften Herden der großen Elenantilopen. Diese riesige Masse setzte sich allmählich in Bewegung und zog ins Tal zu der Öffnung zwischen den beiden Hügelketten. Langsam stieg eine Staubwolke hoch. »Ah«, freute sich Lannon. »Was für eine Beute.« »In der ganzen Geschichte der Jagd kann es keine größere gegeben haben«, stimmte Huy zu. »Wieviele Tiere, glaubst du, sind es?« fragte Lannon. »Ich weiß nicht – fünfzig-, vielleicht hunderttausend – man kann sie nicht zählen.« Nun wurden auch die langhalsigen Giraffen von der wachsenden Spannung ergriffen, sie verließen mit ihren Kälbern den Schutz der Akazienbäume und schlössen sich dem Zug durchs
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Tal an. Ab und zu trottete ein großes, schwerfälliges Nashorn schnaufend durch die Menge. Stromgleich zogen die rostbraunen Herden der zierlichen Springböcke, immer mehr Tiere fluteten durchs Tal, in immer eilenderen Wellen, und immer dichter stiegen die Staubschwaden auf. Die Hügel an beiden Seiten drängten die Tiere enger und enger zusammen, und als Gruppen von Kuhantilopen und Sassabys über die Kuppen zu entkommen versuchten, wurden sie von schreienden, speerschwingenden Jägern empfangen. Sie rasten wieder den Hang hinunter und verbreiteten Panik in den zusammengepferchten Herden. Sie stießen nach vorn, und der Klang ihrer Hufe stieg auf wie das Toben von Sturm, Brandung und Wind. Der Boden begann zu zittern. »Komm«, schrie Lannon, sprang auf und jagte den Hügel hinunter. Einen Augenblick noch schaute Huy auf die unglaubliche Tiermenge, die in Richtung der Öffnung vorstieß; dann warf er die Axt über die Schulter und rannte hinter Lannon her den Hügel hinunter. Das lange schwarze Haar wehte ihm um den Kopf. Er flitzte schnell wie ein Kaninchen und kam gleichzeitig mit Lannon auf der Grassteppe an und war als erster in dem vorbereiteten Graben. Von dort schauten sie ins Tal. Der Anblick war erschrekkend. Eine riesige Flut von Lebewesen verstopfte das gesamte Tal von einer Seite zur anderen, eine hohe düstere Staubwolke schwebte über ihr. Die beiden Männer starrten voller Bewunderung, als diese Masse auf sie zukam und die Erde erzitterte. Lannon schätzte seinen Wurf vorsichtig ab, wartete, bis die erste Tierwelle an die gesteckten Markierungen kam. Dann war es soweit, und er rief seinem Trompeter einen Befehl zu. Ein schmetterndes Angriffssignal ertönte und wurde im ganzen Tal wiederholt. Eine Linie von Bogenschützen erhob sich vom Boden vor dem herannahenden Tierwall. Viermal schossen sie, bevor der lebende Wall über sie hinwegfegte. Viertausend Pfei-
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le in zwanzig Sekunden. Die nachfolgenden Tiere fielen über die tot am Boden liegenden. Ihre Knochen brachen, und sie schrien in Panik, während sich die Pfeile in ihr Fleisch bohrten. Von der Macht ihrer Eigenbewegung fortgerissen, drängte die Herde weiter, und eine Salve von Pfeilen nach der anderen lichtete ihre Reihen. Tote und verwundete Körper stapelten sich zu riesigen Bergen. Das kleinere Wild war von den Bogenschützen erlegt worden, aber die größeren, dickhäutigen Tiere kamen durch, ihre Flanken mit Pfeilen gespickt. Riesige graue Nashörner liefen mit irrem Blick auf die Netze zu. Eine Gruppe von Büffeln raste Schulter an Schulter wie im Gespann. Sie verfingen sich in den Netzen, fielen, strampelten und schrien. Lanzen schlugen in sie ein, während sie rollten und brüllten und in den dicken Netzen erstickten. Verzweifelt versuchten Lannon und seine Männer, die toten Tiere aus den Netzen zu ziehen und diese wieder aufzuspannen, aber die Mühe war vergeblich. Es waren inzwischen zu viele, und sobald man die Sicherheit der Gräben verließ, drohte der Tod. Wahnsinnig vor Angst griff das verwundete Wild jeden Menschen an, der sich ihm zeigte. Huy sah, wie ein Nashorn einen Mann im hohen Bogen durch die Luft warf und wie ihn die fliehenden Tiere im Staub zertrampelten. Aus dem Schutz des Grabens warf Lannon seine Speere mit unheimlicher Genauigkeit und Kraft. Seine Spitze zielte auf die weichen Rippen hinter den Schultern des vorbeilaufenden Wilds. Er türmte die Körper zu Stapeln vor dem Graben, schrie und lachte im Fieber der Jagd. Auch Huy wurde mitgerissen. Er tanzte, schrie und schwang die Axt, deckte Lannons Rücken und warf seine Lanze, als ein riesiges Tier auf sie in den Graben zu stürzen drohte. Beide waren schweißgebadet und staubverklebt. Ein vom Huf eines Tieres aufgeschleuderter Stein hatte eine tiefe Wun-
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de in Huys Stirn geschlagen. Er riß einen Fetzen von seiner Tunika und band ihn um den Kopf, ohne seinen wilden Tanz zu unterbrechen. Huy sah neue Kolonnen auf sich zuwogen. Er packte seinen blutrünstigen König und zerrte ihn auf den Boden des Grabens. Dort deckten sie ihre Köpfe mit den Armen vor den einstürzenden Grabenwänden. Die Erde drohte sie zu ersticken. Sie wickelten ihre Tunikas ums Gesicht und japsten nach Luft. Ein junger Zebrahengst stürzte in die Grube, trat und schrie vor Furcht. Seine starken Zähne bissen wahllos nach ihnen. Sie schwebten in Todesgefahr. Huy rollte sich zurück, um den schlagenden Hufen auszuweichen. Er zielte kurz, dann schnellte sein rechter Arm hoch, und die Spitze der Geieraxt schoß dem entsetzten Tier ins Gehirn. Schlaff und zitternd fiel es auf sie. Das tote Tier bot ihnen Schutz vor dem Sturm wütender Hufe über ihnen. Dann ließ der Sturm allmählich nach und verebbte in der Ferne. Stille folgte. Huy kroch zu Lannon. »Bist du verletzt?« Mühsam wand Lannon sich unter dem toten Zebra hervor. Sie kletterten aus dem Graben und sahen sich staunend um. Vor ihnen lag in einem Quadrat von 500 Schritt ein dicker Wulst toter und sterbender Tiere. Inmitten dieses schrecklichen Blutbades stiegen die Bogenschützen und Speerwerfer aus ihren Gräben und starrten verstört auf die Szene. Aus einer hängenden Staubwolke wateten die Treiber auf sie zu. Selbst der Himmel war von Staub verfinstert, und die erbärmlichen Schreie der sterbenden und verwundeten Tiere zerrissen die Stille. In Reihen stolperten die Treiber über das blutige Schlachtfeld und gaben den verletzten Tieren den Gnadenstoß. Huy griff unter seine Tunika und holte einen Lederbeutel mit Zengwein hervor. »Auf dich ist Verlaß«, Lannon grinste und trank gierig. Die Weintropfen schimmerten wie Blut in
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seinem staubigen Bart. »Hat es je eine Jagd wie diese gegeben?« fragte er Huy, als er ihm den Beutel zurückreichte. Huy schaute um sich und sagte leise: »Ich kann es mir nicht vorstellen.« »Wir werden die Beute räuchern und trocknen – und dann weiter jagen«, verkündete Lannon und schritt davon, um Anweisungen zu geben.
Eine orangefarbene Lichtglocke hing über der Steppe und reflektierte den Schein von vielen tausend Feuern. Den Nachmittag und die ganze Nacht arbeitete die Armee, um die Jagdbeute zu zerlegen. Sie schnitten das Fleisch in Streifen und hängten es an Stangen über die rauchenden Feuer. Der süßliche Geruch des rohen Fleisches, der modrige Gestank der zerschnittenen Innereien und das Brutzeln des kochenden Fleisches drangen hinüber zum Lager, wo Huy unter der ledernen Plane seines Zeltes saß und im flackernden Schein der Öllampe arbeitete. Lannon trat aus der Dunkelheit. Er war noch immer von Staub und trocknendem Blut beschmutzt. »Wein! Für einen guten Freund.« Er tat, als ob er vor Durst torkelte, und Huy reichte ihm Amphora und Schale. Die Schale verweigernd, trank Lannon direkt vom Krug und wischte sich mit dem Arm den Bart. »Ich bringe Nachricht«, grinste er. »Wir haben 1700 Tiere erlegt.« »Und wieviele unserer Männer sind umgekommen?« »Fünfzehn sind tot und mehrere verletzt – aber das war es sicher wert, nicht wahr?« Huy gab keine Antwort, und Lannon fuhr fort:
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»Es gibt weitere Nachricht. Eine meiner Lanzen hat ihr Ziel getroffen. Annel hat ihren Mond verpaßt.« »Die südliche Luft scheint dir gutzutun. Vier geschwängert innerhalb von zwei Monaten.« »Es ist nicht die Luft, Sonnenvogel.« Lannon lachte und nahm einen Schluck. »Es freut mich«, sagte Huy. »Mehr edles Blut für Opet.« Lannon stellte sich hinter Huy. »Du schreibst«, sagte er überflüssigerweise. »Was schreibst du?« »Ein Gedicht«, sagte Huy bescheiden. »Worüber?« »Die Jagd – die heutige Jagd.« »Sing es mir vor.« Huy holte seine Laute und hockte sich auf die Schilfmatte. Er sang, und als er endete, war Lannon nachdenklich und starrte in die Nacht hinaus. »So habe ich es nicht betrachtet«, sagte er schließlich. »Für mich war es einfach eine Fleischernte.« Dann schwieg er wieder. »Habe ich dich verstimmt?« fragte Huy, aber Lannon schüttelte den Kopf. »Glaubst du wirklich, daß wir heute etwas zerstört haben, was nie wieder sein wird?« fragte er. »Ich weiß es nicht. Vielleicht nicht – aber wenn wir oft so jagten, würden wir nicht dieses Land bald in eine Wüste verwandeln?« Lannon dachte eine Zeitlang nach, dann lächelte er Huy zu. »Ich mache einen Handel mit dir, Sonnenvogel. Sing noch ein Lied, und ich gebe dir von dem Wein.« »Ein ehrlicher Handel«, stimmte Huy zu. Lannon ließ zwei Krüge bringen. Gegen Mitternacht war Huy sanft angetrunken, und die Schönheit und Trauer seines eigenen Gesangs stimmten ihn
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wehmütig. Er weinte, und als Lannon es sah, weinte auch er. »Ich werde nicht zulassen, daß etwas so Schönes auf den Häuten von Tieren verzeichnet wird«, schluchzte Lannon, während die Tränen ihm seine Wangen hinunterrannen. »Ich werde eine Rolle aus dem feinsten Gold anfertigen lassen, und du wirst deine Lieder darauf einritzen, mein Sonnenvogel. Dann werden sie weiterleben. Zur Freude meiner Kinder und Kindeskinder.« Huy war glücklich über dieses Angebot und ging darauf ein, denn am nächsten Morgen würde Lannon es vergessen haben.
Die Kolonne bewegte sich langsam durch die südliche Grassteppe. In der unendlichen Weite der Landschaft wirkte die fünfzehn Meilen lange Kolonne fast verloren. Sie zogen an Flüssen und Hügeln vorbei, durch Forste und wildreiche Ebenen. Die einzigen Menschen, die ihnen begegneten, waren Soldaten der königlichen Jagdlager, deren Hauptaufgabe darin bestand, Trockenfleisch für die unzähligen Sklaven zu liefern. Denn die Sklaven bildeten die Grundlage des nationalen Wohlstands. Sechs Monate, nachdem sie Opet verlassen hatten, überquerten sie den südlichen Fluß, und hundert Meilen weiter kamen sie zu der blauen Bergkette, der Grenze des südlichen Königreichs. Sie schlugen ihre Lager am Eingang einer finsteren Felsenschlucht mitten im Gebirge auf. Lannon und Huy zogen mit einer Kohorte Fußsoldaten und Bogenschützen den steilen Pfad durch die Schlucht. Es war eine unheimliche Gegend, mit hohen schwarzen Steinklippen, die steil aus den tobenden,
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schäumenden Strudeln emporragten. Ein kalter, dunkler Ort, zu dem die Sonne nur selten vordrang. Huy zitterte und umklammerte seine Axt. Während des dreitägigen Marsches durch die Berge betete er fast unaufhörlich, denn diese Berge waren bestimmt von Dämonen bewohnt. Sie lagerten am südlichen Abhang des Gebirges und zündeten Leuchtfeuer an, deren steile Rauchfahnen man kilometerweit sehen konnte. Huy war von Ehrfurcht überwältigt, als er über die golden wogende Grasebene und die dunklen grünen Wälder blickte. »Ich möchte gern in dieses Land hinunterziehen«, sagte er zu Lannon. »Du wärst der erste«, entgegnete Lannon. »Ich frage mich, was man dort finden würde, welche Schätze, welche Geheimnisse.« »Wir wissen nur, daß im fernen Süden ein Kap mit einem flachgipfeligen Berg liegt, wo die Flotte Hycanus IX. zerstört wurde. Sonst nichts.« »Ich erwäge, trotz der Weissagungen der Götter eine Expedition südlich hinter die Berge zu führen – was meinst du, Huy?« »Ich würde nicht zuraten, mein Gebieter«, antwortete Huy schnell. »Es ist nicht gut, die Götter herauszufordern. Sie haben ein sehr gutes Gedächtnis.« »Vielleicht hast du recht«, gab Lannon zu. »Trotzdem reizt es mich.« Huy wechselte das unbequeme Thema. Er hätte es nicht anschneiden sollen. »Ich frage mich, wann sie kommen werden.« Er schaute hinauf zu den Rauchfahnen, die in das ruhige Blau des Mittagshimmels stiegen. »Sie werden kommen, wenn sie bereit sind«, meinte Lannon. »Ich wünschte nur, es wäre bald. Jagen wir solange Leopar-
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den.« Und zehn Tage lang jagten sie die großen gefleckten Katzen, die in den nebligen Klippen und bewaldeten Schluchten der Berge hausten. Am elften Tag, nachdem Huy in der Morgendämmerung Baal begrüßt hatte, bemerke Huy, daß der kleine Jagdmeister Xhai unruhig und aufgeregt wurde. »Was ist, Xhai?« fragte er ihn in seiner eigenen Sprache, die er inzwischen erlernt hatte. »Mein Volk ist hier«, antwortete der Buschneger. »Woher weißt du es?« »Ich weiß es!« sagte Xhai schlicht, und Huy eilte durch das Lager zu Lannons Zelt. »Sie sind gekommen, mein Gebieter«, berichtete er. »Gut.« Lannon legte die Jagdrüstung ab. »Ruf die Steinsucher.« Die königlichen Geologen und Metallurgen eilten auf das Kommando herbei. Der Treffpunkt lag am Fuße des Berges, wo der dichte Wald plötzlich auf eine weite Lichtung führte. Lannon stieg mit seinem Gefolge die Felsen hinunter. An der Lichtung hielten sie an, und die Bogenschützen schwärmten zu einem Schutzwall aus. Inmitten der Schneise war ein Pfahl in die weiche Erde getrieben. Der Schwanz eines Sumpfbocks wehte von seiner Spitze wie eine Standarte. Es war das Zeichen, daß der Handel beginnen konnte. Lannon nickte seinem Obersteinsucher Aziru und Rib-Addi, dem königlichen Schatzmeister, zu. Von zwei Sklaven begleitet, schritten die beiden unbewaffnet auf die Lichtung. Jeder Sklave trug einen Lederbeutel. Bei dem Pfahl lag ein getrockneter Kürbis, in dem sich eine Handvoll heller Kiesel und verschiedenfarbiger Steine befanden. Die beiden Abgesandten prüften jeden Stein, stapelten
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einige säuberlich auf dem Boden übereinander, legten andere wieder zurück in den Kürbis. Dann holten sie aus ihren Lederbeuteln Glasketten und gaben sie dazu. Daraufhin zogen sie sich zum Felsabhang zurück. Sie warteten, bis ein Dutzend kleiner Gestalten aus dem Wald hervortraten und auf den Pfahl zugingen. Die kleinen Buschneger hockten sich neben den Kürbis und diskutierten hitzig; dann zogen sie sich in den Wald zurück. Jetzt gingen wieder die beiden Abgesandten auf die Lichtung hinaus, fanden aber den Kürbis und das Gefäß unberührt. Ihr Angebot war abgelehnt worden. Sie legten ein Dutzend Pfeilspitzen neben die Gabe. Beim dritten Versuch endlich wurde das Angebot akzeptiert. Die Buschneger nahmen die Ketten, Pfeilspitzen und kupfernen Armreifen, ließen ihre Steine jedoch zurück. Neue Steine wurden neben den Pfahl gelegt und ausgehandelt. Es war ein langwieriges Geschäft, das volle vier Tage in Anspruch nahm. »Woher stammen diese Sonnensteine?« fragte Huy Aziru und prüfte einen eichelgroßen Diamanten, den sie gegen ein Pfund Glaskugeln eingetauscht hatten. »Wenn Sonne und Mond zur gleichen Zeit am Himmel stehen, kann es geschehen, daß sich ihre Strahlen mischen und heiß und schwer werden. Sie fallen zur Erde, und wenn sie auf Wasser treffen, erlöschen sie und erstarren zu Sonnensteinen.« Huy fand diese Erklärung durchaus plausibel. »Ein Liebestropfen von Baal und Astarte«, flüsterte er ehrfürchtig. »Kein Wunder, daß sie so schön sind.« Er blickte zu Aziru auf. »Wo finden die Pygmäen sie?« »Man sagt, daß sie in den Kieselbetten der Flüsse und an den Ufern der Seen nach ihnen suchen«, erklärte Aziru. »Aber oft erkennen sie die echten Sonnensteine nicht, so daß ihre Gaben
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auch viele gewöhnliche Steine enthalten.« Nachdem die Buschneger alle ihre Steine eingetauscht hatten, boten sie die unerwünschten Kinder ihres Stammes zum Kauf an. Sie ließen die kleinen, vor Angst zitternden Zwerge gefesselt neben dem Pfahl zurück. Die Sklavenmeister, geschickt im Beurteilen menschlichen Fleisches, gingen hinaus, um sie zu prüfen und einen entsprechenden Preis anzubieten. Pygmäen waren sehr gefragt als Sklaven, denn sie waren folgsam, treu und zäh – außerdem ausgezeichnete Fährtensucher, Jäger, Akrobaten und sehr kinderlieb. Xhai stand hinter seinem großen gelbhaarigen König und schaute zu. So hatte man einst auch um ihn gehandelt, als er ein Kind war. Am Ende des vierten Tages war das Schatzamt von Opet um fünf große Tonkrüge voll prächtiger Diamanten reicher. Der Handel mit diesen Steinen war ein eifersüchtig gehütetes Privileg des Hauses Barca. Hinzu kamen sechsundachtzig Buschkinder zwischen fünf und fünfzehn Jahren. Lannon ließ das Lager an den südlichen Bergen abbrechen. Sie überquerten wieder den Fluß und zogen durch das volkreiche Königreich des Ostens. In jeder Siedlung kamen die Freigelassenen herbei, um sie zu begrüßen und ihrem neuen König Tribut zu zollen. Sie wirkten zufrieden und glücklich, ihre Dörfer waren sauber und wohlhabend. Selbst die Sklaven, größtenteils Schwarze aus dem Norden, aber auch Mischlinge, waren gut genährt. Sie trugen keine Ketten und unterschieden sich in Kleidung und Schmuck kaum von ihren Besitzern. Jetzt führte der Marsch am Rand des breiten Goldgürtels entlang, der von Osten nach Westen quer durch das Mittlere Königreich verlief. Auf diesem Gürtel beruhte der Wohlstand von Opet; die königlichen Steinsucher hatten eine fast wunderbare Fähigkeit entwickelt, die ergiebigen Adern zu finden, in denen
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das Gold steckte. Zahlreiche Minen, in denen scharenweise schwarze Sklaven das Metall in engen, stickigen Schächten der Erde entrissen, zeugten davon. Oben wurde das Gestein zu Pulver zerstoßen und dann die Goldkörner in großen Kupferbecken ausgewaschen. Lannon unterbrach den Marsch gelegentlich, um die Anlagen zu inspizieren; Huy war beeindruckt, wie klug die Ingenieure die verschiedensten Probleme der Goldförderung gelöst hatten. Wo der lichte Raum über der Goldader zu niedrig war, setzten sie Frauen und Kinder ein. Elefanten schleppten die Erzkörbe nach oben und transportierten in trockenen Gebieten Wasser zu den Minen. Von unersättlicher Neugier getrieben, ließ sich Huy in einem Erzkorb auf eine der unteren Sohlen abseilen. Es war höllisch dort unten, stinkend vor schlechter Luft, Hitze und Schweiß im flackernden Licht der Öllampen. Die nackten Sklaven schufteten in engen, gefährlichen Gängen, die sie in den Berg gehauen hatten. Huy schaute zu, wie ein besonders harter Felsvorsprung auf eine Weise zerkleinert wurde, die Hannibal Jahrhunderte zuvor angewendet hatte, um sich einen Weg über die Alpen zu bahnen. Ein glühendes Feuer wurde entfacht und der Fels erhitzt. Es wurde dann mit einer Mischung aus Wasser und saurem Wein gelöscht, die in einer wirbelnden Dampfwolke explodierte und den Felsen in Brocken spaltete; Sklaven brachen sie heraus und schleppten sie fort. Huy ging zu dem Flöz, wo er das Gold im schwarzen Gestein glänzen sah. Er dachte an den Preis, der für die Förderung zu entrichten war. Als er wieder an die Oberfläche kam, war er naßgeschwitzt und vom Dreck des Schachtes verschmutzt. Lannon schüttelte den Kopf. »Wozu nur? Was verkriechst du dich unter der Erde?« In einer Goldmine hatte man das Erz bis zum Grundwasser abgebaut. Tiefer zu schürfen war unmöglich, denn man kannte
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keine Methode, das Wasser aus den Schächten zu pumpen. Die Mine mußte Astarte, der Mutter des Mondes und der Erde, zurückgegeben werden. Sie hatte reichlich von ihrem Schatz gespendet, nun mußte sie empfangen. Lannon machte von seinem Recht Gebrauch, die Boten auszuwählen, und er beriet sich mit den Aufsehern, welche fünfzehn Sklaven den geringsten Verlust an Arbeitskraft bedeuteten. Die Götter waren nicht wählerisch bei den Opfern. Für sie war ein Leben wie das andere und jedes willkommen. Huy hatte Mitleid mit ihnen, als sie zum letzten Male in den Schacht geführt wurden. Sie trugen die symbolischen Opferketten. Gebückt, verstümmelt und aus verseuchten Lungen hustend, schlurften sie dahin. Huy beauftragte einen seiner Priester, ihren Abstieg zu überwachen. Als er wieder aus der teuflischen dunklen Tiefe heraufkam, stimmte Huy den Lobgesang auf Astarte an, und man begann mit dem langwierigen Auffüllen der Mine. Es würde Wochen dauern. Aber es war nötig, um die Erdmutter zu befriedigen, damit sie neues Gold wachsen ließ. Aziru erklärte es. »Dies ist gnädiger Boden, in dem gutes Gold wächst. Wir legen die Steine in die Erde zurück, und später gebiert die Sonne wieder das edle Metall.« »Baal ist Leben«, stimmte Huy ein, wie die Zeremonie es vorschrieb. »Unsere Kindeskinder werden uns einst für die Befruchtung der Erde danken«, prophezeite Aziru. Huy verzeichnete jede Einzelheit in seiner sauberen, flüssigen Schrift.
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Dreihundert Tage, nachdem sie Opet verlassen hatte, stieg die Kolonne die Ausläufer der Zeng-Berge hinauf. Nach der Hitze der Ebene wehte die Bergluft kühl und frisch. Nachts lastete der Nebel schwer auf den Hängen und weckte Fieber in den Gliedern der Männer. Diese Hügel bildeten den Garten von Opet, in dem riesige Ackerflächen bestellt waren und Zehntausende von Sklaven die Olivenhaine und Weinberge pflegten. Im Zentrum der Gärten lag die befestigte Hügelstadt, Zeng-Hanno benannt, nach dem dreizehnten Grau-Löwen von Opet. Sie war der religiöse Mittelpunkt des östlichen Königreichs mit den Tempeln der Astarte und des Baal. Huy verbrachte zwanzig Tage zurückgezogen mit seinen Priestern und Priesterinnen. Außerdem inspizierte er seine eigene Legion, die Sechste Ben-Amon, die sich als einzige der acht Legionen von Opet ausschließlich aus adeligen Kriegern zusammensetzte. Die religiösen Zeremonien wurden ausgesetzt, als Lannon und Huy zu einer kurzen Reise in den Osten aufbrachen. Von dort war die Nachricht gekommen, daß die Draven auf Lannon warteten, um das Fünf-Jahres-Abkommen zu erneuern. Als sie ostwärts zum Meer herabstiegen, wurden sie von drei Draven-Scheichs begrüßt, großen dunkelhäutigen Männern mit finsteren Adlergesichtern, in denen schwarze Augen funkelten. Über langem, schwarzem Haar trugen sie ihren weißen Kopfputz. Um ihre langen Gewänder waren Gürtel geschlungen, mit feinsten Filigranarbeiten und Halbedelsteinen verziert. Jeder hatte einen herrlichen Krummdolch an der Seite. Ihre Krieger trugen weite Pumphosen, zwiebelförmige Helme und silberne Brustpanzer. In den Händen hielten sie runde Eisenschilde, lange gekrümmte Säbel, Speere und kurze orientalische Bogen. Die meisten von ihnen waren Neger, die die Sprache und Kleidung der Draven angenommen hatten. Zwei-
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hundert Jahre erbitterten Krieges waren dem Vertrag zwischen den Draven und den Königen von Opet vorausgegangen. Die zwei Armeen lagerten an beiden Seiten des weiten Tals, getrennt durch einen klaren Bach. An seinen schattigen Ufern wurden Zelte aufgeschlagen. Fünf Tage dauerten das Festmahl und die Verhandlungen der beiden Delegationen. Huy, der die Sprache der Draven beherrschte, übersetzte Lannon die Gespräche; es ging um den unbegrenzten Warenaustausch und gegenseitige militärische Hilfe. »Mein Gebieter, Prinz Hassan, möchte wissen, wie viele Krieger Opet ins Feld schicken könnte, falls unseren beiden Nationen Gefahr von außen drohte.« Sie saßen auf weichen Seidenkissen und wunderschönen gewebten Wollteppichen in leuchtenden Mustern und Farben, tranken Sorbet, aßen köstliche Speisen und lächelten – und trauten einander nicht über den Weg. »Prinz Hassan«, antwortete Lannon und lächelte ihm zu, »möchte also wissen, mit welchen Streitkräften wir einem Angriff auf die Gärten von Zeng und die Goldminen des Mittleren Königreichs begegnen würden.« »So ist es«, pflichtete Huy bei. »Was soll ich ihm antworten?« »Sag ihm, ich könnte vierzehn Legionen aufbringen und ebenso viele Hilfstruppen, dazu 400 Elefanten.« »Diese Zahlen wird er dir nicht glauben, mein Gebieter.« »Natürlich nicht, genauso wenig, wie ich ihm seine Zahlen glaube. Aber sag’s ihm trotzdem.« Sie vereinbarten, gemeinsam den großen Fluß im Norden gegen eindringende schwarze Nomadenstämme zu verteidigen und einander Beistand zu leisten, wenn ihre Grenzen verletzt würden. »Der Prinz möchte die Handelseinheit verändern, mein Gebieter. Er schlägt vor, daß künftig 500 Mikhtals dem Wert ei-
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nes Opet-Goldfingers entsprechen.« »Sag ihm höflich, er kann mich mal«, antwortete Lannon, lächelte den Prinzen an, und der Prinz nickte und lächelte zurück. Die Edelsteine an seinen Fingern glitzerten und funkelten. Der Handelswert wurde auf 590 Mikhtals pro Finger festgelegt, und man ging über zur Frage des Sklavenhandels und den Baumwoll- und Seideklauseln. Am fünften Tag aßen sie Salz miteinander, tauschten kostbare Gaben aus, und die Bogenschützen und Schwertkämpfer führten ihre Künste vor. Damit wollte man sich gegenseitig beeindrucken. »Ihre Bogenschützen können wenig ausrichten«, urteilte Lannon. »Die Bogen sind zu kurz, und sie schießen von der Hüfte statt vom Kinn«, pflichtete Huy bei. »Das beeinträchtigt die Reichweite und Genauigkeit.« Als später die Fußsoldaten ihre Übungen abhielten: »Sie sind zu leicht gerüstet, mein Gebieter. Sie haben keine Axtkämpfer, und ich bezweifle, ob ihre Brustpanzer einen Pfeil abwehren können.« »Aber sie bewegen sich schnell und sind angriffslustig – ich würde sie nicht unterschätzen, mein Sonnenvogel.« »Nein, mein Gebieter, ich werde es nicht tun.« Die Elefanten stürmten über das offene Feld, während die Bogenschützen von den Burgen auf ihren Rücken Pfeilsalven abschössen. Die riesigen grauen Bestien zertrampelten die Strohpuppen in ihrer Bahn oder warfen sie in die Luft. Ihr lautes Trompeten schallte von den Bergen wider. »Sieh dir ihre Gesichter an«, murmelte Lannon. »Als ob der Prinz die Sprache verloren hätte!« Es stimmte, die Draven wirkten niedergeschlagen, sie besaßen keine Elefanten und wußten sie auch nicht abzurichten. Am Abend trennten sich die Delegationen. »Unsere östlichen Grenzen sind auf weitere fünf Jahre gesi-
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chert«, erklärte Lannon mit Genugtuung. »Oder bis die Prinzen ihre Meinung ändern«, fügte Huy einschränkend hinzu. »Nein, Sonnenvogel. Sie werden das Abkommen einhalten – es ist in ihrem eigenen Interesse. Glaub mir, alter Freund.«
Nach ihrer Rückkehr versammelten sich die Legionen in Zeng-Hanno, um den Überfall vorzubereiten, den Lannon jenseits des großen Flusses plante. Huys Legion gehörte zu den ausgewählten, und er verbrachte viel Zeit mit seinen PriesterOffizieren. Sie speisten mit ihm in dem prächtigen Quartier, das man für ihn auf dem Gelände des Baaltempels errichtet hatte. Huy lud die ehrwürdigen Priesterinnen der Astarte zu einem köstlichen Mahl von erlesenen Speisen. Lannon war Ehrengast, und alle waren sie geschmückt mit Blumenkränzen und erhitzt vom Wein. »Ehrwürdige Mutter«, rief der hübsche junge Bakmor, einer von Huys Priestern, der Hohenpriesterin Astartes zu, »stimmt es, daß Ihr unter Euren Novizinnen ein neues Orakel entdeckt habt?« Die ehrwürdige Mutter wandte dem jungen Offizier ihre weisen alten Augen zu. Sie hatte eine blasse Haut und weiches, silbernes Haar. Bis jetzt hatte sie still dagesessen, abseits des fröhlichen Treibens. »Es ist wahr, eine der Tempelnovizinnen zeigt Weisheit und Verstand weit über ihre Jahre und ihre Ausbildung hinaus. Auch stimmt es, daß sie durch den Schleier geblickt und wahrgesagt hat, aber die Schwesternschaft hat sich noch nicht entschieden, sie zum Hohenpriester zur Prüfung zu schicken.« »Ihr zweifelt also noch, ehrwürdige Mutter?« drängte Bak-
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mor. »Zweifel gibt es immer, mein Sohn«, antwortete die Priesterin, und in ihrer Stimme klang leichte Zurechtweisung. »Ich habe nichts davon gehört«, bemerkte Huy interessiert und vorwurfsvoll zugleich. Seit zwei Jahren hatte die Priesterschaft ohne die Dienste eines Orakels auskommen müssen, obwohl man eifrig gesucht hatte. Die Honorare für Weissagungen und Prophezeiungen bildeten schließlich einen wichtigen Teil des Tempeleinkommens. »Verzeiht mir, hoher Vater. Ich wollte es persönlich mit Euch erörtern«, sagte die Hohepriesterin vertraulich. »Schickt nach dem Weib«, rief Lannon mit weinschwerer Zunge dazwischen. Die Priesterin war entsetzt über seine Wortwahl. »Ruft sie. Sie soll uns mit ihren Prophezeiungen unterhalten.« »Mein Gebieter«, wehrte Huy ab, aber Lannon wies seinen Protest zurück. »Schickt nach dem Orakel – sie soll uns das Ergebnis unseres Feldzugs in den Norden voraussagen.« »Der König befiehlt«, sagte Huy wie bedauernd zur Priesterin, und es wurde nach der Novizin geschickt. Als sie eintrat, verstummten die lauten Stimmen und das Gelächter, und alle starrten das große Mädchen mit den feingliedrigen Hand- und Fußgelenken neugierig an. Sie trug das lange grüne Gewand der Tempelnovizinnen, und die weiche Haut ihrer nackten Arme glänzte im Kerzenlicht. Wie dunkle Wolken lag das Haar um ihre Schultern. Über der hohen gewölbten Stirn baumelte an einer zierlichen Goldkette das Zeichen der Astarte, der goldene Halbmond. Als Ohrringe trug sie zwei kleine Sonnensteine, die sternenhell strahlten. Das Grün ihrer Augen erinnerte Huy an den Teich Astartes in der Höhle des Tempels von Opet. Ihre Lippen bebten leicht
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und verrieten ihre Erregung über die unerwartete Einladung; ihre Wangen waren gerötet. Würdevoll schritt sie auf Huy zu. Sie war sehr jung. »Betet für mich, hoher Vater«, grüßte sie ihn und senkte ehrerbietig das Haupt. Huy betrachtete sie aufmerksam, von ihrem offenen Wesen und ihrer Würde beeindruckt. »Begrüße deinen König, mein Kind«, murmelte er, und das Mädchen wandte sich Lannon zu. Huy ließ sie nicht aus den Augen. »Wie heißt du?« fragte er sie. »Tanith«, gab sie zur Antwort. Es war der alte Name der Göttin aus den Zeiten Karthagos. »Ein hübscher Name«, nickte Huy, »ich mochte ihn schon immer.« Das Mädchen lächelte. Dieses Lächeln überraschte ihn, es war warm und aufmunternd wie das Morgenlicht Baals. »Ihr seid gütig, hoher Vater«, sagte sie lächelnd und Huy Ben-Amon verliebte sich. Er spürte ein Ziehen in seinen Eingeweiden. Sprachlos starrte er Tanith an, während ihm das Blut ins Gesicht schoß, und er verzweifelt nach den richtigen Worten suchte. Lannon brach den Bann und verlangte polternd, daß sie weissagen sollte. Der Hauch eines Lächeln spielte um ihre Lippen. »Wenn es in meiner Kraft stünde, würde ich Euch weissagen, Gebieter. Aber dann hinge es immer noch von dem Anliegen und dem Lohn ab.« »Welchen Preis verlangst du?« fragte Lannon, sein Gesicht verfinsterte sich. Er war diese Behandlung nicht gewohnt. »Hoher Vater, würdet Ihr den Lohn bestimmen?« bat Tanith – und der Teufel ritt Huy. »Einhundert Finger feinsten Goldes«, sagte er, ohne nachzudenken. Das war eine riesige Summe, eine Provokation für
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Lannon – entweder machte er einen Rückzieher, oder er zahlte. Tanith setzte Lannons grollendem Blick ein Lächeln entgegen, ein spöttisches Grübchen erschien auf ihrer Wange. »Ich weiß nicht, ob die Weisheit eines Kindes soviel wert ist, aber es belustigt mich, dieses Weib auf die Probe zu stellen«, murmelte Lannon. »Ich ziehe nach Norden. Sprich, wie wird der Feldzug ausgehen?« befahl er, und Tanith richtete sich auf dem Lederkissen auf und breitete ihr grünes Gewand um sich. Sie neigte den Kopf, ihre grünen Augen schienen nach innen zu blicken. Gespanntes Schweigen lag über der Gesellschaft, alle Augen waren auf sie gerichtet. Huy bemerkte, wie ihre Wangen erblaßten und ein weißer Rand ihre Lippen umzog. »Die Ernte wird riesig sein«, flüsterte Tanith heiser und unnatürlich monoton. »Mehr als der Grau-Löwe erwarten oder erkennen wird.« Die Gäste schauten einander an und erörterten die Antwort. Lannon war unzufrieden. »Sprichst du von der Ernte des Todes?« fragte er. »Du wirst Tod mit auf den Weg nehmen, aber er wird mit dir zurückkehren – unerkannt und heimlich«, erwiderte Tanith. Es war eine ungünstige Weissagung. Die jungen Offiziere waren plötzlich ernüchtert, sie wurden unruhig. Huy wollte eingreifen, die Situation wurde unangenehm. Er kannte seinen König und wußte, daß er nachtragend und schwer zu versöhnen war. »Was muß ich fürchten?« fragte Lannon. »Schwärze!« antwortete Tanith sofort. »Wie werde ich sterben?« Lannon zitterte inzwischen vor Zorn. Seine Stimme klang rauh, seine hellblauen Augen blitzten böse. »Durch die Hand eines Freundes.« »Wer wird nach mir in Opet regieren?«
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»Wer den Grau-Löwen tötet«, erwiderte Tanith, und Lannon fegte die Weinschale beiseite. Sie zerschellte auf dem Lehmboden, und roter Wein floß über die Füße der Sklaven. »Den Grau-Löwen gibt es nicht mehr!« schrie er. »Ich habe den letzten getötet – wagst du es, den Tod des Hauses Barca zu prophezeien?« »Das ist Eure sechste Frage, mein Gebieter.« Tanith blickte auf. »Ich weiß die Antwort nicht.« »Fort mit ihr!« brüllte Lannon. »Führt die Hexe weg.« Huy gab der Hohenpriesterin schnell ein entsprechendes Zeichen. Dann ließ er rasch eine neue Weinschale für Lannon bringen und seine Laute holen. Nachdem er sein drittes Lied beendet hatte, lachte Lannon wieder.
Am Vorabend ihres Abzugs aus Zeng-Hanno sandte Huy nach der Priesterin und der Novizin Tanith. Fünf Tage waren seit ihren schlimmen Prophezeiungen für Lannon Hycanus vergangen, und es hatte Huys ganzer Willenskraft bedurft, nicht schon früher nach Tanith zu senden. Sie war noch lieblicher, als er sie im Gedächtnis hatte. Während sich die Priesterin im Schatten niederließ, wandelte Huy mit Tanith auf den Stadtwällen. »Ich habe die ehrwürdige Mutter davon unterrichtet, daß du dich dem Zug nach Opet durch das Mittlere Königreich anschließen wirst. Du wirst mit den Frauen des Königs reisen, und in Opet wirst du in der Schwesterntracht der Astarte meine Wiederkehr erwarten.« »Ja, hoher Vater.« Ihr demütiger Ton stand im Widerspruch zu ihrem kecken Gesichtsausdruck. Huy blieb stehen und sah
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in ihre grünen Augen, und sie hielt seinem Blick unbekümmert und mit einem leichten Lächeln stand. »Bist du wirklich hellsichtig, Tanith?« »Ich weiß es nicht, mein Gebieter.« »Die Worte, die du zum König gesprochen hast, was haben sie bedeutet?« »Ich weiß es nicht. Es waren Worte, die ohne mein Wollen kamen. Ich kann sie nicht erklären.« Huy nickte und ging schweigend weiter. Dieses Mädchen war von einer bittenden Unschuld, hatte aber einen wachen Verstand und ein sonniges Gemüt – eine Mischung, der man unmöglich widerstehen konnte. »Liebst du die Götter, Tanith?« »Ja.« »Glaubst du daran, daß ich ihr Beauftragter bin?« »Ich glaube daran, hoher Vater«, antwortete sie so überzeugt und ehrerbietig, daß Huys Vorbehalte schwanden. Es gab keinen Zweifel, man würde sie als Instrument verwenden können, wenn man es nur geschickt genug anstellte. »Was ist dein Schicksal, Tanith?« fragte er plötzlich. »Ich kann es nicht sehen«, antwortete sie, zögerte aber dann, und Huy sah sie zum erstenmal unsicher. »Eins aber weiß ich, daß dieses – dieses Zusammentreffen zwischen dir und mir ein Teil dieses Schicksals ist.« Huys Herz begann schneller zu schlagen, aber seine Stimme klang schroff, als er erwiderte: »Vorsicht, Kind. Du bist eine Priesterin, der Göttin geweiht. Du weißt, daß du zu einem Mann nicht so sprechen darfst.« Tanith senkte die Augen, und ihr Gesicht nahm die Farbe einer dunklen Rose an. Verlegen strich sie das Haar aus der Stirn. Huys Seele brannte vor Verzweiflung. Die Gegenwart des Mädchens quälte ihn, denn so groß sein Verlangen nach ihr auch immer sein mochte, es konnte niemals gestillt werden. Sie
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gehörte den Göttern, war unantastbar. »Du weißt das«, warnte Huy sie streng. »Versuche die Götter nicht!« Sie blickte schüchtern zu ihm auf, aber Huy meinte auch jetzt noch ein Fünkchen von Lachen in den grünen Augen aufleuchten zu sehen. »Ihr tut mir Unrecht, hoher Vater. Ich habe kein Zusammentreffen von Mann und Mädchen gemeint.« »Was denn?« fragte Huy enttäuscht, und ein Gefühl der Leere durchzog ihn. »Die Antwort darauf werden wir finden, wenn wir einander in Opet begegnen, hoher Vater«, erwiderte sie leise. Huy wußte, daß ihm die Monate bis dahin unendlich langsam vergehen würden.
Lannon stand über ein Tonrelief des großen Flußgebietes gebeugt. Im Osten stiegen die Wolken Baals empor, ein gewaltiger Wasserfall, dessen Wasser tief hinab in eine dunkle Schlucht stürzten und sprühend wieder hoch zum Himmel stiegen, wo sie wie eine ewige Wolke über der Ebene hingen. Von hier strömte der Fluß in ein tiefes Tal, einen heißen, ungesunden Ort, an dessen beiden Seiten rohe, felsige Wälle aufragten, stark bewaldet und reich an elfenbeintragenden Herden. Neunhundert Kilometer weiter östlich erreichte er das Gebiet der Draven und floß durch eine breite Schwemmlandebene, die in der Regenzeit unter Wasser stand. Dann endlich, durch ein Dutzend fächerförmiger Mündungen, ergoß sich der Fluß ins östliche Meer. Lannon erklärte seinen Generälen an Hand des Modells die wichtigsten Züge des Gebietes. Zwanzig Männer standen um
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ihn herum in dem großen Lederzelt, dessen Seiten geöffnet waren, um den trockenen Wind hereinzulassen und die Aussicht auf das breite Tal freizugeben. Weit im Norden stieg die gegenüberliegende Talböschung in rauchblauen Hügelreihen an. »Unsere Spione haben die Städte markiert, in denen sich die Stämme versammelt haben. Sie sind meist hoch gelegen, einen Tagesmarsch vom Fluß entfernt, und es ist wichtig, daß alle diese Stämme am gleichen Tag angegriffen werden.« Lannon wies seinen Kommandanten ihre Angriffsziele zu, ferner eine Stelle zum Überqueren des Flusses und eine Route für den Rückmarsch. »Auf dem Rückmarsch wird keine Überfallgefahr bestehen, wenn es euch gelingt, sie gleich am ersten Tag zu entmutigen. Die Stämme liegen alle in Fehde miteinander und werden sich daher nicht gegenseitig zu Hilfe kommen. Wir können nur dann einen Fehlschlag erleiden, wenn die Barbaren gewarnt werden und sich noch vor unserem Angriff zerstreuen.« Er erklärte den Plan in allen Einzelheiten, regelte die Fragen des Nachschubs und der Marschrouten und setzte schließlich das Datum für den Angriff fest. »In zwölf Tagen von heute. Das gibt euren Legionen genügend Zeit, an die jeweiligen Stellen der Flußüberquerung zu marschieren und die Städte der Barbaren zu erreichen.« Vom Lager an der Talböschung marschierte Huy mit der Sechsten Ben-Amon-Legion zur Garnisonsfestung bei Sett und ließ hier in einem Wald von Mopanebäumen das Lager aufschlagen, um sich dadurch gegen Beobachter vom anderen Ufer abzuschirmen. Tagsüber waren Lagerfeuer verboten, und bei Nacht wurden sie sorgfältig abgedeckt, während die Männer fleißig an den Flößen für die Überfahrt zimmerten. Starke Regenfälle im Westen hatten den Fluß anschwellen lassen, so daß die Furt nicht passierbar war.
