Jean-François Revel / Matthieu Ricard
Der Mönch und der Philosoph Buddhismus und Abendland
Ein Dialog zwischen Vater u...
159 downloads
1632 Views
3MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Jean-François Revel / Matthieu Ricard
Der Mönch und der Philosoph Buddhismus und Abendland
Ein Dialog zwischen Vater und Sohn
Kiepenheuer & Witsch
1. Auflage 2003 Titel der Originalausgabe: Le moine et le philosophe © b y Jean-FranÇois Revel, Matthieu Ricard et NiLeditions, Paris 1997 Aus dem Französischen von Christoph Vormweg © 1999, 2003 by Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlaggestaltung: Barbara Thoben, Köln Umschlagfoto: © photonica/Johner Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling Druck und Bindearbeiten: Clausen & Bosse, Leck ISBN 3-462-03239-9
Inhalt
9 17 40 72 103 140 173 197 215 229 242 261 273 284 292 307 325 334 337 351 375 381
Einleitung Von der wissenschaftlichen Forschung zur spirituellen Suche Religion oder Philosophie? Das Phantom in der Black box Eine Wissenschaft des Geistes? Buddhistische Metaphysik Wirkung auf die Welt, Wirkung auf sich selbst Buddhismus und Abendland Religiöse Spiritualität und laizistische Spiritualität Woher kommt die Gewalt? Weisheit, Wissenschaft und Politik Rote Fahne auf dem Dach der Welt Der Buddhismus: Niedergang und Renaissance Glaube, Ritual und Aberglaube Der Buddhismus und der Tod Das Individuum als König Buddhismus und Psychoanalyse Kulturelle Einflüsse und spirituelle Tradition Fortschritt und Neuerung Der Mönch befragt den Philosophen Fazit des Philosophen Fazit des Mönchs
Einleitung von Jean-François Revel
Wie ist die Idee zu diesem Buch entstanden? Woher kam u n s e r Bedürfnis, es zu m a c h e n ? Und w o h e r das einiger Wohlgesonnener, uns - wie m a n in der Politik sagt - freundschaftlich zu drängen, d a r a n zu denken? Wenn ich diese Einleitung allein schreibe, so aus syntaktischer Bequemlichkeit. Es ist sehr schwierig, ein Thema, für das sich zwei Personen gleichermaßen, a b e r aus unterschiedlichen Gründen interessieren, ohne schwerfällige, langwierige Umschreibungen einzugrenzen. Die komplexe, zweifache intellektuelle Realität sollen die folgenden Gespräche herausarbeiten und nach und nach ausleuchten. Wenn ich auch der Verfasser dieser Einleitung bin, so ist Matthieu doch ihr Koautor, denn wir haben vorher gemeinsam über sie gesprochen, und er hat sie noch einmal gelesen und korrigiert oder gemäß seiner Sicht der Dinge vervollständigt. Zur Vermeidung u n e r w ü n s c h t e r R e d u n d a n z e n wollen wir nicht vorwegnehmen, was in den Gesprächen ausführlich entwickelt wird, sondern n u r die beiden spirituellen und persönlichen Werdegänge resümieren, von denen der zündende Funke a u s g e g a n g e n ist. Mein Sohn Matthieu Ricard, geboren 1946, hat nach dem Besuch des Gymnasiums Janson-de-Sailly mit glänzendem Erfolg Molekularbiologie studiert. 1972 hat er sich habilitiert. Der Vorsitzende der Prüfungskommission war der weithin bekannte Nobelpreisträger Frangois Jacob, unter dessen Leitung er seine Forschungen d u r c h g e f ü h r t und etliche J a h r e am Institut Pasteur gearbeitet hatte. Danach teilte Matthieu seinem Lehrer und mir die für uns sehr beunruhigende Neuigkeit mit, daß er vorhabe, die wissenschaftliche Forschung aufzugeben und nach Asien zu gehen, um dort den Unterweisungen der buddhistischen Rinpoches aus Tibet zu folgen. 9
Eine totale V e r ä n d e r u n g seiner Existenz, die ihn dahin bringen sollte, selbst ein buddhistischer Mönch zu werden. Was mich betrifft, so hatte ich die universitäre Laufbahn eingeschlagen, mit Literatur und Philosophie als Schwerpunkt. Nach etlichen Jahren als Philosophiedozent hatte ich die Universität 1963 verlassen, um mich ganz meiner neuen Arbeit als Schriftsteller und Leitartikler zu widmen. Die Philosophie, von der mehrere meiner Bücher handeln*, gab ich deshalb aber nicht auf. Und ich habe im Gegensatz zu vielen anderen Philosophen immer großes Interesse für die Entwicklung der Wissenschaft empfunden. Daher meine Befriedigung, einen hochkarätigen Forscher als Sohn zu haben, und daher meine Enttäuschung, als ich sah, wie er seiner Arbeit nach mehr als vielversprechendem Beginn ein abruptes Ende setzte. Meine persönlichen, völlig irreligiösen, atheistischen Positionen ließen mich den Buddhismus zudem nicht sonderlich ernst nehmen, ohne daß ich ihn - das versteht sich von selbst - deshalb verachtet hätte. Denn unter den spirituellen Lehren nimmt er nun einmal einen geläuterten Platz ein, was ihm übrigens die Achtung einiger der anspruchsvollsten abendländischen Philosophen eingebracht hat. Trotz meiner vorübergehenden Verstimmung bin ich mit Matthieu daher nie »verkracht« gewesen. Wir haben nicht einmal auf gespanntem Fuß miteinander gestanden. Diesen anekdotischen Hinweis gebe ich nur, weil sich 1996 etliche Fernsehsendungen und Zeitungsartikel mit dem Buddhismus und mit Matthieu befaßten - sei es anläßlich der Veröffentlichung seines Buches über seinen spirituellen Meister Dilgo Khyentse**, sei es wegen der Frankreich-Reise des Dalai Lama, auf der er ihn begleitete - und fast überall verbreitet w u r d e , wir h ä t t e n uns seit zwanzig J a h r e n nicht gesehen und das Buchprojekt kündige unser Wiedersehen, * I n s b e s o n d e r e die Histoire de la philosophie occidentale de Thaies ä Kant ( G e s c h i c h t e d e r a b e n d l ä n d i s c h e n P h i l o s o p h i e von T h a i e s bis Kant), NiL e d i t i o n s , P a r i s 1 9 9 4 , s o w i e Pourquoi des philosophes? ( W a r u m Philosop h e n ? ) . Laffont, Bouquins 1997. ** L'Esprit du Tibet (Der Geist Tibets). Das Leben und die Welt von Khyentse Rinpoche. Photos und Text von Matthieu Ricard, Editions du Seuil, Paris 1996.
IO
um nicht zu sagen unsere Versöhnung an. Das ist frei erfunden und entspricht in keiner Weise den Tatsachen. Wir h a b e n nie aufgehört, uns zu sehen, soweit es die Entfern u n g und die Reisekosten zuließen. Bereits 1973 bin ich nach Darjeeling in Indien gereist, wo er bei seinem spirituellen Meister lebte, später dann nach Bhutan, nach Nepal etc. ... Die einzigen Unwetter, die sich je über unseren Köpfen z u s a m m e n g e b r a u t h a b e n , w a r e n die des asiatischen Monsuns. Im übrigen konnte Matthieu mit der Zeit durch die immer häufigeren Reisen im Dienste der zunehmenden Verbreitung des Buddhismus im Westen ziemlich regelmäßig n a c h Europa kommen. Als Begleiter und Dolmetscher des Dalai Lama nahm die Zahl seiner Reisen noch zu, zumal n a c h d e m dieser den Friedensnobelpreis e r h a l t e n hatte. Die Ausbreitung des Buddhismus ist das unvorhergesehene Phänomen, das mit dazu beigetragen hat, uns auf die Idee zu einem Gespräch über das Thema »Der Buddhismus und das Abendland« zu bringen. Im übrigen ist das der Titel, den wir unserem Dialog zunächst geben wollten, bis unsere Verlegerin, Nicole Lattes, einen weit besseren fand: Der Mönch und der Philosoph. Worauf beruht genau der Buddhismus? Antworten zu diesem Fragenkomplex fielen vor allem Matthieu zu. Warum gewinnt der Buddhismus heute so viele Anhänger und erregt so viel Neugier in der westlichen Welt? Das Aufstellen erklärender Hypothesen hinsichtlich dieser spirituellen Expansion k a m eher mir zu. Hat sie ihre Ursache in den jüngsten, vielleicht enttäuschenden Fortentwicklungen der abendländischen Religionen und Philosophien sowie unserer politischen Systeme? Der Inhalt unseres Meinungsaustausches - das versteht sich von selbst - bekommt seine besondere Bedeutung dadurch, daß er sich nicht zwischen einem westlichen Philosophen und einem orientalischen Weisen abspielt, sondern vielmehr zwischen einem westlichen Philosophen und einem aus dem Westen stammenden, orientalisch geschulten Mönch, der überdies von Haus aus Wissenschaftler ist, in der Lage, die beiden Kulturen durch sich und in sich 11
auf höchstem Niveau einander gegenüberzustellen. Seine wissenschaftliche Strenge hat Matthieu nämlich gewissermaßen auf das Studium der tibetischen Sprache und Tradition angewandt und die grundlegenden, alten wie modernen heiligen Texte des tibetischen Buddhismus in den letzten zwanzig Jahren zusammengestellt, ediert und übersetzt. Zumindest die noch vorhandenen Texte. Denn die chinesischen Kommunisten haben, wie jeder weiß, ganze Bibliotheken vernichtet, mitsamt den etwa sechstausend Klöstern, die sie beherbergten. Massaker und Zerstörungen b e g a n n e n 1950 mit der chinesischen Invasion in Tibet, das 1951 annektiert wurde, und verschärften sich in der Zeit der Repression nach dem niedergeschlagenen tibetischen Volksaufstand im Jahre 1959 und später während der Kulturrevolution. 1959 verließen der Dalai Lama und mehr als h u n d e r t t a u s e n d Tibeter ihr Land, um nach Indien oder in die Königreiche des Himalaya zu emigrieren, bevor sie sich über die ganze Welt zerstreuten. Der kommunistische Kolonialismus duldet keine andere Ideologie als die seine, duldet keine intellektuelle, geistige und künstlerische Freiheit. Er verwandte nicht nur eine erbarmungslose Hartnäckigkeit darauf, die natürlichen Reichtümer Tibets schamlos zu plündern, sondern auch die Kultur bis hin zur Sprache zu zerstören. Weit davon entfernt, mit der Zeit nachzulassen, ist die chinesische Auslöschung des tibetischen Volkes und seiner Kultur während der achtziger J a h r e trotz der angeblichen »Liberalisierung« unter Maos Nachfolgern fortgesetzt worden. Auch wenn es nach 1980 weiterhin Folterungen und Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren gegeben hat, so ist jedoch nicht zu leugnen, daß die Vernichtung nicht mehr zu vergleichen war mit der w ä h r e n d der sechziger und zu Beginn der siebziger Jahre, als eine Million Tibeter, ein Fünftel der Bevölkerung, ausgerottet worden sind. Die Zerstörung der Kultur geht allerdings weiter. Die Liberalisierung ist - aus Pragmatismus und im Bemühen um eine Verbesserung der materiellen Situation - auf den wirtschaftlichen Bereich beschränkt geblieben. Über diese Grenzen hinaus gibt es keine Freiheit in China, nicht einmal für die Chinesen. Die Nachfolger Maos 12
wenden in Tibet die alte Methode des stalinistischen Kolonialismus an und besiedeln die fremden Regionen mit ihren eigenen Staatsangehörigen, bis sie den Einheimischen zahlenmäßig überlegen sind. Ich kann nicht leugnen, daß meine Empörung über das Martyrium des tibetischen Volkes mit dazu beigetragen hat, mein Interesse für den Buddhismus zu verstärken. Hinzu kam noch ein anderer, offensichtlicherer Gefühlsgrund: das Wissen, daß mein Sohn ihn angenommen hatte. Ich wollte die Gründe für seine Entscheidung und ihre Folgen besser begreifen. Der chinesischen Politik habe ich 1983 in meinem Buch Comment les democraties finissent* etliche Seiten gewidmet, die zum großen Teil auf Matthieus Informationen basierten. Ich wollte den Genozid am tibetischen Volk, der seit fast drei J a h r z e h n t e n andauerte, ohne daß sich die Weltöffentlichkeit erregte oder auch nur informiert wurde, einmal detailliert beschreiben. Daß dieses kleine, isolierte, seinen großen N a c h b a r n nicht im mindesten b e d r o h e n d e , friedliebende Hirtenvolk, das sich mit einer Spiritualität identifizierte, die keinerlei Bekehrungseifer an den Tag legte, vom stalinistisch-maoistischen Marxismus zum Gegenstand eines derartigen Vernichtungsunternehmens gemacht worden war, schien mir ein Sinnbild unseres nahezu von Anfang bis Ende von der totalitären Logik durchdrungenen Jahrhunderts zu sein. Obwohl es lange schwierig war, Informationen über Tibet zu erhalten, gab es sie doch. Bereits 1959 schrieb Claude L a n z m a n n - der s p ä t e r e Regisseur von Shoah, einem der Meisterwerke des Kinos und der Geschichte unserer Zeit - im damaligen Prunkstück der anspruchsvollen französischen Frauenpresse, dem Magazin Elle, einen langen Artikel mit dem Titel »Das geheime Leben des Dalai Lama«**. Noch im selben J a h r m u ß t e dieser emigrieren, um der Versklavung, ja dem Tod zu entrinnen. In den fol* Titel d e r d e u t s c h e n A u s g a b e : So enden die Demokratien. Aus d e m F r a n z ö s i s c h e n von Ulrich F r i e d r i c h Müller. P i p e r Verlag, M ü n c h e n / Z ü r i c h 1 9 8 4 . Ü b e r s e t z t in die wichtigsten e u r o p ä i s c h e n S p r a c h e n . ** Elle, Nr. 6 9 6 , 27. April 1959.
13
genden fünfzehn bis zwanzig J a h r e n wurde die tibetische Frage jedoch u n t e r den Teppich gekehrt - a u f g r u n d der Selbstzensur eines dem maoistischen Götzendienst frönenden Westens, der der Kritik des kommunistischen China keine Aufmerksamkeit schenken wollte. Die Erinnerung an die Verbrechen der chinesisch-kommunistischen Barbarei lenkt uns keineswegs vom T h e m a der Gespräche zwischen »dem Mönch und dem Philosop h e n « ab. Der verlängerte Auslandsaufenthalt des Dalai Lama und zahlreicher a n d e r e r Lamas, spiritueller Meister und tibetischer Rinpoches ist nämlich die Ursache f ü r die verstärkte Verbreitung des Buddhismus im Westen, da er, geographisch gesehen, den Zugang der westlichen Völker zur authentischsten Unterweisung in die Lehre erleichtert hat. Einer Unterweisung, die nicht m e h r bücherbezogen, theoretisch und indirekt, sondern lebendig ist, die aus erster Hand kommt, aus der Quelle selbst, von ihren herausragenden Spendern. Die Prüfungen, die der chinesische Kommunismus auferlegt hatte, brachten a u ß e r d e m das politische Talent des Dalai Lama zum Vorschein. Um der Unterjochung seines Volkes ein Ende zu setzen, hat er China niemals andere Lösungsvorschläge unterbreitet als realistische, maßvolle und gewaltlose. Überdies zielen sie auf eine Demokratisierung Tibets ab, was dem Westen, wenn nicht sogar den Besatzern gefallen dürfte. Stets ist er mit freundlichem Scharfsinn im Kreis der Entscheidungsträger der westlichen Demokratien aufgetreten, obwohl er wußte, daß sie vor ängstlicher Unterwürfigkeit gegenüber den empfindlichen Pekinger Bürokraten wie gelähmt waren. Das Abendland hat sich den Buddhismus - einer früher weitverbreiteten Auffassung zufolge - lange als eine Weisheit der Passivität, der Untätigkeit und des »Nirvana« vorgestellt, das als Indolenz gegenüber dem Selbst definiert wurde, als eine Weisheit, die gleichgültig sei gegenüber der Verwaltung von Staat und Gesellschaft. Heute sieht man, daß dem nicht so ist. Wie die meisten abendländischen Philosophien verfügt auch der Buddhismus über eine humane, soziale und politische Dimension. 14
Das sind, kurz gefaßt, die Umstände und Motive, die Matthieu und mich dazu gebracht haben, uns gegenseitig unsere Fragen und unsere Neugier entgegenzuhalten, um die Übereinstimmungen zwischen uns auszuleuchten, ohne die Meinungsverschiedenheiten zu verschleiern. So k a m es, daß die folgenden Gespräche im Mai 1996 in Hatiban, Nepal, stattfanden, in der Abgeschiedenheit einer hoch oben auf einem Berg über Katmandu gelegenen Gegend.
15
Von der wissenschaftlichen Forschung zur spirituellen Suche JEAN-FRANgois - Ich glaube, als erstes müssen wir hervorh e b e n , d a ß die Idee zu diesem Buch w e d e r von Dir noch von mir s t a m m t . Der Vorschlag ist von Verlegern gekommen, die in Kenntnis Deines Werdegangs und u n s e r e r verwandtschaftlichen Bindung gedacht h a b e n , es sei interessant, unsere Standpunkte einander gegenüberzustellen. Ursprünglich hast Du, um das noch einmal klarzustellen, mit g l ä n z e n d e m Erfolg Biologie studiert, bist Schüler von Frangois Jacob gewesen, hast etliche J a h r e als Forscher am Institut Pasteur gearbeitet und an der naturwissenschaftlichen Fakultät von Paris vor einer Prüfungskommission mit Frangois Jacob und a n d e r e n Biologen von Rang den Grad eines habilitierten Doktors der N a t u r w i s s e n s c h a f t e n erlangt. Der Reiz u n s e r e r vielen Gespräche liegt also darin, d a ß Du j e m a n d bist, der eine e u r o p ä i s c h - a b e n d l ä n d i s c h e wissenschaftliche Ausbildung auf höchstem Niveau hat und der sich nach oder schon w ä h r e n d des Studiums dem Buddhismus, dieser aus dem Orient s t a m m e n d e n Philosophie oder Religion, zugewandt hat. Um es g e n a u zu sagen: Du hast Dich ihr nicht zugewandt, um eine existentielle Ergänzung oder einen spirituellen Zusatz zu einer n a c h westlichen Kriterien n o r m a l v e r l a u f e n e n beruflichen L a u f b a h n zu finden, sondern um Dich nach Aufgabe dieser Laufbahn voll und ganz der Praxis des Buddhismus zu widmen. Meine erste Frage ist daher: »Wann und w a r u m hat dieser Entschluß in Dir zu keimen begonnen?« M A T T H I E U - Meine wissenschaftliche Laufbahn hat ihren Ursprung in meiner Entdeckungsleidenschaft gehabt. Alles, was ich danach getan habe, stellt in keiner Weise eine Verw e r f u n g der in vielerlei Hinsicht fesselnden wissenschaftlichen Forschung dar, sondern ist das Ergebnis der Feststellung, d a ß sie u n f ä h i g ist, die g r u n d l e g e n d e n F r a g e n des 17
Daseins zu lösen. Kurz, so i n t e r e s s a n t die Wissenschaft auch ist, sie genügte nicht, um meinem Leben einen Sinn zu geben. Ich bin dahin gelangt, die Forschung, so wie ich sie erlebte, als eine endlose Verzettelung in Detailfragen anzusehen, und konnte mir nicht m e h r vorstellen, ihr mein ganzes Leben zu widmen. Ausgelöst w u r d e dieser Wandel zugleich durch ein w a c h s e n d e s Interesse am spirituellen Leben, an einer »kontemplativen Wissenschaft«. Anfangs war mir dieses Interesse nicht eindeutig bewußt, da ich vollkommen areligiös erzogen worden bin und nie praktizierender Christ war. Trotzdem empfand ich als Außenstehender eine Art Ehrfurcht, wenn ich eine Kirche betrat oder einem Geistlichen begegnete. Über die Religion selbst wußte ich aber nichts. In meiner Jugend habe ich einige Bücher über verschiedene spirituelle Traditionen gelesen. Über die Christenheit, den Hinduismus, den Sufismus, doch p a r a d o x e r w e i s e wenig über den Buddhismus, denn damals, in den sechziger Jahren, gab es kaum zuverlässige Übersetzungen buddhistischer Texte. Die wenigen vorhandenen Aufsätze und Übersetzungen spiegelten die unbeholfene und verzerrende Weise wider, in der das Abendland den Buddhismus im letzten Jahrhundert wahrgenommen hat: als eine nihilistische Philosophie, die die Gleichgültigkeit gegenüber der Welt predigt. Dank meinem Onkel, dem Seefahrer Jacques-Yves Le Toumelin, habe ich aber auch die Schriften des französischen Metaphysikers Rene Guenon entdeckt. All das hat meine intellektuelle Neugier für die Spiritualität geschürt und genährt, ohne daß diese Neugier konkrete Auswirkungen gehabt hätte. Das blieb bei mir sehr intellektuell. J. F. - In welchem Sinne intellektuell? M. - Diese sinnträchtigen L e s e e r f a h r u n g e n f ü h r t e n in meinem Fall, abgesehen von einer tiefen Befriedigung und einer Öffnung des Geistes, zu keiner inneren Wandlung. J. F. - Und in welchem Alter hast Du die Texte gelesen? M. - Oh... etwa mit fünfzehn. Ich hatte auch die gesammelten Gespräche mit R a m a n a Maharshi gelesen, einem 18
indischen Weisen, dem man nachsagte, er sei zur inneren Erkenntnis der ä u ß e r s t e n Natur des Geistes, der NichtDualität, gelangt. Doch was mein Interesse für den Buddhismus geweckt hat ... das war 1966 ... J. F. - Da warst Du zwanzig J a h r e alt. M. - Ich w a r noch an der N a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n Fakultät, kurz vor meinem Wechsel ans Institut Pasteur, als ich einem Freund, Arnaud Desjardins, beim Schnitt seiner Filme über die großen tibetischen Meister zugesehen habe, die sich nach ihrer Flucht vor der chinesischen Invasion auf die Südhänge des Himalaya zwischen Kaschmir und Bhutan zurückgezogen hatten. In Begleitung eines ausgezeichneten Beraters und Dolmetschers hatte Arnaud die Meister auf zwei Reisen über m e h r e r e Monate hinweg in ihrer vertrauten Umgebung gefilmt. Es w a r e n sehr beeindruckende Filme. Zur gleichen Zeit kam ein anderer Freund, der Arzt Leboyer, ebenfalls au£ Darjeeling zurück, wo er einigen von diesen Weisen begegnet war. Ich hatte gerade meine Halbjahresprüfung abgelegt und bis zum Beginn meiner Forschungsarbeit sechs Monate Ferien. Ich dachte daran, eine große Reise zu machen. Es w a r die Zeit der »Hippies«, die sich in ihren 2CVs oder per Anhalter über die Türkei, Iran, Afghanistan und Pakistan in Richtung Indien a u f m a c h t e n . Mich zogen die Kampfsportarten an, und ich hatte erwogen, nach J a p a n zu reisen. Aber der Anblick der Bilder, die Arnaud und Frederick Leboyer mitgebracht hatten, die wenigen Worte dieser Freunde, die Beschreibung, auf w a s sie im Himalaya gestoßen waren ... all das hat mich veranlaßt, lieber dorthin zu fahren. J. F. - Also der Film von Arnaud Desjardins. M. - Es gab verschiedene, Le Message des Tibetains (Die Botschaft der Tibeter) und Himalaya terre de serenite (Himalaya, Land der Ruhe) [darin Les Enfants de la Sagesse (Die Kinder der Weisheit) und Le Lac des Yogis (Der See der Yogis)], insgesamt vier Stunden. Man konnte in den Filmen lange die großen spirituellen Meister sehen, die gera19
de aus Tibet gekommen waren ... ihre äußere Erscheinung, die Art, wie sie redeten, wie sie unterrichteten. Das war ein lebendiges, äußerst inspirierendes Zeugnis. J. F. - Sind die Filme im Fernsehen ausgestrahlt worden? M. - Von 1966 an mehrfach, und sie sind vor kurzem als Videokassetten neu h e r a u s g e b r a c h t worden*. Es sind außergewöhnliche Dokumente. J. F. - Waren die tibetischen Meister während der Kulturrevolution geflüchtet, als sich die chinesische Repression in Tibet erneut verstärkte? M. - Tatsache ist: Wer vor ihnen fliehen konnte, hat das schon viel früher, in den fünfziger J a h r e n , getan. Nach einer Meinungsverschiedenheit hatte Tibet die diplomatischen Beziehungen zu China zwischen 1915 und 1945 praktisch abgebrochen. Tibet h a t t e eine Regierung und unterhielt Beziehungen zu verschiedenen Ländern, als China damit begann, das Land zu infiltrieren. Vertreter des chinesischen Staates k a m e n zu Besuch und b e k u n d e t e n ihre Sympathie für das tibetische Volk und seine Kultur. Sie gingen so weit, in den Klöstern Opfergaben darzubringen und den Tibetern anzubieten, bei der Modernisierung ihres Landes zu helfen usw. Doch 1949 d a n n m a r s c h i e r t e n sie von Osten her in Tibet ein, zunächst in die Kham-Region. Die Invasion war gnadenlos. Im Laufe der Jahre zeigte sich, daß sie das Zentrum Tibets erobern und die Herrschaft und den Dalai Lama unter ihre Kontrolle bringen würden. 1959 floh dieser d a h e r nach Indien. Gleich darauf w u r d e n die Grenzen geschlossen, und die e r b a r m u n g s l o s e Unterdrückung nahm ihren Anfang. Männer, Frauen und Kinder w u r d e n ins Gefängnis geworfen und in Arbeitslagern zusammengepfercht. Ob sie nun exekutiert w u r d e n oder die Folter und den Hunger in den Lagern und Gefängnissen nicht überlebten: mehr als eine Million Tibeter - ein Fünftel der Bevölkerung - sind infolge der chinesischen Invasion umgekommen. Reihenweise füllten sich riesige Massengräber. Noch vor der Kulturrevolution wurden sechstausend * Alizee Diffusion, C h e m i n du Devois, 3 0 7 0 0 St. Siffret.
20
Klöster zerstört, so gut wie alle. Die Bibliotheken w u r d e n verbrannt, die Standbilder zertrümmert, die Fresken verwüstet. J. F. - Wie?... Sechstausend! M. - Man hat s e c h s t a u s e n d e i n h u n d e r t f ü n f z i g Klöster gezählt, die dem Erdboden gleichgemacht worden sind. Und wenn m a n bedenkt, daß in Tibet die Klöster die Zentren der Kultur waren! Das erinnert an Göring, der erklärte: »Wenn ich das Wort >Kultur< höre, ziehe ich meine Pistole.« In der Menschheitsgeschichte ist es wahrscheinlich ein beispielloser Sachverhalt, daß in Tibet bis zu zwanzig Prozent der Bevölkerung in einem Orden w a r e n - Mönche, Nonnen, Eremiten, die in den Grotten ihre Zurückgezogenheit verbrachten, und Gelehrte, die in den Klöstern unterrichteten. Die spirituelle Praxis w a r u n b e s t r e i t b a r das Hauptziel des Lebens. Selbst die Laien erachteten ihre alltäglichen Verrichtungen, so notwendig sie auch waren, für zweitrangig im Vergleich zum spirituellen Dasein. Die ganze Kultur drehte sich also um das spirituelle Dasein. Folglich wurde durch die Zerstörung der Klöster, Studienzentren und Eremitagen die Seele, die Wurzel der tibetischen Kultur schlechthin vernichtet. Die Seelenstärke der Tibeter haben sie aber nicht brechen können. Anbiederung, Geld, P r o p a g a n d a , Folter und Ausrottung: die Chinesen haben alles versucht, um die geistige Haltung der Tibeter zu untergraben. Doch nichts hat ihnen etwas anhaben können. Die Hoffnung, ihre Kultur zu retten und ihre Unabhängigkeit wiederzuerlangen, besteht unvermindert. J. F. - Ich komme auf Dich zurück ... die Filme von Arnaud Desjardins. Du sagst, sie hätten einen starken persönlichen Eindruck auf Dich gehabt. Könntest Du diesen Eindruck analysieren und näher bestimmen? M. - Ich meinte, Menschen zu sehen, die das Ebenbild dessen w a r e n , was sie lehrten ... d e r a r t außerordentlich wirkten sie. Es gelang mir nicht, eindeutig zu begreifen weshalb, a b e r am meisten verblüffte mich, daß sie dem Ideal des Heiligen entsprachen, des vollkommenen Wesens, des Weisen, einer Kategorie von Menschen, die m a n im 21
Abendland offensichtlich kaum noch fand. So stellte ich mir den heiligen Franz von Assisi vor oder die großen Weisen der Antike. Doch diese Vorstellung hatte für mich ihre Aussagekraft verloren: Ich konnte mich nicht zu Sokrates aufmachen, mir keine Rede Platons anhören, mich nicht dem heiligen Franz von Assisi zu Füßen setzen! Und mit einem-mal tauchten Menschen auf, die der lebendige Ausdruck der Weisheit zu sein schienen. Und ich sagte mir: »Wenn es, menschlich gesehen, möglich ist, zur Vollkommenheit zu gelangen, dann dort.« J. F. - Was Deine Definition angeht, so wollte ich Dir sagen, daß es fast schon ein Allgemeinplatz ist, wenn man betont, die Philosophie der Antike sei charakterisiert ... durch die Übereinstimmung von Theorie und Praxis. Für den Philosophen der Antike war die Philosophie nicht bloß eine intellektuelle Schule, eine Theorie, eine Interpretation der Welt oder des Lebens. Sie war eine Seinsweise. Im All-tag wurde seine Philosophie von ihm und seinen Schülern zumindest so weit umgesetzt, wie sie in ihren Reden darüber theoretisierten. Dich hat bei den Tibetern zu Anfang eine Sichtweise überrascht, die ursprünglich auch in der abendländischen Philosophie galt. Die Philosophen spielten daher auch bis zum Ende des Römischen Reichs - vor allem zur Zeit von Mark Aurel, die Renan die »Regentschaft der Philosophen« nennt - für viele bedeutende Per-sönlichkeiten die Rolle von Vertrauenspersonen, von spirituellen Lehrmeistern, von Führern, von moralischen Stützen und erbaulichen Gefährten. Es hat diese Einstellung, sich nicht mit der Unterweisung zu begnügen, sondern durch sein Auftreten das Ebenbild dessen darzustellen, was man unterrichtet, im Abendland also gegeben. Ob sich das in der Praxis mit der wünschenswerten Vollen-dung umsetzen ließ, ist allerdings eine andere Frage ... In vielen Fällen ist diese Vorstellung von Philosophie auch mit religiösen Aspekten verknüpft. Die Philosophie der Antike verfügte meist über diese Dimension, da sie gleichermaßen eine Spielart der persönlichen Heilsfindung war. Das sieht man bei den Epikureern (obwohl das Wort 22
»epikureisch« im modernen Sprachgebrauch eine Gleichgültigkeit gegenüber jeglicher spirituellen Dimension evoziert). Es gab also immer schon diese doppelte Notwendigkeit, eine Lehre a u s z u a r b e i t e n und zugleich selbst ihre Verkörperung zu sein. Zur Zeit der antiken Philosophie gibt es demnach keinen grundlegenden Unterschied zum Orient. M. - So ist es, wenn m a n einmal davon absieht, daß die tibetischen Meister keine Lehre entwickeln, sondern die treuen und vollkommenen Verwahrer einer tausendjährigen Tradition sein wollen. Wie dem auch sei, für mich war es erleichternd zu sehen, d a ß es noch eine lebendige, zugängliche Tradition gab, die sich darbot wie ein Schaufenster schöner Dinge. Nach meiner intellektuellen Reise durch die Bücher konnte ich nun auf eine wirkliche Reise gehen. J. F. - Entschuldige, wenn ich Dich unterbreche... Was für schöne Dinge? Was hattest Du von dieser Lehre begriffen? Es genügt doch nicht, selbst eine Lehre zu verkörpern. Diese Lehre muß auch zu etwas nütze sein! M. - Ich hatte damals keine Vorstellung vom Buddhismus. Die einfache Tatsache aber, diese Weisen zu sehen, und sei es n u r das, was ein Film durchscheinen läßt, ließ mich eine zutiefst inspirierende Vollkommenheit erahnen. Aufgrund des Kontrastes wirkte das wie eine Quelle der Hoffnung. In dem Milieu, wo ich aufgewachsen bin, sind mir, dank Deiner, Philosophen, Denker und Theaterleute begegnet. Dank meiner Mutter, der Kunstmalerin Yahne Le Toumelin, habe ich Künstler und Dichter getroffen ... Andre Breton, Maurice Bejart, Pierre Soulages, dank meines Onkels, Jacques-Yves Le Toumelin, berühmte Forschungsreisende und dank Frangois Jacobs b e d e u t e n d e Wissenschaftler, die am Institut Pasteur Vorträge hielten. Ich bin also mit in vielerlei Hinsicht faszinierenden Persönlichkeiten in Kontakt gebracht worden. Das Genie jedoch, das sie in ihrer Disziplin an den Tag legten, ging nicht notwendigerweise einher mit, sagen wir, ... menschlicher Vollkommenheit. Ihr Talent, ihre intellektuellen und künstleri23
sehen Fähigkeiten m a c h t e n aus ihnen noch keine guten Menschen. Ein großer Dichter kann ein Filou sein, ein großer Wissenschaftler unglücklich mit sich selbst, ein Künstler voller Hochmut. Sämtliche Kombinationen, gute oder schlechte, sind möglich. J. F. - Übrigens erinnere ich mich, daß Du damals auch von der Musik begeistert warst, von der Astronomie, der Photographie, der Ornithologie. Du hast im Alter von zweiundzwanzig J a h r e n ein Buch ü b e r die Migrationen der Tiere* geschrieben und Dich in einer Phase Deines Lebens intensiv mit Musik beschäftigt. M. - Ja ... Ich bin Igor Strawinsky und anderen großen Musikern begegnet. Ich hatte das Glück, vielen von denen, die im Westen Bewunderung hervorrufen, zu begegnen und mir selbst einen Eindruck verschaffen und mich fragen zu können: »Ist es das, wonach ich trachte? Will ich so werden wie sie?« Ich hatte das Gefühl, nicht auf meine Kosten zu kommen, denn trotz meiner B e w u n d e r u n g entging mir nicht, d a ß das Genie, das diese Menschen in einem bestimmten Bereich zum Ausdruck b r a c h t e n , nicht einherging mit den einfachsten menschlichen Tugenden wie Uneigennützigkeit, Güte oder Aufrichtigkeit. Diese Filme, diese Photographien ließen mich dagegen etwas D a r ü b e r h i n ausgehendes entdecken, das mich zu den tibetischen Meistern hinzog. Ihre Lebensweise schien das Abbild dessen zu sein, was sie lehrten. Also bin ich aufgebrochen, um es zu erkunden ... Christian Bruyat, ein a n d e r e r F r e u n d , der damals die Aufnahmeprüfung für die Ecole Normale vorbereitete, hat genauso reagiert, als er im Radio die letzten Worte einer Sendung von Arnaud Desjardins hörte, wo er im wesentlichen sagte: »Ich glaube, die letzten großen Weisen, lebendige Beispiele der Spiritualität, sind die tibetischen Meister, die sich in den Himalaya von Indien geflüchtet haben.« In dem Moment hat auch er sich zu dieser Reise entschlossen. * Les migrations animales. Robort Laffont, Paris 1968. L n g l i s c h s p r a e h i g e A u s g a b e : Animal Migrations. Hill a n d Wang, New York 1970, sowie: Constable, London 1970.
