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Seewölfe 253 1
Burt Frederick 1.
Flach und unregelmäßig, scheinbar wahllos verstreut, duckten sich die Häuser auf der Kuppe des Hügels. Es schien, als hätte ein spielendes Riesenkind seine schmutziggrauen Klötze in die Erde gesteckt, um dem Grün der sanftgeschwungenen Hänge eine Krone aufzusetzen. Serrara, so hieß das Dorf. Es war auf der Seekarte eingezeichnet und lag etwa drei Meilen landeinwärts von der Südwestküste der Insel Ischia. Dark Joe und seine fünf Begleiter stiegen einen schmalen Serpentinenpfad hoch, der durch Olivenhaine und Weingärten auf das Dorf zuführte. Die untergehende Sonne tauchte die Landschaft in ein rötliches, unwirkliches Licht. Sobald die Männer sich umdrehten und nach Westen blickten, schien das dichte Laub der Olivenbäume in den Sonnenstrahlen zu glühen. Nur bruchstückhaft waren die Fluten des Mittelmeers zu erkennen, von dem sinkenden Feuerball in purpurnes Rot getaucht, das wie eine endlose Fläche flüssigen Metalls erschien. Dark Joe wischte sich den Schweiß von der Stirn, als sie die letzte Wegbiegung vor dem Dorfrand erreichten. Es war warm in diesen süditalienischen Breiten, obwohl man schon den Monat November des Jahres 1591 schrieb. Die Männer verharrten. Jetzt waren sie nur noch etwas mehr als einen Steinwurf weit von den ersten Häusern des Dorfes entfernt, und sie hatten damit nahezu den höchsten Punkt des Hügels erreicht. Fast ohne Steigung führte jetzt der Rest des Weges schnurgerade auf den Ort zu. Weiter landeinwärts erhoben sich die Berge von Ischia und verwehrten den Blick auf den Golf von Neapel. Dark Joe wandte sich zu seinen Gefährten um und öffnete den Leinenbeutel, den er auf der Schulter getragen hatte. Er war ein kleiner, krummbeiniger Mann mit dunklen Augen und schwarzem, gelocktem Haar. Wie flink und gefährlich er indessen sein konnte, das wußten seine Kumpane ebenso wie jene, die mit ihm aneinandergeraten
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waren. Seinen Beinamen verdankte er eben jenen schwarzen Haaren. Die Pistole und der Entersäbel an seinem ledernen Hüftgurt zeigten deutlich, daß er ein Mann von ständiger Kampfbereitschaft war. Wie die anderen trug er das Hemd offen. Die Hosen steckten in hohen Stulpenstiefeln. Er zog eine Rumflasche aus dem Leinenbeutel, entkorkte sie, nahm einen Schluck und reichte sie weiter. Die Männer tranken ihre Ration mit sichtlichem Wohlbehagen nach dem anstrengenden Marsch, wischten sich mit dem Handrücken über die Lippen und atmeten tief durch. Die Fortbewegung zu Lande war ihnen allen ungewohnt und ganz und gar nicht willkommen. Aber Befehl war nun einmal Befehl. Lord Henry hatte angeordnet, daß sie in der nächsten menschlichen Ansiedlung Trinkwasser und möglichst auch Proviant beschaffen sollten. Und er hatte geschworen, daß der Teufel sie holen würde, wenn sie wagten, mit leeren Händen zurückzukehren. Der Serpentinenpfad wies tiefe Radfurchen auf. Aber bislang hatten sie noch keinen der Eselskarren gesehen, mit denen hierzulande Lasten befördert wurden. Still war es ohnehin in dem Dorf. Die wenigen Menschen, die hier hausten, schienen keinen Wert darauf zu legen, sich Fremden gegenüber lautstark bemerkbar zu machen. Dark Joe dachte daran, wie schwierig es vermutlich werden würde, einen Karren mit wenigstens zwei Fässern zu besorgen, damit sie das Wasser zur Küste transportieren konnten. Nun, an der Bezahlung sollte es nicht scheitern. Dafür waren sie gerüstet. Der süßliche Duft von wildwachsenden Kräutern und Gräsern lag in der Luft und wurde von einer sanften Brise gefächert. Niemand arbeitete in den Weingärten. Die Leute aus dem Dorf, so folgerte Dark Joe, genossen entweder noch ihre späte Nachmittagsruhe, oder sie hatten bereits mit dem abendlichen Nichtstun begonnen. Von ihrer erhöhten Position aus konnten die sechs Männer jetzt über die
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Olivenbäume hinweg auf die flachere Küstenzone blicken. Dort lag die „Cruel Jane“ vor Anker, Lord Henrys stolze Dreimastgaleone. Im Masttopp wehte die schwarze Flagge mit den gekreuzten weißen Säbeln. Sie alle waren stolz auf dieses Piratensymbol, mit dem die Angst und Schrecken auf den Weltmeeren verbreiteten. Ja, selbst den Großherzog Ferdiando I. de Medici hatten sie das fürchten gelehrt und ihm vor Elba einen Teil seines Schatzes abgenommen. Dieser Reichtum ruhte jetzt im Bauch der „Cruel Jane“. Nach Dark Joes Empfinden sah sie regelrecht satt und zufrieden aus, die stattliche dreimastige Lady. Er gewährte den Männern noch einige Minuten Pause, ehe sie den Weg fortsetzten. Erst drei Tage waren seit dem mörderischen Gefecht mit der „Isabella VIII.“ vergangen, und ihnen allen steckte diese höllische Begegnung noch in den Knochen. Mit knapper Mühe waren sie dem sicheren Verderben entronnen, nachdem Philip Hasard Killigrew, dieser Lumpenhund, über sie hergefallen war. Aber immerhin, einen Anteil am Schatz der Medici hatten sie auf Nummer Sicher. In dieser Hinsicht konnten sie beruhigt sein, denn die Isabella“ war als Verfolgerin an der Nordwestlichen Kimm nicht mehr zu erspähen gewesen. Bevor sie in Ischia an Land gegangen waren, hatte der Ausguck durchs Spektiv bereits Neapel und den Vesuv erkannt. Alle Gefechtsschäden, die die Cruel Jane“ in der Schlacht davongetragen hatte, waren ausgebessert worden. Es mangelte jetzt an Proviant und in erster Linie an Trinkwasser. Dark Joe stopfte die Rumflasche zu den anderen Sachen in den Leinenbeutel und gab das Zeichen zum Aufbruch. An der Spitze seiner Gefährten marschierte er dem Dorf entgegen. Die Dunkelheit kündigte sich an. Die rote Glut der untergehenden Sonne verblaßte und wechselte in beginnendes Zwielicht über.
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Noch waren die Fensterläden der Häuser geschlossen, und ein Hauch von Feindseligkeit schlug den Männern entgegen. Sie hatten diesen Eindruck, obwohl sie auf Anhieb keine Menschenseele erblicken konnten. Ihre Schritte knirschten auf dem feinen Geröll, mit dem die Gasse zwischen den tristen Mauern der Gebäude notdürftig befestigt war. Erst auf den zweiten Blick sahen Dark Joe und seine Piratenkumpane, daß die meisten Haustüren offenstanden. Als sie genauer hinsahen, erkannten sie die dunkelgekleideten Gestalten, die dort schweigend und regungslos in den finsteren Korridoren ausharrten. Frauen waren es überwiegend, deren Blicke den fremden Männern folgten. Ihre Kinder und Hunde und sonstiges häusliches Getier mußten sie eingesperrt haben, so verdammt still war es. Sämtliche Kerle, so vermutete Dark Joe bei sich, hockten wahrscheinlich in der Trattoria dieses lausigen Nestes und ließen sich den Wein durch die Kehle rinnen. Ein leises Gefühl der Beklemmung konnte indessen auch Dark Joe nicht abschütteln. Weshalb, zum Teufel, konnte man in diesem Nest nicht einen anständigen guten Abend wünschen? Sie erreichten den Dorfbrunnen in der Mitte eines von Pinien umsäumten kleinen Platzes. Rechter Hand gab es tatsächlich eine Trattoria, aus deren offenen Fenstern und Türen Männerstimmen in lautstarkem Durcheinander zu hören waren. „Thad, du gehst mit mir“, ordnete Dark Joe an. „Ihr anderen wartet hier, verstanden?“ Keiner hatte etwas dagegen einzuwenden. Sie hockten sich auf den Boden, mit dem Rücken an die Brunnenwand, und waren froh, ihre Gehwerkzeuge vorerst nicht mehr benutzen zu müssen. An Bord der „Cruel Jane“ bedeutete es für jeden von ihnen eine Kleinigkeit, in den Wanten aufzuentern wie flinke Wiesel und selbst bei stürmischer See hoch oben in den Rahen zu arbeiten. Aber drei Meilen zu Fuß an Land, noch dazu in einer bergigen Gegend, das war für einen
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ehrenwerten englischen Piraten denn doch eine Zumutung. Dark Joe und Thad, ein rotbärtiger Hüne, steuerten auf die Schenke zu. Beiderseits der vorderen Tür gab es roh gezimmerte Sitzbänke, die an diesem lauen Abend aber niemand zu benutzen gedachte. Die beiden Piraten von der „Cruel Jane“ mußten sich ducken, als sie durch den niedrigen Eingang traten. Schlagartig verstummten die Stimmen, die eben noch bis auf den Platz hinaus zu hören gewesen waren. Alle Augenpaare richteten sich auf die beiden Fremden. Der Raum war kaum mehr als dreißig Quadratyards groß. Etwa zwanzig Männer saßen dicht gedrängt an kleinen Tischen, auf denen Weinkrüge und tönerne Becher standen. Zwei blakende Öllampen an den Wänden erhellten den finsteren Raum nicht nennenswert. „Buona sera“, sagte Dark Joe laut und vernehmlich, „guten Abend.“ Das war schon annähernd die Hälfte aller italienischen Wörter, die er beherrschte. Gemeinsam mit Thad trat er auf die kleine Theke zu. Niemand erwiderte den Gruß. Der Wirt sah aus wie die meisten anderen Männer hier, knochig und nur mittelgroß, mit grauen Strähnen in den schwarzen Haaren und Schwielen an den Händen. Sicher besaß er einen eigenen Weinberg, einen Esel und vielleicht ein paar Schweine, denn die Trattoria allein ernährte ihn und seine Familie bestimmt nicht. „Buona sera, Signore“, wiederholte Dark Joe, als Thad und er sich vor der Theke aufbauten. Das Holz war abgewetzt, und die Flaschen, auf Brettern an der Wand aufgereiht, sahen stumpf und verstaubt aus. Der Schankwirt ließ sich zu einem knappen Nicken herab. Er stemmte beide Hände auf das Thekenholz und sah die Fremden mit schmalen Augen an. „Wir sind Seeleute“, sagte Dark Joe und bemühte sich, seinen aufkeimenden Ärger über die Sturheit dieser Dorftrottel zu unterdrücken. „Unser Schiff ankert unten
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vor der Küste. Wir brauchen dringend Trinkwasser und etwas Proviant.“ Der Wirt sah ihn verständnislos an, zog die Schultern hoch, und in seinem faltenreichen Gesicht lag unendliche Gleichgültigkeit. Dark Joe nahm die Hände zu Hilfe, zeichnete einen Schiffsrumpf und drei Masten in die Luft, obwohl er sich dabei lächerlich erschien. Garantiert wußten diese Schlitzohren längst; daß sie Seeleute waren. Überall auf der Welt wußten die Leute schließlich, wie typische Seefahrer aussahen. „Acqua - Wasser“, radebrechte er, „mangiare - essen - un pochino - ein bißchen.“ Er nahm den Beutel von der Schulter, setzte ihn auf der Theke ab und zeigte mit dem Finger auf seine eigene Brust. „Ich bezahle!“ Plötzliches Interesse erwachte in den Augen des Schankwirts, als Dark Joe in den Leinenbeutel griff und eine Handvoll Perlen und Silbermünzen zum Vorschein brachte. Rasch ließ er die Kostbarkeiten aber wieder in dem Beutel verschwinden. „Fässer, einen Karren und einen Esel brauchen wir“, sagte er und zeichnete das Gewünschte mit den Fingern. Dazu gab er ein kehliges „Iaaah“ von sich, was Thad veranlaßte, ihm einen grinsenden Seitenblick zuzuwerfen. „Si, si, comprendo“, entgegnete der Wirt mit unvermittelter Bereitwilligkeit, und auf einmal beherrschte er auch einige unbeholfene Brocken Englisch. „Ich Sie verstehen, Gentlemen. Erhalten Wasser und Essen, si, si. Kein Problem, Gentlemen. Un vino?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, schob er den“ Männern zwei Becher hin, entkorkte eine Flasche und goß ein. Der Rotwein funkelte wie Glut im schwachen Lampenschein. Widerstrebend prosteten Dark Joe und Thad dem Wirt zu. Zuviel Zeit durften sie nicht verschwenden. Andererseits konnten sie es aber ohnehin nicht mehr vor Dunkelwerden schaffen, zur Galeone zurückzukehren. Und soviel wußten sie von südlichen Ländern, daß einem meist
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ein ausgedehntes Palaver nicht erspart blieb, ehe man das erhielt, was man eigentlich wollte. Nach und nach setzten nun die Stimmen der Männer im Schankraum wieder ein. Die Gespräche wurden fortgesetzt, man schien sich an die Fremden gewöhnt zu haben. Die Trattoria belebte sich, weitere Gäste trafen ein, noch in ihrer derben Arbeitskleidung, und einige verließen den Schankraum. Dark Joe orderte einen vollen Krug Rotwein und beauftragte Thad, ihn zu den anderen hinauszubringen. Dann, als sein Kumpan zurückkehrte, überzeugte der Schankwirt die beiden Engländer gestikulierend und wortreich, daß sie ohne einen weiteren Becher Wein nicht zum Geschäftsabschluß schreiten könnten. Dark Joe und Thad ließen sich erweichen, denn immerhin schmeckte das rote Zeug verteufelt gut. „Mann, o Mann“, brummte Thad, „der Alte dreht uns den Hals um, wenn wir ihm die Wasserfässer nicht rechtzeitig anschleppen.“ „Hexen können wir auch nicht“, entgegnete Dark Joe achselzuckend, „schneller geht’s hier nun mal nicht.“ Einen dritten Becher Wein, den ihnen der Wirt aufzuschwatzen versuchte, lehnten sie schließlich doch standhaft ab, und der Inhaber der Trattoria bequemte sich, sie durch einen Nebenraum und einen dunklen Korridor auf den Hinterhof hinauszuführen. Stallungen und ein Schuppen waren im Dämmerlicht zu erkennen. Lange würde die Dunkelheit nicht mehr auf sich warten lassen. „Dort hinüber, Signori“, sagte der Wirt und deutete mit einer einladenden Bewegung auf den flachen Schuppen. Unter dem Dach war ein Gewirr von Gerätschaften mehr zu vermuten als deutlich zu erkennen, aber immerhin schienen sich auch Karren und Fässer darunter zu befinden. Nur noch drei oder vier Schritte waren sie von dem Schuppen entfernt, als der Schankwirt plötzlich beiseite wich.
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Dark Joe und Thad begriffen zu spät, und als sie zu reagieren versuchten, war ihr bis eben überfreundlicher Begleiter schon mit langen Sätzen in Richtung Haus unterwegs. Gestalten schnellten aus der Dunkelheit des Schuppens und aus dem Stall hervor. Mindestens ein Dutzend verwegen und wild aussehende Burschen waren es, die sich auf die beiden Piraten warfen. Verzweifelt setzten sie sich zur Wehr. Dark Joe schaffte es noch, seinen Entersäbel herauszureißen. Doch er richtete nichts damit aus, denn ein furchtbarer Hieb traf seinen Arm, und der Säbel fiel zu Boden. Im nächsten Moment explodierte ein weiterer Schlag auf seiner Schädeldecke, und er verlor das Bewußtsein, noch bevor er lang hinschlug. So sah er nicht mehr, daß auch sein Gefährte von der Übermacht mit spielerischer Leichtigkeit überwältigt und bewußtlos geschlagen wurde. 2.
Fackeln näherten sich mit züngelndem Feuerschein. Der Mann, der an der Spitze von zwanzig seiner Decksleute den Dorfplatz von Serrara erreichte, war groß und blond und blauäugig – ein Hüne von Statur, mit breiten Schultern und schmalen Hüften. Sein Oberlippenbärtchen war kaum sichtbar. Mit kostbarem Lederwams und schenkelhohen Stulpenstiefeln aus butterweichem Leder, sah er aus wie einer jener nordischen Riesen, von denen die Südländer meist nur durch Legenden hörten. Lord Henry gab das Zeichen zum Halten. Seine Männer formten einen Halbkreis, und ihre Fackeln erhellten den Brunnen. Dort hatten sich Dark Joe und zwei seiner ursprünglichen Begleiter mühevoll aufgerappelt. Deutlich waren die Blessuren zu erkennen, die sie bei dem Überfall davongetragen hatten. Thad und zwei weitere Männer, die Dark Joe losgeschickt hatte, um Lord Henry zu benachrichtigen, waren auf der „Cruel Jane“ geblieben.
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Lord Henry stemmte die Fäuste in die Hüften und blickte Dark Joe an wie einen Wurm, den er zu zertreten gedachte. „Ihr verdammten Schwachköpfe!“ brüllte der Kapitän der Piraten. „Ihr habt verdient, daß ich euch kielholen lasse! Und, verdammt noch mal, ich sehe keinen Grund, warum ich das nicht tun soll!“ Dark Joe hob die Rechte zu einer beschwichtigenden Geste. Sein Arm brannte noch immer wie Feuer von dem Schlag, und auf seinem Hinterkopf prangte eine mächtige Beule, die sein lockiges Schwarzhaar wölbte. „Jetzt hör erst mal zu“, sagte er vorsichtig. „So dämlich, wie du denkst, haben wir uns nämlich nicht angestellt.“ „Soso“, knurrte Lord Henry. „Was ist es anderes als Dämlichkeit, wenn man sich seinen Beutel mit Silbermünzen und Perlen klauen läßt –und außerdem noch sämtliche Waffen?“ Die Männer im Halbkreis konnten sich ein Grinsen nicht verkneifen. Ihre Züge glätteten sich aber sofort wieder, als sie Dark Joes giftigen Blick spürten. Ihn fürchteten sie wie die Pest, auch wenn er im Moment ziemlich klein und häßlich aussah. „Diese Säcke aus dem Dorf hätten uns niemals überfallen“, verteidigte sich Dark Joe. „Was wir nicht wissen konnten, war, daß hier irgendwo in der Nähe eine Bande von Wegelagerern kampiert haben muß. Dieser Schweinehund von einem Wirt hat sie benachrichtigen lassen, ohne daß wir es mitkriegen konnten. Und dann konnten die Halunken in aller Ruhe anrücken. Thad und mich haben sie im Hinterhof überfallen und die anderen draußen beim Brunnen. Als wir wieder wach geworden sind, haben wir keinen von den Kakerlaken mehr zu sehen gekriegt. Nur noch Frauen und Kinder und alte Leute sind im Dorf. Die Kerle haben vermutlich ein Versteck irgendwo in den Bergen. Da hocken sie jetzt mit den Strauchdieben und teilen sich wahrscheinlich feixend die Beute.“ „So wird es sein“, sagte Lord Henry und nickte grimmig. „Was du hier heute an Silber und Perlen verplempert hast, Joe,
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werden wir dir und den anderen natürlich vom Anteil an der Beute -abziehen.“ Er wandte sich zu den Männern im Halbkreis um. „Durchsucht das ganze verdammte Nest! Und wenn ihr keine von den Bilgenratten findet, dann bringt mir eins von den Weibsbildern. Notfalls werden wir es aus ihr herausprügeln, wo sich die Kerle versteckt halten.“ Die Piraten von der „Cruel Jane” hasteten los. Der Schein der Fackeln verteilte sich auf die wenigen Häuser des Dorfes. Sehr bald wurden zeternde Frauenstimmen laut, begleitet vom wilden Grölen der LordHenry-Crew. Der Kapitän der Piraten trat an den Brunnen heran, wo Dark Joe und die beiden anderen mit niedergeschmetterten Mienen ausharrten. Von allen Seiten war das Gebrüll der Männer zu hören, wie sie die Häuser durchstöberten und die Frauen in Schrecken versetzten. Keiner von ihnen würde es indessen wagen, sich an einer der Frauen zu vergreifen, denn Lord Henrys Befehl war unmißverständlich gewesen. Zeitverlust durch Spielereien am Rande konnten sie sich nicht leisten. Lord Henry piekte dem schwarzen Joe mit dem Zeigefinger gegen die Brust. „Ich will dir mal was sagen, mein Lieber. Ist dir überhaupt klar, was ihr angerichtet habt?“ „Natürlich.“ Joes Stimme klang kleinlaut, und er senkte den Kopf. „Ich würde mir ja am liebsten selbst in den Hintern treten, wenn’s dadurch ungeschehen würde.“ „Das ist es nicht allein“, knurrte Lord Henry. Er wandte sich ab und ging fünf Schritte auf und ab, wobei seine Bewegungen die Gereiztheit eines gefangenen Tigers hatten. Abrupt blieb er vor Dark Joe stehen. „Es ist unser Ruf, der hier versaut wird. Jeder verdammte Idiot zwischen Neapel und Salerno wird bald wissen, daß man Lord Henrys Leuten nur ein bißchen auf die Rübe zu klopfen braucht und sie dann mit Leichtigkeit ausplündern kann. Mann, das kommt dann noch so weit, daß diese süditalienischen
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Bastarde sich totlachen, wenn sie uns bloß zu sehen kriegen.“ „Das würde ich keinem raten“, erwiderte Dark Joe mit neu erwachender Selbstsicherheit. „Dann veranstalten wir eben mal einen richtigen Tanz, und unser guter Ruf ist wieder da.“ „Trotzdem“, sagte Lord Henry. Er preßte die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. „Es ist eine Schande, was in diesem Kaff passiert ist. Verdammt noch mal, das können wir nicht auf uns sitzenlassen. Wenn ich’s mir richtig überlege, sollten wir diese Bruchbuden anstecken und in Flammen aufgehen lassen.“ „Gute Idee“, sagte Dark Joe und nickte begeistert. Im nächsten Atemzug verzog er schmerzerfüllt das Gesicht, denn durch die heftige Bewegung hatte er ein wüstes Feuerwerk in seinem Schädel entfacht. Lord Henry brachte seine Überlegungen nicht mehr zu Ende, was die Wiederherstellung seines guten Rufs betraf. Wildes Geschrei, das das bisherige Stimmengewirr übertönte, drang plötzlich aus einem der Häuser am Dorfplatz. In die Schreie der Frauen mischte sich eine gellende männliche Stimme in höchster Not. Lord Henry, Dark Joe und die anderen fuhren herum. Vier Piraten waren es, die aus dem Haus auftauchten. Zwei von ihnen drängten die Frauen zurück, die ihnen zeternd nachzusetzen suchten. Die beiden anderen schleiften einen jungen Burschen auf den Brunnen zu. Er wehrte sich verzweifelt, doch ohne Erfolg. Dem stählernen Griff der beiden bulligen Männer von der „Cruel Jane“ war er nicht gewachsen. Sie zerrten ihn vor Lord Henry hin, und der eine, ein untersetzter Schwarzbart, hieb dem jungen Burschen die Faust in die Seite, daß er seinen Widerstand endgültig aufgab und mit einem wilden Schmerzensschrei aufrecht stehen blieb. „Der hatte sich auf dem Dachboden versteckt“, sagte der Schwarzbärtige grimmig. „Wenn du mich fragst, Lord Henry, war es sein Job, uns zu beobachten.