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Mago Tellema, der Garnisonskommandant, ein großer kahlköpfiger Mann, erstattete Huy Bericht: »Meine Spähtrupps versehen ihren gewohnten Dienst, wie du befohlen hast.« »Gut«, nickte Huy ihm zu. »Haben Sie seit meiner Ankunft irgendwelche besonderen Vorgänge festgestellt?« »Nein, hoher Vater. Eine mehrere hundert Krieger starke Truppe hat den Vorposten angegriffen. Wir haben sie mühelos zurückgeschlagen und fünfzig Mann getötet.« »Was gewinnen die Barbaren durch solche Überfälle?« »Waffen – und einen Begriff von unserer Schlagkraft.« »Ist es an der ganzen Grenze so unruhig?« »Nein, hoher Vater. Aber hier in Sett stehen wir einem sehr kriegerischen Stamm gegenüber, den Vendi. Erinnerst du dich, wie sie vor vier Jahren in großen Scharen über den Fluß kamen und mit 20 000 Mann die Garnison überwältigten …« »Ja, natürlich.« »Die Vendi sind schon deshalb gefährlich, weil sie ein großer Stamm sind – nicht alle leben in der Stadt. Sie haben große Viehherden und sind über ein riesiges Gebiet verbreitet.« »Ist die Stadt befestigt?« »Die ›Stadt‹ ist nichts als eine ausgedehnte Ansammlung von Hütten, hoher Vater. Einige der Hütten sind von primitiven Palisaden eingezäunt, die aber lediglich zum Schutz gegen wilde Tiere dienen.« Ein Sklave schenkte Huy Wein nach. Huy hielt seine Weinschale in beiden Händen und starrte melancholisch in die dunkelrote Flüssigkeit. Sein Schweigen beunruhigte den Kommandanten, bis er schließlich hervorstieß: »Ist es wahr, daß der König morgen eintrifft?« »Ja. Lannon Hycanus wird bei dem Angriff mit meiner Legion marschieren.« »Ich bin ihm niemals vorgestellt worden«, murmelte der
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Mann, und Huy verstand plötzlich die Enttäuschung eines älteren Offiziers, der auf einen kleinen Vorposten in der Wildnis verbannt war, ohne die geringsten Aussichten weiterzukommen. »Ich werde dich dem König empfehlen«, versprach Huy.
Eine der Biremen, die den Fluß bewachten, brachte während der Nacht eine Hundertschaft von Axtkämpfern und Bogenschützen ans andere Ufer, und noch vor dem Morgengrauen hatten sie Taue über den Fluß gespannt. Der Fluß war an dieser Stelle 300 Schritt breit; das schmutziggrüne Wasser floß zwischen steilen Ufern dahin, die dicht bewaldet waren und eine üppige Vegatation hatten. Die Flöße wurden zum Ufer getragen und an den Seilschlingen befestigt. In Gruppen zu fünfzig Mann bestiegen die Legionäre die Flöße; Elefanten zogen sie an den Tauen zum anderen Ufer. Die Operation verlief nach erprobtem Schema – nicht zum erstenmal überquerte eine Legion den großen Fluß. Am frühen Nachmittag war die Überfahrt abgeschlossen. Eine Kohorte ließ Huy zur Bewachung der Furt und des Verpflegungslagers zurück. Dann begann er unter dem Schutz von leichter Infanterie und Bogenschützen seinen Marsch gegen die Barbarenstadt Kai. Dabei zahlten sich die harten Wochen der Ausbildung während des Marsches von Zeng-Hanno aus. Selbst in diesem zerklüfteten und waldreichen Terrain legte die Legion regelmäßig eine Strecke von acht Kilometern pro Stunde in geordneter Formation zurück. Die voraneilenden Kundschafter stellten sicher, daß niemand eine Warnung an die Stadt tragen konnte. Die paar hundert Hirten, Jäger und Wurzelsucher, denen sie begeg-
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neten, wurden in einem lautlosen Pfeilhagel oder mit raschen Axtschlägen erledigt. Die Körper blieben am Wegrand liegen, wo sie gefallen waren, und die Marschkolonnen zogen an ihnen vorbei, ohne sich um die Toten zu kümmern. Bei Einbruch der Dunkelheit machte die Legion Halt. Die Männer holten Dörrfleisch und Hirsekuchen aus ihren Taschen, während die Weinträger von einem zum anderen gingen und die Trinkschalen füllten. »Schau.« Huy berührte Lannons Schulter und deutete auf die nördlichen Hügel. Ein Glanz überzog den Himmel, als ob der Mond in der falschen Richtung aufgegangen wäre. Es war der Schein von Tausenden von Lagerfeuern. »Eine reiche Ernte«, nicke Lannon. »Genau wie die Hexe prophezeit hat.« Huy war bei der Erwähnung von Taniths Namen unbehaglich zumute, aber er schwieg. »Ihre Worte haben mich beunruhigt – ich habe viele Nächte darüber nachgedacht.« Lannon griff nach der Weinschale, nachdem er seine fettigen Finger und Lippen abgewischt hatte. »Sie predigte Tod und Dunkelheit und Verrat durch einen Freund.« Huy murmelte: »Sie hat nicht gepredigt, Majestät – sie hat auf eine Frage geantwortet.« Aber Lannon entschied: »Sie ist böse.« »Herr!« protestierte Huy. »Laß dich nicht durch ein hübsches Gesicht in die Irre führen, Huy.« »Sie ist jung, unschuldig«, begann er, aber als Lannon sich zu ihm beugte und ihm ins Gesicht starrte, hielt er inne. »Was bedeutet dir diese Hexe, mein Sonnenvogel?« »Als Mädchen nichts. Wie könnte es anders sein, sie gehört der Göttin.« »Das ist gut so – du bist weise in allem, mein Freund, nur
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nicht bei Frauen. Du solltest auf mich hören.« »Du bist gütig, mein Gebieter«, murmelte Huy. »Von dieser halte dich fern, Huy. Laß dich warnen von jemandem, der dich liebt – sie wird dir nichts als Kummer bringen.« »Wir haben lange genug gerastet.« Huy stand auf und legte die Axtschlinge um sein Handgelenk. »Wir müssen weiter marschieren.« Nach Mitternacht überschritten sie die niedrige Hügelkette an den Abhängen der Flußböschung, und vor ihnen lag eine weite Ebene, durch die sich der dunkle Fluß Kai schlängelte. Das Mondlicht hatte das Land in Silber und Blau getaucht, und der Rauch von 10 000 Lagerfeuern stieg wie blasser Nebel über den Fluß und zog in Schwaden durch die stille Nachtluft. Die Feuer waren zu kleinen mattroten Pünktchen niedergebrannt, und die dunklen unförmigen Hütten wirkten wie eine planlose riesige Anhäufung primitiver Wohnstätten. »Er hat 50 000 geschätzt – und sich kaum geirrt.« Huy blickte hinaus über die Ebene, und Lannon neben ihm fragte: »Was wirst du jetzt tun?« Huy lächelte im Mondlicht. »Du hast mich das Jagen gelehrt, mein König.« Die Kommandanten seiner Kohorten kamen zum Befehlsempfang; sie sahen grimmig aus in ihren Umhängen und Helmen. Huy schickte eine kleine Gruppe leichter Infanterie und Bogenschützen in östliche Richtung. Während des Tages hatten die Kundschafter 4000 magere, dürftige, kleine Rinder erbeutet, die den Vendi gehörten. »Nehmt die Rinder mit. Ihr kennt die List, die Hannibal in Italien angewandt hat; sie wird uns auf dem großen Fluß ebenso gute Dienste leisten.« Lannon lachte begeistert auf, als Huy ihm seine Idee erklärte. »Fliege für mich, mein Sonnenvogel.« »Brülle für mich, Grau-Löwe«, grinste Huy zurück, während
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er seinen Helm festschnallte. Leise führte Huy 4500 Mann seiner schweren Infanterie und Axtkämpfer nach Westen und ließ sie im Halbkreis am Rand des Waldes hinter der Stadt Stellung beziehen. Dann schlief er eine Stunde, und als einer seiner Zenturionen ihn wachrüttelte, war er steif und kalt vom nächtlichen Tau. »In Kampfstellung«, befahl er mit gepreßter Stimme, und der Befehl wurde von Mund zu Mund weitergegeben. Der Waldrand war von Rauschen und flinken Bewegungen erfüllt, als die Legionäre ihre Beile und Schwerter und Bogen fortwarfen und dafür die Holzkeulen der Sklavenjäger aufnahmen. Huy und Lannon eilten zur Kommandostellung im Zentrum der Linie. Huy blickte auf die schlafende Stadt und witterte ihren Geruch aus Holzrauch und gekochter Nahrung und menschlichen Exkrementen – ein schwerer, saurer Geruch von Menschheit. Schweigend lag die Stadt da, nur das einsame Bellen eines Hundes und das Wimmern eines schlaflosen Babys störten die Stille. Huy sagte leise: »Es ist Zeit.« Lannon nickte. Huy wandte sich um und erteilte einem seiner Zenturionen den Befehl. Der Mann beugte sich über ein tönernes Feuergefäß und blies die Flamme gegen die pechgetränkte Spitze des Signal-Pfeils. Als die Flamme aufloderte, legte er den Pfeil an den Bogen und schoß ihn in einer hohen, steilen Kurve in den dunklen Himmel. Die Reihe entlang wurde das Signal wiederholt, orangefarbene Flammen blitzten in der Dunkelheit kurz auf, aber die Stille wurde nicht unterbrochen, und die Stadt schlief weiter. »Sie haben keine Wachen aufgestellt, keine Beobachter, nichts«, bemerkte Lannon verächtlich. »Es sind Barbaren«, entschuldigte Huy. »Sie verdienen die Sklaverei.« »Es wird ihnen in der Sklaverei sogar besser gehen als in der Freiheit«, stimmte Huy zu.
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»Wir werden sie kleiden und nähren und ihnen die wahren Götter zeigen.« Lannon nickte. »Wir sind gekommen, um sie aus der Dunkelheit heraus in die Sonne zu führen.« Und er packte die schwere Sklavenjägerkeule mit seiner rechten Hand. Aus dem Osten, ganz plötzlich am Waldrand auftauchend, stürmte eine Masse brüllender, tobender Rinder einher. An ihren Hörnern brannten Fackeln aus Pech und Gras, und sie zogen flammende trockene Äste hinter sich her. Sie wurden vorwärts getrieben von ihrer eigenen Panik und von einer Linie schreiender Krieger. Es war eine Szene wie aus der Hölle, voller Staub, Funken, Rauch, Flammen. Die Rinder brachen in die Stadt ein, stürzten die leichten Grashütten um, hinterließen eine breite Flammenspur und trampelten die schlaftrunkenen nackten Vendi nieder, die ihnen in den Weg taumelten. Dahinter stürmten Krieger, die die Überlebenden mit Knüppeln niederschlugen und in dem aufgewirbelten Staub liegen ließen. Immer lauter wurde das Aufheulen in der Stadt, der Klang tausender verstörter Stimmen. Man hörte das Dröhnen der galoppierenden Tiere, und gegen den nächtlichen Himmel loderten gelbe Flammen und sprühten Funken, als die trockenen Hütten wie Zunder in Brand gerieten. »Haltet eure Linien geschlossen«, rief Huy seinen Männern zu. »Laßt keine Lücke im Netz, damit kein Fisch durchschlüpfen kann.« Die Nacht war erfüllt von Bewegung, Lärm und Feuer. Die Flammen griffen schnell um sich und tauchten die Szene in flackerndes, orangefarbenes Licht; die Vendi liefen wild durcheinander und schrien, als sich die grimmigen Reihen der Plünderer auf sie stürzten. Die Keulen machten furchtbare Ernte: Die Schläge klangen wie das Fällen von Bäumen im Wald. Menschen fielen zu Boden, blieben dort im grellen Feuerschein liegen oder krochen und krümmten sich stöhnend. Eine Frau, ihr Kind an die Brust gepreßt, sah die unaufhalt-
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same Reihe auf sich zukommen, sie wirbelte herum und rannte direkt in die hohen, tosenden Flammen eines brennenden Strohdachs. Sofort brannte sie selbst wie eine Fackel, ihr Haar schien zu explodieren; sie schrie einmal auf und stürzte dann zur Unkenntlichkeit verkohlt in die Flammen. Huy sah es, und die Wildheit seines Blutes erlosch und gerann zu Abscheu und Ekel. »Genug!« schrie er. »Haltet ein!« Und das furchtbare Chaos begann sich zu legen. Die Sklavenjäger ordneten die Gefangenen zu hockenden Reihen, Soldaten sammelten sich, die Flammen brannten herunter und ließen nur schwarze, rauchende Aschehaufen zurück. Die Dämmerung zog herauf, eine rote, zornige Dämmerung, die sich mit den dunklen Rauchwolken mischte. In das Loblied auf Baal drangen die Schreie und Klagerufe der Gefangenen. Huy ging schnell durch die allgemeine Verwüstung, um den Rückmarsch zu organisieren. Zwei Kohorten unter Führung des jungen Bakmor hatten bereits den Rückweg zum großen Fluß angetreten, wobei sie eine riesige Herde von erbeutetem Vieh vor sich hertrieben. Huy schätzte, daß es fast 20 000 dieser schäbigen kleinen Tiere waren. Bakmor sollte die Rinder über den Fluß schwimmen lassen und dann selbst sofort umkehren, um den Rückzug zu decken. Jetzt ging es darum, die langsamen, schwerfälligen Sklavenkolonnen in Bewegung zu setzen. Hatte der Anmarsch seiner Legion nur einen halben Tag und eine Nacht gedauert, so würde der Rückmarsch zweifellos zwei oder drei Tage kosten. Die eben gefangenen Sklaven mußten zusammengekettet werden und würden in ihren ungewohnten Fesseln nur langsam vorankommen und den Marsch verzögern. Aber jede Stunde Verzögerung war gefährlich, mit jeder wurde die schwerbeladene Legion einem Angriff oder Vergeltungsschlag gegenüber verwundbarer.
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Einer seiner Zenturionen wandte sich an ihn, die Tunika rauchgeschwärzt und den Bart versengt. »Mein Gebieter!« »Was gibt’s?« »Die Sklaven. Es sind nur wenige junge Männer unter ihnen.« Huy betrachtete die schwarze, kauernde Menschenmasse. Sie waren mit Marschierketten am Hals gefesselt wie Jagdhunde an der Leine. Huy sah jetzt auch, daß es sich vorwiegend um Frauen und unreife Jugendliche handelte. Die Sklavenaufseher hatten die Alten und Schwachen ausgesondert, aber es gab nur sehr wenige Männer, die das Alter und Aussehen von Kriegern hatten. Huy wählte aus der hockenden Reihe einen aufgeweckt wirkenden Jungen und sprach ihn in der Landessprache an. »Wo sind die Krieger?« Der Junge blickte erschreckt auf, als er in seiner eigenen Sprache angeredet wurde, senkte dann aber die Augen trotzig zu Boden und verweigerte die Antwort. Der Zenturion zog sein Schwert halb aus der Scheide, und bei dieser Bewegung blickte der Junge wieder furchtsam auf. »Ein Blutstropfen mehr spielt keine Rolle«, drohte Huy, und nach einem kurzen Zögern antwortete der Junge. »Sie sind nach Norden auf die Büffeljagd gezogen.« »Wann werden sie wiederkommen?« forderte Huy. »Ich weiß es nicht«, zuckte der Sklave vieldeutig die Schultern. Jetzt hatte Huy noch weit mehr Grund zur Eile. Die Kampfscharen der Vendi waren unversehrt, und das hier aufsteigende Rauchsignal würde sie anziehen wie Aas die Geier. »Bring sie auf die Beine und dann los«, befahl er dem Zenturion und eilte fort. Aus dem Rauch tauchte Lannon auf, gefolgt von seinen Waffenträgern und Garden. Ein einziger Blick genügte, um Huy zu warnen, denn Lannons Gesicht war gerötet und zornig.
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»Hast du den Sklavenaufsehern befohlen, die Gefangenen zu schonen?« »Jawohl, Herr.« Huy ärgerte sich plötzlich über die Wutanfälle und Launen des Königs, er hatte jetzt Wichtigeres zu tun. »Mit welchem Recht?« fragte Lannon drohend. »Mit dem Recht des Kommandanten einer Königlichen Legion im Felde«, erwiderte Huy. »Ich habe Niederbrennen befohlen.« »Aber kein Hinschlachten der Alten und Kranken.« »Die Stämme sollen wissen, daß Lannon Hycanus hier durchgezogen ist.« »Ich will Zeugen dafür hinterlassen«, erwiderte Huy kurz. »Wenn diese Alten uns belastet hätten, werden sie dann nicht auch eine Belastung für ihren eigenen Stamm bedeuten?« Lannons Wut steigerte sich noch mehr – und Huy faßte ihn unvermittelt wie in einem geheimen Einverständnis am Arm. »Majestät, ich muß dir etwas Wichtiges mitteilen.« Und bevor noch Lannon seinem Zorn freien Lauf lassen konnte, hatte Huy ihn beiseite geführt. »Die Regimenter der Vendi sind uns entkommen, sie stehen im Felde und in voller Kampf Ordnung.« Lannon vergaß seinen Zorn. »Wie nahe sind sie?« »Ich weiß es nicht – ich weiß nur, daß sie näher kommen, je länger wir reden.« Die Mittagsstunde war schon vorüber, ehe die langen Reihen der Gefangenen abgezählt waren und sich schleppenden Schrittes in Bewegung setzten. Die Sklavenaufseher erstatteten Huy Bericht, die Zählung hatte beinahe 22 000 Menschen ergeben. Trotz Huys Befehl, die Kolonne dichtgedrängt zu halten, zogen sich die Reihen der aneinandergeketteten Vendi über mehr als sechs Kilometer hin. Sie kamen nur äußerst langsam voran. Schwerfällig kriechend wand sich der Zug zwischen den Hügeln zum Tal hinunter.
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Der erste Angriff traf sie kurz nach Mitternacht. Huy war sehr beunruhigt. Zwar hatte er alle Vorsorge für ein Nachtlager in feindlichem Gebiet getroffen, aber mit einem Angriff dieser Art hatte er doch nicht gerechnet. Ein paar überwältigte Wachposten vielleicht, ein Pfeilschwarm aus dem Hinterhalt, vielleicht sogar ein schneller Überfall auf eine schwache Stelle seines Zuges und ein blitzartiger Rückzug, aber nicht einen großangelegten Nachtangriff, der alle Anzeichen durchdachter Planung hatte und mit mörderischer Energie erfolgte. Nur ihre eiserne Disziplin hielt die Truppe in dieser heulenden Sturzflut zusammen, die aus der Dunkelheit über sie hereinbrach. Zwei Stunden lang kämpften sie Schulter an Schulter, während die Trompetensignale zum Ausharren und Sammeln erschallten. »Die Sechste zu mir!« »Die Sechste ausharren!« »Die Sechste nicht nachgeben!« Als der Mond hervortrat und das Schlachtfeld beleuchtete, verschwanden die Angreifer wieder in den Wäldern, und Huy konnte seine Kohorten mustern. Die toten Stammeskrieger lagen um das Viereck herum, das die Kohorten gehalten hatten. Soldaten kümmerten sich um die Verwundeten und bereiteten die Verbrennung ihrer Toten vor. Huy stellte erleichtert fest, daß der Feind nur wenige Todesopfer unter den Verteidigern gefordert hatte, aber selbst hohe Verluste hatte hinnehmen müssen. Im Tumult der Schlacht waren viele Sklaven den Rufen der Angreifer gefolgt und trotz ihrer Ketten in die Nacht geflüchtet. Aber es blieben immer noch mehr als 16 000 zurück, heulend vor Angst, Hunger und Durst. Die Legion entzündete nächtliche Leichenfeuer und sang beim Weitermarschieren den Lobgesang auf Baal. Eine Stunde nach Sonnenaufgang war schon klar, welche Taktik sich die
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Vendi für diesen Tag zurechtgelegt hatten. Jeder Hinterhalt entlang der Marschroute war mit Bogenschützen und Speerwerfern besetzt. Sie mußten erst mühsam vertrieben werden. Sie wichen zwar jedesmal den Angriffen von Huys Beilträgern aus, aber gleichzeitig waren die Flanken und Nachhut der Marschkolonne wiederholten schweren Angriffen ausgesetzt. »So etwas hat es noch nie gegeben«, protestierte Lannon in einer Kampfpause, während er seinen Helm abschnallte und seinen Mund mit Wein ausspülte. »Sie verhalten sich wie geschulte, ausgebildete Truppen.« »Das ist neu«, stimmte Huy zu, während er seine Stirn kühlte. Arme und Gesicht waren blutverschmiert, und auch die Klinge seiner Geieraxt war mit schwarzem Blut verkrustet. »Sie gehen zielstrebig und geschickt vor – ich habe bisher noch keine Stammeskrieger gefunden, die sich neu formiert hätten, wenn sie zerstreut worden waren. Ich habe auch noch nie gesehen, daß sie nach solchen Verlusten erneut angegriffen hätten.« Lannon spuckte roten Wein auf den Boden. »Wir können uns heute noch auf allerhand gefaßt machen«, stöhnte er. Sie kamen zu einer Stelle, wo der Weg über einen schmalen Fluß führte und dann zwischen zwei Hügeln verlief. Sechzehn Speere waren am Ufer in die Erde gerammt, auf deren Spitzen die Köpfe von Legionären aufgespießt waren. Sie gehörten zu den Kohorten Bakmors, der mit den Viehherden vorausmarschiert war. »Bakmor ist also auch nicht ungeschoren davongekommen«, bemerkte Huy, während seine Leute die Köpfe schnell in lederne Umhänge wickelten. »Sechzehn von zwölfhundert ist allerdings keine Katastrophe«, sagte Lannon leichthin. »Mit dieser abschreckenden Schaustellung wollen sie uns doch nur zu verstehen geben, daß sie die Furt zu halten entschlossen sind – eine schwache Tak-
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tik, Sonnenvogel.« »Vielleicht, mein Gebieter«, gab Huy zu, aber er hatte die Gesichter seiner Männer beim Anblick der zerfetzten Kehlen und der trüben, starrenden Augen der Kopftrophäen gesehen. Die Furt war tatsächlich besetzt, wie Lannon vorausgesagt hatte. Besetzt von einer Streitmacht, die nach Huys Schätzung nicht weniger als doppelt so stark wie seine eigene war. Während sie versuchten, sich ihren Weg durch die Feinde zu schlagen, dauerten die Angriffe gegen Flanken und Nachhut an. Zweimal mußte Huy seine Beilträger und Fußsoldaten aus dem blutgeröteten Schlamm der Furt abziehen, um sie rasten und sich neu formieren zu lassen. Dieser erste Tag war sehr heiß geworden, und die Legionäre begannen schon zu ermüden. Ein Speerstoß hatte Lannons Gesicht bis zum Knochen aufgerissen – eine Wunde, die allerdings gefährlicher aussah, als sie wirklich war; sein Bart war dick verfilzt von Blut und Staub. Ein Arzt nähte gerade die Wunde, als Huy besorgt hinzutrat. Doch der König winkte lachend ab: »Das wird eine interessante Narbe geben.« Dann sagte er, ohne den Kopf zu wenden: »Ich habe die Lösung des Rätsels gefunden, Huy, und hier ist sie!« Er deutete über den Strom auf den näheren der beiden Hügel, dessen Gipfel knapp außerhalb der Reichweite verirrter Pfeile lag. Die Kuppe war kahl und aus Granit. Eine kleine Gruppe von Männern stand dort um eine Gestalt in der Mitte geschart. Huy würde niemals diesen Mann vergessen, wie er da in dieser schicksalhaften Mittagsstunde auf dem Hügel neben der Furt stand. Seine Gestalt schien selbst durch die Entfernung nicht kleiner zu werden, wie doch die Männer um ihn herum. Auf seltsame Weise wirkte seine physische Anwesenheit da-
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durch noch imposanter. Es war ein riesiger Mann, dessen Kopf und Schultern seine Gefährten überragten. Die starken Muskeln seiner schwarzen Brust und Arme glänzten in der Sonne, und sein stolzer Kopfschmuck aus blauen Reiherfedern wehte im Sturm. Um die Hüften trug er einen kurzen Schurz aus Leopardenschwänzen; aber Huy hätte auch so gewußt, daß dieser Mann ein König war. »Ah!« stöhnte er leise, und fühlte, wie es ihn durchzuckte. In diesem Augenblick stieß der Vendi-König auf dem Hügel seinen schweren Kriegsspeer schwungvoll in Richtung der Furt. Das war offensichtlich ein Befehl, denn aus der Gruppe um ihn löste sich ein Bote und lief den Hügel hinunter. »Die Stämme haben also endlich einen Führer gefunden«, sagte Huy. »Ich hätte es mir denken können!« »Nehmt ihn gefangen«, befahl Lannon. »Ich will ihn haben. Alles andere ist unwichtig. Nehmt nur diesen Mann gefangen.« Huy vernahm einen neuen Tonfall in Lannons Stimme. Er blickte seinen König verwundert an und erkannte, daß Lannon sich zum erstenmal in all den Jahren fürchtete.
Huy hatte sein Unternehmen auf die letzte Stunde vor Einbruch der Dunkelheit angesetzt, wenn sich die Schatten längten und das Licht ungewiß wurde. Am Nachmittag ließ er seine Soldaten am Ufer rasten, ließ sie essen und trinken und ihre Klingen schärfen, während er seine Vorbereitungen traf. Er wählte fünfzig seiner besten Männer aus, rief jeden mit Namen auf und führte sie dann weit zurück, wo sie vor den wachsamen Augen auf den Anhöhen am anderen Flußufer sicher waren. Sie schabten den dichten schwarzen Belag vom Boden ihrer Kochtöpfe und mischten ihn mit Öl zu einer dicken Paste. Es
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reichte nicht hin, um die Körper von fünfzig Männern damit zu schwärzen, weshalb sie für ihre Arme und Beine schwarzen Flußschlamm verwendeten. Sie legten die Kleider ab und wurden dann mit Sklavenketten aneinandergefesselt. Aber statt der Halsspangen aus Eisen nahmen sie dünne, trockene Zweige. Ihre Schilde konnten sie nicht mitnehmen, sie beschmierten jedoch ihre Waffen mit einer dicken Schlammschicht, um das Glänzen und Aufblitzen des nackten Metalls zu vermeiden. Dann schnallten sie sich die Waffen auf den Rücken. »Ihr seid Sklaven, keine Legionäre«, schärfte Huy ihnen ein. »Rennt wie die Sklaven, reißt aus wie geprügelte Hunde.« Als sie unter den Bäumen hervorkamen, und zum Fluß hin liefen, hinter ihnen eine halbe Hundertschaft von Legionären als Verfolger, brüllten sie vor Angst, während sorgfältig gezielte Pfeile um sie herumschwirrten. Sie erreichten das Ufer fünfhundert Schritt oberhalb der Furt. Als sie schwerfällig durch den Fluß stolperten, immer durch die Sklavenkette miteinander verbunden, bemerkte der Vendi-König auf seinem Hügel ihren Fluchtversuch und entsandte zwei starke Einheiten von Bogenschützen und Speerwerfern zum Schutz der Flüchtenden. Ein wildes, kleines Gefecht entbrannte am Flußufer, während dessen Huy mit seiner Gruppe unbemerkt über den Fluß und in den Schutz des Waldes am anderen Ufer kam. Zwischen den Bäumen trafen sie auf eine kleine Einheit von Stammeskriegern, aber bevor die die Täuschung erkannten, streiften Huys Männer ihre Ketten ab und überwältigten die Gegner in einem lautlosen, mörderischen Gemetzel. Und dann waren sie durch, kein Hindernis lag mehr zwischen ihnen und dem Kommandohügel. In einer dichten Schar führte Huy sie im Laufschritt durch den Wald zur Rückseite des Hügels. Sie waren schnell gelaufen, und er ließ sie einige Minuten rasten. Die Flußüberquerung hatte ihnen den Schlamm von Armen und Beinen gewaschen, und der Schweiß hatte hel-
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le Streifen in ihre ruß- und ölverschmierten Gesichter gezogen, was ihnen ein wildes, verwegenes Aussehen verlieh. Der Kampflärm vom Fluß war verklungen, und der Wald lag schweigend und still, als Huy seine Männer den hinteren Abhang des Hügels hinaufführte. Hier waren Wachen aufgestellt, doch die bemerkten die unheimlichen geschwärzten Gestalten im Waldschatten erst, als es zu spät war. Unterhalb der unbewaldeten Granitkuppe wartete Huy auf das Ablenkungsmanöver, das Lannon versprochen hatte. Die entfernten Schreie und das leise Klirren von Metall an der Furt wurden durch die Entfernung und den dazwischenliegenden Hügel fast völlig geschluckt. Huy sagte leise: »Jetzt. Alle zusammen.« Und sie stürzten aus dem Wald hervor und rasten die Granitkuppe hinauf, allen voran rannte Huy. Als er nur noch etwa zwanzig Schritte vom Gipfel entfernt war, spürte der Vendi-König plötzlich seine Gegenwart und drehte sich zu Huy um. Er schrie seinen Kriegern eine Warnung zu, aber da fiel ihn Huy schon an. Zwei Leibwächter des Königs warfen sich ihm in den Weg, doch Huy erledigte sie mit einem gezielten Streich seiner Axt; stöhnend sauste die Klinge und tötete den einen Leibwächter sofort, während sie den Speerarm des anderen oberhalb des Ellbogens abtrennte – in einem einzigen Streich. Die beiden fielen zur Seite, und Huy sprang auf den König zu. Er war ein riesiger Mann, vielleicht der größte, den Huy je gesehen hatte, und die Haut über seinen gewaltigen Muskeln glänzte bläulich-schwarz. Er sprang leicht geduckt auf Huy zu, seinen Stoßspeer unter die Schulter geklemmt; die Speerspitze zielte gierig glänzend nach Huys Bauch. Er reagierte blitzschnell auf Huys Angriff und wirkte so wild und energisch, daß Huy seinen Anlauf bremste und instinktiv zur Seite sprang, gerade als die Spitze des Speers ins Leere zuckte dorthin, wo eben noch sein Bauch
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war. Der hünenhafte schwarze Mann stöhnte unter dem Schwung des fehlgeschlagenen Streiches, seine lohfarbenen Augen funkelten Huy an. Er stieß erneut zu, wieder sprang Huy zur Seite, die Spitze zischte an ihm vorbei. Mitten im Sprung holte er aus und fuhr mit dem Dorn seiner Axt über die ungedeckten Rippen des Riesen. Die blauschwarze Haut riß auf, ein Blutschwall stürzte hervor. Der König brüllte auf und schlug und stach auf diesen tanzenden Irrwisch vor ihm ein. Seine Streiche wurden jedesmal wilder, seine Angriffe wütender, während Huy ihn reizte und auf seine Chance wartete. Dann kam sie. Huy hatte plötzlich die Reichweite des Speers unterlaufen. Mit dem Axtdorn suchte er die Schenkelader in der Leiste des Riesen zu treffen, stach aber den eingravierten Stahl ein wenig zu weit rechts in das straffe Fleisch und verfehlte die Arterie. Der König brach in die Knie. Huy trat einen Schritt zurück und schwang die Axt hoch empor. Er setzte zum Todesstreich auf den runden schwarzen Schädel des knieenden Königs an, zu einem Streich, der ihn bis zum Brustbein spalten würde. »Für Baal!« schrie er und ließ die Axt niedersausen. Aber dann hielt er mitten im Streich inne. Er wußte selbst nicht, welcher Impuls ihn dazu veranlaßte, was ihm die Waffe so drehte und bremste, daß nicht die Schneide, sondern die flache Seite gegen den Kopf des Königs krachte – stark genug, daß er betäubt mit dem Gesicht nach vorn zu Boden stürzte, aber nicht stark genug, um den Schädelknochen zu zertrümmern. Huy sprang zurück und vergewisserte sich mit einem schnellen Blick, daß das ganze Gefolge des Königs leblos auf dem Granitboden lag und daß seine eigenen Legionäre um ihn geschart rasteten, gestützt auf ihre blutigen Schwerter. Die Überrumpelung war vollständig gelungen. Huy lief zum höchsten Punkt des Hügels. Nackt, verdreckt mit Ruß und Schlamm, schwang er seine Axt hoch über dem Haupt, und seine Männer jauchzten
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ihm zu und schwenkten ihre eigenen Waffen. Von der Furt her begann eine Trompete zum Angriff zu blasen; der Ruf wurde sofort aufgenommen und schallte von Kohorte zu Kohorte. Huy sah Lannon die erste Angriffswelle über den Fluß führen. Die Legion überrannte die führerlosen Stammeskrieger und durchbrach deren Reihen fast ohne Widerstand, spaltete sie auf und drängte sie in ungeordneten Haufen gegen die Hügel zurück. Sie hatten gesehen, wie ihr König gefallen war, und jeder Kampfgeist hatte sie verlassen. Von seinem Gipfel aus beobachtete Huy, wie Lannon die Reserve seiner beiden letzten Kohorten gerade im richtigen Moment einsetzte. Der Widerstand der Stammeskrieger brach zusammen, eine wilde Flucht setzte ein. Sie warfen ihre Waffen fort und stürzten schreiend, panisch, in wüsten Haufen zum Engpaß zwischen den Hügeln. In diesem Augenblick marschierte der hübsche junge Bakmor aus dem Wald, zusammen mit den zwei Kohorten, die die erbeutete Viehherde zum großen Fluß getrieben hatten. Er ordnete seine Kohorte entlang der einzigen Rückzugslinie an, die den Stämmen noch offen war. Bakmor kam wirklich zur rechten Zeit zurück, und Huy beobachtete mit Genugtuung, wie fachmännisch er seine Anordnungen traf. Als die Sonne glühendrot den Horizont berührte, bliesen die Trompeten noch einmal zum Angriff, und das Gemetzel und die Sklavenjagd dauerten bis nach Mitternacht.
Elefanten zogen die Flöße, auf denen Huy mit seiner Legion und mit den gefangenen Sklaven über den Fluß setzte. Nach der Schlacht an der Furt hatte es keinen Widerstand mehr gegeben. Die Regimenter der Vendi waren zerschlagen, ihre
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Häuptlinge getötet oder gefangengenommen, und Lannon befand sich in Jubelstimmung. Er dankte Huy: »Mein Sonnenvogel! Das war mehr, als ich von dir verlangen kann. Ich ahnte nicht, daß ein so gefährlicher Gegner an meinen Grenzen erwachsen war. Wenn wir ihm noch ein Jahr Zeit gelassen hätten – nur die Götter wissen, wie furchtbar er hatte werden können.« »Baal hat mir gelächelt«, wies Huy bescheiden zurück. »Und das tut auch Lannon Hycanus«, versicherte ihm Lannon. »Wie war die Ernte, Sonnenvogel? Hat der alte Rib-Addi schon seine Abrechnung gemacht?« »Ich hoffe es, mein Gebieter.« »Sende nach ihm«, befahl Lannon, und Rib-Addi kam mit seinen Rollen, seinen tintenbefleckten Fingern, seinen mißtrauischen Buchhalteraugen. Er nannte die Viehbestände und verlas die Listen der Sklaven. »Die Preise werden sehr gedrückt werden, Herr«, erklärte Rib-Addi pessimistisch, »denn auch die anderen Legionen haben den Stämmen jenseits des Flusses einen großen Tribut abgenommen. Es wird zwei oder drei Jahre dauern, bis die Märkte von Opet diesen großen Reichtum aufgenommen haben.« »Trotzdem, Rib-Addi, das Beutegeld für die Sechste BenAmon-Legion muß beachtlich sein.« »Du sagst es, mein Gebieter.« »Wieviel?« drängte Lannon. Rib-Addi sah erschrocken aus: »Es könnten bis zu 25 000 Finger sein – andererseits aber auch nur …« »Ich will deine niedrigere Zahl nicht hören«, fuhr Lannon den alten Mann an. »Wie mein Gebieter befiehlt.« Rib-Addi verneigte sich, und Lannon wandte sich Huy zu. »Dein Anteil beträgt ein Hundertstel, Sonnenvogel. Zwei-
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hundertfünfzig Finger – endlich bist du ein reicher Mann. Wie fühlt man sich da?« »Nicht gerade übel«, grinste Huy ihn an, und Lannon drehte sich lachend wieder zu Rib-Addi. »Schreib in dein Buch, alter Mann. Schreib, daß Lannon Hycanus auf die Hälfte seines eigenen Beuteanteils verzichtet und sie als Belohnung für den Legionskommandanten Huy BenAmon aussetzt, für seine Verdienste in diesem Feldzug.« »Mein Gebieter, das ist der zwanzigste Teil«, protestierte Rib-Addi heftig. »Das ist eine Belohnung von mehr als tausend Fingern!« »Ich habe auch rechnen gelernt«, unterbrach ihn Lannon in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »So wird es geschrieben«, murmelte er, während Huy dankbar vor seinem König niederkniete. »Steh auf!« befahl Lannon lächelnd. »Erniedrige dich nicht vor mir, alter Freund.« Und Huy erhob sich wieder. Er geriet in einen Taumel der Habgier und war kaum fähig, an sein Glück zu glauben. Er war reich – reich! Noch heute mußte er den Göttern opfern. Einen weißen Stier, wenigstens. Wie schon Rib-Addi gesagt hatte, war der Markt überflutet, er würde einen Stier billig bekommen. Und dann erinnerte er sich wieder, daß er jetzt nicht mehr zu knausern brauchte. Allen Luxus, den er je begehrt hatte, konnte er sich nun leisten, und er würde immer noch genug übrigbehalten für einen Landsitz an den Terrassen von Zeng. Oder für einen Sitz in einem der Goldminen-Syndikate, ein gesichertes Einkommen auf Lebensdauer. Keine geflickten Tunikas mehr, kein Zetern mehr mit seinen Haushälterinnen um den Fleischverbrauch, keine billigen, sauren Weine aus den Hafentavernen. Und dann ein Gedankensprung: keine Abhängigkeit mehr von Lannons Gastfreundschaft und von der Gutwilligkeit seiner jungen Sklavenmädchen.
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Er würde jetzt seine eigene Sklavin haben – nein, zum Teufel, zwei – drei! Jung, hübsch und geschmeidig. Er fühlte die Erregung seines Körpers. Er konnte sich jetzt eine Ehefrau leisten, sogar die Töchter aus edlen Häusern würden künftig, geblendet von einem solchen Haufen Gold, seinen Rücken kaum mehr beachten. Dann erinnerte er sich plötzlich an Tanith, und die Träume von Sklavenmädchen und Ehefrauen verblaßten. Seine Stimmung fiel im Nu. Die Priesterinnen der Astarte waren der Göttin geweiht, sie konnten niemals heiraten. Und Huy fühlte sich auf einmal nicht mehr so reich wie noch vor einem Augenblick. »Hörst du nicht, wenn dein König mit dir spricht?« fragte Lannon, und Huy zuckte schuldbewußt zusammen. »Ich habe geträumt, mein Gebieter. Vergib.« »Es ist nicht mehr nötig zu träumen«, sagte ihm Lannon. »Was hat der Grau-Löwe mich gefragt?« »Wir sollten den Barbaren vorführen, sagte ich, wir könnten uns mit ihm beschäftigen, bevor die Legion zusammentritt.« Huy blickte sich nach seinen Kohorten um, die in einem offenen Viereck vor dem ledernen Zeltdach standen, unter dem Lannon saß. Die Legionsfahnen glänzten im Sonnenlicht, und die Offiziere standen bei ihren Männern. Es herrschte gespannte Erwartung. Huy seufzte leise. »Wie der Grau-Löwe befiehlt.« »Veranlasse es«, befahl Lannon. Er trug Ketten an Händen und Füßen und um den Hals. Die Sklavenaufseher erkannten gefährliche Gegner mit einem Blick; zwei von ihnen hielten ihn an den Ketten seines Halseisens. Er war so groß, wie ihn Huy im Gedächtnis hatte, doch seine Haut war womöglich noch dunkler.
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Daß er noch so jung war, erschreckte Huy, der ihn sich als Mann auf der Höhe des Lebens vorgestellt hatte, aber das täuschte. Seine Körpergröße und seine gebieterische Haltung ließen ihn älter erscheinen, als er war. Huy konnte sehen, daß er an seinen Fesseln gezerrt hatte. Hautfetzen waren auf den unzerreißbaren Eisenringen verschmiert. Die Wunde in seiner Leistenbeuge war dürftig mit Blättern und Rinde verbunden, auf denen sich bereits der erste Eiter abzeichnete. Das Fleisch drum herum sah hart und geschwollen aus. Aber obwohl er hinkte, obwohl die Ketten bei jedem seiner Schritte höhnisch klirrten und obwohl die Sklavenaufseher an ihm zerrten wie an einem gefangenen Tier, war nicht zu verkennen, daß dies ein König war. Er stand vor Lannon und senkte nur leicht sein Haupt auf dem massigen, sehnigen Hals. Seine Augen glühten wild, und er starrte seine Besieger mit unbändigem Haß an. »Du hast dieses – dieses große schwarze Untier gefangengenommen, Huy?« Lannon erwiderte den starren Blick des Riesen. »Du hast ihn überwältigt, ohne Hilfe?« Lannon schüttelte in ungläubigem Staunen den Kopf. Huy beobachtete den Vendi-König. »Wie heißt du?« fragte er ihn sanft, und der große runde Kopf drehte sich ihm zu, die wilden Augen blickten ihn an. »Wie kommt es, daß du die Sprache der Vendi sprichst?« »Ich spreche viele Sprachen«, versicherte ihm Huy. »Wer bist du?« »Manatassi, König der Vendi.« Huy übersetzte es Lannon. »Sag ihm, daß er kein König mehr ist«, sagte Lannon scharf, und Manatassi zuckte grinsend die Schultern. Seine Augen glühten noch immer haßerfüllt. »Fünfzigtausend Krieger der Vendi nennen mich immer noch König«, antwortete er. »Der Sklavenkönig eines Sklavenvolkes«, lachte Lannon
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und fragte dann zu Huy gewandt: »Was machen wir mit ihm, Huy? Ist er nicht ein gefährlicher Gegner? Können wir es uns leisten, ihn leben zu lassen?« Huy riß seinen Blick los von dem Sklavenkönig und bedachte die Frage; er spürte plötzlich ein starkes Besitzgefühl an Manatassi. Er war beeindruckt von der Stärke und Persönlichkeit dieses Mannes, von den militärischen Fähigkeiten, die er gezeigt hatte, von seiner List und Klugheit und von seiner seltsamen, glühenden Tiefe. Huy hatte ihn gefangengenommen, er konnte ihn selbst von Lannon für sich beanspruchen, und fühlte sich dazu versucht. Hier bot sich eine außergewöhnliche Möglichkeit. Diesen Mann nehmen, ihn zu erziehen, zu zivilisieren – was könnte man nicht alles aus ihm machen! Er war erregt, während diese neue Idee in ihm wuchs. »Ich glaube nicht«, beantwortete Lannon seine eigene Frage. »Vom ersten Moment an, als ich ihn gesehen habe, dort auf dem Hügel über der Furt, wußte ich, daß er gefährlich ist, lebensgefährlich. Ich glaube nicht, daß wir ihn am Leben lassen können, Huy. Er würde einen ausgezeichneten Boten an die Götter abgeben. Wir wollen ihn Baal weihen und ihn als Boten zu ihm senden, als Zeichen unserer Dankbarkeit für den Ausgang des Feldzugs.« »Mein Gebieter«, sagte Huy mit leiser Stimme, die nur für den König bestimmt war. »Ich habe ein besonderes Gefühl bei diesem Mann. Ich fühle, daß ich ihn aufklären könnte, ihm die wahren Götter verkünden könnte. Er ist jung, mein Gebieter, ich könnte etwas aus ihm machen, und wenn wir ihn soweit hätten, könnten wir ihn zu seinem Volk zurückschicken.« Lannon blickte Huy entgeistert an. »Warum sollten wir ihn seinem Volk zurückgeben, nachdem es uns soviel Mühe gekostet hat, ihn zu fangen?« »Weil wir ihn als Verbündeten gewinnen könnten«, versuchte Huy verzweifelt, seine Idee zu begründen. »Mit seiner Hilfe
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könnten wir einen Vertrag mit den Stämmen schließen. Er würde unsere nördlichen Grenzen sichern.« »Verträge mit Barbaren!« Lannon wurde zornig. »Was ist das für ein Unsinn? Unsere nördlichen Grenzen sichern, sagst du? Es gibt nur eins, nur eins, verstehst du, das unsere nördlichen Grenzen sichert, und das ist ein scharfes Schwert in einer starken Hand.« »Mein Gebieter, bitte laß mich ausreden.« »Nein, Huy. Ich will nichts mehr hören. Er muß sterben – und das schnell.« Lannon erhob sich. »Heute abend bei Sonnenuntergang. Bereite alles vor.« Und damit eilte er fort. »Die Legion soll abtreten«, befahl Huy seinen Kommandanten, und den Sklavenaufsehern bedeutete er mit einem Kopfnicken, den Gefangenen abzuführen. Aber Manatassi trat vor, indem er die Aufseher an den Ketten hinter sich herzog. »Hoher Herr!« rief Manatassi, und Huy drehte sich erstaunt um. Er hatte keine solch respektvolle Anrede erwartet. »Was willst du?« Huy blickte ihn an. »Ist es der Tod?« fragte Manatassi, und Huy nickte. »Es ist der Tod.« »Aber du bist für mich eingetreten?« beharrte Manatassi, und Huy nickte wieder. »Warum?« fragte der Sklavenkönig, und Huy konnte nicht antworten. Er breitete seine Hände aus in einer müden, verständnislosen Geste. »Zweimal schon«, sagte der Sklavenkönig. »Zuerst hast du die Schneide umgekehrt, die mich getötet hätte, und jetzt sprichst du für mich. Warum?« »Ich weiß es nicht. Ich kann es nicht erklären.« »Du fühlst das Band – das Band zwischen uns«, erklärte Manatassi, und seine Stimme klang tief, rollend und weich. »Die Verwandtschaft der Seelen. Du hast sie gefühlt.« »Nein.« Huy schüttelte den Kopf und eilte fort zu seinem
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Zelt. Fast den ganzen Nachmittag arbeitete er an seinen Schriftrollen, beschrieb den Feldzug, die Schlacht an der Furt, zählte die gefangenen Sklaven und die Beute auf – aber er brachte es nicht fertig, über Manatassi zu schreiben. Der Mann würde bald tot sein; sein Andenken sollte mit ihm sterben und nicht in der Niederlage fortdauern. Das Wort, das Lannon gesprochen hatte, ging ihm nicht aus dem Sinn: »Das schwarze Untier.« Das war der einzige Hinweis in seinen Aufzeichnungen auf den zum Tode bestimmten Sklavenkönig. Während des Nachmittags wurde Huys Stimmung immer schlechter. Er versuchte, sich abzulenken, versuchte, sich zu konzentrieren, – es gelang ihm nicht. Schließlich begab er sich zu Lannons Zelt. Lannon hielt eine Konferenz ab, und eine Gruppe seiner hohen Beamten saß im Halbkreis um ihn herum. Lannon blickte auf, lächelte und rief Huy zu sich. »Setz dich neben mich, mein Sonnenvogel. Wir haben große Probleme, zu denen ich deine Meinung hören möchte.« Und Huy saß schweigend, während Lannon die Angelegenheiten der vier Königreiche entschlossen und vernünftig ordnete. Er traf Entscheidungen, die Huy tagelang gequält hätten, und er traf sie leicht, ohne Zweifel und Zögern. Dann entließ er seine Räte und wandte sich Huy zu. »Leere eine Schale Wein mit mir, Huy. Es wird viele Tage dauern, bis wir wieder dazu Gelegenheit haben, denn morgen verlasse ich dich.« »Wohin gehst du, mein Gebieter?« »Ich kehre nach Opet zurück, und das schnell. Ich überlasse dich und deine Sklaven und Herden deiner eigenen Obhut.« Sie tranken einander zu und plauderten freundschaftlich, während Huy nach einer Gelegenheit suchte, die Rede auf Manatassi zu bringen, und Lannon sie ihm geschickt verwehrte. In seiner Verzweiflung nahm Huy schließlich das Thema direkt in Angriff.