24
Ich bin also mit einem Billigflug nach Indien aufgebrochen. Ich sprach so gut wie kein Englisch! Du hattest es für wichtiger befunden, daß ich Deutsch, Griechisch und Latein lerne, Sprachen, die schwieriger sind als das Englische, das sich aber, wie Du mir sagtest, wie von selbst lernen ließ. Was sich bewahrheitet hat ... doch mittlerweile habe ich das Deutsche und den Rest vergessen! Ich bin in Delhi mit einem kleinen Handwörterbuch angekommen und hatte die größte Mühe, mich durchzuschlagen, ein Eisenbahnticket nach Darjeeling zu kaufen und vor den schönsten Gipfeln des Himalaya anzukommen. Ich wandte mich an die Adresse eines Jesuitenpaters, dem Doktor Leboyer Geld anvertraut hatte, um für den Unterhalt von Kangyour Rinpoche zu sorgen, einem großen tibetischen Meister, der einige J a h r e zuvor nach Indien gekommen war. Damals lebte er mit seiner Familie in größter Armut in einem Holzhäuschen, mit all den Büchern, die er aus Tibet hinübergerettet hatte. Der Zufall wollte es so, daß der Sohn des Meisters am Tag nach meiner Ankunft zur Mission kam, um die kleine monatliche Unterstützung entgegenzunehmen. Es war also der Sohn von Kangyour Rinpoche, der mich zu seinem Vater brachte. Drei Wochen lang blieb ich bei ihm ... Das war sehr beeindruckend. Der Siebzigjährige lehnte, strahlend vor Güte, mit dem Rücken an einem Fenster, hinter dem sich das Wolkenmeer erstreckte, aus dem der Kangc h e n j u n g a mit seiner Höhe von m e h r als a c h t t a u s e n d Metern majestätisch emporragte ... Ich saß ihm den ganzen Tag gegenüber und hatte den Eindruck, das zu tun, was die Leute »meditieren« nennen, das heißt mich einfach in sein e r Gegenwart innerlich zu sammeln. Unterweisende Worte erhielt ich nur wenige, fast keine. Sein Sohn sprach Englisch, ich so gut wie nicht. Es w a r e n seine Persönlichkeit und sein Wesen, die mich beeindruckten ... die Tiefe, die Kraft, die Ruhe und die Liebe, die von ihm ausgingen und meinen Geist öffneten. Dann bin ich nach Kaschmir weitergereist, bin in Indien an Typhus erkrankt und habe die Heimreise angetreten ... Beim Zwischenstopp in Damaskus bin ich aus dem Flug25
zeug gestiegen und habe mir gesagt, daß es zu dumm wäre, diese Länder nicht alle zu sehen, und so bin ich mit Zug und Auto weitergereist. Ich habe das Grab des großen heiligen Sufi Ibn Arabi besucht, den Krak des Chevaliers, die Moscheen von Istanbul. Beendet habe ich meine Reise per Anhalter in der Abtei von Tournus, wo ich mich in der Kühle des stillen, einsamen Klosters innerlich sammelte, w ä h r e n d draußen die Heimkehrer aus den Sommerferien die Straßen verstopften. Von dort habe ich erschöpft den Zug nach Paris genommen. Die Reise hinterließ also eine schwere körperliche Erschütterung und eine große innere Entdeckung. Erst nach der Rückkehr aus Indien - während meines ersten J a h r e s am Institut Pasteur - ist mir klargeworden, welche Bedeutung die Begegnung mit meinem Meister gehabt hatte. Ständig dachte ich an seine Vorzüge. Mir w u r d e bewußt, daß es dort eine Realität gab, die imstande war, mein Dasein zu inspirieren und ihm einen Sinn zu geben, selbst wenn ich sie noch nicht in Worte fassen konnte. J. F. - Diese bedeutende Wandlung - um nicht voreilig das Wort »Bekehrung« zu b e n u t z e n - w u r d e also nicht durch eine Vertiefung der intellektuellen, die Lehre betreffenden, philosophischen Kenntnis der buddhistischen Texte ausgelöst, sondern anfänglich in erster Linie durch einen persönlichen Kontakt. M. - Genau. Das Studium der Lehre kam erst später. J. F. - Fuhren damals nicht viele junge Leute aus dem Westen, Europäer wie Amerikaner, in Indien herum? M. - Es war ein Jahr vor dem Mai 68. Diese jungen Leute suchten etwas, das a n d e r s war, r a u c h t e n M a r i h u a n a ... Manche widmeten sich der spirituellen Suche und besuchten die hinduistischen Ashrams, a n d e r e erforschten die Berge des Himalaya. Alle w a r e n auf der Suche, mal hier, mal dort. Oft tauschten sie Gedanken und Informationen aus: »Diese b e m e r k e n s w e r t e Persönlichkeit ist mir an jenem Ort begegnet ... Jene wundervolle Landschaft habe ich in Sikkim gesehen ... Diesen Meister der Musik habe ich in Benares getroffen, jenen Yogameister im Süden Indiens« 26
etc. Damals stellte m a n die Dinge in Frage, man forschte nicht nur in Büchern, sondern in der Realität. J. F. - Sind von den jungen Leuten aus dem Westen, die eine neue Spiritualität suchten, viele nach Darjeeling aufgebrochen? M. - Damals nur sehr wenige. In den sechziger und siebziger J a h r e n vielleicht ein p a a r Dutzend. Im Laufe der Zeit hat das Interesse an den tibetischen Meistern und ihren Unterweisungen zugenommen. 1971 haben die ersten tibetischen Meister den Westen bereist - Frankreich, Amerika. Nach und nach haben erst einige Hunderte, dann Tausende mit ihnen studiert. Viele verbrachten J a h r e bei den tibetischen Meistern in den Bergen des Himalaya oder suchten sie regelmäßig auf. Um auf die Frage z u r ü c k z u k o m m e n , die Du vorher gestellt hast: Mein Interesse gründete also nicht auf dem Studium des Buddhismus. Weder auf meiner ersten Reise noch auf den zwei oder drei folgenden war das im übrigen so. Ich kehrte nach Indien zurück, um meinen neuen Meister wiederzutreffen. Von ihm erhielt ich zwar essentielle spirituelle Instruktionen, doch niemals fortgesetzten Unterricht in Buddhismus. Mir hat er gesagt: »Es gibt viele interessante Dinge im Buddhismus, aber man muß vermeiden, sich in einem rein theoretischen oder b ü c h e r b e z o g e n e n Studium zu verlieren. Sonst läuft man Gefahr, darüber die spirituelle Praxis zu vergessen, die der Kern des Buddhismus und jeder inneren Wandlung ist.« In seiner Gegenwart hatte ich intuitiv eines der Fundamente im Verhältnis von Lehrer und Schüler erkannt: das In-Einklang-Bringen des eigenen Geistes mit dem des Lehrers. Man nennt das »seinen Geist mit dem des Lehrers verschmelzen«, wobei der Geist des Lehrers das »Wissen« ist und der unsrige die Verwirrung. Es geht also darum, durch die »spirituelle Vereinigung« von der Verwirrung zur Erkenntnis zu gelangen. Dieser rein kontemplative Schritt stellt einen der wesentlichen Punkte in der Praxis des tibetischen Buddhismus dar. J. F. - Was Du Erkenntnis nennst, ist aber doch ... die Initiation in eine religiöse Lehre. 27
M. - Nein, das ist das Ergebnis einer inneren Wandlung. Als Erkenntnis bezeichnet m a n im Buddhismus die Erhellung der Natur der Erscheinungswelt, der Natur des Geistes. Was sind wir? Was ist die Welt? Letztlich ist das allem voran eine direkte Kontemplation der absoluten Wahrheit, jenseits der Begriffe. Das ist Erkenntnis in ihrem grundlegendsten Aspekt. J. F. - Also die philosophische Frage schlechthin? M. - Genau! J. F. - Die Frage der Philosophie bis zum Aufkommen der Naturwissenschaft. Bis dahin gab die Philosophie noch vor, sich in allem auszukennen. Denn die Philosophien der Antike bis hin zur Entstehung der m o d e r n e n Physik im 17. J a h r h u n d e r t schlössen die Kenntnis der materiellen Welt mit ein, die Kenntnis der lebendigen Welt, die Moral, die Kenntnis des Menschen, des Jenseits und der Gottheit, sei es, daß diese Gottheit wie bei Aristoteles personalisiert war, sei es, daß sie, wie bei den Stoikern oder bei Spinoza, die Natur selbst war. Eine solche vollständige Lehre der Wirklichkeit als Ganzes hat m a n seither aber nicht m e h r e r n s t h a f t f ü r realisierbar erachtet. Wir w e r d e n d a r a u f zurückkommen. Andererseits steckt im Wort »Erkenntnis« ein weiterer Gesichtspunkt. Ich würde ihn die sokratische Haltung nennen. Für Sokrates ist die Weisheit Folge des Wissens. Für ihn gibt es weder eine instinktive Weisheit noch eine instinktive Moral. Alles g r ü n d e t in der Erkenntnis. Beide gehen also auf das Wissen zurück. Die antiken Philosophien waren Philosophien, wo der Zugang zu einer bestimmten Form von Weisheit und Glück, zu dem, was m a n »das höchste Gut« nannte - das heißt der Weg hin zu einer Art von vollständigem Gleichgewicht, indem m a n sich mit der Tugendhaftigkeit gegenüber den anderen und mit dem eigenen Glück identifizierte -, von wissenschaftlicher Erkenntnis abhing, von dem, w a s m a n in der Antike als wissenschaftliche Erkenntnis ansah. Hat das nicht auch ein wenig den Buddhismus charakterisiert, als Du ihn entdeckt hast? Als Dir Dein Meister sagte: Erkenntnis heißt, dem äußersten Wesen 28
der Dinge auf den Grund zu gehen. Eine solche Erkenntnis ist ein umfangreiches Programm, wenn ich so sagen darf! Denn das setzt die Kenntnis sämtlicher Erscheinungen der äußeren Welt, deiner Selbst und möglicherweise des Übernatürlichen voraus. M. - Der Buddhismus schließt das Studium der althergebrachten Wissenschaften wahrlich mit ein: so das Studium der Medizin, der Sprachen, der Grammatik und der Dichtung, das Studium der B e r e c h n u n g e n in der Astronomie (vor allem der Sonnen- und Mondfinsternis) und der Astrologie sowie das des Handwerks und der Künste. Die tibetische Medizin, die auf Pflanzen und Mineralien a u f b a u t , erfordert jahrelange Studien, und die tibetischen Chirurgen waren, wie es heißt, in der Lage, den grauen Star mit einem goldenen Skalpell zu operieren, auch wenn diese Operation heute in Vergessenheit geraten ist. Die »Haupt«-Wissenschaft ist jedoch die Erkenntnis des Selbst und der Wirklichkeit unter der grundlegenden Fragestellung: »Was ist das Wesen der Erscheinungswelt, des Denkens?« Praktisch gesehen heißt das: »Was sind die Schlüssel zu Glück und Leid? Woher kommt das Leid? Was ist das Nicht-Wissen? Was bedeutet spirituelle Verwirklichung? Was ist Vollkommenheit?« Diese Art von Entdeckungen k a n n m a n als Erkenntnis bezeichnen. J. F. - Ist die Ausgangsmotivation, dem Leid zu entgehen? M. - Leiden ist eine Folge des Nicht-Wissens. Also muß das Nicht-Wissen beseitigt werden. Nicht-Wissen bedeutet in der Essenz Festhalten am »Ich« und an der Beständigkeit der Erscheinungen. Es ist eine Pflicht, die unmittelbaren Leiden der anderen zu mildern, doch das genügt nicht: Man muß die Ursachen des Leids beheben. Aber ich sage noch einmal, daß mir das alles nicht klar war. Ich sagte mir: »Es gibt keinen Rauch ohne Feuer. Wenn ich meinen Meister ansehe, seine physische Erscheinung, die Art, wie er redet, wie er handelt, was er ist ..., so vermittelt mir das die tiefe Überzeugung, daß es da etwas Wesentliches gibt, das ich vertiefen möchte. Es gibt dort eine Quelle der Inspiration, der Gewißheit, eine Vollkommenheit, die ich mir aneignen 29
will.« Im Verlauf meiner Reisen - ich bin fünf- oder sechsmal nach Indien gefahren, bevor ich mich dort niedergelassen habe - ist mir klargeworden, daß ich das Institut Pasteur, das mein Leben in Europa darstellte, in Gegenwart meines Meisters rasch vergaß, w ä h r e n d meine Gedanken im Institut Pasteur immer in die Berge des Himalaya abdrifteten. Also habe ich die nie bereute Entscheidung getroffen, mich dort aufzuhalten, wo ich sein wollte! Damals hatte ich meine Habilitationsarbeit abgeschlossen, und Professor Jacob dachte daran, mich in die Vereinigten Staaten zu schicken, damit ich die Arbeit an einem neuen Forschungsprojekt aufnähme. So wie viele Forscher j e n e r Zeit hatte er sich nach dem Studium der Bakterien den tierischen Zellen zugewandt, weil das ein umfangreicheres Forschungsfeld war, das die Entwicklung der Zellularbiologie beträchtlich voranbrachte. Ich habe mir gesagt, daß ich ein Kapitel abgeschlossen hatte. Über meine fünfj ä h r i g e Forschungsarbeit hatte ich Artikel veröffentlicht und so die Investitionen meiner Familie in meine Ausbildung und die von Frangois Jacob, der mich in sein Laboratorium aufgenommen hatte, also nicht vertan ... Jedenfalls w a r es ein Wendepunkt in meiner Forschungsarbeit ... Ich konnte mich f ü r einen a n d e r e n Weg entscheiden, ohne etwas zu zerstören, ohne j e n e zu e n t t ä u s c h e n , die mir geholfen hatten, mich zu habilitieren. Mit ruhigem Gewissen konnte ich nun meine persönlichen Ziele verwirklichen. Im übrigen hatte mir mein Meister Kangyour Rinpoche immer gesagt, ich solle das begonnene Studium zu Ende führen. Also habe ich nichts überstürzt und mehrere Jahre, von 1967 bis 1972, gewartet, bevor ich mich im Himalaya niederließ. Erst d a n n h a b e ich meinen Entschluß gefaßt und Frangois Jacob und Dir meinen Wunsch mitgeteilt, in den Himalaya und nicht nach Amerika zu gehen. Es ist mir klargeworden, daß es wirklich das war, was ich tun wollte, und daß es besser wäre, es in jungen Jahren zu tun, als mit fünfzig zu bedauern, diesen Weg nicht gewählt zu haben. J. F. - Vereinbar schien Dir beides nicht? M. - Eine grundlegende Unvereinbarkeit von Wissen30
schaft und spirituellem Dasein gibt es nicht, doch das eine schien mir wichtiger als das a n d e r e . In der Praxis k a n n m a n nicht zwischen zwei Stühlen sitzen bleiben oder mit einer Nadel nähen, die zwei Spitzen hat. Ich hatte kein Verlangen mehr, meine Zeit zu teilen, ich wollte sie allein dem widmen, was mir am wesentlichsten erschien. Später ist mir k l a r g e w o r d e n , daß meine wissenschaftliche Ausbildung, vor allem in ihrem Streben nach Gewissenhaftigkeit, sehr gut vereinbar war mit der Annäherung an die buddhistische Metaphysik und Praxis. Außerdem ist das kontemplative Dasein für mich eine echte Wissenschaft des Geistes mit seinen Methoden und seinen Ergebnissen. Es geht wirklich darum, sich zu verändern, nicht bloß darum, zu träumen oder Maulaffen feilzuhalten. In den fünfundzwanzig J a h r e n danach habe ich mit der wissenschaftlichen Geisteshaltung, so wie ich sie verstehe, das heißt mit der Suche nach Wahrheit, nie Probleme gehabt. J. F. - Gut... Ich verstehe wohl, daß Du bei Deinen Nachforschungen zur Philosophie und Geschichte des Buddhismus, zu Texten etc. dieselbe Strenge hast walten lassen wie zuvor auch. Doch die molekularbiologische Forschung hat in den letzten dreißig J a h r e n mit zu den wichtigsten Entdeckungen der Geschichte der Wissenschaft beigetragen. Du hast keinen Anteil d a r a n . Du h ä t t e s t ihn aber h a b e n können. M. - Die Biologie entwickelt sich ohne mich genauso gut. An Forschern mangelt es nicht auf der Welt. Für mich war die eigentliche Frage, mein Dasein hierarchisch nach Prioritäten zu ordnen. Ich hatte zunehmend den Eindruck, das menschliche Lebenspotential nicht optimal zu nutzen, mein Leben von Tag zu Tag verfallen zu lassen. Für mich war die Masse der wissenschaftlichen Erkenntnisse »ein wichtiger Beitrag zu untergeordneten Bedürfnissen« geworden. J. F. - Was Du in der Folgezeit getan hast, hat Dir erlaubt, eine jahrhundertealte Lehre zu vertiefen, nicht aber, neue Erkenntnisse beizusteuern, wie es Deine Mitarbeit in der Molekularbiologie getan hätte. Im übrigen sage ich nicht, daß man unbedingt neue Entdeckungen machen muß, um 3i
sein Leben erfolgreich zu gestalten. Ich sage nur, daß Du auf dem erreichten Niveau - Deine Habilitation w a r zugleich ein Abschluß und der Ausgangspunkt für bedeutendere Forschungen - über alle Voraussetzungen verfügt hast, um an einem der außergewöhnlichsten intellektuellen und wissenschaftlichen A b e n t e u e r der Menschheitsgeschichte teilzunehmen. Die jüngsten Entdeckungen in der Molekularbiologie bezeugen das. M. - Vorsicht, was den Buddhismus betrifft, ging es nicht darum, den Staub einer alten, überholten Lehre aufzuwirbeln. Sofern die spirituelle Suche ihren Ausdruck in einer wirklichen inneren Wandlung findet, ist sie eine ungeheuer lebendige Suche von einer Reinheit, die sich ständig erneuert. Eine metaphysische Tradition wie der Buddhismus kann nicht »altern«, da sie sich den grundlegendsten Fragen des Lebens widmet. Die Geschichte hat gezeigt, daß es viel öfter die wissenschaftlichen Theorien sind, die auf natürliche Weise veralten und ständig von anderen ersetzt werden. J. F. - Ja, aber sie w e r d e n aus guten Gründen durch a n d e r e ersetzt: weil das Wissen zunimmt, weil m a n neue Tatsachen beobachtet, weil die Erfahrung Hypothesen entkräftet. M. - Es stimmt, daß die Biologie und die theoretische Physik erstaunliche Erkenntnisse über den Ursprung des Lebens und die Entstehung des Universums ermöglicht haben. Doch können diese Erkenntnisse die grundlegenden Mechanismen von Glück und Leid erhellen? Man darf die Ziele, die man sich setzt, nicht aus den Augen verlieren. Es ist ein unbestreitbarer Fortschritt, die Form und die exakten Ausmaße der Erde zu kennen. Ob sie nun rund oder flach ist, ändert aber nicht viel am Sinn des Lebens. Was auch immer die Fortschritte der Medizin sein mögen: die Leiden, die fortwährend auftauchen und ihren Höhepunkt im Tod erreichen, kann sie nur vorübergehend lindern. Ein Konflikt, ein Krieg läßt sich beilegen, doch es wird zu anderen kommen, wenn sich die Geisteshaltung der Menschen nicht ändert. Gibt es kein Mittel, einen inneren Frieden zu 32
finden, der nicht von der Gesundheit, der Macht, dem Erfolg, dem Geld und den S i n n e s f r e u d e n a b h ä n g t , einen inneren Frieden, der Quelle des äußeren Friedens w ä r e ? J. F. - Ich verstehe das wohl, aber ich sehe nicht, worin die Unvereinbarkeit der beiden Wege liegt. Die Biologie, die Naturwissenschaft, im vorliegenden Fall die Molekularbiologie liefern Heilmittel gegen Krankheiten und tragen folglich dazu bei, die menschlichen Leiden zu verringern. Und die intellektuelle Befriedigung, die grundlegenden Mechanismen des Lebens aufzuspüren, ist eine selbstlose Befriedigung. Hast Du nie d a r a n gedacht, diese beiden Aspekte Deiner Anliegen zu kombinieren? M. - Der Buddhismus stellt sich nicht gegen die Wissenschaft. Er b e t r a c h t e t sie als eine wichtige, aber partielle Vorstellung von Erkenntnis. Daher empfand ich nicht das Bedürfnis, ihr dieselben A n s t r e n g u n g e n zu widmen und mein Leben zu teilen. Ich fühlte mich ein wenig wie ein Vogel im Käfig und hatte nur einen Gedanken: »Freiheit!« J. F. - Hältst Du Dich in bezug auf die Wissenschaft auf dem laufenden? M. - Die Entdeckungen in der Biologie verfolge ich weiter, mit um so größerem Interesse, als ich meine Tage nicht m e h r - wie w ä h r e n d meiner f ü n f j ä h r i g e n Forschungsarbeit - damit zubringe, die genetische Struktur des Chromosoms einer Bakterie festzustellen. Die Ergebnisse der Recherchen, die Tausende von Forschern im Laufe der J a h r z e h n t e gesammelt h a b e n , sind im ganzen gesehen gewiß fesselnd. Doch das Leben eines Forschers besteht oft darin, ü b e r J a h r e hinweg n u r einen ganz bestimmten Aspekt zu studieren, den Baustein eines Puzzles, das erst zusammengesetzt ein klares Bild des physikalischen oder biologischen Phänomens gibt. Der Durchschnittsforscher empfindet zuweilen ein Gefühl der Frustration, wenn große Anstrengungen nur zu unbedeutenden Ergebnissen führen. Natürlich kommt es vor, daß ein Forscher eine wichtige Entdeckung macht, zum Beispiel die der DNS-Struktur ... J. F. - Der Doppel-Helix ... M. - ... die ihn für seine Mühen in hohem Maße entschä33
digt. Doch das ist die Ausnahme, und mein Interesse an der wissenschaftlichen Forschung war nicht vergleichbar mit dem an der spirituellen Suche, die Befriedigung verschafft, f o r t w ä h r e n d e Freude - m a n h a t das Gefühl, ein Pfeil zu sein, der geradewegs auf sein Ziel zufliegt: Jeder Augenblick ist kostbar, auf die bestmögliche Art genutzt. J. F. - Was hast Du danach gemacht? M. - Sieben J a h r e lang h a b e ich Darjeeling nicht verlassen. Bei meinem Meister Kangyour Rinpoche habe ich bis zu seinem Tod im Jahre 1975 gelebt. Anschließend habe ich in einer kleinen Eremitage oberhalb des Klosters weiterpraktiziert. In dieser Zeit bin ich meinem zweiten Meister Dilgo Khyentse Rinpoche begegnet, der angereist war, um die Bestattungsriten für Kangyour Rinpoche abzuhalten. Ein J a h r h a b e ich auch in Delhi verbracht, um etwa fünfzig Bände mit sehr seltenen tibetischen Manuskripten zu vervielfältigen und zu drucken. Als Freunde von mir im Begriff w a r e n , die traditionelle dreijährige Zurückgezogenheit in der Dordogne a u f z u n e h m e n , habe ich Khyentse Rinpoche gefragt, ob ich mich ihnen anschließen solle. Er antwortete mir: »Solange ich am Leben bin, bleib bei mir, um zu lernen.« So habe ich zwölf J a h r e an seiner Seite verbracht, seine Unterweisungen gehört, ihm gedient und ihn auf seinen Reisen begleitet. 1979 bin ich Mönch geworden. Die J a h r e in seiner Gegenwart boten die beste Zurückgezogenheit und Unterweisung, die mir zuteil werden konnten, unvergeßliche Jahre, in denen ich eine innere Gewißheit erlangt habe, die mir nichts und niemand mehr entreißen kann. J. F. - Du hast auch in Bhutan gelebt. Aber hast Du Tibet kennengelernt? M. - Bhutan ist ein gebirgiges Königreich, das seit dem 8. Jahrhundert, als dort der Buddhismus eingeführt wurde, von Invasionen verschont geblieben ist. Die buddhistische Kultur hat sich so ohne Hindernisse ausbreiten können, und ihre Werte sind tief in der Geisteshaltung seiner Bewohner verankert. Nach seiner Flucht vor den chinesischen Besatzern Tibets w u r d e Khyentse Rinpoche in Bhutan der vom König bis zum untertänigsten Bauern am meisten verehrte 34
buddhistische Meister. Für mich war es also ein Privileg, in diesem Land zu leben. Ich hatte auch das Glück, Khyentse Rinpoche dreimal nach Tibet zu begleiten. Von seinem Kloster w a r e n n u r Ruinen übriggeblieben, doch für die Überlebenden, die oft genug f ü n f z e h n oder zwanzig J a h r e im Gefängnis verbracht hatten,war die Rückkehr von Khyentse Rinpoche nach dreißig J a h r e n Exil wie die Sonne, die nach einer langen, finsteren Nacht plötzlich aufgeht. Trotz der Tragödie, die sich dort weiterhin abspielt, bleibt Tibet ein außergewöhnliches, für das kontemplative Dasein ungemein günstiges Land. Ich w e r d e die Befragung jetzt gewissermaßen umkehren. Du hast mich meinen Werdegang beschreiben und erläutern lassen und wirst mich sicher noch einmal darauf ansprechen. Doch welchen Weg bist Du selbst gegangen? Was hat Dich dieses Gespräch wünschen lassen? J. F. - Ein Weg wie Deiner m a c h t natürlich neugierig, weil er einen radikalen Bruch mit dem voraussetzt, was durch Dein Leben, Deine Ausbildung und Deine kulturelle Zugehörigkeit vorgezeichnet zu sein schien. Mein Werdegang ist weitaus klassischer, auch wenn ich innerhalb mein e r Kultur und im Verhältnis zu meiner u r s p r ü n g l i c h e n Ausbildung ebenfalls eine Art f o r t w ä h r e n d e n Bruch mit den vorherrschenden Strömungen meiner Generation vollf ü h r t habe, eine Art Rebellion gegen das konventionelle Denken meiner Umgebung. Doch, wie gesagt, nur im Rahmen meiner eigenen Kultur. M. - Was hat den Wunsch in Dir geweckt, mit dem Vertreter einer anderen Kultur, der ich geworden bin, zu diskutieren? J. F. - Zunächst einmal ist es eine andere und doch dieselbe Kultur. Die Philosophien des Fernen Ostens gehören zum allgemeinen Kulturerbe - so bedauerlich es auch ist, d a ß sie bei uns a u ß e r h a l b der Spezialistenkreise nicht genug studiert werden. Wenn ich über das Motiv nachdenke, w a r u m ich mich als Neunzehnjähriger zu Beginn des Studiums der Philosophie zuwandte und nicht der Literatur oder der Geschichte, woran ich so viel Gefallen fand, dann 35
deshalb, weil mir die Philosophie imstande zu sein schien, den Schlüssel zu einem Wissen zu liefern, das jedem anderen Wissen übergeordnet war, eingeschlossen dem der Liter a t u r und der Geschichte, ja selbst dem der Naturwissenschaft. Den Schlüssel zu einem Wissen, das gleichzeitig eine Weisheit war, das heißt eine Lebenskunst in Verbindung mit einer Moral. M. - Und die abendländische Philosophie hat Dir diesen Schlüssel nicht verschafft? J. F. - Ganz so w ü r d e ich es nicht a u s d r ü c k e n . Eher w ü r d e ich sagen, sie h a t ihre Aufgabe, wie mir scheint, absichtlich verraten, vor allem seit Beginn des 19. J a h r hunderts. Zu dieser Schlußfolgerung kam ich natürlich erst, nachdem ich mich etliche Jahre direkt mit den Texten auseinandergesetzt hatte, wobei ich die ultimativen Aufforderungen der konformistischen Vulgata, sofern sie »neuinterpretierend« war, auf Distanz hielt. Meine Ansicht brachte mich schließlich dazu, mein erstes Buch Pourquoi des philosophes? (Wozu Philosophen?) zu schreiben, das 1957 erschien. Es w a r ein Erfolg oder traf jedenfalls auf eine Resonanz, die mich selbst überraschte. Das Aufsehen, das es erregte, war sicher nicht nur zustimmend, im Gegenteil: Das beleidigte Gezeter des philosophischen Klüngels w a r o h r e n b e t ä u b e n d . Das A u s m a ß der Kontroverse zwang mich, auf sie einzugehen und meinen W i d e r s a c h e r n in einer 1962 erschienenen Fortsetzung von Pourquoi des philosophes? zu antworten. Sie t r u g den Titel Cabale des devots (Kabale der Frömmler). M. - Danach hat man Dich aber vor allem als politischen Schriftsteller kennengelernt. Wie erklärst Du diese Wandlung? J. F. - Das w a r keine Wandlung, denn die politische Reflexion ist immer ein Zweig der Philosophie gewesen. Ich werde hier aber nicht mein ganzes Leben erzählen, zumal ich gerade meine Autobiographie* veröffentlicht habe. Die * Le voleur dans la maison vide (Der Dieb im l e e r e n Haus). Plön, P a r i s 1997.
36
politische Theorie hat nicht n u r stets zur Philosophie gehört, sondern sie ist seit dem 18. und besonders seit dem 19. J a h r h u n d e r t zum Kernpunkt der Moral geworden. Denn die Leitvorstellung des Jahrhunderts der Aufklärung und später dann des »wissenschaftlichen« Sozialismus von Marx und Lenin war, daß die Allianz von Glück und Gerechtigkeit nicht durch eine individuelle Suche nach Weisheit verwirklicht w e r d e n könne, s o n d e r n n u r durch eine Erneuerung der ganzen Gesellschaft. Um eine neue Gesellschaft zu erschaffen, mußte man die alte zuerst völlig zerstören. So bekommt der Begriff der Revolution Ende des 18. Jahrhunderts seine moderne Bedeutung. Das persönliche Wohl ist fortan dem kollektiven Wohl untergeordnet. In unseren folgenden Gesprächen werden wir dieses grundlegende Thema wohl noch n ä h e r ausführen. Im Augenblick soll der Hinweis genügen, daß ich das unwiderrufliche Scheitern dieser Illusion, die die Mutter der großen Totalit a r i s m e n war, die u n s e r 20. J a h r h u n d e r t heimgesucht haben, etwa 1965,1970 festzustellen meinte. Um das kundzutun, schrieb ich 1970 mein erstes allgemeines politisches Werk (zuvor hatte ich zwei oder drei andere veröffentlicht, die a b e r hauptsächlich F r a n k r e i c h betrafen). Es hieß Ni Marx ni Jesus*, ein Titel, der eine doppelte Absage enthielt: an den politischen Totalitarismus und an den religiösen Totalitarismus. Das Buch rief eine gewisse Überraschung hervor, weil ich b e h a u p t e t e , die w a h r e Revolution des 20. J a h r h u n d e r t s würde letzten Endes die liberale Revolution sein und nicht die mittlerweile gescheiterte sozialistische. Es wurde ein Welterfolg. In den Vereinigten Staaten blieb es fast ein J a h r auf der Bestsellerliste (weil ich die amerikanische »offene Gesellschaft« gegen die sozialistische oder faschistische »geschlossene Gesellschaft« verteidigte). Es wurde in fünfzehn oder mehr Sprachen übersetzt. Ich habe sogar ein Exemplar auf madagassisch! M. - Ist es nicht der Erfolg Deiner Bücher gewesen, der * Titel d e r d e u t s c h e n A u s g a b e : Die Revolution kommt aus Amerika. Aus d e m F r a n z ö s i s c h e n von M a r g a r e t Carroux. H o f f m a n n & C a m p e . H a m b u r g 1971.
37
Dich von der eigentlichen Philosophie entfernt und in die Rolle des politischen Schriftstellers und Leitartiklers großer Zeitungen gedrängt hat? J. F. - Ich h a b e mich nicht von ihr entfernt. So wie Ni Marx ni Jesus w e r f e n auch meine wichtigsten s p ä t e r e n Werke Fragen auf, die in der menschlichen Natur selbst verankert sind, zeitlose Fragen, selbst wenn ich sie anhand zeitgenössischer Beispiele darlege, aber nicht nur. Im Mittelpunkt von La Tentation totalitaire* steht die Frage: Gibt es im Menschen ein heimliches Verlangen nach politischer und intellektueller Sklaverei, ein um so perverseres Verlangen, da es sich als Freiheitssuche drapiert? Anderes Beispiel: La connaissance inutile (Das nutzlose Wissen, 1988) hat folgendes Rätsel als Ausgangspunkt: Wie kommt es, daß das Menschengeschlecht nicht n u r heute, sondern immer schon b e w u ß t die v e r f ü g b a r e n Informationen ignoriert, durch die es sich bestimmte Katastrophen ersparen könnte? Warum stürzt es sich so häufig geradezu vorsätzlich in den Mißerfolg, in Leid und Tod? Das sind, wenn ich mich nicht irre, philosophische Probleme. Aber ich w e r d e Dir keine Vorlesung über meine gesammelten Werke halten. M. - Und haben diese Bücher international genausoviel Anklang gefunden wie Ni Marx ni Jesus? J. F. - Etwa genausoviel, obwohl je nach Land verschieden. So hat La connaissance inutile in den Vereinigten Staaten weniger Erfolg gehabt. In den romanischen Ländern Spanien, Italien, Portugal und Lateinamerika - ist es dagegen ein Bestseller gewesen, genauso wie in Frankreich und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs im Jahre 1989, der die freie Zirkulation von Büchern und Ideen wieder möglich machte, auch in den ehemaligen kommunistischen Ländern. Das eigentliche Phänomen liegt jedoch nicht da, sondern in folgendem Rätsel: Viele Leser zu haben heißt nicht, auch wirklich verstanden zu werden oder die Wirklichkeit de facto zu beeinflussen, selbst w e n n man, wie ich, das * Titel d e r d e u t s c h e n Ausgabe: Die totalitäre Versuchung. Aus d e m F r a n zösischen von Hva Brückner-Ffai'f'enberger. Ullstein Verlag, F r a n k f u r t a. M./ Berlin/Wien 1 9 7 6 .