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Wahrscheinlich sollte er als Kurier dienen für den Fall, daß wir den hinterlistigen Kakerlaken in die Berge folgen.“ Lord Henry zog die Augenbrauen mit gespieltem Staunen hoch und hörte mit versonnenem Nicken zu. Betont langsam trat er zwei Schritte auf den jungen Burschen zu und musterte ihn von Kopf bis Fuß. Der Gefangene war schlank und drahtig. Er trug eine helle Leinenhose und ein ebensolches Hemd. Seine Fußbekleidung bestand aus dünnen Ledersandalen. Dark Joe trat von der Seite auf ihn zu und riß ihm das Messer aus der Scheide am Gürtel. Er hob die schmale Klinge und betrachtete sie grinsend im Fackelschein. „Suche einstellen!“ brüllte Lord Henry mit Stentorstimme zu den Häusern hin. Dann wandte er sich wieder dem Gefangenen zu. Dessen Gesicht war blaß, die Augen waren groß und furchtsam auf den blonden Riesen gerichtet. „Jetzt hat er die Hosen voll“, sagte Dark Joe und strich mit dem Daumen prüfend über die rasiermesserscharfe Klinge. „Ich wette, er gehört zu den Strauchdieben. Sieh dir seine Hände an, Henry. Der hat noch nie auf einem Bauernhof gearbeitet. Der verdient sein Geld dadurch, daß er in fremde Taschen greift.“ Der Kapitän der Piraten nickte gedankenverloren. Von allen Seiten tauchten jetzt wieder die Männer mit ihren Fackeln auf, die die Häuser durchsucht hatten. Unvermittelt gab sich Lord Henry einen Ruck, als er zu einem Entschluß gelangte. „Wie heißt du?“ fragte er. In der italienischen Sprache kannte er sich so weit aus, daß er sich verständigen konnte. „Fahr zur Hölle!“ zischte der junge Bursche haßerfüllt. Lord Henry war mit einem blitzschnellen Schritt bei ihm. Seine Faust zuckte ohne erkennbaren Ansatz vor. Der Gefangene klappte zusammen. Er brüllte vor Schmerz. Welche ungeheure Muskelkraft dieser blonde Riese hatte, wurde ihm erst jetzt klar.
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Und jäh wuchs in ihm die Furcht davor, noch einmal diese Faust spüren zu müssen. Der Schwarzbärtige griff in sein Haar und zog brutal seinen Kopf in den Nacken, so daß er gezwungen war, den Kapitän der „Cruel Jane“ wieder anzusehen. „Wir können die Behandlung beliebig fortsetzen“, sagte Lord Henry mit spöttischem Grinsen. „Es sei denn, du entschließt dich, doch meine Fragen zu beantworten. Also noch einmal: Wie heißt du?“ „Giuseppe Cantaro“, ächzte der Gefangene schmerzerfüllt. Unverändert hielt der Schwarzbart seinen Haarschopf gepackt. „Fein, Giuseppe.“ Lord Henry nickte zufrieden. „Als nächstes wirst du uns sagen, woher du stammst. Doch nicht etwa von dieser hübschen Insel?“ „Nein, Signore. Ich bin aus Neapel.“ „Ah, sieh mal an! Dann bist du ein Guappo, nicht wahr? So nennt man doch bei euch die Halunken, die anderen Leuten ihr rechtmäßiges Eigentum wegnehmen?“ Giuseppe Cantaro preßte die Lippen aufeinander. „Fahren wir also fort“, sagte Lord Henry genüßlich. Dark Joe stand noch immer mit dem Messer neben ihm, und die übrigen Männer von der „Cruel Jane“ verfolgten das Verhör schweigend. Lord Henry lächelte wieder. Jene, die ihn kannten, wußten, daß dieses Lächeln nichts Gutes verhieß. „Nun brauchen wir von dir nur noch zu wissen, wo sich der Schlupfwinkel eurer Bande befindet und wer euer Anführer ist. Du wirst verstehen, mein lieber Giuseppe, daß wir uns unser Eigentum gern zurückholen möchten. Nun?“ Lord Henry legte die Hände auf den Rücken, wippte auf den Zehenspitzen und beugte sich mit höhnischer Freundlichkeit vor. „Niemals!“ knurrte Cantaro, der sich von seinen Schmerzen zu erholen begann. „Niemals verrate ich die anderen.“ Lord Henry nickte nur. Dann bedachte er Dark Joe mit einer auffordernden Kopfbewegung. Dark Joes Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen.
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Er hob das Messer und trat auf den Gefangenen zu. Langsam schob er die Klinge vor Cantaros Oberkörper hoch, bis die nadelscharfe Spitze unter sein Kinn drückte und eine kleine Delle in der Haut hervorrief. Giuseppe Cantaro wagte kaum noch zu atmen. Seine Augen schienen aus den Höhlen quellen zu wollen. Dark Joe trat einen halben Schritt zur Seite, damit Lord Henry den Gefangenen ansehen konnte. Die Haltung des Messers veränderte er nicht um den Bruchteil eines Inch. „Du willst doch nicht etwa, daß wir deiner Redefreudigkeit nachhelfen?“ sagte der Kapitän der Piraten salbungsvoll. “Willst du es wirklich auf die Spitze treiben, mein lieber Giuseppe?“ Cantaro blinzelte verzweifelt, wagte aber nicht, den Kopf zu bewegen, geschweige denn, den Mund zu öffnen. „Nimm das Messer weg, Joe“, sagte Lord Henry in seiner Muttersprache. „So kriegt er doch kein Wort heraus.“ Dark Joe nickte und trat zurück. Die Männer aus der Crew lachten, verstummten aber sofort wieder, als Lord Henry sie mit einer energischen Handbewegung dazu aufforderte. „Jetzt noch mal von vorn, Giuseppe. Ich denke, meine Frage hast du nicht vergessen.“ „In — in Neapel“, flüsterte der Gefangene. „Das habe ich mir fast gedacht.“ Lord Henry lächelte. „Weiter!“ „Eine Hafenkneipe — sie heißt ,Lo Spirito Santo’. Das ist unser Treffpunkt. Einen richtigen Schlupfwinkel haben wir nicht.“ „Lo Spirito Santo“, wiederholte Lord Henry. „Wie sinnig: Der Heilige Geist. So, nun haben wir’s gleich geschafft, Giuseppe. Nur noch den Namen deines Anführers, dann ist für dich Schluß mit der lästigen Fragerei.“ Cantaro zögerte einen Moment. Dann jedoch, als Dark Joe deutlich sichtbar das Messer hob, entschloß er sich zu einer raschen Antwort. „Gennaro Masaniello. Er ist unser Chef. Fragt im Spirito Santo nach ihm.“
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„Fein, fein. Das wollen wir gern tun.“ Lord Henry nickte zufrieden. „Dann brauchen wir uns nicht länger hier aufzuhalten.“ „Und was tun wir mit dem Knilch?“ fragte Dark Joe. Lord Henry winkte ab. Gleichgültig. „Den überlasse ich dir. Wir sehen zu, daß wir unser Trinkwasser und den Proviant kriegen, und dann geht’s zurück zur Küste.“ Der Piratenkapitän drehte sich um, um die Männer einzuteilen, die Wasserfässer und Eselskarren besorgen sollten. Dark Joe sah den Gefangenen schweigend an, scheinbar sinnierend. „Was ist jetzt?“ fragte der Schwarzbärtige. „Sollen wir uns die Beine in den Bauch stehen?“ „Ach was.“ Dark Joe schüttelte geringschätzig den Kopf. „Laßt ihn los. Er ist sowieso nichts mehr wert für uns.“ Die beiden Männer taten, was er gesagt hatte, und gingen zu den anderen hinüber. Minutenlang stand der Gefangene regungslos da und begriff nicht, was er mit seiner unverhofften Bewegungsfreiheit anfangen sollte. Dark Joe tat, als interessiere er sich nicht mehr für ihn, als wolle er sich ebenfalls abwenden. Giuseppe Cantaro sah einen Hoffnungsschimmer, den es nicht gab. Aus einem jähen Entschluß heraus warf er sich herum und rannte mit langen Sätzen los. Dark Joe gewährte ihm fünf oder sechs Schritte. Dann hob er das Messer und schleuderte es mit einem kraftvollen Ruck. Cantaro überschlug sich fast im Laufen. Seine Bewegungen waren wie abgeschnitten. Noch bevor er lang zu Boden stürzte, war alles Leben aus ihm gewichen. Dark Joe verstand es, auch ein fremdes Messer so präzise zu werfen, wie es kein Pistolenschütze besser zustande brachte. Lord Henry, der seine Befehle gegeben hatte, quittierte es mit einem zustimmenden Nicken. „In Ordnung, Joe. Wir können es uns sparen, die Bruchbuden anzustecken.“ Er deutete auf den Toten. „Das wird den
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Strolchen den nötigen Respekt vor uns einjagen.“ Dark Joe lächelte schweigend. Auch sein persönlicher guter Ruf war wiederhergestellt. Eine halbe Stunde später verließen die Piraten das Dorf Serrara mit drei Eselskarren, voll beladen mit Wasserfässern und Proviant. Der Fackelzug war noch lange zu sehen, wie er sich in der Dunkelheit den Serpentinenweg hinunterwand. 3. Mit geringer Fahrt glitt die „Isabella VIII.“ fast lautlos auf die Bucht von Neapel zu. Der Wind aus Nordnordwest war mäßig, und das Knarren und Ächzen des laufenden und stehenden Gutes hatte sich zu einer sanften Geräuschkulisse gemindert. Schweigend standen die Männer an Deck. Das faszinierende Schauspiel, das sich ihnen bot, zog sie in ihren Bann. Der Himmel war sternenklar und die Luft so rein, daß sich die Einzelheiten wie auf einem schwarzen Samttuch abzeichneten. Ein Meer von Lichtern funkelte an der weitgeschwungenen Bucht, erstreckte sich bis hoch hinauf in die Berge und verkündete auf atemberaubende Weise, welches Leben selbst zu dieser nächtlichen Stunde noch in der vielbesungenen Stadt pulsierte. Vor dem hellen Hintergrund zeichnete sich der Mastenwald der Schiffe ab, die auf Reede und an den Piers lagen. Ein Anblick, der die Männer der „Isabella“ in seinen Bann zog. Auch Philip Hasard Killigrew blickte von der Schmuckbalustrade des Achterkastells aus ergriffen auf die einmalige Schönheit der Szenerie. „Was meinst du?“ sagte Ben Brighton, der Erste Offizier. „Sollten wir nicht die Zwillinge wecken? So was kriegen sie vielleicht in ihrem ganzen Leben nicht wieder zu sehen.“ Philip Hasard Killigrew, bei Freunden und Feinden als der Seewolf respektiert und gefürchtet, überlegte nicht lange. Ben
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Brighton hatte recht. Trotz der späten Stunde war es gerechtfertigt, die Jungen aus dem Schlaf zu holen. Hasard nickte. „In Ordnung, Ben. Gönnen wir ihnen diese Ausnahme.“ Während des normalen Betriebs an Bord waren es die Zwillinge gewohnt, sich an dieselbe eiserne Disziplin zu halten, die für sämtliche Mitglieder der Crew galt. Und aus erzieherischen Gründen legte der Seewolf besonderen Wert darauf, daß für seine Söhne keine Extrawurst gebraten wurde. Ben Brighton, untersetzt und breitschultrig, beugte sich über die Schmuckbalustrade. „Profos!“ „Sir?“ Edwin Carberry, der mit den anderen im Laternenschein auf der Kuhl stand, wandte sich um. Abwartend schob er das mächtige Rammkinn vor. Mit seinem zernarbten Gesicht und seiner bulligen Statur hatte er manchen Gegner schon durch sein Äußeres das Fürchten gelehrt. Seine Freunde an Bord der schlanken Dreimastgaleone wußten jedoch, daß unter seiner rauhen Schale ein lauterer Kern steckte. „Weck die Zwillinge, Profos. Hasard hat erlaubt, daß sie sich das ansehen dürfen.“ Der Erste Offizier deutete mit einer ausladenden Armbewegung auf den Lichterglanz von Neapel. „Aye, aye, Sir“, brummte Carberry widerwillig. „Wenn du meine Meinung hören willst, Ben, dann sollten die beiden kleinen Stinte ruhig weiter ihre Matten abhorchen. Soviel Unruhe, wie die an Deck stiften, und dann noch mitten in der Nacht ...“ „Ich habe deine Meinung gehört, Ed“, entgegnete Ben Brighton grinsend. „Dann kannst du sie ja jetzt wecken.“ „Aye, aye, Sir.“ Der Profos der „Isabella“ hatte nichts mehr einzuwenden, zumal der Seewolf zu den Worten des Ersten deutlich zustimmend nickte. Ed Carberry beauftragte Batuti, den schwarzen Herkules aus Gambia, die „widerborstigen kleinen Stinte“ aus dem Logis zu holen. Der Seewolf schmunzelte, als seine beiden
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Söhne kurz darauf über die Planken der Kuhl tapsten. Batuti schickte die Jungen zum Niedergang des Achterkastells und widmete seine Aufmerksamkeit wieder der Bucht und dem Hafen von Neapel, der nun schon sehr nahe war. Schlaftrunken und still, straften Philip junior und Hasard junior alle Befürchtungen des Profos’ Lügen. Beide sahen so rührend unschuldig aus, daß kein Unbeteiligter hätte verstehen können, warum ein Riese von Kerl wie Ed Carberry ihrer Anwesenheit mit einer Spur von Unbehagen entgegensah. Wer allerdings wußte, wie faustdick sie es hinter den Ohren hatten, der begriff, daß sie jeden ausgewachsenen Mann sehr schnell zur Verzweiflung bringen konnten. Die beiden Jungen ähnelten sich äußerlich wie ein Ei dem anderen. Schlank und schwarzhaarig, hatten sie den unverwechselbar gleichen Gesichtsschnitt wie der Seewolf. In ihren Bewegungen waren sie geschmeidig wie Katzen, und schon jetzt, mit ihren elf Lebensjahren, standen sie ihren Mann bei den kleinen Arbeiten, die sie an Bord zu verrichten hatten. Mit großen Augen sahen Philip und Hasard den Zauber des nächtlichen Neapel, dem sich auch die Männer an Bord der „Isabella“ nicht entziehen konnten. Und aufmerksam hörten sie zu, als ihr Vater ihnen erklärte, welche Bedeutung diese Stadt als Hafen und Handelszentrum für das südliche Italien hatte. „Sing nicht zu viele Loblieder auf diesen Sündenpfuhl!“ meldete sich Old Donegal Daniel O’Flynn mit tiefer Stimme. Der alte Mann hockte auf einer Taurolle auf dem Achterdeck und war vermutlich der einzige an Bord der Galeone, der nicht mehr als ein paar beiläufige Blicke für die Szenerie hatte. „Was versteht man unter einem Sündenpfuhl, Mister O’Flynn?“ fragte Hasard junior. „Einen Ort des Lasters und der Ausschweifung, mein Junge.“ Old Donegal rappelte sich auf und humpelte heran.
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Trotz seines Holzbeins bewegte er sich erstaunlich behände. „Dann muß doch jede Hafenstadt ein Sündenpfuhl sein“, folgerte Philip junior, während der Seewolf und Ben Brighton ein Grinsen unterdrücken mußten. „Natürlich“, erwiderte der alte O’Flynn und lehnte sich an die Verschanzung. „Aber Neapel ist besonders schlimm. Hier wird nicht nur getrunken und — und so weiter, hier wimmelt es auch von Halsabschneidern aller Art. Man kann nicht sicher sein, daß man noch sein Hemd auf dem Leib trägt, wenn man von einem Besuch in dieser Stadt zurückkehrt.“ „Warst du schon mal in Neapel, Mister O’Flynn?“ fragte Hasard junior ehrfürchtig. „Nein, mein Junge. Aber ich habe genug darüber gehört. Von Leuten, die es wissen müssen. Ehrlich gesagt, wenn ich der Kapitän dieses Schiffes wäre, würde ich einen weiten Bogen um Neapel schlagen.“ „Irgendwelche bösen Vorahnungen, Old Donegal?“ fragte der Seewolf mit erzwungenem Ernst. Der alte O’Flynn war bekannt für seine Schauermärchen, die er bei jeder passenden Gelegenheit an den Mann zu bringen suchte. Aufmerksame Ohren fand er im Grunde nur noch bei den Söhnen Philip Hasard Killigrews, und auch diese fingen allmählich an zu begreifen, daß man dem rauhbeinigen Alten nur die Hälfte von seinen Erzählungen glauben konnte. „Was heißt hier Vorahnungen?“ entgegnete Old Don egal gereizt. „Das kann man sich doch an fünf Fingern abzählen, daß es in diesem Hexenkessel Verdruß geben wird. Warte erst mal ab, bis wir den ersten Landgang hinter uns haben. Dann gibt es Heulen und Zähneklappern, das versichere ich dir.“ „Wir werden also auf der Hut sein“, sagte Hasard. „Bislang haben wir immer ganz gut auf uns aufgepaßt, oder?“ „Wartet nur ab“, sagte Old O’Flynn geheimnisvoll. „Neapel ist anders als alles, was wir bisher erlebt haben.“ „Aber kochen tun die hier auch nur mit Wasser“, sagte Ben Brighton.
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„Ihr wollt mal wieder nicht auf mich hören“, brummte Old O’Flynn mit einer ärgerlichen Handbewegung. „Wir werden sehen, wer recht behält.“ Er wandte sich ab und humpelte zu seiner Taurolle zurück. Die „Isabella“ näherte sich bereits den Liegeplätzen der Schiffe. Ben Brighton gab Befehl, Vormars- und Großmarssegel zu bergen. Wenig später ließ er auch Fockund Großsegel bergen. Das Lichtermeer von Neapel wuchs groß und überwältigend auf die Seewölfe zu. Nachdenklich überwachte des Seewolf die Vorbereitungen zum Festmachen. Ob es sich lohnte, Neapel einen Besuch abzustatten, stand ganz und gar nicht fest. Aber die Wahrscheinlichkeit, daß auch Lord Henry und seine Meute die kampanische Hafenstadt ansteuern würden, war nicht von der Hand zu weisen. Nach der Auseinandersetzung vor Elba hatte die „Cruel Jane“ die Flucht ergriffen. Hasard hatte sofort die Verfolgung aufgenommen, doch dann hatte er die Fährte der Piraten verloren. Das stand seit zwei Tagen endgültig fest. Bei Civitavecchia hatte Bill, der Ausguck, zwar Mastspitzen erspäht, doch sie hatten sich als zu einem völlig fremden Schiff gehörend entpuppt. Folglich mußte Lord Henry noch mehr Vorsprung herausgeschunden haben, den die „Isabella“ nur zum Teil hatte aufholen können. Der Entschluß Philip Hasard Killigrews stand indessen unumstößlich fest: Er würde den falschen Lord nicht nur für dessen Dreistigkeiten bestrafen, die er sich bisher geleistet hatte. Da war auch noch der beachtliche Teil des Medici-Schatzes an Bord der „Cruel Jane“ und außerdem die übrige Raubbeute, die Henry in den vergangenen Wochen an den Mittelmeerküsten zusammengeplündert hatte. Alles zusammen ein lohnendes Objekt für die Seewölfe. Das mindeste, was man in Neapel aufstöbern konnte, waren mit Sicherheit Leute, die sich an der kampanischen Küste auskannten. Und wenn ein Schiff wie die
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„Cruel Jane“ auftauchte, dann sprach sich das schnell herum. * Diese Stadt schien nie schlafen zu gehen. Das war ihr erster Eindruck, während sie an Land pullten. Aus dem unüberschaubaren Gewirr der Gassen tönte ein unablässiger Lärm, der offenbar nie enden wollte. Da wurden wohlklingende Lieder gesungen, einstimmig und vielstimmig. Da keiften alte Weiber, daß es den Männern von der „Cruel Jane“ durch Mark und Bein ging. Da tönte das schrille Kreischen der nächtlichen Damenwelt aus den Schenken, begleitet von heiseren Männerstimmen. Und da trieben Kinder johlend ihren Schabernack mit den Bettlern, denen niemand zu Hilfe eilte, wenn sie gefoppt wurden. Lord Henry, Tim Scoby, Dark Joe und zehn weitere Männer hatten kaum ihren Fuß auf die Mole von Pozzuoli gesetzt, als sie bereits von einer lärmenden Horde Gassenjungen umringt wurden. Die Halbwüchsigen — manche erst zehn, die älteren vielleicht vierzehn Jahre alt — überschrien sich gegenseitig in ihren Angeboten und Wünschen, die sie den Fremden mitzuteilen hatten. Lord Henry scheuchte sie mit einer wütenden Handbewegung beiseite. Doch sie wichen nicht, gingen nur ein wenig auf Abstand und setzten ihr Geschrei fort. Der Kapitän der Piraten wartete, bis seine Männer das Beiboot vertäut hatten. Die „Cruel Jane“ ankerte draußen auf der Reede. Pozzuoli war ein Vorort, unmittelbar westlich von Neapel. Lord Henry hatte sich gesagt, daß er von hier aus notfalls das ganze Stadtgebiet systematisch durchkämmen konnte, falls er nicht auf Anhieb einen brauchbaren Hinweis auf die Guappi, die Strauchdiebe, erhielt. Es handelte sich längst nicht mehr nur darum, das zurückzuholen, was sie Dark Joe und den anderen auf Ischia geklaut hatten. Nein, diese Halunken mußten eine Menge mehr Diebesgut gehortet haben. Da
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lohnte es sich schon, ein wenig hinzulangen. Die notwendige Vergeltungsaktion wurde dann nebenbei miterledigt. „Meine Güte!“ rief Tim Scoby, nachdem die Männer das Beiboot vertäut hatten. „Dieses Geschrei macht einen ja wahnsinnig! Was, zum Teufel, wollen diese elenden kleinen Ratten?“ Er versuchte, sie einzuschüchtern, indem er mit wütenden Schritten auf sie zustapfte und sie anbrüllte. „Verschwindet! Haut ab, ihr Bastarde!“ Sie wichen nur ein wenig zurück, und nach einer kurzen Pause setzte ihr Geschrei von neuem ein. Die Männer von der „Cruel Jane“ grinsten. Tim Scoby schüttelte fassungslos den Kopf. Bislang hatte er mit seinem Äußeren stets Eindruck erweckt, bei zartbesaiteten Leuten sogar spürbare Furcht. Für diese kleinen Strolche dagegen schien er nichts Ungewöhnliches zu sein. Dabei war er mehr als sechs Fuß groß, trug ein rotes Kopftuch und zwei große Ohrringe und einen mächtigen Schnauzbart, dessen Enden bis über die Mundwinkel herabhingen. Wie immer stand sein Hemd offen, und über der nackten Brust lag ein breiter Ledergurt, in dem zwei Pistolen steckten. „Du verschwendest deine Energie, Tim“, sagte Lord Henry grinsend und klopfte ihm auf die Schulter. Scoby war sein bester Freund und gewissermaßen Erster Offizier an Bord der „Cruel Jane“. „Wieso?“ knurrte Scoby. „Verstehe ich nicht. Diese kleinen Bastarde gehen mir auf die Nerven mit ihrem Geschrei.“ „Damit mußt du dich abfinden. Je mehr du sie beachtest, desto weniger wirst du sie los. Die sind wie Hunde. Wenn du dich gar nicht um sie kümmerst, geben sie es vielleicht irgendwann auf.“ „Das wollen wir doch mal sehen. Wenn ich dem ersten einen Tritt in den Hintern ...“ Scoby wollte auf die Meute losmarschieren. Lord Henry hielt ihn zurück. „Laß den Quatsch, Tim. Erstens machen wir uns hier nur unbeliebt, und zweitens
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haben wir andere Sorgen.“ „Was, zum Teufel, wollen denn diese kleinen Ratten?” Lord Henry lachte. „Oh, das kapierst du nicht? Ja, dann nehmen wir mal diesen da!“ Er winkte einen schmalbrüstigen Jungen heran, dessen Gesicht den listigen Ausdruck eines Fuchses hatte. Sofort wieselte der Junge herbei, mit einem Schwall von Worten, und auch die übrige Meute setzte nach. Lord Henry strich dem fuchsgesichtigen Jungen über das pechschwarze Haar. „Der liebe Kleine bietet dir seine Schwester für die Nacht an. Eine wahre Perle unter dem Himmel Neapels. Für den Fall, daß dir seine Schwester mit ihren sechzehn Jahren zu jung ist, hat er auch noch eine Mutter von fünfunddreißig, nicht weniger ansehnlich, nur ein bißchen reifer. Und er ist bereit, dir einen wirklich guten Preis zu nennen, falls ihr ins Geschäft kommt.“ Tim Scoby verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf. „Himmel, ist das wirklich wahr? Da dreht sich ja einem anständigen Seefahrer der Magen um. Flunkerst du mir auch nichts vor, Henry?“ „Das ist Neapel“, entgegnete Lord Henry. „Hier ist alles ein bißchen anders, als du es jemals kennengelernt hast.“ „Hier verkaufen sie dem Teufel ihre eigene Großmutter, wenn sie nichts mehr zu beißen haben!“ rief Shand, ein dunkelhaariger, drahtiger Mann, der ebenfalls zu Henrys engsten Vertrauten gehörte. „Es genügt schon, wenn der Gehörnte ihnen einen guten Preis nennt“, fügte Dark Joe grinsend hinzu. „Da müssen sie nicht unbedingt Hunger haben.“ „Was für eine verdammte Gegend!“ brummte Tim Scoby fassungslos, und er sah die gestikulierenden und schreienden Halbwüchsigen ungläubig an, als hätten sie allesamt Hörner im struppigen Haarschopf und einen Pferdefuß neben dem gesunden. „Vielleicht können sie uns aber doch zu was nütze sein“, meinte Lord Henry,
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nachdem er kurz überlegt hatte. Er zog eine große Silbermünze, ein Achterstück, aus der Tasche und hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger hoch. „Jetzt hört mal alle her!“ rief er auf italienisch. Sofort verstummte die Meute, und andächtige Blicke richteten sich auf das Achterstück. „Wenn ihr uns einen Dienst erweist, kriegt ihr diese Münze, Jungens. Ihr könnt sie eintauschen gegen irgendwas, was ihr braucht, und das teilt ihr dann untereinander auf. Klar?“ „Was für einen Dienst, Signore?“ schrie der Junge mit dem Fuchsgesicht begeistert. „Wir suchen eine Schenke mit dem hübschen Namen ,Lo Spirito Santo’ „, erklärte Lord Henry. „Wenn ihr uns den Weg zeigt, gehört das Achterstück euch.“ Die Halbwüchsigen begannen aufgeregt zu schnattern, beratschlagten. Dann schien es aber doch einige unter ihnen zu geben, die von der Schenke schon gehört hatten. „Das geht in Ordnung, Signore“, verkündete der Kleine mit dem Fuchsgesicht schließlich. „Es ist gar nicht weit von hier, nur durch Pozzuoli durch, und dann gleich am Rand von Neapel.“ „Na also“, sagte Lord Henry zufrieden. „Dann wollen wir mal. Aber ich warne euch!“ Er packte das zerschlissene Hemd des Jungen und zog ihn zu sich heran. „Wenn ihr auf die Idee verfallen solltet, uns in einen Hinterhalt zu führen, wo eine Horde von Guappi auf uns lauert, weißt du, was dann passiert?“ „Oh, Signore, so etwas werden wir bestimmt nicht tun. Wir werden doch nicht ...“ „Ich sage dir, was dann passiert, mein kleiner Amico. Dann ziehe ich dir eigenhändig das Fell über die Ohren und lasse es mir zum Andenken gerben. Begriffen?“ Wort- und gestenreich versicherte der Junge abermals, daß er solches nicht im Sinn habe. Und er war bereit, dies sogar bei allen Heiligen zu schwören, falls es sein mußte.
