Michael Lawson
Der Luchs
s&p 01/2008
Eine tödliche Kugel wird abgefeuert, verfehlt um Haaresbreite den Präsidenten de...
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Michael Lawson
Der Luchs
s&p 01/2008
Eine tödliche Kugel wird abgefeuert, verfehlt um Haaresbreite den Präsidenten der Vereinigten Staaten – und trifft stattdessen seinen ältesten Freund! Nur ein einziger Mann kann diesen Fall aufklären, bevor der kaltblütige Schütze erneut zuschlägt: der außergewöhnliche Ermittler Joe DeMarco – berühmt-berüchtigt als »der Luchs« … ISBN: 978-3-7645-0212-6 Original: The Inside Ring (2005) Ins Deutsche übertragen von Bernhard Kempen Verlag: blanvalet Erscheinungsjahr: 1. Auflage 2006 Umschlaggestaltung: Design Team München
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch Drei Schüsse fallen. Der Präsident der USA ist verwundet. Sein bester Freund und ein Leibwächter sind tot. Und ganz Washington befindet sich in hellem Aufruhr! Wie konnte all das nur passieren, da der Präsident und seine Begleiter doch von einem Ring von Männern umgeben sind, die geschworen haben, ihr Leben im Ernstfall für das seine zu opfern? Für General Banks, den Leiter des Ministeriums für Heimatschutz, ist der Vorfall mehr als nur peinlich: Kurz vor dem Anschlag erhielt er nämlich eine anonyme Warnung, dass einer der Secret-Service-Agenten, die den mächtigsten Mann der Welt beschützen sollen, selbst ein gefährlicher Attentäter ist. Banks leitete das Schreiben zwar pflichtschuldig an Donnelly, den Chef des Secret Service, weiter – ist der Angelegenheit dann aber nicht mehr nachgegangen. Donnelly ganz offensichtlich auch nicht … Nun will Banks möglichst unauffällig Donnellys Rolle in dem dunklen Spiel aufdecken. Und dazu benötigt er einen Mann, der es gewohnt ist, heikle Probleme schnell und unterhalb des offiziellen Radars zu lösen: Joe DeMarco – ein ziemlich ungewöhnlicher Anwalt mit pikanter Familiengeschichte, der es versteht, die Dinge hinter den Dingen zu sehen. Freunden und Feinden besser bekannt als »der Luchs« …
Autor Michael Lawson war während seiner Dienstzeit für die US Army lange Jahre in Washington stationiert, wo er die bürokratischen Winkelzüge einer großen Regierung kennen lernte und eng mit Mitgliedern des Kongresses zusammenarbeitete. Lawson lebt heute an der amerikanischen Westküste und arbeitet derzeit an seinem zweiten Joe-DeMarco-Roman
Für meinen Vater Bernard Norman Lawson 1924-2004
Prolog Das Video beginnt damit, dass der Präsident auf einen Hubschrauber des Marine Corps zugeht. Hinter dem Hubschrauber sind die Stromschnellen des Chattooga zu erkennen, und noch weiter hinten befindet sich ein dichter Kiefernwald auf einer hohen Böschung über dem Fluss. Der Präsident trägt eine khakifarbene Hose, ein blaues T-Shirt und Wanderstiefel. Über das T-Shirt hat er sich eine leichte Anglerweste mit vielen Taschen gezogen. Er wirkt entspannt und bewegt sich ohne Eile. Er lächelt und winkt einmal in Richtung Kamera, dann beachtet er sie nicht mehr. Im dritten Jahr seiner ersten Amtszeit hat er sich an die Außenwirkung der Macht gewöhnt und lässt sich nicht mehr durch die allgegenwärtigen Medien irritieren. Vor dem Präsidenten stehen zwei Agenten des Secret Service und hinter ihm weitere zwei. Sie tragen identische dunkelblaue Windjacken und Sonnenbrillen. Ein Windstoß legt die Pistole frei, die in einem Holster unter der Jacke eines Agenten steckt. Rechts neben dem Präsidenten geht der Schriftsteller Philip Montgomery. Auch er ist für den Aufenthalt im Freien gekleidet, auch wenn seine Sachen etwas abgetragener als die des Präsidenten wirken. Montgomery unterhält sich mit dem Präsidenten, während sie gehen, dann blickt er zur Kamera und hält die Hände auseinander, als würde er einen stattlichen Fisch abmessen. Der Präsident schüttelt den Kopf und murmelt etwas, wobei er kaum die Lippen bewegt. Montgomery wirft den Kopf zurück und lacht. Als sich die Männer dem Hubschrauber nähern, treten sie in den Schatten, den die bewaldete Anhöhe auf der anderen Seite des Flusses wirft. Ein Agent, der rechts vor dem Präsidenten steht, nimmt die Sonnenbrille ab. Er klappt sie schnell zusammen und versucht sie einzustecken, aber er verfehlt die Tasche 5
der Windjacke, sodass die Sonnenbrille zu Boden fällt. Der Agent bückt sich hastig, um sie wieder aufzuheben, und Philip Montgomery, der sich immer noch mit dem Präsidenten unterhält und nach links schaut, rempelt den Agenten versehentlich an. Der Agent verliert das Gleichgewicht und droht zu stürzen, doch auch Montgomery kommt ins Straucheln und stößt gegen den Präsidenten. In ihrer Tollpatschigkeit hätte diese Kettenreaktion eine amüsante Szene ergeben können, über die die Sprecher der Abendnachrichten geschmunzelt hätten, wäre nicht in diesem Moment Philip Montgomerys Hinterkopf explodiert. Eine Sekunde später schießt dunkelrotes Blut aus der rechten Schulter des Präsidenten. Beim zweiten Schuss reagieren die Leibwächter des Präsidenten. Ein Agent reißt den Präsidenten zu Boden und wirft sich auf ihn, um ihm mit seinem Körper Deckung zu geben. Die anderen drei stellen sich um ihn herum im Dreieck auf. Der Agent, dem die Sonnenbrille heruntergefallen war, steht genau vor dem Kopf des Präsidenten, der zwischen seinen gespreizten Beinen zu erkennen ist. Die Augen des Präsidenten sind vor Angst und Schmerz weit aufgerissen. Dann verwackelt das Bild. Ein Ausschnitt des blauen Himmels, das verwischte Grün eines Waldstücks, die schwirrenden Rotorblätter des Hubschraubers. Als das Bild wieder klar wird, haben die Agenten Waffen in den Händen und suchen hektisch die Umgebung nach einem Ziel ab. Plötzlich zeigt einer der Agenten auf den Hang über dem Fluss, dann feuert er ein paarmal aus seiner Waffe. Im gleichen Moment gibt der Attentäter den dritten Schuss ab. Das Projektil fährt dem Agenten, der auf dem Präsidenten liegt, in die Stirn und verfehlt den Kopf des Präsidenten nur um knappe fünf Zentimeter. Später stellen die Experten fest, dass die Kugel zwischen den Beinen des Agenten hindurchgegangen ist, der vor dem Präsidenten steht. 6
Die letzten Bilder des Videos zeigen Montgomerys Leiche, die Gliedmaßen auf unnatürliche Weise verdreht, und dann eine Nahaufnahme vom Gesicht des Präsidenten. Es ist rot vom Blut des Agenten, der den Tod fand, als er ihm das Leben rettete. WASHINGTON, D.C.
ATTENTÄTER VOM CHATTOOGA TOT AUFGEFUNDEN FBI geht von Selbstmord aus Sharon Mathison, The Washington Post Vergangene Nacht fand die Polizei in Landover, Maryland, die Leiche des Mannes, der vermutlich für den Mordanschlag auf den Präsidenten und den Tod des Schriftstellers Philip Montgomery sowie des Agenten Robert James vom Secret Service verantwortlich ist. Am 19. Juli um 10.30 Uhr meldete ein Anrufer der Notrufzentrale, dass er einen Schuss im Haus von Harold Mark Edwards gehört habe. Die Polizei von Landover ging der Angelegenheit nach und fand Edwards’ Leiche im Haus. Nach Auskunft der FBI-Sprecherin Marilyn Peters starb Edwards offenbar durch eine selbst zugefügte Schusswunde aus einer halbautomatischen Pistole vom Kaliber 45. Peters teilte weiterhin mit, dass ein Abschiedsbrief gefunden wurde, der allem Anschein nach in der Handschrift des Toten verfasst ist. In diesem Schreiben gesteht Edwards, am 17. Juli einen Mordanschlag auf den Präsidenten verübt zu haben. Außerdem erklärt er, die Tat allein begangen zu haben. Edwards war ein arbeitsloser Maschinist, der vor sechzehn Monaten seine Kündigung erhalten hatte, 7
als sein Arbeitsplatz nach Thailand ausgelagert wurde. Die FBI-Sprecherin sagte, der Secret Service sei im Besitz zweier Briefe, die Anfang dieses Jahres von Edwards geschrieben wurden und in denen er den Präsidenten für seine Arbeitslosigkeit verantwortlich macht. In einem dieser Briefe droht Edwards dem Präsidenten mit dem Tod. Außerdem wurden in Edwards’ Haus zwei Gewehre gefunden. Eine vorläufige ballistische Untersuchung durch das FBI deutet darauf hin, dass eine dieser Waffen bei dem Mordanschlag benutzt wurde. Edwards war ein ehemaliges Mitglied der Armeereserve und galt als ausgezeichneter Schütze. Seine Nachbarn sagten aus, er sei ein passionierter Jäger und sehr verzweifelt gewesen, weil er keine neue Arbeitsstelle fand. Weiterhin unbeantwortet ist die Frage, wie Edwards am Morgen des 17. Juli in die Sicherheitszone am Chattooga in Georgia eindringen konnte. Zu diesem Thema sagte Clark Brunson, der Sprecher des Secret Service, dass er nicht bereit sei, Sicherheitsmaßnahmen, die dem Schutz des Präsidenten dienen, öffentlich zu erörtern.
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1 Die Empfangssekretärin – in Boston aufgewachsen, etwas über fünfzig und so hart wie Edelstahl – zog missbilligend eine Augenbraue hoch, als DeMarco in Mahoneys Vorzimmer trat. »Sie sind spät dran«, sagte sie. »Und er hat heute ziemlich schlechte Laune.« »Wenn ich schon zu spät bin, kann ich wohl gleich reingehen«, erwiderte DeMarco. Die Empfangssekretärin war mit einem sehr erfolgreichen Buchprüfer verheiratet. Er war sehr nett, sehr schlank, kultiviert und rücksichtsvoll. Wenn sie, was selten genug vorkam, miteinander schliefen, kreisten ihre Phantasien zumeist um kräftige italienische Bauarbeiter. Früher hatte sie von Schwarzen mit Waschbrettbäuchen und kahl rasierten Köpfen geträumt, doch in den letzten paar Monaten waren es eher Männer, die wie DeMarco aussahen: dunkles Haar, blaue Augen und ein Travolta-Grübchen am Kinn. Dazu Arme und Schultern, die für Muskelshirts von Schlägertypen gemacht waren. Leider gehörten Unpünktlichkeit und Nachlässigkeit nicht zu den Eigenschaften der Männer ihrer heimlichen Phantasien. »Nein, Sie dürfen sich setzen«, sagte sie und zeigte kurz ein sprödes Lächeln. »In ein paar Minuten, wenn ich meinen Tee ausgetrunken habe, werde ich ihm sagen, dass Sie da sind. Dann lässt er Sie noch zwanzig Minuten warten, während er mit wirklich wichtigen Leuten telefoniert.« DeMarco wusste genau, dass ein Protest sinnlos gewesen wäre. Er nahm wie befohlen Platz und zog ein Exemplar der Zeitschrift People aus dem Stapel auf dem Tisch. Er war süchtig nach Hollywood-Tratsch, aber er hätte sich lieber zu Tode foltern lassen, als es zuzugeben.
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Dreißig Minuten später trat er in Mahoneys Büro. Mahoney telefonierte und schloss gerade ein sehr einseitiges Gespräch ab. »Kommen Sie nicht auf die Idee, mich zu verarschen! Wenn Sie in dieser Angelegenheit nicht spuren, werden Sie in spätestens einem Jahr nur noch mit einem Touristenbus in die Nähe des Kapitols kommen. Sie stimmen gefälligst so ab, wie ich es Ihnen gesagt habe. Ich will nichts mehr von Absprachen hören, die Sie niemals hätten treffen dürfen.« Mahoney ließ das Telefon auf die Ladestation knallen, murmelte etwas, das wie »Wichser« klang, und richtete dann seine wässrigen blauen Augen auf DeMarco. »Waren Sie bei Flattery?«, fragte er. DeMarco zog einen unbeschrifteten Umschlag aus der Innentasche seiner Anzugjacke und reichte ihn Mahoney. Er selber wusste nicht, was sich in diesem Umschlag befand. Er legte stets großen Wert darauf, nicht zu wissen, was sich in den Umschlägen befand, die er seinem Vorgesetzten überbrachte. Mahoney riss ihn auf und holte ein Stück Papier heraus, das die Größe und Form eines Schecks hatte. Er betrachtete es, grunzte, was entweder Missbilligung oder Zufriedenheit bedeuten mochte, und deponierte das papierne Etwas in der mittleren Schublade seines Schreibtischs. »Und die Whittacker-Tussi?«, fragte Mahoney. »Sie wird als Zeugin aussagen.« »Was mussten Sie ihr geben, damit sie es tut?« »Mein Wort, dass ich ihrem Ehemann nicht verrate, mit wem sie fremdgeht.« »Mehr war nicht nötig?« »Sie hat eine eidesstattliche Erklärung unterschrieben.« »Aha«, sagte Mahoney. Habgier konnte ihn genauso wenig überraschen wie jede andere menschliche Schwäche. »Also werden die Schweine von Stock Options R Us achtzehn Monate in einem gepflegten Gefängnis auf dem Lande verbringen, während die Leute, die ihre Rente abschreiben können, für den 10
Rest ihres Lebens Hamburger futtern werden, und sie – sie bekommt ein Scheißfoto vorn auf dem Time-Magazin als Petze des Jahres. Mein Gott!« DeMarco zuckte mit den Schultern. Er konnte keine Wunder bewirken. »Brauchen Sie sonst noch etwas?«, fragte er Mahoney. »Ja, ich möchte, dass Sie …« Mahoney hielt inne, von seinen zahlreichen Süchten aus dem Konzept gebracht. Er zündete eine halb gerauchte Zigarre an und griff dann nach einer großen Thermoskanne auf dem Sideboard hinter seinem Schreibtisch. Die Thermoskanne war schartig und verbeult und mit Aufklebern verschiedener Gewerkschaften übersät. Mahoney goss sich daraus ein, und der Geruch von frischem Kaffee und altem Bourbon wehte durch den Raum. Während Mahoney von seinem morgendlichen Toddy trank, studierte DeMarco die Ansammlung von Widersprüchen, die sich da vor ihm ausbreitete. Mahoney war Alkoholiker, aber er funktionierte tadellos. Nur wenige Menschen leisteten im nüchternen Zustand, was ihm angetrunken gelang. Er war ein notorischer Ehebrecher, aber er liebte seine Frau seit vierzig Jahren heiß und innig. Er dehnte die Parteispendengesetze wie Gummi und nahm die Schecks der Lobbyisten dankbar an, und dennoch war er der beste Freund, den die Normalbürger im Regierungsviertel hatten. John Fitzpatrick Mahoney war Sprecher des Repräsentantenhauses, und wenn der Präsident einmal ausfallen sollte, stünde nur noch der Vizepräsident zwischen ihm und dem Oval Office. DeMarco bezweifelte, dass die Schöpfer des fünfundzwanzigsten Zusatzartikels zur Verfassung seinerzeit an jemanden wie Mahoney gedacht hatten. Mahoney war mit gut einem Meter achtzig genauso groß wie DeMarco, aber DeMarco kam sich immer klein vor, wenn er neben ihm stand. Mahoney hatte einen breiteren Brustkorb und mehr Bauch und machte den Eindruck eines Mannes, der sich 11
im Gleichgewicht befand und sich niemals hetzen, nervös machen oder provozieren ließ. Sein Haar war weiß und voll, sein Gesicht von gesunder rötlicher Farbe, und seine Augen leuchteten himmelblau in rot geädertem Weiß. Seine Züge waren kräftig und wohlgestaltet mit einer mächtigen Nase, vorspringendem Kinn, vollen Lippen und breiter Stirn. Es war ein Gesicht, das Stärke, Würde und Intelligenz ausstrahlte – ein Gesicht, mit dem sich jemand ohne Schwierigkeiten alle zwei Jahre in ein bedeutendes Staatsamt wählen lassen konnte. Mahoney trank den Kaffee mit Schuss aus. »Ich möchte, dass Sie Andy Banks einen Besuch abstatten.« »Dem Heimatschutz-Typen?« »Ja. Er braucht Hilfe bei einer Sache.« »Welcher?« »Keine Ahnung. Wir waren gestern Abend zusammen bei dieser Veranstaltung, und er sagte, er hätte ein Problem. Etwas sehr Persönliches. Er sagte, jemand hätte ihm gesagt, ich hätte jemanden an der Hand, der sich um Sachen kümmern kann, einen, der Augen wie ein Luchs hat und Dinge schnell durchschaut.« DeMarco nickte. Diese Beschreibung war absolut zutreffend: Er war ein Luchs, jemand, der Dinge durchschaute und sich um Sachen kümmerte. »Fahren Sie morgen Vormittag zu ihm. Er erwartet Sie.« »Was ist mit diesem Problem in Trenton?« »Kann warten. Fahren Sie zu Banks.«
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2 Andrew Banks, der Minister für Heimatschutz, war ein DreiSterne-General der Marines. Er war neunundfünfzig Jahre alt, groß und schlank, und sein brauner Anzug mit der olivgrünen Krawatte erinnerte an die Uniform, die er dreiunddreißig Jahre lang getragen hatte. Er hatte eine auffällige Nase, einen grauen Bürstenschnitt und einen Mund, der ein Strich über einem mächtigen Kinn war. DeMarco fiel auf, dass seine Augen, die von einer Brille mit Drahtgestell leicht vergrößert wurden, die Farbe von Dachpappennägeln hatten. Hinter Banks’ Schreibtisch hing, flankiert von zwei USFlaggen, ein großes Foto vom World Trade Center aus der Zeit vor dem 11. September. Die Zwillingstürme waren vom Boden aus aufgenommen worden und ragten weiß, makellos und scheinbar endlos in einen wolkenlosen blauen Himmel. Das Foto war eine lebhafte, stumme Erinnerung an Banks’ Aufgabenbereich. DeMarco saß auf einem der drei Stühle, die im Halbkreis vor dem Schreibtisch angeordnet waren. Der Stuhl war so unbequem, dass DeMarco sich fragte, ob er wohl vorher in einem Verhörraum in Guantánamo Bay verwendet worden war. »John Hastings, der Kongressabgeordnete, hat mir von Ihnen erzählt«, sagte Banks. »Er sagte, er wäre von jemandem unter Druck gesetzt worden, um sein Abstimmungsverhalten zu beeinflussen. Hastings wollte mir nicht verraten, wer es war oder worum es ging, nur, dass er sich hilfesuchend an Mahoney gewandt hatte. In null Komma nichts sollen Sie zur Stelle gewesen sein und ihn von seinen Schwierigkeiten befreit haben. Er meinte, Sie seien so etwas wie ein Retter in der Not.«
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Banks hielt inne, als erwartete er eine Antwort von DeMarco. Dieser jedoch verhielt sich wie ein vorbildlicher Zeuge vor Gericht, und da er keine Frage gehört hatte, sagte er auch nichts. »Ich habe ein Problem, vielleicht sogar ein großes, und ich möchte nicht, dass Gott und die Welt davon erfährt. Während ich noch hin und her überlegte, was ich tun sollte, traf ich gestern Abend Mahoney bei irgend so einem Empfang. Ich fragte ihn, ob er mir etwas über diesen DeMarco erzählen könnte, von dem ich gehört hatte. Und wissen Sie, was dieser Arsch Mahoney zu mir gesagt hat? Er hat gesagt: ›Ich kenne keinen DeMarco, aber er wird sich morgen früh in Ihrem Büro melden.‹ Dann ist er einfach davonspaziert und hat irgendein Mädel voll gequatscht, das nur halb so alt war wie er.« Eher war sie nur ein Drittel so alt gewesen wie Mahoney, dachte DeMarco. »Das Problem ist nur, dass ich praktisch nichts über Sie weiß.« »Ich bin Anwalt«, sagte DeMarco. »Anwalt?«, wiederholte Banks. Die Washingtoner Anwälte, die er kannte, waren aalglatt und gewieft. Sie konnten mühelos unter einer luftdichten Tür hindurchschlüpfen. Dieser DeMarco dagegen sah aus wie der Schuldeneintreiber eines italienischen Buchmachers. »Aber Sie arbeiten doch auch als Ermittler, nicht wahr?«, sagte Banks. »Ja, manchmal«, antwortete DeMarco und rückte seinen Hintern auf dem unbequemen Stuhl zurecht. »General, würden Sie jetzt bitte allmählich zur Sache kommen und mir sagen, wo Ihr Problem liegt, damit ich Ihnen sagen kann, ob ich Ihnen helfen kann oder nicht?« Banks lächelte. Es war ein Lächeln, mit dem er ausdrückte, dass es ihm ein ganz besonderes Vergnügen wäre, mit DeMarco auf den Parkplatz hinauszugehen und mit Fäusten und Füßen auf ihn loszugehen.