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»Der Vendi-König, mein Gebieter«, doch weiter kam er nicht, denn Lannon schmetterte die Weinschale zu Boden. »Du mißbrauchst meine Freundschaft. Ich habe seinen Tod befohlen. Bis auf den Beilhieb ist diese Angelegenheit erledigt.« »Ich halte es für einen Fehler.« »Ihn am Leben zu lassen, wäre ein noch größerer Fehler.« »Mein Gebieter –« »Genug Huy! Genug, sage ich! Geh jetzt und schick nach ihm.« Bei Sonnenuntergang brachten sie den Vendi-König zu einem freien Platz am Flußufer unter den Festungswällen. Er war in einen Ledermantel gehüllt, der die Symbole Baals zeigte, und trug die symbolischen Opferketten. Als der verurteilte König vorgeführt wurde, blieben seine Augen auf Huy gerichtet, der bei den Priestern und Edlen stand. Diese furchtbaren gelben Augen schienen sich in sein Fleisch einbohren zu wollen. Huy begann das Ritual, sang das Opferlied und erwies dem flammenden Bildnis Gottes im westlichen Himmel seine Huldigung, und während der ganzen Zeit fühlte er, wie sich diese Augen in den innersten Kern seines Wesens hineinfraßen. Huys Gehilfe reichte ihm die rotgoldene Geieraxt, die in den letzten Strahlen des Sonnenuntergangs blinkte. Huy schritt auf Manatassi zu und blickte zu ihm auf. Die Sklavenaufseher hoben den Umhang von den Schultern des Opfers. Von den goldenen Ketten abgesehen, war er nun ganz nackt. Er war strahlend schön in seiner Nacktheit. Die Sklavenaufseher warteten, auf Huys Signal hin würden sie das Opfer niederwerfen und für den Schlag der Axt am Boden ausstrecken. Huy zauderte, er konnte sich nicht überwinden, den Befehl zu geben, diese wilden gelben Augen hatten ihn gebannt. Endlich riß er seinen Blick los und sah nach unten. Er hatte schon
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zum Signal angesetzt, aber seine Hand erstarrte mitten in der Bewegung. Er sah nur noch die nackten Füße Manatassis. Die Zuschauer rund um ihn begannen unruhig zu werden; die Sonne versank schon rasch hinter den Bäumen. Bald würde es zu spät sein. Immer noch starrte Huy auf Manatassis Füße. »Die Sonne sinkt, Priester. Schlag zu!« Lannon rief es zornig in die Stille, und seine Stimme schien Huy aufzurütteln. »Hier ist etwas, mein Gebieter, was du sehen mußt.« »Die Sonne sinkt«, rief Lannon ungeduldig. »Du mußt es sehen«, beharrte Huy, und Lannon eilte an seine Seite. »Schau!« Huy deutete auf die Füße des Vendi-Königs, und Lannon atmete jäh ein. Die Füße Manatassis waren monströs deformiert, zwischen den Zehen tief eingeschnitten, daß sie wie die Klauen eines abnormen Vogels wirkten. Lannon trat unwillkürlich zurück und machte mit der Hand das Sonnenzeichen zur Abwendung des Bösen. »Er ist vogelfüßig«, sagte Huy, »er hat die Füße des heiligen Sonnenvogels von Baal.« Die Zuschauer murmelten und verrenkten neugierig die Hälse. Huy erhob seine Stimme. »Ich erkläre diesen Mann für gezeichnet. Er ist von den Göttern erwählt – und kann daher nicht als Bote entsandt werden.« Und während er sprach, versank die Sonne hinter dem Rande der Welt, und die Luft war erfüllt von Kühle und Feuchtigkeit.
Lannon war blaß vor übermächtiger Wut, so daß sich die schwarzverkrustete Narbe auf seiner Wange scharf abzeichnete. »Du hast mir getrotzt!« sagte er leise, mit zornbebender
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Stimme. »Er ist von Gott gezeichnet!« protestierte Huy. »Versuche nicht, dich hinter deinen Göttern zu verstecken, Priester. Wir wissen beide, du und ich, daß viele Entscheidungen Baals von Huy Ben-Amon für Huy Ben-Amon getroffen werden.« »Majestät«, Huy schnappte nach Luft bei dieser ungeheuerlichen Beschuldigung. »Du hast mir getrotzt«, wiederholte Lannon. »Du glaubst, mir diesen Barbaren wegnehmen zu können, du maßt dir an, im Spiel von Macht und Politik mitzuspielen.« »Das ist nicht wahr, mein Gebieter. Das würde ich nie wagen.« »Du würdest es wagen, Priester. Du würdest es sogar wagen, die Zähne aus dem Rachen des lebendigen Grau-Löwen zu stehlen, wenn dich danach gelüstete.« »Mein Gebieter, ich bin dein aufrichtigster, dein ergebenster …« »Sei vorsichtig, Priester. Ich warne dich. Du stehst hoch oben in den vier Königreichen, aber vergiß nie, daß du dies nur meiner Gunst zu verdanken hast.« »Ich weiß das wohl.« »Ich habe dich emporgehoben, aber ich kann dich ebenso schnell wieder in die Tiefe schleudern.« »Ich weiß es, mein Gebieter«, sagte Huy demütig. »Dann gib mir diesen Barbaren«, forderte Lannon, doch Huy blickte mit einem Ausdruck tiefen Bedauerns zu ihm auf. »Ich kann ihn dir nicht geben, mein Gebieter, er ist nicht mein. Er gehört den Göttern.« Lannon brüllte vor Enttäuschung und Zorn, packte eine schwere Weinamphore und warf sie nach Huy, der geschickt auswich. Jetzt ging er mit geballten Fäusten auf Huy los. Seine Augen funkelten in einem blassen, gefährlichen Blau, sein Körper
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zitterte vor rasender Wut. »Geh!« sagte er mit erstickter Stimme. »Geh schnell, bevor – bevor ich …« Huy wartete das Ende des Satzes nicht ab.
Lannon Hycanus verließ Sett mit einer Leibwache von 200 Mann; Huy beobachtete von den Festungswällen aus seinen Abzug. Ein Schauer des Unbehagens überlief ihn; ohne die Gunst des Königs fühlte er sich verwundbar und einsam. Die Legion verabschiedete Lannon mit Hochrufen, ihre Stimmen hallten von der Talböschung wider, und Lannon schritt durch die Tore, stolz, lächelnd und schön. Er blickte hoch, und als er Huy auf der Mauer stehen sah, verdüsterte sich sein Antlitz sofort; er mißachtete Huys zögernden Salut und wandte den Blick ab. Huy sah ihm traurig nach, bis er im Wald verschwand, dann stieg er hinunter zu seinem Zelt, in dem der Sklavenkönig auf einem Lager aus Stroh im Sterben lag. Die Wunde verströmte einen fauligen Gestank nach Fiebersümpfen und Verwesung. Eine der alten Sklavinnen wusch seinen Körper, um ihm das Fieber zu erleichtern. Auf Huys wortlose Frage antwortete sie bloß mit einem Kopf schütteln. Huy hockte sich neben das Lager und berührte die Haut des Sklavenkönigs. Sie war brennend heiß und trocken, Manatassi stöhnte in seinem Delirium, »Schickt nach einem Sklavenaufseher«, sagte Huy gereizt. »Er soll ihm die Ketten abnehmen.« Das Fieber wütete in dem Körper, ließ die Knochen unter der Haut sichtbar werden, das Gesicht einsinken und verwandelte
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das glänzende Blauschwarz der Haut in ein trockenes, staubiges Grau. Mit jeder Stunde schien die Lebenskraft des Sklavenkönigs zu schwinden. Sein Körper glühte. Am Mittag des zweiten Tages verließ Huy das Lager und stieg zu einem Ort an der Böschung hoch, wo er mit seinem Gott allein sein konnte. Hier, im Tal des großen Flusses, schien die Gegenwart des Sonnengottes alles zu durchdringen. Seine sonst warme, gütige Erscheinung, hier war sie bedrückend und quälte die Erde. Huy sang das Gebet der Annäherung, aber er tat es nachlässig und plapperte die letzten Worte nur so. Er war zornig auf seine Götter, und sie sollten seine Verstimmung spüren. »Großer Baal«, begann er, ohne die blumigeren Ehrentitel zu nennen, und verkündete rasch seinen eigentlichen Protest: »Nach deinem offensichtlichen Wunsch habe ich diesen gerettet, der dein Zeichen trägt. Ich will mich nicht beklagen oder deine Motive bezweifeln, aber du sollst wissen, daß es keine leichte Aufgabe war. Ich habe schwere Opfer gebracht. Ich habe die Stellung des Hohepriesters von Baal in der Gunst des Königs gemindert – natürlich denke ich dabei nicht an mich selbst, sondern lediglich an meinen Einfluß als dein Vertreter und Diener. Was mich schwächt, das schwächt die Verehrung der Götter.« Huy war zufrieden mit sich; er hielt seine Worte für absolut gerechtfertigt. Es war höchste Zeit, daß gewisse Dinge ausgesprochen wurden und die gegenseitigen Verpflichtungen der Treue zur Sprache kamen. »Du weißt, daß mir keines deiner Gebote zu schwer ist. Jede Last, die du mir auferlegst, trage ich fröhlich, denn ich habe mich in dem Bewußtsein deiner Weisheit und Voraussicht stets sicher gefühlt.« Er hielt inne und dachte nach. Er war zornig, aber seine Zunge durfte ihm nicht durchgehen. Nachdem er den König
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beleidigt hatte, wollte er nicht auch noch die Götter beleidigen. Deshalb mäßigte er den Schluß seiner Ansprache. »Was aber diesen gezeichneten Barbaren angeht, so habe ich keine Gewißheit. Ich habe ihn um einen hohen Preis gerettet – zu welchem Zweck? Willst du, daß er jetzt stirbt?« Huy hielt erneut inne, um seinem Argument Nachdruck zu verleihen. »Ich bitte dich, in tiefster Demut –«, Huy spendete den Göttern einen süßen Honigtropfen, »deinem stets gehorsamen Diener deine Absicht zu offenbaren.« Huy verstummte – sollte er schärfere Worte wagen? Aber er wartete lieber ab, breitete beide Hände zum Sonnenzeichen aus und sang das Loblied auf Baal, so inbrünstig er konnte. Der Klang seiner Stimme, hell und schmerzlich-süß in der atemlosen Stille der Wildnis, mußte die Götter rühren, und als die letzte reine Note in der heißen Luft verhaucht war, ging Huy ins Lager hinunter und öffnete mit einem bronzenen Messer die böse Schwellung in der Lende des Sklavenkönigs. Obwohl er im Delirium lag, schrie Manatassi vor Schmerz auf, und das Gift quoll gelb und stinkend hervor. Huy hüllte einen Breiumschlag um die offene Wunde, brennend heiß, um das restliche Gift aus dem Körper zu ziehen. Am Abend war das Fieber zurückgegangen, und Manatassi lag in einem tiefen Schlummer der Erschöpfung. Huy stand glücklich lächelnd über ihm. Er glaubte, diesen gefallenen Riesen erobert, ihn durch sein Gebet dem dunklen Rachen des Todes entrissen zu haben. Ein stolzes Gefühl des Besitzens durchströmte ihn. »Die Götter haben dich mir geschenkt. Du gehörst mir. Du lebst jetzt unter meinem Schutz, und den gelobe ich dir.«
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Die Schwäche seines Körpers lastete auf ihm, es kostete ihn unendliche Mühe, den Kopf von der Strohmatratze zu heben. Er haßte seinen Körper, daß er ihn jetzt im Stich ließ. Langsam drehte er den Kopf und öffnete die Augen. An der anderen Seite des Zeltes saß der seltsame kleine Mann. Manatassi beobachtete ihn mit plötzlich aufflammendem Interesse. Der Mann saß über eine Rolle aus seltsam glänzendem Metall gebeugt, in dessen weiche Oberfläche er mit einem spitzen Messer Zeichen kratzte. So verbrachte er viele Stunden täglich. Manatassi beobachtete die nervösen, vogelartigen Bewegungen seines Kopfes und seiner Hände. Der Kopf schien zu groß für den seltsam verkrümmten Körper, die Beine und Arme waren lang, muskulös, brutal. Da entsann sich Manatassi der Schnelligkeit und Stärke dieses Körpers im Kampf. Er hob den Kopf und blickte auf die Leinenbinden, die seinen Unterleib bedeckten. Bei dieser Bewegung sprang Huy auf die Beine. Er trat an das Lager und beugte sich lächelnd über ihn. »Du schläfst wie ein Baby«, sagte Huy, und Manatassi erwiderte matt das Lächeln. »Aia, bring Essen«, rief Huy der alten Sklavin zu und nahm auf einem Kissen neben dem Lager Platz. Während Manatassi mit riesigem Appetit aß, hörte er mit halbem Ohr auf Huys Beschreibung des Mondes als einer weißgesichtigen Frau, was ihm ganz lächerlich schien. Er staunte, wie ein so hervorragender Krieger so naiv sein konnte. Man brauchte doch den Mond nur anzuschauen, um zu erkennen, daß er ein Kuchen aus gemahlenem Mais war, den Mitasi-Mitasi, einer der großen Götter, verzehrte, so daß man den Abdruck seiner Zähne deutlich an dem runden Kuchen erkennen konnte. »Verstehst du das?« fragte Huy drängend, und Manatassi antwortete bereitwillig.
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»Ich verstehe, hoher Herr.« »Glaubst du es?« insistierte Huy. »Ich glaube es.« Manatassi gab die gewünschte Antwort, und Huy nickte zufrieden. Seine Unterrichtung des Sklavenkönigs machte gute Fortschritte. Er hatte Manatassi die Bedeutung der Symbole erläutert und ihm erklärt, daß der Mond nicht Astarte selbst, sondern ihr Sinnbild war – ihre Münze, ihr Zeichen und ihr Versprechen. Er hatte das Abnehmen und Zunehmen des Mondes als die symbolische Unterwerfung der Frau interpretiert, die sich bei irdischen Frauen in der periodischen Mondkrankheit wiederholte. »Und jetzt zum großen Gott Baal«, verkündete Huy, und Manatassi seufzte leise. Nun sprach dieser seltsame Mensch über das Loch im Himmel, durch das Mitasi-Mitasi auf- und niederstieg. Er wollte Manatassi glauben machen, daß es sich dabei um einen Mann mit wallendem rotem Bart handelte. Welch ein widersprüchliches Volk diese geisterhaft blassen Wesen doch waren. Einerseits besaßen sie Waffen, Kleidung, wunderbare Reichtümer und nahezu magische Kräfte. Andererseits aber erkannten dieselben Menschen nicht die einfachsten Realitäten, die selbst die kleinen Kinder seines Stammes begriffen. Manatassis erste bewußte Gedanken nach seinem heißen Fieberwahn galten seiner Flucht. Noch aber zwang ihm seine Schwäche die Rolle des Beobachters auf. Er hatte Muße, seine Pläne neu zu durchdenken. Dieses bucklige Männchen übte eine seltsame Macht über ihn aus, und er stand unter seinem Schutz. Niemand würde ihn antasten, solange sein neuer Herr die Hand über ihn hielt. Er merkte auch, daß er hier viel lernen konnte. Wenn es ihm gelang, Künste und Wissen dieses Volkes zu erwerben, dann würde er tausendfach bewaffnet sein; er würde zum größten Kriegshäuptling, den die Stämme jemals hatten.
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»Verstehst du?« fragte Huy ernsthaft. »Verstehst du, daß Baal der Herr von Himmel und Erde ist?« »Ich verstehe«, sagte Manatassi. »Erkennst du Astarte und den großen Baal als deine Götter?« »Ja«, stimmte Manatassi zu. Huy lächelte zufrieden. »Sie haben dir ihr Zeichen aufgeprägt. Du mußt deshalb ihrem Dienst geweiht werden. Wenn wir in die Stadt kommen, werde ich im Tempel des großen Baal die Zeremonie vollziehen. Ich habe einen Götternamen für dich gewählt – du wirst den alten ablegen.« »Wie du es wünschst, hoher Herr.« »Von nun an heißt du Timon.« »Timon.« Der Sklavenkönig lauschte dem Klang des Wortes. »Er war der Priester-Krieger unter der Herrschaft des fünften Grau-Löwen. Ein großer Mann.« Timon nickte verständnislos, aber bereit, weiter zuzuhören, zu warten und zu lernen. »Hoher Herr«, fragte er leise, »die Zeichen, die du in das gelbe Metall ritzt – was bedeuten sie?« »Mit dieser Methode bewahren wir unsere Worte, Geschichten und Ideen auf.« Huy erklärte ihm die Schriftzeichen und war verblüfft, wie schnell Timon das Prinzip des phonetischen Alphabets erfaßte. Er schrieb den Namen »Timon« mit rußiger schwarzer Tinte auf ein Stück Leder, und zusammen buchstabierten sie laut das Wort, wobei Timon vor Begeisterung über seine erste Leistung laut jubelte. »Ja«, dachte er. »Es gibt hier viel zu lernen.«
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Zwei Jahre später kannte sich Timon schon sehr gut in der Geschichte Hannibals aus, wußte über die Kämpfe zwischen Rom und Karthago Bescheid, sprach fließend Punisch und war überhaupt einer der gelehrigsten Schüler der Tempelschule. Timon war fast immer an Huys Seite; er trug die kurze blaue Tunika von Huys Haushalt, eine leichte Goldkette um die Hüften, an der ein Dolch und eine Börse steckten, das Zeichen des Vertrauens für Leibsklaven. Sie waren ein seltsames Paar, der riesige schwarze Sklave und sein winziger gnomenhafter Herr. Aber sie waren ein gern gesehenes Paar; die Menschen jubelten ihnen zu und drängten heran, um vielleicht Huys Arm zu berühren oder ein Almosen zu erhaschen. Huy genoß seine Beliebtheit. Er lächelte und bahnte sich sanft einen Weg durch das Gedränge. Ein erfolgreicher General – seit dem großen Sklavenfang hatte es noch zwei weitere Feldzüge gegeben –, ein populärer Priester, ein anerkannter Satiriker und Liederkomponist, außerdem ein reicher Philanthrop (Huys Investitionen waren in den letzten beiden Jahren höchst erfolgreich gewesen); er war Gegenstand allgemeiner Verehrung in der ganzen Stadt. Sie schritten über den Marktplatz mit seinem bunten Treiben, seinen faszinierenden Ausblicken und Geräuschen, den Gerüchen nach Tierhäuten und Gewürzen. Dann erreichten sie die steinerne Mole am Hafen, wo die Schiffe Heck an Heck lagen. Aus den Tavernen und Weinläden drangen der saure Geruch billigen Weins und trunkenes Gelächter. In den engen Gassen zwischen den Läden winkten die Straßenmädchen. Jenseits der geschäftigen Hafengegend lagen die Stadthäuser der Adelsfamilien und der reichen Kaufleute, geschützt durch die hohe Lehmmauer und das schwere, geschnitzte Holztor. Huys neue Residenz lag in einem vergleichsweise bescheide-
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nen Teil der Stadt. Huy schritt durch das Tor und übergab Timon sein Schwert und seinen Mantel mit einem Seufzer der Erleichterung. Er ging in den gepflasterten Innenhof. Vierzehn Prinzen und Prinzessinnen erwarteten ihn, allen voran die Zwillinge Helanca und Imilce. Die beiden waren in den letzten Jahren zu jungen Damen herangewachsen und begrüßten Huy nicht mehr mit stürmischen Küssen. Die jüngeren Mitglieder des Hauses Barca hegten keinerlei Bedenken dieser Art, sie stürzten sich auf Huy. Die religiöse Unterweisung der Königskinder gehörte zu Huys freiwilligen Pflichten, gegen die Lannon trotz der Entfremdung zwischen König und Priester nichts unternommen hatte. Im Hof wartete eines der königlichen Kindermädchen, bis der Priester mit seinen Schützlingen im Unterrichtsraum verschwunden war. Dann wandte sie sich um und suchte mit ihren Augen nach Timon. Es war ein großes Mädchen mit starken Schultern, langem Oberkörper und geschwungenen Hüften. Ihre Beine waren gerade und kräftig, aber die Hände schmal und grazil. Sie trug ihr Haar nach der Art der Vendi, denn sie kam aus Timons Stamm. Sie war in der großen Sklavenjagd erbeutet worden, also nicht in der Gefangenschaft geboren. Sie hatte nicht die Demut derjenigen, die nie etwas anderes als Knechtschaft gekannt haben. Ihr leidenschaftlicher Geist war dem Timons verwandt. Sie lächelte ihn an. Ihre Haut war eine Spur heller als seine, ihr Gesicht mondförmig, die Nase breit; sie hatte volle, geschürzte Lippen und kleine, regelmäßige und sehr weiße Zähne. Timon gab ihr ein Zeichen mit dem Kopf, und das Sklavenmädchen Sellene nickte. Sie folgte ihm. Er wartete auf sie in seinem winzigen Raum mit dem schmalen Bett aus Schilfmatten und Fellen. Sie sank in seine Arme und lehnte sich gegen die festen Muskeln seiner Brust, seines
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Bauchs und seiner Beine. Ihre runden Brüste zeichneten sich unter der violetten Tunika des Hauses Barca ab und preßten sich an Timon. Sie schmiegten sich aneinander, schnupperten zart und begehrlich an ihren Augen, Mündern und Nasen und sanken in leidenschaftliche Umarmung. »Wenn ich dich halte, bin ich wieder der König der Vendi und kein Sklavenhund«, flüsterte Timon. Mit Händen, die einen Feind erdrosseln konnten, löste Timon sanft ihre Tunika, und trug sie zu seinem Lager. Er neigte sich über sie und raunte: »Du wirst meine Hauptfrau sein, Königin und Mutter meiner Söhne.« »Wann wird das geschehen?« fragte sie, und ihre Stimme bebte vor Erregung. »Bald«, versprach er. »Sehr bald. Ich habe nun erreicht, weshalb ich hierher kam, und ich werde dich mit mir zurück über den Fluß nehmen. Ich werde der größte König sein, den die Stämme je hatten, und du meine Königin.« »Ich glaube dir«, flüsterte Sellene. »Heute habe ich etwas Besonderes für euch! Heute abend werdet ihr das Orakel von Opet kennenlernen«, verkündete Huy seinen aufmerksamen Schülern. Endlich sollten sie dieses mythische Wesen treffen, von dem sie schon soviel gehört hatten. Tanith kam, sie setzte sich mitten unter die Kinder und lächelte ihnen zu: »Nun werde ich euch eine Geschichte erzählen. Es ist die Geschichte von der Vermählung des großen Baal mit der Göttin Astarte.« Tanith erzählte das Geschehen aus der religiösen Mythologie, auf dem das Fest der Fruchtbaren Erde beruhte. Es wurde alle fünf Jahre gefeiert. Im Jahre Opet 538 wurde der 106. Jahrestag der Stadtgründung feierlich begangen, und am Tag danach sollten die zehn Tage dauernden Festlichkeiten beginnen. Tanith hatte das junge Publikum völlig in ihren Bann ge-
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schlagen. Sie sprach mit der betörenden Stimme, die Huy so sorgfältig ausgebildet hatte. Mit einer seltsamen Mischung aus Kritik und Anbetung beobachtete Huy sie. In den letzten zwei Jahren hatte sie alle Spuren der Unbeholfenheit und Unsicherheit verloren, und obwohl sie noch keine zwanzig Jahre alt war, umgaben sie doch schon eine innere Ruhe und geistige Klarheit, die ihrer Rolle als Seherin eines Volkes gut anstand. Dabei spielte es keine Rolle, daß ihre Erklärungen von Huy sorgfältig eingeübt und geprobt wurden; sie verkündete sie und machte sie glaubhaft. Manch gutes Geschäft in der letzten Zeit war auf die Fragen und Bitten der reichen Kaufleute von Opet zurückzuführen – und auf Taniths Antworten. In ähnlicher Weise hielt Huy seine Hand am Steuer des Staatsschiffs, wenngleich er nicht mehr der Vertraute des Königs war. Huy war überzeugt, daß Lannon Hycanus genau wußte, aus welcher Quelle die Ratschäge stammten, die er von Tanith empfing. Jedenfalls kam Lannon regelmäßig, um das Orakel in der Grotte neben dem stillen grünen Teich der Astarte aufzusuchen. Am nächsten Morgen würde Lannons Besuch den offiziellen Auftakt zum Fest der Fruchtbaren Erde bilden. Nur deshalb hatte Huy die Priesterin Tanith in sein Haus bestellt. Er prägte ihr sorgfältig die Antworten ein, die sie auf die Fragen des Königs zu erteilen hatte. Huy wußte ziemlich genau, worum es sich handeln würde, denn er hatte seine Vertrauten bei Hofe. Außerdem vermutete er, daß Lannon seine Fragen absichtlich vorher durchsickern ließ, damit sie Huy zu Ohren kamen und das Orakel entsprechende Antworten lieferte. Der Gedanke an Lannon stimmte ihn jedesmal melancholisch. Zwei Jahre lang hatte Huy nun schon auf Lannons Lächeln verzichten müssen, auf seinen Händedruck und seine Freundschaft, aber das Gefühl des Verlustes hatte nicht nach-
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gelassen, sondern wurde immer schmerzlicher. Manchmal wartete er stundenlang, um einen flüchtigen Blick auf seinen alten Freund zu erhaschen, oder er bedrängte Freunde, damit sie von ihm erzählten. Er riß sich aus seiner traurigen Stimmung und ließ sich wieder von Taniths Anblick betören. Das tiefe Gefühl für sie schien seine Brust zu sprengen. Wie lange sollte er noch warten? Es hatte ihn zwei Jahre gekostet, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Wie lange würde es dauern, ihr Herz zu gewinnen – und selbst wenn das geschah, worauf konnte er hoffen? Sie war der Göttin geweiht und durfte niemals einem sterblichen Manne angehören. Taniths Geschichte war beendet, die Kinder wurden weggeschickt. Danach war Huy allein mit Tanith und Aina, der alten Priesterin, die über Tanith wachte. Huy hatte sie aus zwei Gründen gewählt. Sie war halbblind und völlig taub. Sie war also genau die richtige Aufpasserin, die Huy wollte. Sie aßen bei tief herabgebrannten Kerzen, bedient von einem alten Sklaven; und als sie fertig waren, führte Huy Tanith über die äußeren Stiegen hinauf zum Dach, und sie saßen unter der Brüstung auf Schilfmatten und Lederkissen. Der Nachtwind wehte kühl vom See, und die Sterne strahlten gelb und hell. Während Huys Finger sanft über die Saiten seiner Laute strichen, begann er in einem monotonen Singsang leise, doch eindringlich zu ihr zu sprechen.
Am ersten Tag des 106. Festes der Fruchtbaren Erde zog Lannon Hycanus, der siebenundvierzigste Grau-Löwe von Opet, mit einer Prozession zum Tempel der Astarte, um das Orakel zu befragen. Er zog durch den Bereich des Tempels von Baal, dessen hei-
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lige Türme zur Sonne wiesen, bewacht von den gemeißelten Sonnenvogel-Monolithen. Als er die Spalte in den roten Klippen, den Eingang zur heiligen Grotte, erreichte, gab er das Schwert seinem kleinen Pygmäen-Jagdmeister. Barhäuptig und unbewaffnet schritt er durch die Öffnung in den Klippen, durch den gepflasterten Tunnel in die schweigende Schönheit der Grotte. Rund um den Teich stiegen Reihen steinerner Bänke an den steuert Wänden der Grotte hoch, und an der gegenüberliegenden Wand ragte der Schrein Astartes in den Felsen. Das Portal ruhte auf Säulen im hellenischen Stil. Dahinter lagen die Zellen der Priesterinnen und das Gemach des Orakels. Hinter dem steinernen Thron des Orakels war der Eingang zu den Stadtarchiven verborgen, und noch weiter dahinter lagen, geschützt durch ein massives steinernes Tor und durch den Fluch der Götter, die Schatzkammer und die Grabstätte der Könige. Lannon hielt am Teich inne. Priesterinnen kamen, ihn zu begrüßen und zum Rand des Teiches zu geleiten. Dort halfen sie ihm, seinen Panzer und seine Unterkleider abzulegen. Groß und nackt stand er da, eine göttliche Gestalt, und betrat majestätisch die Stiege zum grünen Wasser hinunter. Die Hohepriesterin segnete ihn und rief die Gunst der Göttin auf ihn herab. Dann tauchte er unter in dem heiligen lebensspendenden Wasser. Während zwei junge Novizinnen den König trockneten und neu einkleideten, sang Huy Ben-Amon das Loblied auf die Göttin. Als er geendet hatte, blickten alle Augen hinauf zur Öffnung im Dach der Höhle, hoch über dem grünen Teich. Lannon rief mit lauter Stimme: »Astarte, Mutter des Mondes und der Erde, empfange den Boten, den wir dir senden – und erhöre unser Flehen.« Die Menschen hoben ihre Hände im Zeichen der Sonne, und auf dieses Signal stürzte das Opfer von der Steinplatte herab, die in die Dachöffnung der Grotte ragte. Der Schrei des Un-
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glücklichen zerriß gellend die Luft, bis sein Körper aufs Wasser schlug und durch das Gewicht der Ketten schnell in die grünen Tiefen gezogen wurde. Lannon wandte sich von dem Teich ab und schritt durch die Reihen der Priesterinnen zum Schrein des Orakels. Die Lampen gaben ein diffuses unnatürliches Licht, einen grünlichen Glanz, und der Rauch schwelender Kräuter lastete schwer. Hinter dem Thron des Orakels hingen die Vorhänge schlaff von der Decke bis zum Fußboden.
Am letzten Tag des Festes betete Lannon Hycanus im Tempel des großen Baal, ganz allein im heiligen Hain unter den Türmen und den Sonnenvogel-Steinen. Dann trat er vor, um die erneuten Treueschwüre seiner Untertanen zu empfangen. Huy Ben-Amon fehlte bei dieser Zeremonie. Bakmor schwor den Eid für die Priesterschaft und brachte ihr Geschenk dar. Als der junge Kriegspriester ihm seine Huldigung bewies, grollte Lannon leise: »Wo ist der hohe Vater Ben-Amon?« »Mein Gebieter, ich spreche für ihn und für alle Priester des großen Baal«, wich Bakmor der Frage aus, wie Huy ihn angewiesen hatte. Diese Zeremonie beendete den letzten Teil des Festes, und Opet stürzte sich in einen Taumel der Genüsse und der Gelage, stürzte sich in Kurzweil und Lust. Während Lannon mit seinem Hofstaat im Palast speiste, wogten die Volksmassen singend und tanzend durch die engen Gassen. Ganz dem Wein und der Plauderei hingegeben, bemerkte Lannon den Stimmungsumschwung erst, als in der Halle fast völlige Stille herrschte. Er blickte schnell auf und sah, daß die
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Hände der Musikanten an ihren Instrumenten erstarrt waren. Die Tänzerinnen standen wie gelähmt, und die Gäste schauten blicklos aus aufgerissenen Augen. Lannons Stirnrunzeln verfinsterte sich zur Grimasse, als er Huy Ben-Amon durch die Halle auf sich zukommen sah. Huy war in eine blaue Tunika gekleidet, gesäumt mit gewebtem Goldfaden. Er trug einen goldenen Gürtel und einen reich mit Edelsteinen besetzten Dolch. Sein Ausdruck war feierlich, als er vor Lannon hinkniete, und seine Stimme klang angenehm und hell bis in die fernsten Ecken des Saales. »Mein König, ich bin gekommen, um meinen Treueschwur zu erneuern. Jeder soll wissen, daß ich dich über alles verehre und daß meine Treue bis zum Tode und darüber hinaus reicht.« Lannon traf dies völlig unvorbereitet – wie Huy es beabsichtigt hatte. Sein Kopf schwirrte ihm vor Überraschung und Wein. Er suchte nach Worten, aber noch bevor er sie fand, hatte Huy sich erhoben. »Ich bringe ein Geschenk zum Zeichen meiner Treue.« Er winkte zum Tor hin, und in die Halle schritt die ragende Gestalt Timons. Er kam heran und blieb neben Huy stehen. Seine wilden, rauchigen Augen starrten Lannon ins Gesicht. Huy flüsterte: »Nieder!«, und er rüttelte den hünenhaften Sklaven, worauf sich Timon langsam aufs Knie senkte und das Haupt beugte. »Aber er gehört den Göttern«, sagte Lannon heiser. »Du selbst, Priester, hast ihn einen Gottgezeichneten genannt.« »Mein Gebieter«, sagte Huy. »Ich habe mich geirrt. Die Götter haben mir gezeigt, daß diese Male nicht geheiligt sind. Ich bin gekommen, meine Liebe zum König zu erklären.« Und er stieß Timon mit dem Fuß an. In einem tiefen, polternden Baß sprach daraufhin Timon seinen Text in fast einwandfreiem Punisch: »Ich komme zu dir als
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lebender Beweis für diese Liebe.« Lannon starrte Huy entgeistert an. Er suchte in seinem Gesicht zu lesen. Doch dann begann Gelächter aus ihm hervorzuquellen, er lachte, bis ihm die Tränen über die Wangen liefen, Tränen der Freude, der Erleichterung, Tränen des Glücks. »Fliege für mich, Sonnenvogel«, ächzte er, und Huy warf sich neben ihn auf die Kissen und schüttelte sich vor Lachen. »Brülle für mich, Löwe von Opet«, rief er, und ein Sklavenmädchen füllte eine Schale mit Wein und brachte sie ihm. Huy trank sie halb aus und gab sie Lannon weiter. Der nahm einen großen Schluck und warf die Schale in hohem Bogen auf den Steinboden. Dann faßte er Huy um die Schultern. »Wir haben viel Zeit vergeudet, mein Sonnenvogel. Wir müssen das wieder einbringen. Was sollen wir zuerst tun?« »Trinken«, sagte Huy. »Astarte, Mutter der Erde, deine Schönheit ist so gewachsen, daß sie mich überwältigt«, murmelte Huy taumelnd, als er zum Nachthimmel emporblickte. Er stolperte nach hinten und fiel gegen eine Mauer. Huy kniff ein Auge zu, und drei der vier silbernen Monde verschwanden – er öffnete das Auge wieder, und sie kehrten ans Firmament zurück. »Astarte, lenke die Schritte deines Dieners«, flehte Huy, stieß sich von der Wand ab und torkelte weiter die schmale Gasse hinunter zum Hafen. In dieser Nacht war ganz Opet im Weinrausch, allen voran Lannon selbst, der mit einem Lächeln auf den Lippen im Festsaal eingeschlafen war. Auf einmal schlüpfte eine Gestalt aus der dunklen Gasse und folgte Huy lautlos. Sie war in einen Kapuzenmantel aus grobem braunem Stoff gehüllt und bewegte sich katzenartig verstohlen. Am Hafenkai wimmelte es vor Nachtschwärmern. Viele Feuer brannten, und der Widerschein der Flammen flackerte
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rötlich und hell auf dem stillen schwarzen Wasser. Rund um die Feuer tanzten die Menschen. Manche der Frauen hatten im Taumel der Lust ihre Gewänder gelöst und waren nackt bis zu den Hüften. Huy blieb einen Moment stehen, um dem Treiben zuzusehen; die Gestalt des Verfolgers hielt ebenfalls an und verbarg sich unter den Scharen der Feiernden. Als Huy weiterging, folgte ihm auch die Gestalt wieder. Die Gasse zu seinem Haus lag in tiefer Finsternis, nur eine Lampe brannte trübe in der Nische über dem Tor, um den Hausherrn willkommen zu heißen. Als Huy sich zu dem Licht vortastete, kam die Gestalt leise und schnell näher. Die tapsenden Geräusche seiner eigenen Schritte übertönten das Knistern des Stoffes und die leichten Tritte hinter ihm. Huy erreichte das Tor, stand jetzt im trüben Lampenlicht. In dem Augenblick, als er sich zum Türriegel vorbeugte, stürzte die dunkle Gestalt aus der Finsternis auf ihn zu. Eine Hand umklammerte sein Gelenk, er wurde gegen die Wand neben dem Tor geschleudert. Überrascht und erschreckt schaute er hoch, und bevor er aufschreien konnte, preßten sich weiche Lippen auf die seinen. Ein leises, gedämpftes Lachen brach in seinen erschrockenen Mund – und er spürte den Druck weicher Brüste und Schenkel an seinem Körper. Der Schock lähmte Huy, sekundenlang stand er völlig regungslos, während erfahrene Lippen und Hände ihn streichelten. Er haschte mit einem heiseren Schrei nach diesem warmen Frauenkörper, doch er entschlüpfte sofort seinem Zugriff. Wild sprang er ihm nach, aber seine Hände griffen ins Leere, und die Gestalt tänzelte davon, wirbelte durch den Gang in Huys Haus und schlug das Tor hinter sich zu. Wütend und fluchend zerrte Huy an dem Riegel und riß das Tor schließlich auf. Quer über den Hof sah er einen dunklen
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Schatten im Haus verschwinden. Huy stürmte ihm nach, stolperte über ein Kissen und schlug der Länge nach hin. Gefäße zerbrachen mit lautem Krach, Wein spritzte über den Lehmboden. Ein spöttisches Kichern aus der Dunkelheit des Hauses brachte Huy wieder auf die Beine. Er sah die Silhouette der Gestalt vor dem beleuchteten Eingang zu seinen Schlafgemächern. »Warte!« rief er. »Wer bist du?« Vom Lärm aufgeweckt, kamen seine Haussklaven gelaufen, noch halb im Schlaf, erschreckt und nur notdürftig bekleidet. »Verschwindet!« schrie Huy sie zornig an. »Verschwindet, alle! Wenn ich einen von euch vor Tagesanbruch außerhalb seines Zimmers erwische, lasse ich ihn auspeitschen.« Nicht übermäßig beeindruckt von seiner Drohung zogen sich die Sklaven wieder zurück. Dann stürmte Huy in seine Schlafgemächer. Auf dem niedrigen Schemel neben seinem Bett brannte schummrig ein Nachtlicht. Daneben stand die Frau im Mantel, bewegungslos, das Gesicht unter der Kapuze verborgen. Als Huy zu ihr herumwirbelte, löschte sie schnell die Lampe. Der Raum versank in Dunkelheit, und Huy prallte gegen die Wand. Er raffte sich auf und horchte. Da hörte er das Rascheln des Gewandes und sprang darauf zu. Seine Finger erwischten den Mantelsaum, er hörte einen gedämpften Überraschungsruf, und der Stoff wurde ihm wieder aus den Fingern gerissen. Laut fluchend tastete er sich durch den Raum. Er spürte eine Bewegung in seiner Nähe, einen ganz leisen Atemzug. Schnell griff er zu. Seine Finger streiften über weiche Haut, fühlten die Form eines nackten Rückens, die üppigweiche Schwellung eines Popos. Ein leises Lachen. Huy erstarrte mit pochendem Herzen, es schwindelte ihn einen Augenblick vor sinnlicher Erregung. Wer sie auch sein mochte, sie hatte ihren Mantel abgelegt. Er war allein mit einer Frau,
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die ihm entschlüpfte wie ein springender Fisch im Wasser. Sie war nackt. Er jagte sie jetzt wie einen Leoparden, wobei er achtlos seine Kleider abwarf, Stück um Stück, bis er schließlich selbst nackt war – nackt und von Leidenschaft erfüllt. Sie schien jetzt ängstlich in der Dunkelheit, nicht imstande, ihr Keuchen und ihr nervöses Kichern zu unterdrücken. Und Huy jagte sie nach dem Gehör und drängte sie in die Ecke neben seinem Bett. Fast wäre sie ihm wieder entkommen, als sie unter seinen tastenden Händen hindurchhuschen wollte, aber er schlang seinen langen Arm um ihre Hüften und trug sie zu seinem Lager. Sie quietschte und strampelte, ihre Fäuste trommelten gegen seine Brust. Als Huy wieder erwachte, war er von einem Gefühl tiefer Glückseligkeit durchdrungen. Sein Körper war entspannt, aber sein Geist klar und scharf. Ein weicher, zartrosa Morgenschimmer fiel in sein Gemach, und der Ruf der Vögel klang vom See herüber. Er stützte sich auf den Ellbogen und betrachtete das schlafende Mädchen neben ihm auf dem zerwühlten Bett. In der warmen Frühlingsnacht hatte sie ihre Decken abgeworfen. Sie schlief so leicht, daß ihre Atemzüge kaum die Wogen des dunklen Haares bewegten, das über ihre Wangen floß. Einen Arm hatte sie über den Kopf gelegt. Ihre Brüste waren groß und voll für die langen, schlanken Linien ihres Körpers, die Haut schimmerte weich und in einem cremefarbenen Olivton, gegen den sich das seidig schwarze Haar in ihren Achselhöhlen und in ihrem Schoß deutlich abhob. Huy sah das alles mit dem ersten erstaunten Blick, bevor seine Augen auf ihr friedliches Gesicht fielen. Fassungslos starrte Huy sie an, seine Kehle war wie zugeschnürt. Er spürte Entsetzen und Angst und abergläubischen Schrecken. Das Mädchen öffnete die Augen, sah ihn und lächelte.