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Lord Henry unterbrach seinen Redeschwall und scheuchte ihn und die anderen los. Mit weit ausgreifenden Schritten folgten die Männer von der „Cruel Jane“ den neapolitanischen Gassenjungen, die sich in der Tat mit traumwandlerischer Sicherheit zwischen dem Häusergewirr zurechtfanden. Pozzuoli unterschied sich nicht vom eigentlichen Neapel. Da gab es die typischen engen Gassen in Hafennähe, in denen selbst zu dieser späten Stunde, lange nach Mitternacht, noch Hochbetrieb herrschte. Da erklangen heitere Gesänge aus den unzähligen Schenken, und neben dem heimischen italienischen Dialekt waren auch andere Sprachen zu hören wie die der spanischen Besatzer. Aber auch Seefahrer aus aller Herren Länder gaben sich hier ein Stelldichein, und in den Kassen der Wirte klingelten die Münzen. Überall vor den Häusern hockten Bettler, und die Männer von der „Cruel Jane“ schüttelten angewidert die mageren Hände ab, die sich verlangend nach ihnen reckten und an ihren Hosenbeinen zupften. Die Häuser von Pozzuoli und Neapel grenzten nahezu übergangslos aneinander, und häufig führte der eilige Marsch der Gassenjungen und der Piraten unmittelbar an den Hafenmolen entlang. Dann sahen sie die unüberschaubare Zahl der Schiffe, die in der Bucht vor Anker lagen. Überall glühten Lichter, an den Molen erstreckten sich die Fackeln in den Stangenkörben wie eine gigantische Kette aus flackernden kleinen Punkten. Kaum eine Stunde hatte der Fußmarsch gedauert, als die Jungen unter ihrem fuchsgesichtigen Anführer in einer der Gassen am westlichen Rand von Neapel stehenblieben. „Lo Spirito Santo“ stand tatsächlich in krummen gußeisernen Buchstaben über dem Eingang einer Kaschemme, die sich dadurch von den anderen unterschied, daß sie einen besonders heruntergekommenen Anblick bot. Risse klafften in der vorderen Wand, große Stücke waren aus dem Mauerwerk herausgebröckelt. Stinkende Abfälle lagen
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in der Rinne in der Mitte der Gasse, aus der offenen Tür der Schenke wehte der Geruch von verschüttetem Wein und billigem Traubenschnaps. Lord Henry belohnte die Halbwüchsigen mit dem versprochenen Achterstück und versprach ihnen einen Tritt in den Hintern, als sie ihn um eine Verdoppelung des Wegelohns anbettelten. Als auch die übrigen. Männer von der „Cruel Jane“ eine drohende Haltung annahmen, zogen die Jungen es vor, das Weite zu suchen. Lord Henry und seine Kumpane betraten die Schenke und hatten das Gefühl, von einem Hammer vor den Kopf getroffen zu werden. so dick stand die Luft unter der niedrigen Decke. Ausdünstungen, Alkoholgestank und der Qualm der Öllampen waren derart intensiv, daß das Atmen schwerfiel. Die Zecher in dem gewölbeähnlichen Raum grölten mit einer solchen Lautstärke, daß für die Neuankömmlinge jeder Wortwechsel sinnlos war. Sie hätten schon selber brüllen müssen, um den Lärm zu übertönen. Auch einige schrille Stimmen von Hafenhuren gab es, die es sich in der dichtgedrängten Gesellschaft am spendierten Wein und der versprochenen späteren Bezahlung wohl ergehen ließen. Das Stimmengewirr versiegte nicht, als Lord Henry und seine Gefolgschaft zielstrebig auf den roh gezimmerten Tresen zusteuerten. Wild und verwegen aussehende Kerle waren keine Seltenheit in Neapel, und es hatte schon schlimmere gegeben als diese. Solche nämlich, die zur Begrüßung die Einrichtung in Trümmer legten und sich dann am Inhalt der heil gebliebenen Flaschen labten. Gemessen daran erschienen diese Männer mit ihrem hünenhaften blonden Anführer geradezu zahm. So bedachte sie der Mann hinter der Theke denn auch nur mit einem flüchtigen Blick, offenbar desinteressiert. Breit und wuchtig, sah er aus wie ein typischer neapolitanischer Schankwirt. Am eindrucksvollsten war sein gewaltiger schwarzer Schnauzbart. Sein offenes Hemd
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ließ den dichten Haarpelz frei, der sich auf seiner Brust kräuselte. Lord Henry und Tim Scoby fanden einen freien Platz am Tresen, die anderen mußten sich hinter ihnen drängen. „Gib uns einen Krug von deinem Wein!“ rief Lord Henry auf italienisch, und der Wirt nickte, ohne ihn anzusehen. Dann, als der Schnauzbärtige den gewünschten Krug brachte und leere Becher auf dem Tresen zusammenschob, winkte der blonde Hüne ihn näher zu sich heran. „Sag mal, Freund, gehört dir der Laden?“ „So ist es“, antwortete der Schnauzbärtige mit grollendem Baß. „Willst du ihn mir abkaufen, Fremder?“ „Bewahre!“ Lord Henry grinste. „Ich will nur wissen, ob du die Leute kennst, die hier verkehren.“ „Das kann man wohl sagen, Mann. Suchst du eine bestimmte Person?“ „Du hast es erfaßt, Freund.“ Lord Henry griff in seine Tasche und schob ein Achterstück über den Tresen. Der Schnauzbärtige ließ es mit einer schnellen Handbewegung verschwinden. „Um wen handelt es sich?“ „Um einen gewissen Gennaro Masaniello. Er soll hier des öfteren anzutreffen sein. Wir wollen ein kleines Geschäft mit ihm abschließen.“ Der wuchtige Mann hinter dem Tresen nickte verstehend. „Gennaro ist mir bekannt. Ein guter Kunde.“ Er deutete mit dem Daumen über die Schulter. Im Hintergrund neben der Theke war ein halbdunkler Korridor zu erkennen, der von einer winzigen Ölfunzel nur unzureichend erhellt wurde. „Geht dort hinüber, ins Hinterzimmer. Da werdet ihr ihn finden.“ „Danke“, sagte Lord Henry, „bist ein guter Freund.“ Er sagte es so, wie man einen Hund belohnt, und er be-. merkte nicht das zornige Funkeln in den dunklen Augen des Schnauzbärtigen. Die Miene des Mannes war indessen unverändert freundlich. Lord Henry klemmte sich den Krug unter den Arm, und seine Kumpane schnappten sich die Becher, bevor sie ihm in Richtung
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Hinterzimmer folgten. Eine knarrende Tür führte in den Raum, der nur wenig kleiner als der vordere Schankraum war. In der Luft lag die gleiche Geruchsmischung, nur die Gespräche waren gedämpfter. An den Tischen wurde Karten gespielt. Lord Henry sah, daß es sich um die klassischen neapolitanischen Kartenspiele „Briscola“, „Scopa“ und „Bestia“ handelte. Es gab etliche Zuschauer, die hinter den Spielern die Tische umringten und gemurmelte Kommentare über die Chancen der Beteiligten abgaben. Bei den Männern handelte es sich größtenteils um Seeleute, aber auch um Handwerker aus der Hafengegend, wie Seiler, Schiffsausrüster und andere. Lord Henry hatte einen Blick dafür. Während seine Kumpane in der Nähe der Tür warteten, trat er an einen der Tische und winkte einen der Männer zu sich. „Ich suche Gennaro Masaniello“, sagte der blonde Hüne halblaut. „Er soll in dieser Bude zu finden sein.“ Der Karten-Kiebitz, ein älterer Mann mit verschlagenem Gesichtsausdruck, kratzte sich am Hinterkopf. „Gennaro Masaniello“, wiederholte er gedehnt. „Natürlich, den kenne ich. Da wollen wir doch mal sehen. Warten Sie einen Moment, Fremder.“ Er ließ den hochgewachsenen Engländer kurzerhand stehen und begann, suchend durch die Tischreihen zu schleichen. Lord Henry wandte sich seinen Kumpanen zu. „Her mit euren Bechern“, sagte er gutgelaunt. „Bevor wir uns diesen Masaniello vorknöpfen, nehmen wir noch einen zur Brust.“ Tim Scoby hielt seinen Becher als erster hin. „Gefällt mir nicht“, sagte er brummelnd. „Allen diesen Hafenratten traue ich nicht von hier bis an die Wand.“ „Wer sind wir denn!“ entgegnete Lord Henry wegwerfend. „Da soll nur mal einer aufmucken, und wir nehmen den ganzen Laden auseinander.“ Er hob den Krug, um einzuschenken.
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Jäh flog die Tür hinter den Piraten auf und prallte mit vernehmlichem Krachen gegen die Wand. Alles Weitere spielte sich rasend schnell ab, bevor die Männer von der „Cruel Jane“ überhaupt richtig begriffen. Ein Pulk von wild aussehenden Gestalten stürzte durch die Tür vom Schankraum herein, und rein äußerlich ähnelten sie verteufelt jenen, die auf Ischia über Dark Joe und seine Mannen hergefallen waren. Noch in derselben Sekunde sprangen die Kartenspieler von ihren Tischen auf. Begleitet von den Zuschauern, verschwanden sie wieselflink durch eine Tür, die auf der anderen Seite des Raumes hinausführte. Alles sah danach aus, daß sie einen solchen raschen Abgang häufiger auszuführen hatten. Doch diese Erkenntnis nützte Lord Henry und seinen Gefährten nichts mehr. Die wüste Horde von schwarzhaarigen drahtigen Burschen, die mit heiserem Angriffsgebrüll hereinströmten, war eine erdrückende Übermacht - mindestens zwanzig, eher fünfundzwanzig katzenhaft gewandte Neapolitaner. In der ersten Überraschung wurden die Piraten im Handumdrehen an die gegenüberliegende Wand getrieben. Ein Wirbel von Fäusten prasselte auf die Engländer ein. Lord Henry, graugrün im Gesicht von einem Schlag in die Magengrube, besann sich und trieb zwei Angreifer von sich weg. Die beiden Neapolitaner schlugen lang zu Boden und wurden von der Wucht der Hiebe bis zur anderen Seite des Raumes gefegt. Doch sofort waren für sie drei, vier andere zur Stelle, die sich auf den hünenhaften Engländer stürzten. „Macht sie fertig!“ brüllte Lord Henry standhaft. „Schlagt sie kurz und klein, die Bastarde!“ Seine Donnerstimme gab den Männern von der „Cruel Jane“ neuen Mut. Immerhin ihr Kapitän hatte noch nicht die Segel gestrichen. Das bedeutete, daß noch nicht alles verloren war, obwohl sie vor lauter Gegnern nicht einmal mehr die andere Seite des Raumes sehen konnten.
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Noch einmal trieben nun auch Tim Scoby und Dark Joe die Kumpane zur Gegenwehr an. Keiner von ihnen schaffte es in dem Gedränge, zur Waffe zu greifen. Stühle und Tische stürzten polternd um, zerbrachen mit Bersten und Splittern. Keuchen, scharrende Schritte und unterdrückte Schmerzenslaute erfüllten den Raum. Zweimal hatte Tim Scoby vergeblich versucht, eine seiner Pistolen zu ziehen, sie am Lauf zu packen und den Angreifern den eisernen Knauf auf den Schädel zu schmettern. Jedesmal hatte er für die winzige Zeit- - spanne eine ganze Serie von derben Hieben einstecken müssen. Jetzt gab er es auf und ließ seine Fäuste wirbeln, daß die Gegner gleich reihenweise umkippten. Doch reihenweise waren sie auch wieder zur Stelle. Nicht einen Atemzug lang ließen sie Tim Scoby verschnaufen. Und Lord Henry, Dark Joe und den anderen erging es nicht besser. Schon sanken die ersten von der „Cruel Jane“ zu Boden. Es war der Beginn des Untergangs für die übrigen, die noch verbissen kämpften. Für sie verdoppelte sich die Übermacht. Und es war nur noch eine Frage von wenigen Augenblicken, bis auch Lord Henry und seine engsten Vertrauten besinnungslos auf den kühlen Steinboden stürzten. 4. Als sie wieder erwachten, spürten sie sofort die Feuchtigkeit, die ihnen bis auf die Knochen zu kriechen schien. Stöhnend schlug Lord Henry die Augen auf. Er begriff, daß er halb aufrecht an einem steinernen Pfeiler lehnte. Die Umgebung war im trüben Licht einer Ölfunzel mehr verborgen als erhellt. Dennoch erkannte Lord Henry, daß sie sich in einem Kellergewölbe befanden, sehr wahrscheinlich unter der Kaschemme, denn es gab einige Regale mit verstaubten Flaschen und auch einige größere Weinfässer. An dem Ächzen und Knurren, das rings um ihn laut wurde, stellte Lord
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Henry fest, daß auch seine Gefährten wieder zu sich kamen. Er blinzelte angestrengt, und seine Augen begannen, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Die Schmerzen meldeten sich mit seinem erwachenden Bewußtsein. Er hatte das Gefühl, daß sein ganzer Körper mit Schrammen und Beulen bedeckt war. Mühsam rappelte er sich auf und stützte sich an den Pfeiler. Niederschmetternd, wie die Lage ohnehin schon war, bedeutete es keine große Überraschung mehr, daß ihm und auch seinen Kumpanen sämtliche Waffen abgenommen worden waren. Lord Henry fühlte sich nackt und hilflos wie ein neugeborenes Kind. Nach und nach erwachten auch die anderen. Die Schmerzenslaute in dem feuchten und modrigen Keller nahmen zu und gingen in wütendes Gemurmel über. Mit schmerzlicher Gewißheit begriffen nun auch Tim Scoby, Dark Joe und die anderen, in welche teuflische Lage sie geraten waren. Auf Hilfe von der restlichen Crew der „Cruel Jane“ konnten sie praktisch überhaupt nicht hoffen. Bevor jene die Kaschemme „Lo Spirito Santo“ aufgespürt hatten, konnte schon alles zu spät sein. Zu einem Wortwechsel gelangten Lord Henry und seine Kumpane nicht mehr. Unvermittelt wurde eine Tür über ihnen geöffnet, nachdem ein Riegelbalken knirschend gelöst worden war. Fackelschein fiel züngelnd herein, und eine Gruppe von einem Dutzend Männern stieg die Steintreppe hinunter, die zwanzig Stufen tief in den Keller führte. Im ersten Moment keimte leise Hoffnung in Lord Henry auf, als er den schnauzbärtigen Schankwirt an der Spitze der Männer erkannte. Dann aber sah er, daß die anderen mit Pistolen bewaffnet waren, die sie schußbereit auf die Gefangenen richteten. Am Fuß der Steintreppe schwärmten sie sofort nach beiden Seiten aus und bildeten eine waffenstarrende Front vor den Regalen und Weinfässern, zwischen denen die geschundenen Piraten hockten.
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„Ah, Sie sind es, Signore“, sagte Lord Henry dennoch, obwohl er das sichere Gefühl hatte, daß die Begleiter des Schnauzbärtigen bei dem Überfall im Hinterzimmer mit von der Partie gewesen waren. „Ich denke, dieses Mißverständnis läßt sich jetzt aufklären. Es ist eine Unverschämtheit, was hier passiert ist.“ Der Schnauzbärtige baute sich vor ihm auf. Breitbeinig, drei Schritte entfernt. „Du wolltest Gennaro Masaniello sprechen, Fremder.“ „Richtig. Deshalb sind wir hergekommen. Aber das erübrigt sich jetzt ja wohl.“ „Oh, dafür ist es nie zu spät“, entgegnete der Schnauzbärtige mit einem Grinsen. „Ich bin Gennaro Masaniello.“ Lord Henrys Kinnlade sank verblüfft herab, und auch seine Gefährten starrten den bulligen Neapolitaner entgeistert an. „Du bist ...“, sagte Henry tonlos, und er brachte keine weiteren Worte heraus. „So ist es.“ Masaniello nickte. „Und das ist noch längst nicht alles. Schon lange bevor ihr hier aufgetaucht seid; wußte ich, was auf Ischia passiert ist. Du hast einen von meinen Männern getötet, Engländer. Glaubst du, das werde ich so einfach vergessen?“ Lord Henry fiel es wie Schuppen von den Augen. „Dann bist du der Kopf von diesen gottverdammten Guappi!“ schrie er erbost. „Und der Kerl in dem Nest auf Ischia hat uns absichtlich an der Nase herumgeführt! Der hat mit Absicht verschwiegen, daß du der Wirt in dieser Spelunke bist!“ Er zeigte Anstalten, sich auf den Schnauzbärtigen zu stürzen. Aber sofort nahmen die bewaffneten Begleiter eine drohendere Haltung ein, und Lord Henry gab sein unüberlegtes Vorhaben auf. „Bevor du versuchst, einen Neapolitaner übers Ohr zu hauen, mußt du früher aufstehen“, versicherte Gennaro Masaniello von oben herab. „Und auf eins kannst du Gift nehmen, Engländer: Für den Mord an dem Jungen auf Ischia werdet ihr bezahlen. Alle!“ Zorn keimte in Lord Henry auf. Ohnmächtiger Zorn über die
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Selbstherrlichkeit dieses Halunken, der offenbar glaubte, ganz Neapel zu regieren. „Blase dich nur nicht zu gewaltig auf!“ sagte Henry fauchend. „Meine Crew besteht nicht nur aus diesen Männern hier. Die anderen von meinem Schiff werden nicht lange auf sich warten lassen. Die haben inzwischen nämlich spitzgekriegt, daß wir verschwunden sind. Und dann gnade dir Gott, Masaniello. Meine Leute hauen dich und deinen ganzen Laden kurz und klein.“ Der Schnauzbärtige lachte dröhnend. Sein massiger Körper bebte bei diesem Lachen. Und auch seine Begleiter stimmten mit ein. Nach einer Weile brachte er sie mit einer Handbewegung zur Ruhe. „Ich glaube, die Fronten sind noch nicht ganz geklärt, Engländer. Du scheinst immer noch nicht zu wissen, wen du vor dir hast. Man nennt mich ‚Don Gennaro` wie den Schutzheiligen unserer schönen Stadt. Du kannst sicher sein, daß es im Hafenviertel von Neapel in jedem Haus mindestens einen Mann gibt, der auf mein Kommando hört. Jede Familie, die zu den Armen und Unterdrückten zählt, hört auf mich. Gegen deine lächerliche Schiffsmannschaft stelle ich eine Armee auf die Beine, wenn es sein muß. Ich weiß jederzeit, was in und um Neapel passiert. Meine Leute habe ich überall, und du hast selbst gesehen, daß mein Einfluß sogar bis nach Ischia reicht.“ „Hochmut kommt vor dem Fall“, knurrte Lord Henry. „Du tust ja gerade so, als ob du ein Wohltäter der Menschheit seist. Dabei bist du nichts weiter als einer von vielen kleinen Strauchdieben, die unschuldige Leute bestehlen.“ „Unschuldige?“ Don Gennaro lachte. „Du bist ein Phantast, Engländer. Das hört sich an, als ob du in einer Welt lebst, die es nicht gibt. Wir nehmen uns nur das, was uns zusteht.. Es ist unser Recht, das zu tun. Welches Recht haben denn die Reichen, unsereins zu unterdrücken und auszubeuten? He, sag es mir, welches Recht?“ „Das Recht des Stärkeren.“ Lord Henry grinste.