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»DeMarco, ich versuche gerade zu entscheiden, ob ich Sie engagieren will oder nicht. Und Sie sind mir bei dieser Entscheidung nicht gerade behilflich, wenn Sie einfach nur dasitzen und gar nichts sagen.« »General, ich bin nicht zu einem Vorstellungsgespräch hier, und Sie können mich gar nicht engagieren. Ich bekomme mein Gehalt von der Bundesregierung. Ich bin hier, weil der Sprecher mir gesagt hat, dass ich zu Ihnen gehen soll.« Banks öffnete den Mund, um DeMarco einen gepfefferten Kasernenhofanschiss der alten Schule zu verpassen, doch dann erinnerte er sich daran, dass er es nicht mit einem einfachen Gefreiten zu tun hatte. Er schüttelte den Kopf und murmelte: »Diese Scheißstadt.« DeMarco konnte seinen Frust nachempfinden. Auch er konnte Washington nicht besonders leiden. Banks erhob sich von seinem Sessel und ging zu einem Fenster. Er kehrte DeMarco den Rücken zu, schob die Hände in die Hosentaschen und starrte auf den Verkehr in der Nebraska Avenue hinab. Er brauchte weniger als dreißig Sekunden, um die Situation einzuschätzen. Als Offizier war er dazu ausgebildet worden, Entscheidungen zu treffen. Dann drehte er sich wieder zu DeMarco um. »Verdammt, mir bleibt wohl nichts anderes übrig«, sagte er. »Für mich steht zu viel auf dem Spiel, und ich habe nicht genug Zeit, mir jemand anderen zu suchen. Außerdem hat Hastings Sie empfohlen. Hastings war in der Armee, wissen Sie.« Alte Kameraden, hätte DeMarco beinahe gesagt, aber er konnte sich die Bemerkung im letzten Moment verkneifen. »Das wusste ich nicht«, sagte er stattdessen und rückte sich erneut auf dem Stuhl zurecht. Es fühlte sich an, als hätte das verdammte Ding gar kein Sitzpolster, sondern nur eine dünne Schicht Stoff, die über das härteste Holz gespannt war, das es auf diesem Planeten gab. Vielleicht war es auch gar kein Holz,
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sondern Metall oder das Zeug, aus dem die Nashörner von Nashörnern bestanden. »Okay«, sagte Banks. »Aber Sie müssen mir eins versprechen. Dass Sie alles, was ich Ihnen sagen werde, ausnahmslos für sich behalten, dass Sie keiner lebenden Menschenseele auch nur ein Sterbenswörtchen anvertrauen. Können Sie mir das versprechen?« »Das kann ich«, sagte DeMarco. Er überlegte, ob er seine rechte Hand heben sollte, fand dann aber, dass so etwas wohl leicht übertrieben wäre. Banks musterte DeMarcos Gesicht und suchte nach einem Augenzucken und anderen Anzeichen der Unehrlichkeit, aber DeMarco, der sein Handwerk verstand, ließ sich nichts anmerken. Denn er hatte gelogen. »Ich hoffe für Sie, dass Sie die Wahrheit sagen, sonst reiße ich Ihnen den Kopf ab und scheiße Ihnen ins Rückenmark.« DeMarco sah auf seine Uhr. Er vermutete, dass Banks’ Problem eine Familienangelegenheit war. Eines seiner Kinder steckte in Schwierigkeiten, oder seine Frau hatte eine Affäre mit irgendwem. »Okay«, wiederholte Banks und füllte seine Lungen mit einem tiefen Atemzug durch die Nase, als wollte er einen längeren Tauchgang unternehmen. »Ich möchte, dass Sie einen Agenten des Secret Service unter die Lupe nehmen. Er heißt Billy Ray Mattis.« »Vom Secret Service?« »Ja.« Irgendwo hatte DeMarco den Namen schon mal gehört. »Was genau erwarten Sie von mir?«, fragte DeMarco. »Ich möchte, dass Sie …« Banks hielt inne. »Ja?« Es war, als wollte er eine Jungfrau überreden, ihr Höschen auszuziehen. Dieser Typ wollte einfach nicht damit herausrücken, was er auf dem Herzen hatte. Doch irgendwann brach der Damm. 16
»Ich möchte, dass Sie nachforschen, ob Mattis ein Komplize beim Mordanschlag auf den Präsidenten war.« »Uff!«, sagte DeMarco und wäre fast vom harten Stuhl aufgesprungen. »Hören Sie auf. Sagen Sie kein Wort mehr.« DeMarco schüttelte ungläubig den Kopf. Aber er schien sich nicht verhört zu haben. »Ich dachte«, sagte er dann, »der Kerl, der auf den Präsidenten geschossen hat, wäre ein Einzeltäter gewesen.« »Das war er vermutlich auch«, sagte Banks. Das ist völlig absurd, dachte DeMarco. »Hören Sie, General«, sagte er. »Sie haben angedeutet, dass Sie zu wenig über mich wissen. Jetzt sage ich Ihnen etwas: Ich bin ein Anwalt, der verschiedene Jobs für den Kongress übernimmt. Das ist alles. Wenn ein enttäuschter Wähler zum Stalker wird, sorge ich dafür, dass er das in Zukunft sein lässt. Wenn ein Kongressabgeordneter glaubt, dass sein Sprössling Drogen nimmt, finde ich es heraus, bevor sich der Halbwüchsige strafbar macht. Wenn ein Politiker glaubt, dass seine Frau ihn betrügt, passe ich auf, dass sie mit keinem Journalisten vögelt. Mit solchen Sachen beschäftige ich mich normalerweise. Mit Kleinkram. Mordanschläge sind mir eine Nummer zu groß. Mehrere Nummern. Wenn Sie also wirklich glauben, dass dieser Agent etwas mit dem Attentat zu tun hat, sollten Sie mit dem FBI reden.« »Das möchte ich nicht tun«, sagte Banks. »Zumindest jetzt noch nicht.« »Warum nicht?« Banks antwortete nicht. Er stand einfach nur da und machte gleichzeitig einen schuldigen, störrischen und verärgerten Eindruck. In den vier Tagen seit dem Mordversuch waren Banks und Patrick Donnelly, der Leiter des Secret Service, vom FBI verhört worden. Die Presse hatte ihre Büroausgänge belagert und sie mit Fragen bestürmt, und der Kongress hatte in schneller und seltener Einigkeit beider Parteien einen Untersuchungsaus17
schuss zusammengestellt, der die zwei Männer stundenlang ausgequetscht hatte, wie es möglich gewesen sei, dass die Sicherheit des Präsidenten auf so katastrophale Weise verletzt wurde. Banks hatte also ausgiebig Gelegenheit gehabt, den Leuten von seinem Verdacht zu erzählen, dass ein Agent des Secret Service etwas mit dem Attentat zu tun habe. Doch nun gestand er DeMarco, dass er sich dazu nicht imstande fühlte. Eigentlich hätte DeMarco sofort gehen müssen, seinen Arsch von diesem verdammten Stuhl erheben, nach draußen spazieren und Banks keines weiteren Blickes würdigen. Aber ihm war klar, dass Mahoney ihn zur Schnecke machen würde, wenn er sich aus dem Staub machte, ohne mehr über die Sache erfahren zu haben. Bevor sich DeMarco für die eine oder die andere Möglichkeit entscheiden konnte, hob Banks eine Karteikarte auf, die in der Kladde auf seinem Schreibtisch lag. Er hielt sie mit spitzen Fingern an einer Ecke, als wäre sie mit Anthrax infiziert, dann reichte er sie DeMarco. »Damit hat alles angefangen«, sagte Banks. »Das ist zwar nicht das Original, aber es gibt den Wortlaut exakt wieder. Das Original habe ich weitergegeben an … – spielt keine Rolle. Lesen Sie es einfach.« DeMarco las: »Adler eins ist in Gefahr. Operation Chattooga abblasen. Der Innere Zirkel ist unterwandert. Das ist kein Scherz!« Die Nachricht war unterschrieben mit: »Ein Agent an der falschen Stelle.«
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3 Der Sprecher des Repräsentantenhauses hatte sich vor kurzem angewöhnt, zur Mittagszeit einen Spaziergang zu unternehmen, um den Herzinfarkt zu verhindern, an dem er zweifellos eines Tages sterben würde. Er hatte DeMarco angewiesen, sich um zwölf Uhr am Taft-Denkmal einzufinden. DeMarco war um zwölf Uhr fünfzehn eingetroffen, und nun war es bereits halb eins. Das Denkmal bestand aus einer drei Meter großen Bronzestatue, die Senator Robert A. Taft zeigte, und hinter dieser Statue erhob sich ein dreißig Meter hoher Glockenturm aus weißem Tennessee-Marmor. Die siebenundzwanzig Glocken waren im französischen Ort Annecy gegossen worden, die größte von ihnen wog sieben Tonnen. Was Senator Taft geleistet hatte, um solcher Ehre würdig zu sein, war nicht mehr bekannt – zumindest war es DeMarco aus dem Gedächtnis entschwunden. Aber er war dankbar für die Tatsache, dass sich die Gedenkstätte in einem netten Park nicht weit vom Kapitol befand. Es war ein guter Treffpunkt für eine Verabredung mit seinem Chef. DeMarco setzte sich auf eine Holzbank mit Blick auf das Denkmal. Er schloss die Augen, um ein Nickerchen zu machen und die Sonne zu genießen. Doch dieses simple Vergnügen wurde ihm schon bald durch den Lärm verwehrt, den zwei Eichhörnchen in seiner Nähe veranstalteten. Es war eine wilde Jagd über den Rasen, um Büsche herum und die Baumstämme hinauf und hinunter. Jedes Mal, wenn der Jäger das gejagte Tier endlich in die Enge getrieben hatte, gab sich dieses scheinbar geschlagen, um im nächsten Moment mit einem todesmutigen Sprung auf einen dünnen Ast zu flüchten, der auf den ersten Blick unerreichbar und gar nicht geeignet schien, sein Gewicht zu tragen. DeMarco konnte nicht sagen, ob die Jagd ein Paa19
rungsritual oder einfach nur ein Riesenspaß war. Auf jeden Fall ging das Treiben endlos weiter. Er wünschte sich, eines der Viecher würde sich bei einem Sprung verschätzen, aber als er sich bildlich vorstellte, wie der kleine Körper mit dem buschigen Schwanz platt am Boden läge und Blut zwischen den Nagezähnen hervorquoll, überlegte er es sich anders. DeMarco war so sehr damit beschäftigt, sich jedes denkbare Unglück auszudenken, das den Eichhörnchen zustoßen konnte, dass er überrascht zusammenzuckte, als sich Mahoney plötzlich mit seinem ganzen Gewicht auf die Parkbank fallen ließ. Noch mehr überraschte es ihn, Mahoney in Sportkleidung zu sehen. Er trug ein blaues Sweatshirt in XXL, eine blaue Jogginghose mit weißen Zierstreifen und quietschneue Nike-Turnschuhe in der Grüße von Kanus. »Ich war heute Früh bei General Banks«, sagte DeMarco. »Und?«, fragte Mahoney, noch immer außer Atem. DeMarco zögerte kurz. »Banks möchte, dass ich den Mordanschlag auf den Präsidenten genauer untersuche.« »Sie?«, fragte Mahoney. Seine Reaktion mochte vielleicht angemessen sein, aber DeMarco fühlte sich trotzdem leicht auf den Schlips getreten. »Ja. Der General befürchtet, dass ein Agent des Secret Service in die Sache verwickelt sein könnte.« »So ein Blödsinn!«, sagte Mahoney und sah auf seine Armbanduhr. Banks’ verrückte Idee langweilte ihn schon jetzt. »Er sollte mit dem FBI reden, wenn er wirklich einen solchen Verdacht hat.« »Genau das habe ich ihm auch erklärt. Aber was Sie vielleicht interessant finden werden, ist die Tatsache, dass sowohl Banks als auch Patrick Donnelly dem FBI Beweise vorenthalten, und …« »Donnelly?«, fragte Mahoney und wandte seinen beeindruckenden Schädel zur Seite, um DeMarco zum ersten Mal anzusehen. 20
»Ja«, sagte DeMarco. »Donnelly«, wiederholte Mahoney. Dann grinste er mit gelben, kräftigen Zähnen, und DeMarco fühlte sich an einen großen, zottigen Bären erinnert, und zwar einen, der soeben entdeckt hatte, dass sein Mittagessen geradewegs in seine Richtung spaziert kam. Lieber Gott, betete DeMarco, bitte verschone mich vor dem, was ich ahne! »Erzählen Sie mir, was Banks gesagt hat, Joe«, forderte Mahoney ihn auf. »Und lassen Sie kein Detail aus.« DeMarco tat es, und als er damit fertig war, saß Mahoney einfach nur da. Ein feines Lächeln umspielte seine Lippen, und sein breites irisches Gesicht zeigte einen höchst zufriedenen Ausdruck. DeMarco bemühte sich, die Katastrophe abzuwenden, die auf ihn zukam. »Es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass sich dieser Agent etwas hat zuschulden kommen lassen, räumt sogar Banks ein, aber falls dem so ist, würde die richtige Vorgehensweise darin bestehen, das FBI zu informieren – oder die Presse.« Mahoney nickte, als wollte er DeMarcos Worten zustimmen. Allerdings war ein ganz besonderes Funkeln in seine Augen getreten. Es waren die funkelnden Augen eines Mannes, der ein Segel am Horizont gesichtet hatte und wusste, dass es sein Schiff war, dessen Heimkehr sich ankündigte. DeMarco spielte seine letzte Karte aus. »Wenn das FBI mich dabei erwischt, wie ich in dieser Geschichte herumkrame, könnten Sie damit in Verbindung gebracht werden. Und das wollen Sie bestimmt …« Mahoney erhob sich langsam von der Bank. »Helfen Sie Banks, Joe«, sagte er. »Tun Sie alles, was er von Ihnen erwartet.« Mahoney klopfte DeMarco jovial auf die Schulter. Während er davonging, hatten seine Schritte einen Schwung, der nicht allein auf seine neuen Turnschuhe zurückzuführen war. Er hatte sich 21
bereits ein kleines Stück entfernt, als DeMarco hörte, wie er bellend lachte und rief: »Donnelly! Einfach unglaublich!«
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4 »Magst du Kammermusik, Joe?« »Nein. Ich stehe mehr auf Rock ’n’ Roll. Jazz mag ich auch. Besonders wenn Ella die …« »Ausgezeichnet, mein Lieber. Heute gibt es Mozart, gespielt von einem Quartett in der Cafeteria der National Art Gallery. Ich erwarte dich um drei Uhr. Und komm nicht zu spät.« »Kennst du zufällig ein Mitglied dieses Quartetts, Emma?« Ein kurzes Schweigen am anderen Ende der Leitung. »Die Cellistin«, sagte Emma schließlich, dann lachte sie. »Auf meine alten Tage werde ich zu durchschaubar. Das gefällt mir nicht.« »Glaub mir, Emma, du wirst niemals durchschaubar sein. Aber was ich dir zu sagen habe, kann ich dir nicht sagen, wenn die Cellistin dabei ist.« »Ich werde sie zum Einkaufen schicken. Sei auf jeden Fall pünktlich, Joe.« Die Cafeteria war überfüllt, und mehrere Zuschauer mussten stehen. Emma jedoch hatte ganz allein einen Tisch für vier Personen besetzt. DeMarco konnte sich vorstellen, wie sich Musikliebhaber näherten und höflich fragten, ob sie Platz nehmen durften, worauf Emma sie mit einem bösen Blick und einem Knurren zurückwies, wie eine Löwin, die eine blutige Keule gegen eine Schar schüchterner Geier verteidigte. In diesem Moment trank die Löwin genüsslich von einem Glas Weißwein und tippte mit einem Fingernagel im Takt der Musik. Emma war groß und schlank. Ihre Gesichtszüge waren von patrizischem Schnitt, und ihre Haut war makellos. Ihr kurz geschnittenes, gepflegtes Haar war weder grau noch blond, sondern wies eine mysteriöse Schattierung irgendwo dazwi23
schen auf. Sie wirkte streng und war auf diese Weise schön, und mit ihren eisblauen Augen erinnerte sie DeMarco an die Schauspielerin Charlotte Rampling. Er vermutete, dass ihr Alter zwischen fünfzig und sechzig lag – nicht weil sie so aussah, sondern weil er kaum etwas über ihre Lebensgeschichte wusste. Wenn man über sie sprach, musste man stets ein »mutmaßlich« dazusetzen. Sie selbst gab nichts über sich preis, weder aus Vergangenheit noch Gegenwart. Sie ließ Andeutungen fallen, verlockende und zusammenhanglose Bröckchen, erklärte sich aber nie genauer, wenn man sie dazu aufforderte. Sie gab zu, früher einmal für die Regierung gearbeitet zu haben, aber was die Funktion und die Abteilung betraf, schwieg sie sich aus. Sie behauptete, im Ruhestand zu sein, doch sie verließ die Stadt immer wieder für längere Zeit und kehrte nie mit Urlaubsbräune zurück. Sie lebte auf großem Fuß und besaß ein Haus im teuren McLean in Virginia – ein Anwesen, das für eine pensionierte Staatsdienerin bestimmt nicht erschwinglich war. Sie war lesbisch, aber etwas, das sie einmal gesagt hatte, ließ DeMarco glauben, dass sie früher verheiratet gewesen war und vielleicht ein Kind hatte. Aber er war sich nicht sicher. Bei ihr war er sich niemals sicher. DeMarco wusste, dass Emma manchmal undurchschaubar war, weil sie es so wollte, weil es ihrer Widerspenstigkeit entsprach. Aber er wusste auch, dass sie manchmal so war, weil sie es sein musste. Als er sich ihrem Tisch näherte, warf er einen Blick zu den Musikern und stellte fest, dass er sich in seiner Vermutung nicht getäuscht hatte: Die Cellistin war eine atemberaubende Schönheit, eine große, gertenschlanke blonde Wikingerin mit Beinen, für die man sterben wollte, auf höchst erotische Weise gespreizt, um das Cello an sich zu drücken. DeMarco zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben Emma. Sie hörte das Scharren auf dem Fußboden und sagte,
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ohne aufzublicken: »Der Platz ist besetzt. Die anderen beiden auch.« »Lügnerin«, sagte DeMarco. »Selber«, murmelte Emma. Mit einer Kopfbewegung deutete DeMarco auf die Cellistin. »Wirklich eine heiße Braut.« »Eine heiße Braut? Ich bitte dich, Joe!« Während DeMarco dem Quartett zuhörte, fragte er sich, aus welchem Grund all diese Leute hier waren. Gefiel ihnen wirklich die Musik, oder zwangen sie sich dazu, das alles zu ertragen? War es eine selbst verordnete Dosis Niveau, das kulturelle Pendant zu einem Karottenkuchen, den man aß, weil er gesund war? »Hört es bald auf?«, fragte er Emma. »Ich falle ins Koma, wenn das noch lange so weitergeht.« »Sei still, und hör zu«, sagte Emma. »Es wird Zeit, dass du Geschmack für etwas anderes als die Dixie Chicks entwickelst.« Endlich hörte das Quartett auf, und die Cellistin reichte ihr Instrument einem pickelgesichtigen Hilfswilligen. Sie sah ihn mit mahnend erhobenem Zeigefinger an, dass er ja vorsichtig damit umgehen sollte, dann kam sie zu Emmas Tisch – mit wehender blonder Mähne und aufblitzenden, vollblütigen Beinen. Wäre Emma nicht mit ihm befreundet gewesen, wäre DeMarco eifersüchtig geworden. Verdammt, er war eifersüchtig! Als sie DeMarco am Tisch sitzen sah, zögerte die Cellistin, doch Emma sagte: »Alles in Ordnung, Christine, setz dich. Christine, das ist Joe. Joe arbeitet als Geldeintreiber für einen korrupten Politiker.« »Emma!«, sagte DeMarco. »Für welchen?«, fragte die hübsche Christine. Zum Glück ging Emma nicht auf ihre Frage ein. »Joe, sei so gut und hol Christine ein Glas Weißwein.« »Zu Befehl, Madam«, sagte DeMarco. 25