38
Glück hat, außer in Büchern auch noch in der nationalen und internationalen Presse über Foren zu verfügen, die es mir erlauben, meine Vorstellungen einem noch breiteren Publikum nahezubringen und zu erläutern. M. - Wie läßt sich dieses Rätsel erklären? J. F. - Wenn es sich vollständig erklären ließe, könnte m a n die Geisteskrankheit heilen, auf der es b e r u h t . Was uns zurück zur sogenannten »ursprünglichen« Philosophie führt, die auf die persönliche Aneignung von Klarsicht und Vernunft abzielt, kurz, zurück zum zentralen Thema unserer Gespräche.
39
Religion oder Philosophie?
JEAN-FRANgois - Ich habe Dich mit Blick auf Deine Berufung als westlicher Naturwissenschaftler zu Deinem Werdegang befragt. Nun w ü r d e ich gerne wissen, wie sich Deine Entscheidung in bezug auf die a n d e r e n Religionen und spirituellen Lehren einordnen läßt. Denn Du hast Dich dem Buddhismus nicht aus Enttäuschung über irgendeine abendländische Religion zugewandt, sondern weil Du im Grunde aus einer areligiösen Kultur kamst. Obwohl Dein Vater und Deine Mutter aus katholischen Familien stammten, praktizierten sie diesen Glauben nicht. Du hast in einem wissenschaftlichen Umfeld, das im ganzen nicht sonderlich zur Frömmigkeit neigte, eine bekenntnisneutrale, rationalistische Erziehung erhalten. Im Westen w e n d e n sich heute viele Menschen anderen Religionen zu, wie zum Beispiel dem Islam oder dem Buddhismus, weil sie von ihrem traditionellen Glauben enttäuscht sind. Du hingegen hast alles in allem aus einer Art Gleichgültigkeit oder religiöser Schwerelosigkeit zum Buddhismus gefunden. Aber Vorsicht ... ich habe gerade »religiös« gesagt ... gerade da b e r ü h r e n wir aber eines der großen Auslegungsprobleme des Buddhismus. Ist der Buddhismus eine Religion oder eine Philosophie? Darüber wird heute noch diskutiert. Der von Dir beschriebene erste Kontakt mit dem Weisen hat auf Dich großen Eindruck gemacht, auch wenn er, da Ihr praktisch in keiner Sprache miteinander kommunizieren konntet, gar nicht mit Dir geredet hat. Diese erste E r f a h r u n g erinnert mich an einen jungen Griechen, der einem Weisen begegnete und ohne jede theoretische Initiation von dessen vorbildlicher Persönlichkeit ergriffen war. Wenn man diese erste Erfahrung berücksichtigt, handelte es sich dann um eine Bekehrung im religiösen Sinne oder um eine Art rein philosophischer Erleuchtung? 40
M A T T H I E U - Um zunächst auf den ersten Aspekt Deiner Frage zurückzukommen, so glaube ich, daß es für mich ein großes Glück war, mit u n b e r ü h r t e m Geist zum Buddhismus zu kommen. Mein Interesse am Buddhismus hat daher nie einen inneren Konflikt h e r a u f b e s c h w o r e n , nie ein Gefühl der »Verwerfung« gegenüber einer anderen Religion oder einem anderen Glauben. Obwohl ich in einem freidenkerischen Milieu aufgewachsen bin, hatte ich nie eine negative Einstellung gegenüber den Religionen. Über meine Lektüre hatte ich ein tiefgehendes Interesse für die großen spirituellen Traditionen - den Hinduismus, den Islam, die Christenheit - entwickelt, ohne mich persönlich durch das Praktizieren eines Glaubens engagiert zu h a b e n . Was mich angeregt hat, den wirklich spirituellen Weg einzuschlagen, w a r also in der Tat die Begegnung mit einem der großen spirituellen Meister, mit dem Weisen Kangyour Rinpoche. Er w a r das Modell einer Vollkommenheit, deren Aspekte ich noch nicht alle erfaßte, auch wenn sie mir offensichtlich erschienen. Eine solche Begegnung ist sehr schwer zu beschreiben - ein Tibeter würde sagen, »genauso schwierig wie f ü r einen Stummen, den Geschmack des Honigs zu beschreiben«. Ihr Wert beruht darauf, daß es sich nicht um eine a b s t r a k t e Spekulation handelt, s o n d e r n um eine unmittelbare Erfahrung, eine Feststellung, die ich mit eigenen Augen gemacht habe und die mehr wert ist als tausend Vorträge. Wie habe ich den Buddhismus dann nach und nach entdeckt und ergründet? Ist er eine Religion? Ist er eine Weisheit, eine Metaphysik? Das ist eine Frage, die dem Dalai Lama häufig gestellt wird und auf die er oft mit Humor antwortet: »Armer Buddhismus! Von den Geistlichen wird er verworfen, weil er eine atheistische Philosophie ist, eine Wissenschaft des Geistes, und von den Philosophen, weil sie ihn den Religionen zuordnen. Nirgends hat der Buddhismus das Recht, sich einzubürgern.« Der Dalai Lama fügt hinzu: »Vielleicht ist das aber ein Vorteil, der es dem Buddhismus erlaubt, eine Brücke zwischen den Religionen und den Philosophien zu schlagen.« Im wesentlichen würde ich sagen,
4i
der Buddhismus ist eine metaphysische Tradition, von der eine Weisheit ausgeht, die sich auf alle Momente der Existenz und unter allen Umständen anwenden läßt. Der Buddhismus ist keine Religion, sofern m a n u n t e r Religion die Zugehörigkeit zu einem Dogma versteht, das durch einen blinden Glaubensakt akzeptiert werden muß, ohne daß es nötig ist, die Wahrheit der Lehre selbst zu entdecken. Wenn m a n jedoch eine der Grundbedeutungen des Wortes Religion in Betracht zieht, die Bedeutung »was miteinander verbindet«, so steht der Buddhismus ganz gewiß mit den höchsten metaphysischen Wahrheiten in Verbindung. Der Buddhismus schließt den Glauben nicht aus, sofern m a n u n t e r Glauben eine ganz persönliche, u n e r schütterliche Überzeugung versteht, die auf der Entdeckung einer i n n e r e n Wahrheit b e r u h t . Der Glaube ist auch ein E r s t a u n e n angesichts der i n n e r e n Wandlung. Andererseits veranlaßt die Tatsache, daß der Buddhismus keine theistische Tradition ist, viele Christen dazu, ihn nicht als eine »Religion« im üblichen Sinne anzusehen. Schließlich ist der Buddhismus kein »Dogma«. Denn der Buddha hat immer gesagt, man müsse seine Unterweisungen überprüfen und über sie nachdenken und dürfe sie nicht einfach aus Respekt vor ihm akzeptieren. Man müsse die Wahrheit seiner Unterweisungen erfassen, indem m a n die Etappen, die zur spirituellen Verwirklichung führen, eine nach der anderen durchläuft. Der Buddha sagte, m a n müsse sie prüfen wie ein Stück Gold. Um zu wissen, ob es rein ist, reibt m a n das Gold ü b e r einen flachen Stein, schlägt mit dem Hammer darauf und läßt es über dem Feuer schmelzen. Die Unterweisungen des Buddha sind wie S t r a ß e n k a r t e n auf dem Weg der Erleuchtung, der ä u ß e r s t e n Erkenntnis der Natur des Geistes und der Welt der Erscheinungen. Warum wird der Buddha verehrt? Er wird nicht wie ein Gott oder ein Heiliger verehrt, sondern wie der Weise an sich, wie die Personifizierung der Erleuchtung. Das sanskritische Wort »Buddha« bedeutet »der, der begriffen hat«, der, der die Wahrheit geistig erfaßt hat. Die tibetische Übersetzung »sanguie« besteht aus zwei Silben. »Sang« bedeu42
tet, daß er alles »beseitigt« hat, was das Wissen verschleiert, und auch, daß er »erwacht« ist aus der Nacht des Nicht-Wissens. »Guie« bedeutet, daß er alles »zur Entfaltung gebracht« hat, was es zu entfalten gibt, das heißt sämtliche spirituellen und menschlichen Vorzüge. J. F. - Du sprichst von der Lehre des Buddha. Was ist das aber genau für eine Lehre? Es gibt keine Originaltexte des Buddha ... M. - In Wirklichkeit gibt es im Buddhismus mehr kanonische Lehren als in jeder anderen Überlieferung. Der Buddha hat sie nicht selbst aufgeschrieben, doch die Sammlung seiner Predigten, die Lehrreden des Buddha, füllen einhundertdrei Bände des tibetischen Kanons. J. F. - Aber sind sie von ihm? M. - Auf einem Konzil kurz nach seinem Tod versammelten sich f ü n f h u n d e r t der ihm am n ä c h s t e n s t e h e n d e n Schüler - vor allem jene, die den größten Teil ihres Lebens bei ihm verbracht hatten -, um die Gesamtheit der Unterweisungen des Buddha zusammenzutragen. Die Predigten oder Lehrreden des Buddha - die Sutras - sind also von seinen besten Schülern rezitiert worden, wobei die Zuhörenden sie, falls nötig, korrigierten. Man m u ß sich in Erinnerung rufen, daß bei der Wissensübermittlung im Orient die mündliche Überlieferung immer die entscheidende Rolle gespielt hat, und zwar bis zum heutigen Tag, und daß die Orientalen oft über ein erstaunliches Gedächtnis verfügen. Das ist keine Erfindung. Ich selbst habe so m a n c h e s Mal tibetischen Meistern und Schülern zugehört, wenn sie Texte von mehreren hundert Seiten aus dem Gedächtnis rezitiert haben und dabei von Zeit zu Zeit innehielten, um den Sinn zu kommentieren. Ihre Zuverlässigkeit hat mich, der ich dem Text auf dem Papier folgte, stets verblüfft! Die Sutras beginnen mit der Wendung: »An dem und dem Ort unter den und den Umständen habe ich den Buddha so sprechen hören ...« Wenn man bedenkt, daß der Buddha von seinem dreißigsten Lebensjahr an bis zu seinem Tod im Alter von achtzig J a h r e n ohne U n t e r b r e c h u n g lehrte und, wie die buddhistischen Meister heute auch, immer wieder die glei43
chen Themen aufgriff, dann darf m a n wohl annehmen, daß die ihm am nächsten stehenden Schüler nach dreißig bis vierzig J a h r e n eine getreue Version der Lehren des Meisters im Gedächtnis behalten hatten, selbst wenn die Version nicht aufs Wort genau stimmte. Diejenigen von uns, die rund zwanzig Jahre bei den tibetischen Meistern verbracht haben, ohne mit außergewöhnlichen intellektuellen Fähigkeiten ausgestattet zu sein, sind imstande, die Essenz der Unterweisungen in angemessen getreuer Weise zum Ausdruck zu bringen. Den Lehrreden hinzugefügt sind noch zweihundertdreizehn Bände mit Kommentaren, Exegesen und Schriften h e r a u s r a g e n d e r indischer Weiser und Gelehrter aus den J a h r h u n d e r t e n nach dem Tod des Buddha sowie Tausende von Bänden, die anschließend in Tibet verfaßt worden sind. Sie machen die klassische tibetische Literatur nach der sanskritischen und der chinesischen zur reichsten Literatur des Orients. J. F. - Du meinst die reichste zum Thema Buddhismus? M. - Nicht nur. Die tibetische Literatur ist zwar voll und ganz den buddhistischen Unterweisungen und den hinzukommenden traditionellen Wissenschaften gewidmet - der Medizin, der Grammatik, den Sprachen, der Astronomie ... Trotzdem ist sie vom Reichtum und vom Umfang h e r die dritte Literatur des Orients. Bis in die letzten Jahre hinein hatte es nie tibetische »Romane« gegeben ... Die Wirklichkeit bietet genug Herausforderungen! J. F. - Ja ... Wenn m a n aber auf das Studium des Buddhismus die Kriterien der Geschichtsforschung anwendet, scheint es so, als hätten die Nachfolger des Buddha beträchtliche Phantasie an den Tag gelegt.* Hinsichtlich seiner wundersamen Geburt hat sich eine Hagiographie herausgebildet: Den Mutterleib soll er über die rechte Seite verlassen haben, und bereits zehn Monate vor der Nieder* H. W. S c h u m a n n : Der historische Buddha. E u g e n D i e d e r i c h s Verlag, 1 9 8 2 . Thich N h a t H a n h (Alter Pfad, weiße Wolken. Leben und Werk des Gautama Buddha. T h e s e u s Verlag, 1994-) gibt u n s eine a n r e g e n d e poetis c h e Version vom Leben des B u d d h a , die die ü b e r n a t ü r l i c h e n Aspekte ausspart.
44
k u n f t soll er in der Brust seiner Mutter voll ausgebildet gewesen sein usw. Es scheint so, als habe die orientalische Einbildungskraft, wie in allen Hagiographien, eine ganze Menge hinzugedichtet. Jedenfalls dürfte es schwierig sein, das historisch authentische Substrat der Lehre des Buddha wiederzufinden. Du wirst mir entgegenhalten, dasselbe gelte für Sokrates, von dessen Denken wir nur über andere wissen. Man weiß nicht genau, was in den Erzählungen seiner Schüler von Sokrates selbst stammt und was von Piaton oder Xenophon hinzugefügt worden ist. Es handelt sich hier jedoch um Zeitgenossen des Sokrates. Außerdem verfügen wir über das Zeugnis des Aristophanes, eine interessante Kontrolle, da er Sokrates feindlich gesonnen war. Im Falle des Buddha scheint der der indischen Phantasie eigene Sinn f ü r das W u n d e r b a r e eine u n w i d e r l e g b a r e Eingrenzung der authentischen Lehre des Buddha äußerst schwer gemacht zu haben. M. - Der Inhalt der Unterweisungen des Buddha ist, wie ich eben gesagt habe, zunächst von seinen Zeitgenossen festgehalten worden. Außerdem zieht das Wunderbare, von dem Du sprichst, den Wortlaut der Unterweisungen nicht in Mitleidenschaft. Es betrifft n u r die Buddha-Hagiographien, die im Laufe der J a h r h u n d e r t e geschrieben worden sind. Die Unterweisungen selbst behandeln philosophische oder metaphysische Themen - das Wesen des Seins, das NichtWissen, die Ursache des Leids, die Nicht-Existenz des Selbst und der Erscheinungen als selbständige Entitäten, das Gesetz von Ursache und Wirkung etc. Solche Themen sind wohl k a u m dazu geeignet, mit W u n d e r b a r e m ausgeschmückt zu werden! J. F. - Kommen wir nun auf die Frage zurück: Philosophie oder Religion? Oder Philosophie und Religion? Mich erstaunt, daß der Buddhismus im Westen im wesentlichen ein positives Image hat. Nicht n u r im Augenblick, wo die Sympathie vom Mitgefühl f ü r die Leiden des tibetischen Volkes stimuliert ist, das noch verstärkt wird durch das Ansehen, das die Person des Dalai Lama auf internationaler Ebene erlangt hat, durch die Zuneigung, ja Verehrung, die 45
er selbst auf Kontinenten, wo der Buddhismus unbekannt ist, auf sich gezogen hat. Abgesehen von diesem aktuellen politischen Faktor genießt der Buddhismus im Westen einen Respekt, der älteren Datums ist. Man hat in ihm immer eine geläuterte Lehre gesehen. Er ist also geeignet, vom kritischen Verstand, vom abendländischen Rationalismus angenommen zu werden, indem er ihm eine moralische und spirituelle Dimension hinzufügt: eine Dimension von Weisheit, wenn nicht sogar mehr, die mit den Kriterien, die im Abendland seit dem Zeitalter der sogenannten »Philosophie der Aufklärung« und des Rationalismus im 18. J a h r h u n d e r t entwickelt worden sind, und mit dem modernen wissenschaftlichen Geist nicht unvereinbar ist. Wenn m a n nach Asien kommt, wird diese ätherische Vorstellung allerdings auf eine harte Probe gestellt. Jemand wie ich ist über viele Aspekte der buddhistischen Praxis, die ich n u r als abergläubisch bezeichnen kann, erstaunt, ich w ü r d e sogar sagen schockiert. Die Gebetsfahnen, die Gebetsmühlen, den Glauben an die Reinkarnation. M. - Bevor ich den Begriff der »seelenlosen Reinkarnation« kläre, antworte ich in der Reihenfolge Deiner Fragen. Zuerst hast Du festgestellt, der Buddhismus w e r d e im Abendland als intellektuell völlig a n n e h m b a r e Metaphysik angesehen. Ich glaube, der Hauptgrund dafür ist, daß sich der Buddhismus fundamentalen, jedes Lebewesen betreffenden Sorgen zuwendet und daß seine wesentlichsten Lehren weder exotisch gefärbt noch von derartigen kulturellen Faktoren beeinflußt sind, wie sie Dich überrascht haben. Der Buddhismus analysiert und zerlegt die Mechanismen von Glück und Leid. Woher kommt das Leid? Was sind seine Ursachen? Wie ist denen abzuhelfen? Über die Analyse und die Kontemplation dringt der Buddhismus so nach und nach zu den grundlegenden Ursachen des Leids vor. Das ist eine Suche, die für jeden Menschen von Interesse ist, ganz gleich, ob er nun Buddhist ist oder nicht. J. F. - Definiere, was Du als Leid bezeichnest. M. - Leid ist ein Zustand tiefer Unzufriedenheit, der mit physischem Schmerz einhergehen kann, aber in e r s t e r 46
Linie eine geistige E r f a h r u n g ist. Natürlich n e h m e n verschiedene Personen dieselben Dinge unterschiedlich wahr, sei es als angenehm oder als u n a n g e n e h m . Leid entsteht, wenn das »Ich«, das wir lieben und schützen, bedroht wird oder nicht bekommt, was es sich wünscht. Die intensivsten physischen Leiden können, je n a c h geistiger Verfassung, auf sehr unterschiedliche Weise erlebt werden. Außerdem können die alltäglichen Lebensziele wie Macht, Besitz, Sinnesfreuden oder Ansehen vorübergehend Befriedigung verschaffen. Sie sind a b e r nie die Quelle einer d a u e r h a f t e n Befriedigung und verwandeln sich f r ü h e r oder später in Unzufriedenheit. Zu einer dauerhaften Vollkommenheit, zu einem inneren Frieden, der gegen äußere Umstände gefeit ist, verhelfen sie nie. Wenn wir u n s e r ganzes Leben lang weltliche Ziele verfolgen, h a b e n wir genauso wenig Aussicht, wirkliches Glück zu erlangen, wie ein Fischer, der seine Netze in einem ausgetrockneten Fluß auswirft. J. F. - Wir kennen das in exakt den Begriffen aus dem Epikureismus und dem Stoizismus. M. - Dieser Zustand der Unzufriedenheit ist charakteristisch f ü r die bedingte Welt, die von Natur aus n u r vergängliche Befriedigungen verschaffen kann. In der buddhistischen Begrifflichkeit sagt m a n , die Welt oder der »Kreislauf« der Wiedergeburten, der Samsara, ist von Leid erfüllt. Das ist jedoch in keiner Weise eine pessimistische Weltanschauung, sondern eine bloße Feststellung. Der folgende Schritt besteht nämlich darin, Heilmittel gegen das Leid zu suchen. Deswegen muß man seine Ursache kennen. In einer ersten Analyse kommt der Buddhismus zu dem Schluß, das Leid habe seine Ursache in der Begierde, in der Neigung, im Haß, im Hochmut, in der Eifersucht, im Mangel an Unterscheidungsvermögen sowie in sämtlichen geistigen Faktoren, die als »negativ« oder »verdüsternd« bezeichnet werden, da sie den Geist trüben und in einen Zustand der Verwirrung und Unsicherheit versetzen. Diese negativen Gefühlsregungen gründen in der Vorstellung eines »Ich«, das wir lieben und um jeden Preis schützen wollen. Die Anhänglichkeit ans Selbst ist eine Tatsache, doch das 47
Objekt der Zuneigung, das »Ich«, hat keine reale Existenz es existiert nirgendwo und in keiner Weise als selbständige, dauerhafte Entität. Es existiert weder in den Bestandteilen, die das Individuum a u s m a c h e n - dem Körper und dem Geist -, noch außerhalb dieser Bestandteile, noch in ihrer Verbindung. Wenn m a n b e h a u p t e t , das Selbst sei der Zusammenschluß dieser Bestandteile, so läuft das auf das Eingeständnis hinaus, d a ß es sich n u r um eine einfache Bezeichnung handelt, die der Intellekt dem vorübergehenden Zusammenschluß verschiedener, voneinander abhängiger Elemente gegeben hat. Das Selbst existiert nämlich in keinem dieser Elemente, und der Begriff des Selbst verschwindet, sobald sich die Elemente trennen. Nicht-Wissen ist, wenn m a n den Schwindel des Selbst nicht aufdeckt: die vorübergehende Unfähigkeit, das w a h r e Wesen der Dinge zu erkennen. Das Nicht-Wissen ist also der w a h r e Grund für das Leid. Wenn es uns gelingt, unser fehlerhaftes Verständnis des Selbst und den Irrglauben an die Beständigkeit der Erscheinungen auszuräumen, wenn wir erkennen, daß das »Ich« keine eigene Existenz besitzt, weshalb sollten wir dann befürchten, daß wir nicht bekommen, was wir ersehnen, und daß wir erleiden, was wir nicht wünschen? J. F. - Dieser Teil der Analyse ist dem Buddhismus und vielen abendländischen Philosophien - sagen wir der Weisheit der Antike - gemeinsam. In Frankreich findet man ihn bei Montaigne wieder und später mit einem apologetischen christlichen Vorsatz bei Pascal. M. - Vielleicht ist es wegen dieser ursprünglichen Einfachheit des Buddhismus, wegen seiner Allgemeinverständlichkeit, daß sich die abendländische Welt mit seiner Lehre vertraut fühlt und auf Anhieb Zugang zu ihm finden kann. J. F. - Was m a n c h e abendländischen Philosophen am Buddhismus angezogen hat, ist m e i n e r Ansicht n a c h die Vorstellung, zu einer gewissen Gelassenheit zu gelangen. Ich möchte hier nicht das Wort »Apathie« in seiner negativen Bedeutung v e r w e n d e n . Es handelt sich d a r u m , w a s einige psychologische Schulen mit dem hochgestochenen Wort Ataraxie bezeichnet haben. Ataraxie ist jener Zustand 48
der Unerschütterlichkeit, den der Weise - laut Stoizismus erreichen muß, das heißt die Tatsache, daß man den unvorh e r s e h b a r e n Einflüssen des Guten und Bösen, die in der Alltagswirklichkeit auftreten, nicht mehr ausgeliefert ist. M. - Es ist wichtig, Gelassenheit und Apathie nicht zu verwechseln. Ein Kennzeichen f ü r eine f o r t w ä h r e n d e spirituelle Praxis ist das Gefeitsein gegen äußere, günstige oder ungünstige Umstände. Den Geist des Praktizierenden vergleicht m a n mit einem Berg, den die Winde nicht ins Wanken bringen können: Weder läßt er sich durch Schwierigkeiten in Sorge versetzen, noch durch Erfolg in Überschwenglichkeit. Eine solche innere Unerschütterlichkeit ist aber weder Apathie noch Gleichgültigkeit. Sie geht einher mit einem wirklichen inneren Jubel und einer Öffnung des Geistes, die sich in absoluter Selbstlosigkeit äußert. J. F. - Das ist das allen Weisheitslehren gemeinsame Element. Man hätte glauben können, es handle sich um das Porträt eines stoischen Weisen. Im übrigen verwundert es nicht, daß der Buddhismus ausgerechnet in einem wissenschaftlichen Zeitalter ein gewisses Ansehen im Abendland erlangt hat. Denn die Philosophien h a b e n das Weisheitsideal a u f g e g e b e n , das d a r i n b e s t a n d , den Lesern oder Zuhörern die Wege der Weisheit zu eröffnen. Der Reiz des Buddhismus scheint freilich über das allen Weisheitslehr e n gemeinsame Gut noch ein kleines Stück hinauszugehen ... Bis zum Aufgehen des Selbst in einer Art Indetermination. M. - Es geht ganz und gar nicht darum, in einer amorphen Unbestimmtheit zu erlöschen, sondern d a r u m , mit Klarsicht a n z u e r k e n n e n , daß das »Ich« ü b e r h a u p t keine eigene Existenz hat und daß es die Ursache all unserer Leiden ist. Der Buddhismus bietet eine vielfältige Auswahl von Mitteln an, um zum inneren Frieden zu gelangen. Die Voraussetzung dafür ist die Lockerung der Bindung ans Selbst. Man begnügt sich nicht damit, die geistigen Begebenheiten zu beschreiben, sondern man transformiert und »befreit« sie. Bevor ich auf diese Mittel zu sprechen komme, möchte ich ein paar Worte zum Ego sagen, zur Anhänglichkeit ans 49
Selbst, die der Hauptausdruck des Nicht-Wissens und die Ursache für die störenden Gefühlsregungen ist. Denn der Buddhismus bietet eine sehr detaillierte Analyse des EgoBegriffs, der Art, wie man sich selbst als »Person« und die ä u ß e r e n Erscheinungen als beständige »Entitäten« wahrnimmt. Die Wurzel sämtlicher störenden Gefühlsregungen liegt in der Wahrnehmung unserer Person, unseres »Ich« als einer Entität, die auf autonome Weise für sich existieren soll, sei es im Strom unseres Denkens, sei es in u n s e r e m Körper. Wenn es dieses Selbst aber wirklich gibt, wo ist es dann? Im Körper? Im Herzen? Im Gehirn? Ist es überall im Körper verstreut? Es ist leicht zu erkennen, daß das »Ich« nirgendwo im Körper existiert. J. F. - Ich habe den Eindruck, auf jene Epoche zurückzukommen, als sich die abendländischen Philosophen fragten, wo sich die Seele im Körper befindet. Descartes lokalisierte sie in der Zirbeldrüse, der Hirnanhangdrüse. Aber ist diese Frage nicht kindisch? Das Selbstbewußtsein existiert, ohne daß es sich deswegen in diesem oder jenem Teil des Körpers aufhalten muß! M. - Der nächste Schritt besteht daher darin, sich zu fragen, ob das »Ich« in u n s e r e m Geist, im Strom u n s e r e s Bewußtseins gegenwärtig ist. Dieser Strom kann in vergangene, gegenwärtige und zukünftige Gedanken untergliedert w e r d e n . Das »Ich« kann a b e r nicht die Summe dieser Momente sein, denn eine solche Summe existiert zu keinem dieser speziellen Momente. Das vergangene Denken ist tot, es existiert nicht mehr. Wie könnte das Selbst zu etwas gehören, das nur noch Erinnerung ist? Die Zukunft ist noch nicht angebrochen, folglich kann sich das Selbst auch nicht in einer inexistenten Zukunft befinden. Bleibt die Gegenwart. Um zu existieren, müßte die Entität des »Ich« ganz bestimmte Merkmale aufweisen. Doch es hat weder eine Farbe noch eine Form noch eine Lokalisierung. Je m e h r m a n n a c h ihm sucht, desto weniger findet m a n es! Das Selbst ist also nur die Bezeichnung f ü r eine Scheinkontinuität. Mit einer solchen Methode läßt sich die Anhänglichkeit an 50
die Vorstellung eines »Ich« schwächen, das wie eine allmächtige Entität betrachtet wird und uns dazu bringt, zu wollen, was wünschenswert ist, und zurückzuweisen, was es nicht ist. Dieses Gefühl eines selbständigen »Ich« provoziert gewöhnlich einen Bruch zwischen dem »Ich« und »den a n d e r e n « . Der Wechsel von Anziehung und Abstoßung bringt eine Unzahl störender Gedanken und Gefühlsregungen mit sich, die sich in Worten und Handlungen niederschlagen und u n s e r Leid b e g r ü n d e n . Wenn m a n durch unmittelbare Erfahrung, durch Analyse und vor allem durch Kontemplation entdeckt, daß das »Ich« keine wirkliche Existenz hat, so ist das ein ungeheuer befreiender Vorgang. Ich glaube, diese Art der Analyse hat sich für viele Menschen aus dem Westen als nützlich erwiesen, um so mehr, als sie mit einer unglaublichen Vielfalt von Techniken einhergeht, die es erlauben, die Gedanken zu bearbeiten, um nicht mehr ihr Sklave zu sein. Aber wir kommen darauf noch zurück. J. F. - Uff! Die p a a r technischen Details h ä t t e n wir gerne ... M. - In der Theorie spricht man von vierundachtzigtausend Zugängen oder Eingangstüren zum Buddhismus! Die Zahl macht deutlich, daß im Grunde j e d e r da a n f a n g e n kann, wo er sich befindet. Zur Besteigung des Mount Everest kann m a n entweder aus einem Pariser Vorstadtstau a u f b r e c h e n oder aus der sattgrünen nepalesischen Landschaft: Das Ziel ist dasselbe, nur die Reisemodalitäten sind verschieden. Genauso beginnt der spirituelle Weg an dem Punkt, wo er oder sie sich gerade befindet: mit einem Naturell, mit inneren Anlagen, einer geistigen Haltung, unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen ... Jeder kann einen Weg »nach Maß« finden, um sein Denken zu beeinflussen, um sich nach und nach vom Joch der störenden Gefühlsregungen zu befreien und schließlich das äußerste Wesen des Geistes zu erkennen. J. F. - Die Methoden sind zwar nicht überall die gleichen, doch diesen Aspekt kennen wir auch aus einer bestimmten Tradition der abendländischen Philosophie. Die Frage, wie m a n seinem eigenen Denken Disziplin auferlegt, ist eines 5t
der großen Themen der antiken Philosophie. Die moderne Philosophie hat weit mehr den Ehrgeiz, die Funktionsweise des Geistes zu erkennen, als ihn zu modifizieren. M. - Der Buddhismus kombiniert die Erkenntnis der Funktionsweise des Geistes, dem er ganze Abhandlungen widmet, mit der Erkenntnis seines äußersten Wesens. Eine solche Erkenntnis hat im Hinblick auf die »Ich«-Bezogenheit eine befreiende Wirkung. Das zu diesem Zweck entwickelte Angebot ist wirkungsvoll und vielfältig zugleich. Ein erster Schritt ist der Einsatz von Gegenmitteln gegen die s t ö r e n d e n Gefühlsregungen: Gegen den Zorn bringt man die Geduld zur Geltung, gegen die Begierde die NichtAnhänglichkeit, gegen die mangelnde Einsicht die Analyse der Mechanismen von Ursache und Wirkung. Wenn m a n den Emotionen freien Lauf läßt, wird der Haß zum Beispiel nur Haß erzeugen. Die Geschichte der Menschen und Völker hat wirklich gezeigt, daß der Haß noch nie einen Konflikt gelöst hat. J. F. - Das hängt davon ab, für wen ... Im uralten Spiel von Macht und Verbrechen gibt es leider Sieger. Wege zur Beseitigung des Hasses findet m a n in den Evangelien. M. - Natürlich! Es ist interessant und vom spirituellen Standpunkt aus normal, auf solche Übereinstimmungen mit den abendländischen Traditionen zu stoßen. Aber kommen wir auf den Haß zurück. Nehmen wir zum Beispiel jemanden, der uns in einem Anfall von Wut mit einem Stock schlägt. Niemand wird d a r a n denken, dem Stock böse zu sein - das ist klar. Sollen wir auf die Person zornig sein, die uns angreift? Wenn m a n es recht bedenkt, wird sie von einer Zornesaufwallung verzehrt, die ihre Ursache im Nicht-Wissen hat. Sie hat jede Kontrolle über sich verloren. In Wirklichkeit ist diese Person genauso bemitleidenswert wie ein Kranker oder ein Sklave. Man kann ihm nicht wirklich böse sein. Der w a h r e Feind, der kein Mitgefühl verdient, ist letztlich die Wut selbst. J. F. - Ja, aber Du vergißt bei alldem ein wenig die praktische Seite ... Möglicherweise hat Dich die Person, bevor Du ü b e r h a u p t die Zeit g e f u n d e n hast, diese glänzende 52
Überlegung anzustellen, bereits niedergeschlagen und vom Leben ins Jenseits befördert! Also ... M. - Am besten wäre es natürlich, der Auseinandersetzung zu entgehen, indem m a n den Angreifer ausschaltet oder die Flucht ergreift. Das schließt den Einsatz aller angemessenen Mittel und der nötigen Robustheit nicht aus. Haß darf man jedoch niemals einsetzen. Im tiefsten Innern seiner selbst muß m a n ein unbezwingbares Mitgefühl und unerschöpfliche Geduld behalten. Es geht w e d e r d a r u m , sich passiv der Willkür der Angreifer auszuliefern, noch zu versuchen, sie mit Gewalt zu vernichten, da immer wieder a n d e r e a u f t a u c h e n w e r d e n . Es geht vielmehr um die Erkenntnis, daß der Hauptfeind, den m a n gnadenlos bekämpfen muß, der Wunsch zu schaden ist. Das ist es, was m a n begreifen und n a c h Möglichkeit den a n d e r e n verständlich machen muß. J. F. - Warte! Du wirst mir noch die ganze buddhistische Lehre herunterspulen! Das könnte ein bißchen lange dauern ... Wir kommen darauf zurück ... Aber Du bist, wie ich sehe, noch nicht auf meinen Einwand hinsichtlich des Aberglaubens eingegangen. M. - Wir kommen noch dazu. Gestatte mir aber zuerst, den Überblick zu vervollständigen. Die Verwendung von Gegenmitteln ist eine effiziente, aber beschränkte Methode. Störende Gefühlsregungen gibt es nämlich in unendlicher Zahl, und man müßte eine unendliche Zahl von Gegenmitteln einsetzen, um ihnen entgegenzuwirken. Der zweite Schritt besteht d a h e r in dem Versuch, das Wesen der Gedanken zu erfassen und zu ihrem Ursprung vorzudringen. So sitzt uns ein Gedanke des Hasses, der uns außerordentlich stark und machtvoll erscheint, wie ein Knoten in der Brust und verändert unser Verhalten völlig. Wenn man ihn jedoch betrachtet, sieht m a n , d a ß er keine Waffe schwingt, daß er uns nicht wie ein Fels zermalmen oder wie ein Feuer v e r b r e n n e n kann. In Wirklichkeit hat alles mit einem winzigen Gedanken a n g e f a n g e n , der gleich einer Gewitterwolke nach und nach angewachsen ist. Sommerwolken können von weitem sehr eindrucksvoll und fest 53
erscheinen, so als könne m a n sich auf sie setzen. Wenn man aber in sie eindringt, ist da nichts, sie sind nicht greifbar. Wenn m a n einen Gedanken b e t r a c h t e t und zu seinem Ursprung vordringt, findet m a n ebenfalls nichts Greifbares. Noch im selben Moment löst sich der Gedanke auf. Man nennt das »die Gedanken befreien, indem m a n ihr Wesen schaut«, indem man ihre »Leere« erkennt. Ein so »befreiter« Gedanke wird keine Kettenreaktion auslösen, er wird sich verflüchtigen, ohne eine Spur zu hinterlassen, wie ein Vogel, der am Himmel fliegt. J. F. - Diese optimistische Vorstellung gehört zu einer allgemein verbreiteten Tradition beruhigender Weisheit. M. - Man soll sich nicht täuschen. So einfach die Befreiung der Gedanken auf den ersten Blick auch erscheinen mag, sie ist weder eine optimistische Vorstellung noch eine unhaltbare Sammlung erfolgloser Mittel. Die angewandten Techniken leiten sich von einer j a h r t a u s e n d e a l t e n »kontemplativen Wissenschaft« ab. Unter beträchtlichen Mühen wurde sie von Eremiten erarbeitet, die sich über zwanzig oder dreißig J a h r e ihres Lebens hinweg viele Stunden am Tag mit ihr b e f a ß t e n . Es ist unerläßlich, zumindest die ersten Schritte auf dem Gebiet der Erfahrung zu machen, um zu sehen, worum es geht. Manch einer zweifelt nämlich ein solches Wissen an, das mit u n v e r t r a u t e n Methoden angesammelt worden ist. Jeder Wissenschaft ihre Instrumente: Ohne Teleskop kann man nicht die Krater des Mondes w a h r n e h m e n , ohne kontemplative Praxis nicht das Wesen des Geistes. J. F. - Vorgestern zum Beispiel haben wir in Eurem Kloster in Katmandu die Darstellung eines dreijährigen Kindes gesehen, das vor kurzem als die Reinkarnation Deines verstorbenen Meisters Khyentse Rinpoche »erkannt« worden ist. Kraft welchen Verfahrens hat m a n entschieden, daß sich der Rinpoche in diesem Kind reinkarniert hatte? M. - Das F o r t d a u e r n des Bewußtseins nach dem Tod gehört in den meisten Religionen zur offenbarten Lehre. Im Falle des Buddhismus begibt man sich auf die Ebene der kontemplativen Erfahrung von Menschen, die zwar außer54
gewöhnlich, doch zahlreich genug sind, daß m a n ihrem Zeugnis, angefangen mit dem des Buddha, Glauben schenken kann. Zunächst einmal m u ß m a n begreifen, daß die buddhistische Vorstellung von der Reinkarnation mit der Seelenwanderung, mit der Metempsychose, nichts zu tun hat. Solange m a n in Begriffen der Entität denkt statt in solchen der Funktion und der Kontinuität, k a n n m a n den buddhistischen Begriff der Wiedergeburt nicht verstehen. Man sagt, »daß sich kein Faden durch die Perlenkette der Wiedergeburten zieht«. Nicht die Identität einer »Person« zieht sich durch die aufeinanderfolgenden Wiedergeburten, sondern die Konditionierung eines Bewußtseinsstroms. J. F. - Gibt es die Metempsychose, die Seelenwanderung, im Buddhismus nicht? Ich habe zu verstehen geglaubt, die S e e l e n w a n d e r u n g sei eine grundlegende Lehre des Buddhismus. M. - Der Buddhismus spricht von Existenzzuständen, die aufeinanderfolgen: Nicht alles b e s c h r ä n k t sich auf das gegenwärtige Dasein. Vor unserer Geburt haben wir andere Existenzzustände e r f a h r e n , nach dem Tod werden wir a n d e r e k e n n e n l e r n e n . Das f ü h r t uns natürlich zu einer grundlegenden Frage: Existiert ein immaterielles, vom Körper deutlich zu unterscheidendes Bewußtsein? Man kann nicht von Reinkarnation sprechen, bevor m a n nicht die Beziehungen von Körper und Geist untersucht hat. Da der Buddhismus die Existenz eines individuellen, als abgetrennte Entität aufgefaßten »Ich«, das von Existenz zu Existenz wandert und von einem Körper zum nächsten übergeht, verneint, kann m a n sich a u ß e r d e m fragen, was die aufeinanderfolgenden Existenzzustände verbindet. J. F. - Das ist schwer zu begreifen. M. - Es handelt sich um ein Kontinuum. Ein Bewußtseinsstrom setzt sich fort, ohne d a ß es eine bestimmte selbständige Entität gibt, die ihn durchläuft. J. F. - Eine Folge von Wiedergeburten ohne jede determinierte Entität, die sich reinkarniert? Das wird ja immer obskurer ... M. - Man kann das mit einem Fluß vergleichen, auf dem 55