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„Die Stärkeren sind wir“, widersprach der Schnauzbärtige. „Ich, Don Gennaro, habe den armen Leuten in Neapel gezeigt, daß es einen Weg für sie gibt, sich gegen die Knechtschaft zu wehren. Wir nehmen uns, was wir kriegen können. Und wir nehmen es vor allem von den Reichen, von den Besatzern, den spanischen Adligen und den Steuereintreibern. Die Beute wird gerecht verteilt. Jeder von uns hat das gleiche Recht. Du wirst niemanden in Neapel finden, der sich mit dir gegen mich verbündet; Engländer. Merk dir das.“ Lord Henry biß sich auf die Unterlippe und wechselte einen stummen Blick mit Tim Scoby. Auch dieser sah bedrückt aus. Wenn nur die Hälfte von dem stimmte, was dieser aufgeblasene Don Gennaro von sich gegeben hatte, dann sah es höllisch schlecht für sie alle aus. „Wir sehen uns noch“, versicherte Don Gennaro grimmig, ehe er mit seinen Gefolgsleuten hinausstapfte.. „Leider bin ich im Augenblick anderweitig beschäftigt.“ Krachend fiel die Tür des Kellergewölbes zu. Die Piraten von der „Cruel Jane“ waren mit ihrer quälenden Sorge allein, wie die Zukunft für sie aussehen würde. Die Worte des schnauzbärtigen Bandenführers hatten sie nachdenklich gestimmt. * Gern hätte Philip Hasard Killigrew jedem von ihnen eine Kleinigkeit zugesteckt. Die Gassenjungen, die an fast jeder Straßenecke und überall in den Hauseingängen lungerten, taten ihm leid. Samt und sonders sahen sie verhärmt aus, mit großen hungrigen Augen in den eingefallenen Gesichtern. Aber der Seewolf wußte auch, daß man sich in Neapel auf nichts einlassen durfte. Wer zuviel Aufmerksamkeit auf sich lenkte, indem er freiwillig Geld herausrückte, der lief sehr schnell Gefahr, bekannt wie ein bunter Hund zu werden. Eben das wollten Hasard und seine Männer vermeiden.
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Gemeinsam mit Edwin Carberry, Ferris Tucker, Dan O’Flynn und Batuti war er an Land gegangen. Ziemlich planlos hatten sie zunächst die Gassen in unmittelbarer Nähe der Piers durchstreift und sich von der Atmosphäre dieser Stadt gefangen nehmen lassen. Ob man nun wollte oder nicht, das mußte Hasard vor sich selbst eingestehen, Neapel übte eine unvergleichliche Wirkung aus. Vielleicht lag es an der lauen Luft, an der überschwänglichen Stimmung in den Schenken oder an der Sangesfreudigkeit der Einheimischen. Dieser besondere Reiz der süditalienischen Hafenstadt hatte einen Hauch von Unerklärlichem und auch Geheimnisvollem. In einer Trattoria, die nach ihrem Inhaber „Da Gino“ benannt war, ließen sich die fünf Männer von der „Isabella“ einen Rotwein kredenzen, der im Lampenlicht purpurfarben funkelte. Die Leute in der Trattoria gehörten zum üblichen Hafenpublikum, Seefahrer in erster Linie, die von gurrenden und kichernden Hafenmädchen belagert wurden. Unter den Gästen waren aber auch Einheimische, die sich überwiegend an der Theke aufhielten, während die Seeleute mit ihrem weiblichen Zeitvertreib die blankgescheuerten Tische in den dunkleren Ecken bevorzugten. Die Seewölfe hatten freie Stühle in der Nähe der Theke gefunden. Lange blieben sie nicht allein. Aus dem Halbdunkel schoben sich zwei schwarzhaarige Schöne mit wiegenden Hüften heran. Beide trugen grobgewirkte Röcke und einfache Leinenblusen. Bei letzteren bestand der Reiz jedoch darin, daß sie auf äußerst offenherzige Weise nur unzureichend geschlossen waren und solchermaßen tiefe Einblicke gewährten. „Guten Abend, Gentlemen“, sagte die eine auf englisch, während sie sich an den Tisch heranschoben. „Mein hübscher Name lautet Giovanna, und das“, sie legte ihren Arm um die Schultern eines anderen Mädchens, „ist meine Freundin Angelina. Wenn ihr mich fragt, seht ihr ganz so aus,
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als ob ihr ein bißchen nette Gesellschaft nötig habt.“ „Eine feine Ansprache“, sagte der Seewolf mit einem anerkennenden Grinsen. „Habt ihr das auswendig gelernt, Schwestern?“ rief Ferris Tucker, der rothaarige Schiffszimmermann dröhnend. „He, sagt mal, ihr Meerjungfern“, meldete sich Ed Carberry mit grollendem Baß zu Wort. „Woher wußtet ihr überhaupt, daß wir Engländer sind?“ Giovanna, die etwas Fülligere, kicherte und schwang sich ihm unaufgefordert auf den Schoß. Mit dem Zeigefinger kitzelte sie sein Rammkinn. „Das, mein Lieber, haben wir euch an der Nasenspitze angesehen.“ Ed Carberry begann zu lachen, und er übertönte das Stimmengewirr in der Schenke mit seiner mächtigen Stimme. Hasard und die anderen stimmten mit ein und warfen sich schmunzelnde Seitenblicke zu, als der Profos seiner Meerjungfrau vor Vergnügen klatschend auf die imposante Kehrseite hieb. Sie kreischte mit nicht geringerem Vergnügen, und Angelina, die Schlankere, nahm den turbulenten Moment als Gelegenheit, sich Ferris Tucker an den Hals zu werfen. Der rothaarige Riese, dessen Kreuz so breit war wie ein Rahsegel, sträubte sich nicht. Dan O’Flynn beugte sich vor, nahm den Weinkrug und schenkte die Becher voll. Schmunzelnd wandte er sich dem Seewolf zu. „Für unsere beiden Prachtbarsche sind wir erst mal abgemeldet, scheint mir.“ „Haben alle Hände voll zu tun“, sagte Batuti mit einem breiten Grinsen, das eine Reihe perlweißer Zähne entblößte. „Im wahrsten Sinne des Wortes“, erwiderte Dan O’Flynn, ein schlanker junger Mann, dem man die zähe Kämpfernatur ansah. „Mir scheint“, sagte Philip Hasard Killigrew durch das Gekicher und Geschnurre, „ihr beiden seid ein bißchen neidisch.“ „Sehen wir so aus?“ entgegnete Batuti protestierend. „Neidisch wegen so ein paar Hafenpflanzen?“
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„Natürlich sind wir was Besseres gewohnt.“ Dan O’Flynn feixte. Giovanna, die Fülligere, hatte es mitgekriegt und drehte sich für einen Moment in Ed Carberrys Riesenpranken. „Hör mal, Kleiner, ich glaube, dein Capitano hat doch recht. Ihr seid verdammt neidisch, ihr beiden.“ „Wer weiß, was dein großer schwarzer Freund gewohnt ist“, sagte Angelina, die Schlankere, und kicherte. Batuti fletschte die Zähne, formte die Hände wie Krallen und imitierte einen angriffslustigen Tiger, indem er ein Fauchen ausstieß. Angelina wich erschrocken an den breiten Brustkasten Ferris Tuckers zurück. „Um Himmels willen!“ grölte Ed Carberry überschwänglich. „Laßt bloß die beiden Giftzwerge in Frieden! Die drehen sonst gleich durch.“ „Ist doch klar“, sagte Ferris Tucker, „an Bord haben sie die letzten drei Monate nur Decksplanken geschrubbt.“ „Mister Carberry und Mister Tucker“, sagte Dan O’Flynn energisch, „ich denke, das geht denn doch zu weit. Ich werde mir solche herablassenden Anspielungen nicht gefallen lassen.“ Batuti sah den Ärger im Gesicht seines Freundes, und auch seine Miene verdüsterte sich. Der Profos der „Isabella“ sah Dan O’Flynn einen Moment erstaunt an. Dann lachte er glucksend los, und Ferris Tucker und die beiden Mädchen stimmten mit ein. „Was ist los mit dir, Mister O’Flynn“, sagte Carberry schnaufend, „weshalb redest du plötzlich so geschraubt?“ „Ist doch klar“, brummte Ferris Tucker leichthin. „Das soll Eindruck machen bei der kleinen Angelina und der kleinen Giovanna. Damit will er sie zu sich und Batuti rüberlotsen.“ Dan O’Flynn sprang auf. Seine Faust schmetterte auf den Tisch, daß die Becher hüpften. „Jetzt reicht es! Ich werde ...“ Für den Seewolf war es an der Zeit, einzugreifen. Sachte, aber bestimmt ergriff
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er Dans Arm und zog ihn zurück auf seinen Platz. „Gar nichts wirst du, Dan. Unser erster Landgang in Neapel ist nicht dazu da, außer Rand und Band zu geraten. Schon gar nicht wegen ein paar Worten, die man sowieso nicht auf die Goldwaage legen sollte.“ „Sehr richtig, Capitano!“ rief Angelina, die Schlankere. „Unsere Stadt hat soviel Schönes zu bieten. Weshalb sollte man da streiten? Das ist sinnlose Zeitverschwendung.“ Philip Hasard Killigrew zog die Augenbrauen hoch. „Das ist ein wahres Wort, Angelina. Was die Zeitverschwendung betrifft - vielleicht könnt ihr beiden Hübschen uns ein wenig auf die Sprünge helfen. Wir suchen jemanden, von dem wir allerdings nicht genau wissen, ob er schon hier ist.“ „In Neapel jemanden suchen?“ antwortete Angelina. „Das ist, als ob man eine Stecknadel im Heuhaufen finden möchte.“ „Da kenne ich wahrhaftig bessere Beschäftigungen im Heuhaufen.“ Ed Carberry gluckste. „Mister Carberry!“ sagte der Seewolf schneidend, und Dan O’Flynn setzte ein zufriedenes Lächeln auf. Der Profos zog das Gesicht lang. Giovanna, die Fülligere, strich ihm tröstend über das kantige Kinn. Dann wandte sie sich dem Seewolf zu. „Allerdings, Capitano, wenn Sie noch nicht mal wissen, ob der Betreffende überhaupt in Neapel ist ...“ „Für den Fall, daß er hier ist“, fiel Hasard ihr ins Wort, „hat es sich bestimmt herumgesprochen. Ich nehme an, ihr beiden kennt euch in Neapel aus.“ „Natürlich“, entgegnete Giovanna gedehnt. „Zumindest kennen wir Leute, die genau Bescheid wissen.“ „Diese betreffende Person“, fügte Angelina lauernd hinzu, „sucht ihr doch bestimmt nicht mit freundlichen Absichten.“ „Das ist unsere Sache“, sagte der Seewolf abweisend. Er griff in die Tasche und legte zwei spanische Silbermünzen im Wert von je vier Reales auf den Tisch.
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Die Augen der beiden Hafenmädchen wurden groß. „Wir holen jemanden, der euch weiterhilft“, erklärte Giovanna schnell entschlossen. Hasard nickte. Die beiden ließen das Geld mit geübtem Griff verschwinden und hatten es plötzlich eilig, aus Ferris Tuckers und Ed Carberrys Nähe zu verschwinden. Sie tauchten im Gewühl bei der Theke unter. „Spielverderberei nenne ich so was“, grollte Ed Carberry. „Womit haben wir das verdient?“ Dan O’Flynn und Batuti sahen sich an und grinsten. „Ich nenne das einen Streit im Keim ersticken“, sagte Hasard. „Wir sind nämlich nicht hier, um uns gegenseitig in die Haare zu geraten. Und die anderen sind nicht an Bord geblieben, damit wir unsere Zeit verschwenden. Vielleicht erinnert ihr beiden euch daran, warum wir diesen Erkundungsgang unternommen haben.“ „Aye, aye, Sir“, sagte Ferris Tucker, und auch Ed Carberry nickte. Weiter konnten sie ihr Gespräch nicht führen, denn aus dem Thekengewirr löste sich jetzt eine Gestalt, die sich auf ihren Tisch zuschob. Ein hageres Kerlchen, kaum mehr als fünf Fuß groß. Hemd und Hose schlotterten um seine Gliedmaßen. Die Furchen in seinem schmalen Gesicht ließen keine genaue Schätzung seines Alters zu. Das strähnige schwarze Haar reichte ihm bis auf die Schultern. Seine Miene war von unterwürfiger Freundlichkeit geprägt. „Ich habe gehört, Sie wünschen eine Auskunft, Signori“, sagte er in schaurigem süditalienischem Dialekt, wobei er sich vertrauensselig über den Tisch beugte. „Mein Name ist Peppino, fachkundiger Berater in allen neapolitanischen Fragen. Was Sie auch suchen, Peppino findet es für Sie. Eine gute Herberge, nette Gesellschaft für die Nacht ...“ „Schlitzohr“, sagte Hasard auf englisch. „Du weißt genau, daß wir das nicht suchen.“
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„Entschuldigung, Signore.“ Peppino sah ihn an. „Ich verstehe Ihre Sprache nicht.“ „In Ordnung, Peppino.“ Hasard kramte seine italienischen Brocken zusammen, was ihm dank seiner perfekten Kenntnis der spanischen Sprache nicht schwerfiel. „Wir suchen einen alten Freund, der mit seinem Schiff möglicherweise diese schöne Stadt angelaufen hat. Sein Name ist Lord Henry. Jedenfalls nennt er sich so.“ Er fügte eine Beschreibung des Piratenkapitäns und der „Cruel Jane“ hinzu. „Mhm“, äußerte sich Peppino mit verschlagenem Grinsen. „Das alles hört sich an, als ob es ein wirklich guter Freund von Ihnen sein muß, Capitano.“ Der Seewolf schob ein weiteres VierReales-Stück über den Tisch. Peppino griff danach und verstaute es irgendwo in der unergründlichen Tiefe seiner zerschlissenen Kleidung. „Ich glaube, ich kann Ihnen weiterhelfen“, sagte er gedehnt. „Begeben Sie sich einmal in Richtung Pozzuoli. Dort, am westlichen Rand von Neapel, gibt es eine Kneipe mit dem Namen ,Lo Spirito Santo’. Der Mann, den Sie suchen, ist dort gesehen worden. Das habe ich aus zuverlässiger Quelle gehört.“ 5.
Der kleine Mann keuchte noch, so sehr hatte er sich beeilt. Don Gennaro beugte sich in seinem ledergepolsterten Armlehnenstuhl vor. Stirnrunzelnd fixierte er das hagere Kerlchen, das mit einem Schwall von Worten versicherte, daß die Angelegenheit höllisch eilig sei. „Nun mal langsam“, unterbrach Don Gennaro den Redefluß seines Gegenübers mit einer beschwichtigenden Handbewegung. „Fang von vorn an und erzähl nur, was wichtig ist.“ Der Piratenkönig von Neapel lehnte sich wieder zurück. Er liebte es, sich bisweilen so zu nennen, denn immerhin besaß er auch ein Schiffchen, das im Hafen von
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Neapel lag und ihm für Raubzüge zur See diente. Peppino atmete mehrmals heftig durch, was nicht ausschließlich daran lag, daß er zu schnell gelaufen war. Er mußte sich zwingen, seinen Blick von den Geldbeuteln loszureißen, die Don Gennaro auf dem Tisch aneinandergereiht hatte. Etliche Silbermünzen waren daneben aufgestapelt, und das edle Metall schimmerte im Licht der Öllampe. Peppino war sich der Ehre bewußt, die es bedeutete, daß Don Gennaro ihn in seinem Allerheiligsten empfangen hatte. Es handelte sich um ein besonders gesichertes Hinterzimmer im „Lo Spirito Santo“. Hier pflegte Gennaro Masaniello seine geschäftlichen Dinge zu erledigen, über die Einnahmen Buch zu führen und den Gewinn an die vielen Leute zu verteilen. Peppino wußte, daß der gehortete Reichtum keineswegs ausschließlich in Don Gennaros Taschen floß. Nein, in dieser Beziehung war der schnauzbärtige Piratenkönig eine absolut ehrliche Haut. „Es war bei Gino in der Trattoria“, berichtete Peppino und war bemüht, sich vor Aufregung nicht zu verhaspeln. „Da sind ein paar Fremde aufgetaucht, die nach einem gewissen Lord Henry fragten.“ „Haben sie beschrieben, wie dieser Lord Henry aussehen soll?“ fragte Don Gennaro mit hochgezogenen Brauen. Er wußte inzwischen, wie sich der Kapitän der „Cruel Jane“ nannte. „Ja“, erwiderte Peppino und nickte eifrig. Er schilderte die Einzelheiten des Gesprächs und fügte hinzu: „Giovanna und Angelina haben sofort erkannt, daß es sich um Engländer handelt. Sie haben gut bezahlt für die Auskunft.“ Er legte das Vier-Reales-Stück auf den Tisch und mußte erkennen, daß es jetzt, neben dem angehäuften Reichtum, viel unbedeutender aussah als zuvor in der Trattoria. Don Gennaro nahm die Silbermünze zwischen Daumen und Zeigefinger und betrachtete sie ausgiebig. Dann legte er sie beiseite, griff in die Schreibtischschublade und brachte eine andere Münze zum Vorschein, die er dem hageren kleinen
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Mann hinschob. Es handelte sich ebenfalls um ein Vier-Reales-Stück, stammte aber aus einer Prägung der spanischen Besatzungsmacht in Kampanien. „Nimm das dafür. Es ist der gleiche Wert.“ Wie fast alle aus Don Gennaros Fußvolk konnte Peppino weder lesen noch schreiben. „Stimmt etwas nicht mit dieser EngländerMünze, Don Gennaro?“ Peppino verstaute das neue Geldstück in seiner Hosentasche. „Doch, doch. Ich brauche es als Beweisstück, sozusagen.“ Don Gennaro beugte sich wieder vor. „Sag mir noch eins, Amico: Wie sehen diese Engländer aus?“ „Sehr gefährlich, Don Gennaro. Mit denen ist nicht zu spaßen, meine ich. Du brauchst mindestens zwanzig Leute, wenn du sie erleichtern willst. Jeder von denen sieht aus, als ob er einen Baum mit bloßen Händen ausreißen kann.“ Peppino ließ eine genaue Beschreibung der Seewölfe folgen. „In Ordnung“, sagte Don Gennaro und nickte. „Ich danke dir für den Dienst, den du mir erwiesen hast. Halte weiter in deinem Bezirk die Augen offen, und laß mich wissen, wenn du etwas Neues erfährst.“ „Gern, Don Gennaro, selbstverständlich gern.“ Peppino zog sich mit mehreren Verbeugungen aus dem Raum zurück. „Ludovico!“ brüllte der Schnauzbärtige, ohne sich von seinem Platz zu erheben. Sofort wurde die Tür wieder geöffnet, und der Guappo, der draußen auf dem Korridor Wache hielt, trat ein. Er war breitschultrig und untersetzt, mit einer plattgeschlagenen Nase. „Schicke vier Männer in den Keller!“ befahl Don Gennaro. „Sie sollen mir diesen Engländer bringen, diesen Lord Henry.“ „Sofort, Don Gennaro.“ Ludovico salutierte auf beinahe militärische Art und zog sich zurück. Nicht mehr als fünf Minuten vergingen, und vier Männer des Piratenkönigs, die sich noch vorn im Schankraum aufgehalten hatten, brachten den Kapitän der „Cruel
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Jane“ herein. Mit Stricken hatten sie ihm die Arme auf den Rücken gefesselt. „Ich protestiere gegen diese Behandlung“, sagte Lord Henry, nachdem sich die Bewacher auf einen Wink des Schnauzbärtigen zurückgezogen hatten. Würdevoll blieb er in der Nähe der Tür stehen. Don Gennaro grinste, faltete die Hände und stützte das Kinn darauf. „Protestiere, soviel du willst, Engländer. Du hast einen meiner Männer auf dem Gewissen. Muß ich dich dauernd daran erinnern?“ „Der Kerl wurde bei einem Fluchtversuch getötet. Bedauerlicherweise. Es war also Notwehr. Außerdem haben er und seine Komplicen vorher meine Männer überfallen und ausgeplündert. Unser Eigentum haben wir bis jetzt noch nicht wieder.“ „Na und? Haben meine Leute etwa einen von euch getötet?“ Don Gennaro winkte ab. „Aber lassen wir das jetzt. Ich habe dich rufen lassen, weil sich etwas anderes anbahnt. Ich brauche eine Auskunft von dir, Lord Henry. Da sind ein paar Engländer im Anmarsch, die sieh nach dir erkundigt haben. Setz dich.“ Der Schnauzbärtige deutete auf den Schemel vor seinem Tisch, „Engländer?“ wiederholte Lord Henry. Hellhörig geworden, folgte er der Aufforderung und setzte sich, wozu er sich anderenfalls vor Stolz niemals herabgelassen hätte. Mit knappen Worten wiederholte Don Gennaro den Bericht, den er soeben von Peppino erhalten hatte. Mit jedem Wort wuchs Lord Henrys Erstaunen. „Ich will von dir nur eins wissen“, schloß Don Gennaro. „Es scheint so, als ob diese Fremden dich kennen. Also müßte auch das Umgekehrte der Fall sein. Deshalb meine Frage: Lohnt es sich, sie auszunehmen?“ Lord Henry preßte die Lippen aufeinander. Er bemühte sich, dem Schnauzbärtigen nicht zuviel von seiner Überraschung zu zeigen. Himmel noch mal, nicht im Traum hätte er daran geglaubt, den
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gottverdammten Killigrew so schnell wiederzusehen! Und jetzt bot sich eine verteufelt gute Gelegenheit, sämtlichen Hurensöhnen von der „Isabella“ eins auszuwischen – so nachhaltig, daß sie sich davon nicht so schnell wieder erholen würden. Außerdem ergab sich plötzlich eine unverhoffte Möglichkeit, den neapolitanischen Halunken unter Don Gennaros Führung mit gleicher Münze heimzuzahlen, was sie sich ihm, Lord Henry, gegenüber geleistet hatten. Wenn diese Guappi sich für gerissen hielten, dann war er es schon lange! „Natürlich kenne ich diesen Schweinehund und seine Bastarde“, sagte Lord Henry daher. „Es handelt sich um Philip Hasard Killigrew und seine Meute. Eine üble Mannschaft, das sage ich dir, Don Gennaro. Ich bin ihnen mit der ,Cruel Jane’ vor Elba begegnet und nur mit knapper Mühe entronnen.“ „Engländer, die sich in spanische. Hoheitsgewässer wagen“, sagte Don Gennaro nachdenklich. „Da kann ich mir schon vorstellen, daß mit denen nicht zu spaßen ist.“ Lord Henry bemühte sich, seine freudige Erregung nicht zu zeigen. Denn diese Zwischenbemerkung des Piratenkönigs paßte mächtig gut in die Geschichte, die er sich eilends ausgedacht hatte. „So riskant ist es für sie nun auch wieder nicht“, spann er seinen Faden weiter. „Sie geben sich zwar als englische Korsaren aus, in Wirklichkeit sind sie aber Spione Philipps II. Und sie arbeiten in ganz Europa für ihn, vor allem auch in England, wo sie ja zu Hause sind. Warum sie hier im spanischen Besatzungsgebiet aufkreuzen, dürfte damit ja wohl klar sein.“ Don Gennaro zog haßerfüllt die Mundwinkel nach unten. „Spanische Spione?“ zischte er. „Das ist ein Grund mehr, die Kerle auszunehmen. Im übrigen haben sie selbst verraten, woher sie kommen und für wen sie arbeiten.“ Er hob die Silbermünze auf, die von Peppino stammte. „Hier! Ein VierReales-Stück, geprägt in der Münzanstalt
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von Santa Fé in Neugranada. Das ist wohl Beweis genug. Wer kann sich hierzulande schon eine Silbermünze aus der Neuen Welt verschaffen, wenn er nicht guten Kontakt mit den Philipps hat?“ Lord Henry nickte bedächtig, während er die Münze prüfend betrachtete. „Damit werden sie für ihre Dienste bezahlt worden sein.“ Er setzte eine betont grimmige Miene auf. „Du hast großes Interesse, dich an den Spionen zu rächen?“ „Das kann man wohl sagen.“ „Gut“, sagte Don Gennaro. „Dann schlage ich dir vor, daß wir zusammenarbeiten. Wir vergessen die kleine Meinungsverschiedenheit, die wir hatten. Wenn es uns gelingen soll, auch das Schiff dieser Verräter zu kapern, dann brauchen wir alle verfügbaren Kräfte.“ Lord Henry überlegte nicht lange. Besser konnten sich die Dinge nicht entwickeln. „Einverstanden“, sagte er nur. * Immer noch herrschte lärmender Betrieb in den Hafengassen von Neapel, als Philip Hasard Killigrew und seine Männer vor einer der Piers am westlichen Stadtrand verharrten. Von hier aus hatten sie einen weiten Blick über die Bucht, bis hin zur Reede von Pozzuoli. Dan O’Flynn, der immer noch die schärfsten Augen von allen hatte, erspähte das Schiff als erster. „Da!“ rief er. „Das ist sie. Gar keine Frage. Das ist die ,Cruel Jane`.“ Hasard und die anderen blickten in die Richtung, die Dans ausgestreckter Arm anzeigte. In der Tat gab es keinen Zweifel. Die Umrisse des Piratenschiffes hatten sie alle noch in bester Erinnerung. „Und nun?“ sagte Edwin Carberry. „Jetzt dürfte wohl klar sein, daß dieser Lord Henry und seine Affenärsche uns hier auflauern wollen.“ „Glaube ich nicht“, widersprach Ferris Tucker. „Das würde ja bedeuten, daß es sich um einen verrückten Zufall handelt. Ich meine, dieser Peppino ist uns in einem
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anderen Teil der Stadt über den Weg gelaufen.“ „Na und?“ wandte Dan O’Flynn ein. „Vielleicht sind wir von Anfang an beobachtet worden. Ein Schiff wie die ‚Isabella’ ist ja nicht gerade unauffällig.“ „Kann nur Zufall sein mit Peppino“, sagte Batuti überzeugt. „Ferris hat recht.“ „Unsinn!“ knurrte Ed Carberry. „Dieser kleine Stint kann uns von Anfang an gefolgt sein, als wir an Land gegangen sind. Und dann hat er nur auf eine günstige Gelegenheit gewartet. In dieser Kneipe hat er dann die beiden Meerjungfern losgeschickt. Ja, und den Rest kennen wir ja.“ „Wie auch immer“, sagte Hasard, der nachdenklich zugehört hatte, „irgend etwas stimmt an dieser Sache nicht. Ob nun Absicht oder Zufall, da könnte sich etwas zusammenbrauen, was uns ganz und gar nicht gefällt.“ „Trotzdem sollten wir diesen Kakerlaken von der ,Cruel Jane’ die Haut in Streifen von ihren Affenärschen ziehen“, sagte Ed Carberry grimmig. „Wollen wir jetzt etwa den Schwanz einziehen und kneifen?“ „Da kennst du uns aber schlecht, Ed“, entgegnete der Seewolf lächelnd. „Wir werden nur unsere Taktik ändern. Wir stoßen nicht direkt in die Höhle des Löwen vor, sondern belauern die Brüder erst mal eine Weile, bis wir wissen, was dieser Peppino wirklich im Schilde führte.“ Keiner der Männer hatte etwas gegen diese Absicht einzuwenden. Ohne Zeit zu verlieren, setzten sie ihren Weg fort, umrundeten das ausgedehnte Gelände einer Werft und erreichten die Piers von Pozzuoli, wo es zu dieser späten Stunde still geworden war. Nur aus den stadteinwärts gelegenen Schenken dräng noch immer der Lärm der Zecher und ihres weiblichen Zeitvertreibs herüber. Philip Hasard Killigrew und seine Männer bezogen hinter einem mehr als mannshohen Stapel von Fässern Stellung. An der Mole lagen Schaluppen Und kleinere Einmaster, die von hier aus für Küstenfahrten und für die Versorgung der