DeMarco kam mit einem Wein für Christine und einer Pepsi für sich selbst zurück. Emma lobte Christines Auftritt in den höchsten Tönen und schwärmte davon, dass der dritte Satz sie beinahe zu Tränen gerührt hatte. DeMarco verdrehte die Augen, als er es hörte. Emma würden nicht mal die Tränen kommen, wenn man ihr Bambussplitter unter die Zehennägel schob. Zu seiner unendlichen Erleichterung sagte Emma schließlich: »Schatz, ich habe noch etwas Geschäftliches mit Joe zu besprechen. Eine ziemlich langweilige Sache. Wie wär’s, wenn ich in einer Stunde in dein Hotelzimmer komme? Ich werde den Champagner mitbringen, den du so gerne trinkst.« »Und Erdbeeren?«, fragte Christine. »Und Erdbeeren«, sagte Emma. Als Christine sich entfernte, schüttelte Emma den Kopf und murmelte: »Erdbeeren und Champagner! Wie klischeehaft!« Sie wandte sich DeMarco zu. »Also, was hast du für ein Problem, Joseph? Gehe ich recht in der Annahme, dass dieser Arsch Mahoney dir schon wieder Ärger macht?« »Er war neulich bei einem Empfang, wo er tierisch besoffen gewesen sein muss, als er beschloss, mich an General Banks auszuleihen.« »Den Minister für Heimatschutz?« »Genau den. Also habe ich Banks heute früh besucht. Dabei erzählte er mir, dass er ein kleines Problem hat.« »Joe, eine sehr liebe Freundin wartet auf mich.« »Banks glaubt, ein Agent des Secret Service könnte ein Komplize beim Mordanschlag auf den Präsidenten gewesen sein. Sowohl Banks als auch Patrick Donnelly enthalten dem FBI Informationen vor.« »Holla! Du weißt, wie du die Aufmerksamkeit eines Mädchens gewinnst!« Dann sagte Emma genau dasselbe, was auch Mahoney zu ihm gesagt hatte: »Erzähl mir, was Banks gesagt hat, Joe. Und lass kein Detail aus.«
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5 Philip Montgomery und der Präsident hatten sich in Harvard ein Studentenzimmer geteilt. Montgomery war Trauzeuge bei der Hochzeit des Präsidenten gewesen, und der Präsident hatte Montgomery bei zwei von dessen drei Eheschließungen den gleichen Gefallen erwiesen. Später wurde er zunächst Gouverneur seines Heimatstaates, dann Senator und schließlich Präsident. Er war ein kluger Kopf, wenn auch kein Genie, und er glaubte, er würde seine Pflichten vernachlässigen, wenn er weniger als sechzehn Stunden pro Tag arbeitete. Montgomerys Temperament war das genaue Gegenteil von dem des Präsidenten. Er war ein literarisches Genie, er soff wie Tennessee Williams und spielte, prügelte und vögelte wie Hemingway. Er war ein Meister des epischen Zwölfhundert-Seiten-Schmökers, in dem sich Dichtung und Wahrheit auf so kunstvolle Weise miteinander vermischten, dass sie kaum noch auseinander zu halten waren. Was seine Leser jedoch nicht weiter störte. Seit über zwanzig Jahren hatten sich der Präsident und Montgomery einmal pro Jahr für drei oder vier Tage getroffen, um sich verschiedenen Freizeitbeschäftigungen hinzugeben. Sie fuhren Ski, gingen auf die Jagd, angelten oder unternahmen Floßfahrten. Und jedes Mal tranken sie eine Menge. Diese jährlichen Exkursionen, die dankbar von der Presse ausgeschlachtet wurden, waren die einzigen Gelegenheiten, bei denen sich der Präsident scheinbar gehen ließ. Auch in diesem Punkt war Montgomery anders. Er ließ sich immer gehen. Auch im höchsten Staatsamt fand der Präsident weiterhin Vergnügen an den Treffen mit Montgomery und bestand darauf, das Sicherheitskontingent auf das absolut notwendige Minimum zu reduzieren. Der Grund dafür war, dass es möglichst wenige Personen miterleben sollten, wenn er sich zusammen mit dem 27
Pulitzer-Preisträger wie ein besoffener Idiot aufführte. Wenn sie zum Beispiel leere Whiskey-Flaschen in den Bitterroot warfen und sie mit Pistolen zerschossen, die sie sich von der Leibwache ausgeborgt hatten. Von solchen Aktionen sollten nach Möglichkeit weder die Umweltschützer noch die Leute, die schärfere Waffengesetze forderten, Wind bekommen. In diesem Jahr hatten Montgomery und der Präsident beschlossen, am Chattooga in Georgia zu angeln. Den Termin des Ausflugs – 14. bis 17. Juli – hatte man angesichts des engen Zeitplans eines Präsidenten schon lange vorher festgelegt, doch war nach Banks’ Angaben das Ziel der Reise erst Ende Mai entschieden worden. Natürlich wussten jede Menge Leute von der Exkursion, und mögliche undichte Stellen gab es zuhauf. Banks hatte das Warnschreiben vier Tage vor der geplanten Abreise des Präsidenten nach Georgia erhalten, worauf er sofort Patrick Donnelly angerufen hatte, den Leiter des Secret Service. Donnelly hatte Banks erklärt, dass die Vermutung, ein Agent könnte den Brief geschrieben haben, verdammt weit hergeholt sei. Er hatte sich sogar amüsiert, dass Banks den Brief überhaupt für glaubwürdig hielt. Eine Reaktion, die dem General ganz und gar nicht schmeckte. Banks wies Donnelly darauf hin, dass das Schreiben auf einem Briefbogen des Secret Service ausgedruckt worden war und dass es in einem offiziellen Umschlag des Secret Service steckte, aber das Wichtigste war, dass es mit dem Postsack ausgeliefert worden war. Der Postsack wurde von einem bewaffneten Kurier überbracht und diente dazu, geheime Dokumente zwischen dem Hauptquartier des Secret Service an der H Street und Banks’ Büro an der Nebraska Avenue hin und her zu transportieren. Nur das Personal innerhalb des rundum gesicherten Hauptquartiers des Secret Service hatte Zugang zum Postsack. Auf der anderen Seite wurde er direkt an Banks’ persönlichen Assistenten ausgeliefert. Ein weiteres Indiz war der Fachjargon in der Botschaft. 28
»Adler eins« war der Kodename des Präsidenten, und den »Inneren Zirkel« bildeten die Agenten, die dem Präsidenten unterwegs am nächsten waren. Der äußere Zirkel bestand aus den Agenten, die die Umgebung des Präsidenten sicherten, entweder in der Menschenmenge, auf Dächern oder an strategisch wichtigen Wachtposten. Wenn der äußere Zirkel durchdrungen würde, müssten die Mitglieder des inneren Zirkels das Staatsoberhaupt unter Einsatz ihres Lebens schützen. Donnelly behauptete weiterhin, dass der Brief nicht echt sei. Vielleicht sei er tatsächlich von einem Agenten abgeschickt worden – viele seiner Leute waren nicht sehr angetan von den Änderungen, die Banks angeordnet hatte, seit er das Ministerium für Heimatschutz übernommen hatte. Aber das bedeutete nicht, dass man dem Inhalt des Briefs Glauben schenken musste. Donnelly war ein Meister des bürokratischen Nackenhebels, und er hätte es Banks übel genommen, wenn der den Präsidenten angerufen und ihm den sehnsüchtig erwarteten Urlaub verdorben hätte, und das nur wegen einer Nachricht zweifelhafter Herkunft, in der behauptet wurde, ihm würde Gefahr von seinen eigenen Leibwächtern drohen. Banks verzichtete auf den Anruf, aber er bewahrte den Brief auf. Sieben Tage später kamen Philip Montgomery und ein Agent des Secret Service ums Leben, und der Präsident wurde verwundet. Nach dem Mordversuch machte sich Banks bittere Vorwürfe; möglicherweise war die Nachricht doch echt, und er hatte es versäumt, entsprechende Maßnahmen einzuleiten. Er rief Donnelly an und sagte, dass er ihm den Brief schicken würde. Er wollte, dass er auf Fingerabdrücke und DNS-Spuren im Speichel untersucht wurde, die beim Zukleben zurückgeblieben sein konnten. Außerdem sollte Donnelly nachforschen, wer ihn in den Postsack gesteckt haben könnte. Donnelly gab sich alle Mühe, Banks eine Analyse des Briefes auszureden. Er sagte, wenn er das Schreiben an ein Labor schickte und anfing, die Leute auszufragen, würde der Inhalt des 29
Briefes innerhalb weniger Stunden an die Presse durchsickern. Die absolut hirnrissige Idee in die Welt zu setzen, der Secret Service könnte in das Attentat verwickelt sein, wäre das Allerletzte, was sie jetzt gebrauchen konnten. Doch Banks ließ sich nicht beirren. Donnelly mochte vom Präsidenten persönlich ernannt sein, aber Banks war immer noch sein Vorgesetzter. Am nächsten Tag kam Donnelly zu Banks. Obwohl er die Möglichkeit einer Komplizenschaft des Secret Service kategorisch zurückwies, versuchte er, Banks davon zu überzeugen, dass der Brief eine Fälschung sein musste. Erstens, so erklärte er Banks, waren alle Agenten, die am Chattooga zugegen waren, gemäß der üblichen Verfahrensweise bei derartigen Vorfällen einer Befragung unter Einsatz eines Lügendetektors unterzogen worden, um festzustellen, ob sie etwas mit der Sache zu tun hatten. Alle Agenten hatten den Test wie erwartet mit Bravour bestanden. Und falls das noch nicht genügte, waren da noch der Zeitpunkt, zu dem der Brief abgeschickt worden war, und der Bezug zu den Männern, die dem inneren Zirkel zugeteilt waren. Am Chattooga hatte der äußere Zirkel aus über sechzig Agenten bestanden. Die Blockhütte, in der sich der Präsident aufgehalten hatte, war nicht nur ausgewählt worden, weil sie sich in der Nähe guter Angelplätze befand, sondern auch wegen ihrer Lage in einer Gegend, die abgeschieden und schwer zugänglich war. Drei Tage vor der Ankunft des Präsidenten hatte der Secret Service einen großen Voraustrupp in den Bereich geschickt, der einen virtuellen, fünf Kilometer durchmessenden Kreis rund um die Blockhütte gezogen hatte. Danach waren alle Straßen und Wege blockiert und alle Zugangsmöglichkeiten mit Agenten besetzt worden. Anschließend hatte man die Sicherheitszone aus der Luft und zu Fuß durchsucht, um sich zu überzeugen, dass sich niemand darin aufhielt. Alle Personen, die vor der Ankunft des Präsidenten die Zone betreten hatten, durften sich nur in Begleitung bewegen, um zu gewährleisten, dass sie wieder verschwanden. Als der Präsident eingetroffen 30
war, wurde überhaupt niemandem mehr der Zutritt gestattet. Während der Anwesenheit des Präsidenten wurde die Zone in regelmäßigen Abständen per Hubschrauber aus der Luft kontrolliert. Nachdem die Umgebung ausreichend gesichert war, hatte man dem ausdrücklichen Wunsch des Präsidenten entsprochen und die Anzahl der Leibwächter auf ein Minimum reduziert. Den inneren Zirkel am Chattooga bildeten nur vier Agenten: Billy Mattis, Robert James – der erschossen wurde, als er den Präsidenten mit seinem Körper deckte –, Richard Matthews und Stephen Preston. Über die Besetzung des inneren Zirkels war am 5. Juli entschieden worden, und Banks hatte den Brief mit der Warnung fünf Tage später erhalten, am 10. Juli. Als der Brief abgeschickt wurde, waren Matthews und Preston noch gar nicht für den Dienst am Chattooga eingeteilt gewesen. Zwei andere Namen hatten auf der Liste gestanden, doch dann wurden diese beiden Männer, die gemeinsam in einem Wagen zur Arbeit fuhren, am 12. Juli bei einem Verkehrsunfall auf dem Beltway verletzt, worauf Matthews und Preston in letzter Minute als Ersatz einspringen mussten. Also konnte der unbekannte Verfasser des Briefes, wie Donnelly erklärte, sich nicht auf Matthews oder Preston bezogen haben. Banks warf ein, dass vielleicht einer der beiden ursprünglich zugeteilten Agenten die Sicherheitsmaßnahmen verraten haben könnte, und zwar vor dem Verkehrsunfall. Damit wäre dieser Unfall vielleicht nur eine List gewesen, mit der er vermeiden wollte, am Tag des Anschlags im Schussfeld zu stehen. Donnelly hielt diese Möglichkeit für verdammt unwahrscheinlich, wenn man den Unfallhergang betrachtete. Die Agenten waren frontal mit einem Betonmischer zusammengestoßen. Der dritte Agent war James, der Mann, der den Anschlag nicht überlebt hatte. Für Donnelly kam er schon wegen seiner tadellosen Dienstlaufbahn nicht in Frage. Er hatte dem Secret 31
Service fünfundzwanzig Jahre lang vorbildlich gedient – und nicht zuletzt hatte er sein Leben gegeben, um den Präsidenten zu schützen. Banks konterte mit der Möglichkeit, dass der Mörder den Agenten erschossen hatte, um ihn zum Schweigen zu bringen. Donnelly hielt diese Vorstellung für absurd. Das Video zeigte deutlich, dass Montgomery versehentlich durch den ersten Schuss getroffen wurde, dass der zweite den Präsidenten gestreift, aber nicht getötet hatte, während der Schütze beim dritten Mal auf den Präsidenten gezielt, aber stattdessen James getroffen hatte. Diesem Argument hatte Banks nichts entgegenzusetzen. Damit blieb nur noch ein Agent übrig: Billy Ray Mattis. Mattis hatte ebenfalls ein beeindruckendes Führungszeugnis, aber er war weder erschossen noch nach dem Brief in den Einsatz geschickt worden, sodass Donnelly ihn nicht so eindeutig wie die anderen drei Agenten ausschließen konnte. Doch das Hauptproblem mit Mattis war, so sagte Banks zu DeMarco, dass er im Video dubios wirkte. Am folgenden Tag, während Banks noch grübelte, was er mit der mysteriösen Botschaft machen sollte, wurde die Leiche von Harold Edwards zusammen mit dem Abschiedsbrief gefunden, in dem es hieß, dass er im Alleingang gehandelt hatte. Kurz darauf erhielt Banks von Donnelly telefonisch die Mitteilung, dass das Labor auf dem Warnschreiben nichts gefunden hatte. Keine Fingerabdrücke, keine Fasern, keinen Speichel, nichts. Er sagte auch, dass er mit dem Kurier gesprochen hatte, der den Postsack in Banks’ Büro gebracht hatte. Der Mann konnte sich an keinen Agenten erinnern, der ihm einen für Banks bestimmten Brief gegeben hatte. Doch Banks wollte sich mit dieser Auskunft nicht zufrieden geben.
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6 Die meisten Besucher hatten die Cafeteria der Kunstgalerie sofort verlassen, nachdem Christines Quartett seinen Auftritt beendet hatte. Nun wurden die Tische abgeräumt und die Stühle hochgestellt, und der Leiter der Putzkolonne warf Emma und DeMarco Blicke zu, die sie zum Gehen bewegen sollten. Emma ließ sich davon jedoch nicht im Geringsten beirren. »Ich verstehe es nicht«, sagte Emma. »Was genau erwartet Banks von dir?« »Er möchte, dass ich herausfinde, ob es eine Verbindung zwischen Mattis und dem Attentat gibt, und sei sie auch noch so vage«, sagte DeMarco. »Er glaubt nicht, dass sich Mattis irgendeiner Verfehlung schuldig gemacht hat, aber gleichzeitig ist er sich auch nicht hundertprozentig sicher, dass der Agent unschuldig ist. Deshalb soll ich Mattis überprüfen. Damit Banks sich anschließend mit ruhigem Gewissen zurücklehnen kann.« »Ein Politiker, der nach einem reinen Gewissen strebt«, sagte Emma, »ist wie Parzival, der nach dem Gral sucht.« »Von diesem kulturellen Querverweis abgesehen – was hältst du von der Sache, Emma?« »Mein lieber Joe, wir befinden uns hier in Washington, D.C. Hier leben die netten Leute, denen wir Sachen wie die Schweinebucht, Watergate, Iran-Contra und unsichtbare Massenvernichtungswaffen zu verdanken haben. Ob ich es für denkbar halte, dass eine offizielle Behörde – zum Beispiel eine, die von einem Intriganten wie Patrick Donnelly geleitet wird – in einen Mordanschlag gegen einen Präsidenten verwickelt sein könnte? Die Antwort lautet: Ja. Ob ich es auch für wahrscheinlich halte? Die Antwort lautet: Nein.«
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Emma trank einen Schluck Wein. »Und der einzige Grund, warum Banks dich auf Mattis ansetzt, ist die Tatsache, dass er auf diesem Video irgendwie ›dubios‹ aussieht?« »Es scheint so. Banks ist fest davon überzeugt, dass man auf sein Bauchgefühl hören sollte. Und sein Bauch sagt ihm, dass mit Mattis irgendwas faul ist. Ist dir klar, welchem der Agenten die Sonnenbrille runtergefallen ist? Billy Ray Mattis!« »Ist er deswegen für Banks so verdächtig?«, fragte Emma. »Ich weiß es nicht, aber Mattis war auch der Agent, der genau vor dem Präsidenten stand, nachdem die ersten Schüsse gefallen waren. Die letzte Kugel, die der Heckenschütze abfeuerte, ging ihm genau zwischen den Beinen hindurch. Kann seinen Schniedel nur um wenige Zentimeter verfehlt haben.« »Ein viel zu kleines Ziel …«, murmelte Emma. »Von wem stammt das Video überhaupt?« »Von einem lokalen Fernsehsender aus Gainsville. Der Präsident dachte, er könnte den Leuten eine Freude machen, wenn sie exklusiv über seinen und Montgomerys Abflug mit dem Hubschrauber berichten dürfen. Sie wurden etwa vier Stunden vorher benachrichtigt.« Ein Mitglied der Putzkolonne trat mit würdevoller Miene an ihren Tisch. Er fragte Emma höflich, ob sie bald gehen würden, damit seine Leute ihre Arbeit zu Ende bringen konnten. Emma starrte den armen Kerl nur an, bis er sich zurückzog, sich verbeugte und sich gleichzeitig auf Englisch und Spanisch entschuldigte. »Es gibt da noch etwas, das Banks Sorgen macht«, sagte DeMarco. »Aha?« »Patrick Donnelly. Er sagt, Donnellys Reaktion auf das Schreiben wäre untypisch für ihn gewesen. Ich weiß nicht, wie lange Donnelly schon Leiter des Secret Service ist …« »Schon sehr lange«, warf Emma ein.