kein Boot hinabfährt, oder mit der Flamme einer Lampe, die eine zweite Lampe anzündet, die dann wiederum eine dritte und so fort: Am Ende der Kette ist die Flamme weder dieselbe noch eine andere ... J. F. - Bloße Metaphern ... M. - Wir sollten damit anfangen, diverse moderne und f r ü h e r e Vorstellungen über das Verhältnis von Geist und Körper zu analysieren. J. F. - Ja, das ist eines der großen Themen ... Aber ich w a r mir über ein paar Aspekte, zum Beispiel die Gebetsfahnen, noch nicht im klaren. In den geläutertsten Religionen sagen wir jenen, die sich am weitesten vom Aberglauben distanzieren - ist das Gebet etwas sehr Persönliches. Die Vorstellung, ein mechanischer, zum Rotieren g e b r a c h t e r Gegenstand wie die Gebetsmühlen oder eine Fahne, die nach und nach im Wind zerfranst, könnten an die Stelle des Gebets treten, scheint mir die niedrigste Stufe, der Nullpunkt des Gebets zu sein! Man begreift nicht, wie eine so subtile Lehre wie die des Buddhismus solche Glaubensüberzeugungen befürworten kann! M. - Diese Bräuche sind in Wirklichkeit sehr weit vom Aberglauben entfernt. Sie spiegeln nur den Reichtum der vom Buddhismus aufgebotenen Mittel, um unsere Geistesgegenwart fortwährend neu zu beleben. Sämtliche Naturelemente - den Wind, der die F a h n e n flattern läßt, das Feuer der Lampe, dessen W ä r m e eine Gebetsmühle zum Drehen bringt, den Stein, in den m a n die Gebete einritzt, das Wasser eines Gebirgsbaches, das die Flügel einer ander e n Gebetsmühle antreibt - benutzt m a n als Mahnung, damit jede Tätigkeit, jedes Naturelement, alles, was sich unseren Augen darbietet, ein Anreiz zur inneren Andacht, zur Selbstlosigkeit ist. Wenn ein Tibeter die Gebetsfahnen bedruckt und sie im Wind flattern läßt, denkt er: »Wohin der über diese Gebete hinwegstreichende Wind auch immer weht, mögen alle Lebenden vom Leid und den Ursachen des Leids befreit werden. Mögen sie das Glück kennenlernen und die Ursachen des Glücks.« Er erneuert das Gelübde des Bodhisattva ... 56
J. F. - Der Bodhisattva, das ist ... M. - Das ist der, der zum Wohle der a n d e r e n die Buddhaschaft anstrebt, die Vollkommenheit. Sein Gelübde ist nicht egozentrisch. Er denkt nicht: »Möge ich vom Leid befreit werden, von allen Widrigkeiten des gewöhnlichen Lebens, vom Teufelskreis des Samsara.« Es ist ein selbstloses Gelübde, das seinen Ursprung in der Kontemplation der menschlichen Leiden hat: »Ich bin derzeit nicht fähig, die vielfältigen Leiden der Menschen zu lindern. Möge ich mir das Wissen aneignen, um imstande zu sein, ihnen allen dabei zu helfen, sich von den Ursachen des Leids zu befreien.« Man profitiert von äußeren Anstößen, damit alles, was wir sehen und hören, die selbstlose Haltung ins Gedächtnis ruft und zur Reflexionsstütze wird: Die Natur selbst wird so zum Lehrbuch. Alles regt uns zur spirituellen Praxis an. Das ist überdies eine sehr menschliche Methode, um Buddhas Anweisungen nicht zu vergessen. J. F. - Bist Du sicher, d a ß dieses Konzept dem durchschnittlichen Buddhisten etwas bedeutet? Glaubt er nicht ganz einfach, daß die Gebetsmühle für ihn betet? M. - Selbst w e n n nicht alle Tibeter die Lehre und den Symbolismus im einzelnen kennen, glaube ich, daß sie eine Gebetsmühle nicht in Bewegung setzen, damit ihre alltäglichen Wünsche - in bezug auf Gesundheit, Wohlstand und Erfolg - in Erfüllung gehen. Sie sind geistig geprägt von der Vorstellung, »Verdienst« anzuhäufen. Unter Verdienst versteht m a n einen positiven geistigen Faktor, der dazu beiträgt, die negativen geistigen Faktoren zu beseitigen. Vorherrschend ist bei ihnen der Gedanke, den Strom ihres Denkens durch eine »Anhäufung von Verdiensten« zu verbessern, zu läutern, und so diesen positiven, zur Erkenntnis neigenden Strom zu stärken. Deshalb werfen sich die Leute nieder, deshalb kreisen sie respektvoll um die heiligen Monumente und bringen in den Tempeln Lichtopfer dar. J. F. - Das Anzünden einer Kerze in einer Kirche schließt im Katholizismus die ü b e r a u s abergläubische Vorstellung mit ein, daß uns diese Kerze im Hinblick auf die Erhörung eines Wunsches die Gunst eines Heiligen, die Gunst der 57
Jungfrau Maria oder die von Gott selbst verschaffen könne. Der Aberglaube geht so weit, daß m a n häufig Leute, die selbst nicht praktizieren, ja nicht einmal gläubig sind, dabei beobachtet, wie sie beim Besuch einer Kathedrale eine Kerze darbringen. M. - Solche Bräuche sind nützliche äußere Anstöße, die es den Gläubigen erlauben, sich mit einer inneren Wahrheit in Verbindung zu setzen. Wenn die gläubigen Tibeter Tausende von Butterleuchten - die Entsprechung der Kerzen d a r b r i n g e n , so ist ihnen, wie ich aus eigener E r f a h r u n g weiß, bewußt, daß das Licht die Erkenntnis symbolisiert, die die Finsternis vertreibt. Das Gebet, das ein Gläubiger beim Darbringen der Leuchten spricht, lautet: »Möge das Licht der Erkenntnis in mir und in allen Menschen aufgehen, in diesem und in den folgenden Leben.« Selbst den einfachen Leuten ist der Symbolismus bewußt. Genauso ist es, wenn sie die Mantras aufsagen. J. F. - Definiere ein Mantra. M. - Etymologisch bedeutet Mantra »was den Geist schützt«, nicht vor irgendeinem Unheil, sondern vor der Zerstreutheit, der geistigen Verwirrung. Ein Mantra ist eine kurze, mehrfach wiederholte Formel, so wie beim Herzensgebet der Orthodoxen, wo der Name Jesu fortwährend wiederholt wird. Diese Technik der Wiederholung findet sich in allen spirituellen Traditionen. J. F. - Spirituell ist das nicht ihr höchster Gesichtspunkt. M. - Warum nicht? Das Rezitieren dient der Beruhigung der oberflächlichen Geistesregungen und gestattet es, das Wesen dieses Geistes zu beobachten. J. F. - Zugegeben. Aber k o m m e n wir auf die Frage der Seelenwanderung oder der Reinkarnation zurück. Du führst das Beispiel eines Flusses ohne Boot an ... Daran mißfällt mir in erster Linie die Vorstellung eines unpersönlichen Flusses, der von Individuum zu Individuum fließt, und daß diese Individuen im übrigen Menschen oder Tiere sein können ... M. - ... oder auch andere Formen ... J. F. - Oder andere Lebensformen. Das Ziel der buddhi58
stischen Praxis ist demnach, zur Auflösung des Selbst im Nirvcma zu gelangen - das heißt, wenn ich recht verstanden h a b e , die völlige Entpersönlichung des spirituellen Elements. Wie kann man unter diesen Voraussetzungen aber mit Gewißheit sagen, daß sich dieses bestimmte Individuum - das heißt eine klar und deutlich charakterisierte Persönlichkeit - in jenem bestimmten Individuum reinkarniert hat? In Anbetracht der Tatsache, daß mehr als sechs Milliarden Menschen auf der Erde leben, zuzüglich der ich weiß nicht wie vielen Milliarden Tiere etc., gibt es also dementsprechend viele Flüsse, die fließen ... Die provisorischen, k o n k r e t e n individualisierten Formationen ausfindig zu machen, in denen dieser oder jener Fluß nach dem Tod der vorherigen Inkarnation fließt, scheint mir ein völlig unmögliches Unterfangen ... Es sei denn, m a n nimmt magische oder subjektive Identifikationsprinzipien von der Größeno r d n u n g des W u n d e r b a r e n in Anspruch, die nicht s e h r überzeugend sind. M. - Man kann von »individuellem« Bewußtsein sprechen, selbst wenn das Individuum nicht als isolierte Entität existiert. Der ausbleibende T r a n s f e r diskontinuierlicher Entitäten steht der Weiterführung einer Funktion nämlich nicht im Wege. Daß das Selbst keine eigene Existenz hat, unterbindet nicht, daß ein bestimmter Bewußtseinsstrom Merkmale hat, die ihn von einem anderen unterscheiden. Obwohl kein Boot auf dem Fluß schwimmt, kann er trotzdem voller Sedimente, von einer Papierfabrik verschmutzt oder s a u b e r und klar sein. Der Zustand des Flusses zu einem bestimmten Zeitpunkt ist das Abbild und das Ergebnis seiner Geschichte. Entsprechend sind die individuellen Bewußtseinsströme mit dem Ergebnis der positiven oder negativen Gedanken beladen sowie mit den Spuren, die die aus diesen Gedanken resultierenden Taten und Äußerungen im Bewußtsein hinterlassen haben. Absicht der spirituellen Praxis ist, diesen Fluß nach und nach zu reinigen. Der äußerste Zustand der Klarheit ist die sogenannte spirituelle Verwirklichung. Dann sind sämtliche negativen Gefühlsregungen, sämtliche Schleier, die das Wissen verhüllen, 59
aufgelöst. Es geht nicht darum, das »Ich«, das nie wirklich existiert hat, zunichte zu machen, sondern bloß darum, seinen Betrug aufzudecken. Wenn dieses »Ich« wirklich eine Existenz an sich hätte, könnte man es niemals von der Existenz zur Nicht-Existenz befördern. J. F. - Du willst demnach etwas beseitigen, das anfangs nicht existiert. M. - Man kann ein inexistentes Selbst nicht »beseitigen«, a b e r m a n k a n n seine Inexistenz a n e r k e n n e n . Wir wollen eine Illusion beseitigen. Der Irrtum hat keine eigene Existenz. Folgendes Beispiel f ü h r e n wir an: Wenn m a n im Halbdunkel eine bunte Schnur wahrnimmt und sie für eine Schlange hält, verspürt man ein Gefühl der Angst. Vielleicht wird m a n versuchen, die Flucht zu ergreifen oder die Schlange mit einem Stock zu entfernen. Wenn aber jemand das Licht anmacht, sehen wir sofort, daß es sich gar nicht um eine Schlange handelt. In Wirklichkeit ist nichts passiert: Man hat die Schlange nicht »beseitigt«, weil sie nie existiert hat. Man hat bloß eine Illusion ausgeräumt. Solange das »Ich« als eine ganz reale Entität w a h r g e n o m m e n wird, neigt m a n dazu, alles, was m a n für a n g e n e h m und wohltuend erachtet, anzuziehen, und alles, was m a n f ü r u n a n g e n e h m oder abträglich hält, von sich zu weisen. Sobald m a n erkennt, daß das »Ich« keine wirkliche Existenz hat, verflüchtigen sich solche Reize und Abneigungen genauso wie die Angst vor der Schnur, die m a n für eine Schlange gehalten hat. Das »Ich« besitzt weder Ursprung noch Ende und hat deswegen in der Gegenwart keine andere Existenz als die, die ihm das Geistige zuweist. Kurz, das Nirvana ist keine Auslöschung, sondern die letzte Erkenntnis des Wesens der Dinge. J. F. - Wenn das so ist, wie und warum hat sich dann die Illusion des Selbst herausgebildet? M. - Es gibt ein natürliches Selbst- und Ich-Gefühl, das uns denken läßt: Mir ist kalt, ich habe Hunger, ich gehe etc. Dieses Gefühl ist an sich neutral. Es trägt von sich aus weder zum Glück noch zum Leid bei. Doch dann stellt sich die Vorstellung ein, daß unser Selbst eine Art Konstante ist, 60
die trotz der körperlichen und geistigen Veränderungen, die wir erleben, unser ganzes Dasein durchmißt. Wir hängen an dieser Vorstellung des Selbst, dieser Vorstellung u n s e r e r »Person«, wir denken »mein« Körper, »mein« Name, »mein« Geist etc. Der Buddhismus spricht von einem Kontinuum des Bewußtseins, aber er bestreitet die Existenz eines dauerhaften, beständigen und autonomen »Selbst« i n n e r h a l b dieses Kontinuums. Die Essenz der buddhistischen Praxis ist daher, diese Illusion eines »Ich«, das u n s e r e Vorstellung von der Welt verfälscht, zu zerstreuen. J. F. - Aber ich komme auf meine Frage zurück. Wie kann man bestimmte Bewußtseinsströme wiedererkennen? M. - Um das Beispiel des Flusses beizubehalten, so ist es vorstellbar, daß m a n einen Fluß hundert Kilometer stromabwärts vom ersten Beobachtungspunkt wiedererkennen kann, indem m a n die Beschaffenheit des m i t g e f ü h r t e n Schwemmlandes, der Minerale, Pflanzen etc. untersucht. Wenn j e m a n d imstande ist, die Bewußtseinsströme der Menschen unmittelbar zu erfassen, könnte man sich ebenso vorstellen, daß er die Charakteristika eines bestimmten Bewußtseinsstroms w i e d e r e r k e n n e n k a n n . Die Frage ist also: Kann m a n die Fähigkeit entwickeln, Bewußtseinsströme wahrzunehmen, oder nicht? J. F. - Im Augenblick macht Deine Erklärung die Sache für mich eher rätselhafter, als sie aufzuklären. M. - Wir stehen vor einem methodischen Problem. Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus würde man sagen, ein Experiment ist verläßlich, wenn es von anderen Forschern wiederholt w e r d e n kann. Das setzt voraus, daß alle über dieselben Forschungsmittel verfügen. Im sportlichen Bereich räumt man sehr wohl ein, daß Athleten nach intensivem Training außerordentliche Fähigkeiten entwickeln. Wenn man jemandem, der noch nie etwas von den Olympischen Spielen gehört hat, sagte, ein Mensch könne zwei Meter vierzig hochspringen, dann würde er ausrufen, das sei schlicht und einfach ein Scherz. Nun kann jeder, selbst der Dümmste, inklusive derer, die wie ich nur einen Meter 61
zehn hochspringen können, im Fernsehen oder in Wirklichkeit einen Champion sehen, der imstande ist, zwei Meter vierzig hochzuspringen. Es wird a n e r k a n n t , d a ß das die Frucht einer beharrlichen körperlichen Anstrengung ist. Wenn es aber um die Schulung des Geistes geht, ist es sehr viel schwerer, ihre Resultate zu erkennen und einzugestehen, daß m a n eine Stufe geistiger Beherrschung erreichen kann, die genauso außergewöhnlich ist wie die Körperbeherrschung eines Athleten. J. F. - Ja. Aber j e d e r k a n n ü b e r p r ü f e n , daß ein Athlet zwei Meter vierzig hochspringt oder hundert Meter in weniger als zehn Sekunden läuft. M. - Warum? Weil sie es sehen! J. F. - Ja. M. - Wäre es nicht ersichtlich, könnten sie es nur überprüfen, w e n n sie selbst trainierten, w e n n sie erst einen Meter zehn h o c h s p r ä n g e n , d a n n einen Meter achtzig ... und, sofern sie hochtalentiert sind, zwei Meter vierzig. J. F. - Wäre es nicht ersichtlich, liefe es darauf hinaus, dem Champion auf sein Wort hin zu glauben. M. - Im wissenschaftlichen Bereich sieht m a n sich immer wieder angehalten, Entdeckungen und m a t h e m a t i s c h e n B e r e c h n u n g e n auf Ehrenwort hin zu glauben, ohne d a ß m a n selbst die geringste u n m i t t e l b a r e E r f a h r u n g damit hätte. Man erkennt ihre Gültigkeit an, weil man weiß, daß eine gewisse Zahl achtbarer Wissenschaftler die Hypothesen unabhängig voneinander überprüft haben und zu denselben Ergebnissen gekommen sind, und daß andere Wissenschaftler sie ü b e r p r ü f e n können, sofern sie sich die Mühe machen wollen. Um selbst zu solchen Schlußfolgerungen zu gelangen, müßte man einen langen Lehrprozeß auf sich n e h m e n . Man k a n n eine Beteuerung für gültig e r a c h t e n , wenn m a n gute Gründe hat, einer Bezeugung Glauben zu schenken. In gewissen Fällen kann man jemandem auf sein Wort hin glauben, ohne ihm deshalb blind zu vertrauen. Man kann seine Integrität prüfen und, als letztes Mittel, selbst den Weg der inneren Wandlung einschlagen. Über welches andere Mittel - abgesehen von der persönli62
chen E r f a h r u n g - verfügen wir, um das Wissen ü b e r die subtilen Bewußtseinsaspekte zu beurteilen? Das Wesen des Bewußtseins hat weder Form noch Substanz noch Farbe, es ist nicht quantifizierbar. Sich nicht auf die persönliche Erfahrung zu stützen, liefe darauf hinaus, a priori jede Möglichkeit einer geistigen Schulung zu leugnen, die geeignet wäre, überdurchschnittliche Fähigkeiten hervorzubringen, und damit den Erkenntnisbereich auf die sichtbare oder meßbare materielle Welt zu beschränken! Das hieße auch, daß ein Phänomen, um zu existieren, notwendigerweise für alle verständlich sein müßte, zu jeder Zeit, an jedem Ort, und ausschließlich im materiellen Bereich. J. F. - Es gibt zwei Aspekte in Deiner Argumentation. Um noch einmal den Vergleich mit dem Hochsprung heranzuziehen, so ist da zum einen die Tatsache, d a ß m a n einen Sprung ü b e r zwei Meter vierzig, ohne den Athleten zu sehen, nicht für möglich hält. Zum anderen ist da der Glaube, daß sich nach dem Tod des Athleten die Fähigkeit, zwei Meter vierzig hoch zu springen, in einem Neugeborenen wiederfindet, den m a n n a c h speziellen Methoden ausersieht ... M. - (Lachen) Das ist es natürlich nicht, was ich sagen will. Das Beispiel des Hochspringers b e s c h r ä n k t sich auf den Hinweis, daß die außergewöhnlichen Fähigkeiten des Sportlers anerkannt werden, weil sie jeder mit seinen eigenen Augen w a h r n e h m e n kann. J. F. - Auch im spirituellen Bereich ist das immer anerkannt worden. Daß man durch Arbeit, Lernen und Übung intellektuelle Fähigkeiten oder eine geistige Beherrschung entwickeln kann, die überdurchschnittlich sind, hat man stets für möglich gehalten. Im modernen Unterrichtswesen, das sich, übrigens auf Kosten großer Scheinheiligkeit, egalitär gibt, tut m a n das weniger. Wider besseres Wissen. Denn m a n weiß sehr wohl, d a ß es auf geistiger Ebene außergewöhnliche Leute gibt und daß solche exzeptionellen Charaktere nichts leisten, wenn sie nicht durch intensive Schulung und tägliche Praxis dazu gebracht w e r d e n . Genauso weiß man, daß sich so etwas nicht von einem Indi63
viduum auf das nächste übertragen läßt, auch nicht durch die Ausbildung. M. - Ich werde dieselbe Überlegung durchführen, aber auf der Ebene der kontemplativen Wissenschaft, nicht nur auf der des »Intelligenzquotienten«. So möchte ich auf die Tatsache zu sprechen kommen, daß die Äußerungen derjenigen, die im Laufe ihres Lebens außergewöhnliche spirituelle Fähigkeiten entwickelt haben, von außen sehr schwer zu beurteilen sind. Um ihre Fähigkeiten unmittelbar zu erfassen, müßte m a n sie selbst entwickelt haben, was ein ganzes Leben analytischer und kontemplativer Arbeit am Geist voraussetzt. Außerdem sind die physischen Leistungsu n t e r s c h i e d e im Beispiel des Hochsprungs quantitativer Ordnung, während die Leistungsunterschiede im geistigen Bereich qualitativer Ordnung sind. Das Abendland hat sich k a u m für die kontemplative Wissenschaft interessiert. In den Schriften von William James, einem der Begründer der modernen Psychologie, hat mich eine Sache verblüfft. Ich zitiere ihn aus dem Gedächtnis: »Ich habe versucht«, sagte er, »meine Gedanken für einige Augenblicke anzuhalten. Offensichtlich ist das unmöglich. Sie kommen sofort wieder.« Seine Behauptung brächte Hunderte von tibetischen Eremiten zum Lächeln, die - n a c h d e m sie J a h r e damit zugebracht haben, ihren Geist zu beherrschen - fähig sind, ü b e r einen langen Zeitraum in einem Zustand des Wachseins zu verharren, der frei von geistigen Assoziationen ist. J. F. - William J a m e s ist der amerikanische Autor, der den Ausdruck »Bewußtseinsstrom«, »stream of consciousness«, geprägt hat. Und in der Tat, wenn Du mir sagst, es gelänge den buddhistischen Eremiten, den Fluß i h r e r Gedanken zu stoppen, wer beweist das? Muß m a n auch ihnen auf ihr Wort hin glauben? M. - Warum nicht? Diese Fähigkeit hat nichts Außergewöhnliches. Selbst weniger begabte Leute können diese Erfahrung im Laufe ihrer Übungsjahre machen. Es genügt, sich die Mühe zu machen. Es geht nicht darum, die Gedanken zu blockieren, sondern einfach d a r u m , in einem Zu64
stand von wacher Gegenwärtigkeit, von Klarheit und Wissen zu verharren, in dem die diskursiven Gedanken zur Ruhe kommen. J. F. - Was heißt hier »zur Ruhe kommen«? M. - Das heißt, das Rad der diskursiven Gedanken hört auf, sich zu drehen, die Gedanken hören auf, sich endlos aneinanderzureihen. J. F. - Es findet also doch ein Denken statt, es kommt zu Vorstellungen. M. - Das ist eine wache Gegenwärtigkeit, ein Zustand klaren Bewußtseins, der meist frei von Vorstellungen ist. Das ist kein lineares Denken mehr, sondern ein unmittelbares E r k e n n e n . Eine solche Übung läßt sich wie folgt beschreiben. Der Versuch, die Gedanken zu beherrschen, m a c h t zunächst größte Mühe. Die Gedanken gleichen einem Wasserfall, der von einer Klippe stürzt, es hat sogar den Anschein, als seien es mehr als sonst - was nicht heißt, daß es wirklich m e h r sind, s o n d e r n einfach, d a ß m a n anfängt, sich ihrer Zahl bewußt zu werden. Die folgende Phase wird mit einem Fluß verglichen, dessen Wasserlauf mal aus Stromschnellen, mal aus r u h i g e r e n Passagen besteht. Sie entspricht einem Zustand, wo der Geist ruhig bleibt, es sei denn, er wird durch die Wahrnehmung äußerer Vorkommnisse angeregt. Zuletzt wird der Geist wie ein Ozean bei ruhigem Wetter: Windstöße diskursiver Gedanken fahren gelegentlich über seine Oberfläche, doch in der Tiefe gerät er nie aus der Ruhe. So k a n n man einen Bewußtseinszustand erreichen, den man »klares Bewußtsein« nennt. In ihm ist der Geist vollkommen luzide, ohne ständig in diskursive Gedanken verwickelt zu werden. J. F. - William James hätte diesen Punkt nicht bestritten. Ich glaube, sämtliche Psychologen und Philosophen haben immer a n e r k a n n t , daß ein Unterschied besteht zwischen dem Zustand beherrschten, auf einen bestimmten Gegenstand hin konzentrierten, gesteuerten Denkens und dem Zustand undisziplinierten Denkens mit seinen ungelenkten Gedankenassoziationen, eben jenen, die der Psychoanalytiker aus seinem Patienten hervorlocken möchte. Dabei han65
delt es sich jedoch nicht um eine totale Unterbrechung des Bewußtseins. M. - Natürlich handelt es sich nicht um eine Unterbrechung des Bewußtseins, sondern um ein vorübergehendes Aussetzen der diskursiven Gedanken, der Gedankenassoziationen. J. F. - Durch was werden sie ersetzt? M. - Durch einen reinen Bewußtseinszustand. J. F. - Ja, aber hat das klare Bewußtsein ein Objekt? M. - Nein, das ist ein Zustand des reinen E r w a c h e n s ohne Objekt. Gewöhnlich wird das reine Bewußtsein mit der Wahrnehmung eines Objekts in Verbindung gebracht, und deshalb erkennen wir es nicht. Es ist uns nah, aber wir sehen es nicht. Wir fassen das Bewußtsein lediglich als ein durch sein Objekt bestimmtes auf. Es ist jedoch möglich, die unmittelbare Erfahrung dieser reinen, wachen Gegenwärtigkeit zu machen, wenn m a n die Begriffe, Erinnerungen und Erwartungen in der leuchtenden Leere des Geistes sich auflösen läßt, sofern sie sich dort formieren. Um den Geist zu beruhigen, übt man sich zunächst in der Konzentration auf »einen einzigen Punkt«. Als Stütze dient ein ä u ß e r e s Objekt, zum Beispiel ein Bild des Buddha, oder ein inneres Objekt, ein Begriff wie das Mitleid oder ein visualisiertes Bild. So gelangt m a n in einen Zustand der Gleichmut, zugleich t r a n s p a r e n t , klar und wach, wo die Dichotomie von Subjekt und Objekt nicht mehr existiert. Sofern von Zeit zu Zeit ein Gedanke im Innersten dieser wachen Gegenwärtigkeit auftaucht, löst er sich spurlos wie ein Vogel am Himmel von selbst wieder auf. Es genügt aber nicht, nur für ein p a a r Augenblicke zu versuchen, den Strom der Gedanken zu stoppen, so wie es William J a m e s gemacht hat. Das erfordert persönliche Übung, die Jahre dauern kann. Unter den vielen Weisen, die ihr Leben der Kontemplation gewidmet haben - wie mein spiritueller Meister Khyentse Rinpoche, der siebzehn J a h r e zurückgezogen in Grotten und Gebirgseremitagen v e r b r a c h t e -, gelangen einige zu einer außergewöhnlichen Beherrschung des Geistes. Wie soll m a n ihren Aussagen Glauben schenken? Indirekt. 66
Indem man alle Aspekte ihrer Person beurteilt. Es gibt keinen Rauch ohne Feuer. Ich habe zwanzig J a h r e bei einigen dieser Meister verbracht, die behaupten, daß es ein immaterielles Bewußtsein gebe und d a ß es möglich sei, den Bewußtseinsstrom eines a n d e r e n Menschen w a h r z u n e h men. Ich habe sie noch nie lügen hören, sie noch nie irgend j e m a n d e n betrügen sehen, nie den geringsten Gedanken, die geringste Äußerung oder Handlung bei ihnen festgestellt, die anderen zum Schaden gereicht hätten. Mir scheint es daher vernünftiger, ihnen Glauben zu schenken, als den Schluß zu ziehen, sie erzählten bloß Witze. Wenn der Buddha sagt, der Tod sei n u r eine Lebensetappe und das Bewußtsein setze sich nach dem Tod fort, so besitzen wir nicht die Fähigkeit, dieses Bewußtsein selbst wahrzunehmen. Angesichts der Tatsache, daß alle ü b e r p r ü f b a r e n Äußerungen und Lehren des Buddha wahrheitsgemäß und vernünftig erscheinen, ist es ebenfalls wahrscheinlicher, daß er die Wahrheit sagt, als umgekehrt. Ziel des Buddha w a r es, die Menschen aufzuklären, und nicht, sie irrezuführen, ihnen bei der Bewältigung ihrer Qualen zu helfen, und nicht, sie ihnen auszusetzen. J. F. - Ganz gleich, was Du sagst, es ist mehr eine Frage des Vertrauens als ein Beweis. M. - Drei Kriterien gestatten es dem Buddhismus zufolge, eine Behauptung als rechtmäßig anzusehen: die Überprüfung durch die unmittelbare Erfahrung, die unwiderlegbare Deduktion und das vertrauenswürdige Zeugnis. Hier handelt es sich also um die dritte Kategorie. Aber kommen wir auf die tibetischen Meister zurück, die den Bewußtseinsstrom eines verstorbenen Weisen wie Khyentse Rinpoche w i e d e r e r k e n n e n . Das W i e d e r e r k e n n e n , das seinen Ursprung in meditativen Erfahrungen hat, erlaubt ihnen zu sagen, in welchem Wesen sich der Bewußtseinsstrom des verstorbenen Meisters fortgesetzt hat, ganz so, als könnte m a n - wenn es eine solche Sache bei den Christen gäbe sagen, daß sich der spirituelle Einfluß des heiligen Franz von Assisi in diesem oder jenem Kind fortgesetzt hätte. J. F. - Ja, aber ich kenne Priester oder Laien, die über die 67
moralischen Qualitäten verfügen, die Du gerade aufgezählt hast, und die an die Wunder von Lourdes glauben oder an das Erscheinen der Muttergottes von Fatima in Portugal, w a s f ü r mich reine P h a n t a s m a g o r i e n sind. J e m a n d k a n n s e h r wohl völlig aufrichtig sein oder noch nie versucht haben, jemanden zu betrügen, und sich doch Illusionen hingeben. M. - In dem Fall, von dem ich spreche, geht es nicht um wunderbare Begebenheiten, sondern um innere Erfahrungen, die zahlreiche Meister im Laufe der J a h r h u n d e r t e gemacht haben. Das ist etwas anderes. J. F. - Ach, nein ... Wenn j e m a n d behauptet, Zeuge eines Wunders in Lourdes gewesen zu sein, ist das keine Frage der Auslegung! Er ist überzeugt, d a ß er einer Tatsache gegenübersteht. Im übrigen kann er sehr wohl die größte Ehrlichkeit an den Tag legen, die größten moralischen Vorzüge und m u ß ü b e r h a u p t nicht d a r a u f aus sein, Dich zu betrügen. M. - Nehmen wir den konkreten Fall von Khyentse Rinpoche wieder auf. Ein ihm n a h e s t e h e n d e r Schüler und Gefährte, ein spiritueller Meister, der zweihundert Kilometer von Katmandu entfernt in den Bergen lebt, schickte uns einen Brief. In Träumen und Visionen, die sich deutlich in seinem Geist abzeichneten, hätte er genaue Hinweise zu den Namen des Vaters und der Mutter der Inkarnation von Khyentse Rinpoche und über den Ort erhalten, wo wir sie suchen sollten. J. F. - Und hat m a n den Beweis, daß er die Namen der Eltern des Neugeborenen nicht kennen konnte und sie trotzdem exakt angegeben hat? M. - Er hatte gar keinen Grund, die Eigennamen des Vaters und der Mutter zu k e n n e n . Der Vater des kleinen Jungen ist nämlich selbst ein Lama und nur unter seiner Rangbezeichnung b e k a n n t . Unter ihren Familiennamen wendet sich in der tibetischen Gesellschaft niemand an ihn oder seine Frau. Was die Exaktheit der Namen betrifft, so w a r ich zugegen, als der Brief dem Abt unseres Klosters überreicht und zum ersten Mal verlesen wurde. Man muß 68
sich klarmachen, daß besagter Meister die Reinkarnation seines eigenen Meisters suchte, das heißt der Person, die er am meisten auf der Welt respektiert. Das Ziel w a r nicht, irgendeinen Nachfolger für das oberste Klosteramt zu finden, sondern die spirituelle Fortsetzung eines Weisen zu identifizieren, in der Hoffnung, daß er sich, wie sein Vorgänger, Fähigkeiten aneignen würde, die es ihm erlaubten, den Menschen zu Hilfe zu kommen. J. F. - Nun, um dieses Gespräch über die Frage, ob der Buddhismus eine Religion oder eine Philosophie ist, abzuschließen, würde ich sagen, daß er von beidem etwas hat. Mit Sicherheit gibt es ein Glaubensmoment. Denn selbst wenn m a n die Erklärungen, die Du gerade abgegeben hast, billigt - mich, für meinen Teil, überzeugen sie nicht -, existiert nichtsdestoweniger ein Moment des Glaubens, des Vertrauens gegenüber bestimmten Individuen und ihren Bezeugungen. Und das gehört, wie Du zugestehen wirst, nicht in die Kategorie des rationalen Beweises. M. - Gewiß, aber es handelt sich nicht um blinden Glauben, und dogmatische B e h a u p t u n g e n finde ich wirklich schwerer zu akzeptieren als Bezeugungen, die auf spiritueller Erfahrung und Verwirklichung beruhen. J. F. - Allerdings! M. - Im täglichen Leben werden wir im Grunde ständig von Ideen und Überzeugungen beeinflußt, die wir für wahr halten, weil wir die Kompetenz unserer Informanten anerkennen - sie kennen sich da aus, das funktioniert, also muß das wahr sein. Von daher das Vertrauen. Doch die meisten u n t e r uns w ä r e n nicht imstande, die wissenschaftlichen Wahrheiten selbst zu beweisen. Überzeugungen wie etwa die, daß das Atom ein kleines, festes, um den Atomkern kreisendes Teilchen sei, beeinflussen die Auffassungsweise der Menschen übrigens oft noch lange, nachdem sie von den Wissenschaftlern selbst aufgegeben worden sind. Wir sind bereit zu glauben, was m a n uns sagt, vorausgesetzt, daß es einer a n e r k a n n t e n W e l t a n s c h a u u n g entspricht. Alles, was ihr nicht entspricht, betrachten wir jedoch als suspekt. Im Falle der kontemplativen Sehweise liegt der 69
Grund f ü r den Zweifel, den viele u n s e r e r Zeitgenossen gegenüber den spirituellen Wahrheiten hegen, in der fehlenden Praxis. Viele Dinge werden daher bis zu dem Tag als ü b e r n a t ü r l i c h eingestuft, an dem m a n begreift, wie sie zustande kommen, oder an dem m a n sie selbst erfährt. Wie Cicero sagte: »Was nicht geschehen kann, ist nie geschehen, und was geschehen kann, ist kein Wunder.« J. F. - Aber ich komme noch einmal auf die Tatsache zurück, daß es in den von Dir angesprochenen Begebenheiten ein Moment irrationalen Glaubens gibt. M. - Es wäre gerechter, von einem Moment des Vertrauens zu sprechen, das auf einer ganzen Reihe beobachtbarer Faktoren beruht. Nachdem ich viele Jahre bei Meistern dieser Art gelebt h a b e , ist eine der wichtigsten Lehren f ü r mich, daß sie in vollkommenem Einvernehmen mit dem stehen, was sie lehren. Du hast mir gegenüber die mystische E r f a h r u n g von einigen Priestern erwähnt. Mit Sicherheit hat es sehr große Weise in der Christenheit gegeben, etwa den heiligen Franz von Assisi, aber ich glaube, nicht einmal bei aufrichtiger, rechtschaffener Praxis gelangen alle Priester und Mönche zu spiritueller Vollkommenheit. In Tibet befanden sich zwanzig Prozent der Bevölkerung in Ordensgemeinschaften, und im Laufe unseres Jahrhunderts sollen unter all diesen Praktizierenden nur um die dreißig zu spiritueller Vollkommenheit gelangt sein! Man kommt also durch die Beurteilung ihres g e s a m t e n Wesens zu dem Schluß, daß diese Weisen wissen, wovon sie sprechen, wenn sie Hinweise zur Bestimmung eines spirituellen Nachfolgers geben. Warum sollten sie es auf einen Betrug absehen? Die meisten leben als Eremiten und wollen weder irgendwen überzeugen, noch sich selbst in den Vordergrund drängen. Um zu zeigen, wie sehr der Buddhismus Hochstapelei verurteilt, füge ich hinzu, daß einer der vier Hauptverstöße gegen die Klosterregeln die fälschliche Behauptung ist, ein höheres spirituelles Niveau erlangt zu haben. Nun ist der Weise, der Khyentse Rinpoche in dem neugeborenen Kind wiedererkannt hat, aber einer der mustergültigsten Lamas der Klostergeschichte. Er hat Tausende von 70
Mönchen geweiht und würde sich nicht erlauben, Weihen zu spenden, wenn er seine Gelübde selbst gebrochen hätte. Also kann m a n vernünftigerweise annehmen, daß er seine Visionen in bester Kenntnis der Sache und in völliger Aufrichtigkeit mitgeteilt hat, um seinen eigenen spirituellen Meister wiederzufinden. J. F. - Nicht seine Aufrichtigkeit stelle ich in Zweifel! Ich mache nur auf das Phänomen der Selbstüberzeugung aufmerksam. Das ist ein wohlbekanntes Phänomen, das auch in anderen Bereichen auftritt. Viele Menschen haben sich selbst von der Rechtmäßigkeit des Kommunismus oder des Nazismus überzeugt, und das oft in völlig uneigennütziger Weise. Wenn die großen totalitären Systeme - mit denen ich den Buddhismus, der das genaue Gegenteil ist, gar nicht vergleiche, ich spreche einzig und allein unter dem Blickwinkel der Selbstüberzeugung ... w e n n die großen totalitären Systeme nur von Dummköpfen und Gesindel verteidigt w o r d e n w ä r e n , h ä t t e n sie keine fünf Minuten ü b e r d a u e r t ! Das D r a m a ist, daß hochintelligente Leute, große Gelehrte wie Frederic Joliot-Curie oder selbst Albert Einstein nach dem Zweiten Weltkrieg Kommunisten oder Weggefährten des Kommunismus gewesen sind. Andere haben sich ihm ergeben, haben ihr Leben für ihn geopfert, auf ihr Vermögen verzichtet, auf ihre privaten Neigungen. Die Frage der absoluten Aufrichtigkeit einer Person, die an etwas glaubt, hat also nie einen Beweis dargestellt. Diese Feststellung betrifft einen Teil des Buddhismus, der f ü r mich - als Vertreter einer rationalistischen a b e n d l ä n dischen Tradition - mehr zum nicht verifizierbaren religiösen Glauben gehört als zur Philosophie, zur rationalen Weisheit. M. - Ich glaube, in unserem nächsten Gespräch über die Beziehungen von Körper und Geist werden einige Punkte, so hoffe ich, Wasser auf meine Mühlen sein. J. F. - Nichts wünsche ich mehr.