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»Baal segne dich, hoher Vater«, sagte es sanft. »Tanith!« keuchte Huy. »Ja, mein Gebieter.« Sie lächelte immer noch. »Das ist ein Sakrileg«, flüsterte Huy, »eine Beleidigung der Göttin.« »Aber meine Liebe zu dir zu verleugnen, wäre gegen alle Natur gewesen«, Tanith richtete sich auf und küßte ihn ohne Scheu, ohne das leiseste Zeichen von Schuldbewußtsein. »Liebe?« staunte Huy und vergaß vorübergehend seine Bedenken. »Ja, mein Gebieter«, nickte Tanith und küßte ihn wieder. »Aber –«, stotterte er errötend, »es ist nicht möglich – wie kannst du mich lieben?« »Wie könnte ich nicht, mein Gebieter?« »Aber mein Körper – mein Rücken.« »Deinen Rücken liebe ich, er ist ein Teil von dir, ein Teil deiner Güte, deiner Zärtlichkeit, deiner Weisheit.« Er starrte sie lange an, dann schloß er sie unbeholfen in seine Arme und begrub sein Gesicht in der duftenden dunklen Wolke ihres Haares. »Oh, Tanith«, flüsterte er. »Was sollen wir tun?«
Zwei Wochen waren seit jener letzten Nacht des Festes vergangen, und Huy hatte ununterbrochen über das Dilemma, in dem er steckte, nachgedacht. Er verbrachte Stunden und Stunden über den heiligen Büchern, studierte die Aufgaben von Priester und Priesterin, ihre Gebote und ihre Beziehungen zu den Göttern und untereinander. Aus all dem glaubte er, eine Verteidigung seines eigenen Verhaltens ableiten zu können. Seine Überlegungen waren von einer komplizierten Dialektik,
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basierten auf der Vorstellung einer Vertretung Gottes auf Erden und liefen darauf hinaus, daß das, was zwischen Baal und seiner Geliebten Astarte als ein Gut galt, zwischen deren Vertretern auf Erden ebenso akzeptabel sein müsse. Dennoch, ganz wohl war Huy bei seinen Schlüssen doch nicht. »Es mag allerdings sein, großer Baal und himmlische Astarte, daß meine Beweisführung irrig ist. Es mag sein, daß ich gesündigt habe. Sollte das der Fall sein, dann verdiene ich euren vollen Zorn und trotz meiner lebenslangen treuen Dienste die strengste Bestrafung!« Wieder waren Wochen vergangen, Wochen, in denen Huy auf ein Zeichen der Götter wartete. Hatte er sie erzürnt? Wie würden sie ihn strafen? Aber dann legten sich seine Befürchtungen allmählich, denn es gelang ihm alles, was immer er anfing. Die heutige Jagd hatte ihm dies wieder bewiesen. Die Götter schenkten ihm Erfolge. Die Götter hatten gesprochen. Huy war glücklich, er dachte an Tanith, als er nach einem abendlichen Mahl bei Lannon durch die stille, dunkle Nacht zu seinem Zelt zurückging. Am Himmel glänzten Sterne. Die Hitze des Tages hatte sich abgekühlt, und der Nachtwind auf seinen Wangen erinnerte ihn an das sanfte Streicheln von Taniths seidenem Gewand. »Astarte!« Die Göttin stieg aus dem Tal auf, die goldene Scheibe ihres Antlitzes erhellte das Land mit weichem Glanz. »Ich danke Dir«, flüsterte Huy und merkte, wie Freudentränen seine Augen überfluteten. Er schritt durch das Lager auf sein eigenes Zelt zu, als eine Bewegung seine Aufmerksamkeit erregte und er innehielt. Neben einem der Kochfeuer hockte eine Sklavin und zerstieß Korn für die Kuchen. Im Schein des Feuers konnte er ihre hübschen Gesichtszüge erkennen, es war Sellene, die Kinderwärterin. Huy wollte gerade weitergehen, als er sah, wie das Mädchen
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erwartungsvoll aufblickte. Aus der Dunkelheit kam ein Mann auf sie zu, und das Gesicht des Mädchens erhellte sich mit einem Blick der Anbetung, mit einem Strahlen unbekümmerter Liebe. Huy warf nur einen kurzen Blick auf den kraftvollen Körper und den runden Kahlkopf und erkannte sofort Timon. Sellene lief auf ihn zu, und die beiden umarmten sich. Jeder schnupperte am Gesicht des anderen – es war der Liebesgruß der Heiden –, während sie sich fest umarmt hielten. Huy lächelte freundlich, er spürte die warme Sympathie des Verliebten für alle anderen Verliebten. Dann trat Timon einen Schritt zurück und sprach leise auf das Mädchen ein. Huy konnte die Worte nicht verstehen. Er hörte nur das leise Murmeln von Timons Stimme. Das Mädchen nickte eifrig. Timon verließ sie und verschwand zwischen den Zelten. Sellene ging zurück zum Mahlstein, füllte einen Lederbeutel mit gemahlenem Korn, schaute sich vorsichtig um und folgte Timon in die Dunkelheit. Huy sah ihr lächelnd nach. »Ich muß mit Lannon reden«, dachte er. »Ich könnte die Heirat der beiden arrangieren.« In seinem eigenen Zelt angekommen, nahm Huy die goldene Rolle hervor und begann, ein Gedicht an Tanith zu schreiben. Kurz nach Mitternacht überkam ihn die Müdigkeit. Sein Kopf fiel nach vorne, seine Wange drückte sich gegen das Liebesgedicht, und Huy schlief über der goldenen Rolle ein. Rauhe Hände rüttelten ihn im Morgengrauen wach. Verstört blickte er auf. Es war Mursil, der Jagdmeister. »Der Grau-Löwe verlangt nach dir, Heiligkeit. Die Meute ist bereit, und die Sklavenmeister sind angetreten. Zwei von des Königs Sklaven sind geflohen. Der König bittet dich, ihn bei der Jagd zu begleiten.« Huy wußte sofort, wer die beiden flüchtigen Sklaven waren,
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und Übelkeit überkam ihn. »Die Narren«, flüsterte er. »Oh, diese Narren.« Dann blickte er Mursil an. »Nein«, sagte er, »ich kann nicht – ich werde ihn nicht begleiten. Ich bin krank, sag ihm, ich sei krank.«
Sellene lauschte auf das betrunkene Grölen und Gelächter vom Zelt des Königs. Unter ihrem kurzen Umhang hielt sie den ledernen Kornbeutel, ein Bündel getrocknetes Räucherfleisch und einen irdenen Kochtopf versteckt. Es war genug Verpflegung für zwei Personen für vier Tage; bis dahin hofften sie, den großen Fluß überquert zu haben. Sie war angsterfüllt und doch gleichzeitig froh. Zwei Jahre hatten sie diesen Augenblick geplant. Endlich kam Timon; er erschien so lautlos neben ihr, daß sie erschrocken zusammenzuckte. Er nahm ihre Hand und führte sie an den Rand des Lagers. Auch er trug einen Umhang. Auf dem Rücken hatte er Bogen und Köcher, ein kurzes Eisenschwert hing an seiner Taille. Den Sklaven waren diese Waffen verboten; wer sie dennoch trug, wurde mit dem Tod bestraft. Zwei Wächter standen am Tor der Einzäunung, und während Sellene freundlich mit ihnen redete und scherzhafte Versprechungen machte, schlich sich Timon von hinten an. Er brach ihnen das Genick mit der bloßen Hand. Das alles ging blitzschnell und lautlos vonstatten. Vorsichtig legte Timon die Körper neben das Pfahltor, dann schritten sie eilig hindurch. Sie gingen die Straße der Elefanten. Mit dem blanken Schwert in der einen Hand leitete Timon Sellene durch das Dickicht. Der Mond verbreitete genügend Licht, und sie kamen nun schneller vorwärts. Nur einmal machten sie an einer Furt am Fluß Rast, tranken etwas Wasser und eilten dann weiter
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nach Norden. Vier ganze Tage vergingen, in denen sie sich kaum Ruhe gönnten. In der fünften Nacht hörte Timon plötzlich Sellene hinter sich aufschreien. Er drehte sich sofort zu ihr um. Sie lag auf der Seite und gab ein leises, stöhnendes Geräusch von sich. »Bist du verletzt?« fragte er, während er sich neben sie kniete. »Mein Fußgelenk«, flüsterte sie, ihre Stimme klang rauh vor Schmerz, und Timon tastete ihr Bein ab. Das Gelenk fühlte sich bereits heiß an und schwoll zu einem harten roten Ball an. Mit seinem Schwert schnitt Timon Streifen von seiner Tunika und verband die Ferse so fest, wie Huy es ihn gelehrt hatte. Als er Sellene aufrichtete, schrie sie vor Schmerz auf; sie versuchte, mühsam einige schmerzvolle Schritte vorwärts zu humpeln. Sie keuchte vor Schmerz und klammerte sich an Timon. »Es hat keinen Zweck, ich kann nicht gehen. Laß mich hier zurück.« Timon half ihr, sich auf die Erde zu setzen, und legte dann seine Waffen und den Proviant ab. Nur das kurze Schwert behielt er bei sich. Er faltete die beiden ledernen Umhänge, knotete sie zu einem Tragesitz für Sellene zusammen und legte ihn um ihren Körper. Dann band er sich das Ende um den Hals und hob sie hoch. Sie war in seinen Armen und hielt ihn mit ihren eigenen umschlungen. Die Hälfte ihres Gewichts wurde von dem Gurt um Timons Hals getragen. So ging es weiter den steilen Pfad hinunter zum Tal. Am nächsten Morgen hatte der Gurt die Haut an seinem Hals durchgescheuert. Schwere, erdrückende Hitze lag in der Talsenke und saugte die letzten Kräfte aus ihm. Timon konnte nur noch vorwärts stolpern, aber er zwang sich zum Durchhalten. Am Rande einer Grasschneise hielt Timon inne und lehnte sich gegen den Stamm eines Mhoba-hoba-Baumes. Er legte das Mädchen nicht ins Gras, aus Angst, daß er nicht mehr die Kraft haben würde, sie hochzuheben. Seine Lippen waren weiß vor Anstrengung, er atmete schwer.
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»Laß mich hier, Timon«, flüsterte Sellene. »Sonst werden wir doch nur beide sterben.« Timon antwortete nicht, machte ihr aber ein Zeichen, still zu sein, und horchte ungeduldig. Da hörte sie es auch, das leise, entfernte Gekläff der Meute. »Dafür ist es jetzt zu spät«, er sah sich schnell nach einem Platz um, wo er sich verteidigen konnte. Es gab keine Hoffnung, den Hunden zu entkommen. »Du könntest es schaffen«, redete sie auf ihn ein. »Es ist nicht weit bis zum Fluß.« »Ohne dich gibt es kein Entkommen«, sagte er und legte sie vorsichtig zwischen den Felsen nieder. Dann kniete er sich neben sie und streichelte zärtlich ihren Hals und ihr Gesicht. »Sie werden uns töten«, sagte Sellene. »Sie töten alle, die davonlaufen.« Timon antwortete nicht, aber seine Finger strichen sanft über ihre Wange. »Sie töten gräßlich«, fing Sellene wieder an und sah ihn bittend an. »Wäre es nicht besser, wenn wir jetzt sterben, bevor die Hunde kommen?« Aber er antwortete nicht, und nach einer Weile fuhr sie fort. »Du hast ein Schwert, Timon. Warum benutzt du es nicht?« »Wenn der kleine Priester dabei ist, dann haben wir eine Chance. Er hat Macht über den König – und irgend etwas verbindet ihn mit mir. Er ist mir zugetan. Er wird uns retten.« Die Hunde kamen näher, und immer drängender wurde ihr Gekläff. Eine halbe Meile entfernt stürzte die Meute aus dem Wald auf die Lichtung. Es waren dreißig große, sehnige Hunde mit wolfsähnlichen Köpfen und gewaltigen Reißzähnen. Sie waren abgerichtet, ihr Opfer zu jagen und dann niederzureißen. Timon spürte, wie sich seine Haut straffte, als er die Hunde über die Lichtung auf sich zukommen sah. Ihnen auf den Fersen folgten die Hüter, dahinter die fünf Kriegselefanten mit
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Rittern und Sklavenmeistern. Timons Augen suchten die unverwechselbare Gestalt des Priesters, aber sie waren noch zu weit entfernt, nur die Hunde kamen schnell näher. Er wickelte den Umhang vorsichtig um seinen linken Unterarm und griff das Schwert fester. Der Leithund sah ihn zwischen den Felsen, und schlagartig veränderte sich das tiefe Gekläff zu einem aufgeregten Klagegeheul. Ihre langen rosa Zungen hingen zwischen den weißen Reißzähnen. Timon schritt zurück zu Sellene, um sie vor den gräßlichen, drängenden braunen Körpern zu schützen. Der erste Hund sprang ihn an, seine Kiefer schnappten nach seinem Gesicht. Timon stieß ihm das Schwert durch seine Gurgel. Da sprang ihn schon der nächste an. Er stieß ihm seinen umwickelten Arm in den Rachen und hackte auf einen dritten Hund los. Sie stürzten auf ihn, während er wild um sich schlug und stach. Er schmetterte den Hund, der an seinem Arm hing, gegen einen Felsen und brach seine Rippen. Aber ein anderer hatte sich in seine Wade verbissen, einer sprang ihm ins Gesicht, große Zähne verbissen sich in seine Schultermuskeln. Es waren zuviele Hunde. Sie überwältigten ihn, schnappten nach ihm, rissen ihn, erstickten ihn mit ihrem Gewicht und ihrer Stärke. Er sackte in die Knie. Plötzlich waren die Hundehüter da und trieben die Hunde mit Peitschenhieben von ihm weg. Langsam stand Timon auf. Er hatte sein Schwert verloren, Blut strömte aus tiefen Wunden über seinen glänzenden schwarzen Körper. Er blickte zu dem Kampfelefanten hoch. Seine letzte Hoffnung schwand, als er Huy Ben-Amon nicht unter den Jägern fand und Hycanus, den Grau-Löwen von Opet, lachen sah.
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»Gut gelaufen, Sklave«, höhnte Lannon. »Ich hatte schon befürchtet, daß du den Fluß erreichen würdest.« Er blickte auf Sellene. »Meine Jagdmeister hatten also recht. Sie haben an den Spuren erkannt, daß die Frau ihr Bein verletzt hat und du sie trugst. Eine noble Geste, Sklave, höchst ungewöhnlich für einen Heiden. Trotzdem wird es dich teuer zu stehen kommen.« Lannon blickte sich zu einem seiner Sklavenmeister um. »Richtet sie hin, sofort.« Timon schaute zum König auf und sprach mit starker klarer Stimme: »Ich bin das lebende Symbol dieser Liebe.« Lannons Kopf schnellte herum, als er die Worte hörte. Sein Lachen erstarb. Er starrte auf den blutenden Sklavenkönig. Eine Sekunde lang, dann wich Lannon seinem Blick aus. »Es sei«, nickte er. »Du erinnerst mich an meine Freundespflicht. Du sollst leben – aber lebend wirst du nach der Stille des Todes verlangen.« Er wandte sich zu seinem Sklavenmeister. »Dieser Mann wird nicht hingerichtet, aber er wird für ›unverbesserlich‹ erklärt und mit dem Gewicht von zwei Talenten gekettet.« Fast hundert Pfund an Ketten, die er Tag und Nacht, schlafend und wachend tragen mußte. »Schick ihn in die Minen von Hulya, sag dem Aufpasser, daß er in dem tiefsten Stollen eingesetzt werden soll.« Lannon beobachtete Timons Gesicht, als er fortfuhr. »Die Frau kann diesen Schutz nicht beanspruchen, aber wir werden sie trotzdem mit uns nehmen. Kettet sie an einen Kriegselefanten, damit sie hinterhergeht.« Zum erstenmal zeigte Timon eine Regung. Er trat vor und hob flehend den zerfetzten Arm. »Mein Gebieter, die Frau ist verletzt. Sie kann nicht gehen.« »Sie wird gehen«, sagte Lannon. »Oder sie wird gezogen. Du wirst auf einem der Elefanten reiten und ihr gut zureden. Du wirst Zeit haben, um zu entscheiden, ob der schnelle Tod,
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den ich dir angeboten hatte, nicht dem Leben vorzuziehen gewesen wäre, das du gewählt hast.« Sie ketteten Sellene an den Handgelenken fest. Das andere Ende wurde oben an der Elefantenburg befestigt. Timon saß in der Burg, eine massive Kette um Hals und Fußgelenke. Man zwang ihn, nach hinten zu blicken, wo Sellene leicht auf einem Bein schwankte, das andere, gräßlich angeschwollene, ein wenig angehoben. Ihr Gesicht war grau vor Schmerz, aber sie versuchte zu Timon hinaufzulächeln. Der erste Ruck riß sie um, drückte ihr Gesicht an den harten Boden, der mit scharfen Steinsplittern und rasierklingenscharfen Grashalmen übersät war. Fünfzig Schritt wurde sie so geschleift, bevor es ihr gelang, wieder auf die Beine zu kommen und hinter dem Elefanten herzustolpern. Ihre Knie und Ellbogen waren aufgerissen, Kratzer zogen sich über ihren Bauch und ihre Brüste. Sie fiel ein Dutzend Mal, immer wieder richtete sie sich auf, aber jedesmal wurde ihr Körper mehr geschunden und zerfetzt. Kurz vor Sonnenuntergang fiel sie das letzte Mal. Timon saß in seinen Ketten und schwor einen Eid. Während Sellenes lebloser Körper über die rauhe Erde geschleift wurde, schwor er, blind vor Zorn, Schmerz und Trauer, einen Racheeid. Dann weinte Timon. Zum letzten Male in seinem Leben gab er sich den Tränen hin. Sie liefen sein Gesicht hinunter, tropften von seinem Kinn und vermischten sich mit dem getrockneten Blut und Staub auf seinem Körper.
Aus dem Lederschlauch, dessen Nähte mit Pech versiegelt waren, bliesen schwache Luftstöße wie der Atem eines sterbenden Drachen. Von großen Blasebälgen auf der Oberfläche
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heruntergepumpt, hatte die Luft hier unten, siebzig Fuß unter der Erde, das meiste ihrer Kraft verloren. Timon lehnte sich gegen die schwitzende Felswand, preßte sein Gesicht an die Schlauchöffnung, um das winzige Luftgerinnsel in dieser höllischen Schwefelhitze aufzusaugen. Er war abgemagert, die Rippen zeichneten sich unter der schwarzen Haut ab. Sein Kopf glich mit den tiefen Augenhöhlen einem Totenschädel, doch in seinen Augen schwelte noch immer das Feuer seines unbezähmbaren Geistes. Narben liefen kreuz und quer über seinen Rücken und Brustkorb – Narben auf Armen und Beinen, Narben, die zu dicken Wülsten und Furchen verheilt waren, und frische rosa Narben, noch eiternde Schwären. Die schweren Ketten hatten schwielige Ringe um seinen Hals und seine Gelenke gerieben, Sklavenzeichen, die er bis ans Grab tragen würde. Er saugte die Luft ein, seine Brust pumpte, blähte sich und fiel zusammen. Um ihn herum nur Rauch, Flammen und Hitze. Seit drei Tagen versuchten sie nun schon, den harten grünen Fels auseinanderzubrechen, der die Goldader verdeckte. Sechzehn Männer waren dabei draufgegangen, von Rauch und Dampf erstickt, von fliegenden Splittern des explodierenden Gesteins erschlagen, oder einfach von der Hitze überwältigt, um ohnmächtig auf den glühenden Boden hinzusinken und zu verbrennen. Ein Wasserschlauch aus Ochsenhaut wurde durch den Schacht hinuntergelassen. Er brachte vierzig Gallonen einer Flüssigkeit aus saurem Wein und Wasser. Timon befeuchtete seinen Lederumhang in dem schmierigen Wasser des Holztrogs neben sich und tauchte dann seine Beine hinein. Er nahm einen letzten großen Atemzug vom Schlauch und hielt die Luft an. Dann drückte er sich unter den schweren Wasserschlauch und lud das Gewicht auf seine Schultern. Gebeugt vom Gewicht der Flüssigkeit, taumelte er den Tunnel
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entlang. Als er vor Ort kam, begannen die Sohlen seiner Sandalen zu schmelzen und zu stinken. Er konnte die Hitze durch das dicke Leder spüren. Sie hämmerte von den Felswänden auf ihn ein. Ihm blieb nicht viel Zeit. Schon begannen seine geschundenen Lungen schmerzlich zu pumpen, aber er wagte nicht, diese vergiftete, rauchige Luft einzuatmen. Die Hitze verbrannte die unbedeckte Haut an Armen und im Gesicht, seine Füße schmerzten, als der Felsen die Schutzsohlen wegbrannte. Er ließ den Schlauch auf den Boden nieder und lief durch schwirrende Dampfwolken und Hitze den Tunnel zurück. Die Ketten klirrten lose unter seinem Umhang. Dies war der Zeitpunkt, da die Männer starben, wenn der heiße Felsen sich zu schnell durch die Haut der Wasserblase fraß, bevor der Träger aus der Gefahrenzone entkommen konnte. Hinter Timon barst die Blase, vierzig Gallonen Flüssigkeit überfluteten den heißen Fels, die plötzliche Dehnung der Schicht zerschmetterte die Oberfläche, der Fels brach explosionsartig auseinander. Ein scharfer Splitter traf Timon am Hinterkopf und schnitt bis zum Schädelknochen durch. Er durfte hier nicht fallen. Mit letzter Kraft erreichte er den Wassertrog und steckte seinen Kopf schnell in das schmierige Wasser. Und während Dreckwasser und frisches Blut seinen Rücken hinunterströmten, griff er mit beiden Händen nach dem Luftschlauch und keuchte hinein. Er keuchte und würgte, und seine Augen waren blind vor Tränen des Schmerzes. Er brauchte einige Minuten, bevor er seine Kräfte sammeln konnte. Er taumelte auf die Leiter zu, die zum nächsten Stollen über ihm führte. Während er noch hochkletterte, wurde schon der nächste Wasserschlauch hinuntergelassen. Fünfzig Fuß kletterte er durch die Dunkelheit, dann kroch er über den Rand in eine schlechtbeleuchtete niedrige Höhle.
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Der Sklavenmeister sah ihn über den Rand des Schachtes kommen. »Warum hast du deinen Posten verlassen?« Und die lange Schnur der Peitsche aus Flußpferdhaut klatschte um Timons Rippen. Er wand sich vor Schmerz. »Mein Kopf«, stöhnte er. »Ich bin verletzt.« Der Sklavenmeister beugte sich zu ihm hinunter, um den blutigen Schnitt an Timons Hinterkopf zu untersuchen, aus dem das dunkle Blut noch immer strömte. Er grunzte unwillig. »Ruh dich aus.« Er drehte sich zu einer Reihe von zehn hokkenden Sklaven um. Es waren alles Unverbesserliche, sie trugen alle die gleichen schweren Ketten wie Timon, und ihre Körper zeigten die gleichen Mißhandlungen. Der Sklavenmeister stieß einen mit der Peitsche an. »Du gehst als nächster. Schnell.« Der Sklave stand auf und schlurfte auf die Schachtöffnung zu. Timon kroch zu der niedrigen Bank an der Wand. Der Schnitt in seinem Schädel brannte und stach. Keiner der anderen, völlig apathisch vor sich hinstarrenden Sklaven nahm Notiz von ihm. Der Sklavenmeister ging rastlos vor ihm auf und ab. Er war ein dunkelhäutiger, bärtiger Mann, der einen leichten Körperpanzer trug, dick genug, eine Dolchspitze abzuwehren. An seinem Gürtel hingen ein kurzes Eisenschwert und ein mit Eisennägeln besetzter Sklavenknüppel. Er war ein grausamer Mann, wegen seiner Brutalität ausgewählt, mit den Sklaven zu arbeiten. Es gab noch einen zweiten Sklavenmeister. Als wieder ein Sklave keuchend aus der schwarzen Hölle emporkletterte, mußte Timon zurück in den Schacht. Einspruch war völlig sinnlos, das hatte Timon schon vor langer Zeit gelernt. Er stand auf und schlurfte zum Schacht. Er hielt inne, um noch einmal tief durchzuatmen, aber schon sauste die Flußpferdpeitsche wie ein Blitz in das weiche Fleisch
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seiner Achselhöhle. Im Reflex des Schmerzes hob Timon die Arme, um sich zu schützen, und die Ketten schwangen mit. In einem plötzlichen Anfall von Zorn und Schmerz schleuderte Timon die schwere Kette herum, gerade in dem Moment, als der Sklavenmeister zum zweiten Peitschenschlag ausholte. Die Kette wand sich um den Unterarm des Sklavenmeisters und brach ihm den Knochen mit einem scharfen knackenden Geräusch. Mit einem erschreckten Schrei wich er zurück, der gebrochene Arm schlenkerte lose an seiner Seite. Der ältere Mann hinter ihm zog sein Schwert. Er stand etwa fünfzig Schritt von ihm entfernt. Zwei waren es jetzt, denn der junge Mann griff mit der linken Hand nach seinem Schwert. Irgendwo unter der Dumpfheit der Sklavenexistenz brannte ein Funken. Timon entsann sich seiner Ausbildung bei Huy Ben-Amon: wenn zwei Feinde dich angreifen – trenn sie und greif den Schwächeren zuerst an. Mit der Kette um sich dreschend, sprang Timon den jüngeren Sklavenmeister an, daß der Mann zu Boden sank. Timon setzte über ihn hinweg und fing den Schwertstreich des zweiten Mannes mit dem eisernen Gelenkring ab. Der Schlag erschütterte ihn bis in die Schulter und lahmte seinen Arm, aber er duckte sich unter dem zweiten Schlag weg und warf die Kette dem Mann um die Kehle. Dann zurrte er sie fest. Der ältere Mann ließ sein Schwert fallen und griff verzweifelt nach den Eisengliedern, die ihn würgten. Timon knurrte wie ein Hund, als er die Kette noch enger zurrte. Plötzlich fielen die Hände des Sklavenmeisters schlaff herunter, seine Zunge quoll hervor. Timon ließ ihn auf den Boden sinken und hob sein Schwert aus dem Schlamm. Er drehte sich zu dem jüngeren Sklavenmeister um, der in-
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zwischen auf den Knien kroch. Er hatte seinen Helm verloren und hielt seinen gebrochenen Arm schützend vor die Brust. Timon stand über ihm und hackte ihm mit dem kurzen Schwert den Schädel auf. Der Sklavenmeister fiel mit dem Gesicht in den Schlamm. Timon blickte um sich. Das Ganze hatte nur zehn Sekunden gedauert, keiner hatte aufgeschrien. Timon sah auf das Schwert in seiner Hand, die blutverschmierte Klinge, und er fühlte, wie die Mutlosigkeit des elenden Sklavendaseins von ihm abfiel. Er spürte, wie der Funke sich entzündete, wie er wieder ein Mann wurde. Nicht einer der kauernden Sklaven hatte sich bewegt. Ihre Augen waren stumpf, gleichgültig. Es schauderte Timon, als er sie ansah. Er brauchte Männer. Da war einer, der hieß Zama. Ein junger Mann in Timons Alter. Ein wilder Sklave, auf der anderen Seite des Flusses eingefangen. Er trug seine Ketten noch nicht ganz ein Jahr. Timon rief ihn an: »Den Hammer! Bring einen Hammer!« Zama bewegte sich. Es schien ihn unendlich anzustrengen, die Gewohnheiten der Sklaverei abzulegen. »Beeil dich«, sagte Timon. »Wir haben wenig Zeit.« Zama nahm eine der kurzen eisernen Krummäxte und erhob sich von der Bank. Timon spürte sein Herz schneller schlagen. Er hatte einen Mann gefunden. Er hielt seine Gelenke hin, während er das blutige Schwert in der Hand hielt. »Schlag diese Ketten durch.«
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Lannon Hycanus war zufrieden, als er die Zahlen hörte. »Von der südlichen Grassteppe sind heute achtundfünfzig große Elfenbeinzähne nach Opet gekommen, insgesamt neunundsechzig Talente«, las ihm Rib-Addi, sein Buchhalter vor. »Ah!« grunzte Lannon und wandte sich wieder zum Fenster, während Rib-Addi ihm weitere Zahlen nannte. Seine Stimme war monoton, und Lannons Gedanken schweiften ab, obwohl sein Unterbewußtsein aufmerksam Schwankungen in der Stimme seines Buchhalters registrierte. Rib-Addi hatte die Angewohnheit, seine Stimme zu heben, wenn er in der Buchführung auf eine Stelle stieß, die den Grau-Löwen mißmutig stimmen könnte – ein geringer Eingang, ein unerfülltes Plansoll –, und sofort fuhr ihn der Grau-Löwe an. Dies überzeugte Rib-Addi, daß der Grau-Löwe ein Finanzgenie war und man nichts vor ihm verbergen konnte. Lannons Gedanken schweiften wieder ab; er dachte an Huy und fühlte ein leises Unbehagen. Etwas stimmte nicht mit ihrer Freundschaft. Huy war verändert, und Lannon suchte nach dem Grund. Er verwarf den Gedanken, daß es die Nachwirkungen ihrer langen Trennung waren. Es mußte etwas anderes sein. Nur selten verbrachte Huy die Nacht im Palast, nur selten nahm er am Würfelspiel teil und trank mit ihm Wein. Oft, wenn Lannon in der Nacht nach ihm schickte, kam statt dessen ein Sklave mit der Nachricht, daß er entweder krank sei oder schlafe oder schreibe. Lannon schmollte, er hatte erkannt, daß Huy der einzige Mensch war, den er als Freund betrachten konnte. Seine Stellung hatte ihn von allen anderen isoliert. Seine Frauen, seine Kinder fürchteten ihn. In seinem ganzen Königreich gab es nur eine Person, die Mut und Ehrlichkeit genug hatte, um von der Nähe des Königs nicht erdrückt zu werden. »Ich brauche ihn«, dachte Lannon. »Ich brauche ihn viel
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mehr als er mich.« Er selbst, Lannon Hycanus, der siebenundvierzigste Grau-Löwe von Opet, hatte damals am meisten unter dieser Trennung gelitten. »Ich werde ihn nicht wieder gehen lassen«, schwor er sich. »Er darf sich mir einfach nicht entziehen.« Er erkannte, daß er eifersüchtig auf den Priester war. »Ich werde alles zerstören, was sich zwischen uns drängt. Ich brauche ihn.« Das eilige Rasseln von Fußpanzern störte Lannon aus seinen Gedanken auf. Drei seiner hohen Offiziere stürzten in den Raum. Sie hatten einen Zenturion in einem staubigen Umhang bei sich. Sein Bart war verdreckt, und man sah ihm die hastige Reise an. »Mein Gebieter. Es gibt schreckliche Nachricht.« »Was ist passiert?« »Ein Sklavenaufstand.« »Wo?« »Bei Hulya.« »Wieviele?« »Sehr viele. Wir sind nicht sicher. Dieser Mann –«, er wies auf den Zenturion, »hat es gesehen.« Lannon wandte sich an den erschöpften Offizier. »Sprich!« »Ich war mit einem Spähtrupp fünfzig Meilen nach Norden gezogen, Majestät. Wir sahen Rauch, doch als wir zurückkamen, war die Mine schon hin. Sie hatten die Einzäunung geöffnet und die Garnison hingemetzelt.« Es schauderte ihm bei der Erinnerung. »Sie waren weggezogen, bis auf die Kranken und die Lahmen. Die hatten sie zurückgelassen.« »Wieviele?« »Zweihundert vielleicht.« »Was habt ihr mit ihnen gemacht?« »Wir haben sie ans Schwert geliefert.« »Gut!« nickte Lannon. »Weiter.« »Wir folgten dem Hauptsklavenzug. Es waren über 5000, als
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sie Hulya verließen. Sie zogen Richtung Norden.« »Nach Norden«, knurrte Lannon. »Zum Fluß natürlich.« »Sie ziehen langsam, sehr langsam. Und sie plündern und brandschatzen dabei. Wir folgten dem Rauch und den Aasgeiern. Die Bevölkerung in ihrem Weg flüchtet und läßt alles zurück. Sie verschlingen das Land wie ein Heuschreckenschwarm.« »Wieviele sind es? Wieviele?« fragte Lannon. »Wir müssen es wissen!« »Sie haben die Lager von Hulya, Tuye und einem Dutzend anderer Minen geöffnet – alle Feldsklaven haben sich ihnen angeschlossen«, antwortete der Zenturion. Ein Offizier schätzte: »Inzwischen müßten es etwa 30 000 sein.« »Wenigstens, Majestät«, stimmte der Zenturion bei. »Dreißigtausend, beim Namen des heiligen Baal«, flüsterte Lannon. »Solche Massen!« Dann wurde er ärgerlich. »Welche Streitkräfte haben wir, um ihnen entgegenzutreten? Wieviele Legionen sind mobilisiert?« »Zwei Legionen stehen bei Zeng«, warf ein Offizier ein. »Wir konnten sie nicht rechtzeitig verlagern«, antwortete Lannon. »Eine Legion ist hier in Opet.« »Zu weit weg«, knurrte Lannon. »Zwei weitere stehen am Südufer des Flusses.« »Und die verteilen sich über Garnisonen, die über eine Strecke von 500 Meilen den Fluß entlang verstreut liegen. Alle anderen sind aufgelöst?« fragte Lannon. »Wie lange würde die Einberufung dauern?« »Zehn Tage.« »Zu lange«, fauchte Lannon. »Wir müssen diesen Aufstand sofort und mit äußerster Härte niederschlagen. Rebellion ist eine Pest, sie verbreitet sich wie das Feuer im trockenen Papyrus. Wir müssen sie ersticken. Jeden einzelnen Funken. Wie-
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viel Streitkräfte haben wir sonst noch?« »Da ist noch die Streitkraft seiner Hoheit«, murmelte einer der Offiziere schüchtern. Lannon starrte ihn an, er hatte Huy vergessen. »Er ist in Sinai, direkt vor der Angriffslinie der Sklaven.« »Huy!« sagte Lannon und verfiel in Schweigen, während seine Offiziere heftig zu diskutieren begannen. »Er hat nur zwei Kohorten mit sich – 1200 Männer –, er wird doch keine 30 000 Mann starke Armee angreifen.« »Es ist keine Armee, sondern ein Haufen Sklaven.« »Trotzdem, es sind immerhin 30 000.« »Wir können ihn nicht rechtzeitig verstärken.« »Es wäre völliger Wahnsinn, sich mit einer solchen Übermacht einzulassen, mein Gebieter – und Ben-Amon ist kein Narr.« Lannon lächelte. »Ben-Amon wird kämpfen.« Dann erstarb sein Lächeln. »Ich werde in vier Stunden mit allen vorhandenen Soldaten losmarschieren, um Ben-Amon zu unterstützen. Erteilt die Befehle zur Mobilmachung.«
Fünf Tage lang hatte Huy die dahinziehenden Menschenmassen beobachtet. Immer wieder wich er vor ihnen zurück, hielt seine winzige Streitmacht zusammen und setzte sie nur sparsam und gezielt ein. Am fünften Tag stieß er auf die Garnison von Sett. Mago, der ältere Kommandant, stellte sich mit 1800 Bogenschützen und leichter Infanterie, 12 Kriegselefanten, 2 Patrouillengaleeren mit jeweils 100 Ruderern und dem umfangreichen Arsenal der Garnison unter Huys Kommando. Huy begrüßte ihn in der Mittagshitze auf einem kleinen Hü-
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gel zwölf Meilen südlich des Flusses. Er nahm Mago beiseite, so daß der Stab die Unterredung nicht hören konnte. »Es ehrt mich, unter dir zu dienen, hoher Vater. Man sagt, daß denen Ruhm beschert wird, die der Standarte des Sonnenvogels folgen.« »Es wird genug Ruhm für alle hier geben, das versichere ich dir«, sagte Huy finster, und er wies über die offene Forstlandschaft. »Dort sind sie.« »Was fällt dir als erstes auf, Hauptmann?« fragte Huy leise, und Mago betrachtete die ferne Armee. »Von hier, mein Gebieter, sieht sie aus wie jede andere Armee auf dem Marsch«, murmelte er nachdenklich. »Und kommt dir das nicht seltsam vor? Dies ist doch keine Armee, sondern ein Haufen entlaufener Sklaven. Und doch bewegt er sich wie eine Armee.« Mago begriff. »Ja! Natürlich! Sie werden angeführt. Es stimmt, man würde solche Ordnung nicht vermuten.« Dann fragte Huy: »Wie steht der Fluß, Mago?« »Sehr niedrig, mein Gebieter.« »Kann man die Furt überqueren?« fuhr Huy fort. »Wie tief ist sie?« »Man kann sie zu Fuß überqueren. An der tiefsten Stelle reicht das Wasser bis zum Hals, aber es fließt sehr schnell. Ich habe die Leitseile zuschneiden lassen.« Huy nickte. »Sie marschieren auf die Furt bei Sett zu.« Er schwieg wieder eine Zeitlang. »Dort werde ich sie vernichten«, fuhr er bestimmt fort, und Mago schaute ihn von der Seite an. »Vernichten« schien ihm ein merkwürdiges Wort von einem General mit 3000 Mann, der einer Armee von 30 000 gegenüberstand. »Mein Gebieter!« rief einer von Huys Offizieren. »Der Angriff hat begonnen!« Huy eilte zu der Gruppe. »Bakmor hat den richtigen Augenblick gewählt«, stellte er
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zufrieden fest. Aus einem strategisch günstigen Hinterhalt stürmten Bakmors 500 schwere Infanteristen in die Flanke der Kolonne. Huys Liebling hatte eine schwache Stelle in der Wand von schwarzen Speerwerfern ausgewählt. Seine Axtkämpfer brachen zum Provianttroß durch, so daß die Treiber der Ochsenkarren davonliefen, die Trägerinnen ihre Getreidekörbe abwarfen und schreiend hinterherrannten. Die Angreifer töteten schnell die Ochsen in ihrer Bahn, stapelten die Getreidekörbe und entfachten Feuer und in wenigen Minuten stand der geplünderte Proviant der Sklaven in Flammen. »Schau, wie sie auf unseren Angriff reagieren«, rief Huy aus. Vom Kopf und Ende der Kolonne eilten Speerwerferverbände im klassischen Umzingelungsversuch auf die Mitte zu. Das Manöver wurde nicht mit der Präzision einer trainierten Legion ausgeführt, aber die Formation war zu erkennen. »Erstaunlich!« rief Mago. »Ein Soldat führt sie an, oder zumindest jemand, der über Militärwesen Bescheid weiß. Wir müssen vorsichtig sein.« »Bakmor weiß, was er zu tun hat«, versicherte ihm Huy und beobachtete, wie die Axtkämpfer die Umzingelung geschickt durchbrachen. Hinter ihnen brannte der Provianttroß. »Gut gemacht!« freute sich Huy. »Wir wollen doch mal sehen, ob der Sklavenkommandant ein ebenso großer Quartiermeister wie Taktiker ist! Bei denen wird es heute Nacht knurrende Mägen geben.« Huy nahm Mago am Arm beiseite. »Wie wäre es mit einer Schale Wein?« schlug er vor. »Zuschauen und warten macht fast genauso durstig wie das Schwingen einer Axt.«
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Der Wein ließ sich trinken. Man war in bester Stimmung und schien den Feldzug vergessen zu haben – bis Huy ernstere Töne anschlug. Er sprach über die bevorstehende Schlacht und warnte Mago und seine Offiziere davor, den Feind zu unterschätzen. »Ich hätte beinahe teuer für diesen Fehler bezahlt«, berichtete er ihnen. »Eigentlich hatte ich ihr Zentrum angreifen wollen, weil ich festgestellt hatte, daß es weich wie frischgekneteter Teig war. Ich stellte mir eine schnelle Attacke vor, einen Sieg auf einen Streich. Sobald ihr Zentrum zusammengebrochen wäre, hatte ich sie auseinandertreiben und versprengen wollen.« Huy hielt inne und machte das Sonnenzeichen. »Gepriesen sei Baal. Kurz bevor ich den Befehl zum Frontalangriff erteilen wollte, wurde ich durch ein Zeichen der Götter gewarnt.« Einige Offiziere machten ebenfalls das Sonnenzeichen, und Huy fuhr fort. »Da sah ich, wie sicher die Flanken des Feindes standen. Es schien mir, als seien die stärksten und besten Soldaten des Feindes dort postiert, und plötzlich erinnerte ich mich an Cannae. Mir fiel ein, wie Hannibal den römischen Konsul umzingelt hatte.« Huy brach plötzlich ab, und ein Ausdruck des Begreifens erhellte sein Gesicht. »Cannae! Hannibal!« Natürlich! Ganz deutlich erinnerte er sich jetzt, wie er mit Timon die Schlacht von Cannae in allen ihren Phasen durchgesprochen und nachvollzogen hatte. Er hörte wieder seine eigene dozierende Stimme und sah das aufmerksame schwarze Gesicht vor sich. »Timon!« flüsterte er. »Es ist Timon! Er muß es sein!« Um ihn herum lagerte seine Armee. Es war eine riesige Menge schwarzer Leiber, hungrig, müde und unruhig in der Nacht. Lagerfeuer brannten, und der Himmel glühte orangefarben. Die Feuer waren diesmal nur zum Wärmen, denn es gab keine Nahrung. Seit zwei Tagen schon hatten sie nichts zu essen, seit Bakmor ihren Proviant verbrannt hatte.