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»… aber Banks sagt, dass er nicht dafür bekannt ist, sich ein Bein auszureißen. Und für seine Agenten tut er es schon gar nicht. Banks sagte, es hätte ihn überrascht, dass Donnelly nicht versucht hat, die Reise zum Chattooga völlig abzublasen, um seinen Arsch zu retten. Zumindest hätte er die Agenten auswechseln können, die dem inneren Zirkel zugeteilt waren, aber auch das hat er nicht getan.« »Das sehe ich genauso«, stimmte Emma zu. »Und warum hat er es nicht getan?« »Banks weiß es nicht, aber das ist für ihn ein weiterer Punkt, der ihm Sorgen macht.« »Ich kann dir noch einen Punkt nennen, der mir Sorgen machen würde, wenn ich Banks wäre«, sagte Emma. »Welchen?« »Warum hat die Person, die den Brief geschrieben hat, ausgerechnet Banks und nicht Donnelly als Adressat angegeben – den Mann, der die unmittelbare Verantwortung für den Secret Service trägt?« »Daran habe ich noch gar nicht gedacht«, sagte DeMarco. Emma schwieg einen Moment, bevor sie weitersprach. »Warum ruft Banks also nicht einfach das FBI an, erzählt den Leuten vom Brief und lässt sie weitere Nachforschungen anstellen?« »Er sagt, er sei nicht bereit, einen Medienrummel über eine mögliche Verwicklung des Secret Service in den Mordanschlag auszulösen, nur weil er ein komisches Gefühl hat. Erst recht, nachdem man Edwards’ Abschiedsbrief gefunden hat.« »Also will er, dass nicht das FBI, sondern Joseph DeMarco in der Sache ermittelt?« »Ja. Ich werde die Geschichte zumindest nicht an die Washington Post durchsickern lassen. Zumindest glaube ich, dass ich es nicht tun werde.« »Ich vermute, du bist immer noch besser als gar nichts«, murmelte Emma. 35
»Danke für dieses überwältigende Vertrauensvotum. Aber offen gesagt bin ich ganz deiner Meinung, und zu Mahoney habe ich dasselbe gesagt. Als ich ihm erklärte, dass sich Donnelly in dieser Angelegenheit merkwürdig verhalten hat, bestand er darauf, dass ich mich darum kümmere.« »Was hat Mahoney gegen Donnelly?« »Ich weiß es nicht. Und da ist noch was. Banks glaubt nicht, dass Donnelly den Brief wirklich hat analysieren lassen.« »Er glaubt, dass Donnelly ihn belogen hat?«, fragte Emma. »Ja. Banks meint, die Zeit hätte gar nicht ausgereicht, um den Brief gründlich zu untersuchen. Nicht, wenn sie eine DNSAnalyse durchgeführt und Leute befragt haben und so weiter. Als ich diesen Punkt gegenüber Mahoney erwähnte, hat er sehr interessiert die Ohren gespitzt.« »Wenn ich bedenke, was ich über Donnelly gehört habe, halte ich so ziemlich alles für möglich.« Emma fuhr sich mit einer Hand durch das kurze Haar, während sie über das nachdachte, was sie von DeMarco erfahren hatte. »Sag mir noch eins, Joseph«, fuhr sie schließlich fort. »In dieser Nachricht heißt es, der innere Zirkel sei ›unterwandert‹ worden, was immer das bedeuten soll. Wie könnte einer der vier Agenten, die den Präsidenten an jenem Tag bewacht haben, seine Sicherheit beeinträchtigt haben?« »Eine gute Frage, Emma. Auf die ich keine Antwort habe. Jedenfalls haben sie alles getan, um ihn zu schützen, als die Schüsse fielen. Außerdem waren Ort und Zeit der Reise alles andere als ein Staatsgeheimnis. Und wenn das FBI eine größere Lücke in den Sicherheitsvorkehrungen des Secret Service gefunden hätte, wäre das längst als Topthema in den Nachrichten aufgetaucht. Bisher wirft niemand dem Secret Service Fehlverhalten, Pflichtvernachlässigung oder sonst was vor. Zumindest noch nicht.« »Das ist alles hochinteressant, Joe«, sagte Emma und nahm ihre Handtasche, »aber wie ich bereits andeutete, wartet eine 36
hübsche Freundin auf mich. Wolltest du sonst noch etwas von mir?« »Ja. Es wäre schön, wenn du deine Kumpel bitten könntest, Mattis zu überprüfen. Ob er vielleicht Harold Edwards gekannt hat. Wie seine Finanzen aussehen, ob es Besonderheiten in seiner Lebensgeschichte gibt oder ähnliche Sachen.« »Er ist ein Agent des Secret Service, mein Lieber. Ich bezweifle, dass sich viel in den Datenbanken finden lässt.« »Wir müssen nachschauen.« »Wir?« DeMarco schüttelte verzweifelt den Kopf. »Warum in aller Welt hat es sich Mahoney in den Kopf gesetzt, mich mit so einer Sache zu beauftragen, Emma? Ich meine, wenn er Donnelly Schwierigkeiten machen will, braucht er doch nur dafür zu sorgen, dass die Washington Post Wind von der Geschichte bekommt!« »Ich vermute, der Sprecher des Repräsentantenhauses setzt auf eine Chance von eins zu weit über eine Million. Ich glaube kaum, dass er es auch nur ansatzweise für möglich hält, dass Mattis oder sonst jemand vom Secret Service in den Mordanschlag verwickelt war. Aber er hofft es. Und wenn es so ist, kann er Patrick Donnelly fertig machen. Das ist etwas anderes, als ihm mit unschmeichelhaften Presseberichten die Laune zu vermiesen.« »Dieser verdammte Mahoney!«, sagte DeMarco. »Komm schon, Joe! Hör auf zu heulen, und lass uns von hier verschwinden. Du musst mich zu einem Laden bringen, wo es frische Erdbeeren zu kaufen gibt.«
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7 DeMarco trat unter die große Kuppel des Kapitals, ohne einen einzigen Blick nach oben zu werfen. Um zur Treppe zu gelangen, die zu seinem Büro führte, musste er sich durch eine Touristenhorde drängeln, die mit gereckten, sonnengebräunten Hälsen ehrfürchtig zur bemalten Decke hinaufstarrte. Die Touristen gingen ihm auf die Nerven. Wegen der blöden Geschichte mit Banks war er ohnehin schlechter Laune, aber es ärgerte ihn jeden Tag aufs Neue, wenn diese Gummihälse in den Schlabbershorts ihm den Weg versperrten. Er nahm die Treppe und ging zwei Stockwerke hinunter. Statt Marmorfußboden gab es hier Linoleum, statt Kunst an der Decke nur schalldämpfende Platten mit Wasserflecken. In DeMarcos Stockwerk hielten sich die Leute auf, die arbeiteten. Hier ratterten die Maschinen der Kongressdruckerei, und genau gegenüber von seinem Büro lag der Raum mit den Notstromgeneratoren. Ab und zu erwachten die Dieselmotoren brüllend zum Leben, wenn sie getestet wurden, und DeMarco erschrak sich jedes Mal zu Tode. Ein Stück weiter befanden sich die Werkstätten des Wartungspersonals. Wenn er bedachte, was er an manchen Tagen tat, fand er es durchaus passend, dass man ihn in der Nähe der Hausmeister des Kapitals untergebracht hatte. Die verblassten Goldbuchstaben auf dem Milchglas der Tür zu DeMarcos Büro bildeten die Worte SONDERBERATER FÜR EXTERNE ANGELEGENHEITEN, J. DEMARCO. Der Titel war Mahoneys Erfindung und überdies völlig bedeutungslos. DeMarco betrat das Büro, zog seine Jacke aus, lockerte seine Krawatte und überzeugte sich, dass der Thermostat auf die geringste Stufe eingestellt war. Es war eine reine Angewohnheit, die lediglich seiner psychischen Ausgeglichenheit diente, denn er wusste aus Erfahrung, dass die Einstellung des kleinen 38
Reglers absolut keinen Einfluss auf die Raumtemperatur hatte. Er hätte seine Nachbarn, die Hausmeister, rufen können, um sich zu beschweren, aber er wusste, dass er auf ihrer Prioritätenliste ziemlich weit unten stand. Was bildete er sich ein? Jemand mit einem Büro im zweiten Untergeschoss schaffte es nie im Leben auf die vorderen Plätze der Liste. In seinem Büro drängten sich ein alter Holzschreibtisch aus der Carter-Ära und zwei unterschiedliche Stühle – einer hinter dem Schreibtisch und einer davor, für den seltenen Fall, dass er Besuch erhielt. Ein Aktenschrank aus Metall stand an einer Wand, doch er war leer, abgesehen von Telefonbüchern und einer Notration in Form einer Flasche Hennessy. DeMarco hielt nichts davon, schriftliche Aufzeichnungen aufzubewahren, die eventuell gegen ihn verwendet werden konnten. Auf seinem Schreibtisch stand eine nachgemachte Tiffany-Lampe – ein absolut überflüssiger Einrichtungsgegenstand, da die nackten, grellen Neonröhren völlig zur Beleuchtung ausreichten. Auf dem schwarz-weiß gekachelten Boden lag ein kleiner Orientteppich, dessen Hauptfarben Grün und Rotbraun waren. An der Wand gegenüber seinem Schreibtisch hingen zwei Kunstdrucke von Degas mit tanzenden Ballerinas. Seine Exfrau hatte ihm die falsche Tiffany-Lampe, den Läufer und die Ballerinas gegeben in der erfolglosen Bemühung, das Zimmer »etwas wärmer zu gestalten«. DeMarco war schon vor langer Zeit zu dem Schluss gelangt, dass nur ein Brandstifter es schaffen würde, sein Büro wärmer zu machen. DeMarco setzte sich auf den Stuhl hinter dem Schreibtisch. Er legte die Füße hoch, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und schloss die Augen. Was sollte er wegen Billy Ray Mattis unternehmen? Er bezweifelte, dass sich der Agent irgendeines Vergehens schuldig gemacht hatte. Es war genauso, wie Emma gesagt hatte: Mahoney setzte auf ein Feld mit minimalen Chancen, und DeMarcos Karriere war sein Spielchip. Er hoffte, dass DeMarco Glück haben und etwas Unangenehmes über 39
Billy Mattis herausfinden würde. Dann könnte er Donnellys Weigerung, weitere Ermittlungen wegen des Briefs aufzunehmen, dazu benutzen, seine schlüpfrige Haut an die Wand zu nageln. DeMarco wusste nicht, was der Sprecher des Repräsentantenhauses gegen Patrick Donnelly hatte, aber es war nicht zu übersehen, dass es so war. Der Bär wollte ihn zum Mittagessen verspeisen. Das bedeutete, dass DeMarco in der Klemme steckte. Er konnte einen direkten Befehl Mahoneys nicht missachten, aber er durfte auch nichts unternehmen, was die Aufmerksamkeit des Secret Service oder des FBI erregte. Wenn sie feststellten, dass er sich in ihrem Revier herumtrieb, würden sie ihn mit ihren spitzen Schuhen zertreten – und wenn das geschah, würde Mahoney Stein und Bein schwören, dass er in seinem ganzen Leben noch nie den Namen Joe DeMarco gehört hatte. Also würde er sich wie befohlen über Billy Ray erkundigen, es aber äußerst vorsichtig tun. Unsichtbar. Diskret. Und dass er das tun konnte, setzte einen gigantischen Gedankensprung voraus. Er musste davon ausgehen, dass Mattis schuldig war. Wenn er an das Gegenteil glaubte, gab es für ihn nichts mehr zu tun. DeMarco begann seine Ermittlungen mit dem Warnschreiben. Er zog die Karteikarte hervor, die Banks ihm gegeben hatte, und sah sich noch einmal den genauen Wortlaut an. Die Unterschrift war interessant: »Ein Agent an der falschen Stelle.« Es klang, als würde der Verfasser unter Druck stehen oder etwas wissen, das er gar nicht wissen wollte. Diese Formulierung wirkte irgendwie … widerstrebend. Wenn die Warnung echt und der Secret Service tatsächlich in den Mordanschlag verwickelt war, konnte Billy Mattis derjenige gewesen sein, der sie abgeschickt hatte. Er hatte gewusst, dass der Anschlag stattfinden würde, wollte nichts damit zu tun haben, konnte ihn aber auch nicht verhindern. Eine zweite Möglichkeit war, dass sich die Nachricht auf Mattis bezog. Dass er die Sonnenbrille absichtlich fallen ließ, 40
um dem Attentäter freies Schussfeld zu geben. Eine dritte und wahrscheinlichere Möglichkeit war, dass das Schreiben ein dummer Streich und Mattis unschuldig war. Viele Möglichkeiten mit viel Wenn und Aber. DeMarco schlenderte eine aus lauter Unsinn gebaute, gelb gepflasterte Straße entlang, die ins politische Land Oz führte. Banks hatte DeMarco außerdem eine Kopie der Personalakte von Mattis gegeben. Also legte er die Karteikarte beiseite, um das helle Licht seines Intellekts auf die dünne Mappe scheinen zu lassen. Der Mann war in Uptonville in Georgia geboren, wo immer dieses Kaff liegen mochte, und hatte dort gelebt, bis er mit achtzehn Jahren in die Armee eingezogen wurde. Er verbrachte vierzehn ereignislose Monate in Süd-Korea, und nach dem Dienst trat er der Armeereserve bei und besuchte ein paar Jahre lang ein Gemeinde-College. Danach wurde er vom Secret Service eingestellt, und nun arbeitete er schon seit sechs Jahren für die Behörde. In Billy Rays Akte fanden sich zwei bemerkenswerte Vorfälle. Seine Armeereserveeinheit war während des Kriegs gegen Saddam für acht Monate reaktiviert worden, und bei dieser Gelegenheit hatte er eine nicht näher bezeichnete Heldentat vollbracht, mit der er sich einen Verwundetenorden und einen Bronzenen Stern verdient hatte. Der zweite Vorfall hatte sich zwei Jahre früher und in größerer Nähe ereignet. Während Billy in Gary, Indiana, an einer Straßenecke stand und darauf wartete, dass die Fahrzeugkolonne des Präsidenten vorbeikam, beschloss ein Bankräuber, dass der Besuch des Präsidenten eine hervorragende Deckung für einen Bankraub abgeben würde. Dem Mann, der den IQ eines Kaninchens haben musste, kam nicht in den Sinn, dass es an der Fahrtroute des Präsidenten vor Polizisten und Sicherheitsleuten in Uniform und in Zivil nur so wimmeln musste. Als der Räuber aus der Bank kam, ging der Alarm los. Ein Polizist, der sich in der Nähe aufhielt, wandte sich dem Lärm zu und zog seine Waffe, worauf 41
der Bankräuber auf den Polizisten schoss. Die Menschenmenge flüchtete in Panik, überall rannten schreiende Zivilisten wie Hühner vor einem Habicht in alle Richtungen davon, und in diesem Moment bog die Limousine des Präsidenten um die Ecke. Von allen Agenten war Billy dem Bankräuber am nächsten, doch er wagte es nicht, seine Waffe zu benutzen, weil er befürchtete, Zivilisten zu treffen. Gleichzeitig musste er dafür sorgen, dass der Bankräuber nicht auf den Wagen des Präsidenten feuerte. Also jagte Billy den Bankräuber. Seine Schutzweste hielt die erste Kugel ab, die zweite erwischte seinen linken Oberarm, dann konnte er sich auf den Bankräuber stürzen und ihn entwaffnen. Billy Mattis mochte kein besonders helles Köpfchen sein, aber er besaß zweifellos Mut. Im Dienst für sein Land war er zweimal verletzt worden. Er war Agent des Secret Service und ein dekorierter Veteran. Am Chattooga hatte er sich ohne Zögern in Lebensgefahr begeben. Konnte es jemanden geben, dem man den Versuch, den Präsidenten zu töten, weniger zutrauen würde? Was DeMarco besonders auffiel, während er Mattis’ Personalakte durchsah, war die Tatsache, dass der Mann bis vor zweieinhalb Monaten nie eine der anspruchsvolleren Aufgaben hatte übernehmen dürfen, nie zum inneren Zirkel gehört hatte. Er wurde oft als Wachmann im äußeren Sicherheitsring am Weißen Haus oder in Camp David eingesetzt und hatte häufig als anonymer Agent an der Straße gestanden, wenn der Präsident Mittelamerika mit seinem Besuch beehrte, aber er war nie als persönlicher Leibwächter für den Präsidenten oder für dessen Familie im Einsatz gewesen. DeMarco konnte der Akte nicht entnehmen, ob Billy am 15. Mai wegen seiner Heldentaten den Prätorianern zugeteilt worden war oder einfach nur, weil er inzwischen lange genug beim Secret Service war, um automatisch aufzurücken. DeMarco brauchte jemanden mit Insiderwissen, der ihm den Grund für Billys Beförderung 42