71
Das Phantom in der Black box
- Bei der Analyse der buddhistischen Psychologie und ihrer Verbindung zur abendländischen Psychologie, wie sie sich insbesondere seit dem 19. J a h r h u n dert herausgebildet hat, m ü s s e n wir das Verhältnis von Bewußtsein und Körper untersuchen. Das ist die klassische Frage: Ist der Mensch eine Z u s a m m e n s e t z u n g - die berühmte »menschliche Zusammensetzung«, von der Descartes sprach -, das heißt, besteht er aus einem Geist, der im I n n e r e n eines Körpers wohnt? Oder ist die Psyche, getrennt von ihrer materiellen Hülle, nicht in Wirklichkeit eine Illusion, wie es die materialistischen Philosophen und ein Teil der modernen Neurophysiologie behaupten? MATTHIEU - Zwischen den zwanziger und den sechziger J a h r e n ist die Psychologie zum großen Teil von der Vorstellung bestimmt worden, daß m a n zur Erforschung der Funktionsweise des Geistes das ä u ß e r e Verhalten und ja nicht den Geist selbst beobachten müsse. Der Geist, sagte man, k a n n sich selbst nicht auf objektive Weise erkennen. Was natürlich jede kontemplative Annäherung ausschließt. Nur die äußeren Manifestationen der geistigen Vorgänge wurden untersucht - eine Haltung, die von vornherein sämtliche mentalen Vorgänge, die sich nicht im Verhalten niederschlagen, ausschließt. Die meisten Experimente w u r d e n übrigens an Tieren durchgeführt. Diese Sicht der Dinge ist d a n n z u n e h m e n d von den kognitiven Wissenschaften ersetzt worden (Neurologie, kognitive Psychologie, Linguistik, künstliche Intelligenz etc.), die den Geisteszuständen einen sehr viel wichtigeren Platz e i n r ä u m e n , sei es hinsichtlich der Art, wie bei der Erkenntnis Informationen aus der Umwelt bezogen w e r d e n (die W a h r n e h m u n g e n , die Kommunikation, die Gefühlsregung), sei es im Hinblick auf die Autonomie dieser Erkenntnis (die Träume, die Erinne-
JEAN-FRANQOIS
72
rungen, die Vorstellungskraft, die Sprachentwicklung etc.). Doch auch heute noch scheint die Introspektion, der Blick, den der Geist auf sich selbst richtet, nicht als rechtmäßige Forschungsmethode zu gelten, denn einstweilen kann man die Ergebnisse der Introspektion nicht in physikalisch nachweisbare Phänomene verwandeln. Im übrigen ist die Mehrheit der Neurobiologen zu der Ansicht gelangt, m a n könne ganz ohne das »Phantom in der Black box« a u s k o m m e n , das heißt ohne den Begriff des Bewußtseins oder des Geistes als distinkter Faktor des z e r e b r a l e n Systems. Ihnen zufolge genügen die Struktur und die Funktionsweise des neuronalen Netzes sowie die dort auftretenden chemischen Reaktionen und elektrischen Phänomene, um das zu erklären, was wir das Denken nennen. Der Begriff des Geistes, zumal der des immateriellen Bewußtseins, ist demnach völlig überholt. Das Modell der komplexen Neuronennetze, die sich auf verschiedene Regionen des Gehirns verteilen, gilt als das beste. Vielleicht können wir diese Auffassung als »verdinglichend« oder »reduktionistisch« bezeichnen, weil sie das Bewußtsein auf chemische Reaktionen und eine biologische Struktur reduziert. J. F. - Im Abendland ist die Debatte in Wirklichkeit noch älter. Ende des 19. Jahrhunderts w a r e n bereits Verhaltenslehren bestimmend, die behavioristische Schule oder die damals praktizierte Psychophysik mit ihrer Behauptung, das Bewußtsein sei nur ein Epiphänomen, eine Art Lichtschein, der dem neurozerebralen System nachträglich hinzugefügt worden sei. Der Mensch erschien als ein Komplex physikalisch-chemischer und biologischer Reaktionen. Das Bewußtsein w a r eine Widerspiegelung dieser Prozesse, hatte aber keinerlei Einfluß auf sie. Gegen diese, die Psychologie ihrer Zeit b e h e r r s c h e n d e Schule h a t sich ein b e r ü h m t e r philosophischer Schriftsteller gewandt: Henri Bergson. In seinem gesamten Werk, namentlich 1889 in seinem ersten Buch, seiner Dissertation Les Donnees immediates de la conscience (dt. Zeit und Freiheit), und 1900 in Matiere et memoire (dt. Materie und Gedächtnis), dem 73
wichtigsten und substantiellsten Buch, das er dieser Frage gewidmet hat, versucht Bergson zu zeigen, daß die Behauptung, das Bewußtsein sei nur die Widerspiegelung eines Zusammenwirkens neurophysiologischer Prozesse, falsch ist. Es habe eine Realität, die sich nicht auf diese Prozesse beschränke. Bereits im 18. J a h r h u n d e r t gibt es diese Auseinandersetzung. Schriftsteller wie La Mettrie, Autor des Buches L'homme-machine (dt. Der Mensch eine Maschine), stellen die These auf, daß der Mensch nur ein Zusammenspiel von Mechanismen sei. Andere Materialisten des 18. J a h r h u n d e r t s - so Helvetius in seinem Buch De l'Esprit (dt. Vom Geist), Holbach oder Diderot - versuchen, dieselbe These zu beweisen. Es handelt sich also um eine ziemlich alte Auseinandersetzung, die im abendländischen Kontext aus dem Kartesianismus stammt. Descartes ist der Auffassung, der menschliche Körper, das Biologische als solches, existiere nicht. Er sei das »Ausgedehnte«, das dem Determinismus der Außenwelt Unterworfene. Die Seele sei etwas vom Körper völlig Getrenntes, könne aber trotzdem auf den Körper einwirken. Descartes ging so weit und verlegte die Seele in eine Hirndrüse, die Zirbeldrüse. Alle großen Postkartesianer, ob nun Spinoza, Malebranche oder Leibniz, haben über diese These gespottet. Sie räumten ein, daß die Seele vom Körper zu unterscheiden sei, nicht jedoch, daß sie auf die Materie einwirken könne. Um die Spontaneität des Willens zu erklären, hat jeder ungemein ausgeklügelte, komplizierte Theorien ausgeheckt, die eine unwahrscheinlicher als die andere. Ich beschließe, meinen Arm auszustrecken. Es gelingt mir, nicht weil meine Seele auf meinen Körper einwirkt, sondern weil es zwei parallele Determinismen gibt. Das ist, sagen wir, die These von Malebranche. Alle haben versucht, eine Lösung zu finden, um die scheinbare Gleichzeitigkeit unseres Wollens und Tuns zu erklären. Ich habe auf diese Autoren kurz hingewiesen, um daran zu erinnern, daß es sich nicht um eine neue Frage handelt. Die Entwicklung der modernen Wissenschaft und der Neurophysiologie hat mit weit mehr Präzision zur Vorstellung des neuronalen 74
Menschen geführt, der ein Komplex neurophysiologischer Mechanismen ist. Die Psyche stellt demnach nichts anderes d a r als diese Mechanismen oder höchstenfalls eine Art Widerspiegelung, die diesem Komplex angefügt ist, ohne ihn jedoch zu beeinflussen. M. - Glaubt der Westen, die Frage »Körper und Geist« gelöst zu haben? J. F. - Die Entwicklungen der zeitgenössischen Wissenschaft haben eher die antispiritualistische These bestätigt und die Vorstellung widerlegt, daß im Menschen ein spirituelles und ein materielles Prinzip vorhanden seien - und zwar, im Rahmen der Natur, einzig und allein im Menschen. Die spiritualistische oder dualistische These zieht in Betracht, daß das Universum selbst aus einer spirituellen und einer materiellen Substanz zusammengesetzt ist. Das ist ein metaphysisches Postulat, das ist die alte platonische, plotinische oder christliche These, was immer m a n will. Unter den Lebewesen soll sich diese w u n d e r b a r e Begegnung, die Vereinigung des spirituellen und des materiellen Prinzips, allein im Menschen vollziehen. Die ganze abendländische Philosophie hat sich mit dem Versuch abgemüht, einerseits die Beziehungen zwischen Körper und Geist, das heißt auf griechisch zwischen Sorna und Psyche, zu erklären, und andererseits zu beweisen, daß beim Tod des Körpers die Seele entweicht, um a n d e r s w o glücklichere Tage zu verleben. Dagegen h a t sich - mit deutlichem Nein! - eine ganze monistische und materialistische Strömung gewandt. (Dem Monismus zufolge gibt es im Universum nicht zwei Prinzipien, s o n d e r n ein einziges: die Materie. Man könnte a u c h behaupten, das sei der Geist. Aber es zeigt sich, daß seit drei J a h r h u n d e r t e n eher der materialistische Monismus dominiert.) Der Mensch ist d e m n a c h ein körperliches Wesen ... biologisch wie die a n d e r e n . Die w a h r e Unterscheidung ist die zwischen der Materie und dem Belebten. Und auch, ob das Belebte aus der Materie hervorgegangen ist. Das Bewußtsein ist danach aus der Gesamtheit der neurozerebralen Faktoren entstanden, deren Fortentwicklung 75
zur Sprache geführt habe. Im wesentlichen sei es die Sprache, die die Matrix des Bewußtseins - des Bewußtseins von den Dingen und des Bewußtseins von sich selbst - und das Instrument des Denkens sei. Und daher sei es eine Illusion zu glauben, daß es sich um eine vom Körper g e t r e n n t e Wirklichkeit handle. In den Augen eines nichtspezialisierten Beobachters haben die Fortschritte der modernen Neurophysiologie eher die zweite, von Dir reduktionistisch g e n a n n t e These bestätigt. Wie steht der Buddhismus zu dieser vorherrschenden Strömung? M. - Er unterscheidet verschiedene Bewußtseinsstufen oder -aspekte. Der Aspekt, den man als »grob« bezeichnen könnte, entspräche dem neuronalen System. Ein subtilerer Aspekt wäre vielleicht der von Dir erwähnte »Lichtschein«, der als Epiphänomen des neuronalen Systems angesehen wird. Letztlich ist der immaterielle Aspekt des Bewußtseins der wesentlichste. Er stellt das Kontinuum des Bewußtseins dar, das sich von Leben zu Leben fortsetzt. Dieses Kontinuum hat weder Anfang noch Ende. Denn das Bewußte kann nicht aus nichts entstehen und auch nicht aus dem Unbelebten: J e d e r Bewußtseinsmoment entsteht aus einem Bewußtseinsmoment, der ihm vorausgeht, und erzeugt einen Bewußtseinsmoment, der ihm folgt. So wie beim Prinzip der Energieerhaltung in der Physik - die Materie-Energie k a n n w e d e r erzeugt w e r d e n noch verschwinden, sie k a n n sich n u r verwandeln - könnte m a n hier von einem Prinzip der Bewußtseinserhaltung sprechen. Es gibt also für jedes Wesen ein Kontinuum, einen Bewußtseinsstrom, der sich v e r ä n d e r n kann, ganz so wie das Wasser eines Flusses, das verschmutzt oder gereinigt werden kann. Im Verlauf der Verwandlung k a n n m a n so vom Zustand der Verwirrung des Durchschnittsmenschen zum Zustand der Erleuchtung eines Buddha gelangen. J. F. - Was aber kann der Buddhismus den Neurophysiologen entgegnen, die glauben, d a ß alles erklärt w e r d e n könne, ohne die Vorstellung eines vom Körper getrennten Geistes heranzuziehen? M. - Auf materieller Ebene ficht der Buddhismus die 76
Beschreibung des n e u r o n a l e n Menschen in keiner Weise an. Die Behauptung, das Bewußtsein beschränke sich auf seine körperliche Inschrift, ist ihm zufolge jedoch eine metaphysische Wahl und kein wissenschaftlicher Beweis. Untersuchen wir zum Beispiel die Wirkung von »Crack« einer Droge - auf das Gehirn. J. F. - Crack ist ein Derivat von welcher Droge? M. - Von Kokain ... Crack ist ein Molekül, das durch die Verhinderung der e r n e u t e n Dopamin-Absorption einen Zustand der Euphorie auslöst, der den einzelnen während der Wirkungsdauer der Droge dazu verleitet, jede andere Tätigkeit zu vernachlässigen. Die Person hört auf zu essen, zu arbeiten, zu schlafen. Sie verharrt in dieser künstlichen Euphorie. Die Droge erzeugt a u ß e r d e m eine Gewöhnung, die das ganze Leben anhält. Die einzige Hoffnung, da wieder rauszukommen, besteht darin, nichts mehr zu nehmen und Rückfälle zu vermeiden. Doch die Faszination bleibt. Den Neurobiologen zufolge drängen sich zwei Schlußfolger u n g e n auf. Die erste ist, d a ß ein einfaches Molekül eine beträchtliche Wirkung auf den Geist haben kann, ohne daß jedoch ersichtlich wird, wie sie mit einem immateriellen Bewußtsein interferieren könnte. Faktisch ist das Dopamin bei den meisten lustvollen Empfindungen im Spiel, ob sie nun durch Drogen, Tabak, Sex oder Schokoladenkonsum hervorgerufen werden! Die zweite Schlußfolgerung ist, das Bewußtsein sei höchstens eine Art Leser der Gehirnvorgänge, ohne an Entscheidungen wirklich teilhaben zu können. David Potter, ein Forscher der Harvard-Universität, der am Treffen mit dem Dalai Lama teilgenommen hat, folgert: »Sind die Entscheidungen und Gefühlsregungen, d e r e n Funktionsweise sich dem Bewußtsein entzieht und über die das Bewußtsein keine Kontrolle hat, ist dieses Entscheidungsvermögen einfach von den Nervenzellen berechnet? Das Bewußtsein wäre dann eine Art Zeuge, der das Ergebnis dieser Berechnungen oder dieser elektrischen und chemischen Reaktionen registriert, ohne aktiven Anteil am Funktionieren des Gehirns oder Entscheidungsgewalt zu haben.« Das ist also der äußerste Punkt, zu dem wir gelan77
gen. Diese Auffassung wird von der Mehrheit vertreten, ohne deshalb von allen Wissenschaftlern geteilt zu werden. J. F. - Was führst Du gegen sie an? M. - Ich glaube, der Unterschied der Standpunkte spiegelt im wesentlichen eine metaphysische Wahl wider: Die Wissenschaft lehnt die Vorstellung eines immateriellen Bewußtseins ab, das mit physikalischen Messungen definitionsgemäß nicht nachzuweisen ist. Hierin spiegelt sich der Hang, alles zu verdinglichen, das Bewußtsein wie die Erscheinungen. Die Tatsache, daß naturgegebene oder drogenbedingte Anomalien des Gehirns die Selbstkontrolle beträchtlich schwächen, kann die Existenz eines immateriellen Bewußtseins weder widerlegen noch beweisen. Man kann sehr wohl sagen, Crack beeinflusse nicht das immaterielle Bewußtsein, sondern bringe seinen zerebralen Träger in Unordnung. Das Bewußtsein kann nicht mehr mit dem Gehirn interagieren, genauso wie ein Pilot am Steuer eines beschädigten Flugzeugs nicht imstande ist, seinen Kurs zu halten. Die Euphorie, die die Droge hervorruft, ist nur eine erbärmliche Simulation wahren Wohlgefühls, zum Beispiel der Glückseligkeit des Weisen. Diese Euphorie ist ein verschleiertes Leiden: Sie bringt Selbstentfremdung und Unersättlichkeit mit sich und gipfelt in der Angst, in der nicht zu u n t e r d r ü c k e n d e n »Entzugs«-Erscheinung. Sie f ü h r t zum psychischen Verfall, der den körperlichen Verfall nach sich zieht. Die Ausgeglichenheit, die Glückseligkeit des Weisen hingegen muß durch keinen ä u ß e r e n Reiz ausgelöst werden. Zudem ist sie gegen alle günstigen oder ungünstigen Daseinsumstände gefeit, was sie festigt. Alles a n d e r e als kurzlebig, wächst und erstarkt sie mit der Zeit. Sie veranlaßt das Individuum nicht, sich in einem »künstlichen Paradies« zu verschanzen - besser sollte man sagen: in einer künstlichen »Hölle« -, sondern sich gegenüber den anderen weiter zu öffnen. Diese Ausgeglichenheit kann vermittelt und übertragen werden. J. F. - Diese Argumente scheinen mir als Antwort auf die Neurophysiologen nicht auszureichen. M. - Eine wesentliche Frage bleibt noch: Dem Modell des 78
neuronalen Menschen zufolge und a fortiori im Falle jedes Mechanismus' künstlicher Intelligenz sieht man nicht, wie es dem Bewußtsein möglich sein sollte, sich über sein eigenes Wesen zu befragen. Wie könnten wir uns fragen: »Wer bin ich? Was ist das Wesen meines Geistes?« Das Modell des neuronalen Menschen ist im wesentlichen nicht anders als das einer künstlichen Intelligenz. Das zerebrale System ist weit flexibler, interaktiver und selbstorganisatorischer als die Computer, über die wir verfügen. Doch es gibt keinen grundlegenden Unterschied. Daß eine künstliche Intelligenz beim Schachspiel gewinnen kann, besagt nicht, daß der Computer ein Bewußtsein hat, sondern nur, daß arithmetische Berechnungen ohne Bewußtsein d u r c h g e f ü h r t werden können. Das wichtigste ist zu bedenken, wozu die künstliche Intelligenz nicht fähig ist. Sie kann weder Freude noch Angst, w e d e r F r e u n d s c h a f t noch Selbstlosigkeit empfinden, sie kann Schönheit oder Häßlichkeit nicht beurteilen und auch keine metaphysische Frage stellen: Ohne großes Risiko kann m a n sagen, daß sich keine künstliche Intelligenz j e m a l s f r a g e n wird, was sie ist und w a s n a c h dem Tod oder vielmehr nach dem Versiegen ihrer Batterien mit ihr geschehen wird! Der leistungsfähigste Computer hat nicht m e h r Bewußtsein als ein Besen. Ist nicht schon die Tatsache, daß das Bewußtsein fähig ist, sich über seine eigene Existenz zu b e f r a g e n , ein Hinweis, daß dieses Bewußtsein nicht ausschließlich ein materieller oder neuronaler Mechanismus ist, wie ausgeklügelt der auch immer sein mag? Kurzum, das Modell des neuronalen Menschen scheint dem Bewußtsein j e d e s Entscheidungsvermögen abzusprechen: Alles, was einer Entscheidung gleicht, wäre dann in Wirklichkeit von einem komplexen Zusammenspiel interneuronaler Wechselwirkungen bestimmt, und der freie Wille hätte in diesem Schema nicht viel Platz. J. F. - Zwei Fragen darf m a n nicht verwechseln. Die Frage, wie m a n in E r f a h r u n g bringt, ob ein spirituelles Prinzip existiert, das beim Menschen metaphysisch vom materiellen Prinzip unterscheidbar ist - das heißt, wie man in Erfahrung bringt, ob der Mensch die Verbindung zweier 79
heterogener Substanzen ist -, und andererseits die Frage des menschlichen Handelns und der menschlichen Freiheit. Ich persönlich glaube, der Mensch besitzt eine gewisse Freiheit. Aber ich glaube nicht an die Existenz der Seele oder an ihre Unsterblichkeit. Das sind zwei verschiedene Probleme. M. - Woher soll diese Freiheit denn kommen? J. F. - Ich glaube, es gibt so etwas wie die sogenannte Psyche. Sie ist die Resultante einer neurophysiologischen Fortentwicklung des Gehirns und des Aufkommens der Sprache, der Tatsache, daß wir täglich, und zwar bewußt, mit einer Auswahl verschiedener Möglichkeiten experim e n t i e r e n , daß wir nicht völlig von den Umständen bestimmt werden, von den Begehrlichkeiten, Wünschen und Abneigungen, wie das zum Beispiel bei den Tieren der Fall sein kann. Das ist eine existentielle Realität, und ich verwende das Adjektiv mit Absicht, um in diesem Punkt einem Philosophen Anerkennung zu zollen, dem ich im allgemeinen kaum beipflichte: Jean-Paul Sartre. Die Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten darf a b e r nicht a b s t r a k t bewiesen werden. Diese Wahl ist variabel. Sie erfolgt, wie Sartre sagt, im Innern einer »Situation«, die nicht von dir selbst h e r b e i g e f ü h r t ist. Die Wahlmöglichkeiten sind beschränkt oder vielfältig. Es gibt Umstände, unter denen dir Umgebung und Kontext nur sehr wenig Möglichkeiten lassen. Wenn du in einen Krieg verwickelt wirst, eine feindliche Armee das Land erobert und dir nichts mehr bleibt, sind die Wahlmöglichkeiten sehr begrenzt, nicht w a h r ? . . . Du hast n u r eine Wahl, zu fliehen oder zu sterben, und m a n c h m a l bleibt dir nicht einmal die Möglichkeit zur Flucht. Unter a n d e r e n Umständen - und deshalb bin ich ganz konkret dem Frieden und der Demokratie verbunden - hast du einen großzügigeren Kontext, du lebst in einer Gesellschaft, die verschiedene Daseinsformen und ethische Modelle zugesteht, wo der Staat deine Sicherheit im Prinzip garantiert. In dem Fall hast Du m e h r Wahlmöglichkeiten. Du hast Dich entschieden, buddhistischer Mönch zu werden, statt am Institut Pasteur Forscher zu bleiben. Wäre 80
das während des Zweiten Weltkriegs geschehen, hättest Du diese Wahl nicht gehabt, nicht wahr? Nur die Analyse konk r e t e r Situationen läßt also die Überlegung zu, d a ß das menschliche Handeln im günstigsten Fall eine Folge der Intelligenz ist. So kann man sehr wohl vertreten, daß eine menschliche Freiheit in gewissen Grenzen existiert, eine Zustimmung zu bestimmten Werten und eine Ablehnung anderer, sowie die Handlungen, die sich d a r a u s ergeben. Das bedeutet aber noch nicht, daß wir in uns einen unsterblichen, spirituellen Ursprung haben. M. - Der Buddhismus zieht keine unsterbliche Entität in Betracht, s o n d e r n eine sich ständig v e r ä n d e r n d e Kontinuität, eine Interdependenz. Zudem habe ich nicht in dem Sinne von Willensfreiheit gesprochen, wie Du es verstanden hast, das heißt als freie Wahl der Ausrichtung seiner Existenz, s o n d e r n einfach vom Entscheidungsvermögen im jeweiligen Moment. Ein mechanisches System wird eingerichtet, um auf diese oder jene Weise auf diesen oder jenen Umstand zu reagieren. Selbst wenn es lernfähig ist, hat es keinen Grund, dieses oder jenes zu wollen. Es ist ihm egal. J. F. - Ich mag das Wort Willensfreiheit nicht, weil es ein altes Wort ist, das von der Annahme ausgeht, die Seele verfüge über unbegrenzte Entscheidungsmöglichkeiten. M. - Woher soll beim n e u r o n a l e n Menschen das Entscheidungsvermögen kommen? J. F. - Ich glaube, wir k e n n e n die Funktionsweise der menschlichen Maschine, des menschlichen Wesens und des Gehirns noch nicht genug, um das zu wissen. Wir h a b e n Fortschritte gemacht. Aber den Artikeln und Büchern zufolge, die ich lesen, und den Gesprächen, die ich mit ihren Autoren führen konnte, sind wir in der Kenntnis der zerebralen Mechanismen gerade erst am Anfang. Ich verstehe nicht, w a r u m m a n nicht akzeptieren kann, daß das Entscheidungsvermögen im Anschluß an eine Fortentwicklung des Nervensystems aufgetaucht ist, die dann zum menschlichen Gehirn geführt hat, so wie es sich vor nicht allzu langer Zeit gezeigt hat, sagen wir mit dem Homo sapiens, mit der Sprache. Wir stellen fest, daß dieses Vermögen die Auswir81
kung einer bestimmten Entwicklung des Nerven- und Zerebralsystems ist. Und wir stellen fest, daß dieses Stadium eine Wahlmöglichkeit impliziert, daß es sie mit sich bringt und zuläßt, natürlich innerhalb eines bestimmten Determinismus, des Determinismus der Natur, dem wir unterworfen sind, und sei es n u r als biologische Wesen innerhalb des geschichtlichen und soziologischen Determinismus. Ich glaube, die Analyse der einzelnen menschlichen Schicksale und der Geschichte der Gesellschaften läßt die Aussage zu, daß es - wie schon gesagt, abgesehen von den extremen Fällen totalen Zwangs - immer die Möglichkeit gegeben hat, jederzeit zwischen mehreren Handlungsmustern zu wählen. Dazu dient das Denken. Dazu dient das Urteilsvermögen. Dazu dient das Informiertsein. Das ist das Aussetzen der Handlung, die Möglichkeit, verschiedene Hypothesen, verschiedene Vermutungen in Betracht zu ziehen - es wie der Schachspieler zu machen, der versucht, mehrere Züge vorherzusehen, und daraus Konsequenzen zieht, die eher die eine Entscheidung begünstigen als die andere. M. - Aber was verstehst Du im Zusammenhang mit dem neuronalen Menschen unter: »Dazu dient das Denken«? In Wirklichkeit soll er doch nur ein Computer aus Fleisch und Blut sein? J. F. - Die Wahlmöglichkeit ist eine Sache der Erfahrung. Wenn dem nicht so w ä r e , wenn die Verkettung der Ereignisse, wie zum Beispiel die Marxisten behaupten, allein dem Determinismus des historischen Materialismus unterläge, dann ließe sich im übrigen überhaupt nicht einsehen, wozu die Regierungen, die internationalen Institutionen und die Institute für politische Wissenschaft dienen sollten. Wenn man sagt, was geschehen ist, mußte geschehen, bräuchten die Gerichte ja niemanden zu verurteilen, nicht einmal die Schuldigen der Verbrechen gegen die Menschheit. M. - In der Tat, wenn all jene, die - wie [zur Zeit] in Bosnien - von einem Tag auf den a n d e r e n beschließen, ihre Nachbarn zu töten, lediglich unter schlechten neuronalen Verbindungen litten, bliebe nichts anderes übrig, als ihnen eine Rente auf Lebenszeit zu gewähren! Sie zu verurteilen 82
liefe auf Eugenik hinaus. Nun ist es aber unsere Motivation, die darüber entscheidet, ob eine Tat negativ oder positiv ist, und diese Motivation ist eine Modalität u n s e r e s Bewußtseinsstroms. J. F. - Daher glaube ich, um auf den zentralen Punkt der Diskussion z u r ü c k z u k o m m e n , daß m a n die Existenz der individuellen Freiheit, allgemeiner: der menschlichen Freiheit, wirklich nicht abstreiten kann. Deswegen m u ß m a n auf metaphysischer Ebene aber nicht gleich e i n r ä u m e n , daß es beim Menschen zwei Instanzen gibt, ein spirituelles und ein materielles Prinzip. M. - Gewiß, aber kommen wir auf den Initialmoment einer Entscheidung zurück. Gibt es einen Übergang von einem Zustand der Unentschiedenheit zu einem Zustand der Entschiedenheit oder nicht? Ist die Antwort nein, sind wir vollkommen determiniert. Was wir Bewußtsein nennen, w ä r e d a n n lediglich ein m a r i o n e t t e n h a f t e r Zeuge, ohnmächtig und nutzlos. Die Neurologie sagt uns, an die 90 Prozent der Hirnaktivität seien unbewußt: Warum nicht 100 Prozent, wenn das Bewußtsein doch nur ein passiver Zeuge ist, der zu nichts taugt? Wenn sich das n e u r o n a l e System in einem Zustand des Gleichgewichts befindet, verfügt es in sich über eine gewisse Anzahl von Potentialitäten. Sie sind mit den neuronalen Konnexionen verbunden, die sich aus unserem genetischen Erbe und unseren Konditionierungen ergeben. Das Gleichgewicht muß in die eine oder in die andere Richtung kippen können. Wer könnte, abgesehen vom Willen und vom Denken, die Richtung bestimmen, die das System nehmen wird? Der Zufall? Dann herrschen Chaos und Inkohärenz. Die Notwendigkeit? Dann fällt man wieder dem Determinismus anheim. J. F. - Ja ... vorausgesetzt, das System ist imstande, die eine oder die andere Richtung einzuschlagen. M. - Man kann willentlich seinen Atem anhalten, m a n k a n n aus Altruismus beschließen, j e m a n d a n d e r e m den Vorteil zu lassen oder einen anonymen, selbstlosen Akt von Großmut zu vollbringen, man kann sich entscheiden, den Passionen, obwohl sie normale biologische Neigungen sind, 83
zu entsagen, m a n k a n n den Entschluß fassen, Mönch zu w e r d e n , sich s t u n d e n l a n g ü b e r die Natur des Geistes zu befragen etc. J. F. - Ja, a b e r der Wille ist niemals absolut, s o n d e r n einer gewissen Zahl von Beschränkungen ausgesetzt. Weisheit ist, dem Rechnung zu tragen und sich in Erinnerung zu rufen, d a ß der Wille niemals absolut ist, und auch die Knechtschaft nicht. Der Ausdruck »freier Wille« impliziert die Vorstellung einer vollkommenen menschlichen Freiheit, so als sei der Mensch ein souveräner Gott, der dem Wirklichen seinen Willen aufzwingen könne. Das ist a b e r nun ganz und gar nicht der Fall. M. - Ich rede nicht von totaler Freiheit, sondern vom Entscheidungsvermögen, das im übrigen sehr weit geht, da wir Macht über unser eigenes Leben haben. Dem Buddhismus zufolge gibt es zwischen dem immateriellen Bewußtsein und dem vorübergehend mit ihm verbundenen Körper eine Wechselwirkung. Der Bewußtseinsstrom setzt sich n a c h dem Tod fort und erfährt zwischen jeder Geburt und jedem Tod verschiedene Existenzzustände. »Die körperliche Inschrift des Geistes«, um einen Ausdruck von Francisco Varela zu benutzen, bestimmt die Beziehungen zwischen Bewußtseinsstrom und z e r e b r a l e m System. Man könnte diese Inschrift auch den groben Aspekt des Bewußtseins nennen, da sie mit dem physischen Körper in Verbindung steht. Die Fähigkeit des subtilen Bewußtseins, mit dem Körper zu interagieren, erklärt das Entscheidungsvermögen. J. F. - Das ist die Metapher vom »ghost in the machine«, vom Geist in der Maschine. Das ist auch Bergsons These: Das Bewußtsein geht über das Gehirn hinaus. M. - Es gibt wirklich einen Geist in der Maschine: unseren Bewußtseinsstrom. Dieser Strom - muß ich es noch einmal sagen? - impliziert nicht die Existenz einer gleichbleibenden Entität, die er von Leben zu Leben befördert. Er bewahrt jedoch die Kennzeichen seiner eigenen Geschichte. Das Bewußtsein erlaubt es dem Willen, den Körper in den physiologischen Grenzen zu beeinflussen, die dieser Körper zugesteht. 84
J. F. - Wie setzen sich Bewußtsein und Gehirn miteinander in Verbindung? M. - Dem Buddhismus zufolge ist der Gegensatz von materialistischem und spiritualistischem Standpunkt, von Geist und Materie, ein falsch gestelltes Problem. Denn den meisten Philosophen geht es d a r u m , eine »feste« Materie einem »immateriellen« Geist gegenüberzustellen. Diese Sehweise wirft natürlich unlösbare Probleme auf. Die eigentliche Frage ist hier, sich über die »Wirklichkeit« der Materie selbst k l a r z u w e r d e n . Dem Buddhismus zufolge sind die Atomteilchen weder »beständig«, noch haben sie eine Existenz an sich. Eine Sammlung solcher Entitäten, wie groß ihre Zahl auch sein mag, ist nicht wirklicher als ihre Bestandteile. Ich möchte hier die Zusammenhänge mit der modernen Physik nicht allzu sehr in Anspruch nehmen. Doch d r ä n g t sich der Gedanke an Heisenberg auf, der schrieb: »Die Atome und selbst die Teilchen sind nicht wirklich. Sie bilden eine Welt der Potentialitäten oder Möglichkeiten statt der Gegenstände oder Fakten.« Wir kommen jetzt zurück auf die buddhistische Analyse der Wirklichkeit der Erscheinungen. Unserem Standpunkt nach ist der Gegensatz von Geist und Materie nicht irreduzibel, da beide nicht auf selbständige, d a u e r h a f t e Weise existieren. Deshalb spricht a u c h nichts dagegen, daß sich das Bewußtsein im Gehirn über chemische Reaktionen aktualisieren und physiologische Prozesse auslösen kann, die auf den Körper einwirken, und d a ß diese Prozesse im Gegenzug einen Einfluß auf das Bewußtsein haben. Die Wechselwirkung besteht fort, solange das Bewußtsein mit dem Körper in Verbindung steht. Es ist eine philosophische Entscheidung der Wissenschaftler, die Vorstellung eines immateriellen Bewußtseins nicht anzuerkennen, und eine metaphysische Entscheidung des Buddhismus, sie zu bekräftigen. Von Natur aus entzieht sich das Bewußtsein den Forschungsverfahren der Physik und der Chemie. Nichts zu finden, ist aber kein Beweis für seine Inexistenz. Die Entscheidung des Buddhismus gründet in der Erfahrung des kontemplativen Daseins. Letztlich 85