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Neapel vorgelagerten Inseln eingesetzt wurden. Nur etwa fünf Kabellängen entfernt konnten sie die „Cruel Jane“ auf der Reede deutlich erkennen. Schwarz und scharflinig wie ein Scherenschnitt zeichnete sich die Silhouette des Dreimasters vor dem sternenklaren Nachthimmel ab. Nichts rührte sich dort, und auch auf den übrigen vor Anker liegenden Schiffen war es still geworden. Nur vereinzelt waren die Stimmen der Bordwachen zu hören, wenn sie sich von Schiff zu Schiff unterhielten. „Achtung!“ rief Dan O’Flynn unvermittelt. Er kauerte am Rand des Fässerstapels und spähte über die flachen Aufbauten der Schaluppen. „Da tut sich was bei unseren Freunden!“ Sofort richteten sich Hasard und die anderen auf, bewegten sich aber sowenig wie möglich, denn vor dem helleren Hintergrund des Lichtermeers von Neapel waren sie leichter zu entdecken als jene, die jetzt die Galeone Lord Henrys verließen. In der Tat hatte sich das Warten gelohnt. Ein Beiboot löste sich von der „Cruel Jane“, deutlich zu erkennen am Eintauchen der Riemenblätter, die silbrige Reflexe auf der Wasseroberfläche verursachten. Acht Männer saßen auf den Duchten, und sie pullten zügig herüber. Sehr bald hat ten sie die Mole erreicht und vertäuten ihr Boot nahe einer Steintreppe zwischen dem Achtersteven einer Schaluppe und dem Bug eines wacklig aussehenden Barchino, eines der typischen kleinen neapolitanischen Hafenboote. Hasard und seine Männer verharrten atemlos, als die Piraten aus Lord Henrys Crew im Schein der Fackeln an der Mole auftauchten. Sie waren nur einen Steinwurf weit entfernt, und so konnte der Seewolf mühelos erkennen, daß keine bekannten Gesichter unter ihnen waren. Ausnahmslos um Decksleute handelte es sich. Von Lord Henry selbst, von Tim Scoby und Dark Joe keine Spur. Befanden sie sich noch auf der „Cruel Jane“? Zielstrebig steuerten die Piraten auf die nahe gelegenen Schenken zu. Dort
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verteilten sie sich und horchten offenbar herum. Die Seewölfe verharrten noch in ihrem Versteck, nahe genug, um beobachten zu können, was sich abspielte. Etwa fünf Minuten vergingen, bis einer der Männer aus einer Trattoria wieder auftauchte und die anderen mit Gebrüll zusammentrommelte. Nur für einen Moment steckten sie vor dem Eingang der Trattoria die Köpfe zusammen. Dann marschierten sie los, stadteinwärts, in Richtung Neapel. „Vorwärts!“ sagte der Seewolf halblaut und übernahm die Führung. Auf leisen Sohlen folgten sie dem Kommando von der „Cruel Jane“ und achteten dabei auf sicheren Abstand. Jede Deckung, die sich ihnen bot, nutzten sie geschickt aus. Zeitweise war es nur der Seewolf allein, der den Piraten folgte, während Ed Carberry und die anderen in einem Hauseingang oder einem Torweg warteten, daß er ihnen ein Zeichen gab und sie ihren Weg fortsetzen konnten. Es schien eindeutig, daß die Kerle ebenfalls einen Hinweis erhalten hatten, wohin sie sich zu begeben hatten. Jedenfalls zögerten sie keinen Augenblick. Die Marschroute mußte ihnen also genauestens beschrieben worden sein. Offenkundig schienen sie nicht im mindesten damit zu rechnen, daß sie verfolgt wurden. Nicht ein einziges Mal wandten sie sich sichernd um. Deutliche Eile trieb sie voran. So bereitete es den Männern unter Philip Hasard Killigrews Führung keine besondere Mühe, während der Verfolgung unbemerkt zu bleiben. Der Weg führte durch ein Gewirr von engen Gassen, vorbei an Gestalten, die im Dunkeln lungerten, und vorbei an den offenen Türen der Schenken, aus denen Gesang und Lautenklänge zu hören waren. Niemand schenkte den Männern von der „Isabella“ besondere Beachtung. Seeleute von allen Küsten der Weltmeere waren in Neapel ein gewohnter Anblick. Vor einem Gebäude, dessen Fassade heruntergekommen aussah, endete der
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Weg der Piraten. Nur einen Moment verharrten sie beim Eingang. Dort war der Schriftzug „Lo Spirito Santo“ zu lesen. Hasard konnte es von der nächsten Gassenecke aus deutlich sehen. Er winkte Ed Carberry und die anderen heran. Im selben Moment hatten die Männer von der „Cruel Jane“ ihren Entschluß gefaßt und verschwanden in der Tür der Schenke, die nach dem Heiligen Geist benannt war. „Und was jetzt?“ fragte Ed Carberry leise. „Klopfen wir den Kanalratten auf die Rübe?“ „Nicht so voreilig, Ed“, flüsterte der Seewolf zurück. „Wir unternehmen nichts, bevor wir nicht wissen, was gespielt wird.“ „Da bin ich mal gespannt, wie wir das rauskriegen wollen.“ Hasard lächelte nur. Mit einer knappen Handbewegung bedeutete er den Männern, ihm zu folgen. Im Schlagschatten der Hauswände pirschten sie geräuschlos auf die Schenke zu. Nur gedämpftes Gemurmel war zu hören. Die Zeit des Hochbetriebs schien bereits vorüber zu sein. Beim Nachbarhaus gab es -einen Torweg, der an der Seitenwand des „Spirito Santo“ entlangführte. Rasch und ohne den geringsten Laut zu verursachen, tauchten die Seewölfe dort in der Dunkelheit unter. Wie sich herausstellte, gehörte der Hinterhof offenbar zum Lager eines Schiffsausrüsters. Der Geruch von Pech und Wachs lag in der Luft. Der rückwärtige Teil des Schenkengrundstücks war nur durch einen windschiefen Bretterzaun abgetrennt, etwa brusthoch. Die Seewölfe zögerten nicht lange. Behände schwangen sie sich hinüber, nachdem ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Nirgendwo rührte sich eine Menschenseele. Auf dem Hinterhof der Schenke lagerten leere Weinfässer und große Flechtkörbe mit leeren Flaschen und Krügen. Hinter einem der Fässerstapel gingen Hasard und seine Männer zunächst in Deckung. Atemlos verharrten sie. Auch jetzt war noch undeutliches Gemurmel zu hören. Aus dem vorderen
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Schankraum konnte es nicht stammen, denn dieser war zu weit entfernt und durch Zwischenwände abgeschirmt. Vorsichtig pirschte sich Hasard um den Fässerstapel herum, wobei er behutsam einen Fuß vor den anderen setzte. Hindernisse wie herumliegendes Gerümpel ertastete er rechtzeitig, um kein verräterisches Geräusch zu verursachen. Den Männern bedeutete er mit einem Zisch-laut, in ihrem Versteck zu warten. Am jenseitigen Ende der Hausrückwand war matter Lichtschein zu erkennen. Langsam, Schritt um Schritt, schob sich Hasard darauf zu, bis er sah, daß es sich um ein Kellerfenster in Erdbodenhöhe handelte. Er ging zu Boden und glitt lautlos weiter, bis er das Fenster mit dem Kopf erreichte. Eine der beiden erblindeten Scheiben war zur Hälfte zerbrochen: Außer dem dunklen Holz eines Weinfasses konnte Hasard nichts erkennen. Dafür waren aber die Stimmen jetzt deutlich zu verstehen. „... dachten wir schon, wir müßten den ganzen Laden in Stücke schlagen“, sagte jemand. „Noch vor einer Stunde hätten wir uns darüber gefreut“, entgegnete ein anderer, dessen Stimme der Seewolf auf Anhieb erkannte. Lord Henry! Hasard horchte atemlos. „Aber inzwischen hat sich die Lage grundlegend geändert“, fuhr der Kapitän der Piraten fort. „Don Gennaro und ich haben uns geeinigt, weil wir gemeinsam eine große Sache vorhaben. Dazu brauchen wir so viele Männer, wie wir nur auftreiben können. Es ist also gut, daß ihr hier seid.“ „Eine große Sache?“ echote der, der vorher gesprochen hatte. „Killigrew ist in Neapel eingetroffen“, sagte eine andere Stimme. Tim Scoby. Auch ihn erkannte Hasard zweifelsfrei. „Ist das wirklich wahr?“ entgegnete der Wortführer derer, die von der „Cruel Jane“ an Land gegangen waren. „Sollten wir tatsächlich so viel Glück haben, daß wir es
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dem Schweinehund endlich heimzahlen können?“ „Allerdings. Don Gennaro hat eine absolut zuverlässige Information erhalten.“ Lord Henry sprach auf italienisch weiter. „Habe ich recht, Don Gennaro? Sei mal so freundlich und bestätige es meinen Männern.“ „Si, selbstverständlich“, erklärte ein Mann mit dunkler Stimme, den sich Hasard als untersetzt und massig vorstellte. „Meine Informanten und Mitarbeiter sitzen überall in Neapel. Einer von ihnen hat mir gemeldet, daß dieser Engländer aufgetaucht sei, der überall nach eurem Lord Henry herumfragt. Von eurem Capitano, Freunde, weiß ich auch, daß es sich bei Killigrew um einen Spion der spanischen Krone handelt. Wir werden also nicht nur die Schätze aus seinem Schiff erbeuten, sondern auch den Philipps einen empfindlichen Schlag versetzen.“ Lord Henry übersetzte für seine Männer, was der Neapolitaner gesagt hatte. Hasard zog den folgerichtigen Schluß, daß dieser Don Gennaro wahrscheinlich eine Bande von neapolitanischen Halunken befehligte. Anders ergab es keinen Sinn, daß er eine gemeinsame Aktion mit Lord Henry plante. „Wir müssen uns allerdings etwas einfallen lassen, Männer“, fuhr der Kapitän der Piraten auf englisch fort. „Natürlich haben wir von Don Gennaro jede Unterstützung. Aber ihr wißt auch, daß wir Killigrew und seine Bastarde nicht so mir nichts, dir nichts überrumpeln können.“ „Denen werden wir eine hübsche Überraschung servieren!“ rief ein anderer. Dark Joe. Auch seine Stimme war leicht zu erkennen. „Und bevor sie sich von der Überraschung erholt haben, hauen wir sie zu Brei.“ Beifälliges Gejohle ertönte. Hasard zog sich geräuschlos zurück. Er hatte genug gehört. Vor allem mußten sie jetzt schneller sein als die Kerle von der „Cruel Jane“ und ihre neapolitanischen Verbündeten. Eilends verließen die Seewölfe die unmittelbare Nachbarschaft der Schenke
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„Lo Spirito Santo“. In einer Seitengasse verharrten sie einen Moment, und Hasard klärte seine Männer über das auf, was er gehört hatte. Dan O’Flynn erhielt den Auftrag, Ben Brighton und die restliche Crew an Bord der „Isabella“ zu benachrichtigen. Während Dan O’Flynn loshastete, verloren auch Philip Hasard Killigrew, Ed Carberry, Ferris Tucker und Batuti keine Zeit mehr. Ohne große Mühe fanden sie den Weg zurück zu den Piers von Pozzuoli. Sie hatten sich die einzelnen Gassen gut genug eingeprägt. 6.
Eine laue Brise aus Nordost wehte über den nächtlichen Hafen von Neapel. Aus dem Mastenwald der Schiffe an den Piers und auf der Reede war ein stetes Knarren und Ächzen zu hören wie ein unablässiger monotoner Singsang, der die Nachtruhe begleitete. Die Bordlaternen der Schiffe waren wie kleine glühende Punkte in der Dunkelheit, und auf der mäßig bewegten Wasseroberfläche brachen sich die Lichtreflexe mit mattem Glanz. . An einer der Piers, die wie Finger in die Bucht hinausragten, lagen zwei Schaluppen sowie an die hundert andere Schiffe gleicher Bauart und daher unauffällig. Längsseits an der vorderen Schaluppe dümpelte ein Barchino, ein wackliges altes Boot von der Sorte, die im Hafen von Neapel für schnelle Zubringerdienste eingesetzt wurde. Am Steuerbordschanzkleid der Schaluppe standen Lord Henry, Tim Scoby und acht weitere Männer. Auch die zweite Schaluppe war mit zehn Mann besetzt, deren Anführer Dark Joe war. Außer den drei Engländern handelte es sich ausnahmslos um Neapolitaner, die auf Don Gennaros Lohnliste standen. „Meine Leute würden besser mit diesen Nußschalen fertig werden“, sagte Lord Henry mißmutig, obwohl er im Grunde mit der Entwicklung zufrieden war. Gennaro hatte darauf bestanden, daß die übrigen Männer von der „Cruel Jane“ als
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Gefangene im Kellergewölbe des „Spirito Santo“ zurückblieben, als Faustpfand gewissermaßen. Nur jene acht, die zuletzt aufgekreuzt waren, hatten die Erlaubnis erhalten, auf die Piratengaleone zurückzukehren. Aus gutem Grund. „Du wirst sehen“, entgegnete Don Gennaro grinsend, „meine Männer sind auch perfekte Seeleute. Im übrigen kannst du wohl verstehen, daß ich mich absichern muß. Würdest du an meiner Stelle anders handeln?“ „Kaum. Dir Schlitzohr würde ich nicht trauen.“ Don Gennaro brach in dröhnendes Gelächter aus. Auch Lord Henry und Tim Scoby konnten sich eines Lachens nicht erwehren. Aus einem anderen Grund allerdings. Wie ihr neapolitanischer Verbündeter so dastand, bot er schon ein Bild, das zur Heiterkeit reizte. Gennaro Masaniello hatte sich eine Verkleidung zugelegt, die ihn eher zur Witzfigur stempelte als an den stolzen Piratenkönig von Neapel erinnerte. Er trug unförmige Pluderhosen, ein schlechtsitzendes Lederwams und eine graue Zipfelmütze - wie die meisten der Händler, die in der Stadt unter dem Vesuv zu jeder Tages- und Nachtzeit ihre Waren anpriesen. Auch Waren jener Art, die bei Nacht besonders gefragt waren -lebende Waren, wohlgefällig geformt. Neben Gennaro, auf der Achterducht des Barchino, hockte ein altes Weib, das in Lumpen gehüllt war und ein schwarzes Kopftuch trug. Lord Henry und Tim Scoby wußten, daß die vermeintliche Vettel in Wirklichkeit Ludovico war, einer von Don Gennaros Guappi. Vor ihnen auf den Bodenplanken des Bootes kauerten Angelina und Giovanna, die beiden Hafenhuren, die ebenfalls für Don Gennaros Geheimbund arbeiteten. Der Raum vor dem kleinen Mast des Barchino war mit gewachstem Segeltuch abgedeckt. Nur ein Außenstehender vermutete dort indessen die Waren des vermeintlichen Händlers, die vor Spritzwasser geschützt werden mußten.
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Was sich unter dem Segeltuch verbarg, waren sechs schwerbewaffnete Guappi, die nur auf ihr Zeichen zum Einsatz warteten. „Gibt es noch irgendwelche Unklarheiten?“ fragte Don Gennaro, der innerlich vor Tatendrang vibrierte. Vergeblich versuchte er, sein Wams glattzuzupfen. Was bevorstand, war der größte Handstreich, den er jemals geplant hatte. Wenn alles gut ging, dann stieg die Macht seines Geheimbundes ins Unvorstellbare. Was der Schatz der Medici war, das wußte er nur zu gut. Auch wenn es sich nur um einen Teil davon handelte, würde die Beute doch ausreichen, um die Guappi besser auszurüsten als je zuvor, um bessere Waffen anzuschaffen und die Adligen und die gesamte Obrigkeit -einschließlich der spanischen Besatzer - das Fürchten zu lehren. „Wir warten nur darauf, daß ihr euren Teil der Arbeit ordentlich erledigt“, entgegnete Lord Henry mit verschlagenem Lächeln. „Ich sage es noch mal ausdrücklich, Gennaro: Die Bastarde an Bord der ,Isabella` sind ganz ausgekochte Halunken. Wenn ihr nicht aufpaßt, drehen sie euch den Hals um, bevor ihr überhaupt begreift, was mit euch geschieht.“ „Vielleicht solltest du uns als Amme begleiten”, sagte der Schnauzbärtige. „Glaubst du, wir sind von gestern?“ „Das habe ich nicht gesagt. Aber wir kennen diesen Killigrew und seine Meute. Wir wissen, zu was diese Schweinehunde fähig sind. Deshalb warne ich dich beizeiten.“ „Ich habe es zur Kenntnis genommen“, sagte Don Gennaro. „Seht ihr nur zu, daß ihr euren Teil ordentlich erledigt. Ich hoffe, ihr kriegt es rechtzeitig genug mit, wenn wir an Bord sind.“ „Keine Sorge.“ Lord Henry klopfte auf das Spektiv, das an seinem Hüftgurt hing. „Wir haben die ‚Isabella’ von hier aus genau im Blickfeld. Wenn es soweit ist, legen wir sofort ab. Und dann gnade ihnen Gott, diesen Bastarden! Falls ihr es überhaupt schafft, an Bord zu gelangen.“
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„Du kennst uns noch nicht“, erwiderte Don Gennaro kopfschüttelnd. „Dir werden die Augen übergehen, Engländer, wenn du miterlebst, wie wir mit deinen ach so gefürchteten Erzfeinden umgehen.“ „Hochmut kommt vor dem Fall“, knurrte Lord Henry. „Blase dich nur nicht vorzeitig auf, Gennaro.“ Der schnauzbärtige Neapolitaner lachte wegwerfend. Er gab seinen Landsleuten an Bord der Schaluppe ein Handzeichen, und sie lösten die Leine, mit der der Barchino längsseits vertäut war. Don Gennaro setzte eigenhändig das kleine Lateinersegel, ließ sich auf der Achterducht nieder und ergriff die Ruderpinne. Die Männer stießen das Boot von der Schaluppe ab, und während sich das Tuch füllte, gewann es langsam an Fahrt. * Schon nach kurzer Wartezeit ging die Rechnung des Seewolfs auf. Kaum zehn Minuten waren vergangen, seit sie ihr ursprüngliches Versteck bezogen hatten – nur einen Steinwurf weit von der Stelle entfernt, an der die Kerle von der „Cruel Jane“ ihr Beiboot vertäut hatten. Die Schritte der herannahenden Männer hallten vernehmlich aus den nahen Gassen herüber. „Die haben es eilig“, flüsterte Ferris Tucker, der neben dem Profos und Batuti hinter den aufgestapelten Fässern an der Mole ausharrte. „Klar doch“, sagte Edwin Carberry leise. „Die können es gar nicht abwarten, daß wir ihnen die Jacke voll hauen und ihnen die Haut in Streifen von ihren ...“ „Mister Carberry!“ zischte der Seewolf. „Wann, um Himmels willen, läßt du dir endlich was anderes einfallen? Wenn man dich so jahrelang hört, müßte schon die halbe Weltbevölkerung mit streifenweise gehäuteten Sitzflächen herumlaufen.“ „Aye, aye, Sir“, brummte der Profos, „werde drüber nachdenken, Sir.“ „Vielleicht zur Abwechslung anderes Körperteil nehmen?“ schlug Batuti vor. „Nicht immer nur Affenärsche.“
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„Ruhe jetzt!“ warnte Hasard, der um die vordere Seite des Fässerstapels herumspähte. Aus einer der Gassen, die auf das Kaigelände mündeten, tauchten sie jetzt auf. In fast geordneter Marschformation, die ihre Entschlossenheit unbeabsichtigt unterstrich, näherten sie sich den Ausläufern des flackernden Lichts, das die Stangenfackeln an der Mole hervorriefen. Acht Männer waren es, wie zuvor. Philip Hasard Killigrew hatte sich nicht getäuscht. Seine Schlußfolgerungen aus dem, was er auf dem Hinterhof der Schenke „Lo Spirito Santo“ gehört hatte, bewahrheiteten sich. Es war nicht schwierig gewesen, sich auszurechnen, auf welche Art und Weise Lord Henry und seine einheimischen Verbündeten vorgehen würden. Der Seewolf hob die rechte Hand zum Zeichen für seine Männer. Die Kerle von der „Cruel Jane“ waren jetzt nur noch zwanzig Schritte von der Mole entfernt, wo ihr Beiboot zwischen einer Schaluppe und einem Barchino vertäut war. Hasard wartete nur noch sekundenlang. Dann, als Lord Henrys eilige Abordnung den Lichtkreis einer der Stangenfackeln erreicht hatte, gab er ein knappes Kommando und schnellte als erster los. Edwin Carberry, Ferris Tucker und Batuti folgten ihm dichtauf. Mit langen Sätzen stürmten sie auf die Piraten zu und schwärmten schon nach den ersten Schritten aus, um sie in die Zange zu nehmen. Das Überraschungsmoment war auf ihrer Seite. Erschrocken prallten die Lord-HenryMänner zurück, schon im Begriff, sich der Steintreppe zuzuwenden, die zum Wasser hinunterführte. Sie schafften es nicht mehr, ihre Waffen herauszureißen. Auf ihre .bloßen Fäuste angewiesen, versuchten sie verzweifelt, sich noch rechtzeitig genug zur Gegenwehr zu formieren. Der Seewolf nahm einen breitschultrigen Kerl aufs Korn, in dessen Gesicht eine rote Messernarbe leuchtete. Vergeblich
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versuchte dieser, eine rasche Abwehr aufzubauen. Mit einem einzigen schmetternden Hieb fegte Hasard seine zur Deckung hochgerissenen Arme beiseite. Der Narbige geriet ins Wanken und begann, mit kleinen schnellen Schritten ungewollt zurückzuweichen. Sofort setzte der Seewolf nach. Ein anderer, hochgewachsen und mit mächtigem schwarzen Vollbart, stürmte von rechts auf ihn los und versuchte, seinen Angriff aus dem Konzept zu bringen. Aus den Augenwinkeln heraus sah Hasard, daß auch Ed Carberry, Ferris Tucker und Batuti mittlerweile voll beschäftigt waren. Vielstimmiges Keuchen war zu hören, begleitet von unterdrückten Schmerzenslauten. Der schwarze Herkules aus Gambia ließ seine Fäuste wirbeln, und im Kampfgetümmel war immer wieder das leuchtende Weiß seiner Zähne zu sehen. Ferris Tucker überragte alle der zahlenmäßig doppelt starken Gegner um eine halbe Haupteslänge, und hinter jedem seiner Fausthiebe saß so viel Wucht, daß er wenig Mühe hatte, die Gegenwehrversuche abzuwehren. „Ho, ho, ihr lausigen Kakerlaken!“ brüllte Ed Carberry mit freudigem Ingrimm und schickte zwei Gegner nacheinander auf die Reise, indem er sie mit der Brisanz seiner riesigen Fäuste buchstäblich von den Füßen hob. „Das gefällt euch, was, wie? Endlich mal die Sprache, die ihr richtig versteht!“ Hasard hatte den Bärtigen mit einem blitzschnellen Seitenhieb außer Reichweite gefegt und widmete sich nun wieder dem Narbigen, der sich zu einem Gegenangriff zu sammeln versuchte. Beinahe ruhig ließ der Seewolf ihn heran. Doch nur zum Schein. Haargenau in dem Moment, in dem der Narbengesichtige seine Fäuste auf ihn abfeuerte, wich er geschickt aus und antwortete ohne erkennbaren Ansatz mit zwei brettharten Hieben, die dem anderen die Luft raubten. Haltsuchend ruderte er mit den Armen, konnte aber nicht
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verhindern, daß er das Gleichgewicht verlor und der Länge nach hinschlug. Wieder war der Bärtige zur Stelle. Mit hartem Griff packte er den Seewolf an der Schulter und versuchte, ihn herumzureißen. Es gelang ihm nur halbwegs. Hasard tauchte reaktionsschnell unter seiner Faust weg und konterte mit einem blitzartigen Gegenangriff. Der Bärtige begriff es zu spät und schaffte es nicht mehr, die Fäuste des verhaßten Engländers abzuwehren. Mit drei, vier Hieben hintereinander drang Hasard durch und fällte den Bärtigen wie einen Baum. Auch Batuti, Ferris und Ed waren noch beschäftigt, doch sie hatten sich bereits beträchtliche Luft verschafft. Noch einmal versuchte der Narbige, bei Hasard Land zu gewinnen. Es gelang ihm, sich aufzurappeln. Doch seine Bewegungen waren unsicher. Fast schwankend ging er auf den Seewolf los. Hasard holte ihn mit einem einzigen letzten Hieb von den Füßen. Er wandte sich um. Den anderen brauchte er nicht mehr zu Hilfe zu kommen. Achselzuckend blickten sie nach allen Seiten. Aufrecht stehende Gegner waren nicht mehr zu sehen. Alle acht Kerle von der „Cruel Jane“ lagen flach, die meisten von ihnen bewußtlos. „Beeilen wir uns“, sagte der Seewolf, „bevor sie drüben auf der ,Cruel Jane’ Lunte riechen.“ Es gab genügend herumliegende Taurollen. Im Handumdrehen fesselten Hasard und seine Männer die Piraten und knebelten sie mit ihren eigenen Halstüchern. Dann schleiften sie die Kerle hinter den Fässerstapel, wo sie sich zuvor selbst verborgen gehalten hatten. Einige der überrumpelten waren mittlerweile wieder bei Bewußtsein und gaben gurgelnde Laute von sich. „Einen Augenblick noch!“ rief der Seewolf seinen Männern halblaut zu. Sie zogen sich ebenfalls in den Schutz der aufgereihten Fässer zurück.