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Timon schritt leise zwischen ihnen her und sah, wie sie sich um die Feuer kauerten. Sie froren vor Hunger und stöhnten leise. Er haßte sie. Es waren Sklavennaturen, Schwächlinge. Nur einer von fünfzig war ein Mann, nur einer von hundert ein Krieger. Er brauchte einen Kriegsspeer und hatte einen morschen Zweig bekommen. Langsam und schwerfällig erwiderten sie die Blitzangriffe des Feindes. Zwanzig von ihnen waren nicht halb so viel wert wie einer dieser großartigen Soldaten, die ihnen gegenüberstanden. Er dachte an die Männer seines eigenen Stammes, es verlangte ihn danach, seine Kenntnisse an sie weiterzugeben, dieselbe Entschlossenheit in ihnen zu wecken, seine eigenen Vorstellungen weiterzuleiten. Er stand am Ufer des Flusses und blickte auf das schnell strömende schwarze Wasser. An den flachen Stellen der Furt bildeten sich Wirbel und Strudel. Dreihundert Schritt vom Ufer entfernt befand sich eine kleine Insel. Die Flutwasser würden sie überschwemmen. Sie war mit angetriebenem Holz und Papyrus übersät. Dies war die erste Station in der Furt. Hier würde er die Borkenseile verankern. Im Morgengrauen würde er sie festzurren und versuchen, den Fluß an einem einzigen Tag zu überqueren. Er wußte, daß er mit hohen Verlusten zu rechnen hatte. Sie waren schwach vor Hunger, verletzt und erschöpft, die Borkenseile unzuverlässig, der Strom war gefährlich und floß schnell, und der Feind war unerbittlich. Wortfetzen klangen über das Wasser zu ihm herüber, und obwohl er die Wörter nicht verstand, ließ die vertraute Modulation der punischen Sprache seinen Haß wieder auflodern. Er wollte sich auf diese Menschen stürzen und sie vernichten. Er wollte jede Spur zerstören, jede Erinnerung auslöschen an diese grotesken hellhäutigen Menschen mit ihren Fähigkeiten und
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ihrer Stärke, mit ihren merkwürdigen Göttern und abscheulichen Grausamkeiten. Er stand in der Dunkelheit und starrte auf die entfernte Feste, hörte ihre Stimmen in der Nacht, erinnerte sich an den Körper seines Weibes, wie er über den rauhen Boden geschleift wurde, erinnerte sich an das Klagen der Sklaven von Hulya, an das Sausen der Peitsche, das klirrende Gewicht der Ketten, die brennende Hitze der Felsen, die Stimmen der Sklavenmeister – tausend andere Erinnerungen brannten in seinem Kopf. Er strich über die dicken Wülste, die die Ketten an seinen Handgelenken hinterlassen hatten, und starrte zum Feind hinüber. Im Innersten seiner Seele loderte der Haß und drohte seinen Verstand zu überwältigen. Am liebsten hätte er seine Arme herumgeschwungen und sich auf sie gestürzt. Er wollte nur noch das eine – vernichten. Er zitterte am ganzen Körper »Die Zeit ist noch nicht reif für mich«, dachte er. »Aber sie wird kommen.« Jemand trat im Dunklen zu ihm. »Zama?« fragte er, und sein Hauptmann antwortete leise. »Der Morgen dämmert.« »Ja«, nickte Timon. »Es ist Zeit, daß wir anfangen.«
Liebevoll flocht Tanith seinen Bart und band ihn dann unter seinem Kinn zusammen, damit er sich nicht in seinem Brustpanzer verfangen konnte. Dabei flüsterte sie ihm Koseworte zu. Huy saß schweigend auf der Liege, die geschickte und zarte Berührung ihrer Hände genießend, die zärtlichen Laute und den liebenswerten Klang ihrer Stimme; all dies stand in einem solchen Gegensatz zu den Ereignissen, die der Tag bringen würde. Und als Tanith aufstand, um seinen schweren Brustpanzer zu holen, verspürte er plötzlich den stechenden Schmerz
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des Verlustes. Sie half ihm, die Rüstung anzulegen, kniete vor ihm, um seine Beinschienen festzuschnallen, faltete sorgfältig seinen Umhang, und obwohl sie lächelte, konnte er doch die Angst in ihrer Stimme hören. »Oh Huy«, flüsterte sie. »Mein Gebieter, Liebster.« In dem Augenblick schob die alte Priesterin die Bastmatte beiseite und schritt in den Raum. Sie sah die beiden engumschlungen, der Welt entrückt. Aina starrte sie mit ihren wässerigen Augen an, ihr Mund öffnete sich zu einem zahnlosen Grinsen, leise zog sie sich zurück und ließ die Bastmatte wieder fallen. Endlich löste sich Tanith aus der Umarmung. Sie schritt zur Geieraxt, die neben Huys Bett an der Wand lehnte, brachte sie zu Huy, hob die Klinge an ihre Lippen und küßte sie. »Laß ihn nicht im Stich!« flüsterte sie der Axt zu und überreichte sie Huy. Eine Gruppe eifriger Offiziere stand im Dunkel der Morgendämmerung auf dem Schutzwall der Festung und starrte stromaufwärts, wo die Sklavenarmee lagerte. Sie begrüßten Huy und Tanith mit prahlendem Übermut. Tanith beobachtete sie und hörte ihnen zu, während sie den Tagesablauf besprachen. Sie konnte nicht begreifen, wie sie der Möglichkeit des Tötens oder Getötetwerdens mit der Begeisterung von Knaben entgegensahen, die irgendeinen Streich planten. Tanith fühle sich von dieser mysteriösen Männerkameradschaft ausgeschlossen, und sie war überrascht, wie verändert Huy war. Ihr zarter Poet, ihr ernsthafter Gelehrter und schüchterner Liebhaber war genauso erregt wie die anderen. Sie erkannte seine Aufregung an den flatternden Handbewegungen und den roten Flecken auf seinen Wangen. »Heute ist der richtige Tag. Wir haben lange genug gewartet«, erklärte Huy, während er stromaufwärts ins Morgendun-
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kel blickte. Schwerer Nebel hing über dem Fluß, der Rauch von 10 000 Lagerfeuern verbarg das Feld. Er schritt unruhig auf und ab. »Verfluchter Nebel! Ich kann nicht erkennen, ob sie ihre Seile schon über die Furt gespannt haben.« Huy schritt zur Brustwehr. »Ich wünsche euren Schwertern scharfe Klingen!« Dann sang er das Lobeslied auf Baal, als die Sonne am roten und verrauchten Horizont emporstieg. Er machte das Sonnenzeichen und wandte sich wieder seinem Stab zu. »Gut, ihr kennt eure Stellungen und Aufgaben.« Als sie auseinandergingen, nahm Huy Bakmor beiseite. »Hast du einen Mann, der sich um die Priesterin kümmern kann?« Bakmor rief einen alten, ergrauten Infanteristen herbei, der in ihrer Nähe stand. Der Mann trat vor. »Du kennst deine Aufgabe?« fragte Huy, und der Soldat nickte. »Ich werde den ganzen Tag bei der Priesterin bleiben.« »Du wirst sie nicht aus den Augen lassen«, warnte ihn Huy. »Sollte der Feind siegen und es so aussehen, daß sie in seine Hände fällt, dann werde ich –« »Gut«, unterbrach ihn Huy rauh. »Sollte es notwendig sein, führe deinen Hieb schnell und sicher.« Huy konnte Tanith nicht ansehen, er wandte sich schnell ab und schritt hinunter zu den beiden Galeeren. Huy stand auf der Brücke der Galeere und wartete. Die Sonne stand hoch am Himmel, der Nebel hatte sich gelichtet. Die Galeere war am Bug verankert. Die Ruderer saßen auf ihren Bänken, Schilde und Waffen lagen griffbereit zu ihren Füßen, die Ruder waren abgeschert und bereit. Die Sklavenarmee begann mit der Überquerung des Flusses. Zwanzig Seile waren vom Südufer bis zur Insel in der Mitte des Flusses gespannt, jetzt verlegten sie gerade die Seile zum Nordufer.
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Eine wallende, drängende Menschenmasse verstopfte die Furt. Sich an den Borkenseilen festhaltend, wateten sie auf die Insel zu. Nur ihre Köpfe waren zu sehen, schwarze Punkte, um die das Wasser strudelte und schäumte. Fünfzehn- oder zwanzigtausend Sklaven waren bereits im Wasser, und es wurden ständig mehr, während die Scharen am Südufer hinunter ins Wasser stiegen und die Seile in die Hände nahmen. Alles geschah so, wie Huy es vorausgesehen hatte. Die Menge am Südufer würde so weit zusammenschrumpfen, daß sie von Bakmors ungeduldigen Soldaten leicht zu bewältigen war. Er beobachtete, wie die ersten Sklaven erleichtert aus dem grünen Wasser stiegen und dankbar auf die Insel kletterten. Ihr Dank ist verfrüht, dachte Huy. Noch lag der nördliche Kanal zwischen ihnen und der Sicherheit. Sie füllten die Insel, während sich die Borkenseile hinter ihnen unter dem Gewicht der Menschenkörper flußabwärts dehnten. Die Insel wimmelte von nacktem, schwarzem Fleisch. Und noch immer wartete eine dichte Masse am Südufer. Sollte es wirklich Timon sein, dann ist er klug genug, seine besten Kämpfer als Nachhut zurückzuhalten. Huy sah auf die wartenden Männer und hatte das Gefühl, daß sie ruhiger waren, auch besser bewaffnet als die vorderen. Ihre Zahl mußte sich noch verringern, bevor er Bakmors winzige Streitmacht gegen sie riskieren konnte. Huy richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Furt. Von der Insel bewegte sich die Linie der Köpfe langsam aufs gegenüberliegende Ufer zu. Er hatte jetzt eine schwere Entscheidung zu treffen. Wenn er seinen Angriff noch weiter hinauszögerte, würden ihm viele der Flüchtenden in die dichten Wälder des Nordens entkommen. Wenn er aber zuschlug, bevor sie entkommen konnten, verpflichtete er Bakmor zu einer Schlacht gegen eine riesige
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Übermacht. Die Entscheidung war schwierig, doch sein Entschluß war gefaßt, als er plötzlich daran dachte, wie er seinem König Bericht erstatten würde. »Nicht ein einziger ist entkommen, Majestät.« Und er konnte die Antwort fast hören: »Ich hatte nicht daran gezweifelt, mein Sonnenvogel.« Huy wandte sich an den Kapitän der Galeere neben ihm. »Hiß die Standarte!« sagte er leise, und sofort wurde der Befehl zum Vorderdeck weitergegeben. Die goldene Kriegsstandarte stieg zur Mastspitze hoch. Ein heiserer Jubelruf erscholl von den Ruderdecks der Galeere. Am Bug schwang ein Seemann die Schlachtaxt und kappte das Ankerseil, und die Galeeren breiteten ihre weiten Ruderflügel aus. Sie tauchten ein, zogen durch, kamen hoch; naß glänzten sie golden und silbern im Sonnenlicht. Die Galeeren schnellten in Formation dahin, schlugen mit ihren großen Flügeln; sie steuerten auf getrenntem Kurs stromaufwärts, so daß sie durch jeweils einen der beiden Kanäle fahren würden. »Steuert auf die Mitte ihrer Linie zu«, befahl Huy dem Galeerenkapitän. Sie fuhren auf die übervollen Seile zu, die mit den Köpfen der gegen den Strom kämpfenden Männer wie schwarze Perlenketten wirkten. Über dem Rauschen des Wassers und dem Knarren und Klatschen der Ruder gellte der Schreckensschrei der Männer, die auf den tödlich ragenden Bug über sich blickten. Huy blickte hinunter in die Gesichter, die gequält zu ihm aufschauten. Er unterdrückte die aufwallende Regung des Mitleids, dies war der Feind. Die Bogenschützen ließen ihre Pfeile auf sie herabschwirren. Huy sah, wie einer nach dem anderen getroffen und von der Strömung weggeschwemmt wurde.
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Die Galeere schnitt in die schwerbeladenen Seile, drosselte etwas ihre Geschwindigkeit, schlingerte unter ihrem Gewicht; dann rissen die Seile auseinander, und der Strom trieb die Männerketten ins tiefe Wasser, trug sie unter die Mauern der Garnison, wo Huys Bogenschützen schon warteten. Der ganze Fluß war mit schreienden, ertrinkenden Männern gefüllt. Einige versuchten, sich an den Zweigen herunterhängender Bäume festzuhalten, andere an schlüpfrigen Felsvorsprüngen oder einem Stück Treibholz. Die Insel war vollkommen mit drängenden schwarzen Leibern überzogen, und immer noch mehr versuchten auf ihr Fuß zu fassen. »Alsdann, Kapitän«, sagte Huy und zwang sich, nicht Menschen, sondern Feinde vor sich zu sehen. Augenblicklich gab der Kapitän seine Befehle aus, und das Schiff schwang seine Breitseite in die Strömung. Die andere Galeere folgte dem Manöver und von ihren Bugs setzten sie die tödliche Geheimwaffe von Opet ein, »Baals Feuer«. Es spritzte auf die Wasserfläche, breitete sich schlierig aus; Sonnenlicht schimmerte in allen Farben des Regenbogens auf der schwimmenden Flüssigkeit, und es stank nach ranzigem Öl. Wie durch Zauber entfachte es sich plötzlich, die ganze Wasserfläche verwandelte sich in einen Teppich züngelnder orangefarbener Flammen, von denen rußschwarze Rauchwolken aufstiegen. Eine Hitze, die alles zu versengen drohte, lag über dem Fluß. »In Baals heiligem Namen«, flüsterte Huy und beobachtete, wie das Feuer, das nach dem großen Gott Baal benannt worden war, flußabwärts strömte, den Fluß vom einen zum anderen Ufer füllte und den Himmel mit dunklen Wolken überzog. Es floß über die menschenwimmelnde Insel – und als es vorbeigezogen war, lagen verkohlte Körper in großen schwelenden Bergen. Treibholz und vertrockneter Papyrus brannten wie Scheiterhaufen.
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Die Feuerwand zog weiter stromabwärts, an den Festungsmauern vorbei, verbrannte die Vegatation am Uferrand, vernichtete jegliches Leben im Fluß. In zehn kurzen Minuten waren 20 000 Menschen umgekommen; ihre verbrannten Körper trieben abwärts dem Meer zu, wurden wie Treibgut an die Sandufer geschwemmt oder in die Seitenstrudel des Flusses gesogen. Timon stand entsetzt am Ufer und starrte auf das Bild der Zerstörung. Er konnte die fürchterliche Vernichtungswut, die er eben erlebt hatte, nicht fassen. Er konnte nicht glauben, daß die Hälfte seiner Armee verschwunden war. Er war mit einem winzigen Teil seiner ehemaligen Streitmacht zurückgeblieben. Die Übriggebliebenen waren zwar seine besten Männer, aber er wußte, daß sie den Kohorten des Feindes nicht gewachsen waren. Sehnsüchtig starrte er einige Sekunden nach Norden, wo seine Heimat lag. Jetzt war er von ihr abgeschnitten, vielleicht für immer. Die Galeeren lagen hundert Schritt vom Ufer entfernt. Sie wirkten drohend wie zwei große Ungeheuer. Timon spürte den eisigen Hauch der Angst, als er sie anschaute. Hinter ihm erklang der brüllende Lärm des Kampfes und das Aufeinanderschlagen von Schilden und Waffen. Timon schnellte herum. Der zweite Angriff hatte begonnen, mit unerbittlicher Präzision, wie er befürchtet hatte. Er schmetterte in seine Nachhut genau in dem Augenblick, als seine Männer vom Anblick der schrecklichen Vernichtung wie gelähmt waren. Timon spürte siedenden Zorn in sich aufsteigen. Zorn und unbändigen Haß. Diese beiden Kräfte schienen sein Dasein zu bestimmen. Und bevor er wieder in den Kampf eingriff, schwor er den Eid, den er schon unzählige Male geschworen hatte. Ich werde eine Armee meines eigenen Volkes aufstellen, die diesen hellhäutigen Teufeln ebenbürtig sein wird.
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Timon kämpfte sich durch das Gedränge seiner Männer. Der Angriff trieb sie unaufhaltsam zurück, drängte sie zum Fluß, pferchte sie zusammen, so daß sie ihre Waffen nicht mehr schwingen konnten. Verzweifelt brüllte Timon seine Befehle, versuchte sie vorwärtszutreiben, sie an die Seiten zu verlagern, aber seine Stimme ging im Schlachtgetöse unter, seine Kraft versagte in diesem Gedränge schwarzer Menschheit. Über die Köpfe seiner Männer hinweg konnte er die Helme und Federbüsche des Feindes erkennen, der sie umzingelte. Der Druck wurde immer stärker, erstickte den Widerstand und trieb sie unrettbar zurück zum Fluß. Über die Köpfe der Angreifer hinweg schleuderten die Bogenschützen und Speerwerfer ihre Waffen in Timons Zentrum. Jetzt kamen leise die Galeeren von hinten auf das Ufer zu, und von ihren hohen Aufbauten schössen die Bogenschützen ihre Pfeile nun auch in die Vorhut von Timons Restarmee. Das Ufer gab unter den verzweifelten Füßen nach, und Lebende und Tote rutschten und fielen in die strömende Flut. Das Wasser begann sich rot zu färben. Huy sah, daß die Schlacht ihr Gleichgewicht erreicht hatte. Der Druck, den Bakmors Kohorten ausübten, reichte nicht hin, um den Feind auch nur einen Meter weiter zurückzudrängen. Der Druck mußte bald nachlassen, denn schon wurden die Axtkämpfer müde. Wenn das passierte, würde die Sklavenmasse nach außen explodieren, wie die befreite Sehne eines Bogens. Andererseits war nur eine geringe Verstärkung des Drucks nötig, um die Sklaven in den Fluß zu stürzen, aber dieser Druck mußte innerhalb der nächsten Minuten erfolgen. Huy murmelte ungeduldig: »Komm, Bakmor, komm, beeil dich, hat dir der Rausch des Kampfes den Verstand geraubt? Jetzt ist dein Augenblick, aber er wird schnell vergehen!« Und Huy schritt nervös auf dem Deck hin und her. »Komm, Bak-
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mor, komm!« flehte er, und dann stöhnte er erleichtert auf. »Nicht eine Minute zu spät!« Bakmor hatte seine Kriegselefanten in den zusammengeballten Überrest von Timons Armee getrieben. Trompetend und kreischend stampften die riesigen Tiere durch die lebenden Körper, zermalmten sie unter ihren Füßen, schleuderten Männer mit ihren Rüsseln zum Himmel. Ein entsetztes Geschrei der Verzweiflung erhob sich aus 10 000 Kehlen, und Timons Armee drehte sich dem Wasser zu. »Jetzt!« schrie Huy, und die Galeeren schossen auf das Flußufer zu. Sie rammten gleichzeitig in die Böschung, und 400 Axtkämpfer strömten aus ihnen hervor, angeführt von Huy Ben-Amon. Seine Männer versuchten mit ihm Schritt zu halten. Aber die Geieraxt drang so schnell vorwärts, daß nur die Besten mitkamen. »Für Baal!« Und sie hielten ihre blutige Ernte, daß der Fluß hellrot strömte. Inmitten des Getümmels erkannte Huy Timon. Mit wütenden Schlägen kämpfte er sich durch die Masse auf ihn zu. Der wich vor ihm zum Flußufer zurück. »Timon!« schrie Huy gellend, und jene fürchterlichen, rauchgelben Augen stellten sich seinem Blick. Es waren die Augen eines umzingelten Leoparden, grausam und verzweifelt. »Ich fordere dich heraus!« rief Huy. »Kämpfe mit mir!« Als Antwort richtete sich Timon zu seiner vollen Größe auf und schleuderte seinen Speer gegen Huy. Huy duckte sich, die Spitze strich an seinem Helm vorbei und vergrub sich im Nakken eines Mannes neben ihm. Der Mann schrie auf und fiel. Timon drehte sich um und hatte mit drei langen Sätzen das Flußufer erreicht. Er sprang in das rote Wasser, und mit kräftigen Kraulstößen, wie Huy sie ihm beigebracht hatte, schwamm er fort. Huy kam ans Ufer, riß Helm und Brustpanzer herunter,
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streifte Wadenschienen und Sandalen ab. Er war jetzt nackt bis auf den Gürtel, in dem seine Axt steckte. Timon war außer Reichweite der Bogenschützen am Ufer. Er hatte schon die Hälfte der Strecke zur Insel zurückgelegt. Mit einem mächtigen Sprung warf sich Huy ins Wasser und schwamm mit seinen starken Armen schnell hinter Timon her. Timon hatte auf der Insel Waffen gefunden, die Wurfspeere der verkohlten Körper. Als Huy ans Land watete, schleuderte Timon den ersten Speer. Huy konnte ihn mit einem Schwung seiner Axt ablenken. Wieder warf Timon, und wieder – aber nun raste Huy schon über den felsigen, mit Leichen übersäten Boden auf ihn zu. Jeden Speer fing er mit dem Kopf seiner Axt ab. Verzweifelt bückte sich Timon und hob einen der runden Flußsteine auf, so groß wie der Kopf eines Mannes. Er schleuderte ihn mit beiden Händen, aber er streifte Huy nur an der Schulter und warf ihn zu Boden, so daß ihm die Axt aus der Hand glitt. Timon raste auf ihn los, in seiner Wut unvorsichtig geworden. Huy sprang vom Boden hoch und schnellte seinen Körper wie eine Lanze nach vorn. Mit dem Kopf krachte er in Timons Bauch direkt unter dem Brustkorb. Timon krümmte sich seufzend, fiel auf die Knie und preßte mit beiden Händen seine Brust. Huy stand über ihm und schloß seine Hände in der Art der Gladiatoren zu einer Faust zusammen. Mit dem knochigen Hammer seiner Faust traf er Timon genau unter dem Ohr, und Timon sank ohnmächtig auf die Steine. »Ich kann dich nicht töten, Timon«, Huys Stimme drang wie von weither zu ihm. »Obwohl du mehr als irgendein anderer den Tod verdient hast. Du hast mein Vertrauen mißbraucht. Du hast das Schwert gegen mich und deinen König erhoben – du
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verdienst den Tod.« Langsam konnte er Huys Gesicht über sich erkennen, und Timon merkte, daß er flach auf dem Rücken am Boden lag. Er versuchte sich zu bewegen, aber er war gefesselt. Lederriemen, um seine Finger geknotet und an kurzen Pfählen in den Boden getrieben, hielten ihn gefangen. Er drehte seinen Kopf und sah, daß er sich auf der Nordseite der Insel befand, versteckt vor den Wachen am Südufer und allein mit Huy. Auf den Felsen neben ihm brannte ein kleines Treibholzfeuer. In ihm glühte eine abgebrochene Speerspitze. »Wir haben wenig Zeit. Meine Männer werden bald kommen, um mich zu suchen, dann kann ich nichts mehr tun«, erklärte Huy. »Ich habe es meinen Göttern geschworen, deshalb kann ich dich nicht so bestrafen, wie du es verdient hast. Aber ich habe auch eine Pflicht gegenüber meinem König und meinem Volk. Nie wieder darfst du ein Schwert gegen uns erheben. Die Römer haben eine Antwort darauf, und obwohl ich alles Römische hasse, werde ich jetzt ihre Methode anwenden.« Huy stand auf und lehnte sich über Timon. »Ich habe einen Fehler mit dir gemacht. Kein Mensch kann je den wilden Leoparden zähmen.« Huy hielt die Geieraxt in der rechten Hand. »Du warst nie Timon, du warst immer Manatassi. Du unterscheidest dich so von mir, wie sich unsere Hautfarben unterscheiden. Zwischen uns hat nie ein Bündnis bestanden, das war nur eine Illusion, und auch wenn unsere Zungen dieselbe Sprache sprechen, verstehen unsere Ohren die Laute doch unterschiedlich. Deine Bestimmung ist es, alles zu zerstören, was ich liebe, alles, was mein Volk aufgebaut und gepflegt hat. Meine Bestimmung ist es, das zu beschützen, mit dem Blut meines Lebens.« Huy hielt einen Moment inne, ehe er weitersprach. »Ich kann dich nicht töten, aber ich muß sicherstellen, daß du nie wieder ein Schwert in die Hand
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nimmst.« Die Geieraxt sang, Timon schrie einmal auf und wimmerte dann leise, als seine abgehackte rechte Hand wie ein sterbendes Tier auf der verbrannten Erde der Insel zuckte. Huy nahm die glühende Speerspitze aus dem Feuer und versiegelte die pumpenden Blutadern des Stumpfes in einer zischenden, stinkenden Rauchwolke. Dann schnitt er die Riemen durch, die Timon noch immer fesselten. »Geh«, sagte er. »Du mußt dich dem Fluß anvertrauen. Meine Männer werden bald kommen, die Insel abzusuchen.« Timon schleppte sich zum Strand und drehte sich am Wasser noch einmal zu Huy um. Sein riesiger schwarzer Körper war vernarbt und verwüstet, seine Augen drohten schrecklich. Langsam ließ er sich ins Wasser gleiten, den Armstumpf an die Brust haltend. Die Strömung ergriff ihn, und bald war sein Kopf nur noch ein kleiner Punkt in dem breiten Fluß, bis er unterhalb der Festung um eine Biegung gespült wurde. Tanith hatte sich nicht zur Begrüßung auf der Mauer eingefunden, als sie zurückkamen. Huy fand sie in ihrer Kammer. Sie hatte geweint, und ihr Gesicht war blaß. »Ich habe um dein Leben gefürchtet, mein Gebieter. Es war schrecklich«, flüsterte Tanith. »Schrecklicher als jeder Schrekkenstraum. Es war häßlich, mein Gebieter, häßlich genug, mich an jeder Schönheit zweifeln zu lassen.« Sie schwieg und dachte nach. »Deine Dichter erzählen nie von dem Blut und den Schreien der Verwundeten – und all den Qualen.« »Nein«, gab Huy zu, »das tun wir nie.« In der Nacht wachte Huy auf und sah, daß Tanith auf seiner Liege saß. Die Nachtlampe war niedrig gedreht, und ihre Augen blickten schwarz und traurig ins Leere. »Was bekümmert dich?« fragte Huy, und sie schwieg einige Sekunden, bevor sie sprach. »Heiliger Vater, du bist so sanft, so milde. Wie kannst du
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tun, was heute getan wurde?« Huy dachte einen Augenblick über die Antwort nach. »Es war meine Pflicht«, erklärte er schließlich. »Deine Pflicht, diese armen Wesen hinzuschlachten?« fragte Tanith ungläubig. »Das Gesetz schreibt für rebellierende Sklaven den Tod vor.« »Dann ist das Gesetz falsch«, erklärte Tanith hitzig. »Nein.« Huy schüttelte den Kopf. »Das Gesetz ist niemals falsch.« »Doch!« Tanith war wieder den Tränen nahe. »Doch! Dann müssen die Gesetze geändert werden.« »Ach!« Huy lächelte. »Ändere die Gesetze, aber bis sie geändert sind, befolge sie.«
Gondweni war einer der 200 tributpflichtigen Häuptlinge der Vendi. Sein Territorium grenzte an das zerklüftete Land der Kai-Schlucht, das Land der Ausgestoßenen. Er war fett und wohlhabend, und da er ein kluger Mann war, ließ er regelmäßig kleine Geschenke von Salz und Fleisch an einer bestimmten Stelle in den Bergen für die Ausgestoßenen zurück. Auch bot er, da er ein kluger Mann war, gelegentlich Reisenden auf ihrem Weg durch die Berge Speise und Unterkunft. So saß eines Abends ein großer, dürrer Fremder an seinem Feuer, aß seine Speisen und trank sein Bier. Gondweni erkannte die Kraft hinter dem unbewegten, vernarbten Gesicht mit den zornigen gelben Augen. Er verspürte eine ungewohnte Sympathie für diesen Mann und redete freier, als er es sonst zu tun pflegte. Obwohl der Fremde die Sprache der Vendi sprach, schien er doch nichts von der Politik des Stammes zu wissen, er kannte nicht einmal den Namen des obersten Häuptlings, der
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auf Manatassi gefolgt war, nachdem die weißen Teufel diesen über den Fluß geschleppt hatten. »Von Manatassis sechs Brüdern starben fünf sehr schnell und geheimnisvoll. Sie hatten ein besonderes Bier getrunken, das der mittlere Bruder, Khani, gebraut hatte. Khani allein überlebte die Festlichkeiten.« Gondweni kicherte und zwinkerte dem Fremden vielsagend zu. »Er ist jetzt unser König, der Große Schwarze Stier, der Einsammler der Tribute, der Donner des Himmels, der fette Lustmolch von Vendi mit seinen 500 Frauen und seinen 50 jungen Knaben.« Gondweni spuckte ins Feuer und reichte den Bierkrug weiter. Als der Fremde ihn nahm, sah Gondweni, daß ihm die rechte Hand fehlte und er den Krug mit dem Armstumpf stützte. »Was ist mit Manatassis Beratern, seinen Hauptleuten, seinen Blutsbrüdern geschehen?« fragte der Fremde. »Wo sind sie jetzt?« »Die meisten von ihnen haben die Vögel gefressen.« Und Gondweni strich sich mit dem Zeigefinger über die Kehle. »Die meisten von ihnen?« »Einige sind zu Khani übergetreten und haben sein Salz gegessen – andere haben ihre Flügel ausgebreitet und sind davongeflogen.« Gondweni deutete auf die Berge, die sich gegen den Mondhimmel abhoben. »Einige sind Nachbarn von mir, Häuptlinge der Ausgestoßenen, sie zahlen niemandem Tribut und warten in den Bergen und wissen nicht worauf.« »Wer?« »Zingala.« »Zingala der Eisenschmied?« fragte der Fremde neugierig, und Gondwenis Gesichtsausdruck veränderte sich. Er sah den Fremden scharf an. »Es scheint mir, du weißt mehr, als ratsam ist«, sagte er leise. »Vielleicht sollten wir jetzt schlafen.« Er stand auf und wies auf
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eine Hütte. »Dort ist eine Schlafmatte für dich ausgebreitet.« Am nächsten Morgen war der Fremde vor Tagesanbruch verschwunden.
Eine tiefe Schlucht trennte die Berge. Auf einem moosbewachsenen und schlüpfrigen Pfad kletterte Manatassi nach oben. Sein rechter Armstumpf schmerzte unsäglich in der Kälte. Doch er beachtete den Schmerz nicht. Hoch über ihm auf der Felsspitze zeichnete sich die verkürzte Gestalt eines Mannes gegen den blaßblauen Mondhimmel ab. Die Gestalt stand absolut still, was ihr etwas Bedrohliches gab. Manatassi aß ein Stück Hirsekuchen und trank von dem eiskalten klaren Wasser, bevor er weiterkletterte. Jetzt standen noch mehr Figuren da und beobachteten ihn. Manatassi erkannte in einem von ihnen einen ehemaligen Hauptmann seines alten Regiments. Manatassi hielt unterhalb des Felsbrockens an, ließ den Umhang von seinem Kopf fallen und zeigte sein Gesicht, aber der Mann erkannte ihn nicht, er sah in diesem zerschundenen Gesicht, das von Schmerz und Haß gezeichnet und von der Peitsche verunstaltet war, nicht das seines Königs. »Habe ich mich so verändert?« dachte Manatassi verbittert. »Wird mich niemand wiedererkennen?« Der Mann und er starrten sich einige Sekunden lang an, dann sprach Manatassi. »Ich suche Zingala, den Eisenschmied.« Er wußte, daß Zingala, auch wenn er sich den Ausgestoßenen angeschlossen hatte, noch viele Kunden haben mußte. Er war ein bekannter Handwerker. Zu ihm würde man ihn durchlassen, zumal er allein und unbewaffnet war.
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Der Wachtposten auf dem Felsen wandte leicht den Kopf und wies mit dem Kinn die Schlucht hinauf; Manatassi zog weiter. Schmale Stufen führten neben dem Wasserfall die schwarzen Felsklippen hoch. Der Rauch des Schmelzofens wies Manatassi den Weg, und er gelangte schließlich zu einem natürlichen felsigen Amphitheater, einer weiten Mulde, in der Zingala seiner Arbeit nachging. Der alte Meister stand an einem der Schmelzöfen und packte das Erz in die Glut. Seine Lehrlinge waren um ihn versammelt, um die Schichten von Kalkstein und Holzkohle auf das Erz zu legen. Zingala richtete sich auf und hielt seinen schmerzenden Rücken, als er den Fremden näherkommen sah. Etwas an dem Schritt dieses Mannes war ihm vertraut, die Art, wie er seine Schultern hielt, den Kopf anwinkelte, und Zingala runzelte die Stirn. Er ließ seine Hände sinken und trat unsicher von einem Fuß auf den anderen. Das Gesicht des Mannes rührte eine tief verborgene Erinnerung in ihm auf. Der Fremde blieb vor Zingala stehen und blickte ihn unverwandt an – diese Augen, gelb, grimmig, unwiderstehlich. Schnell blickte er auf die Füße des Fremden und sah die tiefen Spalten zwischen den Zehen. Zingala stöhnte und warf sich mit dem Gesicht zu Boden. Er nahm einen von Manatassis deformierten Füßen und stellte ihn auf seinen eigenen frostgrauen Schädel. »Befiehl mir«, schrie er. »Befiehl mir, Manatassi, große schwarze Bestie, Donner der Himmel.« Als die anderen diesen Namen hörten, fielen sie alle vor ihm nieder. »Befiehl uns«, riefen sie. »Schwarzer Stier von tausend Kühen.« Manatassi blickte auf seine Gruppe Geächteter, die vor ihm auf dem Boden kroch, und leise, mit einer Stimme, die jedem
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ins Herz schnitt, sagte er: »Ich habe nur einen Befehl für euch, und der heißt – GEHORCHT!«
Zingala schwitzte, als er den letzten Lehmstöpsel herauszog, und das geschmolzene Metall wie ein feuriger Strom in die Sandformen floß. Mit besonderen Hämmern schmiedete er auf einem Amboß aus Eisenstein die Löwentatze mit ihren fünf massiven Krallen und ihrem Ballen aus solidem Metall. Er feilte und polierte sie, erhitzte sie wieder und härtete sie in Leopardenblut und Flußpferdfett. Einer der erfahrenen Lederhandwerker nähte eine Halterung aus grünem Elefantenleder und formte sie so, daß sie auf Manatassis rechten Armstumpf paßte. Die Eisentatze wurde fest mit dem Leder verzahnt, und als man sie an Manatassis Armstumpf gebunden hatte, wurde sie zu einer fürchterlichen Waffe. Khani, oberster Herrscher der Vendi und geckenhafter Halbbruder von Manatassi, bekam sie als erster zu spüren: ihm riß die eiserne Tatze seine Schädeldecke auf.
Sondala, der König der Bethelezi, hatte viele Untertanen, unzählige Kühe, ein bißchen Weideland und zu wenig Wasser, um sein Volk und seine Rinder durch eine Dürre zu bringen. Von allen Stämmen an den Ufern des großen Flusses war seiner als letzter aus dem Norden gekommen, und er war eingekeilt zwischen den mächtigen Vendi auf der einen Seite und
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den braunhäutigen langbärtigen Draven auf der anderen. Er saß am Feuer und lächelte dem hageren Mann zu, der ihm gegenüber in der Hütte saß – diesem König mit dem verwüsteten Gesicht, den Vogelfüßen und der eisernen Krallenhand. »Du hast 12 Regimenter von jeweils 2000 Mann«, erklärte ihm Manatassi. »Du hast fünf Eliteeinheiten von jeweils 5000 Jungsoldaten. Bei der letzten Zählung hattest du 127 000 Rinder, Stiere, Kühe, Kälber und Ochsen.« Sondale grinste verlegen, er war erstaunt über die genauen Informationen des Vendi-Königs. »Wo wirst du Nahrung und Gras und Wasser finden, um eine solche Vielzahl zu unterhalten?« fragte Manatassi, und Sondala lächelte nur. »Ich werde dir Acker- und Weideland geben. Ich werde dir Land geben, fruchtbar und saftig, Land, so weit, daß dein Volk die Grenzen nicht erreicht.« »Was wünschst du von mir?« flüsterte Sondala endlich, noch immer lächelnd. »Ich möchte deine Regimenter unter meinem Kommando haben. Ich möchte deinen Speer in meiner Hand, ich möchte, daß dein Schild an meiner Seite ist.« »Und wenn ich mich weigere?« fragte Sondala. »Dann werde ich dich töten«, sagte Manatassi. »Und ich werde deine Regimenter nehmen und deine Elitetruppen und deine 127 000 Rinder bis auf zehn, die ich an deinem Grab als Ehrung für deinen Geist opfern werde.« Dann grinste auch Manatassi, und Sondalas eigenes Lächeln gefror. »Ich bin dein Hund«, sagte er heiser und kniete vor Manatassi nieder. »Befiel mir.« »Ich habe nur einen Befehl«, sagte Manatassi leise. »Und der Befehl heißt, GEHORCHE!«
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Im ersten Jahr schloß Manatassi Verträge mit den Vingo, den Satassa und den Bey. Er besiegte die Xhota in einer einzigen verheerenden Schlacht, die nur zwanzig Minuten dauerte. Statt alle Männer hinzumorden und ihre Frauen und Rinder zu nehmen, wie es Brauch war, ließ Manatassi nur den König und die königliche Familie erdrosseln und zwang die besiegten Regimenter, ihm den Gefolgseid zu schwören. Im zweiten Jahr marschierte Manatassi nach Westen bis zur Küste. Er kämpfte vier große Schlachten, erdrosselte vier Könige – verhandelte mit zwei weiteren und vergrößerte seine Regimenter um fast 100 000 Krieger. Die Leute in der Nähe der großen schwarzen Bestie wußten, daß er selten schlief. Es schien, als ob ihn eine finstere Macht vorantrieb. Er lachte nie, und selten sah man ihn lächeln. Er benutzte Frauen mit einer schnellen Brutalität, die sie zitternd und weinend zurückließ, und teilte seine Kameradschaft mit niemandem.
Scheich Hassan wusch seine Finger in der silbernen Schale und trocknete sie mit einem Seidentuch. »Er will uns mit seiner Truppenstärke beeindrucken«, murmelte Omar, sein jüngerer Bruder. »Das Schauspiel soll uns überwältigen.« Hassan spuckte einen Strahl hellroten Wein in den Staub, und wischte seinen Bart mit einem Seidentuch, während er beobachtete, wie die kahlen Berge zum Leben erwachten, wie ungeheure Menschenmassen ins Tal drängten, Regimenter und Schwadronen, bis die Berge vollkommen bedeckt waren. Hassan wurde nervös, seine langen schlanken Finger spielten unruhig am Knauf seines Degens. Er war gekommen, um mit dem
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neuen schwarzen Herrscher, der plötzlich aus dem mysteriösen Land jenseits des Flusses aufgetaucht war, über Handel und Grenzen zu reden. Stattdessen sah er sich einer der größten Armeen aller Zeiten gegenübergestellt. »Er will uns beeindrucken«, wiederholte Omar, und Hassans Antwort klang schroff. »Wenn das seine Absicht war, dann ist es ihm gelungen. Ich bin beeindruckt.« Und weiter ergossen sich die Regimenter in dichten Kolonnen über den Horizont. Am Nordufer stockte plötzlich jegliche Bewegung, und eine schwere bedrohliche Stille lag über den schwarzen Menschenmassen. Dann erbebte die Erde unter dem Gestampfe von hunderttausenden von Füßen, die Luft zitterte vom Geräusch der Speere, die gegen Schilde geschlagen wurden, und wie mit einer Stimme brüllten die Krieger den königlichen Salut. Die Lärmwoge rollte über das Tal und erstarb im Echo der südlichen Hügel. Wieder legten sich Stille und Schweigen über das Tal, dann trat ein Mann vor die Menge und schritt auf die wartenden Scheichs unter dem Feigenbaum zu. Daß er ohne Eskorte kam, war ein Zeichen der Verachtung, ein Zeichen seiner Macht und Unverwundbarkeit. Er hatte einen Umhang aus Leopardenfell an und trug weder Schmuck noch Waffen. Mit den harten gelben Augen eines Raubvogels sah er die Scheichs durchdringend an. »Ich bin Manatassi«, dröhnte seine tiefe Stimme. »Ich bin die Schwarze Bestie.« »Ich bin Hassan, Scheich von Sofola, Prinz von Monomatapa und Vizekönig des Herrschers von Chan.« »Ihr liebt das gelbe Metall«, Manatassis Worte klangen vorwurfsvoll, und Hassan war einen Moment verlegen. »Ja«, sagte Omar. »Wir lieben es.« »Ich werde euch genug geben, um euch zu übersättigen«,
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sagte Manatassi. Omar leckte sich in einer unbewußten Geste der Gier die Lippen. »Du mußt große Mengen von diesem kostbaren Metall haben?« fragte Hassan; diese direkte Geschäftsmethode war geschmacklos. Der Mann war ein Wilder, er verstand die Feinheiten der Diplomatie nicht. »Woher kommt es?« »Aus den Schatzkammern des Hauses von Lannon Hycanus, dem Grau-Löwen von Opet und Herrscher der vier Königreiche«, sagte Manatassi. Hassan runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht –« »Dann bist du dumm«, sagte Manatassi. Hassan unterdrückte eine wütende Reaktion und fragte: »Erkläre es mir. Planst du, Opet zu bekriegen?« »Ich werde es zerstören – sein Volk, seine Städte und seine Götter. Ich werde keine Spur von ihnen zurücklassen, kein einziges Lebenszeichen.« Der riesige Neger zitterte, während er dies sagte, und weißer Speichel befeuchtete seine vollen purpurnen Lippen. Manatassi brüllte auf. Er sprang auf die Scheichs zu, zog unter seinem Umhang die eiserne Krallenhand hervor und hielt sie dicht vor Omars Gesicht. Omar zuckte zurück. Omar lächelte fein. »Wir haben von einer Schlacht an einem Ort namens Sett gehört.« »Mach dich nicht lustig über mich, kleiner brauner Mann, oder ich werde dir die Leber herausreißen.« Omar stammelte vor Schrecken. »Friede«, warf Hassan schnell versöhnlich ein. »Mein Bruder wollte nur andeuten, daß die Legionen von Opet schwer zu zerstören sein werden.« Manatassi schnappte nach Luft. »Seht ihr sie?« Er wies auf seine Armee, die noch immer die Hügel verdunkelte.
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»Was willst du von uns?« beeilte sich Hassan zu fragen. »Zweierlei«, antwortete Manatassi. »Ungehinderten Durchzug meiner Armeen durch euer Territorium. Ihr müßt euer gegenseitiges Verteidigungsabkommen mit Opet brechen – und ich möchte Eisenwaffen. Meine Schmiede würden noch zehn Jahre brauchen, um so viele Männer zu bewaffnen. Ich will Waffen von euch.« »Als Gegenleistung wirst du uns das Gold von Opet liefern und die Minen des mittleren Königreiches?« »Nein!« fauchte Manatassi ärgerlich. »Ihr könnt alles Gold haben. Ich habe keine Verwendung dafür. Es ist ein verfluchtes Metall, weich und unbrauchbar. Ihr könnt alles nehmen, was Opet hat, aber –«, und hier hielt er inne, »die Minen des mittleren Königreichs werden nie wieder in Betrieb genommen. Nie wieder werden Männer hinuntersteigen, um einen unnatürlichen Tod unter der Erde zu sterben.« »Du wirst deine Waffen bekommen. Ich werde es veranlassen.« »Wann?« verlangte Manatassi. »Bald«, versprach Hassan, »sobald meine Schiffe von dem Land auf der anderen Seite des östlichen Meeres zurückkehren.«
Lannon ist in den letzten paar Jahren gealtert, dachte Huy. Aber die Veränderung stand ihm: die Falten, die der Kummer in sein Gesicht gemeißelt hatte, verliehen ihm Würde. Sein Körper war jung und kräftig wie eh und je. Lannon trug nur einen Lendenschurz, als er da mit der Harpune in der Hand am Bug des Schiffes stand. Gespannt starrte er ins Wasser und gab Huy Zeichen, wie er
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den Kahn zu steuern hätte. Plötzlich holte Lannon zu einem gewaltigen Wurf aus. Das Wasser wallte und wirbelte. Die Leine, die im Boot lag, schoß über die Seite, verschwand zischend im Wasser. »Ha!« schrie Lannon. »Ein guter Wurf! Hilf mir, Huy!« Zusammen sprangen sie zum Seil, vor Aufregung lachend und dann vor Schmerz fluchend, als das abrollende Seil ihre Finger verbrannte. Gemeinsam bremsten sie die Wucht des Fisches. Er zerrte den Kahn hinaus in den See, nach dem Schutz der tieferen Gewässer suchend. »In Baals heiligem Namen, halt ihn, Huy«, keuchte Lannon. »Laß ihn nur nicht hinaus ins Tiefe.« Und gemeinsam schafften sie es endlich, den Fisch näher ans Boot heranzuziehen. Der schlug wild um sich, drehte sich unter dem Kahn in Kreisen. Das Boot neigte sich gefährlich zur Seite, als Lannon mit dem Totschläger auf den glitzernden schwarzen Kopf zielte. Die Oberfläche explodierte im Todeskampf des Fisches, das Wasser stürzte über sie hinein. »Schlag zu!« schrie Huy. Keuchend hämmerte Lannon auf das riesige Maul ein. Mehrere ungezielte Schläge trafen die Seite des Bootes und zersplitterten die Planken. »Nicht das Boot, du Narr. Den Fisch!« schrie Huy, und endlich war der Fisch tot und hing an der Seite des Kahns im Wasser. Lachend und fluchend zerrten sie ihn an Bord. »Es ist ein Ungeheuer«, keuchte Huy. »Der größte, den ich je gesehen habe.« »Du hast mich einen Narren genannt«, sagte Lannon. »Nein, Majestät, ich sprach mit mir selbst.« Huy grinste und goß Wein für sie beide ein. Lannon hob lachend seine Schale zu Huy. »Fliege für mich, Sonnenvogel.« »Brüll für mich, Grau-Löwe.« Sie leerten gleichzeitig ihre
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Schalen und lachten zusammen wie Kinder. »Es ist zu lange her, Huy«, sagte Lannon. »Wir sollten das häufiger machen. Die Zeit vergeht schnell; unsere Sorgen und Pflichten verzehren uns.« Ein Schatten zog über Lannons Stirn, er seufzte. »Ich bin in den letzten Tagen glücklich gewesen, nach vielen Jahren wirklich glücklich.« Fast schüchtern schaute er zu Huy auf. »Du tust mir gut, alter Freund.« Verlegen ergriff er Huys Schulter. »Ich weiß nicht, was ich ohne dich tun würde. Verlaß mich nie, Huy.« Huy errötete vor Verlegenheit. Er war diese Stimmung bei Lannon nicht gewohnt. »Nein, Majestät«, erwiderte er heiser, »ich werde immer an deiner Seite sein.« »Süßer Baal, wir werden sentimental wie kleine Mädchen – ob es das Alter ist, Huy?« Und dann lachten beide. Am selben Abend versammelten sich alle um Lannon und hörten den Bericht des Boten vom Norden. Er beschrieb die Wellen der Unruhe, die in den letzten Wochen über die nördlichen Grenzen geschlagen waren, kleine Zwischenfälle, Manöver großer Armeen, die man in der Ferne sah, den Rauch und die Feuer riesiger Lager. Spione berichteten von Gerüchten über merkwürdige Begebenheiten, von einem neuen Gott mit den Krallen eines Adlers und den Tatzen eines Löwen, der die Stämme in ein wunderbares Land führen wolle. Kundschafter hatten von zahlreichen dravischen Schiffen berichtet, die entlang der östlichen Mündung segelten. Ein ständiges Kommen und Gehen, geheime Zusammentreffen, von denen keiner etwas Genaueres wußte. Unruhe herrschte, ein Gefühl von wachsendem Druck und von Spannung, von heimlichem Treiben. Man spürte etwas, aber man verstand nicht, Zeichen deuteten ins Ungewisse.