läßt sich die Frage also nur entscheiden, indem m a n prüft, ob es indirekte Anzeichen gibt, die die Existenz eines Bewußtseins beweisen können, das vom Körper getrennt ist. Der buddhistischen Terminologie zufolge ist das subtile oder immaterielle Bewußtsein »ohne Form«, a b e r nicht »nicht-existent« oder »nicht-offenbar«, denn es ist imstande, eine Funktion zu erfüllen. Dieses Bewußtsein trägt die Fähigkeit in sich, mit dem Körper, der selbst keine letzte Realität hat, zu interagieren. J. F. - Warte! ... Mich als Berufsphilosoph hat es immer sehr mißtrauisch gemacht, wenn die Metaphysik versucht hat, bestimmte Entwicklungen der Naturwissenschaft zur Rechtfertigung metaphysischer Thesen heranzuziehen. Die Naturwissenschaft ist dafür nicht vorgesehen. Ein Beispiel ist Heisenbergs Unschärferelation. Als ich mein Abitur in Philosophie vorbereitete - das heißt ganz zu Anfang des Zweiten Weltkriegs -, war der Indeterminismus in der Mikrophysik das große naturwissenschaftliche Phänomen der Zeit. Sämtliche spiritualistischen Philosophen h a b e n sich den Begriff des Indeterminismus zunutze gemacht, um zu sagen: »Ah! Seht nur! Die Willensfreiheit ist sehr wohl möglich, da die Materie nicht vollständig bestimmt ist ...« Ich schätze diese Art von Argumentation nicht sehr. Es ist nicht ersichtlich, wieso der Indeterminismus in der Mikrophysik dem Menschen die Bestimmung der natürlichen Erscheinungen leichter machen soll. Andere Verwendungsmöglichkeiten der von mir so g e n a n n t e n »Hilfsdisziplinen« sind später aufgetaucht. So hat Michel Foucault die Sprachwissenschaft in alles andere als gewissenhafter Weise genutzt, um Les Mots et les choses (dt. Die Ordnung der Dinge) zu schreiben. Solches S c h m a r o t z e r t u m der Metaphysik gegenüber der Naturwissenschaft, das es übrigens seit dem 18. J a h r h u n d e r t gibt, tritt periodisch auf. Sehr gewissenhaft erscheint es mir nicht. M. - Bezüge dieser Art, da stimme ich zu, sind ein wenig künstlich. Die buddhistische Philosophie ist k o h ä r e n t genug, um auch ohne sie auszukommen. Manchmal jedoch läßt sich so eine Brücke oder wenigstens ein Steg zwischen 86
dem buddhistischen Diskurs und dem der abendländischen Philosophie schlagen. Daher f ö r d e r n solche Bezüge eine größere Offenheit des Geistes. J. F. - Daß es ein spirituelles Prinzip gebe, das dem Gehirn anhängt, aber über es hinausgeht, entspricht - wie schon e r w ä h n t - exakt der These Bergsons in Matiere et memoire (dt. Materie und Gedächtnis). Geschrieben hat er dieses Buch am Ende einer Zeit, in der sich die Neurophysiologie in e r s t e r Linie mit der Erforschung der Aphasie beschäftigt hatte. Durch den Nachweis, daß die Aphasie, das heißt der völlige oder teilweise Verlust der Sprache, auf genau lokalisierte Gehirnschädigungen z u r ü c k z u f ü h r e n war, glaubte die Neurophysiologie belegt zu haben, daß bei der Zerstörung solcher Gehirnpartien auch das Bewußtsein zerstört wird. Das Bewußtsein w ä r e demnach nicht m e h r als die Gehirnzellen. In seinem Bemühen, diese Schlußfolg e r u n g zu widerlegen, hat Bergson sechs J a h r e lang die Literatur zur Aphasie studiert. Mit seinem Buch wollte er zeigen, daß das Gedächtnis, das heißt das Bewußtsein, das Gehirn » ü b e r r a g t « . Es h ä n g e an ihm, sagte er, »wie der Mantel an der Garderobe«, doch lasse es sich darauf genausowenig reduzieren wie der Mantel auf die Garderobe oder das Übernatürliche auf das Natürliche. M. - Die Tatsache, daß eine Schädigung bestimmter Gehirnteile Gedanken und Fähigkeiten so stark beeinflußt, beweist letzten Endes nichts. Sofern ein immaterielles Bewußtsein existiert, kann es sich in einem gestörten oder zurückgebliebenen Gehirn verständlicherweise nicht normal äußern. Bis zum Äußersten, wenn der Tod das Bewußtsein vom Körper trennt, kann dieses Bewußtsein dem Körper keine Weisungen mehr erteilen. J. F. - Ist die Existenz eines immateriellen Bewußtseins für den Buddhismus nicht deshalb eine unentbehrliche Vorstellung, weil die Wiedergeburt ein fundamentaler Begriff der Lehre ist? M. - In der Tat, das einzige, was definitiv die Tatsache eines immateriellen Bewußtseins bewiese, w ä r e die Existenz der Reinkarnation oder genauer: der Kontinuität des 87
Bewußtseins. Doch ich möchte zuerst ein p a a r Worte zur Gedankenübertragung sagen, die ebenfalls ein immaterielles Bewußtsein voraussetzt. Die Anerkennung der Gedank e n ü b e r t r a g u n g ist f ü r die Tibeter beinahe ein Gemeinplatz, so viele Beispiele gibt es dafür. Sie werden nicht nur in den Schriften überliefert, s o n d e r n auch im täglichen Leben beim Kontakt mit den spirituellen Meistern. Betrachtet wird sie als eine Äußerung der gegenseitigen Abhängigkeit der Erscheinungen. Da sich jedoch nichts mit der persönlichen Erfahrung vergleichen läßt, bin ich gezwungen, auf meine eigene zurückzugreifen. Wiederholt habe ich in den zwanzig Jahren, die ich bei tibetischen Meistern verb r a c h t habe, festgestellt, daß sie sich ganz b e s t i m m t e r Gedanken bewußt waren, die ich selbst oder Freunde von mir g e r a d e gehabt h a t t e n . Ich w e r d e n u r ein Beispiel a n f ü h r e n , das mich am meisten verblüfft hat. Als ich in einer Eremitage, unweit von meinem ersten Meister Kangyour Rinpoche, meditierte, habe ich angefangen, an die Tiere zu denken, die ich in meiner Jugend getötet hatte. Bis zu meinem f ü n f z e h n t e n Lebensjahr, als mir plötzlich bewußt wurde, was es heißt, zu töten und einem Lebewesen Leid zuzufügen, hatte ich geangelt und einmal mit einem Gewehr auf eine Ratte geschossen. In meine Überlegung mischte sich tiefes Bedauern und eine Art Ungläubigkeit, daß ich imstande gewesen war, gegenüber dem Leid a n d e r e r völlig blind zu sein und es als banal anzusehen. Also beschloß ich, Kangyour Rinpoche a u f z u s u c h e n und ihm zu sagen, was ich g e m a c h t hatte - ihm in gewisser Weise zu beichten. Ich traf ihn an. Tibetisch sprach ich noch nicht, aber sein Sohn war da ... J. F. - Der als Dolmetscher diente ... M. - Als mich Kangyour Rinpoche erblickte, sah er mich lachend an. Bevor ich mit meiner »Beichte« beginnen konnte, sagte er ein p a a r Worte zu seinem Sohn. »Wie viele Tiere«, übersetzte er für mich, »hast Du in Deinem Leben getötet?« J. F. - Das ist interessant. M. - Im ersten Moment ist mir der Vorfall ganz selbstver88
ständlich vorgekommen ... Ich h a b e gelächelt. Ich hatte nicht den Eindruck, in eine s o n d e r b a r e , ü b e r n a t ü r l i c h e Atmosphäre versetzt zu sein! Doch gleichzeitig ... Einmal genügt, um den Geist zu öffnen. Es genügt, sagt man, einen Tropfen vom Ozean zu kosten, um zu wissen, daß er salzig ist. J. F. - Völlig einverstanden ... Doch die Tatsache, d a ß gewisse Psychen mit anderen Psychen kommunizieren können - w a s selten ist, a b e r vorkommt, wie Dein g e r a d e beschriebenes Beispiel zeigt -, kann nicht gänzlich beweisen, daß es beim Menschen ein rein spirituelles Prinzip gibt. M. - Sie beweist es nicht, aber sie läßt es mit Nachdruck vermuten. Hinzufügen muß m a n außerdem, daß die spirituellen Meister Tibets stets eine sehr bescheidene Haltung an den Tag legen. Vielleicht machen sie diese Art von Erfahrung ständig, ohne es jedesmal durchblicken zu lassen. Sie stellen ihre Fähigkeiten nicht gerne zur Schau und streben nicht danach, die anderen zu beeindrucken. Bei den großen tibetischen Meistern ist diese Fähigkeit relativ weit verbreitet und geht stets Hand in Hand mit einem hohen Grad spiritueller Verwirklichung. Bei gewöhnlichen Gläubigen habe ich sie nie beobachtet noch davon gehört. Nun sind es aber eben jene Meister, die aufgrund ihrer E r f a h r u n g von einem Bewußtseinszustand nach dem Tod sprechen. Angesichts der Fähigkeiten, die m a n bei ihnen beobachten kann, und all der anderen Vollkommenheiten, die sie im Alltagsleben unter Beweis stellen, erscheint es mir wahrscheinlicher, daß sie die Wahrheit sagen. Das ist alles, was ich sagen kann. J. F. - Exakt dieses Argumentationsmuster, diese Erwägungen, die Du gerade angestellt hast, findet m a n in etlichen Dialogen Piatons wieder. Menschen, die einen hohen Grad von Spiritualität erreicht haben und durch diese oder j e n e Demonstration von Uneigennützigkeit, Demut und E r h a b e n h e i t ihren außergewöhnlichen Charakter u n t e r Beweis stellen, sind scheinbar mit der Wahrnehmung übernatürlicher Phänomene begabt. Wer für diese Argumentation empfänglich ist, soll v e r a n l a ß t w e r d e n , die Hypothese 89
eines spirituellen Prinzips und der Unsterblichkeit der Seele zu akzeptieren. Kommt jedoch kein Glaubensakt hinzu, können sie durch die zwingende Beweisführung allein nicht zu diesem Schluß gelangen. M. - Wenn m a n den Glauben als eine erfahrungsbedingte Überzeugung definiert, w a r u m soll m a n einen solchen Glaubensakt dann nicht vollziehen? Gewiß, es ist immer schwierig, jemandem, der nicht dieselbe Erfahrung gemacht hat, eine solche Überzeugung nahezubringen. J. F. - Natürlich! Nun ist aber schon die Beweisführung an sich unabhängig von subjektiven Erfahrungen. M. - Warum an sich? Der Glaube an den Buddhismus ist kein blinder, irrationaler Glaube an bestimmte Dogmen. Andre Migot meinte dazu in seinem Buch über den Buddha*: »Der Glaube wird zum Aberglauben, wenn er die Vernunft ausklammert, oder mehr noch, wenn er sich ihr entgegenstellt. Wenn er jedoch mit der Vernunft einhergeht, hindert er sie d a r a n , nur ein intellektuelles Spiel zu bleiben.« Hier handelt es sich also nicht nur um einen Vertrauensakt, sondern um die Erklärung, die am glaubhaftesten ist. J. F. - Da ist er: der große, ständige Versuch - ich sage bewußt Versuch -, das Bestreben, das Irrationale zu rationalisieren. Auch hier gibt es einen grundlegenden Bezug zu Piaton oder Pascal. Es geht um den Versuch, mit einer Dialektik im platonischen und nicht im Hegeischen Sinne, mit einer in seinem »Wort f ü r Wort«-Gefüge sehr strengen, rationalen Argumentation etwas mittels der Urteilskraft zu beweisen, das nicht von der Urteilskraft abhängt. So gelangt man stets an eine letzte Grenze. Denn es gibt immer einen Schritt zu vollziehen, der nicht mehr von der Beweisführung abhängt. M. - Manche Schritte sind es wert, vollzogen zu werden! Das Verhalten dieser Weisen scheint vollkommen kohärent, ohne das geringste störende Detail. Warum sollten all diese vorzüglichen Menschen, die noch leben oder in die lange * Le Rouddha. Club F r a n c i s du Fivre, i 9 6 0 , Complexe, 1990.
90
Geschichte des Buddhismus eingegangen sind, plötzlich anfangen, Scheinwahrheiten zu fabrizieren, wenn es um ihre E r f a h r u n g eines immateriellen Bewußtseinsstroms geht, der sich nach dem Tod fortsetzt? J. F. - Nein! Der Glaubensakt ist nicht unbedingt ein Betrug. Er ist ein Zeugnis wie in der Geschichtsforschung, aber kein absoluter Beweis. M. - Vorsicht, wir sind es, die den Glaubensakt vollziehen. Er betrifft nicht jene, die wie der Buddha versichern, d a ß das Bewußtsein immateriell sei, daß sich sein Strom n a c h dem Tod fortsetze, und daß es möglich sei, einen Bewußtseinsstrom unter anderen wiederzuerkennen. Für jene handelt es sich um eine unmittelbare Erfahrung, nicht um einen Glaubensakt. J. F. - Für die Mystiker in der abendländischen Tradition w a r die Situation ähnlich. Nimm den heiligen J o h a n n e s vom Kreuz, die heilige Katharina von Siena oder andere, die zu Lebzeiten im Taumel, in Zuständen der Ekstase Gott gesehen haben. Für sich haben sie wirklich die Erfahrung des Göttlichen gemacht. Die meisten Christen glauben ihnen aber aufs Wort, ohne ihre Aufrichtigkeit oder ihre Demut in Zweifel zu ziehen. Ihr Zeugnis ist jedoch nicht mit einer rationalen Beweisführung gleichzusetzen. Bei diesem Typ von Argumentation ist festzustellen, daß über zwei verschiedene Wege vorgegangen wird. Einerseits nimmt m a n bestimmte Aspekte der Naturwissenschaft f ü r sich in Anspruch, um zu versuchen, über die Wege der rationalen Beweisführung die Existenz eines spirituellen und unsterblichen Prinzips nachzuweisen. Andererseits beruft man sich auf übersinnliche und ü b e r n a t ü r l i c h e E r f a h r u n g e n . Von dem, der über sie berichtet und der als vollkommen ehrenwerte Person nicht gewillt sein kann, uns zu täuschen, können sie in aller Aufrichtigkeit erlebt worden sein. Aber das genügt nicht! Die Geschichte der Menschheit ist voll von absolut aufrichtigen Leuten, die sich geirrt haben! M. - Wie kann m a n sich bei einer solchen E r f a h r u n g irren? J. F. - Man kann eine Erfahrung machen, von der m a n 9i
annimmt, sie beweise die Existenz eines Prinzips, das sich in einem Jenseits fortsetzt, die aber in Wirklichkeit nur ein Eindruck ist. Hat sich d a s betreffende Individuum nicht geirrt? Für den, der die Erfahrung nicht gemacht hat, stellt das keinen Beweis dar. Das kann nur im Bereich des Wahrscheinlichen oder Möglichen bleiben. M. - Beweisen kann m a n es nur, indem m a n die Erfahrung selbst macht. J. F. - Das ist das Problem! ... Die Bibliotheken der Philosophie und der Theologie sind voll von Versuchen, die Existenz Gottes oder die Unsterblichkeit der Seele rational zu beweisen. Es gibt Tonnen davon, seit Jahrhunderten ... Leider haben sie nie ausgereicht, um die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele rational zu beweisen! Kant hat daher seinerseits auf den indirekten Beweis über den Begriff des Guten und über die Moral zurückgegriffen. Keinesfalls aber über die Rationalität. M. - Ich f ü h r e hier in der Tat einen indirekten Beweis an: den der Verläßlichkeit der Aussage. Es bleibt aber noch ein zweiter Punkt, den wir ansprechen müssen: die Menschen, die sich an ihre f r ü h e r e n Existenzen erinnern. Er könnte letzten Endes nämlich die Frage der Wiedergeburt klären. J. F. - Ja, natürlich, sofern uns diese Menschen davon überzeugen können, daß es sich um wirkliche Erinnerungen handelt und nicht um einen Roman ... Pythagoras behauptete auch, sich an seine früheren Leben zu erinnern. M. - Es hat etliche Nachforschungen zu Fällen dieser Art gegeben. Sogyal Rinpoche e r w ä h n t in seinem Buch* zwei der i n t e r e s s a n t e s t e n . Einer davon ist der eines kleinen Mädchens aus Punjab in Indien, das sich an eine Fülle von Einzelheiten erinnerte, die die Umstände ihres Todes betrafen, ihre f r ü h e r e Familie, ihr Zuhause etc. Von den Beobachtern, die der Dalai Lama ausgesandt hatte, sind diese Fakten ebenfalls beschrieben worden. Ich verfüge hier aber über keine unmittelbaren Erfahrungen, und es brächte uns * Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben. Hin Schlüssel z u m tief e r e n V e r s t ä n d n i s von Leben u n d Tod. Mit e i n e m Vorwort des Dalai Lama. Scherz Verlag, M ü n c h e n 1 9 % ' \
92
nichts, lange über die Verläßlichkeit der Zeugnisse zu diskutieren. In eigener Kenntnis der Sache kann ich nur darüber sprechen, was in der tibetischen Welt mit den kleinen Kindern geschieht, die als spirituelle Fortsetzung verstorbener Weiser betrachtet werden. Es gibt etliche Fälle, wo diese Kinder Schüler der verblichenen Meister wiedererkannt haben oder ihnen gehörige Gegenstände oder Orte, an denen sie gelebt hatten. J. F. - Ist das wirklich bewiesen? M. - In der Geschichte Tibets sind Hunderte von Fällen überliefert. Mir persönlich sind einige Zeugnisse aus erster Hand zu Ohren gekommen, an denen ich wenig Grund zu zweifeln habe. Und ich kann von einem Fall berichten, an dem ich keinen Grund zu zweifeln habe, da ich selbst Zeuge gewesen bin. J. F. - Aber wie bestimmt man, daß ein dreijähriges Kind j e m a n d e n wiedererkennt?... Lächelt es ihn an? Winkt es mit der Hand? M. - Manchmal r u f t es j e m a n d e n aus dem Umfeld des verstorbenen Meisters beim Namen. J. F. - Ohne ihn je gehört zu haben? Na! M. - Ich gebe Dir zwei Beispiele. Das erste kann ich nicht persönlich bezeugen, aber es ist mir von jemandem erzählt worden, dem ich Glauben schenke. Es handelt sich um einen großen Weisen, der 1903 gestorben ist. Er hieß Dudjom Lingpa und lebte in Amdo, im Nordosten Tibets. Kurz vor seinem Tod erklärte er seinen Schülern, sie sollten in die zwei Monate F u ß m a r s c h von Amdo entfernte Region Pemakeu aufbrechen, die in der Nähe der indischen Grenze im Süden Tibets liegt. Nach dem Tod des Meisters machten sich etwa hundert seiner Schüler im Glauben an seine letzten Worte nach Pemakeu auf, in der Vorstellung, dort die Inkarnation des Weisen wiederzufinden. Fast fünf J a h r e lang suchten sie vergeblich, dann kehrten sie einer nach dem a n d e r e n zurück. Nur r u n d f ü n f z e h n Unnachgiebige setzten ihre Suche fort. Eines Tages kamen sie zum Eingang eines Dorfes, wo eine Gruppe Kinder spielte. Ein kleiner Junge rannte unter ihnen herum, der seinen Eltern gesagt 93
hatte: »Heute w e r d e n F r e u n d e k o m m e n , m a n m u ß eine Mahlzeit f ü r sie vorbereiten.« Die Kinder e r f r e u t e n sich daran, über eine kleine Steinmauer zu springen. J. F. - Wie alt war das Kind? M. - Fünf oder sechs J a h r e ... Als sich die Mönche näherten, stolperte es über einen Stein und ergriff im Fallen die Hand des Lama neben ihm. Dabei rief es ihm zu: »Yeshe, hilf mir!« Das war wirklich der Name des Lama. Es versetzte ihm einen Schock, doch zunächst einmal sagte er nichts. Die Reisenden w u r d e n eingeladen, mit der Familie die Mahlzeit zu teilen. Nun fand es sich aber, daß der Lama Yeshe ein Reliquienkästchen um seinen Hals trug, das eine Haarsträhne enthielt. Als das Kind das Reliquienkästchen sah, rief es: »Oh! Das sind ja die Haare, die ich dir gegeben habe!« Es w a r tatsächlich eine H a a r s t r ä h n e , die ihm der vorherige Weise gegeben hatte. Aus dem Kind wurde Dudjom Rinpoche, der 1987 starb und einer meiner wichtigsten spirituellen Meister war. Und n u n die Geschichte, die ich persönlich bezeugen kann: die Geschichte der Reinkarnation von Khyentse Rinpoche, dem Meister, bei dem ich fünfzehn J a h r e lang gelebt habe. J. F. - Den ich 1973 in Darjeeling kennengelernt habe? M. - Nein ... Dem Du 1986 in Bhutan begegnet bist. Identifiziert wurde er von einem seiner ihm am nächsten stehenden Schüler, auch er ein großer Meister, der jetzt zweiundsiebzig Jahre alt ist und in den Bergen von Nepal lebt. Seine Träume und Visionen, von denen wir gestern sprachen, h a b e n es möglich gemacht, das Kind zu finden. An den Nachforschungen h a b e ich persönlich teilgenommen. Nach Auffinden des Kindes wurde beschlossen, in einer heiligen Grotte im Osten Nepals eine Langlebigkeitszeremonie zu feiern. Also h a b e n wir uns in diese Grotte begeben, unweit von der, in der damals der Weise Trulshik Rinpoche seine Zurückgezogenheit verbrachte. Etwa hundert ehemalige Schüler von Khyentse Rinpoche folgten uns. Während der Zeremonie las Trulshik Rinpoche dem Kind den Namen vor, den ihm der Dalai Lama gegeben und übersandt hatte, 94
überreichte ihm die Festtagskleider und vollführte zu seinen Ehren ein Ritual des langen Lebens. Am letzten Tag fand ein Fest statt, bei dem der zelebrierende Meister den Teilnehmern eine geweihte Substanz verabreichte. Wir warteten darauf, daß Trulshik Rinpoche, der Vorsitzende der Zeremonie, die Substanz verteilte. Als das Kind sah, wie Trulshik Rinpoche damit b e g a n n , beschloß es aber, sie selbst zu verabreichen - auch wenn es damals erst zweieinhalb J a h r e alt war. Ganz gelassen, die Szene hat wohl fünf Minuten gedauert, ließ es seine Mutter zu sich kommen, gab erst ihr einen Tropfen der Substanz, dann dem Enkel von Khyentse Rinpoche, den es kannte, sowie rund zwanzig Personen, d e r e n Namen es nur ein- oder zweimal gehört hatte. Als es sie rief, sprach es die Namen etlicher dieser Personen, die ihm am Vortag vorgestellt w o r d e n w a r e n , deutlich aus. J. F. - Mit zweieinhalb Jahren! Aber in dem Alter spricht m a n doch kaum! M. - Kaum, aber genug, um die Leute mit Namen anzusprechen. J. F. - Das setzt bei diesem merkwürdigen Subjekt ein phänomenales Gedächtnis voraus! M. - Als ich das Kind tags zuvor auf meinem Arm hielt, hatte ich es auf meinen Freund Luc aufmerksam gemacht, einen französischen Ingenieur, der auch Schüler von Khyentse Rinpoche w a r und gerade eines u n s e r e r Klöster in Indien baute. Halb im Scherz hatte ich gesagt: »Das da, das ist Luc, der Ihr Kloster in Bodhgaya baut.« Am nächsten Tag hat es Luc bei seinem Namen gerufen und ihm die Segnung erteilt. Gut, dieses Kind w a r besonders aufgeweckt und mit einem erstaunlichen Gedächtnis ausgestattet. Aber das war nicht das Verblüffendste. Unter den etwa hundert Anwesenden befand sich eine Gruppe Bhutaner, die gerade aus ihrer Heimat angereist w a r e n , in dreitägigem Fußmarsch von der nepalesischen Grenze aus. Einer von ihnen w a r ein langjähriger Diener des verstorbenen Khyentse Rinpoche. Als das Kind alle in seiner Nähe Stehenden gesegnet hatte, fragte es ein Mönch: 95
»Gut, nun ... war es das?« Da antwortete es: »Nein, nein« und zeigte mit dem Finger auf j e m a n d e n in der kleinen Gruppe. Ein anderer Mönch ging hin, um in der Richtung, die das Kind wies, auf einige der sitzenden Personen zu zeigen - »Der da? Die hier? Die da?« -, bis er zu dem langjährigen bhutanischen Diener kam und das Kind sagte: »Ja! Der!« Da ließ man den alten Mann näher treten, und das auf seinem Thron sitzende Kind erteilte ihm den Segen. Der Mann brach in Tränen aus. J. F. - Das ist sehr erstaunlich. Ich sage aber noch einmal, daß solche Vorfälle n u r dann Beweise sind, wenn m a n sie selbst erlebt hat. Auch dann, wenn m a n an die absolute Ehrlichkeit der Zeugen glaubt. M. - Ich verstehe. Ich erzähle diesen Fall nur, weil ich ihn selbst erlebt habe, denn er hat f ü r mich ein g r ö ß e r e s Gewicht an Wahrheit, als w e n n ich n u r von ihm gehört hätte. Doch ich m u ß hinzufügen, daß ich von Dutzenden ähnlicher Vorfälle gehört habe. Als der Dalai Lama, der die Ehrlichkeit und Rechtschaffenheit selbst ist, gefragt wurde, ob er derartige Erinnerungen habe, erzählte er: »Sobald ich in Lhasa ankam, sagte ich meinem Gefolge, meine Zähne befänden sich in einer Schachtel in einem bestimmten Zimm e r von Norbulingka, dem Sommerpalais. Als sie die Schachtel öffneten, fanden sie die Zahnprothese, die dem dreizehnten Dalai Lama gehört hatte. Ich h a b e mit dem Finger auf die Schachtel gezeigt und gesagt, da seien meine Zähne drin ... doch gegenwärtig e r i n n e r e ich mich an nichts!« J. F. - Gut ... sagen wir, das gehört zu den metaphysischen Glaubensüberzeugungen des Buddhismus. Es charakterisiert meiner Ansicht nach die Auffassungen metaphysischer, um nicht zu sagen religiöser Natur. Das rationale Denken ist d a d u r c h gekennzeichnet, d a ß j e d e B e w e i s f ü h r u n g nachvollzogen, ja durchgesetzt w e r d e n kann, auch gegenüber j e m a n d e m , der die D u r c h f ü h r u n g des Experiments selbst nicht beobachtet hat, der nicht einmal imstande wäre, es selbst durchzuführen, aber gezwungen ist, seine stets mögliche Wiederholung zu akzeptieren. 96
Im Gegensatz dazu ist der von Dir angesprochene Typ von E r f a h r u n g n u r für den vollkommen überzeugend, der ihn selbst erlebt hat. Es handelt sich um ein einmaliges Zeugnis wie bei den Mystikern und all j e n e n , die eine b e s o n d e r e religiöse oder andere Erfahrung gemacht haben. M. - Über die Kriterien des rationalen Denkens und die Tatsache, daß seine Beweise nachvollzogen oder durchgesetzt werden können, bin ich mir wohl im klaren. Die Überzeugung etwa, daß eine m a t h e m a t i s c h e Beweisführung richtig sei, hat ihren Ursprung im Geist, nicht? Wenn sie physikalisch anwendbar ist, kann man sie auch experimentell überprüfen. Das kontemplative Denken führt ebenfalls zu einer Überzeugung, die im Geist entsteht. Die Kraft der Gewißheit, die aus einem Leben in kontemplativer Praxis an der Seite eines spirituellen Meisters erwächst, ist genauso stark wie der Beweis eines Lehrsatzes. Der einzige Unterschied bei der experimentellen Verifizierung liegt darin, daß sie meist innerlich ist, was ihr nichts von ihrer Authentizität nimmt. Die äußerlichen Aspekte - die Güte, die Toleranz, das Mitleid, die Weisheit - sind nur »Zeichen« der inneren Verwirklichung. J. F. - Ich bestreite die Authentizität nicht für die, die sie selbst erleben. In u n s e r e m Gespräch, das den Sinn des Buddhismus für jemanden aus dem Westen genauer darlegen soll, möchte ich nur hervorheben, daß zur Dimension praktischer, rein psychologischer Weisheit zweifellos eine metaphysische, übernatürliche Dimension hinzukommt. M. - Bei den erwähnten Begebenheiten handelt es sich keineswegs um eine mystische E r f a h r u n g . Was ich hier bezeuge, hat nichts Metaphysisches an sich. Ich h a b e das mit eigenen Augen gesehen, und zwar nicht in einem Zustand der Schwärmerei, sondern unter den ruhigsten, ich w ü r d e fast sagen den »normalsten« Umständen, die m a n sich vorstellen kann. Da Du die mystischen Zeugnisse erwähnst, möchte ich eine Zwischenbemerkung einfügen. Mitunter hat m a n alles d a r a n g e s e t z t , solche Zeugnisse durch eine Art »medizinischen Materialismus« zu schmälern. So wurde behauptet, die heilige Theresia von 97
Avila sei hysterisch gewesen, der heilige Franz von Assisi habe erblich bedingte psychische Störungen gehabt und der heilige Paulus auf dem Weg von Damaskus einen epileptischen Anfall. Und Jeanne d'Arc soll schizophren gewesen sein. Es ist wahr, daß die Erregung bestimmter Partien des Gehirns oder seiner Fehlfunktionen Halluzinationen hervorrufen kann. In diese Kategorie kann m a n aber nicht die spirituellen Erfahrungen von Tausenden von Menschen einordnen, die sich der Kontemplation widmen und geistig völlig gesund sind! Was die Fakten hinsichtlich des kleinen Kindes betrifft, so kann ich dir versichern, daß weder ich noch die anderen Anwesenden in »mystischen Zuständen« waren. Ohne meine innere Überzeugung im geringsten aufdrängen zu wollen, kann ich doch nicht an meinen Sinnen zweifeln! J. F. - Auch wenn m a n nicht auf entwürdigende, sagen wir verächtliche Erklärungen zurückgreift, wie Du sie gerade erwähnt hast, kann, ja muß m a n in einer guten Methodologie trotz allem zwischen jenem Beweistyp unterscheiden, der nachvollziehbar ist und der gesamten Menschheit auferlegt w e r d e n kann, und j e n e m , der n u r f ü r den ein Beweis ist, der eine bestimmte Erfahrung gemacht hat. M. - Das ist wirklich ein methodisches Problem: Wenn m a n ein außergewöhnliches, nicht reproduzierbares Phänomen ausschließt, wie soll man dann erkennen können, ob es gegebenenfalls der Realität entspricht? J. F. - Ich bin der Ansicht, m a n m u ß es ausschließen, solange es uns selbst nicht begegnet ist. M. - Aber dann könnten ja n u r solche Dinge von allen zugleich anerkannt werden, die sichtbar oder feststellbar sind! J. F. - Meiner Meinung nach gehört das, worauf Du ansprichst, zur Kategorie des historischen Zeugnisses und nicht zu der des wissenschaftlichen Beweises. Das historische Zeugnis - das heißt: »Soundso hat das gesagt. Ich war zugegen und habe es gehört.« - ist ein Argument von hohem Wert, ohne das es keine Geschichtswissenschaft gäbe. Es ist jedoch nie ein endgültiger Beweis. Jeder Histo98