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Der Bärtige gehörte zu jenen, die wieder wach geworden waren. Hasard ging vor ihm in die Hocke. „Wenn du schreist“, sagte er leise und drohend, „kann es dir passieren, daß es der letzte Laut war, den du von dir gegeben hast. Ist das klar?“ Der Bärtige, der neben seinen Kumpanen halb aufgerichtet mit dem Rücken an einem der Fässer lehnte, nickte. Hasard nahm ihm den Knebel aus dem Mund und zeigte ihm gleichzeitig die Faust, bereit, blitzschnell zuzuschlagen. Aber der Mann blieb still. Er schien genug eingesteckt zu haben. „Gut so“, sagte der Seewolf und ließ die Faust sinken. „Zur Sache jetzt: Mit welcher Order hat euer ehrenwerter Lord Henry euch zurückgeschickt?“ „Sie werden dir ganz kräftig den Marsch blasen, Killigrew“, entgegnete der Bärtige haßerfüllt. „Da spielt es keine große Rolle mehr, ob wir unsere Order ausführen können oder nicht. Wahrscheinlich sind die anderen jetzt schon dabei, euren lausigen Kahn zu entern.“ Hasard packte ihn am Kragen und zog ihn zu sich heran. „Wie lautete der Auftrag?“ wiederholte er. „Heraus damit!“ „Als ob das noch was nützt, Killigrew. Du bist so oder so kaputt. Daran kannst du gar nichts mehr ändern.“ „Ihr solltet mit eurer ,Cruel Jane’ ankerauf gehen und zu unserem Schiff hinübermanövrieren. Richtig?“ „Du kannst mich mal.“ Hasard verstärkte seinen Griff. Sein Gegenüber geriet in Atemnot. „Ich glaube“, meldete sich Ed Carberry grollend zu Wort, „ich muß dieser tauben Nuß ein bißchen auf die Schale klopfen, was, wie? Ich will ihm ja nicht gleich die Haut in Streifen von seinem Affenarsch ziehen.“ „In diesem Fall würde ich es sogar genehmigen“, sagte der Seewolf mit frostigem Lächeln. Er sah, wie die Augen seines Gegenübers zu flackern begannen. „Also, aufgrund deiner netten Worte,
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Freundchen, gehe ich davon aus, daß ich mit meiner Annahme richtig liege,“ „Fahr zur Hölle, Mann! Ich sage ab sofort keinen Ton mehr.“ Ed Carberry trat einen Schritt näher heran und beugte sich mit einem scheinbar freundlichen Lächeln hinunter. „Bist du da ganz sicher, du gelbgestreifte Kanalratte? Was glaubst du, welche Töne ich noch aus dir herauskitzele, wenn es sein muß. Dann übertriffst du jeden von diesen neapolitanischen Stinten, die so schöne Lieder schmettern können.“ Der Bärtige preßte trotzig die Lippen aufeinander zum Zeichen dafür, daß er sein Versprechen einhalten würde. „Eines müssen wir noch von dir wissen“, sagte Hasard kalt. „Ob es dir nun paßt oder nicht. Wie viele Männer sind noch an Bord eures Schiffes?“ Der Bärtige knirschte mit den Zähnen. Ein Zeichen dafür, wie sehr er sich anstrengte, den Mund zu halten. Mit der freien Hand versetzte Hasard dem Gefesselten eine schallende Ohrfeige. Rücksicht konnte er nicht mehr nehmen. Im Interesse der Kameraden auf der „Isabella“ galt es, keine Zeit zu verlieren. Der Bärtige stieß einen leisen Schmerzensschrei aus, als sein Kopf zur Seite gerissen wurde. „Unser Profos kennt noch etwas bessere Behandlungsmethoden, um einen verstockten Burschen zum Reden zu bringen“, versicherte der Seewolf. „Willst du es darauf anlegen? Also, wie viele Männer sind noch an Bord?“ Edwin Carberry ging neben Hasard in die Knie, und das zerklüftete Narbengesicht des Profos’ hatte die freundliche Aufmerksamkeit eines ausgehungerten Löwen. „Nur – noch die Deckswache“, quetschte der Bärtige widerstrebend hervor. „Na also“, sagte Hasard lächelnd und stopfte ihm den Knebel wieder zwischen die Zähne. „Das hättest du auch einfacher haben können.“ Ed Carberry und der Seewolf richteten sich auf. Batuti und Ferris Tucker hatten mittlerweile die Waffen der Gefesselten
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eingesammelt und in ein leeres Faß geworfen. „Vorwärts jetzt!“ entschied der Seewolf. „Viel Zeit haben wir nicht mehr.“ Ferris und Batuti nahmen das Faß mit, als sie zur Mole gingen. Am Fuß der Steintreppe leerten sie den Inhalt ins Wasser, das gegen die moosbewachsenen Quadersteine schwappte. Das Faß ließen sie kurzerhand auf der untersten Treppenstufe stehen und folgten dann dem Seewolf und dem Profos ins Boot. Sie besetzten die mittleren Duchten jeweils zu zweit. Batuti löste das Tau und stieß das Boot ab. Dann, als sie freies Wasser erreichten, begannen sie mit kraftvollen Schlägen zu pullen. Unter dem Sternenhimmel zeichnete sich die Silhouette der „Cruel Jane“ draußen auf der Reede deutlich ab. Etwa vier Kabellängen hatten der Seewolf und seine Männer zurückzulegen. Als sie auf eine Kabellänge heran waren, verringerten sie die Schlagzahl. Hasard wandte in kurzen Abständen den Kopf, um im Schein der Deckslaterne eine mögliche Reaktion auf ihr Erscheinen zu erspähen. Aber vorerst waren nur die Schatten der beiden Deckswachen zu erkennen, die offenbar schläfrig und gelassen am Steuerbordschanzkleid lehnten. Von dem Geschehen an der Mole hatten sie entweder nichts mitgekriegt, oder sie waren über die Bedeutung im unklaren geblieben. Allmählich mußten sie sich aber Gedanken darüber bereiten, warum nur vier statt acht Männer in dem Beiboot saßen. Während sie weiterpullten, zog Hasard seinen Radschloßdrehling aus dem Gurt und klemmte die schwere Waffe griffbereit zwischen die Knie. Die anderen taten es ihm nach. Immerhin waren sie aber durch die Dunkelheit sehr gut geschützt, und der Schein der Bordlaterne reichte nicht über das Schanzkleid hinaus. Trotz der verringerten Schlagzahl immer noch zügig, glitt das Beiboot auf die hinuntergelassene Jakobsleiter der „Cruel Jane“ zu. Der Seewolf und seine Männer nahmen die Riemen ein.
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„Wer da?“ ertönte eine barsche Stimme von der Kuhl der Piratengaleone. „Lord Henry hat uns zurückgeschickt“, antwortete Ferris Tucker. „Wir haben neue Order. Drüben im Hafen von Neapel fangen sie gerade an, diesen Killigrew und seine Bastarde fertigzumachen.“ „Killigrew?“ fragte eine der Deckswachen. „Ist dieser Schweinehund also tatsächlich in Neapel!“ „Eine bessere Gelegenheit konnten wir wohl nicht erwischen“, entgegnete Ferris Tucker mit gut gespieltem Frohlocken in der Stimme. Sie erreichten die Jakobsleiter, und die Neuigkeit hatte offenkundig ausgereicht, die beiden Deckswachen für den Moment abzulenken. Ausschlaggebend war natürlich, daß sie in der Dunkelheit nicht genau erkennen konnten, wer in dem Beiboot saß. Der angeregte Wortwechsel, den sie jetzt halblaut begannen, bewies eindeutig, in welche blendende Laune sie die Nachricht von der bevorstehenden Niederlage Killigrews versetzte. Mit einem federnden Sprung schwang sich Hasard als erster auf die Jakobsleiter hinüber. Den Radschloßdrehling hielt er dabei so dicht am Körper, daß er von oben nicht sofort gesehen werden konnte. Während der Seewolf zügig emporklomm, folgten ihm Ed Carberry und Ferris Tucker. Batuti übernahm es, das Boot zu vertäuen. Hasard erreichte die Pforte im Schanzkleid. Die Deckswachen wandten sich ihm zu. „Na, dann wollen wir mal sehen“, sagte der eine, „daß wir so schnell wie möglich ...“ Die Worte blieben ihm im Hals stecken. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er den Seewolf an, und auch seinem Nebenmann klappte der Unterkiefer weg, als er Lord Henrys Erzfeind und seine beiden Begleiter erkannte, die sich jetzt ebenfalls mit einem letzten Satz auf die Decksplanken schwangen. Von der Jakobsleiter waren die Schritte Batutis zu hören, der nicht’ mehr lange auf sich warten lassen würde.
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Viel zu langsam erholten sich die beiden Decksleute der „Cruel Jane“ von ihrem Schreck. In fliegender Hast versuchten sie, ihre Pistolen aus dem Gurt zu reißen. Dabei begriffen sie nicht, daß sie keine Chance hatten, es noch rechtzeitig zu schaffen. Erst als sie in die sechs Mündungen des Laufbündels von Hasards Radschloßdrehling und in die großkalibrig gähnenden Laufmündungen der Steinschloßpistolen von Ed Carberry, Ferris Tucker und Batuti blickten, wurde ihnen die Lage klar. Es kam selbstmörderischen Absichten gleich, jetzt noch die Waffe zu ziehen. „Fallen lassen!“ sagte der Seewolf schneidend. „Und ich rate euch, keine falsche Bewegung auszuführen.“ Demonstrativ spannte er den Hahn seines Drehlings. Das metallische Knacken ließ die beiden Männer zusammenzucken. Mit spitzen Fingern zogen sie ihre Pistolen aus den Gurten und ließen sie auf die Decksplanken poltern. „Jetzt die Entersäbel“, befahl Hasard, „und dann drei Schritte rückwärts!“ Sie befolgten auch diese Anordnung bereitwillig. Während der Seewolf sie weiter in Schach hielt, schleppten Batuti und Ferris Tucker eine Taurolle herbei. Seelenruhig fesselten sie die beiden glücklosen Wachen an den Großmast und stopften ihnen Segeltuchfetzen als Knebel zwischen die Zähne. Ed Carberry nahm die Pistolen und die Entersäbel von den Decksplanken auf und warf sie kurzerhand über Bord. Der Profos der „Isabella“ schob seine Pistole unter den Gurt, spuckte in die Hände und schlug die Handflächen gegeneinander, daß es knallte. „Dann wollen wir mal!“ rief er dröhnend. „Sieht so aus, als ob wir einen Haufen Arbeit vor uns haben.“ Hasard verstaute auch seinen Drehling im Gurt und sah sich kurz um. „Wir nehmen die Jolle dort“, entschied er und deutete auf das größere Beiboot über der Kuhlgräting. „Wenn das nicht reicht,
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haben wir immer noch das Boot, mit dem wir rübergepullt sind.“ Nachdem sie sich sicherheitshalber vergewissert hatten, daß sich außer den beiden Deckswachen tatsächlich niemand mehr an Bord der „Cruel Jane“ befand, stiegen sie in den großen Laderaum hinunter. Batuti zündete eine Öllampe an, und im schwachen Lichtschein inspizierten Hasard und seine Männer den gestapelten Reichtum, der von Granduca Ferdinando I. de Medici stammte. Die Seewölfe verloren keine Zeit. Sie öffneten die Ladeluke weit und wuchteten die Truhen, Kisten und Leinenbeutel hinauf. Dann transportierten sie die einzelnen Kolli des Medici-Schatzes weiter zur Jolle. Es zeigte sich, daß diese nicht ausreichte, um alle Stücke zu fassen. Ein weiterer Teil der Ladung mußte daher auch noch in das kleinere Beiboot gemannt werden. Zu viert mußten sie zupacken, um die schwerbeladene Jolle mittels der Großmastrah abzufieren. Es war der schweißtreibendste Teil der Arbeit. Aber sie schafften es dennoch ohne großen Zeitverlust und nickten den gefesselten Deckswachen grinsend zu, die das Geschehen mit fassungslos geweiteten Augen verfolgt hatten. „Gehabt euch wohl, ihr Kakerlaken!“ rief Ed Carberry ihnen zu, während sie auf die Pforte im Schanzkleid zugingen und über die Jakobsleiter in das kleinere Beiboot abenterten. Ferris Tucker zurrte das Schlepptau der Jolle an einem Ringbolzen am Spiegel des Boots fest. Dann stießen sie das Boot von der Außenbeplanung der „Cruel Jane“ ab und begannen, mit kraftvollen Schlägen zu pullen. 7. Die Stille, die über den Decks der „Isabella“ lag, war sorgfältig vorgeplant und erinnerte eher an die Ruhe vor einem möglichen Sturm.
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Sofort nach Dan O’Flynns Eintreffen hatte Ben Brighton alle erforderlichen Vorbereitungen treffen lassen. In fliegender Hast hatten alle mit angepackt. An die Nachtruhe dachte niemand mehr. Dabei hatten sie so unauffällig wie möglich zu Werke gehen müssen. Denn sie konnten sich seit dem Bericht Dan O’Flynns des Gefühls nicht mehr erwehren, daß sie beobachtet wurden. Auf leisen Sohlen waren die Männer über die Decksplanken gehuscht. Al Conroy, der schwarzhaarige Stückmeister, hatte seine Anweisungen halblaut gezischt. Auch die Söhne des Seewolfs hatten ihren gewohnten Teil der Arbeit übernommen. Sie hatten Sand ausgestreut und Pützen mit Wasser bereitgestellt. In der Kombüse waren sie dem Kutscher zur Hand gegangen, der die Kohlenbecken für die Geschützlunten vorbereitet hatte. Al Conroy hatte die Drehbassen vorn und achtern selbst beladen. Mit den kleinen Hinterladern in ihren schwenkbaren Gabellafetten verstand er meisterhaft umzugehen. Deshalb brauchte er die absolute Gewißheit, daß Ladung und Geschoßgewicht genauestens aufeinander abgestimmt waren. Die Männer kauerten nun bei den Geschützen auf dem Hauptdeck. Die 17Pfünder-Culverinen, jeweils acht an Backbord und Steuerbord, waren gefechtsklar. Mit ihren überlangen Rohren hatten diese Geschütze eine größere Reichweite und auch eine bessere Treffsicherheit als die gebräuchlichen Schiffsarmierungen. Mancher Gegner der „Isabella“ hatte sich von dieser überraschenden Feststellung bei einem Gefecht zur See nie wieder erholt. Ben Brighton und Dan O’Flynn standen gemeinsam am Steuerbordschanzkleid der Kuhl. Mit voller Absicht, denn nach außen hin erweckten sie so den Eindruck, daß es sich bei ihnen um die Deckswache handelte. Bill, der Moses an Bord der Galeone, hatte seinen gewohnten Platz als Ausguck im Großmars eingenommen. Er kauerte hinter der Segeltuchverkleidung und war dort
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ausreichend vor Blicken geschützt. Der Kutscher, Koch und Feldscher in einer Person, beaufsichtigte die Zwillinge in der Kombüse. Zu dem verschlossen wirkenden Mann, der ein wenig schmalbrüstig aussah, aber dennoch zäh und energiegeladen war, hatten Philip und Hasard ein besonderes Vertrauensverhältnis. Von ihm, der niemals seinen richtigen Namen genannt hatte, hatten sie schon eine Menge gelernt. Wobei er selbst nie vergessen hatte zu erwähnen, daß er sein Wissen aus-. schließlich jenen Jahren verdankte, die er bei Sir Anthony Freemont, einem Arzt in Plymouth, verbracht hatte. Auf der Back harrten Smoky, Blacky, Gary Andrews und Matt Davies aus. Im Schutz der Verschanzung war auch von ihnen nicht einmal ein Hemdzipfel zu sehen. Die vier waren bereit, entweder blitzschnell zum Ankerspill zu hasten oder bei den Geschützen mitzuarbeiten. Noch wußte niemand an Bord der „Isabella“, wie der erste Befehl Ben Brightons lauten würde. Denn noch gab es keine Klarheit über die Lage. Daß sich aber Unheilvolles über der Galeone des Seewolfs zusammenbraute, schien gewiß. Smoky, Decksältester an Bord, war ein bulliger braunhaariger Mann, jederzeit bereit, sich seinen Rang mit den Fäusten neu zu erkämpfen, wenn es sein mußte. Auch seinen wirklichen Namen kannte niemand, „nicht einmal er selbst. Bekannt war nur, daß er seine Eltern nie gesehen hatte. Ihm war es ergangen wie vielen anderen, die als unerwünschte Kleinkinder auf einer Kirchentürschwelle ausgesetzt worden waren. Als Seemann hatte er einen besonders guten Ruf, denn schon bei Sir Francis Drake war er als Decksältester gefahren. Blacky, der seinen Spitznamen dem schwarzen Haarschopf verdankte, teilte Smokys Schicksal bezüglich der Kindheit als Vollwaise. Auf der „Isabella“ hatte sich Blacky zu einem Kämpfer von Rang entwickelt, den der Seewolf in seiner Crew nicht mehr missen mochte.