erklären konnte. Dass er erst seit kurzem der Leibwache des Präsidenten angehörte, war für DeMarco ein faszinierendes Detail – sofern man Verschwörungstheorien faszinierend finden konnte. DeMarco legte die Akte und die Karteikarte in die obere Schublade seines Schreibtischs und schloss sie ab. Dann verließ er sein Büro und ging durch den Korridor zur Werkstatt. Er klopfte an und wartete geduldig, bis er eine tiefe Stimme »Jou!« sagen hörte. Danach öffnete er die Tür. Drei Schwarze in dunkelblauen Overalls saßen an einem Tisch und spielten Karten. Ein vierter Mann, ebenfalls ein Schwarzer, ebenfalls in einem Overall, reparierte auf der Werkbank eine Klimaanlage. Als die Kartenspieler DeMarco sahen, wurde er mit dem inzwischen vertrauten Chor begrüßt: »Unser kleener Italieener!« – »Spaghetti auf die Betty!« – »Pasta la vista!« »Mein Gott!«, sagte DeMarco. »Müssen wir diese Nummer wirklich jedes Mal durchziehen?« »Klar«, sagte der Mann an der Werkbank, »jedes Mal, weil die Jungs Idioten sind und Sie wie Sonnyboy Corleone aussehen.« Dann wischte er sich die rechte Hand am Bein seines Overalls ab, ging zu DeMarco hinüber und schüttelte ihm die Hand. »Wie geht es Ihrem Jungen, Curtis?«, fragte DeMarco. Curtis Jacksons ältester Sohn spielte Baseball; er war Fänger für das Drei-A-Team der Mets. Vor einer Woche hatte ihn ein First Baseman mit der Wucht eines Monstertrucks gerammt. Er hatte den Ball nicht fallen gelassen, aber er war für die Dauer von zwei Innings ausgeknockt gewesen. »Ganz gut. Er hat einen Dickkopf wie seine Mutter. Er wird nächste Woche schon wieder spielen.« »Das freut mich.« »He, Dee-Mar-Ko«, sagte einer der Kartenspieler. »Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass Sie in diesem Bau der einzige Weiße mit einem Büro im Untergeschoss sind?«
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»Er ist kein Weißer«, sagte Kartenspieler Nummer zwei, »er ist ein Italiener! Er ist dunkelhäutiger als du, Clark, wenn er aus der Sonne kommt.« »Sie sollten in eine Gewerkschaft eintreten, DeMarco«, sagte der erste Kartenspieler. »So kriegen Sie einen höheren Dienstrang und ein höher gelegenes Büro.« »Bloß nicht!«, sagte DeMarco. »Wenn ich in der Gewerkschaft wäre, müsste ich diese hässlichen Overalls tragen und mit einem aufgenähten Namensschild rumrennen.« »DeMarco, Sie Blödmann«, sagte der zweite Kartenspieler, »man würde sich doch nie den eigenen Namen auf den Anzug nähen.« »Ja«, sagte Kartenspieler Nummer drei, »Ihr Name stünde dann auf meinem Hemd, DeMarco, und deshalb würde man Ihren lahmen Arsch schon bald feuern.« Während die Kartenspieler grölten und sich gegenseitig abklatschten, sagte DeMarco zu Curtis: »Warum arbeiten diese Jungs nicht?« »Nicht, dass es Sie etwas anginge, aber ihre Schicht fängt erst in einer Stunde an. Sie kommen meistens etwas früher, um Karten zu spielen, statt sich von ihren Frauen nerven zu lassen. Brauchen Sie etwas, Joe?« »Ja. Kann ich einen Fernseher und einen Videorecorder ausborgen?« »Klar«, sagte Curtis, »aber bringen Sie die Sachen bis morgen Nachmittag zurück. Da haben die Skins ein Freundschaftsspiel.« Das löste eine fünfzehnminütige Diskussion zwischen DeMarco, einem eingefleischten Fan der Redskins, und den Kartenspielern aus. Diese ließen sich nicht durch sentimentale oder geografische Loyalitäten beirren und putzten alles herunter, den Trainer, die Verteidigung und den Angriff und den Fullback, von dem sie sagten, er würde wie ein dickes Mädchen rennen. Nur in ihrer Begeisterung für die Cheerleader waren sie sich alle einig. 44
Als DeMarco wieder in seinem Büro war, steckte er eine ausgeliehene Kopie des Videos vom Attentat in den Recorder. Er drückte die Play-Taste auf der Fernbedienung und lehnte sich zurück, während er einen Finger über der Pause-Taste bereithielt. Er wollte sich ein eigenes Bild vom dubiosen Verhalten Billy Rays machen. Die TV-Kommentatoren und ihre eingeladenen Experten hatten sich in den vergangenen vier Tagen pausenlos die Köpfe darüber heiß geredet, was es zu bedeuten hatte, dass Mattis vor dem ersten Schuss die Sonnenbrille heruntergefallen war. Alle waren zur gleichen Schlussfolgerung gelangt: Mattis’ Missgeschick war ein klares Zeichen, dass Gott die Demokraten wählte. Wäre Mattis die Sonnenbrille nicht heruntergefallen, hätte Montgomery ihn nicht angerempelt. Dann wäre Montgomery nicht mit dem Präsidenten zusammengestoßen – und in diesem Fall hätte die erste Kugel den Kopf des Präsidenten zerfetzt. Die Experten vom FBI widersprachen dieser Interpretation der Ereignisse nicht, aber sie wussten auch nichts von dem Brief mit der Warnung; genauso wenig wie die Journalisten. Als DeMarco sich diesmal das Band ansah, glaubte er, dass Mattis vielleicht etwas nervöser als die anderen Agenten wirkte. Und als sich die Gruppe dem Hubschrauber näherte, unmittelbar vor dem ersten Schuss, schien Mattis den Kopf unter den Kragen seiner Windjacke einzuziehen, wie eine Schildkröte, die sich in ihrem Panzer verkriechen wollte. Doch DeMarco fiel auf, dass sich Mattis schnell und ohne Zögern bewegte, als es darum ging, den Präsidenten zu schützen, und er hatte seine Waffe noch vor den anderen Agenten abgefeuert. Die Bilder verschafften ihm keine neuen Erkenntnisse, aber nun verstand DeMarco, was Banks gemeint hatte. Mattis wirkte tatsächlich anders als die übrigen Agenten, aber es war schwer, diesen Eindruck in Worte zu fassen. Es gab nichts, worauf man mit dem Finger zeigen konnte. Vor allem wusste DeMarco inzwischen, dass das FBI dieses Video gezaprudert hatte (dieser 45
Begriff hatte sich eingebürgert, seitdem das FBI den Film des Amateurfilmers Abraham Zapruder beschlagnahmt und untersucht hatte, der zufällig Zeuge des Attentats auf John F. Kennedy geworden war und seine Kamera mitlaufen ließ). Sie hatten es Pixel für Pixel auseinander genommen, jeden Ausschnitt vergrößert und dreidimensionale Computersimulationen erstellt. Wenn das FBI und seine zahllosen Techniker in den weißen Kitteln nichts Verdächtiges in der Aufzeichnung entdeckt hatten, war es undenkbar, dass selbst DeMarcos Luchsauge eine rauchende Gewehrmündung bemerkte, die bisher übersehen worden wäre. Nachdem er sich das Video fünfmal angesehen hatte, gab er auf. Die Bilder zeigten entweder einen sehr wachsamen Agenten, der genau das tat, wozu er ausgebildet worden war, oder einen sehr nervösen Agenten, der schon vorher wusste, dass es zu einem Attentat kommen würde. DeMarco sah auf die Uhr. Es war schon vier. Die Sonne stand inzwischen tief genug am Himmel, zumindest irgendwo über dem Atlantik, womit sich DeMarco zufrieden gab. Er rief Alice an.
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8 Das »Monokel« war eine historische Gaststätte auf der Senatsseite des Kapitals, einen Block von der Union Station entfernt. Die Wände waren mit Fotos von lächelnden, aus glasigen Augen blickenden Politikern übersät. Mahoneys Bild war an auffälliger Stelle neben dem Eingang angebracht worden. Er hatte einen seiner kräftigen Arme um den Nacken eines Rivalen gelegt, der sich recht unbehaglich zu fühlen schien. DeMarco war gerne hier. Aus der Küche kamen anständige Mahlzeiten, von der Bar exzellente Martinis, und von seinem Lieblingshocker aus konnte er die jungen Damen beobachten, die auf dem Hügel arbeiteten und mit strammem Schritt in ihren engen Röcken vorbeihasteten, um die U-Bahn zu erreichen. Mr. William, der nachmittägliche Barkeeper des »Monokel«, servierte DeMarco den bestellten Martini. Dabei war sein Gesichtsausdruck so ernst, als würde er den Wein zum heiligen Abendmahl kredenzen. Mr. William war etwas über sechzig, schwarz, schlaksig gebaut und gute zwei Meter groß. Von seinen Vorfahren hatte er die würdevollen, traurigen Züge eines Leichenbestatters geerbt, doch in Wirklichkeit hatte er eine lebhafte, versaute Phantasie. »Haben Sie gestern Abend gesehen, wie die Orioles gegen Seattle gespielt haben, Joe?«, fragte Mr. William. »Dieses Thema hatten wir doch schon einmal«, sagte DeMarco, »und Sie kennen meine Ansichten zu diesem Thema ganz genau. Ich werde mir die Orioles nur dann ansehen, wenn die Senators nach Washington zurückkehren.« Im Jahr 1971 hatten die Washington Senators die Hauptstadt verlassen und waren nach Texas gegangen, wo sie zu den Texas Rangers geworden waren. Alle Baseball-Fans aus D.C. hatten den Verlust des Teams betrauert, als wären ihre innig geliebten 47
Mütter verstorben. Seit Jahren hatten sich die Washingtoner dafür eingesetzt, dass wieder ein Team der Major League in die Hauptstadt kam, was aber der Sponsor der um die Fans konkurrierenden Baltimore Orioles zu verhindern wusste, wofür ihn DeMarco mit einer Leidenschaft hasste, die nur wahre Baseballfans nachvollziehen konnten. »Dann haben Sie gar nicht Rodiguez’ Triple Play gesehen – und gleich im Anschluss Rodriguez’ Inside-the-ParkHomerun?«, fragte Mr. William. Verdammt. Sowohl ein Triple Play als auch ein Inside-thePark-Homerun waren so selten wie Dinosaurierexkremente. Und er hatte beides verpasst. Scheiß-Orioles! Der Sponsor des Teams war ein geldgieriger Spielverderber, ihre Publicity war unter aller Sau, und ihre Pitcher waren nicht einmal gut genug, um in einer Highschool-Mannschaft zu spielen. Aber sie hatten Alonzo Rodriguez, derzeit der beste Spieler aller Ligen. Trotzdem war DeMarco nicht bereit, sein Embargo aufzuheben. Niemals. »Ich scheiße auf Rodriguez und seinen Triple Play«, sagte DeMarco und bemühte sich, so zu tun, als würde er es wirklich so meinen. »Sie sind ein verdammter Dickkopf, Joe.« Das war er. DeMarco nahm einen Schluck von seinem Martini, dankte dem Schöpfer des Martinis mit einem Nicken und sagte: »Ausgezeichnet, Mr. William. Dürfte ich mal Ihr Telefon benutzen?« »Haben Sie kein Handy wie all die anderen Lichtgestalten, die hier verkehren?« »Schon, aber ich möchte meine Einheiten sparen. Nun geben Sie mir schon das Telefon. Sie müssen die Rechnung ja nicht bezahlen.« DeMarco wählte. »Joe hier«, sagte er, als Emma sich meldete. »Lange nichts von dir gehört, Joe«, antwortete Emma. »Du scheinst gut gelaunt zu sein, Emma.«
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»Ich bin gesund, wohlhabend und intelligent – und im Gegensatz zu dir bin ich sexuell aktiv. Warum sollte ich also nicht gut gelaunt sein? Was willst du? Ich lackiere mir gerade die Fingernägel.« »Ich möchte mir einen deiner Kollegen für einen Überwachungsjob ausborgen.« »Wegen der Mattis-Sache?« »Ja.« »Du gehst ja mächtig ran!« »Keine Ermittlung ohne Überwachung. Dein Mann soll Billy ein oder zwei Tage lang auf den Fersen bleiben, damit ich Banks anschließend berichten kann, dass er so sauber wie Neuschnee ist.« »Es gibt keinen sauberen Neuschnee, Joe. Denk an die Luftverschmutzung. Was willst du machen, während mein Kollege Billy beschattet?« DeMarco sagte es ihr. »Ich glaube, Mike ist gerade frei«, sagte sie. »Ich werde ihm sagen, dass er dich anrufen soll.« »Ist es derselbe Mike, den du mir im Februar ausgeborgt hast?« »Ja.« »Gut. Er ist in Ordnung. Was hat er eigentlich für einen Hintergrund?« DeMarco verdrehte die Augen, als er die Frage stellte, weil er wusste, dass er sich die Mühe hätte sparen können. Aber wie schon Mr. William festgestellt hatte, war er ein verdammter Dickkopf. »Ach, das Übliche«, sagte Emma. »Navy SEAL, Lizenz zum Töten und so weiter.« Emma legte auf. Das bedeutete, dass man Mike die Lizenz zum Töten geben konnte. DeMarco hatte im Laufe der Jahre, seit er Emma kannte, festgestellt, dass sie über Kontakte zu Leuten mit einer breiten Palette von Talenten verfügte. Ehemalige Polizisten, ExSoldaten und, wie es schien, frühere Kriminelle. Sie kannte 49
Experten für Abhöraktionen, Dokumentenfälscher und Computerhacker. Alle verstanden ihr Handwerk, und aus Gründen, die DeMarco vermutlich nie erfahren würde, waren sie Emma treu ergeben. DeMarco hatte Emma gewissermaßen durch eine Mitfahrgelegenheit kennen gelernt. Er hatte gerade einen Freund am Reagan National Airport abgesetzt und wartete vor den Taxis darauf, dass die Straße frei wurde, damit er weiterfahren konnte. Er hatte die linke Seite beobachtet, als plötzlich seine Beifahrertür geöffnet wurde und eine attraktive Frau mittleren Alters in seinen Wagen gestiegen war. Ihr eleganter weißer Hosenanzug sah leicht zerknittert aus, als hätte sie eine längere Reise hinter sich. Sie war außer Atem und machte nicht den Eindruck, dass sie in letzter Zeit viel geschlafen hatte. Das Einzige, was sie bei sich hatte, war eine Handtasche. »He, was soll …«, begann DeMarco zu fragen. »In etwa zehn Sekunden«, fiel ihm die Frau ins Wort, »werden zwei Männer aus dem Flughafengebäude kommen. Sie sind bewaffnet und werden versuchen, mich zu töten. Sie werden sie wahrscheinlich auch töten, da Sie in meiner Begleitung sind. Fahren Sie bitte sofort los.« DeMarco stellte fest, dass die Frau verzweifelt war, aber sie schien nicht in Panik zu handeln. »Hören Sie …«, begann DeMarco. »Jetzt bleiben Ihnen nur noch etwa fünf Sekunden. Ich arbeite für die Regierung, und ich sage die Wahrheit.« DeMarco hätte beinahe geantwortet: »Den Spruch habe ich schon mal gehört.« Doch er tat es nicht. Er machte sich ernsthafte Sorgen. Er sah sich die Frau sehr genau an. Sie mochte auf der Flucht vor der Polizei sein, vielleicht war sie ein Drogenkurier. Aber das glaubte er nicht. Sie hatte kein besonders freundliches Gesicht, aber es schien das Gesicht eines Menschen zu sein, dem man vertrauen konnte.