riker kann dahin gebracht werden, einen anderen Historiker anzufechten und zu sagen: »Ich habe eine andere Quelle gefunden, die beweist, daß dieses Zeugnis falsch oder einseitig ist.« Die Geschichtsschreibung ist daher eine Wissenschaft, aber keine exakte Wissenschaft. Sie beruht ausschließlich auf dem Zeugnis einer begrenzten Anzahl von Individuen hinsichtlich einer Erfahrung, die nicht wiederholbar ist. Sie ist allerdings wissenschaftlicher als die von Dir erwähnten Zeugnisse. Denn abgesehen von persönlichen Aussagen stützt sich die Geschichtsschreibung auf unpersönliche Dokumente und Monumente, obwohl auch sie verschieden interpretierbar sind. Im Hinblick auf die übernatürlichen Erfahrungen stehen sich hier zwei Einstellungen gegenüber. In diesem Thema werden wir jetzt nicht weiterkommen ... Wir müssen es bei folgender Überlegung b e w e n d e n lassen: Wenn m a n einem bestimmten Glaubenssystem nicht anhängt - im erhabensten Sinne des Wortes, ich wiederhole das -, wird einem stets etwas fehlen, um eine Anschauung beweisen zu können, die definitionsgemäß metaphysisch ist. Nun ist eine metaphysische Anschauung aber niemals völlig zu beweisen. Seit zweitausendfünfhundert J a h r e n versucht man, rationale Metaphysik zu betreiben und die Metaphysik genauso unwiderlegbar zu machen wie die Mathematik. Geschafft hat m a n es nie! Weil die Metaphysik an sich diesem System der Beweisführung nicht unterliegt! M. - Sie ist aber abhängig von der spirituellen Verwirklichung, die eine unleugbare Tatsache ist und sich auf der Ebene der kontemplativen Erfahrung abspielt, dem unmittelbaren Schauen einer Wahrheit, die sich dem Geist aufdrängt, weil sie in seinem Bereich der Natur der Dinge entspricht. Was nicht heißen soll, daß dieser Standpunkt »irrational« ist, sondern einfach, d a ß er die begriffliche Beweisführung transzendiert. J. F. - Es läuft also darauf hinaus, daß es zwei verschiedene Sehweisen gibt. Bei einer Weisheit dieses Typs, deren Bedeutung niemand leugnet, ist daher die Unterscheidung wichtig, was von der Metaphysik abhängt und was nicht. 99
Was kann j e m a n d , der seiner metaphysischen Dimension nicht beipflichtet, für Lehren aus dem Buddhismus ziehen, um seine L e b e n s f ü h r u n g zu v e r b e s s e r n ? Meiner Ansicht nach ist das die interessanteste Frage. Hier liegt im übrigen das Problem j e d e r Religion und j e d e r Philosophie. Ganz besonders fesselnd ist es aber im Falle des Buddhismus, der gleichzeitig beides ist und weder das eine noch das andere, nicht w a h r ? M. - Greifen wir unsere Frage aber noch einmal von der anderen Seite auf. Nimm einmal für einen Moment an, daß es solche außergewöhnlichen Phänomene wie die Erinnerung an f r ü h e r e Leben wirklich gibt. Wie könnte m a n sie klar herausstellen, w e n n ihre Außergewöhnlichkeit sie schon u n a n n e h m b a r macht? J. F. - Man müßte über einen unparteiischen Beobachter verfügen, der die Sprache fließend beherrscht, der in der tibetischen Klostergemeinschaft akzeptiert ist und der den Sachverhalt mit Skepsis und Unnachsichtigkeit beobachten kann. M. - Wenn es nur das ist, stellt sich Dein demütiger Dien e r als Kandidat zur Verfügung. Ich persönlich versuche immer, größtmögliche Objektivität an den Tag zu legen, wohl wissend, daß ich sonst denjenigen ein günstiges Ziel biete, die solche Behauptungen anprangern, die auf blinder Leichtgläubigkeit b e r u h e n . Wenn ich mit meinen tibetischen Freunden diskutiere, versuche ich stets, mich zum Anwalt des Teufels zu machen. Um der Debatte Würze zu geben, n e h m e ich immer den Standpunkt des Materialismus ein. Auch ich konnte der Gedankenübertragung nicht so recht Glauben schenken, bevor ich ihr Zeuge geworden bin. Ich bin froh, mit eigenen Augen gesehen zu haben, wie das Kind den alten Mann zu sich kommen ließ. Meine tiefgehendste Überzeugung auf dem spirituellen Weg ist aber nicht von äußerlichen Vorkommnissen dieser Art hervorgerufen worden. Sie kommt von einer ständigen Bestätigung bestimmter metaphysischer und kontemplativer Wahrheiten. J. F. - Meine nicht endgültige Schlußfolgerung wäre die 100
eines jeden gewissenhaften Historikers: In meinen Augen besitzt Dein Zeugnis m e h r Gewicht als d a s eines leicht u n t e r Drogen stehenden Hippies, der sich dem Buddhism u s in u n a u f r i c h t i g e r Weise angeschlossen hat. In der Geschichtswissenschaft verfährt man genauso: Die Aussage eines b e s t i m m t e n Zeugen h a t sehr großes Gewicht, doch es ist n u r eine Bezeugung. Noch einmal, laß uns die Geschichtswissenschaften, die Geisteswissenschaften und die H u m a n w i s s e n s c h a f t e n von den s o g e n a n n t e n »strengen« Wissenschaften unterscheiden, die Beweise liefern, auf die man insistieren kann, ganz gleich, welche Auffassung Dein Gegenüber hat. Die H ä u f u n g von Zeugnissen stellt eine immer wahrscheinlichere Mutmaßung dar und strebt einer Grenze absoluter Gewißheit zu, die jedoch nie völlig erreicht wird. M. - Ich kann Dir versichern, daß Du bei einem Bewohner der Wälder von Neuguinea keine Chance hättest, auch nur ein Hundertstel der wissenschaftlichen Entdeckungen durchzusetzen. Er müßte über vergleichbare geistige Schemata verfügen und über J a h r e in einer bestimmten Weise geschult werden. Genausowenig lassen sich die Ergebnisse der kontemplativen Suche d e n e n aufzwingen, die ihren Geist für sie nicht geöffnet h a b e n . Auch da ist Erziehung vonnöten. Um unsere Diskussion abzuschließen, kann man sich fragen: Durch welche Methode und welches Kriterium könnte man sich bei dem von Dir vertretenen Standpunkt veranlaßt sehen, die Echtheit und die Existenz eines Phänomens a n z u e r k e n n e n , das nicht willentlich r e p r o d u z i e r b a r ist? Und wie ist es zu vermeiden, daß es a priori ausgeschlossen wird? J. F. - Es wird nicht a priori ausgeschlossen! Man soll nie irgend etwas a priori ausschließen. Es gibt Fälle, wo sich gewisse Behauptungen, die von der Realität auf allzu offensichtliche Weise widerlegt werden, nicht a priori, sondern a posteriori ausschließen lassen. So gibt es anscheinend eine Vereinigung von Leuten, die behaupten, die Erde sei flach! Es gibt keinen Grund, sie zu belästigen. Sollen sie sich doch IOI
v e r s a m m e l n , w e n n es ihnen Spaß macht. Doch letzten Endes kann man klar und deutlich nachweisen, daß sie im Irrtum sind. Manche Wahrheiten sind nichts a n d e r e s als Vermutungen, die ein Maximum ernstzunehmender Historiker a u f g r u n d der H ä u f u n g der Zeugnisse schließlich glaubt. Das schließt jedoch nie die Möglichkeit aus, d a ß fünfzig J a h r e später ein a n d e r e r Historiker kommt und sagt: »Ihr habt Euch vollkommen geirrt, hier ist der Beweis.« M. - Im naturwissenschaftlichen Bereich kommt das ständig vor. J. F. - Kurz, in den Wissenschaften des Nicht-Reproduzierbaren gibt es einen bestimmten Typ von Wissen, der nur auf der Konfrontation der Zeugnisse beruht, die niemals abgeschlossen ist. M. - Im übrigen ist es nicht das Ziel der Wissenschaften des Reproduzierbaren, metaphysische Fragen zu lösen oder dem Dasein einen Sinn zu geben, sondern auf möglichst g e n a u e Weise die materielle Welt zu beschreiben. In dem Kontext, in dem die Naturwissenschaft operiert, ist die Auffassung, daß sich die Wirklichkeit auf die Materie beschränkt und das Bewußtsein lediglich eine Eigenschaft des n e u r o n a l e n Systems ist, n u r eine Definition. Das kontemplative Dasein hat auch seine Regeln, und die tiefgreifende Überzeugung, die sich beim Praktizieren herausbildet, beeinflußt den Geist genauso stark wie ein Experiment, das auf materieller Ebene durchgeführt wird. Die rein kontemplative Beobachtung der Natur des Geistes kann eine genauso vollkommene Gewißheit erzeugen wie die Beobachtung des Falls eines Körpers unter dem Einfluß der Schwerkraft.
102
Eine Wissenschaft des Geistes?
- Wir kommen jetzt zu etwas, was man die buddhistische Psychologie nennen könnte, das Phänomen der Kontrolle des Denkens. Das ist ein Aspekt des Buddhismus, der jüngst besonders im Westen Interesse erregt hat. Im 19. J a h r h u n d e r t interessierten sich Philosophen wie Schopenhauer vor allem für die buddhistische Weisheit, für das Verfahren, in der Selbstvergessenheit eine Art Ausgeglichenheit zu finden. In jüngster Zeit sind es die Techniken der Kontrolle des Denkens. So fand 1991 in Harvard ein Kolloquium statt, das den Dalai Lama und verschiedene Forscher zusammenbrachte.* Das ist äußerst interessant, weil es sich um westliche, mit der abendländischen wissenschaftlichen Psychologie vertraute Forscher handelte, die ihre Ansichten mit denen des Dalai Lama konfrontierten. Einige der Forscher waren bereits im Orient gewesen, um sich vor Ort über die Praktiken zu informieren. So hielt Daniel Goleman, wissenschaftlicher Mitarbeiter der New York Times, während des Kolloquiums einen Vortrag über die tibetischen und die westlichen Modelle zur geistigen Gesundheit. Was läßt sich über die buddhistische Psychologie sagen? M A T T H I E U - Kennzeichnend für den Buddhismus, diese »Wissenschaft des Geistes«, ist, daß es nicht ausreicht, eine b e w u ß t e Gefühlsregung oder eine latente, an die OberJEAN-FRAN^OIS
* Mind Science: An Hast West Dialogue. The DalaT-lama a n d Participants in the H a r v a r d Mind Science S y m p o s i u m . H e r a u s g e g e b e n von Daniel Golem a n und Robert A. F. T h u r n m a n , Wisdom Publications, Boston 1991. Vergleiche a u c h : J e r e m y H a y w a r d / F r a n c i s c o J. Varela: Gewagte Denkwege. Wissenschaftler im Gespräch mit dem Dalai Lama (Serie Piper, B a n d 2115), Piper Verlag, M ü n c h e n 1 9 9 6 , s o w i e F r a n c i s c o J. Varela: Traum, Schlaf und Tod. Grenzbereiche des Bewußtseins. Der Dalai Lama im Gespräch mit westlichen Wissenschaftlern. Aus d e m Englischen von Matthias Braeunig. Fugen Diederichs Verlag, M ü n c h e n 1998.
103
fläche z u r ü c k b e f ö r d e r t e Neigung w i e d e r z u e r k e n n e n , zu identifizieren, s o n d e r n daß m a n imstande sein m u ß , die Gedanken zu »befreien«. Die Gedanken zu befreien, heißt zu verhindern, daß sie in unserem Geist Spuren hinterlassen und ihn in Verwirrung stürzen. Andernfalls lösen sie nämlich leicht eine Kettenreaktion aus: So k a n n sich ein Gedanke des Mißfallens erst in Feindseligkeit verwandeln, d a n n in Haß, bis er schließlich in u n s e r e n Verstand vordringt und sich dort in Worten oder Taten niederschlägt. Wir fügen anderen Unrecht zu, und unser innerer Frieden ist zerstört. Genauso verhält es sich mit der Begierde, der Arroganz, der Eifersucht, der Angst etc. Wir können unserem Verlangen nach Zerstörung, Besitz oder Macht freien Lauf lassen, doch die Befriedigung, die wir daraus ziehen, ist n u r von kurzer Dauer. Nie wird eine tiefe, beständige Freude daraus, die sich verewigen ließe. J. F. - Doch nicht alle seelischen Leiden haben ihre Ursache allein im Haß und in der Begierde. M. - Sie k o m m e n von einer Vielzahl u n r u h e s t i f t e n d e r Gefühlsregungen her. Der Schlüssel zur Arbeit am Geist liegt nicht nur im Erkennen der Gedanken, sondern auch in ihrer Auflösung, ihrer Verflüchtigung im geistigen Raum. Eine gewisse Zahl von Techniken dient diesem Zweck. Die wichtigste besteht darin, sich nicht auf die Modalitäten der Gefühlsregungen zu konzentrieren, nicht auf die Ursachen und Umstände, die sie ausgelöst h a b e n , sondern zum Ursprung der Gedanken vorzudringen. Man unterscheidet zwei Arten von Meditationsformen: Die eine gleicht einem Hund, die a n d e r e einem Löwen. An die Gedanken k a n n man in der Tat wie ein Hund herangehen, der allen Steinen, die man nach ihm wirft, der Reihe nach hinterherläuft. Das ist der Normalfall beim Menschen. Wenn ein Gedanke aufkommt, läßt er sich von ihm forttragen: Der erste Gedanke zieht einen zweiten nach sich, einen dritten, dann eine endlose Kette von Gedanken, die die geistige Verwirrung schüren. Oder aber der Mensch reagiert wie ein Löwe. Gleich beim ersten Stein wendet er sich dem Werfer zu und springt auf ihn. Das zweite Beispiel entspricht dem Meditie104
r e n d e n , der sich n a c h dem U r s p r u n g des Gedankens »umdreht« und den Grundmechanismus untersucht, durch den die Gedanken in seinem Geist entstehen. J. F. - Jenseits der Metaphern: Was ist das für ein Mechanismus? M. - Man muß versuchen, den Gedankenstrom für einige Augenblicke zu unterbrechen. Ohne vergangene Gedanken festzuhalten oder zukünftige zu schüren, v e r h a r r t m a n , und sei es nur kurz, in einem Zustand gegenwärtigen Erwachens, der frei von diskursiven Gedanken ist. Mit der Zeit wird m a n fähig, dieses Erwachen zu verlängern und aufrechtzuerhalten. Solange die Wellen einen See aufwühlen, bleibt sein Wasser trüb. Sobald sich die Wellen beruhigen, setzt sich der Schlamm ab, und das Wasser wird wieder klar. Genauso wird der Geist »klarer«, wenn die diskursiven Gedanken zur Ruhe kommen, und es ist einfacher, sein Wesen zu erkennen. Anschließend muß m a n das Wesen der diskursiven Gedanken untersuchen. Hierfür geht man so weit, willentlich eine sehr starke Gefühlsregung hervorzurufen. Man denkt zum Beispiel an jemanden, der einem Leid zugefügt hat, oder, im Gegenteil, an ein b e g e h r t e s Objekt. Die Gefühlsregungen lassen wir in u n s e r e m Bewußtseinsfeld erscheinen. Dann richten wir unseren inneren Blick erst in analytischer, d a n n in kontemplativer Weise auf diesen Gedanken. Anfangs beherrscht und verfolgt er uns. Ständig kommt er wieder. Doch wenn m a n ihn genau untersucht, woraus zieht er dann seine scheinbare Stärke? Anders als ein Wesen aus Fleisch und Knochen verfügt er nicht über die Fähigkeit an sich zu schaden. Wo w a r er vor seinem Erscheinen? Hat er, wenn er sich in u n s e r e m Geist zeigt, irgendein Kennzeichen, eine g e n a u e Lokalisierung, eine Form, eine Farbe? Wenn er unser Bewußtseinsfeld verläßt, bewegt er sich dann irgendwohin? Je genauer man diesen Gedanken, der so mächtig erschien, analysiert, desto mehr entzieht er sich uns. Wir können ihn nicht »greifen« oder mit dem Finger auf ihn zeigen. So gelangt m a n in einen Zustand des »Nicht-gefunden-Habens«, in dem man einige 105
Augenblicke versunken bleibt. Technisch nennt m a n das »die Leerheit der Gedanken erkennen«. Es ist ein Zustand innerer Anspruchslosigkeit, ein Zustand klarer, erwachter, von Begriffen losgelöster Gegenwärtigkeit. Wenn m a n begreift, daß die Gedanken n u r eine Äußerung des w a c h e n Bewußtseins sind, verlieren sie ihre beengende Dauerhaftigkeit. Ist dieser Befreiungsprozeß n a c h stetiger Übung erst selbstverständlich, lösen sich e r n e u t a u f k o m m e n d e Gedanken im Moment ihres Erscheinens auf und verwirren und nötigen nicht länger unseren Geist. Sie entstehen und vergehen wie eine Fingerzeichnung auf der Wasseroberfläche, die im Moment ihrer Skizzierung verwischt. J. F. - An solchen Überlegungen verblüfft mich, daß alles so beschrieben wird, als gäbe es die ä u ß e r e Realität, das Handeln, die a n d e r e n Menschen und die Bedeutung der jeweiligen Situation gar nicht! Es gibt doch trotz allem Fälle, wo uns eine wirkliche Gefahr bedroht! Die Angst vor dieser Gefahr oder der Wunsch, sich ihrer zu entledigen, also die Einnahme einer aktiven feindlichen Haltung gegenüber der Bedrohung, zum Beispiel unter Lebensgefahr, läßt sich doch nicht allein durch eine Bearbeitung der Gedanken bewältigen! Das entscheidet sich durch eine ganz bestimmte äußere Handlung. M. - In einer gegebenen Situation k a n n man, je n a c h innerer Verfassung, auf unterschiedliche Weise reagieren. Das Handeln hat seinen Ursprung in den Gedanken. Ohne Beherrschung der Gedanken kann m a n seine Taten nicht beherrschen. Also muß man »lernen«, die Gefühlsregungen zu befreien ... J. F. - Ja, aber das sind Grenzsituationen ... M. - ... um anschließend diese Beherrschung in der Hitze des Gefechts zu nutzen. In der Umgangssprache sagt m a n doch, jemand sei in der Lage gewesen, »Herr seiner selbst zu bleiben«, oder er habe »völlig die Kontrolle über sich verloren«. Es geht hier darum, diese Beherrschung durch die Erkenntnis der Natur des Geistes zu vervollkommnen und zu festigen. Man soll keineswegs mit hängenden Armen teilnahmslos und gleichgültig zusehen, wenn sich ein Mör106
der anschickt, unsere Familie umzubringen, sondern den Gegner mit einem Minimum an Aufwand außer Gefecht setzen, ohne sich vom Haß überwältigen zu lassen oder den Angreifer aus Rachsucht zu töten. Die Beherrschung des Geistes ist daher grundlegend. J. F. - Existieren heißt aber nicht nur denken. Existieren heißt handeln. M. - Sind Körper und Sprache nicht die Diener des Denkens? Der Körper tut nur, w a s das Denken von ihm verlangt, und die Worte k o m m e n nicht auf u n b e w u ß t e oder reflexbedingte Art zum Vorschein. J. F. - Die Aussage, daß »der Körper n u r tut, w a s das Denken von ihm verlangt«, erscheint mir optimistisch. M. - Optimistisch? Ich spreche nicht von den organischen Funktionen des Körpers, sondern von Willensakten. Wenn wir in der Lage wären, unsere Worte und Taten zu beherrschen, würde das die meisten zwischenmenschlichen Konflikte lösen. Ohne die Beherrschung unseres Geistes ist das aber unmöglich. Es ist unser Geist, der unseren Handlungen die Richtung gibt. Je n a c h Motivation können zwei anscheinend identische Handlungen nämlich gegensätzliche, positive oder negative Auswirkungen h a b e n . Zum Beispiel kann m a n j e m a n d e m Geld geben, um ihm einen Gefallen zu tun oder um ihn zu bestechen. Aber um auf die Anwendung der Geistesbeherrschung in konkreten Situationen zurückzukommen, so ist die wahre Geduld kein Zeichen von Schwäche, sondern von Stärke. Es geht nicht darum, alles passiv über sich ergehen zu lassen. Die Geduld gibt uns die Kraft, gerecht zu handeln, ohne daß wir von Haß oder Rachsucht verblendet sind, die uns jede Urteilsfähigkeit rauben. Toleranz besteht, wie der Dalai Lama oft sagt, nicht darin zu sagen: »Los, fügt mir Leid zu!« Sie bedeutet weder Unterwerfung noch Hingabe, sondern sie geht einher mit einem Mut, einer seelischen Stärke und einer Intelligenz, die uns vor unnötigen geistigen Leiden verschonen und uns d a r a n hindern, der Feindseligkeit zu verfallen. Die w a h r e , gewaltlose Geduld besteht in der Wahl der 107
uneigennützigsten Lösung. Einschmeichelnde Worte, die man in der Absicht von sich gibt zu betrügen, erwecken den Anschein der Sanftmut. Tatsächlich handelt es sich aber um Gewalt. Schimpft hingegen eine Mutter ihr Kind zu seinem Wohl und aus Liebe zu ihm aus oder gibt ihm einen Klaps, d a n n erweckt das den Anschein von Gewalttätigkeit. In Wirklichkeit handelt es sich aber um Gewaltlosigkeit. Was zählt, ist die Motivation, die unser Handeln bestimmt, und das Resultat. Die Wahl der Mittel hängt von der Geübtheit unserer Intelligenz ab. Theoretisch ist die Anwendung von Gewalt in guter Absicht also vorstellbar. In der Praxis ist es jedoch schwierig, sie erfolgreich einzusetzen. Gewalt zieht Gewalt nach sich und hat im allgemeinen verheerende Auswirkungen. Also sollte m a n dem Konflikt aus dem Weg gehen oder, wenn er unvermeidlich ist, den Gewaltbereiten neutralisieren, ohne dabei m e h r Gewalt anzuwenden, als unbedingt erforderlich ist, und ohne zusätzliche Gefühlsregungen ins Spiel zu bringen. J. F. - In dem, was Du sagst, liegt etwas sehr Berechtigtes. Anwendbar scheint es mir aber zunächst auf etwas, was ich als überflüssige, unnötige Gefühlsregungen bezeichnen würde, als ü b e r t r i e b e n e Gereiztheiten, als eher größenwahnsinnige als gerechtfertigte Ambitionen. Oder auch auf Exzesse, auf Ausschweifungen, wie bei der Entfachung von Räch- oder Vergeltungssucht, die ü b e r die Notwendigkeit der Neutralisierung einer realen Gefahr hinausgeht. Nun ist diese Kritik der unnötigen Gefühlsregungen, der Exzesse j e d e r Art aber ziemlich banal. Ich will nicht sagen, es sei einfach, das in die Praxis umzusetzen. Eine sensationelle Entdeckung ist es aber nicht. Der größte Teil der Gefühlsregungen und Wünsche, die wir empfinden, und der Ambitionen, die wir h a b e n , steht in Z u s a m m e n h a n g mit einer Aktions- und Reaktionshaltung gegenüber der Wirklichkeit. Das setzt ein ganzes Substrat an Gefühlen voraus, an Wünschen, Ambitionen, Argwohn und Vorsichtsmaßnahmen, die nicht alle überflüssig, verachtenswert oder unnütz sind, da sie in Zusammenhang mit realen Situationen stehen. Wenn ich ein Haus bauen will oder bestimmte Arbeiten oder wis108
senschaftliche Forschungen durchführen möchte etc., kann m a n sagen, daß ich einen Ehrgeiz habe. Er kann völlig legitim sein, m u ß weder auf Haß oder Gier beruhen, noch jemandem abträglich sein. Für mich kann er jedoch negative Gefühle der Enttäuschung nach sich ziehen, sofern sich Hindernisse auftun oder sich Leute einmischen und mein Proj e k t sabotieren. Solche Gefühlsregungen k a n n m a n nicht ausschalten, da sie nicht allein aus meinem Geist kommen. Sie werden von der Wirklichkeit induziert und haben Anteil an der Wirkung auf die Wirklichkeit. M. - Sie werden zwar durch die äußere Wirklichkeit ausgelöst, gehören ihr aber eigentlich nicht an. Dieselbe Person k a n n j e m a n d e m b e g e h r e n s w e r t und einem a n d e r e n hassenswert erscheinen. Ein Politiker möchte Macht ausüben, ein Eremit sich ihrer entledigen. Die Natur unserer Gefühlsregungen ist also durch die Art bestimmt, wie wir die Wirklichkeit wahrnehmen. Noch einmal, es geht keineswegs darum, sich von allen menschlichen Gefühlen abzukapseln, sondern sich einen vielseitigen, ausgeglichenen Geist anzueignen, der nicht länger Spielball der Emotionen ist, der vom Mißgeschick nicht erschüttert und vom Erfolg nicht berauscht wird. Streut man eine Handvoll Salz in ein Glas Wasser, wird dieses Wasser untrinkbar. Streut man es a b e r in einen großen See, ä n d e r t sich der Wassergeschmack k a u m . Aus geistiger Beschränktheit leiden die meisten Leute nun aber ständig und unnötigerweise darunter, daß sie nicht bekommen, was sie sich wünschen, und d a ß sie sich konfrontiert sehen mit dem, was sie nicht mögen. Ein a n d e r e r Grund für unser Leid ist die Egozentrik. Wenn wir vollkommen auf uns selbst fixiert sind, laufen die Schwierigkeiten, auf die wir stoßen, und das Mißbeh a g e n , das sie uns bereiten, u n s e r e m Wohlbefinden unmittelbar zuwider. Wir sind deprimiert und akzeptieren diese Probleme nicht. K ü m m e r n wir uns dagegen allem voran um das Wohl der anderen, so werden wir mit Freude die persönlichen Probleme akzeptieren, die sich bei seiner Verwirklichung ergeben können. Denn wir wissen, daß das Wohlbefinden der anderen wichtiger ist als das unsrige. 109
J. F. - Es gibt jedoch viele Fälle, wo man unbefriedigt ist, wenn m a n nicht bekommt, was man will: nicht aus artifiziellen Gründen oder wegen der Nicht-Beherrschung seiner i n n e r e n Gedanken, auch nicht weil das Gewünschte unr e c h t m ä ß i g oder einzig und allein dem Hochmut zuzuschreiben wäre, sondern aus Gründen, die in einer objektiven Wirklichkeit begründet sind, die sogar altruistisch sein kann. Ein Arzt, der einen Kranken heilen möchte, hat ein Gefühl, eine Gemütsbewegung, die ehrenwert sind. Wenn er scheitert, empfindet er eine ebenso ehrenwerte Enttäuschung. Er ist unzufrieden, aber aus guten Gründen. M. - Ja, diese Art von Ehrgeiz ist mehr als legitim. Sie ist notwendig. J. F. - Es gibt also einen Ort für die Klassifizierung ehrenwerter und nicht ehrenwerter Bestrebungen? M. - Ganz und gar. Unerwünschte Gefühlsregungen sind solche, die unser Urteilsvermögen irreleiten oder lähmen, nicht solche, die uns ermutigen, große Aufgaben zu erfüllen. Der Wunsch, das Leid der anderen zu lindern, der ein ganzes Leben inspirieren kann, ist ein bewundernswerter Ehrgeiz. Zweckmäßig ist die Unterscheidung zwischen negativen Gefühlsregungen wie Begierde, Haß und Hochmut, die unsere egozentrischen Vorstellungen weiter verfestigen, und positiven Gefühlsregungen wie selbstlose Liebe, Mitleid und Glauben. Letztere erlauben, daß wir uns nach und nach von den negativen und egozentrischen Neigungen befreien. Sie verwirren unseren Geist nicht, sondern stärken und stabilisieren ihn. J. F. - Sind wir da nicht wieder bei der epikureischen Unterscheidung zwischen notwendigen Wünschen und nicht notwendigen Wünschen? M. - Ein positiver Ehrgeiz - die Verfolgung des Wohls der a n d e r e n mit allen möglichen Mitteln oder der sehnliche Wunsch, sich selbst zu verändern - gehört zu den Kardinaltugenden des Buddhismus. Der Buddhismus hegt in der Tat den uneingeschränkten Ehrgeiz, das Leid aller Lebewesen unter dem Himmel zu lindern! Ohne diese Art von Emotion erläge m a n der Passivität und fehlte es einem an seelischer 110
Stärke. Also m u ß m a n die positiven und negativen, die altruistischen und egoistischen Gesichtspunkte des Ehrgeizes unterscheiden. Es heißt, ein Ehrgeiz sei positiv, sofern er darauf abziele, den anderen Gutes zu bringen. Das ist die einfachste Definition. Negativ ist ein Ehrgeiz hingegen, wenn seine Verwirklichung auf Kosten anderer geht. Eine Gefühlsregung ist negativ, wenn sie unseren inneren Frieden und den der anderen zerstört. J. F. - Schließt Du all j e n e positiven Bestrebungen aus, die unser persönliches Los verbessern sollen? M. - Ganz und gar nicht. Es empfiehlt sich, Rücksicht auf unser eigenes Wohlbefinden zu nehmen, doch niemals auf Kosten anderer. Übrigens verbessert man sein persönliches Los merkwürdigerweise am besten, indem m a n vor allen Dingen vom Los der anderen betroffen ist. Shantideva, ein buddhistischer Meister aus dem 8. Jahrhundert, hat gesagt: Alles Glück der Welt Kommt vom selbstlosen Herzen, Und all ihr Unglück Von der Selbstliebe. Wozu so viele Worte? Der Tor hängt an seinem Eigeninteresse, Und der Buddha gibt sich dem Interesse der anderen hin: Sieh selbst den Unterschied! Vielleicht ist es, um u n s e r e vorherige Diskussion abzuschließen, ein Allgemeinplatz zu sagen, daß Macht und Geld nicht glücklich machen, daß Eifersucht und Hochmut unsere Lebensfreude zerstören etc. Wenn dem so ist, würde es aber nichts d a r a n ändern, daß die Mehrheit der Menschen den Hauptsorgen der Welt - Gewinn und Verlust, Freude und Schmerz, Kritik und Lob, Ruhm und Schmach weiter in die Falle gehen und ihnen gegenüber völlig hilflos zu sein scheinen. Nicht jeden Tag versucht uns jemand ein Messer in den Rücken zu stoßen, doch in jedem Augenblick sind wir die Beute unserer negativen Gefühlsregungen. Wie viele Unglückliche sehen ihr Dasein von der Eifersucht ver108
pfuscht! Wären sie in der Lage gewesen, die Immaterialität der Eifersucht zu erkennen und sie dazu zu bringen, sich in ihrem Geist aufzulösen wie eine Wolke am Himmel, dann hätte die Eifersucht sie nicht nur in Frieden gelassen, sondern sicher auch nicht bis zu einem Verbrechen aufgestachelt. Eine kleine Wolke, sagt m a n , bringt keinen Regen. Man m u ß sich einem Gedanken widmen, w e n n er aufkommt, und nicht erst dann, wenn die Emotionen unkontrollierbar geworden sind. Man muß den Funken beherrschen. Denn was soll m a n noch tun, wenn erst der ganze Wald in Flammen steht? J. F. - Auch hier h e r r s c h t Übereinstimmung zwischen allen Philosophien, eine Art gemeinsame Basis der abendländischen und der orientalischen praktischen Weisheit. Das ist eine Kunst, die Gesamtheit u n s e r e r psychologischen Anlagen in ihrem Verhältnis zur Wirklichkeit so zu a r r a n gieren, daß alle Überspitztheiten, die letzten Endes n u r unglücklich und unzufrieden machen, vermieden werden. Unter der Psychologie, der Wissenschaft des Geistes, versteht m a n allerdings nicht allein diese Art von praktischem Leitfaden, der uns - wie der Leitfaden Epiktets im Stoizismus - weniger anfällig machen soll gegenüber den äußeren Umständen, den Zufällen des Lebens und den eigenen Leidenschaften ... Bevor man an eine praktische Anwendung denkt, an einen Weg hin zu innerer Ausgeglichenheit, ist die Psychologie erst einmal ganz einfach das Studium der kognitiven Phänomene. Auf dem Kolloquium in Harvard, auf das ich ansprach, sagten nun etliche amerikanische Teilnehmer, daß sie im Buddhismus eine Wissenschaft des Geistes entdeckt hätten, die sie für außergewöhnlich reich hielten. M. - Deshalb sollten wir nicht aus dem Blick verlieren, daß es nicht sehr viele Forscher gibt, die sich für diese Art von Dialog mit dem Buddhismus interessieren. J. F. - Worin besteht denn nun diese Wissenschaft des Geistes? M. - Die buddhistische Psychologie hat viele Facetten. Sie u n t e r s u c h t zum Beispiel die Art und Weise, wie mentale Faktoren entstehen, w e n n der Geist am a n g e b o r e n e n 112