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Gary Andrews, den hageren Fockmastgast, verband ein besonderes Treueverhältnis mit Philip Hasard Killigrew. In den ersten Jahren hatte sich Hasard des blonden Mannes mit dem schmalen Gesicht besonders angenommen, um ihn nach harten Schicksalsschlägen körperlich und seelisch wieder auf die Beine zu bringen. Gary vergaß es dem Seewolf nie. Furchterregend wirkte Matt Davies auf den ersten Blick, besonders für seine Gegner. Anstelle der fehlenden rechten Hand trug der breitschultrige Mann eine Spezialmanschette aus Leder, die unten in einen Metallring mit spitzgeschliffenem Haken auslief. Ferris Tucker hatte diese Prothese angefertigt, die unverrückbar festsaß. Bei Enterkämpfen war der Eisenhaken eine furchtbare Waffe, die Matt gezielt einzusetzen verstand. Seine grauen Haare verdankte Matt Davies einem Geschehen, das sich vor Jahren in der Karibik abgespielt hatte. Auf einer Gräting hatte er eine Nacht unter Haien zugebracht. Und als die „Isabella“-Crew ihn endlich fand, hatten sich Matts Haare in ebenjener Nacht von Dunkelblond in Grau gefärbt. Mit den übrigen Männern harrte auch Old Donegal Daniel O’Flynn geduckt auf der Kuhl aus. Der alte Mann, ein Kerl aus Granit und Eisen, ließ es sich nicht nehmen, auch in den härtesten Einsätzen noch seinen Teil beizutragen. Seit Hasard ihn damals halb tot aus einem treibenden Boot gezogen hatte, war der alte O’Flynn mit der Crew der „Isabella“ wie durch Pech und Schwefel verbunden. Die weiteren Männer auf dem Hauptdeck waren Jeff Bowie, ein stämmiger Engländer aus Liverpool, der links eine ähnliche Hakenprothese wie Matt Davies trug, außerdem Sam Roskill, der schlanke frühere Karibik-Pirat, Bob Grey, ein drahtiger blonder Mann, Luke Morgan, der aus der englischen Armee desertiert und von Hasard aufgenommen worden war, Will Thorne, der grauhaarige Segelmacher, Stenmark, der hochgewachsene Schwede, und Big Old Shane. Shane, ein Riese von Kerl mit wildwucherndem grauen Bart,
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war früher Schmied und Waffenmeister auf der Feste Arwenack in Cornwall gewesen. Dort hatte Hasard seine Kindheit und Jugend bei den Killigrews verbracht, und Big Old Shane brachte ihm noch heute väterliche Gefühle entgegen. Der hünenhafte Schmied von Arwenack hatte Kräfte wie ein Bulle, und er war ein Meister im Bogenschießen. Zwei weitere „Mitglieder“ der Crew waren Arwenack, der Schimpanse, und Sir John, der Ara-Papagei. Sie befanden sich ebenfalls in der Kombüse, wo der Kutscher und die Zwillinge ein wachsames Auge auf sie hielten. Denn etwaiger Lärm, den die beiden munteren Gesellen allzu gerne inszenierten, konnte jetzt nur verräterisch wirken. Ben Brighton sah sich noch einmal prüfend nach allen Seiten um. Dann nickte er zufrieden. Alle Befehle waren mit der gewohnten Zuverlässigkeit ausgeführt worden. Diese Männer, die gemeinsam schon mehr als einmal mitten in die Hölle gesegelt waren, verstanden so rasch und zielstrebig zuzupacken, daß jeder Handgriff saß. Jetzt waren sie bereit, entweder im Handumdrehen ankerauf zu gehen und die Segel zu setzen oder die Geschütze vollends zu klarieren und die „Isabella“ in eine schwimmende Festung zu verwandeln. „Merkwürdig ruhig ist es geworden“, sagte Dan O’Flynn, der neben dem Ersten Offizier im Schein der Deckslaterne stand. „Das ist ein persönlicher Eindruck von dir“, entgegnete Ben Brighton lächelnd. „Und zwar deshalb, weil du damit rechnest, daß etwas passiert. Wenn du von allem nichts wüßtest, wärst auch du jetzt völlig arglos.“ „Ich weiß nicht“, sagte Dan zweifelnd. „Es gibt doch auch so was wie Instinkt, oder? Das hat doch jeder von uns schon mal gemerkt. Ich meine, man wittert eine Gefahr, ohne daß man sich wirklich erklären kann, was es ist.“ „Sicher“, brummte Ben, „aber das hängt immer von den Umständen ab. Selbst in unserem Fall können wir ja nicht ganz
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sicher sein. Vielleicht riskiert es Lord Henry in dieser Nacht nicht mehr.“ „Hasard ist davon überzeugt“, widersprach Dan O’Flynn. „Schließlich hat er mitgehört, was die Galgenstricke besprochen haben.“ „Lassen wir uns überraschen.“ Ben Brighton verschränkte die Arme vor der Brust. „Wir werden uns jedenfalls mit einer höllischen Überraschung revanchieren, falls sie es tatsächlich versuchen.“ „Denen werden die Augen übergehen“, versicherte Dan O’Flynn mit grimmiger Entschlossenheit. Eine Weile schwiegen die Männer. An Bord der „Isabella“ war es so mucksmäuschenstill, daß man eine Nadel hätte fallen hören. Nur das leise Singen des schwachen Windes war zu hören, untermalt vom Knarren und Ächzen der Takelage. Unvermittelt gab es dennoch ein Geräusch, das sich von allen anderen abhob. Ein trockener Laut, der nur in unmittelbarer Nähe zu hören war. Verursacht von einem Holzspan, den Moses Bill aus der luftigen Höhe des Großmars auf die Decksplanken hatte fallen lassen. Es war das vereinbarte Zeichen für den Fall einer Beobachtung. Denn durch Worte konnten sie sich nicht verständigen. Bei der nächtlichen Stille wäre es zu weit zu hören gewesen. Ben Brighton verzichtete auf den Kieker. Wie stets kalkulierte der besonnene Mann, alle Unwägbarkeiten ein. Dazu gehörte nun einmal, daß die Optik des Spektivs leicht ein verräterisches Aufblitzen hervorrufen konnte. Denn immerhin befanden sie sich im Lichtkreis der Deckslaterne. Ben verließ sich daher ganz auf Dan O’Flynns unübertrefflich scharfe Augen. „Steuerbord voraus“, sagte Dan O’Flynn einen Moment später, nachdem er angestrengt in alle Richtungen gespäht hatte. „Sieht aus wie ein Barchino, eins von diesen neapolitanischen Booten.“ Ben Brighton blickte nun ebenfalls in die angegebene Richtung. Er mußte seine Augen höllisch anstrengen, doch nach
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einer Weile sah er, daß Dan genau das erfaßt hatte, worauf Bill im Ausguck aufmerksam geworden sein mußte. Das kleine Lateinersegel des Bootes hob sich minutenlang vor dem matten Licht der Deckslaterne einer Schaluppe ab und verschwand dann wieder im Dunkeln. Deutlich zu erkennen war aber, daß das Boot um das Kopfende einer der Piers herumglitt. Und im selben Moment waren auch Stimmen zu hören. Stimmen im neapolitanischen Dialekt, ohnehin zu weit entfernt, um sie verstehen zu können. Offenkundig war nur, daß es sieh um einen oder zwei Männer handelte und um ebenso viele Frauen. Es hörte sich nach Geschrei oder wildem Palaver an. Und die Stimmen nahmen an Lautstärke zu, näherten sich also. Ben Brighton und Dan O’Flynn wechselten einen rätselnden Blick. Sekunden später, als das Boot die offene Wasserfläche zwischen den Piers und der Reede erreichte, war es unter dem klaren Sternenhimmel als Schatten zu erkennen, der eine silbrige Kiellinie hinter sich herzog. Das Geschrei brach jetzt ab. Stille kehrte ein. Lautlos glitt der Barchino immer näher heran. „Wir kriegen Besuch!“ flüsterte Ben Brighton den Männern bei den Geschützen zu. „Absolute Ruhe jetzt! Was es ist, können wir noch nicht sagen.“ „Verstanden“, antwortete Al Conroy, der in unmittelbarer Nähe bei einem der Geschütze kauerte. Atemlose Stille kehrte nun auf der „Isabella“ ein. Unablässig beobachteten Ben Brighton und Dan O’Flynn das Boot, das sich zielstrebig näherte. Unverkennbar jetzt, daß die Galeone das Ziel des Barchino war. Ein Angriff mit einer wackligen alten Nußschale? Ben Brighton runzelte die Stirn. Entweder handelte es sich um einen raffinierten Trick, oder es steckte überhaupt nichts dahinter. Sehr bald näherte sich das Boot bis auf Rufweite. Konturen zeichneten sich ab, Schatten waren auf den Duchten des
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Barchino neben dem Dreieck des Lateinersegels zu erkennen. Ben Brighton gab Dan O’Flynn einen Wink. Dan lief zum Niedergang, ohne sich Mühe zu geben, es zu verheimlichen. Mit federnden Bewegungen klomm er zum Achterdeck hinauf, nahm seinen Platz an der Steuerborddrehbasse ein und schwenkte das Hinterladerrohr demonstrativ herum. Vor dem hellen Schein der Hecklaterne konnte dies den Leuten im Barchino keinesfalls entgehen. „Wer da?“ rief Ben Brighton schneidend. „Ihr da im Boot, gebt euch zu erkennen!“ Eine Gestalt richtete sich neben dem dünnen Behelfsmast auf und winkte. Der Mann war breit und untersetzt. Soviel zu erkennen war, trug er eine Zipfelmütze, die in lächerlichem Widerspruch zu seinem Äußeren stand. „Seid gegrüßt, Engländer!“ rief er salbungsvoll, während der Barchino sich weiter näherte. Sein Englisch klang schaurig, und es hörte sich an, als hätte er seine anbiedernde Ansprache auswendig gelernt. „Ich bin Guilielmo, der Händler. Bei mir gibt es nichts, was es nicht gibt, Signori —Gentlemen! Sie werden hoch erfreut sein, wenn ich ein wenig Abwechslung in Ihre langweiligen Nachtstunden bringe. Meine Angebote sind äußerst günstig, Signori — Gentlemen!“ Auf der: Achterducht des Bootes richtete sich eine andere Gestalt auf. Ein altes Weib, in zerlumpt aussehendes schwarzes Tuch gehüllt, wie Ben Brighton und Dan O’Flynn jetzt erkannten. Denn zeternd, keifend und gestikulierend ließ die Vettel einen Wortschwall in ihrem neapolitanischen Dialekt los. Immer wieder zeigte sie mit ausgestrecktem Arm zum Achterdeck der „Isabella“, und ihre Stimme steigerte sich zu einem schrillen Diskant. Guilielmo, der zipfelmützige Händler, brüllte sie an, gleichfalls in seiner Heimatsprache. „Sei still, Mamma, sei endlich still! Madonna mia, du störst die englischen Signori mit deinem Geschrei. Kannst du
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denn nicht endlich aufhören! Es passiert dir doch überhaupt nichts.“ Wieder antwortete das alte Weib mit schrillem Zetern. Ben Brighton verstand kein Wort, obwohl er wegen seiner perfekten spanischen Sprachkenntnisse auch in Italien nie besondere Mühe gehabt hatte. Dieser Dialekt, noch dazu in der wahnwitzigen Geschwindigkeit, war für ihn indessen nur ein Kauderwelsch. „Ruhe jetzt!“ brüllte der Mann mit der Zipfelmütze abermals. „Halt den Mund, Mamma! Du störst mir mein ganzes Geschäft. Wirst du jetzt endlich still sein!“ Mit letztem, schwachem Protest beruhigte sich das alte Weib und ließ sich wieder auf die Achterducht sinken. Der Händler seufzte ergeben und holte eilends das Lateinersegel ein, denn das Boot hatte sich der „Isabella“ mittlerweile bis auf zwanzig Yards genähert. Ein unterdrücktes Kichern war jetzt zu vernehmen. Ben Brighton sah zwei weitere Gestalten auf den Bodenplanken hinter dem Mast des Barchino. Junge Frauen, schwarzhaarig und aufreizend offenherzig gekleidet. Das leuchtende Weiß ihrer Augen war zu sehen. Beide hielten sich die flache Hand vor den Mund und schienen äußerst belustigt über das Geschehen. Der Erste Offizier der „Isabella“ brauchte nicht zweimal hinzusehen, um zu erkennen, daß es sich um Hafenmädchen handelte. Käufliche Mädchen. „Es tut mir aufrichtig leid, Sir !“ rief der Händler mit verzeihungheischender Geste, nachdem er das kleine Segel eingeholt hatte. Mit nachlassender Fahrt schob sich das morsch aussehende Boot auf die Bordwand der Galeone zu. „Mit meiner Mutter ist es ein wahres Kreuz, Signore. Seit mein Vater gestorben ist, kann ich sie nicht mehr allein zu Haus lassen. Sie bringt sich glatt um, wenn sie niemanden aus der Familie in der Nähe hat. Was soll ich also tun? Ich muß sie dauernd mitnehmen, und dann mischt sie sich in meine Geschäfte ein. Sie sehen es selbst, Sir. Jetzt stört sie sich an dem Ding da.“ Er deutete zur Drehbasse auf dem Achterdeck, wo Dan
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O’Flynn grinsend hinter der Gabellafette stand. „Sie fürchtet allen Ernstes, das Ding könne losgehen. Dabei weiß doch jeder vernünftig denkende Mensch, daß englische Gentlemen niemals auf Wehrlose schießen würden.“ Ben Brighton sah jetzt, daß der angebliche Händler einen mächtigen Schnauzbart trug. „Was wollt ihr?“ fragte Ben unbeeindruckt und kühl. Er gab Dan O’Flynn ein knappes Handzeichen, und dieser schwenkte den Lauf der Drehbasse auf die offene Wasserfläche hinaus. „Wie schon gesagt, Sir“, antwortete der Schnauzbärtige mit einer unterwürfigen Verbeugung. „Guilielmo steht zu Ihren Diensten! Bei mir kriegen Sie alles, was sich ein einsames Seefahrerherz nur wünschen kann. Gönnen Sie Ihren Kameraden ein wenig Abwechslung. Ich biete Ihnen, was das Herz begehrt - und alles wirklich äußerst günstig. Sie können jeden in Neapel fragen, und er wird Ihnen bestätigen, daß Guilielmo die niedrigsten Preise hat.“ Ben Brighton gab sich einen inneren Ruck. Es fiel ihm schwer, sich auf das überschwängliche Gefasel des Kerls einzulassen. Aber Ben wußte auch, daß er den Mann nicht davonjagen durfte. Es war jener Instinkt, von dem Dan O’Flynn gesprochen hatte. Und dieser Instinkt sagte dem Ersten Offizier der „Isabella“, daß dieser angebliche Händler bestimmt nicht zufällig aufgetaucht war. „Dann laß mal hören, Amico“, sagte Ben gedehnt. „Wie lauten deine Angebote?“ Erneut richtete sich das alte Weib auf der Achterducht auf und setzte einem nervtötenden Wortschwall an. Händeringend blickte die Alte zum Schanzkleid der Galeone hoch, und ihr neapolitanischer Redefluß schien kein Ende nehmen zu wollen. „Sei still, Mamma!“ herrschte der Schnauzbärtige sie abermals an. „Himmel noch mal, wie oft soll ich dir noch sagen, daß du nicht dazwischenreden darfst, wenn ich geschäftlich zu tun habe!“ Widerstrebend ließ sich die alte Frau dazu bringen, wieder ihren Platz auf der
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Achterducht einzunehmen. Erneut kicherten die beiden Hafenhuren. Der Mann mit der Zipfelmütze brachte auch sie mit einem herrischen Wink zum Schweigen. „Verzeihen Sie, Sir“, sagte er, indem er den Kopf in den Nacken legte. „Hören Sie nicht auf meine Mutter. Sie muß dauernd allen Leuten erzählen, wie schlecht es unserer Familie geht und wie sehr wir auf jeden kleinen Verdienst angewiesen sind. Natürlich hat sie recht, wenn sie an ihre zehn Enkelkinder denkt und an das schäbige alte Boot, mit dem ich meine Kunden besuchen muß. Aber ich kann es ihr einfach nicht klarmachen, daß man seinen Geschäftspartnern gegenüber nicht um Mitleid betteln soll.“ „Das verstehe ich“, sagte Ben Brighton, der sich auf das Schanzkleid gelehnt hatte und mit scheinbar wachsendem Interesse nach unten blickte. „Also zur Sache, Guilielmo: Was hast du uns zu bieten?“ Der Schnauzbärtige verneigte sich abermals. „Oh, das hängt natürlich davon ab, wie viel Sie für ein bißchen Vergnügen anlegen wollen, Sir.“ Er deutete auf das gewachste Segeltuch, mit dem der Bugraum seines Barchino abgedeckt war. „Da wäre ein edler Wein von den sonnigen Hängen Kampaniens. Ein ganz vorzüglicher roter Tropfen, den ich Ihnen sehr empfehlen kann. Dann hätten wir außerdem einen erstklassigen Branntwein, der aus der Produktion unserer spanischen Freunde stammt. Eigens für mich von einem befreundeten spanischen Kapitän angelandet, besonders zu empfehlen für die rauheren Kehlen. Sollten Sie sich damit nicht begnügen wollen — ich meine, wenn Sie sich nicht nur auf das Flüssige beschränken wollen, dann habe ich Ihnen noch ein anderes Angebot zu unterbreiten.“ Er deutete mit einer ausladenden Handbewegung auf die beiden Hafenmädchen, die wieder ein verstohlenes Kichern anstimmten und glutvolle Blicke zum Schanzkleid hochwarfen.
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„Bislang hört sich das alles sehr gut an“, sagte Ben Brighton anerkennend. „Weiter, Guilielmo, nur weiter.“ Der Schnauzbärtige strahlte. „Zwei wahre Perlen unter dem Sternenhimmel Neapels, Sir! Zwei temperamentvolle Schönheiten, von denen Sie und Ihre Freunde noch Monate später auf See träumen werden. Wirklich, ich verspreche Ihnen nicht zuviel ...“ Ben Brighton hörte dem Redefluß geduldig zu. Er gewöhnte sich sogar daran, einen aufmerksamen Gesichtsausdruck zu zeigen. 8. Das Lichtermeer Neapels und seiner Vororte war eine hervorragende Orientierungshilfe. Anfangs waren diese unzähligen Lichter nur als ein strahlender Punkt in weiter Ferne zu erkennen gewesen. Doch jetzt, eine gute Stunde später, zeichneten sich bereits Einzelheiten ab. Bei rauhem Wind segelte die einmastige Schaluppe der malerischen Kulisse der süditalienischen Hafenstadt entgegen. Über Steuerbordbug glitt das schlanke kleine Schiff durch den mäßigen Wellengang. Mechmed, der Berber, hatte den Arm um Dalidas Schultern gelegt. Die Ägypterin schmiegte sich eng an ihn. Vom Achterdeck aus blickten sie über die Köpfe der Mannschaft hinweg. Mit glühenden Augen starrten die Berber auf die nächtliche Szenerie. Mechmed wußte, wie es um seine Männer stand. Der Hunger plagte sie seit Tagen. Mit den zur Neige gehenden Wasservorräten hatten sie äußerst sparsam umgehen müssen. Wachsender Mißmut begleitete den Hunger und den Durst. Mechmed war sich darüber im klaren, daß seine Mannschaft in dieser Stimmung zunehmend unbrauchbarer wurde. Auch ein Soldatenheer, das unter Hunger litt, taugte nichts für den Kampf. Mit der Crew eines Schiffes war es nicht anders. Mechmed hatte es aber nicht riskiert, an einem dünner besiedelten Küstenstreifen
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oder auf einer der Inseln an Land zu gehen. Der hagere, knochige Mann, der ganz in Schwarz gekleidet war, hatte lange darüber nachgedacht. Und er war zu dem Ergebnis gelangt, daß es am unverfänglichsten sein würde, in einer großen Stadt mit vielen Menschen vor Anker zu gehen. Dort fielen sie am wenigsten auf. In den einsameren Küstengegenden jedoch sprach es sich meist in Windeseile herum, wenn Fremde auftauchten, die nichts mit den gewohnten Anblicken gemein hatten. Noch immer steckte Mechmed die unrühmliche Begegnung mit dem Engländer in den Knochen, den sie den Seewolf nannten. Nur vor sich selbst gab er zu, daß er diesem Mann und seiner Crew von kämpfenden Teufeln nicht gern ein zweites Mal gegenübertreten wollte. Deshalb war es gut, wenn es nicht zu schnell bekannt wurde, daß die Berber sich hier an der kampanischen Küste aufhielten. Nach der Niederlage, die ihnen die Seewölfe zugefügt hatten, war es ihnen auf Elba gelungen, diese Schaluppe zu stehlen. Nur um Proviant- und Wasservorräte hatten sie sich nicht hinreichend kümmern können. Jetzt galt es, Abhilfe zu schaffen. Hier in Neapel. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich bin“, sagte Dalida leise. „Wir haben in den vergangenen Tagen alle nur noch wie Tiere gelebt. Es ist gut, endlich wieder die angenehmen Seiten des Lebens genießen zu können.“ Mechmed blickte sie lächelnd von der Seite an. Für die meisten, denen er zum erstenmal begegnete, sah er aus wie der Satan höchstpersönlich. Dalida hatte sich jedoch nie an seinem Äußeren gestört. Er wußte es zu schätzen. Es mußten seine inneren Werte sein, so folgerte er, die sie beeindruckten. Die Ägypterin war üppig gebaut und nur mittelgroß. Sie hatte lange schwarze Haare, die ihr bis auf die Schultern fielen. Die zurückliegenden Entbehrungen waren auch an ihrem Äußeren nicht spurlos vorübergegangen. Ihr dunkles Kleid war zerrissen und an vielen Stellen nur notdürftig zusammengeflickt.