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Lannon hörte schweigend zu. Seine Brauen waren leicht gerunzelt. »Mein Kommandant fürchtet, du könntest das alles als Phantasterei abtun, als das Geschrei von Eulen.« »Nein«, sagte Lannon »dafür kenne ich den alten Marmon zu gut. Er würde eine Schlange nicht mit einem Regenwurm verwechseln.« Er schwieg eine Weile, dann schaute er den jungen Offizier an. »Du hast deine Sache gut gemacht.« Lannon dachte lange nach. Schließlich wandte er sich Huy zu: »Ich werde dich an die Grenze schicken. Sei du mir Auge und Ohr, alter Freund.« »Ich werde nicht lange fort sein, mein Herz«, entschuldigte sich Huy, obwohl Tanith nichts gesagt hatte. »Ich werde zurück sein, bevor du merkst, daß ich gegangen bin.« Taniths Gesicht verzog ein leichtes Zucken. »Es gibt niemand anderen, den der König mit dieser Aufgabe betrauen könnte. Es ist eine sehr ernste Angelegenheit.« »Ich bin sicher«, murmelte Tanith und betrachtete ihre Hand. »Wie es auch niemand anderen gab, der mit ihm fischen konnte.« »Nun, Tanith«, versuchte Huy zu erklären. »Lannon und ich sind seit unserer Kindheit Kameraden. Früher sind wir häufig zu der Insel gefahren. Es war wie eine Pilgerreise zurück in unsere Jugend.« »Während ich hier alleine sitze, mit einem Bauch voll deines Kindes«, schmollte sie. »Es waren doch nur fünf Tage«, versuchte Huy sie zu besänftigen. »Nur fünf Tage!« äffte Tanith ihn nach. »Ich schwöre bei der Liebe meiner Göttin, daß ich dich nicht begreife! Du versicherst mir immer deine Liebe, wenn aber Lannon Hycanus mit dem kleinen Finger winkt, kannst du gar nicht schnell genug zu
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ihm kommen!« »Tanith!« Huy fing an zu grinsen. »Du bist ja eifersüchtig!« »Eifersüchtig!« brauste Tanith auf und warf die Obstschale zu Boden. Die alte Aina, die am Ende der Terrasse im Sonnenlicht schlummerte, erwachte von dem Klirren und flüchtete zusammen mit Huy. »Was ist mit ihr los?« quakte Aina. »Sie weint«, sagte Huy. »Geh zu ihr.« »Und wenn sie mich wieder angreift?« fragte Huy nervös. »Versohle sie«, unterwies ihn Aina. »Und dann gib ihr einen Kuß.« Sie grinste ihn vielsagend an. »Verzeih mir, hoher Vater«, flüsterte Tanith, und ihre Tränen tropften warm auf Huys Hals. »Es war kindisch von mir, ich weiß, aber jeder Augenblick ohne dich ist ein vergeudetes Stückchen meines Lebens.« Huy hielt sie fest in seinen Armen und streichelte ihr Haar. »Kann ich dich nicht diesmal wenigstens begleiten?« Es war ein letzter Versuch. »Bitte, mein Geliebter!« Huys Antwort klang bedauernd, aber entschieden. »Nein, ich reise schnell und unbequem, und du bist bereits im dritten Monat.«
Marmon war der Hauptmann des Nordens, Gouverneur des nördlichen Königreiches und Kommandant der Legionen und Festungen, die die nördliche Grenze bewachten. Er war ein guter Freund von Huy, wenn er auch dreißig Jahre älter war. Außerdem war er einer der verläßlichsten Generale des Reiches, und zwei Tage lang diskutierten Huy und er die
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Situation an der Grenze. Am zweiten Abend speisten sie gemeinsam in der kühlen Abendbrise auf dem Schutzwall der Festung. Ein Sklavenmädchen rieb ihre Glieder mit parfümiertem Öl ein, um die Moskitos fernzuhalten, und Marmon füllte eigenhändig Huys Weinschale. »Ich richte nun endlich ein System von Spionen ein, auf die ich mich verlassen kann«, sagte Marmon. »Ich habe meine Leute in den Stämmen, die mir regelmäßig berichten.« »Ich würde gerne einige von ihnen kennenlernen«, unterbrach Huy. »Mir wäre lieber, du würdest es nicht tun, Heiligkeit«, begann Marmon, dann bemerkte er Huys Gesichtsausdruck und fuhr fort: »Ich erwarte, daß einer von ihnen mir in den nächsten Tagen Bericht erstattet. Er ist mein zuverlässigster Spitzel. Ein Mann namens Storch, ein Vendi, ein ehemaliger Sklave. Durch ihn rekrutiere ich einen Stab von Spionen auf der anderen Seite des Flusses.« »Ich werde mit ihm sprechen«, sagte Huy, und dann wechselten sie das Thema. Es war schon spät, als ein Adjutant zu Marmon kam und leise mit ihm sprach. Er nickte und ließ den Adjutanten abtreten, bevor er Huy zuflüsterte: »Heiligkeit, der Mann, von dem ich dir erzählte, ist eingetroffen.« Huy legte seine Laute beiseite. »Wo ist er?« »In meinem Quartier.« »Laß uns zu ihm gehen«, schlug Huy vor. Storch war ein großer Mann, von der typischen geschmeidigen Grazie, die so viele Vendi besaßen, aber die glatte samtene schwarze Haut seiner Schultern war von den breiten Narben der Sklavenpeitsche gezeichnet. Er bemerkte Huys Blick und zog seinen Umhang zusammen. Es schien Huy, als hätte er einen Funken Trotz m seinen Augen aufblitzen sehen.
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»Er versteht kein Punisch«, erklärte Marmon. »Aber ich weiß, daß du seinen Dialekt sprichst.« Huy nickte, und der Spion schaute ihn noch einen Augenblick länger an, bevor er sich Marmon zuwandte. Seine Stimme war ruhig, ohne einen Unterton von Ärger oder Vorwurf. »Wir hatten vereinbart, daß niemand anderer mein Gesicht sehen würde«, sagte er. »Dies ist etwas anderes«, erklärte Marmon schnell. »Dies ist kein einfacher Mann, sondern der Hohepriester von Opet und General aller Armeen des Königs.« Marmon hielt einen Moment inne. »Dies ist Huy Ben-Amon.« Der Spion nickte, das Gesicht noch immer ausdruckslos, selbst als Huy ihn auf Vendi ansprach. Sie redeten eine Stunde lang, und am Ende sagte Huy, auf punisch jetzt, zu Marmon: »Das stimmt mit vielem nicht überein, was du mir berichtet hast.« Huy runzelte die Stirn und schlug verärgert mit den Knöcheln auf die Tischplatte. »Dieser Mann hat nie etwas von einem Gott mit Löwenkrallen gehört, oder von Regimentern ausgebildeter und mit den Waffen der Draven bewaffneter Soldaten.« »Ja«, stimmte Marmon zu. »Dieser Teil des Flusses ist ruhig. Unsere Berichte stammen von weiter östlich.« »Hast du auch dort Spione?« fragte Huy. »Einige«, nickte Marmon, und Huy dachte einen Augenblick nach. »Dann werde ich ostwärts reisen«, entschied er. »Ich werde in der Morgendämmerung aufbrechen.« »Die Patrouillengaleere wird in fünf Tagen eintreffen.« »Vom Deck einer Galeere aus kann ich nichts sehen. Ich werde zu Fuß gehen.« »Ich werde vor Sonnenaufgang eine Eskorte bereitstellen«, schlug Marmon vor.
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»Nein«, wies Huy das Angebot zurück. »Ich komme schneller voran und lenke weniger Aufmerksamkeit auf mich, wenn ich allein reise.« Er blickte auf Storch. »Dieser Mann kann mich führen, wenn er so zuverlässig ist, wie du sagst.« Marmon sprach mit dem Sklaven und entließ ihn mit den Worten: »Du kannst jetzt gehen. Iß und ruh dich aus, und sei vor Sonnenaufgang bereit.« Huy sah ihm lange nach, dann fragte er: »Wieviel zahlst du so einem?« »Sehr wenig«, gab Marmon zu. »Salz, Glasperlen, einigen kupfernen Zierat.« »Ich frage mich, warum er es tut«, sagte Huy leise. »Warum er für uns arbeitet, wenn die Narben der Peitsche auf seiner Haut noch frisch sind.« »Ich wundere mich schon lange nicht mehr über die Menschen«, sagte Marmon. »Ich habe zuviel an merkwürdigem Verhalten gesehen, um noch die Motive eines Mannes durchschauen zu wollen.« »Ich höre nie damit auf«, murmelte Huy und sah noch immer dem Spion nach, besorgt über die Falschheit des Mannes, die so sehr gegen seinen eigenen Ehrbegriff verstieß.
Huys Versuche, in den nächsten vier Tagen mehr über den Spion zu erfahren, waren nicht sehr erfolgreich. Storch war ein schweigsamer Mann, sprach nur, wenn er direkt gefragt wurde, und antwortete so knapp wie möglich. Er guckte Huy nie wirklich an; seine Augen blickten an seinem Gesicht vorbei. Huy hatte in ihm einen undurchdringlichen Begleiter, wenn auch den besten Führer, der jede Krümmung des Flusses und jeden Winkel des Landes kannte.
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Sie besuchten zwei Festungen am Südufer, und von den dort stationierten Männern bekam Huy viele wertvolle Informationen. Es gab Hinweise, daß große Verbände den Fluß zu geheimen Zwecken überquert hatten, und andere Anzeichen verborgener Aktivität, die Huys Unruhe verstärkten. Es störte ihn, daß diese Zeichen in Widerspruch zu Storchs Versicherung standen, auf der anderen Seite des Flusses sei alles ruhig und sicher. Sie reisten schnell und unauffällig, liefen meist in der Kühle des Abends und bei Nacht, ruhten während der brütenden Mittagshitze. Sie aßen wenig und verschwendeten keine Zeit auf die Jagd. Am vierten Tag erreichten sie einen kleinen Granithügel, von dem aus sie einen großen Teil des Tals überschauen konnten. Vor ihnen beschrieb der Fluß einen gewaltigen Bogen nach Süden, eine breite glitzernde Schleife, die sich wieder zum Ausgangspunkt zurückzog. Dahinter lag der flache, solide Bau einer weiteren Garnison. Von den Kochfeuern stieg der Rauch wie zarte Federn in die stille heiße Luft. Huy betrachtete die Flußkrümmung eine ganze Weile und überlegte, ob er einen schweren Tagesmarsch oder die gefährlichere Abkürzung über den Hals der Krümmung wählen sollte. »Storch, können wir den Fluß überqueren? Gibt es hier Männer von den Stämmen?« Der Spion wich Huys prüfendem Blick mit unbewegter Miene aus. Er saß ganz ruhig auf dem Granitfelsen neben Huy – und Huy dachte schon, er habe die Frage vielleicht nicht verstanden. »Der Weg wäre kürzer, wenn wir quer durch die Krümmung marschierten. Besteht Gefahr?« fragte er wieder. Diesmal antwortete Storch:
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»Ich werde es auskundschaften. Warte hier auf mich.« Eine Stunde vor Anbruch der Dunkelheit kam er zurück und führte Huy hinunter zum Flußufer. Im Schilf versteckt lag ein schmaler Einbaum. Das Holz, von Würmern zerfressen, stank nach altem Fisch. Huys Mißtrauen flammte auf. »Wo hast du das gefunden?« »Eine Fischerfamilie lagert flußabwärts.« »Wieviele?« »Vier«, antwortete Storch. »Sind es Vendi?« »Nein, Männer von Sofia.« »Krieger?« »Fischer. Alte Männer mit grauen Köpfen.« »Hast du ihnen von mir erzählt?« »Nein.« Huy zögerte und suchte in Storchs ausdruckslosen Augen nach irgendeinem verräterischen Zeichen. »Nein«, sagte Huy. »wir werden den Fluß nicht überqueren. Wir nehmen den langen Weg.« Er wollte Storch nur auf die Probe stellen. Er wartete auf seine Reaktion, wartete darauf, daß er Einspruch erheben und versuchen würde, ihn umzustimmen, damit er doch den Fluß überquerte. »Du bestimmst«, nickte Storch und begann das Kanu mit Schilf zuzudecken. »Also gut«, stimmte Huy zu, »setz mich über.« Storch nutzte geschickt die Strömung, um das zerbrechliche Kanu über den Fluß zu steuern. Vor ihnen klatschten Kormorane aufs Wasser, und lautlos glitten Krokodile vorbei. Sie stießen an ein schlammiges Ufer, das von unzähligen Spuren tränkender Tiere übersät war. Storch versteckte das Kanu und führte Huy die Uferböschung hinauf in ein dichtes Sumpfgrasfeld. Bis zu den Hüften reichten ihnen die Halme, der Boden war feucht und gab unter ihren Füßen nach.
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Mitten in der Lichtung hielt Storch plötzlich an und gab Huy ein Zeichen, still zu sein. Er winkelte lauschend den Kopf an. Regungslos standen sie, dann bedeutete Storch Huy, zu bleiben wo er war, während er selbst vorwärts eilte. Hundert Schritte von Huy entfernt blieb Storch wieder stehen, aber diesmal drehte er sich zu Huy um. Zum ersten Male zeigte sein Gesicht einen Ausdruck; eine wilde Begeisterung, ein triumphierendes Strahlen leuchteten auf. Er wies mit dem rechten Arm auf Huy und schrie in Vendi: »Dort ist er! Ergreift ihn!« Das Gras raschelte und zitterte, als würde ein starker Wind hineinfahren, und eine Reihe Vendi-Krieger nach der anderen erhob sich aus ihrem Versteck. Sie umzingelten Huy und drängten auf ihn zu. Wie der Klammergriff des Würgers an der Kehle seines Opfers, so schloß sich der Ring der Krieger um Huy. Wild blickte er um sich nach einem Fluchtweg. Es war aussichtslos. Er riß die Geieraxt empor, und mit einem wütenden Schrei der Verzweiflung rannte er gegen die Mauer der Krieger an. Das Fest der Fruchtbaren Erde stand wieder bevor. In zwei Wochen würde es beginnen. Lannon freute sich darauf, nur bedauerte er, daß Huy nicht rechtzeitig aus dem Norden zurück sein würde, um an den Feierlichkeiten teilzunehmen. Dies beeinträchtigte seine eigene Freude. Lannons Stimmungen waren fast immer flüchtig, und nach ein paar Schritten war seine gute Laune verflogen. Als er in die Audienzkammer trat, blickte er finster drein. Er sah das Orakel auf seinem Thron. Sie saß dort wie eine Statue aus Elfenbein, die Hände im Schoß gefaltet, das Gesicht stark geschminkt, so daß es einer Maske ähnelte. Die Stirn war mit Antimonpuder geweißt, die Augenlider metallblau gefärbt, und der Mund wie ein scharlachroter Schlitz im blassen Ge-
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sicht. Er hatte einen Angriffspunkt für seine schlechte Laune gefunden. Während er sich nachlässig verbeugte, erinnerte er sich, wie häufig diese Hexe ihm in die Quere gekommen war und ihn aus der Fassung gebracht hatte. Er haßte diese Wahrsagesitzungen, obwohl sie ihn auch wieder auf merkwürdige Weise faszinierten. Er wußte, daß viele ihrer Voraussagen Unsinn waren, ihr höchstwahrscheinlich von der politisch aktiven Priesterschaft eingegeben. Und doch fand sich darunter manche scharfsinnige Bemerkung, mancher hervorragende Rat, und gelegentlich waren die Worte der Hexe sogar Gold wert. Im Lauf der Zeit hatte er seine Ohren auf die unterschiedlichen Nuancen in der Stimme des Orakels einstellen gelernt. Lannon reagierte sehr feinfühlig auf diese Unterschiede, besonders auf einen sehr seltenen Ton, eine monotone, tiefe Stimme, mit der die Hexe die wunderbaren gottgegebenen Wahrheiten wirklicher Prophezeiungen zu verkünden schien. Er baute sich vor ihr auf, breitbeinig, die Fäuste in die Hüften gestützt. Mit dem Hochmut eines Herrschers und seinem unkontrollierten Zorn stellte er seine Fragen. Tanith haßte diese Sitzungen mit dem Grau-Löwen. Er erschreckte sie jedesmal. Seine hellen stahlblauen Augen strahlten den kalten Tötungsdrang eines Raubtiers aus, und seine Züge zeigten kalte, unnachgiebige Leidenschaft. Gewöhnlich wußte sie sich durch Huys beruhigende Gegenwart hinter den Vorhängen geschützt, aber heute morgen war sie allein – und es war ihr übel. Die Nacht war erstickend heiß gewesen, und das Kind in ihrem Bauch schien ihr schwer wie ein Stein. Unruhig war sie von ihrem Lager aufgestanden, die Haut feucht vom Nachtschweiß, und hatte ein leichtes Morgenmahl hinuntergewürgt, nur um es in einem Anfall schwindelnder Übelkeit sofort wieder von sich zu geben.
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Der bittere Geschmack von Galle lag ihr im Hals, und Schweiß rann unter ihrem Umhang über ihre Schenkel und ihren fruchtbaren Bauch. Sie verkrampfte sich, rang nach Luft, ihr Körper war schlaff und schwach, während der König ungeduldig seine Fragen an sie richtete. Sie war unvorbereitet, ihre Antworten bestanden aus leeren Phrasen, die sie ohne Überzeugung aussprach. Verzweifelt versuchte sie, sich zu konzentrieren, sich zu erinnern, was Huy ihr gesagt hatte. Der König wurde unruhig, ging auf und ab, quälte sie mit seiner Energie. Sie spürte, wie der Schweiß unter ihrer Kosmetikmaske ausbrach. Ihre Haut juckte und schwoll, die Poren waren von der Farbe verklebt, zu gerne hätte sie alles abgewischt. »Los, Hexe! Los, du große Seherin. Es ist eine einfache Frage. Beantworte sie!« Der König war vor ihr stehengeblieben, einen Fuß auf der Stufe zum Thron, den Kopf stolz zurückgeworfen und ein abfälliges Grinsen um den Mund. Tanith hatte seine Frage nicht gehört, sie suchte nach einer Antwort, und wieder überkam sie eine Welle der Übelkeit. Der Schweiß drang durch die Farbschicht an ihrer Oberlippe, und es schwindelte ihr. Lannons Gesicht verschwand, Dunkelheit umgab sie. Ihr Gesichtsfeld verengte sich, sie blickte einen langen dunklen Schacht hinunter, an dessen Ende Lannons Gesicht wie ein goldener Stern brannte. In ihren Ohren sauste es, es war das Tosen des Sturms in den Baumwipfeln. Dann erstarb dieses Geräusch, es wurde still, und eine Stimme sprach. Die Stimme klang heiser und dunkel, gleichmäßig und monoton, die Stimme einer tauben oder vom Rauch der Bhang-Pfeife betäubten Frau. Überrascht stellte Tanith fest, daß die Stimme aus ihrer eigenen Kehle drang, und die Worte entsetzten sie.
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»Lannon Hycanus, letzter Grau-Löwe von Opet, befrage nicht die Zukunft. Deine Zukunft ist Schwärze und Tod.« Sie sah, wie sich ihr eigener Schock auf Lannons Gesicht spiegelte, wie die Farbe aus seinem Gesicht wich und seine Lippen fahl wurden. »Lannon Hycanus, Gefangener der Zeit, du schreitest hinter den Stäben deines Käfigs. Schwärze erwartet dich.« Lannon schüttelte den Kopf, er wollte diese Worte nicht hören. Die goldenen Locken tanzten auf seinen Schultern, und er hielt beide Hände im Sonnenzeichen hoch, um die Worte, die wie Kriegspfeile in seine Seele stachen, abzuwenden. »Lannon Hycanus, deine Götter verlassen dich, sie steigen empor und lassen dich in der Schwärze zurück.« Lannon taumelte zurück und schlug schützend die Hände vor das Gesicht, aber unbarmherzig verfolgten ihn die Worte. »Lannon Hycanus, der du die Zukunft zu erfahren suchst, wisse denn, daß sie dir auflauert, wie der Löwe dem unvorsichtigen Reisenden auflauert.« Lannon schrie auf, seine Angst explodierte in Gewalt. »Teufelei!« schrie er und sprang die Stufen zum Thron hinauf. »Hexerei!« Er schlug Tanith mit der flachen Hand ins Gesicht, daß ihr Kopf unter seinen schweren Schlägen hin und her geworfen wurde. Die Kapuze fiel ihr vom Kopf, ihr dunkles Haar löste sich. Die Schläge klatschten laut, aber Tanith gab keinen Laut von sich. Ihr Schweigen machte Lannon nur noch rasender. Er griff ihren Umhang und zerrte sie vom Thron. »Hexe!« schrie er und warf sie die Stufen hinunter. Sie fiel schwer und rollte am Boden, versuchte aufzustehen, aber da traf sie Lannons erster Tritt in den Bauch, und sie krümmte sich zusammen. Schützend legte sie die Hände darüber und stöhnte vor Schmerz, als seine Füße wieder in sie hineintraten. Lannon brüllte und trat in wahnsinniger Wut, um die Frau
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und die Sätze, die sie gesprochen hatte, zu zerstören. Dann war die Kammer plötzlich von Priesterinnen angefüllt, und Lannon trat keuchend zurück, seine blassen Augen glänzten wie im Irrsinn. »Majestät!« Die ehrwürdige Mutter eilte vor, und der Wahn wich aus Lannons Gesicht, aber er bebte noch immer, und seine weißen Lippen zitterten. Er kehrte sich ab und eilte aus der Kammer; Tanith ließ er wimmernd auf dem Steinboden zurück. Der heilige Rat der Astarte trat in der Kammer der Ehrwürdigen Mutter zusammen. Er bestand aus der Hohenpriesterin und zwei Beraterinnen, beides ältere Priesterinnen, direkte Anwärterinnen auf das Amt der Ehrwürdigen Mutter. Die Forderung des Grau-Löwen wurde verlesen. »Wie können wir eine unserer Schwestern der weltlichen Macht des Grau-Löwen ausliefern? Welchen Präzedenzfall würden wir damit schaffen?« fragte Schwester Alma. Sie war klein und verrunzelt, mit wachen, lebendigen Augen. »Welches Verbrechen wird dem Kind vorgeworfen? Wenn sie geirrt hat, dann ist es unsere Aufgabe, über sie zu richten und sie zu bestrafen. Wir müssen unsere Schwester schützen, selbst wenn wir uns damit dem König widersetzen.« »Kann sich die Schwesternschaft so eine großartige Geste leisten?« fragte Schwester Haka spitz. Sie war dunkelhäutig, das Gesicht von Pockennarben gezeichnet, ihr Haar mit grauen Strähnen durchzogen; ihre Stimme war tief wie die eines Mannes. Sie war noch keine vierzig Jahre alt und würde die Ehrwürdige Mutter zweifellos überleben. Bis vor einiger Zeit schien es sicher, daß sie später zum Oberhaupt der Schwesternschaft ernannt würde – eine Stellung, nach der ihr Ehrgeiz verlangte. Doch seitdem das Orakel in Opet aufgetaucht war, war dies fraglich geworden. Die Geschichte bewies, daß jedes Orakel früher oder später über den Anspruch anderer hinweg zur
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Ehrwürdigen Mutter ernannt wurde. Außerdem genoß Tanith offensichtlich die besondere Gunst des Hohenpriesters. Tanith war also eine gefährliche Rivalin für sie, aber von diesen rein politischen Erwägungen abgesehen, hatte Schwester Haka noch eine persönliche Rechnung zu begleichen. Noch immer röteten sich ihre Wangen vor Zorn, wenn sie daran dachte, wie Tanith ihre Annäherungsversuche abgewiesen hatte. Trotzdem verlangte es sie noch immer nach diesem Mädchen. »Sind wir denn stark genug, uns der Forderung des Königs zu widersetzen?« Sie ließ die Frage offen und starrte in die Gesichter ringsum. Sie alle wußten, wie mächtig der GrauLöwe war. Und noch nie hatte jemand, weder Edler noch Priester, weder Freund noch Feind, sich ihm widersetzt. Das Schweigen hielt an, bis die Ehrwürdige Mutter stockend sprach. »Vielleicht – wenn man beweisen könnte, daß das Mädchen gesündigt hat, ein Verbrechen begangen hat.« Mehr brauchte Schwester Haka nicht, jetzt war sie am Zuge. »Schickt nach dem Mädchen«, wies sie an. »Laßt sie uns befragen.« Aina half Tanith in die Kammer, beide schlurften vornübergebeugt, die eine wegen des Alters, die andere vor Schmerzen. Sie stützten sich gegenseitig, und die uralte Priesterin flüsterte dem verletzten Mädchen ermutigend zu, aber als sie den Rat sah, keifte sie wütend los: »Das Kind ist verletzt. Habt ihr denn gar kein Mitleid? Was bestellt ihr sie in diesem Zustand zu euch?« »Schweig, altes Weib«, schnitt Schwester Haka ihr barsch das Wort ab. Sie betrachtete Tanith. Ihr Gesicht war geschwollen und blau. Ein Auge war vollkommen zu, das Augenlid blau angelaufen, und ihre Lippen waren aufgerissen. »Gestattet ihr, sich zu setzen«, verlangte Aina. »Sie ist schwach und krank.«
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»Niemand sitzt vor dem Rat«, erwiderte Schwester Haka. »Im Namen der Göttin.« »Lästere hier nicht, alte Krähe.« »Ich lästere nicht, sondern bitte nur einfach um Barmherzigkeit.« »Du redest zu viel«, warnte sie Schwester Haka. »Geh jetzt!« Aina humpelte schimpfend und zeternd aus der Kammer und ließ Tanith zurück, die leicht schwankend vor dem Rat stand. Schwester Haka lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und betrachtete Tanith. Sie würde sich jetzt Zeit lassen, sie hatten den ganzen Tag, wenn es darauf ankam. Mit äußerster Willensanstrengung hielt Tanith sich aufrecht, ein bleiernes Gefühl in ihren Beinen und ihrem Bauch. Die Fragen, die auf sie einhämmerten, nahm sie kaum wahr. Schwester Haka wollte herausfinden, was den König so erzürnt habe, sie beschuldigte Tanith, daß sie die gesamte Schwesternschaft in Gefahr gebracht habe. Immer wieder kam sie auf dieselbe Frage zurück: »Was hast du zu ihm gesagt?« »Ich kann mich nicht mehr erinnern, Schwester. Ich kann mich nicht erinnern«, flüsterte Tanith. »Du willst uns weismachen, daß Worte von solch erschütternder Wirkung so leicht vergessen werden können? Komm, Kind, was hast du zu ihm gesagt?« »Es waren nicht meine Worte.« »Wessen denn?« Schwester Haka beugte sich lauernd vor. »Wessen Worte waren es dann, wenn es nicht deine eigenen waren? Die Worte der Göttin?« »Ich weiß es nicht«, hauchte Tanith, und dann krümmte sie sich, als eine Faust des Schmerzes irgendetwas in ihrem Unterleib zusammenpreßte. »Sprichst du mit der Stimme der Göttin?« drängte Schwester Haka mit ihrer heiseren Stimme weiter, dunkel und grausam
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wie ein Raubvogel. »Oh, bitte!« flüsterte Tanith, beugte sich vor und griff mit beiden Händen an ihren Bauch. »Oh bitte, es tut weh. Oh, es tut so weh!« Die drei Priesterinnen sahen, wie die Vorderseite ihres Rockes schnell und plötzlich feucht wurde und dunkelrote Tropfen auf die Steine spritzten. Langsam sank Tanith zusammen und fiel vornüber. Sie lag auf der Seite, hatte ihre Knie angezogen und stöhnte leise. Schwester Haka schritt schnell zu ihr und beugte sich über sie, zog Taniths Rock hoch und riß ihr die Knie auseinander. Sie lachte triumphierend, als sie sich aufrichtete und die beiden anderen anblickte. »Da habt ihr Eure Sünde, Heilige Mutter. Da ist der Beweis ihres Vergehens.« Sie blickte auf den gekrümmten Körper zu ihren Füßen. »Sakrileg!« klagte sie an. »Sakrileg! Ein Vergehen gegen die Göttin.«
»Ich werde nicht antworten«, sagte Tanith leise. Die blauen Flecken waren etwas verblichen, die Schwellungen zurückgegangen, aber unter einem Auge war noch immer eine pflaumenfarbige Stelle, und ihre Lippe war verzerrt. Zehn Tage hatte sie im Bett gelegen und war noch immer schwach. »Ich werde nicht verraten, was mir so lieb ist. Ich werde euch seinen Namen nicht nennen.« »Kind, du weißt, daß es eine Todsünde ist. Dein Leben steht auf dem Spiel«, sagte die Ehrwürdige Mutter. »Ihr habt schon Leben von mir genommen. So nehmt denn auch den Rest.« Tanith sah Schwester Haka direkt an, dann wanderte ihr Blick zu Lannon Hycanus, der am Fenster stand. »Ihr werdet mich töten. Nichts, was ich sage, wird das ändern können. Also werde ich den Namen des Vaters meines Kindes
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bewahren. Ich werde euch nicht gestatten, auch gegen ihn zu wüten.« »Du bist dumm und trotzig«, sagte Schwester Haka. »Wir werden es schon herausfinden.« »Warum ist es wichtig?« fragte Tanith. Sie wandte sich an Lannon. »Es zählt allein die Tatsache, daß ich der Ursprung der Prophezeiung bin. Das willst du zerstören. Du möchtest, daß die Götter ihr Urteil zurückziehen. Das ist müßig, Lannon Hycanus. Die Winde des Schicksals, sie wehen schon.« »Genug«, fuhr Lannon sie an. »Wir dürfen keine Zeit mehr vergeuden. Ich kann dieses blödsinnige Gerede nicht länger ertragen.« Er warf Schwester Haka einen vielsagenden Blick zu. »Bring die alte Priesterin her, die Begleiterin der Hexe.« Als Aina blinzelnd vor dem König stand, sagte er ruhig zu ihr: »Du hattest Pflichten. Du hast sie nicht erfüllt. Nenn mir den Namen dessen, der gegen das Gut der Göttin gefrevelt hat.« Aina jammerte ihren Protest, leugnete, beteuerte ihre Unwissenheit. Sie fiel vor Lannon auf die Knie und küßte den Saum seiner Tunika. Lannon stieß sie wütend mit dem Fuß beiseite und blickte wieder zu Schwester Haka. »Wenn ich dich richtig eingeschätzt habe, wirst du nicht vor der Arbeit eines Mannes zurückschrecken«, sagte er zu ihr, und Schwester Haka nickte. Ihre Augen leuchteten in grausamer Erwartung. »Brich ihr zuerst den Arm«, befahl Lannon. »Aber laß die Hexe zuschauen.« Schwester Haka zerrte die zitternde und schreiende Aina auf die Füße und drückte einen Arm gegen das Ellbogengelenk nach hinten. Der Arm war dünn und weiß, dicke blaue Adern zeichneten sich durch die Haut ab. »Halt«, schrie Tanith. »Laß sie gehen!«
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»Laß sie los«, befahl Lannon. Tanith ging zu der alten Priesterin, küßte sie zart auf die Stirn. Aina weinte. »Verzeih mir, Kind. Es tut mir leid. Ich hätte es ihnen gesagt. Verzeih mir.« »Sei ganz ruhig, alte Mutter. Ganz ruhig.« Tanith führte sie zur Tür und schob sie behutsam aus der Kammer. Sie ging zu den anderen zurück und sprach zum König. »Ich werde dir seinen Namen nennen – aber nur dir allein.« »Laßt uns allein«, befahl Lannon, und die Mitglieder des Heiligen Rates verließen die Kammer. Als sie allein waren, sagte Tanith stolz und trotzig seinen Namen und sah, wie Lannon taumelte. »Seit wann ist er dein Geliebter?« fragte er schließlich. »Seit fünf Jahren«, antwortete sie. »Es scheint also«, sagte er und erkannte die Antwort auf viele seiner Fragen, »daß wir seine Liebe geteilt haben.« »Nein, Majestät.« Tanith schüttelte den Kopf. »Ich hatte sie ganz für mich allein.« »Du bist klug genug, in der Vergangenheit zu sprechen«, sagte Lannon zu ihr. Er trat ans Fenster und blickte hinaus über den See. Nichts darf zwischen uns kommen, dachte er. Ich brauche ihn. Ich brauche ihn. »Was wird es sein, Majestät? Gift oder der heimliche Dolch? Wie wirst du eine Priesterin der Astarte töten? Hast du vergessen, daß ich der Göttin gehöre?« »Nein«, sagte Lannon. »Ich habe es nicht vergessen, und ich werde dich zu ihr schicken am zehnten Tag des Festes der Fruchtbaren Erde. Du wirst als Botschafter Opets zu den Göttern gehen.« »Huy wird es nicht erlauben«, flüsterte Tanith voller Angst. »Huy ist im Norden – weit weg vom Teich der Astarte.« »Er wird dich hassen. Du wirst ihn für immer verlieren«,
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warnte ihn Tanith, aber er schüttelte den Kopf. »Er wird nie erfahren, daß ich es befohlen habe. Er wird nie wissen, daß du ihn verraten und mir seinen Namen genannt hast.« Er lächelte ein kaltes Lächeln. »Nein, du wirst ihn verlieren, und ich werde ihn behalten. Verstehst du, ich brauche ihn, und mein Wunsch ist wichtiger als deiner.«
Man hatte ihn, als er ohnmächtig geworden war, in einer Sänfte getragen. Er wußte deshalb nicht, wie lange und in welcher Richtung sie gereist waren. Und als sie ihn später zwangen, auf seinen eigenen Beinen zu laufen, verbanden sie ihm die Augen, so daß er nur das Gedränge ihrer Körper um sich herum spürte und das ranzige Fett roch, mit dem sie ihre Körper eingeschmiert hatten. Sie antworteten nicht auf seine Fragen. Fäuste stießen ihn vorwärts, und eine Speerspitze stach ihn, als er sich widersetzte. Man hatte ihn übel zugerichtet, Schnitte und Beulen waren an seinem Kopf, sein abgeschürfter Körper schmerzte. Aber er hatte keine ernsthaften Wunden. Es schien, als hätten sie es sorgfältig vermieden, ihm einen tödlichen Schlag zu versetzen, und das, obwohl er bei seiner Gefangennahme viele von ihnen getötet hatte. In der ersten Nacht versuchte er herauszufinden, wo er sich befand, ob es eine Fluchtmöglichkeit gab. Aber als er nur versuchte, die Augenbinde etwas hochzuschieben, traf ihn ein schwerer Schlag ins Gesicht. Sie fütterten ihn mit einer Handvoll gekochtem Korn und einem Streifen schlechtem Fleisch. Huy verschlang es gierig. Am nächsten Morgen marschierten sie vor Sonnenaufgang weiter. Als Huy die Wärme der Sonne auf seinen Wangen fühl-
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te, wiederholte er leise seine Lobpreisung Baals und flehte den Gott um seine Hilfe an. Später am Tag merkte er, wie der Boden unter seinen Füßen ebener wurde. Sie zogen über die offene Steppe. Es roch nach Kuhdung, Rauch, Menschen. Über dem klatschenden Rhythmus seiner barfüßigen Begleiter und dem Schaben ihrer Kriegsröcke hörte er ein ungeheures Rauschen von Stimmen und Bewegung, das sich mit dem Brüllen von Rindern vermischte. Endlich bedeuteten sie ihm anzuhalten. Ermüdet und durstig stand er stundenlang in der heißen Sonne. Lederriemen schnitten in seine Gelenke, seine Verletzungen schmerzten. Endlich ertönte eine laute Stimme, und Huy zuckte zusammen. Die Stimme verlangte auf Vendi: »Wer sucht den mit der Löwentatze, wer sucht den mit den Vogelfüßen?« Huy schwieg und wartete auf irgendein Zeichen, wie er sich zu verhalten habe. Zu seiner Überraschung wurden ihm die Fesseln abgenommen. Dann hob er seine Hände an die Augenbinde, rechnete mit neuen Schlägen; aber als nichts geschah, löste er das Tuch und blinzelte unsicher in das strahlende Sonnenlicht. Seine Augen stellten sich schnell darauf ein, und was sie sahen, ließ sein Herz fast stillstehen. Huy befand sich in der Mitte einer weiten, von niedrigen Hügeln gesäumten Ebene. Außer dem freien Platz, in dessen Zentrum Huy jetzt stand, war das Land schwarz vor Kriegern. Huy blickte überwältigt auf diese Menge, ihre Zahl war überhaupt nicht zu schätzen. Er hätte es nicht für möglich gehalten, daß das Land solche Massen ernähren konnte, es war absolut unvorstellbar, ein Alptraum – und das Gefühl der Unwirklichkeit wurde durch das drohende Schweigen der schwarzen Massen noch gesteigert. Die Hitze und die Menschenmassen drohten ihn zu ersticken. Verzweifelt schaute er um sich, als suche er nach einem Fluchtweg. Storch stand neben ihm, er trug die Geieraxt auf seiner Schulter.
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Huy spürte einen schwachen Anflug von Zorn über den Verrat dieses Mannes, aber irgendwie schien das unwichtig angesichts dieses überwältigenden Eindrucks. Wieder erhob sich die Stimme: »Wer sucht das Große Schwarze Biest, das den Löwen jagt?« Das erhitzte Schweigen hielt an, dann endlich kam Bewegung in die Menge, als ein Mann auf den Wall trat. Die hohe Krone aus Reiherfedern auf seinem Kopf und sein lang herabwallender Umhang aus Leopardenfell ließen ihn gottähnlich erscheinen. Er stand da wie ein hoher Baum in einer raschelnden Grasebene, als der königliche Salut die Grundfesten von Erde und Himmel erschütterte. Storch legte dem König die Geieraxt zu Füßen, dann wich er zurück, und der König blickte über das offene Rund auf Huy. Huy straffte sich, versuchte die Schmerzen seines Körpers zu verdrängen und nicht zu hinken, als er sich dem Wall näherte und zu Manatassi aufschaute. »Ich hätte es mir denken sollen«, sagte er auf Punisch. »Du hättest mich töten sollen«, sagte Manatassi, hob die Eisenklaue aus den Falten seines Umhangs, »statt mich damit zu bewaffnen.« »Du verstehst nicht«, sagte Huy. »Dein Leben gehörte mir nicht. Ich hatte einen Eid geschworen.« »Ein Mann, der noch nach seinem Wort lebt«, sagte Manatassi, aber Huy suchte vergeblich Spott in seiner Stimme. »Anders kann man nicht leben.« Huy war jetzt müde, er sah seinem sicheren Tod mit Resignation entgegen. Er hatte keine Kraft mehr zu streiten. Manatassi zeigte mit der Klaue auf die Scharen seiner Armee. »Siehst du, welch einen Speer ich geschmiedet habe?« »Ja«, nickte Huy. »Wer kann mir widerstehen?« fragte Manatassi. »Viele werden es versuchen«, sagte Huy.
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»Du auch?« Huy lächelte. »Ich glaube nicht, daß ich dazu Gelegenheit haben werde.« Manatassi sah auf den kleinen Buckligen in seiner zerrissenen Tunika hinunter. Prellungen im Gesicht und an den Armen, beschmutzt und geschlagen, aber nicht unterwürfig stand er da, als er über sein Schicksal verhandelte. »Keiner meiner Männer versteht uns«, sagte Manatassi zu Huy. »Wir können frei reden.« Huy nickte überrascht von diesem Stimmungswechsel. »Ich biete dir dein Leben an, Huy Ben-Amon. Komm zu mir, gib mir die Liebe und Treue, die du dem Grau-Löwen von Opet gegeben hast, und du wirst bis ins hohe Alter leben.« »Warum wählst du mich?« fragte Huy. »Ich habe auf dich gewartet. Ich wußte, daß du kommen würdest. Meine Spione haben Ausschau nach dir gehalten, aber das Schicksal hat dich mir zugespielt.« »Warum mich?« wiederholte Huy. »Ich brauche dich«, sagte Manatassi einfach. »Ich brauche dein Wissen, ich brauche dein Verständnis und deine Menschlichkeit.« »Du verzeihst mir, daß ich deine Hand genommen habe?« »Du hättest mir das Leben nehmen können«, antwortete Manatassi. »Du verzeihst die Sklavenpeitsche und die Minen von Hulya?« »Die werde ich nie vergessen«, fauchte Manatassi; sein Gesicht zuckte, die Augen funkelten rauchgelb. »Aber daran warst du nicht schuld.« »Du verzeihst das Massaker von Sett?« beharrte Huy. »Du bist Soldat, du konntest nicht anders handeln.« Manatassi zitterte immer noch, und Huy ahnte, wie nahe er dem Verderben war, aber er spürte einen Zwang, die Stärke
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dieses Mannes zu messen – und seine Schwäche. »Was würdest du von mir verlangen?« fragte Huy. »Daß du neben mir marschierst«, sagte Manatassi. »Gegen?« »Gegen Opet, seine furchtbaren Grausamkeiten und schrecklichen Götter«, stieß Manatassi hervor. »Mit dir an meiner Seite und dieser Armee im Rücken werde ich die Erde beherrschen.« »Ich kann nicht.« Huy schüttelte den Kopf. »Warum nicht? Sag mir warum. Opet ist ein Übel, es muß zerstört werden.« »Es ist mein«, sagte Huy. »Mein Land, mein Volk, meine Götter – darum kann es kein Übel sein.« »Ich hatte dich für einen Mann der Vernunft gehalten«, fauchte Manatassi. »Vernunft bestimmt den Menschen nur bis zu einer gewissen Grenze, dann muß er seinem Herzen vertrauen«, sagte Huy. »Du weist mich also ab?« »Ja.« »Du weißt, daß du den Tod wählst?« »Ja.« Manatassi erhob seine Hand, die eiserne Klaue glänzte im Sonnenlicht, und Huy wußte, daß er sterben würde, wenn die Hand fiel. Er wappnete sich, den Tod so ruhig zu empfangen, wie er ihn selbst ausgeteilt hatte. Manatassi wandte sich ab. Er seufzte. Schließlich sagte er zu Huy: »Du hast mich verschont, ich werde dich ebenfalls verschonen.« Huy wurde schwindlig vor Erleichterung. Zum erstenmal gestattete er sich jetzt, an Tanith und das Kind zu denken. Jetzt würde er doch noch seinen Sohn sehen, und sein Herz jubelte. »Geh zurück nach Opet. Geh zurück zu deinem König. Berichte ihm, daß Manatassi, das Große Schwarze Biest, aus dem
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Norden heranrückt, um ihn zu zerstören.« »Solltest du einen Feind warnen?« fragte Huy. »Habe ich dich das gelehrt?« Manatassi lächelte. »Eine Warnung wird ihm nichts nützen«, sagte er. »Berichte ihm, was du hier gesehen hast. Erzähle ihm von dieser Armee – und jage ihm kalte Angst in die Glieder. Sag ihm, daß ich ihn holen werde und daß ich niemanden verschone noch eine Spur von ihm hinterlasse, die das Land verpesten kann. Sag ihm, daß ich komme, und ich komme schnell.« Manatassi hob die Geieraxt auf und überreicht sie Huy. »Geh!« sagte er. »Wir sind quitt. Du hast keinen Anspruch an mich, und ich habe keinen Anspruch an dich. Wenn ich dir wieder begegne, werde ich dich töten.« Sie sahen einander an – sie standen so nahe, daß sie sich berühren konnten –, aber es trennte sie eine Entfernung größer als die Weite des Ozeans. Huy wandte sich ab und hinkte fort durch die Gasse, die die Krieger ihm öffneten.