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Im nächsten Moment warf DeMarco einen Blick in den Rückspiegel und sah zwei Männer, die aus dem Terminal gelaufen kamen. Sie sahen sich hektisch auf dem Bürgersteig um, dann zeigte einer von ihnen auf DeMarcos Wagen. »Scheiße«, sagte er, trat aufs Gaspedal und fädelte sich in den Verkehr ein. »Warum haben Sie nicht einfach ein Taxi genommen?«, sagte er zur Frau. »Haben Sie die Schlange am Taxistand gesehen?«, gab sie zurück und schaute sich um. »Verdammt, da ist noch einer, der in einem Wagen auf sie gewartet hat.« DeMarco sah wieder in den Rückspiegel. Die beiden Männer stiegen in einen schwarzen Mercedes. »Was wird jetzt …?« »Fahren Sie mich zum Pentagon«, sagte die Frau. »Und wenn ein Polizist will, dass Sie anhalten, tun Sie es nicht.« »Moment …« »Es hätte zur Folge, dass auch der Polizist getötet würde, Jetzt fahren Sie endlich. Schnell!« Die Frau beobachtete den Verkehr hinter ihnen. Der Mercedes kam näher. Sie zog ein Handy aus der Handtasche. »Ich bin’s«, meldete sie sich. »Ich bin gerade aus Kairo eingetroffen. Ich habe die Probe dabei, aber sie haben an der Gepäckausgabe auf mich gewartet. Genau das sollte eigentlich nicht passieren, Sie Idiot!« Eine Weile hörte sie zu. »Nein, ich bin nicht bewaffnet. Wie zum Henker hätte ich das Flugzeug mit einer Waffe besteigen sollen? Hören Sie … Jetzt halten Sie endlich die Klappe und hören mir zu! Ich bin in Begleitung eines Zivilisten. Wir sind unterwegs mit einem Volvo, Baujahr neunzehn …« Sie warf DeMarco einen Blick zu. »Vierundneunzig«, sagte er. »Baujahr neunzehnhundertvierundneunzig, rotbraune Lackierung. Wir entfernen uns gerade vom National Airport und fahren auf den George Washington Parkway zu. Sie können uns gar nicht übersehen, weil wir mit hundert Meilen pro Stunde rasen 51
und von einem schwarzen Mercedes verfolgt werden. Jetzt schicken Sie endlich jemanden rüber! Und zwar schnell!« Sie klappte das Handy zu. »Wie heißen Sie?«, wollte sie von DeMarco wissen. »Joe«, sagte er. »Also gut, Joe. Sie müssen jetzt das Gaspedal bis zum Bodenblech durchdrücken. Wenn Sie dabei Ihren Wagen zu Klump fahren, wird das das geringste Ihrer Probleme sein.« Der Mercedes war jetzt genau hinter ihnen, aber er versuchte nicht, sie zu überholen oder sie irgendwie zum Anhalten zu zwingen. Die Frau sah sich zum anderen Wagen um. »Sie warten vermutlich, bis wir auf dem Parkway sind. Dann dürfte einer dieser Kerle seine Waffe ziehen und auf Ihre Reifen schießen.« »Gütiger Himmel!«, sagte DeMarco. »Warum werfen Sie das, was diese Leute haben wollen, nicht einfach aus dem Fenster?« Die Frau lachte. Offenbar hatte sie nicht begriffen, dass er den Vorschlag keineswegs scherzhaft gemeint hatte. Als DeMarco den George Washington Parkway erreichte, war der Mercedes fünfzig Meter hinter ihnen. Bald hatte er auf neunzig Meilen pro Stunde beschleunigt und war froh, dass nur wenig Verkehr herrschte. Er schaute in den Rückspiegel und sah, dass einer der Männer sich aus dem Beifahrerfenster des Mercedes lehnte. Dann sah er orangefarbene Lichtblitze, die von der Hand des Mannes ausgingen, aber er hörte keine Schüsse. Dafür sah er nicht weit vom Volvo entfernt mehrere Stellen auf dem Asphalt, von denen Funken aufstoben. »Mistkerle!«, brüllte DeMarco. Er drückte den Fuß fester aufs Gaspedal, aber der Volvo wurde nicht schneller. Die maximale Motorleistung war erreicht. Dann war plötzlich alles vorbei. Ein großer schwarzer Hubschrauber tauchte über dem Mercedes auf. Ein Scheinwerfer war auf den Wagen gerichtet, und DeMarco sah jemanden, der sich mit einem Gewehr im An52
schlag aus der Maschine lehnte. Er konnte nicht sagen, woher der Hubschrauber gekommen war. Der Mercedes wurde etwas langsamer und schien nach einer Ausfahrt oder einer Wendemöglichkeit zu suchen. DeMarco zog den Fuß keinen Millimeter vom Gaspedal zurück. Etwa eine Minute später sah er im Rückspiegel die Blaulichter von fünf oder sechs Fahrzeugen, die den Mercedes umstellten. »Sie können jetzt anhalten«, sagte die Frau. DeMarco fuhr weiter. »Es ist alles in Ordnung«, sagte die Frau. »Beruhigen Sie sich. Halten Sie an.« DeMarco tat es. Als der Wagen stand, legte er für einen Moment den Kopf ans Lenkrad und schloss die Augen. In dieser Haltung sagte er: »Würden Sie mir jetzt bitte erk…« »Tut mir Leid, Joe, aber das kann ich nicht.« Diese verfluchte Frau ließ nicht zu, dass er auch nur einen einzigen Satz zu Ende sprach. Ein weißer Lieferwagen mit Regierungskennzeichen hielt hinter DeMarcos Volvo an. Die Frau stieg aus, und bevor sie die Tür schloss, sagte sie: »Ich bin übrigens Emma. Und ich möchte Ihnen danken.« Dann ging sie zum Lieferwagen, der sofort weiterfuhr, nachdem sie eingestiegen war. Am nächsten Morgen saß DeMarco in seinem Büro und blätterte die Zeitung durch, weil er wissen wollte, ob die Presse vom gestrigen Vorfall erfahren hatte. Offenbar nicht. Kurz darauf klopfte es an seiner Tür, was ihn überraschte, da es nur selten vorkam, dass jemand ihn in seinem Büro besuchte. Er öffnete die Tür. Es war Emma. »Wie haben Sie …?« DeMarco wollte fragen, wie sie ihn gefunden hatte, doch dann wurde ihm bewusst, dass es eine ziemlich blödsinnige Frage war. »Ich wollte mich nur angemessen für das bedanken, was Sie gestern Abend für mich getan haben«, sagte Emma. Sie betrat 53
DeMarcos Büro, ohne auf die Erlaubnis zu warten, musterte mit hochgezogener Augenbraue die Einrichtung und reichte DeMarco schließlich einen Umschlag. »Zwei Sitzplätze für das Spiel der Wizards morgen Abend, genau hinter der Spielerbank. Ich habe gehört, dass Sie sich sehr für Sport interessieren.« »Mann!«, sagte DeMarco. Die Karten mussten um die fünfhundert Dollar gekostet haben. »Danke! Aber ich würde trotzdem gerne wissen, was eigentlich passiert ist.« »Tut mir Leid, Joe, das kann ich Ihnen nicht sagen. Aber wie heißt es immer so schön in den Witzen: Der Dank der Nation ist Ihnen gewiss. Und hier ist meine Telefonnummer, Joe.« Sie reichte DeMarco eine Visitenkarte, auf der nur eine Nummer mit der Vorwahl von Virginia stand. »Falls Sie jemals Hilfe brauchen – ganz gleich, wobei –, rufen Sie mich an«, sagte Emma. »Apropos«, sagte DeMarco und dachte an den Auftrag, den er damals gerade für Mahoney erledigte, »Sie kennen nicht zufällig jemanden, der einen Safe knacken kann?« Das war der Beginn einer langen und oftmals sehr bizarren Bekanntschaft gewesen, die DeMarco seitdem keinen Augenblick lang bereut hatte. Allerdings gab es doch eine Kleinigkeit, die DeMarco über Emma wusste. Kurz nach ihrer ersten Begegnung hatte er Mahoney gebeten, sie zu überprüfen. DeMarco hatte vermutet, dass die Frau für die CIA arbeitete, was Mahoney ohne größere Schwierigkeiten in Erfahrung bringen würde. Zumindest hatte DeMarco das gedacht. DeMarco hatte Mahoney noch nie so nervös erlebt, als dieser sich wegen der Sache bei ihm zurückmeldete. »Sie war früher bei der DIA«, sagte Mahoney. Die Defense Intelligence Agency, ein militärischer Geheimdienst, wurde 1961 vom damaligen Verteidigungsminister Robert McNamara nach dem Debakel in der Schweinebucht aufgebaut. Manche sagten, es war die Organisation, die die CIA 54
einmal sein wollte, wenn sie erwachsen wäre. Sie leistete so kompetente Arbeit, dass sie nur sehr selten Schlagzeilen machte, und war zudem an militärischen Aktionen beteiligt, die oftmals so heikel und lebenswichtig waren, dass selbst hochrangige Politiker es nicht wagten, auch nur den Ansatz von Kritik zu üben. »Als ich mich nach ihr erkundigte, sagte mein Kumpel, er würde sich zurückmelden. Im nächsten Moment standen zwei Typen in meinem Büro, die so unheimlich waren, dass ich mir fast in die Hose gemacht hätte. Sie wollten wissen, woher ich ihren Namen kenne und warum ich mich nach ihr erkundigte. Ich, der Sprecher des Repräsentantenhauses! Nachdem ich eine Weile singend vor ihnen herumgetanzt bin, dass Fred und Ginger vor Neid erblasst wären, haben sie mir schließlich erzählt, das sie eine Ex-DIA ist. Aber ich habe so das Gefühl, dass das ›Ex‹ eine glatte Lüge war.« Diese Leute schienen keinen Spaß zu verstehen. »Das war auch schon alles, was sie mir gesagt haben, Joe«, schloss Mahoney. »Was immer diese Frau für sie getan hat – eher trocknet der Potomac aus, als dass sie es ans Tageslicht kommen lassen.« DeMarco hatte sich mit dieser Information zufrieden gegeben. Er wusste jetzt etwas über Emma, das erklärte, warum sie nie etwas erklärte. Der Krach eines Lasters von der Müllabfuhr direkt neben DeMarcos rechtem Ellbogen riss ihn aus seinen Grübeleien. Doch es war gar kein Müllwagen, sondern Alices Handtasche – fünfzehn Kubikmeter aus Lederimitat, offenbar gefüllt mit ihrem kompletten Besitzstand. Ohne DeMarcos Anwesenheit zur Kenntnis zu nehmen, gab sie Mr. William ein Zeichen. Er näherte sich zögernd. Mr. William war normalerweise ein geselliger Mensch, der den Umgang mit seinen Gästen liebte. Alice stellte in dieser Hinsicht eine seltene Ausnahme dar. 55
»Einen Black Jack auf Eis, Bohnenstange, aber zackig«, sagte Alice. »Jawohl, Madam«, antwortete Mr. William. Es war nicht einfach für einen gut zwei Meter großen Mann, sich zu ducken, aber Mr. William schaffte es. »Weißt du«, sagte Alice zu DeMarco, »da du wusstest, dass ich komme und was ich trinke, hättest du dafür sorgen können, dass mein Drink schon längst bereitsteht.« »Als würde deine Leber schlapp machen, wenn du deine abendliche Dröhnung fünf Minuten später bekommst.« »Sei nicht so ein Klugscheißer.« Mr. William brachte ihren Drink, dann wich er zurück wie Michael Jackson beim Moonwalk. »He«, blaffte Alice ihn an. »Wo sind die Erdnüsse? Oder diese kleinen Goldfischdinger?« »Ich bringe Ihnen welche, Madam«, sagte Mr. William mit steinerner Miene. Seine Augen waren wie hell glühende Lämpchen, die vor einem bevorstehenden Totschlag warnten. Alice war fünfzig, hatte eine gefärbte blonde Mähne, trug zu viel Make-up und zwanzig überflüssige Pfunde mit sich herum. Sie hatte einen Mann, von dem sie nur als »das Arschloch« sprach, und einen Sohn, den sie nur als »den kleinen Wichser« bezeichnete. Alice lebte für eine einzige Leidenschaft: die Spielautomaten in Atlantic City. An jedem Wochenende pilgerte sie in ihr Mekka. Ansonsten arbeitete sie bei der Telefongesellschaft AT&T. Alice kippte die Hälfte ihres Drinks hinunter und kramte dann in den bodenlosen Tiefen ihrer Handtasche. »Hier«, sagte sie und warf sechs zerknüllte Seiten auf den Tresen vor DeMarco. Es waren Billy Mattis’ Telefondaten aus den vergangenen drei Monaten. Falls Billy tatsächlich in das Attentat verwickelt war, musste er mindestens einen Komplizen gehabt haben – den Mann, der abgedrückt hatte. Und wer einen Komplizen hatte, so DeMarcos 56
Überlegung, musste mit ihm kommunizieren. Also schaute man in den Telefonrechnungen nach, mit wem der Tatverdächtige in letzter Zeit geplaudert hatte. Wenn Billy Ray ein professioneller Killer war oder als Undercover-Agent für einen ausländischen Auftraggeber arbeitete, würde er sicherlich eine andere Kommunikationseinrichtung nutzen als das Küchentelefon. DeMarco war klar, dass ein Blick auf Billy Rays Daten ihm nicht den Beweis liefern würde, dass der Mann ein Maulwurf war, den die Russen seit seiner Geburt trainiert und schließlich per Fallschirm im ländlichen Georgia abgesetzt hatten, damit er sich von dort aus das Vertrauen der amerikanischen Elite erschlich. »Weißt du, es war ein ganz schöner Batzen Arbeit, diese Aufzeichnungen zu besorgen«, sagte Alice zu DeMarco, während sie sich mit Erdnüssen voll stopfte. Zwischendurch brüllte sie Mr. William an: »He, Spargeltarzan! Mein Glas ist leer!« »Willst du mich verarschen, Alice?«, sagte DeMarco. »Du musstest höchstens drei Tasten auf deiner Computertastatur drücken, um an diese Daten zu kommen.« »Woher willst du das wissen? Seit wann arbeitet Mister Großkotz für die größte private Telefongesellschaft dieses Landes? Außerdem bin ich diesen Monat etwas knapp bei Kasse.« Alice war jeden Monat knapp bei Kasse. DeMarco hatte den Verdacht, dass der monatliche Vorschuss, den er ihr zahlte, das Einzige war, was ihre Gläubiger davon abhielt, ihr an den runzligen Hals zu springen. Während Alice über die allgemeine wirtschaftliche Lage und ihre persönliche finanzielle Situation jammerte, sah sich DeMarco Billy Mattis’ Telefondaten an. Alice hatte ihm die Namen und Adressen von Personen und Unternehmen ausgedruckt, die Billy von Zuhause und mit seiner Telefonkarte angerufen hatte. Emmas Leute würden alle Namen überprüfen, um festzustellen, ob sich interessante Zusammenhänge ergaben, 57
aber DeMarco sah nichts, was auf den ersten Blick auffällig gewesen wäre. Keine Anrufe bei Läden, die Zielfernrohre oder Scharfschützengewehre verkauften – und vor allem keine Gespräche mit dem verstorbenen Harold Edwards. Eine Auffälligkeit gab es allerdings doch. Im Juni hatte Billy zwanzigmal innerhalb von zwei Wochen eine Jillian Mattis angerufen. DeMarco erinnerte sich, dass Billys Mutter so hieß; er hatte den Namen in dessen Personalakte gelesen. Er sah sich die Rechnung des Vormonats an und stellte fest, dass Billy seine Mutter in diesem Zeitraum nur viermal angerufen hatte. Die Häufung der Gespräche begann zwei Wochen nach seiner Zuteilung zur Leibwache des Präsidenten. DeMarco sagte sich, dass es für diesen Umstand zahllose völlig normale Erklärungen geben konnte. Vielleicht war seine Mutter in dieser Zeit krank gewesen und er hatte sich oft nach ihrem Befinden erkundigt. Oder Billy hatte geplant, sie zu besuchen, und genauere Einzelheiten mit ihr abgesprochen. Oder Billy hatte gelegentliche Anwandlungen als Muttersöhnchen. »Und?«, sagte Alice. »Und was?« DeMarco hatte ihr in den vergangenen fünf Minuten gar nicht zugehört. »Kannst du mir einen Vorschuss geben?« »Klar«, sagte DeMarco. Alice zu geben, was sie haben wollte, war einfacher, als mit ihr zu feilschen. Und Donald Trump konnte das Geld bestimmt gut gebrauchen.
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9 In Virginia, fünfzig Meilen westlich von Washington, lag Middleburg, eine Bilderbuchstadt inmitten grüner Hügel, die einst Schlachtfelder des Bürgerkriegs gewesen waren. Diese Schlachtfelder waren nun mit weißen Zäunen eingefriedete Weiden, auf denen Vollblutpferde grasten. Wohlhabende Bürger der Hauptstadt kauften Land in der Umgebung von Middleburg, wo sie an den Wochenenden Jagdausflüge unternahmen und taten, als wären sie Gutsherren. Frank Engles war kein Gutsherr vom Lande, sondern der Eigentümer einer Pension. Sein Haus war ein viktorianisches Anwesen in vielfältigen Farbschattierungen mit Bleiglasfenstern und sonnigen Mansarden, so romantisch wie ein Strauß Rosen. Es war genau die Art von Pension, in die DeMarco über ein Herbstwochenende eine Freundin mitgenommen hätte – wenn er eine Freundin gehabt hätte. DeMarco hatte General Banks gesagt, dass er sich mit jemandem unterhalten musste, der Billy kannte und dem die Beförderungspraxis des Secret Service vertraut war. Banks hatte seine Leute beauftragt, Kontakt mit der Personalabteilung des Secret Service aufzunehmen, und schon bald war der Name Frank Engles gefallen. Frank war gleich in zweifacher Hinsicht ein Glückstreffer, denn bis zu seiner Pensionierung war er Billys Vorgesetzter gewesen. Nachdem DeMarco geklingelt hatte, wurde die Tür von einer korpulenten weißhaarigen Frau geöffnet, die eine mit Mehl bestäubte Schürze trug. Sie sagte, dass er Engles hinter dem Haus finden würde. DeMarco ging also um das Haus herum und sah dort einen Mann, der Holz hackte. Er hatte DeMarco den Rücken zugekehrt. In seiner Nähe hatte es sich ein Hund auf dem Boden bequem gemacht. 59
DeMarco mochte Hunde, die sich gerne streicheln ließen und ihm nur bis zum Knie reichten. Dieser Hund jedoch war ein Schäferhund, so groß wie ein Shetland-Pony und so schmusebedürftig wie ein Eisbär. Das Tier drehte den Kopf wie ein Geschütz in DeMarcos Richtung, dann bellte es einmal und griff an. DeMarco tat genau das, was er immer tat, wenn er es mit einem hundertzwanzig Pfund schweren Wachhund zu tun bekam, der mit gefletschten Zähnen auf ihn zurannte. Er blieb reglos stehen und bemühte sich, keinen bedrohlichen Eindruck zu machen, während er sich innigst wünschte, eine Waffe zur Hand zu haben. Endlich bemerkte Engles, was sich hinter seinem Rücken tat. Er drehte sich um und sah DeMarco, der mitten im Schritt zu einer Salzsäule erstarrt war, furchtsam wie eine erschrockene Wachtel, und das vierbeinige Monstrum, das sämtliche Muskeln zum Angriff angespannt hatte. Der Agent im Ruhestand lief zu DeMarco herüber, und mit einem gelassenen Schmunzeln sagte er das, was alle Hundebesitzer sagten: »Machen Sie sich wegen Ol’ Bullet keine Sorgen. Er will Sie nur freundlich begrüßen.« Engles war Anfang sechzig. Er trug verblasste Jeans und ein gelbes T-Shirt mit der Aufschrift I ♥ VIRGINIA. Er hatte misstrauische graue Augen, eine Nase, die an mehr als einer Stelle gebrochen war, und eine kahle Stelle am Hinterkopf, die wie die Tonsur eines Mönchs aussah. Diese Kombination verlieh ihm das Aussehen eines Priesters, der keineswegs bereit war, die andere Wange hinzuhalten. Da DeMarco etwas von Engles wollte, verlangte er nicht von ihm, dass er den Wolf, den er als sein Haustier getarnt hatte, an eine möglichst kurze Kette legen und mit einem Maulkorb versehen sollte. Stattdessen sagte er: »Ja, er sieht wirklich wie ein liebes, nettes Hündchen aus.« Inzwischen beschnupperte das Tier DeMarcos Leistengegend. »Mr. Engles«, begann DeMarco und versuchte, den verfluchten Hund zu ignorieren, »mein Name ist Joe DeMarco. Ich 60
arbeite für den Kongress.« Er klappte eine Lederbrieftasche auf und zeigte ihm seinen Sicherheitsausweis. »Kongress?«, wiederholte Engles, blickte auf das Dokument und dann wieder in DeMarcos Gesicht. DeMarco hätte alles darauf verwettet, dass Engles sich jedes einzelne Wort auf seinem Ausweis eingeprägt hatte. »Richtig«, sagte DeMarco. »Ich bin wegen des kürzlich verübten Attentats auf den Präsidenten hier. Wie Sie vielleicht gehört haben, wurde ein Ausschuss eingesetzt, der die Sicherheit des Präsidenten genauer unter die Lupe nehmen soll. Ich möchte Ihnen nur ein paar Fragen stellen.« »Ich würde sagen, der Kongress sollte sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern«, brummte Engles, »und die Sicherheit den Experten überlassen.« DeMarco sah ihn mit einem verlegenen Lächeln an. »Unter uns gesprochen, würde ich Ihnen zustimmen. Aber wenn mein Chef sagt, dass ich reiten soll, dann springe ich auf mein Pferd.« Die Ich-mache-auch-nur-meinen-Scheißjob-Nummer funktionierte. »Klar«, sagte Engles. »Kommen Sie doch mit rein. Ich gebe Ihnen einen Kaffee aus, und dann können Sie Ihre Fragen stellen. Bullet, lass den Mann in Ruhe! Der Hund ist so zutraulich, dass er sogar einen Einbrecher abschlecken würde.« Auch das war etwas, das Hundebesitzer immer wieder sagten. Engles führte DeMarco in eine Küche, in der es nach Äpfeln und Zimt roch und die mit einem Kamin ausgestattet war, der genügend Platz für einen Julblock bot. Es war ein gemütlicher Raum, und er konnte sich vorstellen, wie hier Generationen von Enkeln Kuchenteig von den Löffeln geleckt hatten. Engles goss Kaffee in zwei große Becher, dann setzten sie sich an einen rustikalen Holztisch. Ol’ Bullet warf sich neben Engles’ Stuhl auf den Boden.
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»So, was wollen Sie von mir wissen?«, fragte Engles, während er seinen Kaffee mit Sahne verfeinerte. »Ihnen ist doch klar, dass ich im Ruhestand bin.« »Wir untersuchen das Vorgehen bei der Auswahl von Agenten, Mr. Engles. Insbesondere interessiert uns, wie der innere Zirkel zusammengestellt wird. Sie wissen schon, welche Erfahrung vorausgesetzt wird, welche Rolle die Qualifikation spielt und solche Sachen.« Die vielen Wirs hatte er Engles bewusst hingeworfen. DeMarco hoffte, dass er sich nun eine riesige Armee aus grauen Bürokraten vorstellte, die seiner Mission das Gewicht einer höchst amtlichen Untersuchung verliehen. »Was soll das?«, fragte Engles. »All das finden Sie im Personalbüro der Abteilung. Dort ist alles dokumentiert, die Ausbildungsprogramme, die Richtlinien für die Auswahl, die Anforderungen an die Qualifikation, der ganze Scheiß. Deswegen sind Sie nicht zu mir rausgefahren. Weswegen sind Sie wirklich hier?« So viel zum Gewicht einer höchst amtlichen Mission. »Ja, Sie haben Recht«, sagte DeMarco, der sich vorkam, als hätte man ihn dabei erwischt, dass er den Weihnachtsmann von seiner Arbeit abhalten wollte. »Eigentlich interessieren wir uns nur für einen Agenten, der am Chattooga dabei war. Einen Mann, für den Sie bis zu Ihrer Pensionierung zuständig waren.« »Um wen geht es?«, fragte Engles. »Billy Ray Mattis.« »Sie glauben, man hätte Mattis nicht für diesen Auftrag auswählen sollen? Geht es letztlich nur darum?« »Nicht zwangsläufig, aber an jenem Tag war er der jüngste Agent mit der wenigsten Erfahrung.« Dass Billy der jüngste Agent war, hatte DeMarco geschlussfolgert, als er das Video gesehen hatte. Dass er über die wenigste Erfahrung verfügte, war geraten.