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„Dir wird diese Stadt gefallen“, sagte Mechmed. „Ich bin selbst noch nie hier gewesen, aber ich habe Seefahrer erzählen hören. Es ist eine Stadt voll von Ungläubigen, aber es ist auch eine Perle unter den Städten am Mittelmeer.“ „Sicher werden wir ein paar Tage Ruhe haben. Sicher gerät uns diesmal niemand in die Quere und ...“ Ein scharfer Ruf des Ausgucks unterbrach die Ägypterin. Sofort nahm Mechmed den Arm von ihrer Schulter, trat an die Backbordverschanzung und setzte das Spektiv ans Auge. Dalida folgte ihm und wartete geduldig, bis er seine Beobachtung beendet hatte und ihr das Fernrohr reichte. Ein ungläubiger Ausdruck lag auf seinem Gesicht. „Es ist nicht zu fassen“, sagte er kopfschüttelnd. „Mit einem solchen Zufall konnte man wirklich nicht rechnen. Sieh selbst, Dalida.“ Sie nahm das Spektiv und spähte voller Anspannung hindurch. Im nächsten Moment erkannte auch sie, was den Berber so sehr in Überraschung versetzt hatte. „Kein Zweifel!“ rief sie, ohne die Optik abzusetzen. „Das ist die ,Cruel Jane’. Ich würde Lord Henrys Schiff unter hundert anderen sofort erkennen. Aber ...“ Sie stockte. „Was ist?“ fragte Mechmed stirnrunzelnd. „Da bewegt sich etwas“, murmelte Dalida. „Ich kann es nicht genau erkennen, weil die Lichter im Hintergrund blenden. Es könnte ein Boot sein oder ...“ Mechmed riß ihr das Spektiv aus den Händen, setzte es eilig an sein rechtes Auge und justierte die Scharfstellung. „Zwei Boote“, korrigierte er die Ägypterin. „Jetzt sehe ich es auch. Wenn mich nicht alles täuscht, sind es vier Männer im vorderen Boot. Das größere haben sie im Schlepp.“ „Was hat das zu bedeuten?“ fragte Dalida. „Keine Ahnung. Auch Lord Henry wird seine Vorräte ergänzen müssen. Vielleicht sind es Händler, die ihre Geschäfte erledigt haben. Wir brauchen uns nicht darum zu kümmern.“ Er ließ das Spektiv sinken und
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gab dem Rudergänger einen Wink zum Zeichen, den bisherigen Kurs beizubehalten. Denn sie liefen haargenau auf die „Cruel Jane“ zu. „Sicher haben sie uns schon bemerkt“, sagte Dalida. „Für sie muß es genauso eine Überraschung sein wie für uns.“ *
Philip Hasard Killigrew und seine Männer hatten sich auf etwa eine Kabellänge von der Galeone der Piraten entfernt. Das Pullen gestaltete sich mühsamer als erwartet, denn immerhin war es eine beträchtliche Ladung, die sie im Schlepp hatten. Die Schaluppe, die sich über Steuerbordbug von Nordnordwest heranschob, erspähten sie rechtzeitig genug, um sich darauf einzustellen. Für den Seewolf war es auf Anhieb klar, daß sie dem fremden Einmaster nicht entrinnen konnten, falls dieser unfriedliche Absichten hegte. Dann, als die Schaluppe ebenfalls nur noch eine Kabellänge entfernt war, traf die Erkenntnis die Männer im Beiboot der „Cruel Jane“ wie ein Hammerschlag. Die düstere, knochige Gestalt auf dem Achterdeck des Einmasters war ihnen allen noch in bester Erinnerung. Allein die Silhouette dieses Mannes reichte aus, um ihn zu erkennen. Mechmed, der Berber! Keine Frage also, daß die Frau an seiner Seite die Ägypterin Dalida war. „Diese gottverdammten Rübenschweine“, knurrte Edwin Carberry, „wenn die uns dumm kommen, kriegen sie ein Höllenfeuer unter den Hintern, daß sie nicht mehr wissen, ob sie Männchen oder Weibchen sind!“ „Keine Haut in Streifen?“ fragte Batuti feixend und völlig unbeeindruckt von der drohenden Gefahr. „Das könnte höchstens dir blühen“, grollte der Profos, „dann nämlich, wenn du noch lange darauf herum, hackst.“ „Wenn die Gentlemen dann soweit sind“, sagte Hasard lächelnd, „können wir uns
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vielleicht den nebensächlicheren Dingen zuwenden. Natürlich warten Ferris und ich aber gern noch, bis ihr eure persönlichen Zwistigkeiten bereinigt habt.“ „Aye, aye, Sir“, brummte Ed Carberry. „Mir geht’s ja nur um die Disziplin. Und unser Freund Batuti entwickelt sich langsam zu einem aufsässigen Hund. Wo gelangen wir denn hin, wenn ein Decksmann anfängt, dauernd seinen Profos zu kritisieren?“ Der Gambianeger zog in gespieltem Schuldbewußtsein den Kopf tiefer zwischen die breiten Schultern. „Reiß dich also zusammen“, sagte Hasard energisch und mußte sich abwenden, um sein Grinsen nicht zu zeigen. „Aye, aye, Sir“, erwiderte Batuti schneidig. Ferris Tucker hatte mittlerweile seinen Segeltuchbeutel unter der Ducht hervorgezogen und geöffnet. Was er zum Vorschein brachte, war eine seiner Basteleien, die er nach langwierigen Erprobungen bis zur Funktionsreife weiterentwickelt hatte. Ein mittlerweile bewährtes Mittel, auf das sich Ed Carberrys Ankündigung vom Höllenfeuer bezogen hatte. Die Flasche war mit einer beträchtlichen Pulverladung sowie mit gehacktem Blei und Nägeln gefüllt. In dem durchbohrten Korken steckte eine Lunte, deren Länge genau berechnet war. Hasard, Ed und Batuti pullten weiter, während der rothaarige Schiffszimmermann einen prüfenden Blick zu der herannahenden Schaluppe warf und mit eiskalter Ruhe die Entfernung abschätzte. Ungerührt biß er ein Stück von der Lunte ab, bis sie nur noch um einen Viertelinch über den Korken hinausragte. Dann zog er zwei Flinte aus der Hosentasche, klemmte die Höllenflasche zwischen die Knie und schlug Feuer, bis die Lunte zu sprühen begann. Seelenruhig wartete Ferris. Erst als die Luntenflamme den Korken erreichte und sich durch die Bohrung zu fressen begann, richtete er sich auf. Mit aller Kraft schleuderte er die Flasche. In hohem Bogen flog sie der Schaluppe
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entgegen und landete torkelnd im Wasser, nur dreißig oder vierzig Yards vom Einmaster der Berber entfernt. Zufrieden ließ Ferris Tucker sich wieder auf die Ducht sinken, nahm den Riemen und pullte weiter. Im selben Moment erfolgte die Detonation, knapp unter der Wasseroberfläche, wie von Ferris vorausberechnet. Mit dem dumpfen Donnern stieg eine haushohe weiße Fontäne hoch. Sekundenlang war den Seewölfen dadurch die Sicht versperrt. Die Druckwelle spürten auch sie. Doch die Wirkung war bei der Schaluppe verheerender. Das sahen Hasard und seine Männer, als die Fontäne des weiß gischtenden Wassers in sich zusammengesunken war. Durch den Explosionsdruck war der Einmaster gekentert. Angstschreie gellten. Jemand brüllte barsche Befehle auf arabisch. Offenbar versuchten sie, trotz allem, noch ihr Beiboot klar zu kriegen. Denn die meisten der Berber konnten mit Sicherheit nicht schwimmen. Philip Hasard Killigrew nickte zufrieden. Fürs erste konnten seine Männer und er zufrieden sein. Mechmed und Dalida hatten keine Chance mehr, ihre Pläne zu durchkreuzen. Ruhig pullten die vier Männer im Beiboot weiter. Sie wußten jetzt, daß sie es bis zur „Isabella“ schaffen würden. Ben Brighton war unterrichtet und hatte garantiert längst die erforderlichen Vorkehrungen getroffen. Bei der gekenterten Schaluppe gellten noch immer die Schreie der Schiffbrüchigen. Die Seewölfe wußten, daß es in der Stadt nicht mehr lange ruhig leiben würde. Die Strauchdiebe, mit denen sich Lord Henry verbündet hatte, würden aufmerksam werden. Aber auch die spanische Stadtgarde, deren Aufgabe es war, den geringsten Unruheherd im Keim zu ersticken. * Gennaro Masaniello setzte ein gewinnendes Lächeln auf, nachdem der
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breitschultrige Engländer an Bord der „Isabella“ schließlich doch zugestimmt und die Jakobsleiter hatte ausbringen lassen. Dazu hatte er natürlich erst seine Leute wecken müssen. Aber sie waren im Handumdrehen auf den Beinen gewesen, nachdem sie erfahren hatten, welche nächtlichen Vergnügungen auf sie warteten. Don Gennaro griff unter die Segeltuchplane und nahm zwei Flaschen heraus, die er dort wohlweislich deponiert hatte. Für die Männer, die unter dem gewachsten Tuch regungslos ausharrten, war es das Zeichen, daß der Teufelstanz bald beginnen würde. Wieder setzte das alte Weib zu einem zeternden Wortschwall an, als der Schnauzbärtige sich auf die Jakobsleiter hinüberschwang. Gennaro brüllte sie noch einmal an, wie es seiner Rolle als Händler Guilielmo entsprach. Und der Guappo, der seine Stimme gekonnt verstellt hatte, schwieg beleidigt. Don Gennaro warf den Kopf in den Nacken. „Es ist ein Kreuz mit ihr, Sir. Jetzt will Mamma allen Ernstes mit auf Ihr Schiff. Sie sagt, sie wäre noch nie auf einem englischen Schiff gewesen, und sie meint, sie müsse auch ein bißchen von der Welt sehen.“ Ben Brighton winkte lachend ab. Neben ihm hatten sich Big Old Shane, Luke Morgan, Stenmark, Sam Roskill und Bob Grey aufgebaut und beugten sich mit scheinbar unverhohlener Vorfreude über das Schanzkleid. Dan O’Flynn hatte demonstrativ seinen Platz an der Drehbasse verlassen und war zur Schmuckbalustrade des Achterkastells hinübergewechselt. Wenn es sein mußte, konnte er jedoch mit zwei, drei langen Sätzen wieder bei dem Hinterlader sein. „Schon gut!“ rief Ben Brighton. „Bring die alte Lady mit, Guilielmo. Und die beiden Grazien kannst du auch gleich an Bord schaffen. Wir haben unsere Zeit schließlich nicht gestohlen.“ Die Männer stimmten johlenden Beifall an. Nur jene, die noch bei den Geschützen in
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Deckung lagen, blieben stumm. Aus dem Barchino winkten Giovanna und Angelina herauf. Big Old Shane und die anderen winkten zurück. Don Gennaro empfand Siegesgewißheit. Besser hätten sich die Dinge für ihn weiß Gott nicht entwickeln können. Er bedankte sich überschwänglich und half dem. „alten Weib“ auf die Jakobsleiter herüber. Der Barchino war mittlerweile mit einem Tampen vertäut. Der Schnauzbärtige gab auch den beiden Mädchen einen Wink, die nun ebenfalls folgten. Sein Plan würde aufgehen, daran gab es für ihn keinen Zweifel mehr. Während er die Sprossen der Jakobsleiter erklomm und seine angebliche alte Mutter hilfreich stützte, wußte er, daß sie von Lord Henry und den Männern auf den beiden Schaluppen bereits beobachtet wurden. Wahrscheinlich legten die Einmaster schon ab. Einige Minuten lang mußte er die Engländer auf ihrer Galeone nun noch hinhalten, ehe sie ihre Maske fallen lassen konnten. Aber für dieses Hinhaltemanöver waren Angelina und Giovanna eine hervorragende Voraussetzung. Mit gierigem Interesse - so deutete Don Gennaro die Blicke - erwarteten die Engländer insbesondere seine beiden jungen und gutgebauten Begleiterinnen. Die Pistolen, die er und der Guappo unter der Kleidung verborgen hatten, würden ausreichen, um die Engländer wenigstens vorübergehend in Schach zu halten -falls es mit der Hinhaltetaktik nicht lange genug klappen sollte. So würde sich dann die Zeit überbrücken lassen, bis Lord Henry und die restlichen Guappi in Reichweite waren. Außerdem waren da noch die sechs Männer im Barchino, die unter dem gewachsten Segeltuch als Eingreifreserve lauerten. Mit zittrigen und unbeholfenen Bewegungen erklomm die vermeintliche alte Frau mit der Hilfe des Schnauzbärtigen die Jakobsleiter. Auch Giovanna, die als nächste folgte, half mit. Diese Hilfe schien dringend notwendig zu
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sein, damit die gebrechlich wirkende Alte nicht abstürzte. Endlich erreichte Don Gennaro die Pforte im Schanzkleid. Er nickte den Engländern mit strahlendem Lächeln zu, als sie einen Halbkreis zum scheinbar freundlichen Empfang bildeten. Aus der Ferne hallte eine Detonation herüber. Dann waren Schreie zu hören. Don Gennaro achtete nicht darauf. In Neapel passierte ständig etwas, vor allem unter den Seeleuten im Hafen. Er half der „alten Vettel“ mit einer letzten Handreichung an Bord, und dann erschienen auch Giovanna und Angelina mit verführerischem Lächeln. Gennaro, Masaniello deutete eine Verbeugung an. „Es ist eine große Ehre für mich, Gentlemen, daß ich Ihr Gast sein darf und ...“ Die Worte blieben ihm im Hals stecken. Ben Brighton war blitzschnell neben ihn getreten und bohrte ihm die Mündung seiner Radschloßpistole in den Bauch. Schräg hinter dem Schnauzbärtigen stand ebenso plötzlich Big Old Shane, gleichfalls mit einer¬ Pistole bewaffnet. Don Gennaros Kinn sackte haltlos nach unten. Mit geweiteten Augen sah er, wie es bei den Geschützen und auf dem Vordeck lebendig wurde. Und schlagartig begriff er, daß diese Männer dort die ganze Zeit über gelauert haben mußten. Sie mußten also gewußt haben, was sich anbahnte. Verrat? In Don Gennaros Sinnen gellten schrille Alarmglocken. Er fühlte sich hereingelegt. Nur wie in Trance erlebte er mit, daß seiner angeblichen alten Mutter die Lumpen heruntergerissen wurden. Die Seewölfe entwaffneten den Guappo und auch den Schnauzbärtigen, und dann scheuchten sie die beiden Mädchen und den Guappo zurück in den Barchino. „Deck!“ ertönte plötzlich eine helle Stimme aus dem Großmars. „Zwei Schaluppen, Steuerbord voraus!“ Sofort hob Ben Brighton den Kieker, während Big Old Shane den Piratenkönig in Schach hielt. Die übrigen Männer
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hielten ein sorgsames Auge darauf, daß der Guappo und die beiden Mädchen auch wirklich ins Boot hinunterstiegen. Wie sehr sich diese Vorsichtsmaßnahme als begründet erwies, zeigte sich im nächsten Moment, als es unter dem gewachsten Segeltuch lebendig wurde. Die Guappi, die sich aus ihrem Versteck herausschälten, erstarrten jedoch sofort zur Bewegungslosigkeit. Und sie griffen erst gar nicht zu den Waffen, die auf den Bodenplanken des Barchino bereitlagen. Denn die Laufmündungen, die sich vom Schanzkleid der „Isabella“ auf sie richteten, sprachen eine allzu deutliche Sprache. Ben Brighton justierte die Optik seines Spektivs, bis er zweifelsfrei erkannte, auf was Bill aufmerksam geworden war. Die Umrisse der beiden Schaluppen, die volles Tuch gesetzt hatten, zeichneten sich vor dem Lichtermeer von Neapel als unverkennbare Schatten ab. Über den Auftrag dieser beiden Einmaster bestand nicht der geringste Zweifel. Ben Brighton ließ das Spektiv sinken, trat vom Schanzkleid weg und baute sich breitbeinig vor dem Schnauzbärtigen auf. Der Erste Offizier der „Isabella“ schob das Spektiv unter den Gürtel und zog stattdessen wieder seine Radschloßpistole, deren Laufmündung er dem angeblichen Händler abermals in den Bauch drückte. Einer der Männer hatte ihm mittlerweile die Zipfelmütze vom Kopf gezogen. Trotziger Stolz lag jetzt auf seinen Zügen. Nichts erinnerte mehr an die unterwürfige Haltung und an die Anbiederungsversuche. „Aus diesem Spiel wird nichts, Amico“, sagte Ben Brighton schneidend. Mit einer Kopfbewegung deutete er in die Richtung, aus der sich die Schaluppen näherten. „Wenn dir deine Gesundheit lieb ist, wirst du jetzt deine Meute zurückpfeifen. Sofort! Habe ich mich klar genug ausgedrückt?“ Don Gennaro preßte in ohnmächtigem Zorn die Lippen aufeinander. Ihm erging es in diesen Minuten, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggerissen. Die Schande war zu groß, und alles verdankte er diesem gottverdammten Lord Henry, der
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sich so unverhofft in seine Angelegenheiten gemischt hatte. „Beweg dich, Amico!“ befahl Ben Brighton und drückte dem Schnauzbärtigen den Pistolenlauf fester in den Bauch. Don Gennaro sah sich um. Die Gesichter dieser Männer strahlten unbändige Entschlossenheit aus. Er zweifelte nicht daran, daß sie ihre Drohung ausführen würden. Der Riese mit dem wildwuchernden Bart flößte ihm Furcht ein. Ihm, dem Piratenkönig von Neapel, der ohne eigenes Verschulden in diese schmähliche Lage geraten war! Oh, er würde bittere Rache dafür üben. „Wird’s bald?“ knurrte Big Old Shane grimmig. Seine Stimme war wie ein Donnergrollen aus der Tiefe seines mächtigen Brustkastens. Don Gennaro atmete tief durch. „Ich beuge mich der Gewalt“, zischte er. „Aber damit ist die Geschichte für euch noch lange nicht vorbei, das schwöre ich euch.“ Ben Brighton und Big Old Shane grinsten nur. Widerstrebend wandte sich der Schnauzbärtige dem Schanzkleid zu. Die Seewölfe, die dort mit ihren Waffen im Anschlag standen, wichen bereitwillig zur Seite. Don Gennaro beugte sich nach außenbords. „Ihr habt gehört, was die Engländer verlangen!“ rief er in seinem neapolitanischen Dialekt. „Segelt Lord Henry und den anderen entgegen. Sagt ihnen, daß sie sich sofort zurückziehen sollen. Sofort, verstanden? Sonst ist mein Leben keinen Pfifferling mehr wert. Die Kerle bringen mich glatt um. Ist das klar?“ „Si, Don Gennaro“, antwortete einer der Guappi aus dem Barchino. „Du kannst dich auf uns verlassen. Wir werden alles tun, was die Engländer verlangen.“ „Dann beeilt euch!“ schrie der Schnauzbärtige gereizt. „Faselt nicht herum!“ Zufrieden beobachteten die Männer an Bord der „Isabella“, wie der Barchino
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ablegte, Segel setzte und gleich darauf mit langen Kreuzschlägen den beiden Schaluppen entgegen glitt. Letztere waren bereits auf drei Kabellängen herangenaht. Don Gennaro wandte sich ab. Der Anblick der Pistolen, die auf ihn gerichtet waren, ließ sich immerhin besser ertragen als die Schande, deren Zeuge er gezwungenermaßen wurde. „Bill!“ brüllte Ben Brighton zum Großmars hinauf. Die Radschlol3pistole nahm er dabei nicht eine Sekunde lang aus der Visierlinie. „Sir?“ tönte Bills helle Stimme zurück. „Behalte das kleine Boot und die beiden Schaluppen genau im Auge! Melde mir jede Veränderung!“ „Aye, aye, Sir, jede Veränderung melden !“ Ben Brighton nickte dem Schnauzbärtigen mit einem kalten Lächeln zu. „Jetzt brauchen wir also nur noch abzuwarten, nicht wahr, Guilielmo? Oder wie lautet dein richtiger Name?“ „An meinen richtigen Namen werdet ihr euch bis an euer rasches Ende erinnern“, zischte Masaniello. „Ich bin Don Gennaro, der Piratenkönig von Neapel. Selbst wenn ich sterben sollte, werden meine Männer euch bis ans Ende der Welt verfolgen.“ Seine Stimme begann vor ohnmächtiger Wut zu zittern. „Ich schwöre euch, daß meine Rache euch treffen wird. Und nicht nur euch allein, sondern auch eure Kinder und Kindeskinder. Ich weiß, daß ihr Spione der spanischen Krone seid. Allein dafür verdient ihr den Tod.“ „Der nimmt den Mund reichlich voll“, bemerkte Luke Morgan abfällig. „Kinder und Kindeskinder! Wenn ich so einen Quatsch schon höre!“ „Der kennt deine Zukunft besser als du“, sagte Bob Grey feixend. „Oder er weiß, wie viele Nachkömmlinge von uns schon überall auf der Welt rumlaufen“, fügte Sam Roskill mit breitem Grinsen hinzu. Ben Brighton wischte mit der flachen Hand durch die Luft und fixierte den Schnauzbärtigen.
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„Moment mal. Wie war das eben? Spanische Spione?“ „Tu nicht so scheinheilig, Engländer!“ fauchte Don Gennaro giftig. „Ich habe von Lord Henry alles erfahren. Auch wenn es jetzt so aussieht, als ob er mich hereingelegt hat. Ihr braucht mir nicht zu erzählen, daß ihr nicht im Auftrag der Dons in ganz Europa herumschnüffelt.“ Ben Brighton schüttelte fassungslos den Kopf. Auch an den Blicken der anderen sah er, daß sie begriffen. Lord Henry hatte sich einen höchst unverschämten Trick ausgedacht. „Jetzt hör mir mal gut zu, du sauberer Piratenkönig“, sagte Ben Brighton ärgerlich. „Deine Geschichte ist die größte Verrücktheit, die mir je zu Ohren gekommen ist. Dies ist die ,Isabella VIII.’, das Schiff Philip Hasard Killigrews, den die halbe Welt als den Seewolf kennt. Wenn es Leute gibt, mit denen wir uns nie und nimmer verbünden würden, dann sind es die Spanier. Wir segeln im Auf trag Elisabeths I. Niemand beleidigt uns ungestraft, indem er uns als spanische Spione bezeichnet. Merk dir das.“ Don Gennaro runzelte die Stirn. Das haßerfüllte Funkeln schwand aus seinen Augen. Da war etwas in der Stimme dieses breitschultrigen Mannes, was ihn stutzig werden ließ –eine wilde Empörung, die im Widerspruch zu seiner sehr besonnenen Art stand. Weshalb hatte es dieser Engländer nötig, sich mit solchem Nachdruck ihm gegenüber zu verteidigen? „Einen Augenblick“, sagte Ben Brighton kurz entschlossen. „Behaltet ihn im Auge, Männer.“ Er wandte sich ab und eilte mit energischen Schritten in die Kapitänskammer. Die Seewölfe verharrten schweigend. Sie verstanden, warum der Erste sich aufregte, denn sie empfanden genauso. Was Lord Henry da in Neapel über sie verbreitet hatte, war eine Riesenschweinerei. Kurz darauf kehrte Ben Brighton mit dem von der englischen Königin ausgestellten Kaperbrief zurück und rollte ihn vor Don Gennaros Augen auseinander.
Der Piratenkönig von Neapel
„Sieh dir das genau an, falls du des Lesens mächtig bist“, knurrte Ben. „Glaubst du, die königliche Lissy würde jemandem einen solchen Brief ausstellen, auf den sie sich nicht verlassen kann?“ „Zum Teufel, nein“, entgegnete Don Gennaro verblüfft. „Langsam begreife ich, Gentlemen. Dieser saubere Lord Henry hat mir einen mächtigen Bären aufgebunden.“ Er preßte einen Moment wütend die Lippen aufeinander. „Mit dem werde ich noch ein ernstes Wörtchen reden. Darauf könnt ihr euch verlassen.“ Das Gespräch wurde jäh unterbrochen. „Deck!“ gellte Bills Stimme aus dem Großmars. „Zwei Jollen Backbord voraus! Und Steuerbord voraus - das Boot hat jetzt die Schaluppen erreicht!“ Ben Brighton verstaute die Pistole unter seinem Gurt und überzeugte sich mit dem Kieker. Hasard, Ed Carberry, Ferris Tucker und Batuti nahten völlig unbehelligt mit dem Beiboot und der größeren Jolle. Welche Fracht sie im Schlepp hatten, war nur unschwer zu erraten. Währenddessen war bei den Schaluppen wildes Gebrüll entstanden. Die scharfe Optik des Spektivs ließ für Ben Brighton klarwerden, was sich abspielte. Lord Henry, Tim Scoby und Dark Joe schrien vergeblich auf die neapolitanischen Guappi ein. Don Gennaros Leute dachten nicht im Traum daran, die Befehle der englischen Piraten auszuführen. Ohne sich um Lord Henry und seine Vertrauten zu kümmern, änderten sie den Kurs und segelten gemeinsam mit dem Barchino mit langen Kreuzschlägen ins Hafenbecken zurück. „Dein Leben ist ihnen wichtiger als alles andere, Don Gennaro“, stellte Ben Brighton schmunzelnd fest und ließ das Spektiv sinken. Der Schnauzbärtige atmete hörbar auf. „Wir haben uns gegenseitig nicht viel vorzuwerfen“, sagte er, „ich hoffe, ihr denkt daran, Engländer.“ „Wir werden es bestimmt nicht vergessen“, sagte Ben Brighton und nickte. Wenig später erreichten der Seewolf und seine drei Begleiter die „Isabella“.
Burt Frederick
Seewölfe 253 45
Alle Mann packten mit an, um die Schätze von der „Cruel Jane“ an Bord zu mannen. Lediglich Big Old Shane hielt weiterhin ein wachsames Auge auf Don Gennaro. Nachdem die Beute im Laderaum der Galeone verstaut war, klärte Ben Brighton den Seewolf mit knappen Worten über die Lage auf. Lächelnd trat Philip Hasard Killigrew auf den Piratenkönig von Neapel zu. „Bislang kannte ich nur deine Stimme, Don Gennaro“, sagte der Seewolf. „Für eine längere persönliche Bekanntschaft haben wir allerdings keine Zeit. Du kannst jetzt in dein Reich zurückkehren. Nimm das Beiboot von Lord Henry. Eine Rudermannschaft kann ich dir leider nicht zur Verfügung stellen.“
Der Piratenkönig von Neapel
„Das erwarte ich nicht“, erwiderte Gennaro Masaniello. „Für die Rechnung, die ich noch zu begleichen habe, würde ich ein paar Seemeilen allein rudern, wenn es sein müßte.“ Während Don Gennaro würdevoll die Jakobsleiter abenterte, gab Ben Brighton bereits seine Befehle. Knarrend drehte sich das Ankerspill. und dann enterten die Männer geschickt in den Wanten auf, um die Segel zu setzen. Beinahe heimlich und unbemerkt verließ die „Isabella“ den Hafen von Neapel und nahm Kurs auf die Straße von Messina. Lord Henry hatte jetzt, was er verdiente. Und zweifellos würde er noch einige Zeit in der Stadt am Vesuv verbringen müssen unfreiwillig...
ENDE