»Alte Mutter, du darfst dich nicht so grämen«, flüsterte Tanith. »Es war nicht deine Schuld.« »Ich hätte es ihnen erzählt«, murmelte Aina. »Ich weiß, ich hätte es ihnen erzählt. Diese Schwester Haka, sie macht mir Angst.« »Du hast es nicht erzählt«, tröstete Tanith sie. »Du hast unser Geheimnis gehütet – sogar wir wußten nicht, daß du es herausgefunden hattest.« Aina lächelte nachdenklich. »Ihr wart so glücklich, ihr beide. Es tat mir gut, euch nur zu beobachten. Er ist ein guter Mensch,
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trotz seines armen schiefen Rückens, er ist sanft und gütig.« Tanith rutschte ein Stückchen zur Seite: »Setz dich ein bißchen zu mir, alte Mutter. Ich bin so einsam hier.« Aina blickte furchtsam auf die vergitterte Türe. »Sie wollen nicht, daß ich zu lange bleibe.« »Bitte«, flehte Tanith. »Es bleibt nur noch so wenig Zeit.« Und Aina nickte und setzte sich auf die Kante des Lagers. Tanith beugte sich dicht zu ihr und flüsterte aufgeregt: »Hast du Boten geschickt? Hast du jemanden gefunden?« »Ich habe zwei junge Fähnriche von der Legion Ben-Amon geschickt. Sie verehren den Heiligen Vater, als wäre er selbst ein Gott. Ich habe ihnen gesagt, daß du dich in Todesgefahr befindest und daß der Heilige Vater so schnell wie möglich zurückkehren muß.« »Glaubst du, daß sie ihn finden werden?« »Es gibt hundert Wege, die er einschlagen könnte, und das Land ist groß. Ich möchte dich nicht belügen, mein Kind. Die Aussicht ist nicht sehr günstig.« »Ich weiß«, sagte Tanith. »Und wenn sie ihn finden, kann er rechtzeitig zurückkommen? Und wenn er es schafft, wird er den Grau-Löwen davon abbringen können?« »Wenn er rechtzeitig zurückkommt, bist du in Sicherheit. Ich kenne den Mann.« »Warte auf ihn, Aina. Und wenn er zurückkehrt, geh heimlich zu ihm und erzähle ihm, daß der König über uns Bescheid weiß. Du mußt ihn warnen, denn auch er ist in Gefahr.« »Ich werde ihn warnen«, versprach Aina. »Oh, ich bete zu allen Göttern, daß er schnell nach Opet zurückkommt. Ich will nicht sterben, alte Mutter. Ich möchte noch so viel vom Leben haben, aber meine Tage sind jetzt gezählt, es ist bereits der sechste Tag des Festes. Wenn Huy nicht kommt, bleiben mir nur noch vier Tage meines Lebens.« »Ruhig, mein Kind«, summte Aina, legte den Arm um Ta-
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nith und streichelte sie. »Sei mutig«, summte sie, »sei mutig, Kind.« »Es ist nicht so einfach«, sagte Tanith, »aber ich will es versuchen.« Dann löste sie sich aus der Umarmung. »Du mußt jetzt gehen, alte Mutter – sonst wird Haka dich wieder schlagen.«
Auf den Wällen der Festung von Zanat hielt ein Posten Wache; er blickte hinab auf die seltsame, wilde Gestalt, die dort unten stand. Die Haare des Mannes waren schmutzig und verklebt, er trug keinen Panzer, seine Tunika war zerfetzt, und das Gesicht war zerschunden und geschwollen. Er schien verwundet zu sein, denn er war in einer unnatürlichen Haltung unter dem Gewicht seiner riesigen Kampfaxt zusammengekrümmt. »Wie heißt du, und was willst du hier?« rief ihn der Wachtposten an. »Ich bin Ben-Amon, der Hohepriester des Baal und Krieger von Opet. Mein Geschäft ist mit dem König.« Der Wächter schrak zusammen und stellte seinen Speer fort. Beinahe hätte er sich lächerlich gemacht. Dieser krumme Rükken und diese Axt waren berühmt in allen vier Königreichen, er hätte sie sofort erkennen sollen. Er beeilte sich, den vornehmen Besucher anzukündigen. Huy kam durch das kaum geöffnete Seitentor herein und wies die militärischen Ehrenbezeigungen mit einem kurzen »Genug mit dem Unsinn« ab. Der Wachoffizier, erstaunt über die lässige Zurückweisung dieses bei der Legion so beliebten Zeremoniells, unterdrückte ein Grinsen.
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Huy eilte an den hastig aufgestellten Wachen vorbei und fragte dabei den Offizier: »Wo ist der General? Ist er hier?« »Jawohl, mein Gebieter – Heiligkeit. Er ist in seinem Quartier.« »Lob sei Baal!« murmelte Huy erleichtert. Huy verschlang gierig eine dicke Scheibe kaltes Fleisch zwischen zwei Maiskuchen und spülte die Bissen mit einer Schale Rotwein hinunter, während er mit vollem Mund seine Befehle erteilte. Marmons Schreiber zeichnete alle Artikel auf, seine Feder flog, um mit dem Strom von Huys Worten mitzuhalten. Marmon hörte beunruhigt und besorgt zu. Es war fast unglaublich, doch es stand ihm nicht zu, an Huys Worten zu zweifeln. Er wußte, eigentlich hätte er diese tödliche Gefahr erkennen müssen, die da so rasch an ihren Grenzen erwachsen war. Vielleicht hatte er zuviel Zeit damit verbracht, von seinen alten Kriegsgeschichten zu träumen. Er fragte sich, welche Strafe ihm dafür von Huy Ben-Amon und von dem Grau-Löwen von Opet drohte, denn ein solches Versagen würde man nicht durchgehen lassen. Huy erteilte seine Befehle, ließ sämtliche Garnisonen und Einheiten in Alarmbereitschaft versetzen, alle aufgelösten Legionen wieder einberufen und Boten ins ganze Land entsenden, um das gesamte Reich in Kriegszustand zu versetzen. Marmon staunte über den Mut dieses Mannes, der ganz allein eine solche Kriegsentscheidung traf, eine Entscheidung, die er vor dem König und dessen Rat zu vertreten haben würde. Man konnte ihn zur Rechenschaft ziehen, wenn durch die Einstellung von Handel und Industrie dem Land Verluste entstehen würden. Es war eine Entscheidung, von der sein eigenes Leben ebenso wie das von Opet abhängen konnte. Doch nach allem, was Huy ihm berichtet hatte, ging es jetzt wirklich um das nackte Überleben. Ihnen stand ein zahlenmäßig so ungeheuer überlegener Feind gegenüber, daß der Erfolg
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allein bei den Göttern lag. Huy unterzeichnete die letzte Rolle, und alles Feuer schien in ihm zu erlöschen. Erst jetzt erkannte Marmon, wie erschöpft der Mann war. Er taumelte, und sein ganzer Körper schien unter der Last seiner Müdigkeit zusammenzusacken. Marmon sprang zu ihm, aber Huy fegte den helfenden Arm beiseite und raffte sich auf. »Ich muß nach Opet aufbrechen«, sagte er und mußte sich auf eine Tischkante stützen. »Welcher Tag ist heute, Marmon? Ich scheine die Übersicht über die Zeit verloren zu haben.« »Es ist der siebte Tag des Festes, Heiligkeit.« »Des Festes?« Huy blickte ihn verständnislos an. »Der Fruchtbaren Erde«, half ihm Marmon. »Ah!« Huy nickte. »Ich hätte nicht gedacht, daß es schon so weit ist. Hast du einen Kriegselefanten, der mich nach Opet tragen kann?« »Nein, Heiligkeit«, sagte Marmon bedauernd, »wir haben hier keine Elefanten.« »Dann muß ich eben marschieren«, entschied Huy. »Aber du mußt erst rasten.« »Ja«, stimmte Huy zu, »ich muß rasten.« Und er ließ sich von Marmon in das Schlafgemach führen. Als er auf das Lager fiel, fragte er: »Wie lange dauert es von hier nach Opet, Marmon?« »Wenn du rasch marschierst, sechs Tage. Fünf, wenn du fliegst.« »Ich werde fliegen«, sagte Huy. »Wecke mich bei Anbruch der Dämmerung.« Und er schlief ein. Als Marmon auf den Schlafenden hinabsah, entsann er sich auf einmal des Boten aus Opet, des jungen Leutnants von der Legion Ben-Amon, der am Vortag mit einer dringenden Botschaft für den Hohepriester hier durchgekommen war. Nach einem kurzen inneren Kampf entschloß er sich, Huys Schlaf nicht zu unterbrechen. Er würde es ihm am Abend bei seinem
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Erwachen mitteilen. In der Dämmerung machte sich Huy, begleitet von fünfzehn Legionären, auf den Weg. Und erst, nachdem die Männer in den dunklen, schweigenden Wäldern des Südens verschwunden waren, erinnerte sich Marmon wieder an die Botschaft des jungen Leutnants. Einen Augenblick dachte er daran, Huy einen Boten nachzuschicken, aber er wußte, daß keiner seiner Läufer imstande sein würde, den Priester bei einem solchen Vorsprung einzuholen. Die Geschwindigkeit von Huys langen Beinen war legendär. »Er wird früh genug in Opet sein«, beruhigte sich Marmon. Dann schritt er die Brustwehr entlang bis zum anderen Ende der Festung. Dort blieb er bis nach Einbruch der Dunkelheit, blickte nach Norden und fragte sich, wie bald sie wohl kommen würden.
Am Morgen des neunten Tages des Festes der Fruchtbaren Erde kam das Göttliche Konzil in Taniths Zelle, angeführt von der alten gebrechlichen Oberin, die die Augen schuldbewußt gesenkt hatte. »Wir haben freudige Nachricht für dich, mein Kind«, sagte sie zu Tanith, die sich schnell auf ihrem Lager aufrichtete – ihr Herz jauchzte auf. Hatte der Grau-Löwe doch seinen Entschluß geändert? »Oh, Ehrwürdige Mutter!« flüsterte sie und fühlte, wie Tränen der Erleichterung gegen ihre Lider preßten. Sie war immer noch sehr geschwächt durch den Verlust ihres Kindes, und es brauchte nicht viel, um sie zum Weinen zu bringen. Die Ehrwürdige Mutter plapperte weiter, ohne Tanith anzusehen, ihren Blick hätte sie nicht ertragen können. Eine Weile
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war Tanith verwirrt. Sie konnte die Worte von Präzedenzfall und himmlischem Gesetz nicht verstehen, aber dann sah sie im Gesicht von Schwester Haka die lauernde Schadenfreude. Und plötzlich begriff sie, daß hier nicht von Gnade die Rede war. »Und so hat der König in seiner Weisheit dich ausgewählt, dir die große Ehre erwiesen, Opets Botschaft der Göttin zu überbringen.« Sie waren nicht gekommen, um sie freizulassen, sondern um ihr Schicksal zu besiegeln. Schwester Haka lächelte. »Du mußt dankbar sein, mein Kind. Der König hat dir das ewige Leben verliehen. Du wirst in Herrlichkeit an der Seite der Göttin sitzen, auf ewig in ihren Diensten«, sagte die Ehrwürdige Mutter, und die Priesterinnen riefen im Chor: »Lob sei Astarte. Lob sei Baal.« »Bereite dich vor«, fuhr die Ehrwürdige Mutter fort. »Ich werde Aina schicken, dir dabei behilflich zu sein. Sie kennt den Pfad der Boten gut, sie hat schon viele der Auserwählten darauf vorbereitet. Vergiß nicht zu beten, mein Kind. Bete, daß dich die Göttin für würdig befindet.« Tanith starrte sie an, ihr Gesicht war aschfahl. Sie wollte nicht sterben. Sie wollte aufschreien: Schont mich! Ich bin zu jung. Ich will noch ein wenig Glück, ein wenig Liebe, bevor ich sterbe. Aber sie war wie gelähmt. Das Göttliche Konzil verließ die Zelle, Tanith blieb allein zurück. Jetzt erst brachen ihre Tränen hervor, und sie schrie laut auf. »Huy, komm zu mir! Bitte, rette mich…«
Durch die dunkle Wirrnis seines Erschöpfungsschlafes kämpfte sich Huy zum Bewußtsein empor, aber der alptraumhafte Schrei gellte immer noch in seinen Ohren. Es dauerte
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eine Weile, bevor er sich entsann, wo er war, und daß er den Schrecken, der ihn geweckt, nur geträumt hatte. Er lag im Schatten eines wilden Feigenbaumes; er hatte nur eine Stunde geschlafen, wie er am Stand der Sonne ablesen konnte. Seine Beine waren immer noch bleischwer, sein ganzer Körper nach zwei Tagen hartem Marsch völlig erschöpft. Er hätte wenigstens noch drei bis vier Stunden schlafen können, aber sein Alptraum ließ ihn keine Ruhe finden. Er stützte sich auf den Ellbogen, überrascht, wieviel Anstrengung ihn diese Bewegung kostete; dann aber erinnerte er sich, daß er in zwei Tagen mehr als zweihundert römische Meilen gelaufen war. Er blickte auf die Überreste seiner Eskorte, ganze drei Mann, die ausgemergelt von der Anstrengung in einem todesähnlichen Schlaf dalagen, wie sie zu Boden gefallen waren. Die anderen zwölf waren unterwegs schon ausgefallen, weil sie sein mörderisches Tempo nicht durchhalten konnten. Mühsam erhob sich Huy. Er konnte nicht schlafen oder rasten, solange der Schrecken ihn jagte und die Sicherheit seines Königs und seines Landes gefährdet war. Steif humpelte er hinunter zum Ufer des kleinen Flüßchens und kniete sich in den weißen Sand. Er besprühte Gesicht und Körper mit dem klaren Wasser, ging dann die Böschung wieder hinauf und blickte auf seine schlafenden Männer. Obwohl er Mitleid mit ihnen hatte, rief er ihnen zu: »Auf! Auf die Beine! Wir marschieren nach Opet.« Einer der Legionäre wachte nicht auf, obwohl ihn Huy in die Rippen trat und mit der flachen Hand ins Gesicht schlug. Sie ließen ihn liegen, und er wimmerte in seinem Schlaf. Die anderen beiden taumelten mühselig empor und stöhnten bei jeder Bewegung ihrer steifen, zerschundenen Beine. Die erste halbe Meile legte Huy im Schritt zurück, um die schmerzenden Muskeln zu lockern, und seine Eskorte torkelte hinter ihm her.
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Dann aber erhob er sich auf die Fußspitzen, legte die Geieraxt von einer Schulter auf die andere und fiel in einen federnden, langbeinigen, elastischen Lauf, der die Entfernungen verschluckte wie der Trab einer Antilope. Einer der Legionäre schrie auf, als seine Beine unter ihm wegsackten. Er war am Ende und blieb einfach liegen. Der zweite folgte Huy, und seine Sprünge wurden sicherer, als seine Beinmuskeln sich lockerten und mit neuem Blut füllten. Sie rannten, bis die Sonne im Zenit stand, beachteten die erbarmungslose Mittagshitze nicht und rannten weiter bis in den Nachmittag hinein. Vor ihnen, tief am Horizont, stand wie ein Zeichen der Hoffnung die ewige Wolkenbank, das Kennzeichen des Sees von Opet, und ihr hob Huy im Lauf sein Gesicht entgegen, während seine Füße von seinem Instinkt und sein erschöpfter Körper von seinem Willen vorwärts getrieben wurden. In den letzten Strahlen der sinkenden Sonne erglänzten die Mauern und Türme von Opet in einem warmen, rosigen Licht, und die Oberfläche des Sees lag in einem goldenen Schein, der die Augen blendete. Huy stürmte weiter die Karawanenstraße entlang und rannte an staubigen Wanderern vorüber, die zur Seite wichen und ihm nachriefen, als sie ihn erkannten. »Bete für uns, Heiliger Vater.« »Baal segne dich, Heiligkeit.« Als sie die Hälfte des Passes hinter sich hatten, der durch die Klippen zum Seeufer und zur Stadt hinunterführte, rief der letzte Legionär, der Huy noch folgte, mit klarer, starker Stimme: »Vergib mir, Heiliger Vater, ich kann nicht mehr weiter.« Und seine Knie sackten unter ihm fort, er torkelte an den Wegrand; der Krampf seines berstenden Herzens verzerrte sein Gesicht, und er war tot, bevor er noch den Boden berührte. Huy Ben-Amon rannte allein weiter. Der Wächter über dem
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Palasttor von Opet erblickte ihn schon von weitem; die Tore schwangen weit auf, um ihn willkommen zu heißen.
Sanfte Hände schüttelten Tanith wach. Aina beugte sich über sie. Tanith sah, wie das alte Gesicht in einem zahnlosen Lächeln strahlte und die Äuglein in ihrem Netz uralter Falten zwinkerten. »Bist du wach, Kind?« »Was ist, Aina?« Tanith setzte sich schnell auf, und ihre Lebensgeister schnellten empor wie die Flammen eines Freudenfeuers, als sie Ainas Lächeln sah. »Er ist gekommen!« jubelte Aina ihr zu. »Huy?« »Ja, der Heilige Vater ist gekommen.« »Bist du ganz sicher?« fragte Tanith atemlos. »Ich habe gehört, wie sie es in den Straßen riefen. Die ganze Stadt ist auf den Beinen. Sie sagen, daß er in drei Tagen von Zanat nach Opet gelaufen ist, sie sagen, daß er fünfzehn Männer getötet hat, die versucht haben, mit ihm zu laufen. Er hat ihnen die Herzen aus dem Leibe gerannt und sie am Wege liegenlassen.« »Oh, Aina.« Tanith umarmte die alte Priesterin und drückte sie an sich. »Wenn er so schnell gekommen ist, dann muß er es wissen.« »Ja, Kind, natürlich weiß er es. Warum wäre er sonst in solcher Eile gekommen? Einer der Leutnants muß ihn mit meiner Botschaft erreicht haben. Er weiß es bestimmt.« Aina sabberte vor Aufregung. »Er weiß es!« »Wo ist er jetzt?« Tanith lachte in ihrer Erregung. »Weißt du, wo er ist?« »Beim König. Er ist direkt in den Palast gegangen.«
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»Oh, gepriesen seien die Göttin und alle Götter«, hauchte Tanith. »Er wird seinen Einfluß beim Grau-Löwen geltend machen. Glaubst du, daß er Erfolg haben wird, Aina? Wird der König seinen Entschluß ändern?« »Natürlich, Kind. Kannst du daran zweifeln? Wenn Huy Ben-Amon es darauf anlegt, dann bringt er selbst Baal dazu, seinen Entschluß zu ändern.« »Oh, ich bin so glücklich, meine alte Mutter.« Tanith klammerte sich an Aina, und die beiden trösteten einander im Dunkel der Nacht. Schließlich löste sich Tanith. »Geh zu ihm, Aina. Warte vor dem Palast auf ihn. Erzähle ihm alles, und bringe mir seine Botschaft.« Und als Aina gerade die Zelle verlassen wollte, rief Tanith ihr nach: »Sag ihm, daß ich ihn liebe. Sag ihm, daß ich ihn mehr liebe als mein Leben – mehr als alle Götter.« »Pscht! leise, Kind. Man könnte dich hören.« »Was kümmert’s mich«, flüsterte sie. »Huy ist da, und nichts anderes ist wichtig.«
Lannon hörte Huy mit wachsender Bestürzung zu. Zuerst hatte er gedacht, als Huy unangemeldet und unerwartet in der Nacht ankam, daß er auf irgendeine Weise von dem Opfer bei der morgigen Zeremonie erfahren hätte. Er hatte schon erwogen, Huy die Audienz zu verweigern, hatte die verschiedensten Ausflüchte ersonnen, aber Huy war an den erschrockenen und protestierenden Wachen vorbei in Lannons Schlafgemach eingedrungen. Lannons zornige Worte waren ihm auf den Lippen erstorben, als er sah, in welchem Zustand sich Huy befand. »Verzeih mir, Majestät. Ich bringe furchtbare Kunde.«
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Lannon starrte ihn in der verschmutzten, staubigen Tunika an, sah das abgezehrte Antlitz und die eingefallenen Augenhöhlen. »Was ist geschehen, Huy?« Er trat schnell zu dem Priester und stützte ihn mit brüderlichem Arm. Der Rat der Neun trat zu einer nächtlichen Sitzung zusammen und lauschte in entsetzter Stille dem Bericht von Huy Ben-Amon. Erst als er die letzten Worte hervorgestoßen hatte und erschöpft auf seinem Stuhl zusammensank, brach das Stimmengewirr los mit gegenseitigen Bezichtigungen, Vorwürfen, Klagen und Zweifeln. »Man hat uns gesagt, daß er bei Sett vernichtet worden ist!« Huy sagte: »Man hat euch lediglich gesagt, daß ich bei Sett dem Gegner einen Verlust von 30 000 Mann beigebracht habe. Ihre Namen habe ich nicht genannt.« »Wie konnte eine solche Armee ohne unser Wissen aufgestellt werden? Wer ist dafür verantwortlich?« »Die Armee ist jenseits unserer Grenzen aufgestellt worden«, antwortete Huy. »Niemand ist dafür verantwortlich.« »Was geschieht mit den Bergwerken – wir müssen sie schützen.« »Das beabsichtigen wir auch«, lächelte Huy müde. »Warum steht an der Grenze nur eine Legion?« »Weil ihr euch geweigert habt, Geld für mehr Legionen bereitzustellen«, erwiderte ihnen Huy grimmig. Ihre Worte fraßen sich durch den Nebel seiner Müdigkeit. »Wie bist du ungefährdet durch die feindlichen Linien gekommen?« »War dieser Timon nicht einmal dein Schützling?« Und Huy blickte Lannon an. »Genug!« ging Lannons Stimme dazwischen. »Seine Heiligkeit hat die Nation zum Krieg aufgerufen. Er hat mir Abschriften der Rollen gezeigt, und ich bin dabei, sie durch meine Un-
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terschrift zu bestätigen.« Kurz vor der Morgendämmerung entließ Lannon den Rat der Neun mit den Worten: »Wir werden am Mittag wieder zusammentreffen, nach der Schlußzeremonie des Festes der Fruchtbaren Erde. Seht nach euren Waffen und nehmt Abschied von euren Familien.« Als sie allein waren, wandte er sich mit freundlichen Worten an Huy. »Schlafe heute hier. Du kannst jetzt nichts mehr tun.« Die Worte kamen zu spät, Huy war bereits eingeschlafen, über den Tisch gebeugt und den Kopf in den Armen vergraben. Lannon hob ihn von seinem Stuhl und trug ihn wie ein schlafendes Kind in ein Nebengemach. Er stellte einen Wachtposten vor die Tür. »Niemand darf den Heiligen Vater stören«, befahl er. »Niemand, hörst du!« Die Dämmerung war nahe. In wenigen Stunden würde die Opferfeier stattfinden, und er wußte, daß Huy in einem todesähnlichen Schlaf lag, der mehrere Tage anhalten konnte. Er verließ ihn, um zu baden und sich für die Prozession anzukleiden. Aina zog die Kapuze ihres Mantels weit vor, um ihr Gesicht zu verbergen. Sie stand in der Dunkelheit und überlegte ihre nächsten Schritte. Sie würde nicht warten, bis der Hohepriester den Palast verließ. Aina kannte einen Zugang zu den Palastküchen. Der Majordomo dort war der Enkel ihrer jüngsten Schwester. Die Palastsklaven kannten sie alle. Es würde nicht schwer sein, herauszufinden, wo sich der Hohepriester in dem weitläufigen Gebäude befand, und ihm eine Nachricht zukommen zu lassen. Leise zog sie den Vorhang vor ihrer Zelle beiseite und spähte hinaus. Eine einzige Fackel gloste in ihrem Ring am Ende des Ganges. Aina sah die Gestalt nicht, die in einem dunklen Winkel des Korridors auf sie gewartet hatte und jetzt auf sie zuglitt. »Du schläfst noch nicht, Alte?« fragte eine tiefe Stimme lei-
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se, und eine starke Hand schloß sich um Ainas Arm. »Machst du so spät noch Besuche? Solltest du gehört haben, daß Huy Ben-Amon wieder in Opet ist?« »Nein«, wimmerte Aina. »Nein, ich schwöre es.« Sie wehrte sich mit ihren schwachen Kräften, aber Schwester Haka zog mit ihrer freien Hand die Kapuze vom Haupt der alten Priesterin und sah ihr ganz dicht in die Augen. »Du wolltest zu Huy Ben-Amon, nicht wahr?« »Nein, ich schwöre es. Nein!« Aina sah den Tod in Schwester Hakas Augen und begann zu schreien. Es war ein dünner, leidenschaftsloser Laut wie das Pfeifen des Windes, und er brach jäh ab, als Schwester Hakas kräftige Hand ihr den Mund zuhielt. Sie drängte Ainas gebrechlichen Körper zurück zu ihrem Lager. Eine Hand preßte sie über Mund und Nase der alten Priesterin, mit der anderen drückte sie sie fest auf ihr Lager. Aina wehrte sich, so sehr sie konnte, ihre Arme ruderten und schlugen gegen Schwester Hakas Gesicht. Doch dann hörte ihr Widerstand ganz plötzlich auf, und sie lag still da. Noch lange danach hielt Schwester Haka ihre Hand auf Ainas Gesicht, bis sie schließlich auf dem dürren Brustkorb nach einem Herzschlag suchte. Sie fand ihn nicht mehr und nickte zufrieden, während sie die Glieder der Toten sorgfältig zu einer normalen Ruhestellung bettete. Dann verließ sie unbemerkt die Zelle. Lannon wußte, gerade jetzt mußte das Schlußritual des Festes in allen Einzelheiten korrekt durchgeführt werden. Es war offensichtlich, daß Opet von einer Gefahr ungeheuren Ausmaßes bedroht war, daß er einem mächtigeren und unerbittlicheren Feind gegenüberstand als je zuvor. Das Orakel hatte gegen ihn gesprochen, vielleicht hatten er oder sein Königreich den Zorn der Götter heraufbeschworen.
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Lannon wußte, daß das Schicksal von Völkern nicht allein vom Menschenverstand abhängt, daß Schlachten nicht allein mit dem Schwert entschieden werden. Er wußte, daß es möglich war, einen zornigen Gott zu besänftigen und sich den guten Willen eines anderen zu sichern. Während des Rituals am Rande des Sees der Astarte achtete er sehr genau darauf, daß er stets die korrekten Antworten gab, und mit einer Stimme voll Inbrunst legte er der Göttin sein Gelöbnis ab. Nach seinem kultischen Bad im See empfand er ein Gefühl der geistigen Reinheit, als ob die heiligen Wasser seine Sorgen von ihm abgewaschen und ihn gegen die Gefahren gewappnet hätten. Lannon war kein tiefreligiöser Mann, aber in diesem Augenblick fühlte er sich doch innerlich erhoben. Er war jetzt froh, einen so bedeutenden Boten für die Göttin ausgewählt zu haben. Er entsandte eine Priesterin von göttlichem Blut, ein von Gott erfülltes Orakel. Das mußte Astarte wohlgefällig sein, so daß sie in dieser Zeit der Not ihre schützende Hand über Opet halten würde. Er stand da in seinem weißen, seidenen Gewand, um den Hals einen Kranz aus purpurnen Lilien, deren Duft süß und schwer in der schweigenden Grotte hing. Jetzt war der Moment gekommen, das Loblied der Göttin zu singen – und dann die Opferung. Die Stille hielt noch einen Augenblick an, dann erklang eine Stimme durch die Grotte. Lannon erschrak und wandte den Kopf nach dem Sänger um. Die Stimme war unverkennbar in ihrer süßen Leuchtkraft und in ihrem Timbre. Lannon starrte Huy entgeistert an. Er war aus den Reihen der Edlen hervorgetreten, und während er sang, schritt er langsam auf Lannon zu. Seine Arme breiteten sich zum Sonnenzeichen, und aus seiner Kehle drang diese schmerzhaft schöne Stimme. Das Loblied endete, Huy stand jetzt dicht neben seinem König.
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Sein Gesicht war noch immer von Müdigkeit gezeichnet, tiefe Schatten unter den Augen, die Haut blaß, aber er lächelte Lannon mit einem Ausdruck der treuen Liebe an. »Huy!« flüsterte Lannon entsetzt. »Warum bist du hier? Ich habe dich schlafen lassen mit dem strikten Befehl, daß niemand dich stören sollte.« »Zu dieser Stunde ist mein Platz bei dir.« »Du hättest nicht kommen sollen«, protestierte Lannon. Das lief seinem Plan zuwider, er hatte nicht gewollt, das Huy den Tod der Hexe mitansah. Er wollte ihn nicht quälen, und Lannon erwog schon, das Ritual einfach abzubrechen und das Opfer zurückzuziehen. Aber Lannon wußte, daß in den nächsten Augenblicken die Sicherheit des ganzes Reiches auf dem Spiel stand. Konnte er das Opfer noch aufhalten, durfte er eine Beleidigung der Göttin wagen, war seine Verpflichtung Huy gegenüber stärker als seine Verpflichtung Opet gegenüber – war es nicht ohnehin schon zu spät? Spotteten die Götter und Dämonen seiner? Ratlos und entsetzt stand er da, eine Hand zu Huy hingestreckt wie in einer stummen Bitte um Verständnis und Vergebung. »Ich brauche dich«, sagte er mit heiserer Stimme, und Huy nahm, ohne zu verstehen, die ihm dargebotene Hand, was er für ein Zeichen der Freundschaft hielt. Stolz lächelte er seinen König und Freund an, als er das Opferlied an die Göttin zu singen begann. Seine Stimme stieg hoch hinauf zu der Opfer-Plattform über ihren Häuptern im Dach der Grotte. Aller Augen im Tempel waren emporgerichtet, und eine angespannte, erwartungsvolle Stille lag über den Scharen der Betenden.
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Tanith vermochte nicht zu glauben, was ihr geschah. Als sie im Morgengrauen zu ihr in die Zelle gekommen waren, dachte sie, es müsse Huy sein, der sie befreien wollte. Sie war von ihrem Lager aufgesprungen. Doch es war nicht Huy, sondern Schwester Haka. Sie hatten sie aus dem Tempel über die geheime Stiege zum Gipfel der Klippen geführt. Dort war sie in die reich verzierten Opfergewänder gekleidet und ihr Haar mit Blumen geschmückt worden. Dann hatten sie ihr Arme und Beine mit den schweren goldenen Ketten behängt, bis Tanith glaubte, unter dem Gewicht zusammenbrechen zu müssen. Sie wußte, daß dieser Schatz einen Teil des Opfers bildete und außerdem den Zweck hatte, ihren Körper bei dem Sturz in die grünen Tiefen des Teiches zu beschweren, dieses Teiches, der keinen Boden hatte und sie bis zum Herzen der Göttin tragen würde. »Huy«, dachte sie. »Wo bist du, mein Geliebter?« Schließlich kam eine Priesterin in Begleitung von fünfzehn kräftigen jungen Frauen; sie umringten Taniths Sitz und geleiteten sie zu der Plattform aus gemeißeltem Stein, die über das dunkle, gähnende Loch im Boden ragte. Der Pfad zur Opfer-Plattform war mit Blumen bestreut, mit den Blüten des gelben Mimosenbaumes, die der Göttin geweiht waren. Der Duft lag leicht und wehmütig in der warmen Luft. Die Blüten wurden unter Taniths nackten Füßen zerdrückt, als sie unter dem Gewicht ihrer goldenen Ketten darüber hinschritt. Plötzlich blieb sie stehen, wie gelähmt von dem Klang der Stimme, die aus dem Abgrund vor ihr aufstieg, eine Stimme, die durch die Entfernung gedämpft und seltsam von den Wänden der Grotte zurückgeworfen wurde; eine Stimme aber von solcher Reinheit und Schönheit, daß Tanith sie erkennen mußte. »Huy!« flüsterte sie. »Mein Gebieter!« Es war Huy selbst, der sie der Göttin sandte, und in diesem Augenblick erstand
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vor ihr eine Vision der Hölle und der totalen Verlassenheit. Auch er hatte sie verlassen. Nun gab es nichts mehr, wofür es sich zu leben lohnte. Es war leicht geworden, die letzten Schritte auf die Plattform hinauf zu tun. Als sie am Rande der Plattform stehenblieb, breitete sie die Arme im Sonnenzeichen aus und blickte hinab in die dämmernde Grotte. Die Wasser des Teiches lagen dunkel und still, und am Ufer standen der König und sein Priester. Sie sahen zu ihr empor, aber die Entfernung war zu groß, um den Gesichtsausdruck der Männer erkennen zu können. Sie wußte nur, daß Huys Stimme immer noch im Gebet erhoben war, daß er sie der Göttin darbrachte. Sie fühlte Haß und Zorn in sich auflodern. Wie um ihnen zu entgehen, beugte sie sich über den Abgrund vor, über den tiefen, grünen Teich, und als ihr Gleichgewicht zu schwinden begann, verstummte plötzlich Huys Stimme wie abgeschnitten in der Mitte eines Wortes. Ganz langsam neigte sie sich über den Rand der Plattform, und dann war sie plötzlich frei in der Luft und stürzte hinab, sauste auf den Teich zu, beschwert vom Gewicht der goldenen Ketten. Während sich ihr Inneres drehte, hörte sie noch einmal Huys Stimme, gesteigert zu einem gellenden Schrei der Verzweiflung, als er ihren Namen rief. »Tanith!« Sie schlug mit solcher Gewalt auf die Oberfläche des Teiches, daß alles Leben in ihr zertrümmert wurde, und ihr schwerer Schmuck zog sie so rasch unter die klaren Wasser, daß Huy in der Tiefe nur kurz den Glanz des Goldes sehen konnte.
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Manatassi überschritt den großen Fluß im Winter des OpetJahres 543. Er nutzte das kühlere Wetter, um seine Armeen durch das Tal zu bringen, wo das Wasser seinen niedrigsten Stand hatte. Er durchquerte es mit drei Armeen von verschiedener Größe. Die kleinste, mit 70 000 Kriegern, setzte im Westen über und nahm die dortigen Festungen, dann marschierte sie schnell in Richtung auf die Westufer des Sees von Opet, wo der schmale Kanal den Galeeren von Opet Zugang zum Ozean verschaffte. Er wurde der Fluß des Lebens genannt und war die Ader, die das Herz von Opet speiste. Manatassis Krieger durchschnitten diese Ader, befreiten die Sklaven, die an der Ausbaggerung des Kanals arbeiteten, und töteten die Soldaten und Sklavenaufseher. Der größte Teil von Habbakuk Lals Flotte lag dort vor Anker; die Galeeren wurden an Ort und Stelle verbrannt, die Matrosen bei lebendigem Leib in die Flammen geworfen. Dann blockierte Manatassis Kriegskapitän den Kanal. Seine Krieger und zehntausende der befreiten Sklaven trugen einen kleinen Granithügel ab und warfen die Brocken an der schmälsten Stelle in den Kanal. Diese Aktion schnitt Stadt und Volk Opets von der Außenwelt ab. Zur selben Zeit überquerte eine zweite, größere Armee den Fluß im Osten, fegte ungehindert durch das Gebiet der Draven und brach wie ein schwarzer Sturm über die Hügel von Zeng. Die dritte und größte Armee, fast eine dreiviertel Million Männer, schwärmte bei Sett über den Fluß. Sie stand unter dem persönlichen Kommando von Manatassi. Er hatte diesen Ort ganz bewußt gewählt. Marmon eilte ihm mit seiner einzigen Legion von 6000 Mann entgegen und wurde in einem raschen, blutigen Gefecht vernichtet. Marmon floh vom Schlachtfeld und stürzte sich mitten unter den brennenden Ruinen von Zanat in sein Schwert.
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Manatassi drängte noch weiter vor nach Opet. Seine Front war fast vier Kilometer breit und über dreißig tief. Er fegte durch das Land. Er zertrümmerte und zerstörte alles, errichtete ungeheure Scheiterhaufen für ein ganzes Volk. Sämtliche Gebäude steckte er in Brand, riß sie dann nieder und verstreute die heißen Trümmer über die Erde. Und wie sich sein Haß an dieser Zerstörung nährte, schien er zu wachsen wie die Flammen, die er entzündete, und sein Haß brannte um so höher, je mehr Zerstörung er türmte. Opets gesamte Kampfstärke bestand aus neun Legionen. Eine davon war mit Marmon im Norden gefallen, zwei weitere wurden auf den Hügeln von Zeng in Stücke gehackt. Mit den verbleibenden sechs Legionen marschierte Lannon Hycanus aus Opet, um sich Manatassi zu stellen. Sie trafen aufeinander, 240 Kilometer nordöstlich von Opet, und Lannon errang einen Sieg, der ihm einen Tag Atempause einbrachte, ihn aber 4000 Mann kostete. Bakmor, der in Abwesenheit des Hohepriesters die Legion Ben-Amon befehligte, kam zu Lannons Zelt auf dem Schlachtfeld, als der Himmel noch rot glänzte von den Totenfeuern und der Gestank nach verbranntem Fleisch die Luft erfüllte. »Der Feind hat 48 000 Mann auf dem Felde gelassen«, berichtete Bakmor. »Wir haben zwölf erschlagen für jeden von uns.« Am nächsten Tag kämpften sie wieder – in einer Schlacht, die ebenso erbittert und verlustreich war wie die vorige. Wieder errang Lannon einen schwererkämpften Sieg, aber er konnte das Feld nicht halten und mußte mehr als tausend seiner Verwundeten den Hyänen und Schakalen überlassen, während er sich auf eine neue Verteidigungsposition auf einer Hügelkette zurückzog. Fünf Tage später kämpften sie wieder und noch weitere fünf Mal während der nächsten siebzig Tage. Lannons stolze sechs
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Legionen waren auf drei zusammengeschrumpft. Sie hatten acht große Schlachten gewonnen und fast 200 000 Feinde erschlagen, aber es hatte ihnen nichts eingebracht. Inzwischen war Zeng gefallen, und nur eine Handvoll Soldaten hatte sich durchschlagen können, um davon zu berichten. Die Städte waren verbrannt und dem Erdboden gleichgemacht, die Gärten vernichtet. Die Bergwerke des mittleren Königreiches waren zerstört, die Stollen mit Erde und Steinen zugeschüttet, und die befreiten Sklaven hatten sich der Horde Manatassis angeschlossen. Der Fluß des Lebens war mit Steinen verstopft, so daß es nun auch kein Entkommen mehr auf Habbakuk Lals Galeeren gab, und aus Osten und Westen marschierten immer neue Armeen heran, um Manatassis Zug gegen Opet zu verstärken. Trotz der schweren Verluste, die Lannon der Armee Manatassis zugefügt hatte, schien diese in keiner Weise beeinträchtigt zu sein. Jedesmal, wenn Lannon seine Standarten aufpflanzte, um Manatassi erneut den Vormarsch zu verwehren, schickte dieser neue Massen zum Angriff vor. Und wenn auch Zehntausende der Gegner hingeschlachtet wurden, so verbluteten dabei doch auch Lannons eigene Legionen und blieben von Mal zu Mal geschwächter zurück, ihr Kampfgeist jedesmal mehr von Verzweiflung zerstört. Am einundsiebzigsten Tag desertierten 6000 Mann, eine ganze Legion, nachdem sie in der Nacht ihre Offiziere ermordet hatten; sie stahlen sich in der Dunkelheit davon. Sie hielten nur an, um sich aus den Dörfern rund um Opet ihre Frauen zu holen, und verschwanden dann in südlicher Richtung. Lannon zog sich mit dem Rest seiner Truppen bis zur Stadt zurück. In der Nacht konnte er die Lagerfeuer der feindlichen Armeen sehen. Manatassi war ihm hart auf den Fersen. Bakmor fand den König am Rand des Lagers, wie er die feindlichen Stellungen beobachtete. Eifrig näherte er sich Lan-
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non, denn er brachte die erste gute Kunde seit langer Zeit. »Wir haben Nachricht von Huy Ben-Amon, Majestät.« Lannon fühlte seine Lebensgeister plötzlich aufflammen. »Wo ist er? Ist er am Leben? Ist er zurückgekommen?« fragte Lannon erregt. Erst jetzt gestand er sich ein, wie sehr er den kleinen Priester vermißt hatte. Seitdem Huy beim Fest der Fruchtbaren Erde mitten während der Feierlichkeiten aus der Grotte der Astarte gerannt war, hatte er ihn nicht mehr gesehen. Huy blieb verschwunden, obwohl Lannon eine Suchaktion eingeleitet und eine hohe Belohnung ausgesetzt hatte. »Ist er zurückgekommen?« Wie oft hatte sich Lannon seitdem in langen Nächten nach Huys Freundschaft gesehnt, nach seinem Rat, nach seinem Trost. »Wo ist er?« wollte Lannon wissen. »Ein Fischer hat ihn gesehen. Er ist draußen auf der Insel«, sagte Bakmor.
Die Tage waren wie in einem Nebel des Grams vorübergezogen. Huy hatte sie nicht mehr gezählt, gleichförmig waren sie abgelaufen. Er verbrachte die meiste Zeit mit der Arbeit an den Schriftrollen. Er hatte alle fünf goldenen Bücher bei sich, und wenn er sich nicht in der Hütte aufhielt, vergrub er sie unter seiner Schlafmatte. Er schrieb ausschließlich von Tanith, von seiner Liebe für sie und von ihrem Tod. Zuerst schrieb er auch die Nächte hindurch, aber dann hatte er das letzte Öl für die Lampe verbraucht, und so verbrachte er seine Nächte damit, einsam am Strand entlangzuwandern und auf das leise Rauschen der Wellen zu lauschen. Er nährte sich von Süßwassermuscheln und den paar Fi-
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schen, die er im Flachwasser fing; er magerte ab und verwahrloste. Gram lag in seinen wilden Augen. Huy war halb wahnsinnig, und alles war ihm gleichgültig, außer seinem eigenen unerträglichen Verlust. Viele dieser hoffnungslosen Tage waren verstrichen, als schließlich Zorn und Haß in ihm aufstiegen, dunkle und gefährliche Gedanken. Er schaute ins Feuer und dachte nach über sein Land und seine Götter. Es schien ihm plötzlich, daß sie alle grausam und gierig waren. Ein Land, das sich der Anhäufung von Reichtümern gewidmet hatte, ohne auf den Preis menschlicher Leiden zu achten. Leichtfertige Götter, die Opfer forderten, unersättlich und alles verschlingend. Huy ging hinunter zum Seeufer und kauerte sich in den Sand. Die dunklen Gedanken blieben, die quälenden Erinnerungen an Tanith. Er grübelte über die Götter nach, die sich als Opfer die Geliebte ihres treuesten Dieners aussuchten. Was würden sie noch von ihm verlangen. Er hatte ihnen alles gegeben, was ihm teuer war. Mit welcher Grausamkeit hatten sie Lannon zum Werkzeug bestellt, ihm seine Liebe zu rauben. Er wünschte jetzt, er hätte Lannon von Tanith erzählen können. Wenn er von ihrer Liebe gewußt hätte, dann hätte er Tanith beschützt, davon war Huy überzeugt. Er haßte Lannon nicht mehr, doch er erkannte plötzlich, daß er diejenigen haßte, die ihn dazu zwingen wollten – die Götter, die entsetzlichen gnadenlosen Götter. Aus dem See stieg der große Baal golden und rot in all seiner glänzenden Pracht empor, und über die Wasser hinweg sah er die rosigen Klippen und die Türme von Opet am Horizont erglühen. Schon wollte sich Huy erheben, die Arme im Sonnenzeichen ausbreiten und anstimmen, aber dann wallte Zorn in ihm auf, fuhr ihm wie ein Feuerstoß durch die Seele und entzündete seinen Haß.
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»Sei verdammt!« schrie er. »Was willst du noch von mir, du Zerstörer von Menschen? Wie lange soll ich noch dein Spielzeug sein?« Er drohte in wildem Trotz gegen die aufgehende Sonne, sein Gesicht war verzerrt, Tränen liefen in seinen zerzausten Bart. »Wie lange muß ich deinen grausamen Hunger noch stillen? Wieviel Unschuldige brauchst du noch, bis deine unsinnige Blutlust gestillt ist?« Er fiel in dem nassen Sand auf die Knie. »Ich sage mich los von dir!« schrie er, »von dir und von deiner schrecklichen Gefährtin. Ich will nichts mehr mit euch zu tun haben – ich hasse euch. Hört ihr mich? Ich hasse euch!« Weinend blieb er im nassen Sand liegen. Viel später ging er langsam zu seiner Hütte zurück. Er empfand eine Art von schicksalhafter Gelassenheit, einen Frieden, wie er auf eine unwiderrufliche Entscheidung folgt. Jetzt war er kein Priester mehr. Wieder schrieb er von Tanith und versuchte, sich jeden Tonfall ihrer Stimme, jedes Lächeln und jede Geste ins Gedächtnis zu rufen, die Art ihres Lachens und die Art, wie sie ihren Kopf hielt – als ob er ihr durch seine Worte Unsterblichkeit verleihen könnte. Einmal knirschten Schritte im Sand vor seiner Hütte, und eine dunkle Gestalt verstellte ihm das Sonnenlicht. Als Huy aufblickte, sah er Lannon Hycanus in der Tür stehen. »Ich brauche dich«, sagte er. Huy antwortete nicht. Er blinzelte Lannon nur an. »Es war auf dieser Insel, wo du mir versprochen hast, mich niemals zu verlassen«, sagte Lannon leise. »Erinnerst du dich?« Huy sah ihn lange an. Er sah die tiefen Furchen, die Verantwortung und Leid in Lannons Gesicht gegraben hatten, er sah
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die dunkel umschatteten Augenhöhlen, die graue Hautfarbe und die silbernen Fäden im Bart und an den Schläfen, er sah die nur halb verheilten Wunden: Er sah einen Mann, der bis zum Äußersten gegangen war und in dessen Kehle der bittere Geschmack der Niederlage brannte. »Ja«, sagte Huy, »ich erinnere mich.« Er stand auf und ging zu Lannon.