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»Wissen Ihre Leute, dass Mattis sich in Indiana eine Kugel eingefangen hat, während er den Präsidenten schützte?«, fragte Engles. »Ja, ich habe seine Personalakte gelesen. War das der Grund, warum Sie ihn ausgewählt haben? Wegen Indiana?« Engles verstummte. Seine Hände pressten den Kaffeebecher zusammen und verrieten, wie nervös er war. Ol’ Bullet spürte sofort die Stimmungsänderung seines Herrchens. Der Köter fixierte den Blick auf DeMarcos Halsschlagader und ließ ein tiefes Knurren aus seiner Kehle aufsteigen. Engles griff nach unten und kraulte das dicke Nackenfell des Hundes, um ihn zu beruhigen, während er über DeMarcos Frage nachdachte. Als Engles nach einiger Zeit immer noch nicht geantwortet hatte, sagte DeMarco: »Hören Sie, ich will Billy Mattis nicht in den Dreck ziehen. Ich möchte nur wissen, warum er für den brisantesten Posten ausgewählt wurde, den der Secret Service zu vergeben hat.« »Vielleicht bin ich es, den Sie in den Dreck ziehen wollen«, sagte Engles. »Mr. Engles, Sie haben sich vor dem Anschlag zur Ruhe gesetzt. Ich wüsste nicht, wie man Sie für irgendetwas, das damit im Zusammenhang steht, verantwortlich machen könnte.« »Stimmt«, sagte er. »Wir sind ausschließlich daran interessiert«, sagte DeMarco mit einer Stimme, die vor falscher Aufrichtigkeit troff, »dass der Präsident auch in Zukunft die am besten geschützte Person der Welt ist – eine Aufgabe, die Männer wie Sie schon immer hervorragend erfüllt haben.« Er hoffte, dass sich nicht die Balken des Viktorianischen Hauses bogen. Engles sah DeMarco an, wandte den Blick ab und schaute ihm wieder ins Gesicht. Er räusperte sich. »Ich habe Mattis nicht ausgewählt«, sagte er. »Jeder andere Mann, der für mich gearbeitet hat, wurde von mir handverlesen. Aber was Mattis betrifft – irgendwann wurde mir einfach 63
mitgeteilt, dass er in meine Einheit versetzt würde. Als ich nach dem Grund fragte, wurde mir gesagt, dass ich keinen Wirbel machen sollte. Irgendwer wollte irgendwem einen Gefallen tun. So etwas passiert ständig.« »Wie meinen Sie das?« »Ich meine, dass der Secret Service wie jede größere Organisation funktioniert. Immer wieder werden Leute versetzt. Die Chefs vereinbaren etwas mit anderen Chefs, um ihren Lieblingen zu helfen. Oder jemand hat in einer Abteilung Schwierigkeiten, sodass man ihn auf einen anderen Posten schiebt, um zu sehen, ob er sich dort besser macht.« »Ist das auch in diesem Fall geschehen?« Engles zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht.« »Und wer hat dafür gesorgt, dass er in Ihre Einheit kommt?« Engles zögerte. »Ich habe gehört, dass es Pat höchstpersönlich gewesen sein soll. Aber ich kann es nicht mit Sicherheit sagen. Ich habe es nur gehört.« »Patrick Donnelly hat persönlich Mattis’ Versetzung angeordnet?« DeMarco konnte nicht verbergen, wie sehr ihn diese Information verblüffte. »Wie gesagt, so kam es aus der Gerüchteküche.« »Warum sollte sich der Leiter des Secret Service für die Karriere eines Billy Mattis interessieren?« »Verdammt, ich weiß es nicht. Ich verstehe auch nicht, warum das so eine große Sache sein soll. Mattis hat sämtliche Eignungstests bestanden, und nachdem ich ihn näher kennen gelernt hatte, mochte ich ihn sogar. Ein sehr ruhiger Typ. Sehr pflichtbewusst. Seine Gedanken kreisten nur um den Job. Er war keiner dieser Leute, die sich irgendwann langweilen und in der Menge nach kurzen Röcken suchen.« »Also haben Sie sich nicht über die Versetzung beschwert?« »Nein. Ich war sauer, weil die Sache über meinen Kopf hinweg entschieden wurde, aber es gab keinen Grund, warum ich deswegen Stunk machen sollte. Ich hätte es getan, wenn er 64
unfähig gewesen wäre, aber das war er nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Armer Reynolds.« »Reynolds?« »Der Typ, der meinen Posten übernommen hat. Er muss jetzt mächtig Ärger bekommen haben, weil er zugelassen hat, dass dieser Edwards an jenem Tag freies Schussfeld hatte. Ich habe ihn neulich gesehen, wie er sein Haus verlassen hat und die verdammten Reporter ihm die Mikros ins Gesicht gerammt haben.« »Ja«, sagte DeMarco und täuschte Mitgefühl für den bedauernswerten Reynolds vor. »Aber wie steht es mit Mattis? Was glauben Sie, wie viel Ärger man ihm im Augenblick macht?« »Weswegen?«, fragte Engles. »Sie haben doch bestimmt das Video vom Attentat gesehen. Wie Mattis kurz vor dem ersten Schuss die Sonnenbrille runterfällt.« »Ist das etwa das eigentliche Problem?«, sagte Engles mit funkelnden Augen. »Hören Sie, jedem in der Einheit hätte etwas herunterfallen können, jeder hätte stolpern oder sich in die falsche Richtung bewegen können. Dass es Mattis passiert ist, hat nicht das Geringste mit seiner Erfahrung oder Auswahlprozeduren oder Versetzungen oder sonst was zu tun!« »Wahrscheinlich haben Sie Recht«, sagte DeMarco, auch wenn er nicht überzeugt klang. »Aber sagen Sie mir noch, wie Sie Mattis’ Leistung eingeschätzt haben, in der Zeit, als er für Sie gearbeitet hat, Mr. Engles.« Engles kochte immer noch und atmete einmal tief durch, um sich wieder zu fassen. »Ich will es so ausdrücken«, sagte er. »Die Leute, die für mich gearbeitet haben, lassen sich in zwei Gruppen einteilen. Im Laufe der Jahre waren auch ein paar schwere Fälle dabei, aber ich möchte unsere kostbare Zeit nicht damit verschwenden, über sie zu reden. Die erste Gruppe sind die Leute, die sich immer weiter nach oben gearbeitet haben, die ihren eigenen Kopf zum 65
Denken benutzen. Sie machen nicht immer genau das, was man ihnen sagt, aber letztlich machen sie das, was man eigentlich von ihnen erwartet. Sie verstehen, was ich damit andeuten will?« DeMarco nickte. »Die zweite Gruppe«, sagte Engles, »sind die guten Leute, zu denen Billy Mattis gehört. Er hat widerspruchslos jeden Befehl befolgt. Jede Organisation braucht Typen wie ihn, auf die man sich verlassen kann, die einfach nur tun, was man ihnen sagt, die Fußsoldaten. So jemand ist Billy, und mehr wird er niemals werden.« »Wie würden Sie seinen Charakter beschreiben?« »Wie ich bereits sagte: ruhig und umgänglich. Ordentlich erzogen, hat gelernt, seine Mama zu respektieren und sein Land zu lieben. In der Einheit hatte er keine engen Freunde, aber er kam mit allen gut zurecht. Er war ein liebenswerter Junge. Ich mochte ihn.« »Und seine politische Einstellung?« »Ich erinnere mich nicht, dass er jemals eine politische Ansicht geäußert hätte. Ich wüsste nicht einmal, ob er die Republikaner oder die Demokraten wählt – oder ob er überhaupt wählen geht.« Engles runzelte die Stirn. »Warum fragen Sie mich danach? Glauben Sie oder Ihre Leute wirklich, dass seine politischen Ansichten etwas mit dem Attentat zu tun haben können?« Autsch! »Natürlich nicht«, sagte DeMarco. »Das will ich doch hoffen. Eher würde sich Ol’ Bullet in ein Kätzchen verwandeln, als dass der Junge in so etwas verwickelt sein könnte. Stimmt’s, Bullet?«, sagte Engles und zerrte am Halsband des Hundes. Für DeMarco sah es aus, als würde Ol’ Bullet lächeln, aber vielleicht stand das Tier auch nur kurz vor dem Ersticken.
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DeMarco unterhielt sich noch eine Viertelstunde mit Frank Engles, um ihm irgendetwas Negatives über Billy Mattis zu entlocken. Erfolglos. Billy war der nette Junge von nebenan, der Saubermann, ein grundguter Mensch und noch vieles mehr. Und wahrscheinlich stimmte es sogar. Als DeMarco nach Washington zurückfuhr und sich Hundehaare von den Hosenbeinen zupfte, klingelte sein Handy. Es war Banks. »Kommen Sie um eins in mein Büro«, sagte Banks. »Das FBI hat etwas Neues über das Attentat herausgefunden, und sie schicken jemanden rüber, um mich zu informieren.«
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10 Der Besuch vom FBI bestand aus einem einzigen Agenten, der mit einem Notizblock ausgerüstet war. DeMarco konnte erkennen, dass Banks enttäuscht war. Der General a.D. hatte offensichtlich eine PowerPoint-Präsentation des Pentagons erwartet, mit Kopien von Laborberichten und farbigen Computeranimationen, die das Gelände und die Schussbahnen in 3-D zeigten. Der Agent, ein gewisser Gregory Prudom, war mittelgroß und hatte unauffällige Gesichtszüge. Sein Haar war braun und kurz geschnitten. Sein blauer Anzug, das weiße Hemd und die rotgold gestreifte Krawatte waren seine bürokratische Tarnuniform. Er wirkte so unscheinbar, dass seine eigene Mutter ihn bei einer Gegenüberstellung nicht wiedererkannt hätte. Gleichzeitig schien er einer jener Männer zu sein, die bis zum letzten Atemzug die Stellung hielten und keinen Zentimeter zurückwichen, wenn es ihnen befohlen wurde. Irgendwo in Quantico musste es eine große Stanze aus Titanstahl geben, die Männer wie Prudom produzierte. Zunächst warf Agent Prudom einen kurzen Seitenblick auf DeMarco. »General Banks, mir wurde aufgetragen, Ihnen den Gefallen zu erweisen, Sie über die neueste Entwicklung in Kenntnis zu setzen, aber mir wurde der Eindruck vermittelt, dass ich bei diesem Gespräch mit Ihnen allein sein würde. Dürfte ich fragen, wer dieser Herr ist?« »Den Gefallen?«, fragte Banks. »Ich leite das Ministerium für Heimatschutz. Ich habe ein Anrecht darauf, alles über diesen Fall zu erfahren.« »Völlig richtig, Sir. Aber gilt das auch für diesen Herrn?« »Ja. Er ist mein Assistent.«
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Prudom wandte sich an DeMarco. »Würden Sie sich bitte ausweisen, Sir?« DeMarco sah Prudom lächelnd an, machte aber keine Anstalten, seine Brieftasche zu zücken. Dieser Typ sah nicht aus, als wäre er der Assistent von irgendwem, dachte Prudom ganz offensichtlich, er sah eher aus wie die Leute, die er wegen mittelschwerer Verbrechen verhaftete. »Es ist nicht nötig, dass er Ihnen irgendeinen Ausweis zeigt, Mr. Prudom«, sagte Banks. »Sie müssen sich mit meinem Wort begnügen, dass er hinreichend befugt ist, ebenfalls über die Angelegenheit informiert zu werden. Jetzt legen Sie endlich los.« Prudom dachte eine Sekunde lang nach, während er Banks in die Augen sah. Er war keineswegs eingeschüchtert; er überlegte nur, ob es im Interesse des FBI lag, Banks vor den Kopf zu stoßen. »Nun gut«, sagte er schließlich und klappte seinen Notizblock auf. Er suchte eine Seite, auf der ein paar hingekritzelte Notizen standen. »Wir konnten inzwischen ermitteln, wie Edwards vorgegangen ist.« »Das ist ja großartig!«, sagte Banks, aber DeMarco hatte den Eindruck, dass er ein wenig nervös war. »Als der Anschlag auf den Präsidenten verübt wurde«, sagte Prudom, »haben die Agenten den Schützen nicht gesehen. Sie waren sich nicht einmal sicher, von wo aus er die Schüsse abgegeben hat.« »Und worauf haben die Agenten dann gefeuert?«, fragte Banks. »Auf die Böschung am anderen Flussufer«, sagte Prudom. »Es war die einzige Stelle, die genügend Deckung bot. Also haben sie darauf geschossen, um den Attentäter daran zu hindern, weitere Schüsse abzugeben. Dieser Versuch war erfolglos, wie Ihnen bekannt sein dürfte, denn der Schütze konnte seine Waffe ein drittes Mal benutzen, nachdem die Agenten das Gegenfeuer eröffnet hatten. Dabei wurde Agent James getötet, der sich über 69
den Präsidenten geworfen hatte. Danach gab der Attentäter keine weiteren ab, aber es konnte nicht gleich jemand zum anderen Flussufer eilen, um den Schützen zu stellen. Die überlebenden Agenten des Secret Service mussten den Präsidenten in den Hubschrauber schaffen, damit er ins nächste Krankenhaus geflogen werden konnte, und zwei der drei Agenten begleiteten ihn während des Fluges. Der dritte Agent blieb am Tatort zurück und …« »Wer war dieser Agent?«, fragte Banks. Prudom warf wieder einen Blick auf seine Notizen. »Preston. Auf jeden Fall hat dieser Agent, Preston, nach dem Abflug des Hubschraubers die anderen Agenten zusammengerufen, die im Umkreis von fünf Meilen um die Blockhütte den äußeren Sicherheitsring bildeten. Sie sollten sich dem mutmaßlichen Standort des Schützen nähern. Danach stieg Preston selbst die Böschung auf der anderen Seite des Flusses hinauf, um nach dem Attentäter zu suchen. Er brauchte eine halbe Stunde, um dorthin zu gelangen, aber zu diesem Zeitpunkt war der Attentäter längst verschwunden. Beziehungsweise musste Preston von dieser Vermutung ausgehen.« »Was soll das h…?«, setzte Banks an, aber Prudom ließ ihn mit einem erhobenen Zeigefinger verstummen. »Unser Spurensicherungsteam traf vier Stunden nach dem Anschlag am Tatort ein, aber die Kollegen fanden keine Spuren. Keine Patronenhülsen, keine Fußabdrücke, keine Stellen, an denen das Gras niedergetrampelt gewesen wäre. Jeder ging davon aus, dass Edwards die Schüsse von der Böschung über dem Fluss abgegeben hat, weil es die einzige sinnvolle Erklärung war, aber die Angehörigen des Secret Service wiesen immer wieder darauf hin, dass sie den Attentäter in diesem Fall aufgespürt hätten. Sie sagten, sie hätten die Böschung kurz vor dem geplanten Aufbruch des Präsidenten abgesucht, und der Hubschrauber, der den Präsidenten nach Washington zurückbringen sollte, ist kurz zuvor über die Böschung 70
hinweggeflogen. Jeder dachte nun, das sich dieser Scheißer Edwards verdammt gut getarnt haben muss … Entschuldigen Sie, Sir«, bat Prudom um Verständnis für seine sprachliche Entgleisung. »Fahren Sie fort«, sagte Banks. »Er hat sich anscheinend unsichtbar gemacht, weil er andernfalls vor dem Attentat auf der Böschung gesehen worden wäre. Auf jeden Fall hat ein Kollege aus dem Labor von Anfang an gesagt, dass etwas mit den Schusswinkeln nicht stimmen kann. Er führte mehrere Computersimulationen durch und stellte fest, dass die Schüsse nur von einer Stelle etwa einen Meter unterhalb der Böschung abgegeben worden sein können. Aber niemand hat seinen Einwand ernst genommen. Alle dachten, er müsse sich verrechnet haben. Gestern erhielt dieser Kollege nun die Genehmigung, nach Georgia zu fliegen und sich am Tatort umzusehen. Dort hat er ein Loch in der Seite der Böschung gefunden, etwa einen Meter unterhalb der oberen Kante!« Prudom wurde immer aufgeregter. »Verstehen Sie? Edwards hat dieses Loch – etwa zwei Meter tief und knapp einen Meter weit – in die Seite der Böschung gegraben, und zwar einige Zeit, bevor der Präsident am Chattooga eintraf. Er tarnte die Öffnung, sodass man sie erst bemerkt, wenn man mit dem Gesicht nur noch wenige Zentimeter entfernt ist und genau auf diese Stelle starrt.« »Nicht zu fassen!«, sagte Banks. »Nicht wahr?«, sagte Prudom, der sich immer weniger um eine gepflegte Ausdrucksweise bemühte. »Dieser Mistkerl ist die Böschung hinabgestiegen oder hat sich von oben abgeseilt und eine verdammte Schießscharte in den Abhang gegraben. Wenn man bedenkt, wie der Ausflug des Präsidenten geplant wurde, wann der Voraustrupp des Secret Service die Umgebung am Chattooga gesichert hat und wie die Patrouillen während der Anwesenheit des Präsidenten durchgeführt wurden, müssen wir davon ausgehen, dass er das Loch spätestens eine Woche vor der 71
Ankunft des Präsidenten angelegt haben muss. Und kurz vor der Ankunft des Präsidenten muss sich der Drecksack bei Nacht und Nebel eingeschlichen haben, an den Wachposten des äußeren Sicherheitsrings vorbei. Während der zwei Tage, die der Präsident mit Montgomery am Fluss angeln war, scheint er im Erdloch gewartet zu haben. Und jetzt kommt das Unglaublichste an dieser Geschichte: Danach muss er sich noch mindestens einen Tag lang im Loch versteckt haben! Er scheint in der zweiten Nacht nach dem Attentat entkommen zu sein, als die Leute von der Spurensicherung Feierabend gemacht haben, und dann spazierte er seelenruhig an den Wachposten des FBI vorbei. Das ist die einzige Möglichkeit, wie er sich unbemerkt von der Böschung entfernt haben kann.« »In der Washington Post habe ich Bilder von diesem Edwards gesehen«, sagte DeMarco. »Er machte nicht den Eindruck, als wäre er ein sportlicher Typ gewesen. Er sah eher etwas übergewichtig aus.« Es war das erste Mal, dass DeMarco etwas sagte, und Banks warf ihm einen Blick zu, mit dem er ihm zu verstehen gab, dass Assistenten sichtbar, aber nicht hörbar sein sollten. DeMarco tat, als würde er es nicht bemerken. Prudom zuckte mit den Schultern. »Auf jeden Fall war er schmal genug, um in das Loch zu passen. Wir haben es nachgemessen. Und nicht jeder, der etwas Übergewicht hat, muss unbeweglich sein. Außerdem war dieser Kerl ein Jäger und ein Angehöriger der Reserve, was mich zum nächsten interessanten Punkt bringt. Das Gewehr, das er benutzte, war eine Remington 700 mit einem taktischen Zielfernrohr von Leupold. Wir haben die Seriennummern in den Computer eingegeben und herausgefunden, dass beide Stücke vor einem Monat aus einem Waffenlager der Armeereserve gestohlen wurden.« Banks warf DeMarco einen Seitenblick zu. Billy Ray Mattis war ebenfalls Reservist. »Wo genau wurde das Gewehr gestohlen?«, fragte DeMarco. 72
»Am Standort von Edwards’ ehemaliger Einheit«, sagte Prudom. »In Fort Meade in Maryland.« DeMarco erinnerte sich, dass Billys Einheit in Richmond, Virginia, stationiert war. »Ich dachte, Edwards wäre Jäger«, sagte DeMarco. »Warum hat er keine eigene Waffe benutzt?« »Er hat sie verpfändet«, sagte Prudom, »weil er wegen seiner langen Arbeitslosigkeit finanzielle Schwierigkeiten hatte. In seinem Haus haben die Kollegen nur noch ein paar Schrotflinten gefunden.« »Ich vermute, das FBI untersucht nun auch den Diebstahl aus dem Waffenlager«, sagte DeMarco. Prudom nickte ungeduldig. »Natürlich. In Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst der Armee. Aber wir haben noch nichts entdeckt, das den Vorfall direkt mit Edwards in Verbindung bringt. Abgesehen von der Tatsache, dass alle gestohlenen Waffen in seinem verdammten Haus gefunden wurden. Die 45er, mit der er sich erschossen hat, stammte ebenfalls aus dem Waffenlager.« »Ist das Gewehr der einzige handfeste Beweis, den Sie haben?«, fragte Banks. »Sie meinen, abgesehen vom Abschiedsbrief?«, erwiderte Prudom. »Ja«, sagte Banks. »In seinem Wagen haben wir eine Quittung gefunden, die von einer Tankstelle stammt, die etwa dreißig Meilen vom Chattooga entfernt ist. Aber in der Schießscharte hat der Kerl nichts zurückgelassen. Wenn man genauer darüber nachdenkt, ist auch das erstaunlich. Er hat das Loch gegraben, er hat gegessen, geschissen, gepisst und geschossen. Und er hat es geschafft, keine einzige Spur zu hinterlassen. Er hat seinen gesamten Abfall mitgenommen, als er ging, und während er sich im Loch aufhielt, muss er so etwas wie einen Ganzkörperanzug getragen haben, weil wir weder Haare noch Hautfetzen oder sonst was 73
entdeckt haben, das wir für eine DNS-Analyse benutzen könnten. Diesen Anzug haben wir in seinem Haus übrigens nicht gefunden.« Prudom klappte den Notizblock zu. »Für den Secret Service sind das alles gute Neuigkeiten, General, denn es bedeutet, dass die Leute weder nachlässig gearbeitet noch unangemessen reagiert haben. Dieser Edwards scheint ein Verrückter gewesen zu sein – aber er war gut. Verdammt gut.« »Aber wie hat er die Sache geplant?«, fragte DeMarco. Banks hätte sich beinahe ein Schleudertrauma zugezogen, so ruckartig fuhr sein Kopf bei dieser Frage herum. »Wie meinen Sie das?«, fragte Prudom. »Sie sagten, Edwards wäre eine Woche vor der Ankunft des Voraustrupps des Secret Service in Georgia gewesen und hätte in dieser Zeit die Schießscharte gegraben. Woher wusste er, wann er diese Vorbereitungen treffen musste?« »Wir sind uns nicht sicher, aber die Presse hat jedes Mal, wenn der Präsident mit Montgomery Urlaub machte, ausführlich darüber berichtet. Und wie es scheint, wussten ziemlich viele Leute hier in D.C., wann der Präsident aufbrechen würde und wohin die Reise gehen sollte. Außerdem haben wir erfahren, dass Montgomery bei einer Signierstunde den geplanten Angelausflug mit dem Präsidenten erwähnt hat. Das hat uns sein PR-Manager gesagt. Um Ihre Frage zu beantworten – wir wissen nicht genau, wie Edwards von den Plänen des Präsidenten erfahren hat, aber wir wissen, dass die Reisevorbereitungen keineswegs so geheim wie das Manhattan-Projekt waren.« Nachdem Prudom gegangen war, saßen Banks und DeMarco eine Weile schweigend da und dachten über das nach, was sie gehört hatten. »Also«, sagte Banks schließlich, »wenn Mattis genauso wie Edwards in der Armeereserve ist, werden Sie auch nähere Erkundigungen über den Einbruch im Waffenlager anstellen müssen.« 74
»Ich bezweifle, dass ich bei der Aufklärung mehr Erfolg haben werde als das FBI.« »Richtig, aber Sie müssen der Sache trotzdem nachgehen.« »Klar«, sagte DeMarco. Doch er hatte nicht die Absicht, es zu tun.