»Ich«-Gefühl festhält und das Selbst als eine wirklich existierende autonome Entität betrachtet. Eine Vielzahl miteinander verketteter mentaler Vorgänge haben ihre Ursache in dieser Anhänglichkeit ans »Ich«. J. F. - Ich u n t e r b r e c h e Dich! Du sagst, das Selbst sei angeboren? M. - Ich will sagen, daß wir alle von Natur aus über die Vorstellung eines Ich verfügen. Wir antworten, wenn m a n uns ruft, wir denken: »Mir ist heiß«, wenn es heiß ist, wir sind u n s u n s e r e r Existenz b e w u ß t etc. Der Buddhismus b e t r a c h t e t das als a n g e b o r e n e s Selbstgefühl. Zu diesem Gefühl kommt die Vorstellung, daß das »Ich« eine abgetrennte Entität ist, die »die Identität« des Individuums ausmacht. Dieser Begriff ist ein Produkt des Verstandes, eine bloße mentale Benennung, wie ich bereits erwähnt habe. Sucht m a n das »Ich« im Strom des Bewußtseins oder im Körper oder in der Kombination beider, schafft m a n es w e d e r durch Analyse noch durch Kontemplation, geistig oder physisch irgendeine Entität zu isolieren, die diesem individuellen »Ich« entspräche. J. F. - Ja, aber auch wenn sich das Selbst, die Persönlichkeit oder das Ich nicht lokalisieren lassen, ist das Gefühl dafür vielleicht nicht ganz und gar angeboren, da es je nach Zivilisation, Kultur und Individuum variiert. Es gibt Kulturen und Individuen, wo es besonders überschwenglich ist. Die Übersteigerung des Selbst ist ein kultureller und individueller Faktor. Das Gefühl persönlicher Identität ist durch die Gesellschaft und unsere eigene Geschichte zumindest genauso geprägt, wie es angeboren ist. M. - Genau das wollte ich sagen. Das elementarste IchGefühl ist angeboren, und alles, was hinzukommt, ist vom Individuum unter dem Einfluß der Gesellschaft und seiner Persönlichkeit herausgebildet. Das Grundgefühl, das mich spüren läßt, daß ich existiere, ist allen Menschen gemeinsam. Die Unterschiede hängen vom Grad der Übersteiger u n g ab, die das »Ich«-Gefühl annimmt, vom Grad des Glaubens, den wir in dieses »Ich« als eine an sich existierende Entität setzen. 113
J. F. - Was ist unheilvoll, was illusorisch? Ist es das Selbst als solches, oder sind es seine egomanischen Überspitztheiten? M. - Nicht das Selbst als solches. Sogar jemand, der von der Anhänglichkeit ans Selbst befreit ist, antwortet, wenn man ihn ruft. Unheilvoll sind natürlich die Überspitztheiten des Ego, aber auch harmlosere Formen der Anhänglichkeit ans Selbst. Obwohl weniger offensichtlich, sind sie nichtsdestoweniger die Ursache für die meisten unserer Qualen. Zu diesem Thema findet m a n im Buddhismus einen ganzen Katalog geistiger Faktoren, die sich von der Anhänglichkeit oder der Nicht-Anhänglichkeit ans Selbst herleiten. Zunächst w e r d e n achtundfünfzig davon beschrieben, d a n n noch etliche mehr. Das reicht von positiven Faktoren wie Unparteilichkeit, Selbstachtung, Wertschätzung der anderen, Vertrauen, Nicht-Anhänglichkeit, Wachsamkeit etc. bis hin zu negativen Faktoren wie Arroganz, Apathie, Unruhe, Heuchelei, Dogmatismus, Gleichgültigkeit etc. J. F. - Aber worin besteht die buddhistische Introspektion? M. - In erster Linie kann m a n sich fragen: »Was ist das Bewußtsein? Was löst eine Wahrnehmung aus? Kann sich der Geist selbst e r k e n n e n ? « Die Antwort auf die letzte Frage ist zum Beispiel, daß wir uns, relativ gesehen, unseres Geistes offenbar bewußt sind und die Bewegung und das Wesen u n s e r e r Gedanken beobachten können. Wir wären funktionsunfähig, wenn wir uns unserer Gedanken nicht bewußt w ä r e n . Letzten Endes k a n n der Gedanke jedoch nicht im selben Moment denken und sich selbst erkennen, genausowenig wie sich ein Heckenmesser selbst schneiden oder das Auge selbst b e t r a c h t e n kann. Also unterscheidet man hier, wie in den meisten Beispielen dieser Art, zwei Typen von Beweisführung oder Logik: Der eine basiert auf der relativen Wahrheit, das heißt, er fällt in den Bereich des gesunden Menschenverstandes, der andere auf der absoluten Wahrheit. In letzterem Fall zeigt sich schließlich, daß das Bewußtsein, sofern es denn als autonome Entität existierte, nicht zugleich sein und sich selbst 114
e r k e n n e n kann. Im Buddhismus gibt es philosophische Schulen von unterschiedlichem Niveau. Einige sagen in dem Fall, das Bewußtsein habe eine letzte autonome Realität und sei durch einen Vorgang selbstbewußt, der keine Subjekt-Objekt-Beziehung einschließe: so wie das Licht einer Lampe von selbst hell werde, ohne eine äußere Lichtquelle zu benötigen. Andere erwidern, das Licht b r a u c h e nicht »aufzuhellen«, denn es enthalte kein Dunkel, und wenn sich das Licht aufhellen könne, sei auch das Dunkel imstande, sich selbst zu verdunkeln. J. F. - Ohne in diesem Bereich die Originalität des buddhistischen Denkens abstreiten zu wollen, erkenne ich in dem, was Du gerade gesagt hast, eine klassische Fragestellung der abendländischen Philosophie wieder. Zum Beispiel: Kann sich der Gedanke selbst erkennen? Das ist die Frage, ob Introspektion oder rückbezügliches Denken überhaupt möglich sind. Können wir uns in der Wahrnehmung oder in der Erkenntnis zugleich des w a h r g e n o m m e n e n oder erkannten Objekts bewußt sein und unseres eigenen Denkens als bewußter Kraft? Manche Psychologen glauben, daß Introspektion möglich ist. Andere sind der Ansicht, daß wir nicht die geeigneten Richter sind, um uns selbst zu beobachten. Die Beobachtung des Innenlebens durch es selbst sei nicht zuverlässig, allein die Beobachtung des Verhaltens erlaube es, zum Ursprung vorzudringen. M. - Der letzte Gesichtspunkt verschließt natürlich jeder kontemplativen Wissenschaft, die die Essenz des Buddhismus ausmacht, die Tür ... J. F. - Welche Art von Wahrnehmungsanalyse führt Ihr durch? M. - Auf der Ebene der relativen Wahrheit entsteht jeder Bewußtseinsmoment in Kontakt mit einem Objekt, das die Wahrnehmung auslöst. Man könnte sagen, daß es zu jedem Zeitpunkt der Wahrnehmung für jedes Objekt ein Subjekt gibt. Trotz einer scheinbaren Kontinuität entstehen und vergehen W a h r n e h m u n g und diskursives Denken unaufhörlich. Letzten Endes existiert das Bewußtsein jedoch selbst im gegenwärtigen Moment nicht als eine unabhängi115
ge, deutlich abgegrenzte Entität. Sie ist nur ein Strom, eine Kontinuität vorübergehender Momente, die keine individuelle Existenz haben. Allein die nicht-dualistische »erleuchtete Gegenwärtigkeit«, die die diskursiven Gedanken transzendiert, ist unveränderlich, da jenseits der Zeit. J. F. - Die Erforschung der Wahrnehmungen, der Empfindungen, zunächst einmal über die Ideen: das ist die alte, auf die griechische Philosophie zurückgehende, bis zu Kant und d a r ü b e r hinaus verfolgte Frage, die traditionell die Frage der Erkenntnistheorie genannt wird, die Frage der Entstehung der Vorstellungen, der Begriffe, der Empfindungen, die Frage der Ausbildung des Denkens, der Urteilskraft ... Auf normativerer Ebene ist das auch die Logik, die einen der wichtigsten Zweige der abendländischen Philosophie darstellt. M. - Und der orientalischen Philosophie. Denn es gibt ganze Abhandlungen, die der Logik gewidmet sind, übrigens äußerst komplizierte ... J. F. - Logik bedeutet nicht allein, wie unsere Gedanken ablaufen, sondern wie sich unsere Vorstellungen herausbilden, wie sie sich organisieren, wie sie u n t e r e i n a n d e r zusammenwirken, um zu Urteilen zu gelangen, zu Beweisf ü h r u n g e n etc. A u ß e r d e m was nötig ist, um I r r t ü m e r zu vermeiden in der Beweisführung, in der Beurteilung, die ganze Lehre der Begriffsverknüpfungen ... Von Piatons Theaitet über Descartes' Abhandlung über die Methode bis hin zu Kants Kritik der reinen Vernunft ist das ein zentrales Thema. Also, noch einmal, interessant ist für mich bis jetzt zu sehen, daß der Buddhismus - bis vor kurzem praktisch ohne Kontakte zum Abendland - Fragestellungen erarbeitet hat, die den Fragestellungen der abendländischen Philosophien sehr ähnlich sind. M. - Der Buddhismus behauptet nicht, eine neue Wahrheit entdeckt zu haben. Der Begriff des »Neuen« ist naturgemäß jeder Erkenntnis fremd, die auf spiritueller Verwirklichung beruht. Diese zielt nämlich darauf ab, das Wesen der Dinge zu erkennen - und es gibt keinen Grund, warum das im Orient anders sein soll als im Abendland. Der Unter116
schied zu einer rein verstandesmäßigen theoretischen An Int) lyse ist, d a ß es sich um eine u n m i t t e l b a r e kontemplati^f? E r k e n n t n i s der N a t u r des Geistes h a n d e l t , die auf Erfa^ \ r u n g b e r u h t und nicht allein auf analytischer Reflexion. Dr^r Theorie wird hier nicht preisgegeben wie das Rezept ein n ci Arztes, das m a n auf dem Nachttisch zurückläßt, ohne d.LleHeilmittel zu n e h m e n . Sie kommt zum Einsatz, um a u s d e i Strom u n s e r e s Geistes alles zu entfernen, was ihn trüfct. o J. F. - Diese U n t e r s c h e i d u n g von diskursiver undko rftc t e m p l a t i v e r E r k e n n t n i s steht a u c h bei Piaton im Mittel if punkt. Das unmittelbare Schauen, die »theoria«, ist für ili das letzte Stadium der philosophischen Initiation. (J M. - Kommen wir kurz auf die W a h r n e h m u n g zurück. C] n.< m a n ein Objekt als w ü n s c h e n s w e r t oder nicht wünschenpr w e r t w a h r n i m m t , h ä n g t nicht vom Objekt selbst a b , s o ( i c d e r n von der Art, wie m a n es w a h r n i m m t . In einem sehr e t n e n Objekt gibt es keine i n h ä r e n t e Qualität, die für d J t « Geist von Vorteil w ä r e , in einem h ä ß l i c h e n Objekt nichi|ei w a s ihm s c h a d e n könnte. Wenn die Menschen aussterbet w ü r d e n , verschwände deshalb nicht die Erscheinungsweise! Die Welt, so wie sie von d e n M e n s c h e n w a h r g e n o r r m « f ü wird, h ä t t e j e d o c h keine D a s e i n s b e r e c h t i g u n g mehr. C^pr; Wahrnehmungs-»Welten« der a n d e r e n Lebewesen würd«as für diese weiter fortbestehen. Das klassische Beispiel ist d j a l des W a s s e r g l a s e s : Von einem Fisch wird es als Habitpn w a h r g e n o m m e n , von e i n e m M e n s c h e n als Getränk, v*im e i n e m Gott als N e k t a r der Unsterblichkeit, von einexls Wesen aus dem Reich der giergepeinigten »Gespenster« cjiBlut und Eiter und von dem, der die Welt als Hölle betrac : jr tet, als geschmolzene Bronze. Ein Zen-Gedicht sagt: »F den Liebenden ist eine hübsche Frau ein Objekt der Freucjn f ü r den E r e m i t e n ein v e r g n ü g l i c h e s T h e m a und für d^n Wolf eine gute Mahlzeit.« Obwohl unsere Wahrnehmung*^ von Objekten ausgelöst werden, sind sie letztlich Produkts des Mentalen. Wenn m a n ein Gebirge b e t r a c h t e t , ist d^ e r s t e Bild, das u n s e r s c h e i n t , eine r e i n e , u n v e r f ä l s c h t W a h r n e h m u n g . Doch schon im nächsten Moment werd^i sich einige sagen: »Oh! Dieses Gebirge scheint gefährliv i1
und unwirtlich.« Andere w e r d e n sich sagen: »Das ist ein geeigneter Ort, um eine Eremitage einzurichten.« Daran schließen sich zahlreiche Gedanken an. Wenn sich die Objekte durch sich selbst definierten und vom Beobachter unabhängige, intrinsische Eigenschaften besäßen, müßte sie jeder auf dieselbe Weise wahrnehmen. J. F. - Diese Analysen sind völlig zutreffend, a b e r f ü r einen Philosophen, ich wiederhole mich, auch klassisch. In welcher Verbindung stehen sie mit einer, sagen wir, Weisheit, die sich im alltäglichen Leben anwenden läßt? M. - Wenn wir unsere Wahrnehmungen auf kontemplative und analytische Weise untersuchen, werden wir schließlich nicht mehr an ihre Beständigkeit glauben. Man begreift die ephemere Relativität von Begriffen wie »Freund« und »Feind« - jemand, den wir heute als Feind betrachten, ist f ü r a n d e r e das Objekt großer Zuneigung, und vielleicht w e r d e n wir in ein p a a r Monaten die besten Freunde der Welt sein. Durch die spirituelle Schulung sollen wir die Festigkeit u n s e r e r Urteile, u n s e r e r W a h r n e h m u n g e n von Menschen und Dingen in gewisser Weise schmelzen lassen, so wie m a n einen Eisblock im Wasser schmelzen läßt. Eis und Wasser sind dasselbe Element. Ersteres ist aber hart, und m a n kann sich die Knochen d a r a n brechen, letzteres weich und flüssig. Man kann also die ganze Welt als potentiellen Feind betrachten, sie in » w ü n s c h e n s w e r t « und »nicht w ü n s c h e n s w e r t « unterteilen. Oder m a n sieht sie, ganz im Gegenteil, als eine Transformation an, die ständig im Wandel ist und keine eigene Existenz hat. In den Erscheinungen läßt sich sogar eine unendliche Reinheit e r k e n n e n , die gleichbedeutend mit der Leere ist. Das schafft natürlich einen enormen Unterschied. J. F. - Es gibt zwei Einstellungen gegenüber der Wirklichkeit, gegenüber der Menschheit als Ganzes. Die erste ist dem Epikureismus, dem Buddhismus und dem Stoizismus gemeinsam. Sie besteht in der A n n a h m e , das Ganze der Wirklichkeit der Welt und der Menschheit könne als solches nicht verbessert werden. Verbessert werden könne einzig und allein die menschliche Psyche. Die Lösung liege, alles in 118
allem, im Zugang zur Spiritualität, zur persönlichen Weisheit. Ich will von dem sprechen, was ich am besten kenne: dem epikureischen oder stoischen Weisen. Das ist jemand, der sich im Grunde sagt: »Je weniger ich mich um all die Komplikationen dieser Welt k ü m m e r e , indem ich den Wahnsinn der Menschen u n a b h ä n g i g von mir ablaufen lasse, desto mehr wird es mir gelingen, meine Schäfchen wie man im Volksmund sagt - ins Trockene zu bringen und mich nicht mehr in Widerwärtigkeiten verstrickt zu sehen, die mich zu verwirren drohen ... Ich muß vor allem vermeiden, mir einzureden, ich könnte d a r a n etwas ändern. Alles, was ich ä n d e r n kann, sind mein Verhalten und meine Gedanken gegenüber diesen Umständen. Vor allem darf ich nicht m e h r für dieses oder j e n e s Lager, diese oder j e n e Sache Partei ergreifen ...« Dieser Einstellung steht eine a n d e r e gegenüber, die besagt: »Aber nein, m a n kann die Wirklichkeit verändern, k a n n sie verbessern und Einfluß auf sie nehmen. Und deshalb ist das Ziel der Philosophie, meine Gedanken nicht derart zu beherrschen, daß ich an keiner objektiven Situation mehr teilnehme, sondern diese objektive Situation durch die Technik und die Politik zu verändern.« Piaton hat versucht, diese beiden Positionen zu verknüpfen. M. - Auch der Buddhismus schlägt meines E r a c h t e n s eine Kombination der beiden Auffassungen vor, eine Kombination jedoch, die mir auf wesentlicheren Prinzipien zu beruhen scheint als der Nicht-Einmischung einerseits und der Nutzung von Technik und Politik a n d e r e r s e i t s . Zunächst einmal besteht kein Bedarf, die Wirklichkeit selbst oder, sagen wir besser, das äußerste Wesen der Dinge zu verändern. Denn dem Buddhismus zufolge wird die Vollkommenheit, die ursprüngliche Reinheit der Dinge weder »beschädigt«, wenn m a n sie ignoriert, noch »verbessert«, w e n n m a n sie erkennt. Was wir v e r ä n d e r n können und müssen, ist unsere irrige W a h r n e h m u n g des Wesens der Dinge. Hierbei spielen die Beherrschung der Gedanken und der altruistische Vorstoß eine Rolle, der darin besteht, anderen die Mittel an die Hand zu geben, eine solche Wand119
lung zu vollziehen. Der buddhistische Weg besteht letzten Endes in einer neuen Wahrnehmung der Welt, in einer Wiederentdeckung des wahren Wesens der Menschen und der Erscheinungen. Er f ü h r t zu einer weit g r ö ß e r e n Widerstandsfähigkeit gegenüber den unliebsamen Überraschungen des Daseins. Denn man lernt, sie nicht nur mit »Gleichmut« zu n e h m e n , sondern mit Freude, indem m a n die Schwierigkeit und ihre erfolgreiche Überwindung als Katalysatoren nutzt, was rasche Fortschritte in der spirituellen Praxis erlaubt. Es geht also nicht darum, sich vor der Welt zu verschanzen, sondern ihr Wesen zu begreifen. Man wendet seinen Blick nicht vom Leid ab, sondern sucht ein Gegenmittel und transzendiert so das Leid. J. F. - Welche Art von Gegenmittel? M. - Jeder Mensch verfügt in sich über die Möglichkeit, ein Buddha zu werden, das heißt zur vollkommenen Befreiung und Erkenntnis zu gelangen. Verhüllt wird dieses Potential lediglich durch e p h e m e r e , über die sinnlichen W a h r n e h m u n g e n vermittelte Schleier, die es d a r a n hindern, sich Ausdruck zu verleihen. Diese Schleier bezeichnet m a n als »Nicht-Wissen« oder »geistige Trübungen«. Der spirituelle Weg besteht also darin, sich von den negativen Gefühlsregungen und dem Nicht-Wissen zu befreien und dadurch die bereits in uns vorhandene Vollkommenheit zu aktualisieren. Dieses Ziel hat nichts Egoistisches. Die Motivation, die uns auf dem spirituellen Weg leitet, zielt darauf, sich selbst zu wandeln, um den anderen helfen zu können, sich vom Leiden zu befreien. Diese altruistische Perspektive läßt uns zunächst unsere Ohnmacht angesichts des Leids der anderen erkennen und erzeugt so den Wunsch, sich zu vervollkommnen, um dem abzuhelfen. Es handelt sich also nicht um eine Gleichgültigkeit gegenüber der Welt. Die Indolenz gegenüber den äußeren Umständen wird zu einem Panzer, den m a n im Kampf wider das Leid der a n d e r e n anlegt. J. F. - Im Buch zum Harvard-Symposium erklärt Daniel Goleman, Doktor der Psychologie, am Anfang seines Aufsatzes: »Nach meinem Psychologie-Studium in Harvard sah 120
ich es als endgültig erwiesen an, d a ß die Psychologie ein wissenschaftliches Fachgebiet mit Ursprung in Europa und Amerika ist, entstanden auf diesen beiden Kontinenten, im Abendland w ä h r e n d des letzten J a h r h u n d e r t s ...« Hier erlaube ich mir die Bemerkung, daß es in der griechischen Philosophie eine Psychologie gibt... Sei's drum!... Er spricht von der wissenschaftlichen Psychologie, was man darunter im 19. und 20. Jahrhundert verstanden h a t . . . Nun habe er, wie er sagt, auf seinen ersten Reisen nach Asien aber entdeckt, daß es dort vor allem im Buddhismus eine sehr reiche, vielseitige, weitentwickelte psychologische Wissenschaft gebe. Rückblickend sei er verblüfft gewesen, d a ß seine Psychologie-Professoren im Westen nie das Bedürfnis v e r s p ü r t hätten, die dortigen psychologischen Schulen in derselben Sparte zu unterrichten wie die abendländischen. Voraussetzung dafür wäre natürlich die Existenz einer Psychologie im Orient, die nach den Kriterien der sogenannten wissenschaftlichen Psychologie im Westen definiert ist - die mir übrigens, mit A u s n a h m e ihres neurophysiologischen Bereichs, den Namen einer Wissenschaft nie ganz verdient zu h a b e n scheint. Nun sagt uns hier aber j e m a n d , dessen Beruf das ist, daß die unbeteiligte wissenschaftliche Haltung bei der Beobachtung von Phänomenen geistiger Prozesse nicht allein eine westliche sei. Vielmehr habe es schon seit langem Nachforschungen dieser Art gegeben, insbesondere im Buddhismus. M. - Nebenbei bemerkt, ist Goleman nicht der einzige gewesen, den das mangelnde Interesse an den orientalischen Disziplinen schockiert hat. Der Neurobiologe Francisco Varela, Forschungsleiter am C.N.R.S. (Centre National de la Recherche Scientifique) und Mitglied des C.R.E.A. (Centre de Recherche en Epistemologie Appliquee) an der Pariser Ecole Polytechnique, schreibt ebenfalls: »Wir behaupten, daß die Wiederentdeckung der asiatischen Philosophie, vor allem der buddhistischen Tradition, eine zweite Renaissance in der Kulturgeschichte des Abendlandes ist und daß ihre Wirkung so nachhaltig sein wird wie bei der Wiederentdeckung des griechischen Denkens während der 121
europäischen Renaissance. Unsere modernen Philosophiegeschichten, die das indische Denken ignorieren, sind verfälschend, da Indien und Griechenland nicht nur ein linguistisches indoeuropäisches Erbe mit uns teilen, s o n d e r n auch viele kulturelle und philosophische Anliegen.«* J. F. - Worin bestehen denn die buddhistischen psychologischen Forschungen, die nicht auf eine persönliche Besserung oder die Erringung innerer Ausgeglichenheit hinauslaufen, sondern der reinen Beobachtung m e n t a l e r und psychischer Vorgänge gewidmet sind? M. - Ich führe ein einfaches Beispiel aus der Wahrnehmungsforschung an, weil es sich dabei um eines der Hauptthemen bei der Erforschung der Funktionsweise des Mentalen handelt. Wenn m a n ein Objekt wahrnimmt, selbst das einfachste, zum Beispiel ein blaues Viereck, kann m a n die Oberfläche des Vierecks unterscheiden, die Winkel, die Seiten etc. Die einzelnen Bestandteile werden mittels Synthese als Viereck wahrgenommen. Gibt es nun eine unverzügliche G e s a m t w a h r n e h m u n g des Objekts mit all seinen Komponenten oder handelt es sich um eine rasche Aufeinanderfolge kurzer Bewußtseinsmomente von j e d e m Objektdetail, die zu einer synthetischen Vorstellung führen - so wie m a n beim schnellen Drehen einer Fackel am ausgestreckten Arm einen Feuerkreis sieht, w ä h r e n d es sich in Wirklichkeit nur um mehrfache Wahrnehmungen eines Lichtpunkts in fortgesetzter Bewegung handelt? In der buddhistischen Literatur gibt es eine ganze Reihe solcher Untersuchungen. Phänomenen dieser Art sind Abhandlungen von Hunderten von Seiten gewidmet. J. F. - Von wann stammen sie? M. - Angefangen mit den Predigten des Buddha im 6. J a h r h u n d e r t vor Christus bis ins 19. J a h r h u n d e r t , als sich bedeutende tibetische Exegeten mit den Schriften über die W a h r n e h m u n g befaßten. Solche Fragen w e r d e n w ä h r e n d der metaphysischen Streitgespräche, die fast * F r a n c i s c o Varela, F v a n T h o m p s o n , Hleanor Rosch: L'inscri.ption corporclle de l'esprit. Collection »Fa e o u l e u r des idees«. Editions du Seuil, Paris
199!-!. 122
jeden Tag in unseren Klöstern stattfinden, weiter diskutiert und lebensnah analysiert. J. F. - Nun, das ist sehr interessant, denn das erinnert an eine der wichtigsten psychologischen Richtungen des 20. J a h r h u n d e r t s : die sogenannte Gestaltpsychologie. Sie kam zu Anfang des Jahrhunderts auf und wurde in Frankreich durch ein glänzendes Buch von Professor Paul Guillaume vorgestellt, den ich übrigens an der Sorbonne gehört habe. Vor m e h r als fünfzig J a h r e n hat er das heute noch verbreitete Buch La Psychologie de la forme geschrieben, ein Muster an Klarheit und Genauigkeit in der Schrift. Die Schule der Gestaltpsychologie ist mit folgender Feststellung gegründet worden: Die Psychologie sei bis dahin im wesentlichen analytisch gewesen, das heißt: davon ausgegangen, d a ß u n s e r e Objekt-Wahrnehmung eine Konstruktion sei, die von den Grundelementen der Objekte ausginge. Man habe angenommen, wir würden nach und nach zum endgültigen, vollständigen Objekt gelangen, w ä h r e n d es tatsächlich so sei - die Gestaltpsychologie arbeitete experimentell mit Laborversuchen -, daß wir auf Anhieb die synthetischen Komplexe w a h r n ä h m e n . Auch die n e u e r e n Theorien der kognitiven Wissenschaft zu Begriffen wie »Komplexität« und »Auto-Organisation« stellen die Frage der Gesamtwahrnehmung in Begriffen, die mit der buddhistischen Analyse vergleichbar sind. Das ist also eine Frage, die bereits 600 Jahre vor Christi Geburt mit fast denselben Begriffen in der buddhistischen Wahrnehmungsforschung gestellt worden ist. M. - Kein Objekt ist beständig. Die subtile Unbeständigkeit der Dinge ist so, daß sich das Objekt in jedem Augenblick ändert. Da das Bewußtsein durch das Objekt in Gang gesetzt wird, gibt es genauso viele Bewußtseinsmomente wie Zustände des unbeständigen Objekts. Die Vorstellung der momentanen Unbeständigkeit der Erscheinungen und des Denkens geht sehr weit. Denn sie zeigt, daß das Bewußtsein, wenn es in der Erscheinungswelt nur eine einzige unveränderliche, beständige, an sich seiende Entität gäbe, an diesem Objekt förmlich »kleben« bleiben und sich 123
unendlich a u s d e h n e n w ü r d e . Jedes Bewußtsein auf der Welt fände sich letzten Endes von diesem Objekt, von dem es sich nicht lösen könnte, in gewisser Weise »in die Falle gelockt«. Das Vorhandensein dieser subtilen Unbeständigkeit veranlaßt den Buddhismus, die Erscheinungswelt mit einem Traum oder einer Illusion zu vergleichen, mit einem veränderlichen, nicht greifbaren Strom. Selbst Dinge, die uns d a u e r h a f t erscheinen, zum Beispiel ein Tisch, veränd e r n sich in j e d e m Augenblick. Der Strom des Denkens setzt sich ebenfalls aus unendlich vielen Momenten zusammen, von denen jeder durch eine dieser unendlich vielen Veränderungen der äußeren Welt ausgelöst wird. Allein die Synthese dieser Momente vermittelt den Eindruck einer kompakten Realität. J. F. - Diese Auffassung ist das genaue Gegenteil einer sehr bedeutenden platonischen Vorstellung. Bei allen griechischen Philosophen, ganz besonders aber bei Piaton, findet m a n die Vorstellung - ich w ü r d e sogar sagen: die Zwangsvorstellung -, daß wir nicht erkennen können, was sich bewegt, was sich verwandelt. Für sie kann das Phänomen - das Wort heißt auf griechisch, wie jeder weiß, »was erscheint«, die Welt der Erscheinungen - im Zustand permanenter Bewegung nicht das Objekt einer beständigen, gesicherten, definitiven Erkenntnis sein. Daher das Bestreben j e d e r abendländischen Philosophie - nicht n u r der griechischen, sondern der ganzen abendländischen Philosophie bis hin zu Kant -, hinter der Erscheinung ein beständiges, dauerhaftes Element zu finden, das Gegenstand einer gesicherten Erkenntnis sein könnte. Dieses Stabilitätsmodell basiert auf dem mathematischen Modell. Für das begriffliche Denken war das am Ausgangspunkt des abendländischen Denkens das erste wirklich befriedigende Modell. Man sucht also hinter den Erscheinungen nach den u n v e r ä n d e r l i c h e n Prinzipien, die diese Erscheinungen bestimmen. Diese unveränderlichen Prinzipien sind Gesetze ... Um der chaotischen Wandelbarkeit der Welt der Erscheinungen zu entgehen, entdeckt man hinter ihr also diese Welt der Strukturen, der Beziehungen von Ursache 124
und Wirkung, der unveränderlichen Gesetze. Epikur, oder g e n a u e r sein Schüler, der lateinische Dichter Lukrez, bezeichnet diese Gesetze als »Pakte« (foedera), über die die Götter die Übereinstimmung von menschlichem Geist und Wirklichkeit gewährleisten. Die Pakte sind das stabile Element hinter der sich ständig wandelnden Realität der Erscheinungen. M. - Vorsicht! Das Vorhandensein von Gesetzen besagt nicht, daß es hinter den Erscheinungen unveränderliche Entitäten gibt. Der Buddhismus erkennt vollkommen an, daß die Erscheinungswelt unvermeidlicherweise durch die Gesetze von Ursache und Wirkung geregelt wird. Doch w e d e r diese Gesetze noch die d u r c h sie regulierten Erscheinungen sind permanente, autonome, für sich seiende Entitäten: Nichts existiert d u r c h sich und an sich, alles wird durch das Wechselspiel von Ursachen und Bedingungen hervorgerufen. Das Gesetz der Schwerkraft existiert nicht an sich, nicht ohne Objekte. Ein Fels ist aus Atomen z u s a m m e n g e s e t z t , die i h r e r s e i t s gleichbedeutend mit Energie sind. Ein Regenbogen bildet sich durch das Spiel eines Sonnenstrahls, der auf eine Regenwolke trifft - er erscheint, sichtbar, aber nicht greifbar. Sobald einer dieser Faktoren fehlt, verschwindet die Erscheinung. Also hat der »Regenbogen« kein eigenes Wesen, und m a n k a n n nicht von Auflösung oder Annihilation bei etwas sprechen, das gar nicht existiert. Dieses »Etwas« v e r d a n k t e sein illusionäres Erscheinen nur einer v o r ü b e r g e h e n d e n Verbindung von Elementen, die ihrerseits auch keine an sich seienden Entitäten sind. J. F. - Nicht alle natürlichen Erscheinungen sind auf die des Regenbogens reduzierbar! M. - Doch alle Erscheinungen sind das Ergebnis einer Kombination vergänglicher Faktoren. Nirgends gibt es unveränderliche und u n a b h ä n g i g e Erscheinungen. Es heißt: »Unabhängiges kann genausowenig erscheinen wie eine Blume am Himmel.« Um auf die Gesetze zurückzukommen: nichts beweist, daß sie als permanente Prinzipien existieren, die den Phänomenen zugrunde liegen. Nur über 125
unseren Verstand ist es möglich, sie zu erkennen. Es ist eine metaphysische Entscheidung, w e n n die Wissenschaft erklärt, man könne mit Hilfe unserer Begriffe das äußerste Wesen einer Erscheinungswelt erkennen, die unabhängig von u n s e r e n Begriffen existiert. Der Buddhismus w ü r d e hier Poincare folgen, der im wesentlichen sagte: Welches Wesen eine Realität, die unabhängig vom sie erfassenden Geist ist, auch h a b e n mag, uns wird dieses Wesen f ü r immer unzugänglich sein. Ohne die Menschen, kann m a n sagen, würde die Realität, so wie die Menschen sie wahrnehmen, aufhören zu sein. J. F. - Trotzdem gibt es physikalische Gesetze! M. - Das ist nicht so offensichtlich, wie es scheint. Man könnte in der Tat meinen, die der Erscheinungswelt zugrundeliegende Realität ließe sich in m a t h e m a t i s c h e n Begriffen ausdrücken, die nicht der Subjektivität unterworfen seien. Alan Wallace r e s ü m i e r t hierzu jedoch: »Die m a t h e m a t i s c h e n Axiome w u r d e n bis vor k u r z e m wie Gewißheiten betrachtet, die nicht bewiesen werden mußten. Doch im letzten J a h r h u n d e r t h a b e n Mathematiker nahegelegt, daß zum Beispiel die Postulate des Euklid w e d e r w a h r noch falsch seien, sondern einfach n u r die >Spielregeln