Sie kamen am frühen Morgen nach Opet zurück. Die ganze Nacht hatten sie in Huys Hütte am Feuer gesessen und geredet. Lannon hatte ihm vom Verlauf des Feldzugs, von der Stimmung des Landes und von jeder einzelnen Schlacht berichtet. »Ich hatte große Hoffnungen in die Kriegselefanten gesetzt, die sind aber enttäuscht worden. Wir haben die meisten schon beim ersten Zusammenstoß verloren. Sie hatten vergiftete Speere.« Lannon berichtete weiter, von dem langsamen Rückzug vor den schwarzen Horden, der wachsenden Verzweiflung unter den Legionen, den Desertionen und Meutereien, der Zerstörung des Großteils der Flotte an der Küste und der Blockierung des Kanals. »Wieviele Schiffe sind übrig?« »Neun Galeeren«, erwiderte Lannon, »und eine Reihe von Fischerbooten.« »Genügend, um uns alle über den See ans südliche Ufer zu bringen?« »Nein.« Lannon schüttelte den Kopf. »Nicht annähernd genug.« Sie redeten die Nacht hindurch, und in der dunklen Stunde vor dem ersten Schimmer der Dämmerung stellte Lannon die
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Frage, die ihm den ganzen Abend auf den Lippen gebrannt hatte. Er wußte, daß Huy sie erwartete. »Warum hast du mich verlassen, Huy?« fragte Lannon leise. Wenn Huy glauben sollte, daß Lannon nichts von seiner Beziehung zu der Hexe wußte, wenn er glauben sollte, daß die Wahl des Opfers zufällig gewesen war, mußte Lannon Unwissenheit vortäuschen. Huy schaute bei der Frage auf, Feuerschein erhellte von unten sein Gesicht, nur die Augen blieben dunkle Höhlen. »Du weißt es nicht?« fragte er und beobachtete Lannon aufmerksam. »Ich weiß nur, daß du den Namen der Hexe gerufen hast, und dann warst du verschwunden.« Huy fuhr fort, Lannons Gesicht im Feuerschein zu prüfen, auf der Suche nach einem Anzeichen der Schuld, nach einem Zucken der Lüge. Er fand nichts. Lannons Gesicht war müde und angespannt, aber die blassen blauen Augen blieben gerade und fest. »Was war es, Huy?« beharrte er. »Ich habe so oft darüber nachgedacht. Was hat dich aus dem Tempel getrieben?« »Tanith. Ich habe sie geliebt«, sagte Huy, und Lannons Ausdruck wechselte. Er starrte Huy lange Sekunden an, entsetzt und geschlagen. »Oh, mein Freund, was habe ich dir angetan? Ich wußte es nicht, Huy, ich wußte es nicht.« Huy senkte den Blick zum Feuer und seufzte. »Ich glaube dir«, sagte er. »Bete um Baals Vergebung für mich, Huy«, flüsterte Lannon und lehnte sich herüber, um Huys Schulter zu ergreifen, »daß ich dir je ein Leid zugefügt habe.« »Nein, Lannon«, antwortete Huy. »Ich werde nie wieder beten. Ich habe meine Liebe verloren und meinen Göttern abgeschworen. Nun habe ich nichts mehr.«
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»Du hast immer noch mich, Freund«, sagte Lannon, und Huy lächelte ihm verlegen zu. »Ja«, stimmte er zu. »Ich habe immer noch dich.« Sie trugen die goldenen Rollen und die Geieraxt hinunter ans Ufer, wo Bakmor und die Besatzung des Fischerbootes geduldig warteten. Am frühen Morgen trafen sie in Opet ein. Die Legionen jubelten ihnen zu, dem König und dem Priester, als sie durch das Lager schritten. Huy unterdrückte mühsam seine Tränen. »Ich verdiene es nicht«, flüsterte er. »Ich habe sie verlassen. Ich hätte bei ihnen sein sollen.« Obwohl die beiden Legionen aus den versprengten Überresten der ursprünglichen neun zusammengewürfelt waren, schien es Huy, als seien sie um das Fundament der Legion Ben-Amon formiert. Überall sah er bekannte Gesichter in den Reihen, die ihn freundlich anlachten. Er versuchte fröhlich zu wirken, obwohl er entsetzt war, wie viele von ihnen schwere Verwundungen hatten und wie erschöpft sie alle waren. Aber es steckte noch Mut zum Kämpfen in ihnen. Zum Glück war noch keine der Fieberseuchen aufgetreten. 26 000 Mann lagerten am Seeufer. Huy fühlte ein Fünkchen Hoffnung aufglimmen, als er zwischen ihnen hindurchschritt. Vielleicht konnte man mit dieser Streitmacht doch noch etwas ausrichten. Lannon und Huy aßen das Mittagsmahl mit ihren Offizieren. So nahe den Kornkammern von Opet herrschte kein Mangel an Getreide oder Fleisch oder Wein, und sie schlemmten und tranken einander zu, während ihre Männer auf Lannons Anordnung hin die doppelte Weinration genossen. Unterdessen rückten Manatassis Horden unaufhaltsam heran und überzogen das ganze Seeufer. Es war, als ob sich ein Nest schwarzer Pythons entrollte, in
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langen breiten Kolonnen vorwärtsfließend. Diese Menschenmassen schienen kein Ende zu nehmen, es war wie der Aufbruch der Elemente. Nur fünf Meilen von Lannons Lager entfernt hatte Manatassi sein eigenes Lager am anderen Seeufer aufgeschlagen. Aber noch immer war das Ende seiner Armee nicht abzusehen, und die Ebene war schon übersät mit seinen Regimentern. Es war unmöglich, diese Männer zu zählen. Lannon und Huy hatten dieses gewaltige Schauspiel von einer Anhöhe aus beobachtet. Der Stern Astartes war ein heller Lichtpunkt am Indigo-Himmel über Opet. Huy wandte seine Augen ab. Sie gingen zum Hafen und sahen zu, wie die Frauen und Kinder in die übriggebliebenen Galeeren Habbakuk Lals stiegen. Sie würden während der Nacht und des folgenden Tages vor der Küste ankern, bis die Schlacht entschieden war. Wenn sich das Schicksal gegen Opet wandte, wie Huy es sicher erwartete, sollten sie über den See gebracht werden und sich südwärts durchschlagen, vielleicht würden sie Manatassi entkommen können. Lannon verabschiedete sich von seinen Frauen und Kindern auf dem Deck von Habbakuk Lals Flaggschiff. Er wirkte erhaben und würdevoll, als die Frauen einzeln vortraten, um dicht vor ihm niederzuknien. Die Kinder folgten ihren Müttern, Lannon schaute sie kaum an. Die Massen auf dem Kai standen gedrängt und schweigend. Alle wußten, daß ihnen ein furchtbarer Morgen bevorstand. Die ersten Plünderer waren bereits am Werk, die leeren Häuser der Reichen auszurauben. Huy erschrak, als er an die goldenen Bücher dachte. »Majestät, gestatte mir eine Stunde«, sagte er, als sie an die Abzweigung gelangten. »Was ist, Huy?« fragte Lannon gereizt. »Es gibt noch viel zu
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tun. Wozu brauchst du die Zeit?« »Ich muß meinen Haushalt auflösen. Meine Wertsachen sollen verborgen werden, besonders die Rollen – die goldenen Rollen.« »Wie du willst«, gab Lannon nach. »Aber verschwende keine Zeit. Kehre zurück, sobald du kannst.« Mit zwei der jüngeren Sklaven, beide unter dem immensen Gewicht der Rollen gebeugt, durchquerte Huy den Baalstempel und ging durch den Spalt in die Höhle Astartes. Sie lag still und verlassen. Die Priesterinnen waren alle an Bord der Galeeren im Hafen. Huy blieb neben dem Teich stehen und schaute in seine Tiefen hinab. »Warte auf mich, meine Liebe«, sagte er. »Ich werde dir bald folgen. Bewahre mir einen Platz an deiner Seite.« Er fand die Offiziere der Tempelgarde in den hinteren Räumen. Sie begrüßten ihn freudig. Sie halfen ihm, die Rollen in die Tonkrüge zu stecken und sie mit den goldenen Täfelchen zu versiegeln. Dann trugen sie sie in die Archive und stellten sie auf die Steinregale, verborgen hinter einer Reihe größerer Krüge. Dann eilte Huy zum Palast, wo Lannon ihn erleichtert begrüßte. »Ich habe an deiner Rückkehr gezweifelt, Huy. Ich dachte, das Geschick würde uns wieder trennen.« »Ich habe dir ein Versprechen gegeben, Majestät«, beruhigte ihn Huy. In dem großen Lederzelt planten sie die Schlacht, entschieden, in welcher Formation sie dem Feind begegnen wollten. Schreiber zeichneten die Befehle auf. Ständig wurden sie von Offizieren und Adjutanten unterbrochen, die Befehle erwarteten oder von den Bewegungen des Feindes berichteten. Rib-Addi kam ins Zelt.
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»Der Schatz, Majestät. Sollten wir ihn nicht an einen sicheren Ort schaffen?« »Sag mir, welcher Ort sicher ist«, knurrte Lannon ihn an. »Niemand da draußen weiß etwas von der Sonnentür. Laß den Schatz, wo er ist; er bleibt dort, bis wir ihn holen kommen.« »Die Wachen sind abgezogen worden«, beharrte Rib-Addi. »Es ist nicht recht –« »Hör zu, Alter. Ich brauchte 1000 Männer und zehn Tage, um diesen Schatz fortzuschaffen. Ich habe weder die Männer noch die Zeit. Geh, laß uns allein. Wir haben jetzt Wichtigeres zu tun.« Rib-Addi zog sich bekümmert zurück. Was konnte es Wichtigeres geben als Gold und Schätze? Kurz vor Mitternacht richtete Lannon sich auf und seufzte tief. Er sah krank und müde aus. »Mehr können wir nicht tun, Huy. Alles andere liegt in den Händen der Götter.« Er legte einen Arm um Huys Schulter und führte ihn zu der Zeltöffnung. »Eine Schale Wein, einen Atemzug Seeluft – dann schlafen.« Sie standen vor dem Zelt, und eine kühle Brise kam vom See herauf. Irgend etwas regte sich an der Zeltseite beim Klang ihrer Stimmen; Huy hielt es im ersten Augenblick für einen großen braunen Hund, der zusammengerollt schlief. Dann sah er, daß es der kleine Buschneger war, der Jagdmeister Xhai, der treu wie immer vor dem Eingang zum Zelt seines Herrn schlief. Er schüttelte sich wach, grinste, als er Lannon und Huy sah, und hockte sich neben Lannon. »Ich habe versucht, ihn fortzuschicken«, sagte Lannon. »Er versteht es nicht. Er will nicht gehen.« Lannon seufzte. »Es scheint sinnlos, daß auch er stirbt, aber wie kann ich ihn zwingen zu gehen!« »Schick ihn mit einem Auftrag fort«, schlug Huy vor, und
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Lannon blickte ihn nachdenklich an. »Mit welchem Auftrag?« »Er soll nach Spuren des Grau-Löwen am südlichen Ufer forschen. Das wird er dir glauben.« »Ja, das wird er glauben«, stimmte Lannon zu. »Sag’s ihm, Huy.« Huy erklärte dem kleinen gelben Mann in seiner eigenen Sprache, der König wolle wieder den Grau-Löwen jagen. Xhais geschlitzte gelbe Augen funkelten auf, er grinste und nickte begeistert, zufrieden darüber, daß er dem Mann zu Diensten sein konnte, den er wie einen Gott verehrte. »Du mußt sofort gehen«, sagte ihm Huy. »Es ist dringend.« Xhai umfaßte Lannons Knie, neigte kurz den Kopf und verschwand in den Schatten des Lagers. Als er fort war, schwiegen sie eine Weile, bis Lannon sagte: »Erinnerst du dich an die Prophezeiung, Huy? Wer wird nach mir Opet regieren?« »Wer den Grau-Löwen erlegt.« Er erinnerte sich auch an die folgende Prophezeiung. »Was muß ich fürchten?« »Schwärze.« Huy drehte sich um und blickte nach Norden, wo das große schwarze Biest lauerte, zum Sprung bereit. Lannon dachte das gleiche. »Ja, Huy«, murmelte er. »Schwärze!« Und dann leerte er seine Weinschale und schleuderte sie ins Wachfeuer. Ein Funkenstrahl flog auf. »Von der Hand eines Freundes«, sagte er, sich an die letzte Prophezeiung erinnernd. »Wir werden sehen«, sagte er. »Wir werden sehen.« Dann blickte er Huy an und sah sein Gesicht. »Oh, vergib mir, Freund. Ich wollte nicht noch Öl in das Feuer deines Schmerzes gießen. Ich hätte dich nicht an das Mädchen erinnern sollen.« Huy trank den Rest seines Weines und warf die Schale ins
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Feuer. Er brauchte nicht an Tanith erinnert zu werden, sie war stets in seinen Gedanken. »Laß uns jetzt ruhen«, sagte Huy, aber sein Gesicht war verzerrt vor Schmerz. Schreie und Trompeten weckten Huy auf, und er dachte sofort an einen nächtlichen Überfall. Er warf seine Rüstung über, ergriff die Geieraxt, und während er aus dem Zelt stolperte, zurrte er noch an den Riemen seines Brustpanzers. Der Nachthimmel glühte wie bei der ersten Morgendämmerung, aber der Schein stieg aus der falschen Richtung auf, er kam direkt vom See. Lannon trat zu ihm, schlaftrunken und fluchend, als er sich mit seiner Rüstung und seinem Helm abmühte. »Was ist los, Huy?« fragte er. »Ich weiß nicht«, gab Huy zu, und sie starrten auf den seltsamen Schein, der immer heller wurde. »Der Hafen«, sagte Huy, endlich begreifend. »Die Flotte. Die Frauen.« »Barmherziger Baal«, keuchte Lannon. »Komm!« Und sie rannten zusammen. Manatassi hatte die Röhren aus den gestrandeten Galeeren genommen, bevor er sie verbrannte. Nach kurzem Experimentieren wußte er, wie sie funktionierten. Es war ein einfacher Vorgang, der zum größten Teil von der Strömung und Windrichtung abhing. Er hatte die Röhren über Land getragen und sie an zwei erbeuteten Fischerbooten angebracht. Der Küstenwind war seinem Vorhaben günstig, er trieb die Boote lautlos in die Mündung des Hafens von Opet. Er war selbst an Bord eines der Boote gestiegen und stand jetzt am Heck, in ein Gewand aus Leopardenfell gehüllt. Mit wilden und hungrigen Augen schaute er zu, wie die Strahlen auf die Oberfläche des windbewegten Wassers spritzten und in Flammen aufgingen.
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Vom Wind getragen, rauschte die Flammenwand in den Hafen, dröhnend wie ein Wasserfall und den Himmel mit einer unnatürlichen Dämmerung erhellend. Huy stand neben Lannon auf dem Kai. Das gesamte Hafenbecken war mit hohen gelben, gierig flackernden Flammen erfüllt, schwarze Rauchwolken verdeckten den Sternenhimmel und rollten in dicken, übelriechenden Wogen über die Stadt. Die Galeeren Habbakuk Lals lagen wie Inseln in einem Feuermeer. Auf den Decks drängten sich die Frauen und die Kinder, und ihre Schreie übertönten das dumpfe Röhren der Flammen. Die Wachen am Ufer mußten hilflos zusehen. Die Flammen ergriffen die hölzernen Rümpfe und die Ankertaue, rasten hoch zu den überfüllten Decks. Manatassi schaute gebannt zu, der Feuerschein spiegelte sich in seinen wilden gelben Augen wider. Erst als die letzten Flammen erloschen waren und nur die ausgebrannten Rümpfe der Galeeren noch schwelten, gab er das Zeichen zur Umkehr.
Das also ist die Stimmung für die letzte Schlacht, diese Mischung aus Trauer und Zorn, dachte Huy, als er mit Lannon die Reihen abschritt. Die Sonne war aufgegangen, sie warf lange Schatten auf das blaßbraune Gras der Ebene. Heiter leuchtete das Azurblau des Sees mit den kleinen Schaumkronen der Morgenbrise. Rechts stieg die zerklüftete Klippenwand an, nach vorn hin war das Gelände offen, mit niedrigem Gebüsch und einzelnen großen Bäumen; es fiel sanft von den Klippen zum Seeufer ab. Hinter ihnen lagen die Gebäude und Straßen der unteren Stadt, ein Labyrinth aus niedrigen Lehmmauern und flachen
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Dächern, und noch weiter hinten erhoben sich die massiven Steinwände des Tempels und die Spitzen der Sonnentürme. Dies war ein guter Kampfplatz für die letzte Schlacht, diese enge Front mit festen Flanken und einem offenen Rückzugsweg. Lannon schritt die Reihen ab. In seinem Gang lag etwas Federndes, war eine Bestimmtheit, die seine müden Augen und sein schmerzkrankes Gesicht Lügen strafte – das Gesicht eines Mannes, der eben seine Familie hatte verbrennen sehen. Huy folgte einen Schritt hinter ihm. Die Legionen waren in Schlachtformation aufgestellt, und Huy konnte keinen Makel in der Anordnung entdecken. Die leichte Infanterie bildete einen weiten Schirm; jeder Mann war hier bewaffnet mit einem Bündel Speere sowie mit Seitenwaffen. Hinter ihnen stand die schwere Infanterie, große Männer mit Äxten und Kriegslanzen, angetan mit schweren Rüstungen; diese Männer waren das Rückgrat der Legionen. Die leichte Infanterie konnte sich unter Druck zwischen ihre Reihen zurückziehen und den Feind gegen dieses feste Panzerriff anrennen lassen. An der Rückseite standen die Bogenschützen, säuberlich in Blöcke aufgeteilt, von denen sie Pfeilschwärme über die Köpfe der Infanterie senden konnten. Wieder dahinter waren die Leute vom Troß, mit Bündeln neuer Speere und Pfeile, Beuteln mit getrocknetem Fleisch und Hirsekuchen, Amphoren mit Wasser und Wein, zusätzlichen Helmen, Schwertern und Äxten und all den anderen Gegenständen, die in der Schlacht verbraucht oder vernichtet wurden. Zunächst ging Lannons Gruppe schweigend die Reihen entlang. Die Männer bewahrten eine fast schon unheimliche Ruhe. Sie erreichten eine kleine Bodenerhebung im Zentrum der Linie, von wo aus sie das gesamte Feld überblicken konnten. Über ihren Köpfen standen die Standarten, prunkend mit
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glitzerndem Gold und bunten Seidenquasten. Huy schaute über die genau angeordneten Kohorten, auf deren Helmen und Waffen die Sonne funkelte, und dachte bei sich, daß er mit guten Männern die letzte Schlacht schlagen, daß er in der Gesellschaft guter Männer sterben würde. Er lockerte seinen Helm und nahm ihn vom Kopf, hielt ihn in der Armbeuge. »Wein her!« rief er, und die Troßleute eilten mit Schalen und Amphoren zu ihnen. Es war der beste Wein aus Huys eigenen Vorräten, voll und rot wie das Blut, das bald dieses Feld tränken würde. Huy grüßte seine Offiziere mit einer erhobenen Schale, dann wandte er sich zu Lannon. Sie sahen einander lange an. »Fliege für mich, Vogel der Sonne«, sagte Lannon weich. »Brülle heute für mich, Löwe von Opet«, antwortete Huy, und sie tranken und zerbrachen die Schalen und lachten zum letzten Male miteinander. Manatassi kam in der Mitte des hellen heißen Morgens. Er kam mit einer Front, die die Ebene vom See bis zum Fuß der Klippen füllte. 500 000 Kehlen stimmten den Schlachtgesang an, dazu das rhythmische Klatschen nackter Füße und Kriegsgetöse, das wie Donner durch die Luft rollte. Er kam mit geordneten Reihen, die eine feste, undurchdringliche Front bildeten. Er kam in unzähligen Reihen; sein Aufmarsch schien nicht enden zu wollen, und der Gesang ließ die Ebene erbeben. Er kam wie der Schatten der Sturmwolken, die stolz und langsam über das Land segeln, er kam dunkel wie die Nacht und zahlreich wie das Gras des Feldes, und der Gesang wurde härter und drohender. Huy setzte seinen Helm auf und band ihn fest. Er zog die Geieraxt aus der Scheide und sah das feindliche Meer wie ein einziges riesiges schwarzes Tier vormarschieren. Nie in seinem
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Leben hatte er ein ähnliches Bild gesehen. Das ist ein würdiger Gegner für die letzte Schlacht, dachte er. Manatassi marschierte über die Markierungen hinaus, die Huy angebracht hatte, um die Entfernung zu messen; 200 Schritte, 150 – und der Staub von einer Million trampelnder Füße stieg wie ein feuergoldener Wall auf, hüllte alles ein, so daß sie endlos aus dem wogenden Nebel aufzutauchen schienen. Huy spürte, wie ihm der Mund austrocknete und das Blut durch seinen angespannten Körper raste. Er hob die Geieraxt hoch und blickte nach links und rechts, um sicherzustellen, daß alle Kommandeure der Bogenschützen das Signal gesehen hatten. Einhundertfünfzig Schritte, die schwarze Flut rollte auf ihn zu, und der Gesang wechselte wieder – ansteigend, ins pulsierende Blut gellend, das hohe Heulen, ein schauderhafter Ton, wie ihn Huy noch nie gehört hatte. Die Haare sträubten sich ihm, und seine Gedärme schienen den Körper zu sprengen. Sie kamen immer noch näher, stampfend, mit den Lanzen an die Schilde trommelnd, mit nickendem Kopfputz, und Huy stand mit der hocherhobenen Axt. Einhundert Schritte, und Huy ließ die Axt fallen. Sogleich war die Luft erfüllt von dem sanften Pfeifen der Pfeile. Sie stiegen auf und fielen wie Heuschrecken in dichten schwarzen Bogen nieder. Ein Grollen kam aus der Schwärze – das Grollen des Untiers, aber es lief stetig weiter in die Speere. Lücken in der Front wurden sofort gefüllt, und die Gefallenen waren unter der dichten Masse der Körper, die über sie schritten, verborgen. Huys leichte Infanterie schmolz dahin, sie zog sich zwischen die Schwerbewaffneten hinter ihnen zurück, und Manatassi prallte wuchtig auf Huys Front. Nichts schien es bremsen zu können, es war zu schwer, zu
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breit, tief und stark. Es mußte durch die Linie der hellen Helme brechen. Dann kam die schwarze Wucht zum Stehen, lief auf, drängte zusammen. Die Reihen ballten sich zu einer zappelnden Masse und stießen gegen die dornige Metallhecke von Huys Frontlinie. Plötzlich zogen sie sich zurück, fortgesaugt wie eine Meereswelle von der Steilküste. Sogleich kamen die Speerwerfer zwischen den Schwerbewaffneten hervor, um den Rückzug zu stören, während die Rufe der Zenturionen, die ihre Linien auffüllten, deutlich zu Huy herüberschallten. »Hier auf schließen!« »Speere her!« »Füllt diese Lücke!« »Männer her! Männer her!« Manatassi zog sich zurück, gruppierte, sammelte sich wie zu einer steilen Welle und brauste wieder heran, schlug zu und preßte hart, gewann einen Meter Boden und zog sich wieder zurück, sammelte sich, kam wieder mit wachsender Geschwindigkeit vorwärts und prallte erneut auf Huys Front. Um Mittag mußten Lannon und Huy ihren Kommandoposten verlassen, da der Kampf schon zu ihren Füßen tobte. Die Standarten wurden weiter nach hinten verschoben. Eine Stunde nach Mittag schickte Huy seine letzten Reserven an die Front; er hielt nur die Tempelgarde unter seinem persönlichen Kommando. Immer noch brandeten die schwarzen Wogen in einem furchtbaren gleichmäßigen Rhythmus gegen die Stellungen. Huy wich ihnen langsam, sich jedesmal gerade weit genug zurückziehend, um seine Reihe wieder zu festigen. Sie war inzwischen so dünn geworden, daß es schien, als ob der nächste Ansturm sie durchbrechen müßte, aber noch hielt sie stand. Dann waren sie in der unteren Stadt, zogen sich kämpfend
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durch die Straßen zurück. Huy verlor den Sichtkontakt mit der Hauptschlacht. Er war in einer engen Straße, wo er mit einer Handvoll Legionären den Ansturm schwarzer Krieger abwehrte. Zum erstenmal an diesem Tage wurde Huy in den Kampf gezogen. Eine kleine Gruppe wildäugiger schwarzer Männer brach durch die Reihe vor ihm. Lücken rissen auf. Er wußte nun, daß die Schlacht seiner Kontrolle entglitten war. Er und Lannon waren mit einer Abteilung von Kämpfern isoliert, sie konnten nur die Männer in Reichweite ihrer Stimmen befehligen. Von einem entlegenen Teil des Feldes erscholl ein tierisches Triumphgebrüll; Lannon ergriff Huys Schulter und schrie: »Ich fürchte, sie sind durchgebrochen.« Huy nickte. Die Stellungsschlacht war vorüber; jetzt würde der Feind durch viele Lücken in der aufgelösten Linie strömen. Jetzt stand die Vernichtung bevor. Das Wunder hatte nicht stattgefunden – die letzte Schlacht war verloren. »Zum Tempel zurück?« schrie Lannon fragend, und wieder nickte Huy. Die Armee Opets existierte nicht mehr, sie war zersplittert, zerschlagen in hunderte von Gruppen verzweifelter Männer, die dicht gedrängt ihren letzten Kampf austrugen, einen Kampf, den nur der Tod beenden konnte. Sie scharten die Tempelgarde um sich und wichen durch die Straße zum Tempel zurück, so dicht nebeneinander, daß sie dem Feind eine einzige feste Schale aus Schilden boten. Manatassis Horden waren jetzt in ihrem Rücken, zwischen ihnen und dem Tempel. Sie hatten in der unteren Stadt Feuer gelegt, die Flammen griffen rasch um sich. Die Straßen, durch die Huy marschierte, waren verstopft mit entsetzten Bürgern und Gruppen wilder, blutbespritzter Krieger. Huy schlug sich zwischen allen hindurch. Das Haupttor des Tempels war offen und ungeschützt. Die Wachen waren geflohen, die Tempeleinfriedung war leer und
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ruhig. Huy und zehn Männer verteidigten noch die Stufen, während Lannon die Torflügel schloß; im letzten Augenblick raste Huy mit seinen Männern durch die sich schließende Lücke. Sie stützten sich auf ihre blutigen Waffen, lockerten die Helme, wischten sich den Schweiß aus den Augen. »Das Osttor?« fragte Huy. »Ist es bewacht? Hast du Männer hingeschickt, um es zu schließen?« Lannon starrte ihn erschreckt an, sein Schweigen beantwortete nur zu klar Huys Frage. »Ihr Männer!« Huy wählte sie mit einer schnellen Armbewegung aus. »Folgt mir.« Aber es war zu spät. Schwarze Krieger strömten durch das kleinere Tor in die Tempeleinfriedung. »Zurück zur Höhle«, schrie Huy. Sie bildeten wieder einen Kranz aus Schilden und liefen über die Einfriedung, während die Krieger um sie schwärmten, ohne zum Kern vorstoßen zu können. Qualm aus der brennenden Stadt umwirbelte sie, drang in ihre Kehlen und Augen. Plötzlich schrie der Mann neben Huy auf und griff an seine Leiste. Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor, und er sank auf die Knie. Damit brach die Formation auseinander und der schwarze Schwarm ergoß sich über sie. »Mir nach!« Huy versammelte Lannon, Bakmor und ein paar andere um sich, und sie brachen in einer dichten Gruppe aus dem Getümmel und rannten auf den Höhlenspalt zu. Der Qualm war dick und ölig, drang ihnen in die Kehlen, daß sie beim Laufen husteten. Huy schwang die Axt und bahnte ihnen einen Weg; fünf von ihnen erreichten den Eingang zur Höhle. Bakmor war ein Speer in die Rippen gedrungen. Er preßte eine Faust auf die Wunde, versuchte den Blutstrom zu stillen. Huy nahm seine Axt in die andere Hand und half Bakmor die Stufen hoch in den Spalt. Sein Blut rann an Huys Seite herunter, es fühlte sich heiß und klebrig an. Auf der obersten Stufe brach
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Bakmor in die Knie. »Es ist vorbei, Huy«, würgte er, aber Huy hob ihn hoch und trug ihn durch den Eingang. »Bakmor«, keuchte er und schob seinen Kopf zurück, um ihm ins Gesicht sehen zu können. Bakmors Augen blickten leer, tot und gläsern. Huy ließ den schönen Kopf nach vorn fallen und stand auf. »Hier kommen sie«, rief Lannon. Huy hob die Axt und sprang an Lannons Seite, um den ersten dunklen Ansturm der Körper in die Passage abzufangen. Die vier – Lannon, Huy und zwei Legionäre – hielten den Eingang lange genug, um ihn mit den Leibern toter Krieger zu verstopfen. Dann kamen die Bogenschützen, und die ersten Pfeilsalven fegten durch die Passage. Einer davon traf einen Legionär in die Kehle, und ein dunkler Blutstrom schoß aus seinem Mund, als er fiel. »Keine Deckung hier«, schrie Lannon. »Zurück zum Tempel.« Sie rannten die Passage zurück, als die nächste Salve sie schon umzischte. Ein Pfeil prallte von Huys Helm funkensprühend gegen die Wand und ein anderer drang durch den Brustpanzer des letzten Legionärs und blieb in seinem Rückgrat stecken. Die Beine gaben unter ihm nach. Verzweifelt kroch er hinter Huy her, seinen gelähmten Körper nur mit den Armen vorwärtsschleppend. »Deine Gnade, Herr!« schrie er. »Überlaß mich ihnen nicht, Heiligkeit.« Huy hielt inne und rief: »Lauf weiter, Lannon. Ich werde dir folgen.« Er ging zurück, und der Legionär sah ihn kommen. »Baal segne dich, Heiligkeit«, rief er, indem er den Kopf beugte und seinen Hals entblößte. »Finde Frieden!« sagte Huy und trennte mit einem einzigen Axtstreich seinen Kopf vom Rumpf. Gleich wandte er sich wieder um und lief weiter. Ein Pfeil traf Huy im Gesicht unter-
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halb des Auges, glitt am Knochen entlang und schlitzte ihn bis zum Ohr auf. Huy riß ihn heraus, während er hinter Lannon herrannte. Gemeinsam durchquerten sie die Höhle Astartes. Ihre Schritte hallten von den gewölbten Wänden wider. An dem stillen grünen Teich vorbei. Sie erreichten die Tür des Tempels, als der nächste Pfeilschwarm um sie schwirrte. Lannon stolperte leicht, und dann waren sie im Tempel. »Können wir sie hier aufhalten?« Lannon rang nach Luft. »Nein.« Huy blieb stehen, um Atem zu schöpfen. »Die Archive!« Dann blickte er Lannon an. »Was ist, Majestät?« »Ich bin auch getroffen, Huy.« Der Pfeil ragte nahe der linken Achselhöhle aus der Rüstung heraus. Der Einschlagwinkel verursachte Huy einen kalten Schauder. Die Pfeilspitze mußte nahe am Herzen liegen. Es war tödlich, kein Mensch konnte sich je von einer solchen Wunde erholen. »Wie sieht es aus?« wollte Lannon wissen. »Ich habe keine Schmerzen, Huy. Es kann nicht zu schlimm sein.« »Du hast Glück«, sagte Huy und brach den Schaft bis auf einen kurzen aus der Wunde hervorstehenden Stumpf ab. »Komm«, sagte er und führte ihn sanft am Arm durch den Tempel in die Archive. »Die Sonnentür?« fragte Lannon. »Erst ganz zum Schluß«, sagte Huy. »Erst wenn alles andere versagt.« Er geleitete Lannon in eine der Steinnischen. »Dein Gesicht.« Lannon starrte Huy im schummrigen Licht der Fackeln an, als ob er den klaffenden Riß in seiner Wange erst jetzt bemerkte. »Nicht der Rede wert«, grunzte Huy, während er einen Streifen von seiner Tunika riß und ihn zu einer primitiven Schlinge für Lannons linken Arm knotete. »Kannst du ihn bewegen?« fragte er. Lannon spreizte und
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schloß seine Finger. »Gut«, nickte Huy und stülpte Lannon die Schlaufe seines Schildes über die linke Hand. Die Schlinge würde sein Gewicht tragen helfen. Huy legte den Kopf zur Seite und horchte auf die verstohlenen Fußschritte, die flüsternden Stimmen und das Klirren der Waffen im Tempel der Astarte. »Sie kommen«, sagte er. »Es wird nicht lange dauern, bis sie die Passage gefunden haben.« Als er noch redete, trat der erste von ihnen durch den Eingang vom Wachraum und spähte in die Archive. Das flackernde Licht der rauchenden Fackeln in ihren Wandhalterungen verzerrte die Gestalt des Mannes. Er war riesig und schwarz, glänzend vor Fett und Farbe, und Huy roch ihn; es war ein warmer, moschusartiger Geruch wie von einer Raubkatze. Huy trat aus der Nische ins Licht und rief ihm in Vendi eine Herausforderung zu. Der Krieger kam die Passage hinunter auf ihn zugesprungen; ihre Schilde stießen krachend zusammen, was fürchterlich durch den Tempel hallte. Huy spürte die Speerschneide seine Seite ritzen, aber die Lanze an der Spitze der Geieraxt biß tief zu, bis auf den Knochen, und der Krieger glitt vom Stahl zu Boden. Lannon hinkte aus der Nische an Huys Seite. Sie stiegen über die zitternde, zuckende Leiche und gingen Arm in Arm die Passage hinunter, dem Ansturm der dunklen Körper entgegen.
Manatassi stand im Tempel der Astarte. Es war nach Mitternacht, aber es brannten viele Fackeln, und die Hallen wimmelten vor Kriegern, so vielen, daß Manatassi angeordnet hatte, die Innenwände des Gebäudes niederzureißen, um ihnen Platz
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vor der Tunnelöffnung zu schaffen. In dieser dunklen Steinmündung, die schon so viele seiner Männer verschlungen hatte, hielten die zwei kämpfenden Teufel von Opet noch immer aus, trotz all seiner wütenden Angriffe. Manatassis Zorn und sein Haß schwelten heiß, eine fast abergläubische Furcht ergriff ihn. Während seiner Sklavenzeit hatte er genügend über die Götter von Opet erfahren, um ihre gewaltige Macht zu kennen, ihre Stärke und Grausamkeit. Er fürchtete sie, und er wußte, daß er jetzt in der Festung dieser schrecklichen Götter stand, an ihrem heiligen Ort. Er erinnerte sich jetzt, daß er von diesem unterirdischen Ort hinter dem Tempel der Astarte gehört hatte; er wußte, daß ein Todesfluch ihn schützte. Er wußte, die weißen Götter beobachteten ihn. Er wollte es jetzt zu Ende bringen, diesen Ort zerstören und ihn verlassen – aber zwei todgeweihte, störrische Männer trotzten ihm. »Feuer!« sagte er. »Räuchert sie aus!« Sie entzündeten ein Feuer im Eingang des Tunnels und warfen grüne Zweige hinein, so daß dichter, beißender Qualm den Tempel und den Gang füllten. Sie umlagerten den Tunneleingang, im Qualm hustend und würgend, und hielten ihre Waffen bereit, denn kein Mensch konnte da drinnen bleiben. Das mußte sie heraustreiben, unweigerlich – aber eine Stunde verstrich, ohne daß sich etwas im Qualm rührte. Das Feuer brannte herunter zu einem schwelenden Holzstapel, und der Rauch zog allmählich ab. Manatassi ließ es mit Wasser vom Teich löschen, und wieder starrten sie in die dunkle Passage, aus der noch Schwaden von Rauch trieben. Der Boden war mit einem Teppich aus Leichen bedeckt. Nirgends eine Spur von Leben. Manatassi unterdrückte seine religiöse Furcht und riß einem
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seiner Krieger die Fackel aus der Hand. Sie hoch über dem Kopf haltend, stieg er über die heißen, zischenden Holzklötze in die Passage. Er suchte sich einen Weg durch die Toten, auf dem Boden voller klebriger Blutlachen. Die Fackel warf gelbes Licht in die Steinnischen mit den beladenen Regalen. Manatassi wußte, was die Tonkrüge enthielten. Er hatte Huy oft genug bei den Schriftrollen geholfen. Er schaute jetzt nach einer Spur von ihm aus, aber da war nichts. Nur die schwarzen Körper und die leeren Nischen. Er erreichte das Ende des Ganges, und die Fackel beleuchtete das eingravierte Bild. Manatassi erkannte es als das Symbol des Sonnengottes, und sein Mut schmolz vor diesem sichtbaren Zeichen göttlicher Macht. Am Boden unter dem Bild fiel ihm ein Gegenstand auf, der im Fackellicht funkelte. Er unterdrückte ein Keuchen. Es war die Geieraxt, wie ein Opfer vor das Bild des Gottes gelegt – und der Ort war leer. Sie waren zu ihren Göttern gegangen. Sie hatten ihn um seine Rache betrogen und ihn in tödliche Gefahren geführt, in eine direkte Begegnung mit übernatürlichen Kräften. Manatassi wich zurück, bis das Gottesbild in die Dunkelheit tauchte, dann drehte er sich um und rannte fort in die Halle des Tempels Astartes. Dort blickte er zurück auf die Mündung des Tunnels. »Holt mir Steinmetzen von den befreiten Sklaven. Versiegelt diesen Eingang. Er ist böse. Versiegelt ihn.« Sie liefen, ihm zu gehorchen, und Manatassis Mut, sein Zorn, sein Haß kehrten zurück. »Ich werde dieses Übel zerstören. Ich verfluche diesen Ort, diese Klippen. Dieser Fluch wird ewig dauern.« Seine Stimme erhob sich zu einem Schrei: »Verbrennt es. Verbrennt alles. Zerstört es. Dieses Übel muß von der Erde und aus dem Be-
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wußtsein der Menschen getilgt werden, für immer.« Die Steinmetzen versiegelten den Eingang zum Grab der Könige. Sie arbeiteten, wie die Männer von Opet es sie gelehrt hatten. Schließlich war der Eingang verschwunden. Dann zerstörte Manatassi die Stadt. Er mordete alle lebenden Wesen hin und warf sie in die Feuer, die viele Tage durch die Unterstadt tobten. Dann wies er mit seiner Eisenklaue auf die Mauern und Türme. Auch sie wurden niedergerissen, Block um Block, die Mauern und die Sonnentürme und der wunderschöne Tempel der Astarte. Sie gingen bis an die Fundamente. Sie hoben die Pflasterplatten aus dem Boden. Sie rissen die Kaimauern des Hafens ein. Sie schleiften die Stadt, bis keine Spur von ihr übrigblieb. Jeden Steinblock trugen sie zu der Höhle hoch und warfen ihn in den bodenlosen grünen Teich. Sie nahmen die ganze Stadt und gaben sie der Göttin, und der Teich war so tief – oder die Göttin so ewig unersättlich –, daß sie spurlos verschluckt wurde und der Pegel des grünen klaren Wassers nicht einen Fingerbreit stieg. Als Manatassi ostwärts aus Opet marschierte, um die Zerstörung des Reiches zu vollenden, ließ er nichts hinter sich als Haufen lockerer Asche, die der Wind schon in blassen Staubwirbeln verstreute. Manatassi breitete seine Regimenter wie ein Netz über die vier Königreiche, mit dem Befehl, jede Spur der Städte und Minen und Gärten zu vernichten, die die Männer von Opet gebaut hatten. Aber sein Haß war jetzt ausgeglüht, wie ein Waldfeuer, wenn die Bäume verschwunden sind. Der Haß hatte ihn ausgehöhlt und ihn dem Tod nahegebracht. Seine riesige, zerschundene Gestalt war nur noch eine Hülse, sogar die rauchigen gelben Augen blickten stumpf und gleichgültig. Er kam nach Zimbao, der großen befestigten Stadt des mittleren Königreiches, und die Männer von Opet waren tot. Die
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Stadt war wie sein eigener Körper leer und verlassen. Manatassi hüllte sich in ein Felltuch und legte sich neben dem Wachfeuer nieder. Am Morgen war sein Körper steif und kalt. Sie begruben ihn außerhalb der Mauern, und dann stritten und bekämpften sie sich, denn Manatassi hatte keinen Nachfolger ernannt. Jeder Kriegshauptmann ernannte ich selbst, und die Armee Manatassis zersplitterte in hundert Stämme. Mit der Zeit schwanden Manatassi und die Stadt von Opet aus dem Gedächtnis der Menschen.
Als Xhai, der Buschneger, alt wurde und seinen Tod nahen spürte, kehrte er nach Opet zurück. Der See war geschrumpft, seine Ufer waren zwanzig Meilen von den roten Klippen entfernt, und das Wasser war brackig und flach und sonnenwarm. Xhai ging über die Stelle, wo der Tempel Baals gestanden hatte, aber er erkannte nichts, bis er die Spalte in dem roten Felsen sah, die zur Höhle Astartes führte. Er lagerte neben dem Teich, zündete ein kleines Feuer an und kauerte darüber, nach Art alter Männer vor sich hin murmelnd. Als die Bilder der Vergangenheit in seinem Gedächtnis vorbeizogen, wurden sie vergrößert und großartig, und er suchte sie einzufangen und festzuhalten. Er hob seinen Gürtel hoch, auf den die kleinen Horntöpfe mit den Farben gereiht waren, jeder mit einem Holzstück verstöpselt, und er ging zur Rückwand der Höhle. An der glattesten Stelle der Wand zeichnete er mit Kohle die Umrisse der Figur. Er arbeitet langsam und sorgfältig, mit gro-
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ßer Hingabe. Dann mischte er seine Farben und begann die stolze, gottgleiche Figur mit ihrem weißen Gesicht, dem rotgoldenen Bart und dem majestätisch ragenden Glied zu malen, und während er arbeitete, schien es, als ob Geisterstimmen tief im Felsen flüsterten, unten im Gewölbe der Könige. »Huy, mir ist kalt. Erweise mir die Gunst, alter Freund. Reich mir die Hand der Freundschaft, die das Orakel vorausgesagt hat.« »Ich kann nicht, Lannon. Ich kann es nicht tun.« »Mir ist kalt, und ich habe Schmerzen, Huy. Wenn du mich liebst, mußt du es tun.« »Ich liebe dich.« »Fliege für mich, mein Sonnenvogel.« Während der alte Mann arbeitete, flüsterte und seufzte der Wind an den Klippen, und es war wie das Seufzen eines Mannes, der seine Liebe und sein Land verloren, seinen Göttern abgeschworen und seinem Freund Gnade erwiesen hat. So mochte er geseufzt haben, als er das Schwert nahm, noch dunkel vom Blut des Freundes, und den Griff fest in eine Nische des Steinbodens stemmte, die Spitze an einen Punkt unter seinen Rippen legte und sich darauffallen ließ.
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THE RAND DAILY MAIL, 27. Mai Tod eines Millionen-Finanziers Louren Sturvesant stirbt an mysteriöser Krankheit Botswana, Samstag. Der bekannte Millionen-Finanzier und Sportler Mr. Louren Sturvesant von Kleine Schuur, Sandown, Johannesburg, ist hier gestern nach kurzer Krankheit gestorben. Mr. Sturvesant hatte die Ausgrabungsstelle der kürzlich entdeckten alten karthagischen Stadt in Botswana besucht. Der Leiter der Expedition, Dr. Benjamin Kazin, hat sich die Krankheit ebenfalls zugezogen, die ansteckend sein soll. Dr. Kazin ist nach Johannesburg geflogen worden. Ein Krankenhaussprecher hat seinen Zustand als kritisch bezeichnet. THE FINANCIAL GAZETTE, 28. Mai Letzte Nachricht Anglo-Sturvesant verliert 97 Punkte Panik an der Börse Hollard Str., Montag. Nach Berichten über den Tod von Mr. Louren Sturvesant, dem Generaldirektor von Anglo-Sturvesant, fielen heute an der Börse von Johannesburg die SturvesantAktien erheblich. THE STAR, 3. Juni Berühmter Archäologe erlangt wieder Bewußtsein Johannesburg, Freitag. Wie der Sprecher des Krankenhauses mitteilte, erlangte Dr. Benjamin Kazin heute nach zehntägigem Koma wieder das Bewußtsein. Dr. Kazin ist der Direktor des Instituts für Anthropologie und
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Afrikanische Vorgeschichte und der Entdecker der alten karthagischen Stadt von Opet. Er litt an einer seltenen Pilzkrankheit, die er sich während der Arbeiten auf dem Ausgrabungsgelände zugezogen hatte. Heute erhielt Dr. Kazin Besuch von seiner Assistentin, Dr. Sally Benator, die anschließend erklärte, Dr. Kazin gehe es »viel besser, aber er ist immer noch sehr erschüttert über den Tod von Mr. Sturvesant«. THE STAR, 6. September Bekannte Archäologen heiraten Kapstadt, Freitag. Der Entdecker der Stadt von Opet, Dr. Benjamin Kazin, hat heute in Kapstadt seine langjährige Assistentin, Dr. Sally Benator, geheiratet. Die Braut sagte, sie plane für die Flitterwochen einen Arbeitsurlaub bei den Ausgrabungen der alten Stadt von Opet. THE TIMES, 20. April Archäologe geehrt London, Samstag. In den Räumen der Königlichen Geografischen Gesellschaft fand heute eine Außerordentliche Generalversammlung der Gesellschaft statt, in deren Verlauf Dr. Benjamin Kazin die hochgeschätzte »Gründer- und GönnerMedaille« der Gesellschaft verliehen wurde. Dr. Kazin wurde von seiner Frau, Dr. Sally Kazin, begleitet, die sich in der Archäologie ebenfalls einen Namen gemacht hat. Das Paar will zwei Wochen Urlaub in Großbritannien und auf dem Kontinent verbringen, bevor es nach Afrika zurückkehrt.
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