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11 Der Mann, der an der Bushaltestelle gegenüber vom Dienstgebäude des Secret Service saß, trug ein blaues Polohemd, Chinos und Sandalen mit weißen Socken. Er war über sechzig, hatte eisengraues Haar und ein Gesicht, dass sich DeMarco aus irgendeinem Grund hinter dem Plastikvisier eines Helms vorstellen konnte, wie er bei Einsätzen gegen randalierende Demonstranten getragen wurde. Es war der Mann, den Emma zur Verfügung gestellt hatte, Mike, Nachname unbekannt. »Hallo«, sagte DeMarco, als er sich neben Mike auf die Bank setzte. »Hallo, Joe«, antwortete Mike, ohne DeMarco anzusehen. Seine Augen hörten keinen Moment auf, das Gebäude auf der anderen Straßenseite zu mustern. Sie wanderten von einem Ausgang zum nächsten und gelegentlich über einen Parkplatz in der Nähe. Wenn Emma einem jemanden schickte, bekam man einen Profi. »Wie läuft es?«, fragte DeMarco. »Als würde man Farbe beim Trocknen beobachten«, antwortete Mike. »Er verlässt sein Haus um sechs Uhr dreißig und trifft hier um Punkt acht ein. Die 395 war heute früh keine Straße, sondern ein verdammter Parkplatz. Er betritt sofort das Haus und bleibt den ganzen Vormittag über drin. Was er dort macht, kann ich nicht sagen. Um zwölf kommt er raus, holt sich bei einem Straßenverkäufer einen Burrito, spaziert einmal um die Mall herum und kehrt schließlich wieder ins Gebäude zurück.« »Hat Mattis bemerkt, dass Sie ihn beschatten?« Jetzt sah Mike ihm in die Augen. Sein Blick beantwortete DeMarcos Frage besser, als es Worte vermocht hätten. »Und ich vermute, dass während seines mittäglichen Spaziergangs niemand mit ihm gesprochen hat.« 76
»Sie vermuten richtig«, sagte Mike. Sie saßen eine Weile schweigend da. Mike beobachtete weiter das Haus, DeMarco beobachtete die Frauen, die vorbeigingen. Dann dachte er noch einmal über den Bericht des FBI-Mannes nach. Was Edwards getan hatte, faszinierte ihn. Er konnte sich kaum vorstellen, wie jemand im Dunkeln kauerte, in einem klaustrophobisch engen Loch, zwei Tage lang, um auf die Gelegenheit zum Schuss zu warten – und wie dieser Jemand dann den Mumm hatte, im Loch zu bleiben, während das FBI die Umgebung nach Beweisen absuchte. Das brachte DeMarco auf einen anderen Gedanken: Warum hatte er ausgerechnet in diesem Moment geschossen? Es musste doch einfacher gewesen sein, den Präsidenten zu erwischen, während er am Fluss angelte. Stattdessen hatte er bis zum Tag der Abreise des Präsidenten gewartet, bis er von seinen Leibwächtern umringt war. Dann erinnerte er sich daran, dass Prudom die Patrouillen des Secret Service erwähnt hatte, die sich auf der Böschung umgesehen hatten, während der Präsident angelte. Vielleicht hatte das Edwards davon abgehalten, früher zuzuschlagen. Auch das nötige Geschick, sich in die Sicherheitszone hineinund wieder hinauszuschleichen, war bemerkenswert. Vor dem Attentat musste Edwards an der Postenkette des Secret Service vorbeikommen, um zur Schießscharte zu gelangen, die er zuvor angelegt hatte. Nachdem die Spurensicherung des FBI eingetroffen war, hatten die Leute nach Prudoms Angaben sechzehn Stunden pro Tag gearbeitet, und wenn sie Feierabend hatten, war die Umgebung bewacht worden, um Neugierige abzuhalten und den Tatort zu sichern. Trotzdem hatte der Attentäter sein Versteck verlassen, vermutlich einen Tag nach dem Anschlag, und war entweder die Böschung hinauf- oder zum Fluss hinuntergeklettert. Dabei hatte er seine gesamten Abfälle und seine Ausrüstung mitgeschleppt. Dann war er einfach an allen Leuten, die die Umgebung bewacht hatten, vorbeigestapft. 77
Auch das Gewehr war ein faszinierender Aspekt. Warum hatte Edwards die Tatwaffe nach Hause mitgenommen? Warum hatte er sie nicht bei der erstbesten Gelegenheit verschwinden lassen? Es machte fast den Eindruck, als würde … »Haben Sie jemals Bilder von Mickey Mantle gesehen, Joe?«, sagte Mike. »Ich meine nicht aus der Zeit, als er schon schwer krebskrank war, sondern als er noch gespielt hat.« »Klar«, sagte DeMarco. »Genauso sieht dieser Typ aus. Genauso wie der alte Mick, die Nummer sieben der New York Yankees. Warum beschatte ich jemanden, der für den Secret Service arbeitet und wie Mickey Mantle aussieht, Joe?« DeMarco erhob sich von der Bank. »Ich melde mich morgen wieder bei Ihnen, Mike. Danke, dass Sie mir bei dieser Sache helfen.« »Kein Problem, Joe«, sagte Mike. »Aber wenn ich noch einen weiteren Tag lang auf einer Betonbank in der Sonne hocke, werde ich zum Amokläufer. Und wenn das passiert, sind Sie mein erstes Opfer.« DeMarco, der Luchs, wohnte in einem kleinen Reihenhaus an der P Street in Georgetown. Der gesamte Reihenhauskomplex war aus derselben Zelle geklont – schmale, zweistöckige Bauten aus weiß gestrichenen Ziegelsteinen. Die Fenster waren mit schmiedeeisernen Gittern beschlagen, Efeu klammerte sich an die Wände, und im Frühjahr blühten Azaleen in den Blumenbeeten. Hier lebte es sich gemütlich, und seine Nachbarn und er taten so, als wären die kunstvoll gestalteten schwarzen Gitter vor den Fenstern im Erdgeschoss aus rein ästhetischen Gründen angebracht worden. Er hatte das Haus in dem Jahr gekauft, in dem er geheiratet hatte. In DeMarcos Haus sah es aus, als wären vor kurzem Einbrecher mit einem Möbelwagen vorgefahren und hätten alles ausgeräumt, was noch einigen Wert besaß. In gewisser Weise 78
traf das sogar zu. Das Haus war einst mit hochwertigen Möbeln, Orientteppichen und kostbaren Kunstwerken eingerichtet gewesen, und nun enthielt es nur noch ein paar ausgewählte Stücke, die DeMarco bei zwei Garagenverkäufen an einem Samstagmorgen erstanden hatte. Die Surround-Anlage im Wohnzimmer war durch einen einfachen Fernseher mit SiebzigZentimeter-Bildröhre auf einem billigen Metallständer ersetzt worden. Vor dem Fernseher stand ein klobiger Sessel und daneben eine Kompaktanlage, die den doppelten Zweck eines Radios und einer Abstellfläche für seinen Drink beim Lesen oder Fernsehen erfüllte. DeMarco warf seine Anzugjacke auf den Sessel – der Garderobenständer aus Eichenholz, der neben der Tür gestanden hatte, stand dort nicht mehr – und ging in die Küche. Jeder seiner Schritte auf dem nackten Holzfußboden hallte durch das Haus wie Betonungszeichen in einem Sonett an die Einsamkeit. Als seine Frau ihn verließ, hatte sie sich dagegen entschieden, das Haus zu behalten. Ihr neuer Liebhaber hatte schon ein Haus. Aber die Möbel ihres Liebhabers gefielen ihr nicht besonders. Also hatte ihr Anwalt DeMarco eine Abmachung vorgeschlagen: Wenn er in die Scheidung einwilligte, brauchte er keinen Unterhalt zu zahlen und durfte seine Rente und das mit einer hohen Hypothek belastete Haus behalten. Dafür bekam seine Frau alle Möbel und sonstigen Einrichtungsgegenstände sowie das gesamte Geld auf ihrem gemeinsamen Sparkonto, den Gegenwert seiner Lebensversicherungen und das bessere ihrer beiden Autos. DeMarcos Abendessen bestand aus zwei Stücken einer kalten Pizza, die er vor dem Kühlschrank stehend verspeiste. Das Abendessen am Vortag hatte aus Teilen derselben Pizza bestanden, nur dass sie da heiß aus der Verpackung gekommen war. DeMarco war ein guter Koch, und er kochte sehr gerne, aber nicht für nur eine Person.
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Nach dem Essen wurde er unruhig, und die Pizza lag ihm wie ein Felsblock aus Käse im Magen. Er zog sich Shorts an, dazu ein ärmelloses Redskins-Shirt und abgewetzte Tennisschuhe, dann schleppte er sich langsam in das Obergeschoss seines Hauses hinauf. Für eine kurze Zeitspanne hatte seine Ex eins der beiden Schlafzimmer als Fitness-Studio benutzt und meterweise guten Leinenstoff ruiniert, während sie darüber jammerte, dass die Fenster auf der Nordseite kein Licht hereinließen. Diesem Hobby hatte sie sich genauso wie allen anderen nur für eine kurze Phase gewidmet, bis sie wieder zu den Aktivitäten zurückgekehrt war, in denen sie es zur Meisterschaft gebracht hatte: Einkaufen und Fremdgehen. Jetzt waren die Schlafzimmer ausgeräumt, und der einzige Gegenstand, der sich im Obergeschoss von DeMarcos Haus befand, war ein fünfzig Pfund schwerer Sandsack, der träge an einem Deckenbalken baumelte wie ein kleiner, dicker Mann, der sich erhängt hatte. Wenn DeMarco gefragt wurde, wozu er diesen schweren Sandsack brauchte, antwortete er mit einem Schulterzucken, dass er ihn zum sportlichen Training benutzte. In Wirklichkeit genoss er es, ein unbelebtes Objekt zu verprügeln, wenn er schlechte Laune hatte. Er zog seine Handschuhe an, wärmte sich mit etwas Schattenboxen auf und griff dann den Sandsack an. Der Sack überstand die erste Runde recht gut, doch in der zweiten musste er viel einstecken, denn schweißüberströmt schlug DeMarco kräftig auf das Leder ein, während er sich vorstellte, wie er dem Liebhaber seiner Frau mit jedem Hieb eine Rippe brach. Dieser Liebhaber war übrigens sein Vetter. DeMarco hatte sich so sehr in seine Gewaltphantasien hineingesteigert, dass er fast die Türklingel überhört hätte. Auf seiner Veranda stand ein gedrungener Mann in den Dreißigern, der einen grauen Anzug trug. Als DeMarco die Pistole im Schulterholster unter seiner Anzugjacke bemerkte, hatte der Fremde plötzlich seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Hinter dem 80
Mann stand eine schwarze Limousine mit Regierungskennzeichen am Straßenrand. »Sind Sie Joseph DeMarco?«, fragte der Mann. »Ja«, sagte DeMarco, der immer noch darum kämpfte, wieder zu Atem zu kommen. »Wie kann ich Ihnen behilflich sein?« DeMarco hielt es für klug, sich gegenüber Bewaffneten höflich zu benehmen. »Patrick Donnelly, der Leiter des Secret Service, würde sich gerne mit Ihnen unterhalten, Sir. Würde es Ihnen etwas ausmachen, für einen Augenblick zu ihm in seinen Wagen zu steigen?« Ach du Scheiße, dachte DeMarco. Ach du ganz große Scheiße! Er bearbeitete diesen Fall seit kaum zwei Tagen, und schon hatte der Secret Service Wind davon bekommen. Er überlegte, ob er dem Agenten die Tür vor der Nase zuschlagen und sich unter seinem Bett verstecken sollte. »Würden Sie mir jetzt bitte folgen, Sir?«, drängte der Mann im Anzug. DeMarcos Würde siegte über die Straußentaktik. »Kein Problem«, sagte er. Seine Stimme klang zuversichtlicher, als er sich fühlte. Donnellys Fahrer hielt DeMarco die Tür auf. Dieser kam sich in seinen Shorts und dem Redskins-Shirt ziemlich blöd vor, aber er stieg tapfer in den Wagen und ließ sich auf den Klappsitz gegenüber den Rücksitzen fallen, damit er Patrick Donnelly in die Augen sehen konnte. Der bewaffnete Fahrer schloss die Wagentür und blieb draußen im Abstand von ein paar Metern stehen. Anscheinend legte Mr. Donnelly Wert darauf, dass der Mann ihr Gespräch nicht mithören konnte. Pat Donnelly starrte DeMarco an, Feindseligkeit im Blick. Er war ein schlanker Mann Ende sechzig, kaum größer als eins siebzig. Sein Haar war zu einem glänzenden Schwarz gefärbt und auf der linken Seite so präzise gescheitelt, dass er ein Lineal benutzt haben musste, um den Kamm zu führen. Er hatte ein 81
schmales Gesicht, eng anliegende Ohren und kleine schwarze Augen mit Hängelidern. Sein Mund war ein brutaler Schlitz, und sein Gesicht sah nicht mehr frisch rasiert aus. DeMarco fühlte sich an einen Fechter erinnert – schlank, drahtig, gemein und jederzeit bereit, echte Degen und Schwerter zu benutzen, wenn sich die Gelegenheit ergab. DeMarco ignorierte Donnellys starrenden Blick und sah sich beiläufig in der Limousine um. Er betrachtete die mit Leder bezogenen Polster, den kleinen Fernseher, die Bar, die in die Rücklehne eines Vordersitzes eingebaut war. Der Klappsitz war bequemer als sein eigener Sessel, und er wettete, dass Donnellys Fernseher einen besseren Empfang als seiner hatte. »Ich fürchte, ich werde Schweißflecken auf Ihren Sitzbezügen hinterlassen«, sagte er zu Donnelly. »Ich habe gerade trainiert.« Du kleiner Scheißer, fügte er lautlos hinzu. »Halten Sie die Klappe«, sagte Donnelly. »Sie waren heute in Middleburg, wo Sie einen Agenten des Secret Service befragt haben, der dort seinen Ruhestand verbringt. Wie zum Henker sind Sie auf die Idee gekommen, Sie könnten die Befugnis besitzen, so etwas zu tun?« DeMarco gab Donnelly die gleiche Antwort, die er auch Frank Engles gegeben hatte. »Der Kongress macht sich Sorgen um die Sicherheit des Präsidenten, Mr. Donnelly, und …« »Erzählen Sie mir keinen Scheiß«, sagte Donnelly. »Sie haben mit Frank Engles gesprochen, weil Banks Sie mit diesem Blödsinn über Billy Mattis voll gesülzt hat.« DeMarcos Gesicht verriet keine Regung, aber in seinen Eingeweiden erwachte ein kleines, lebhaftes Tier, das an seiner Magenschleimhaut knabberte. Er wusste genau, wie Donnelly davon erfahren hatte. Engles, der seiner alten Truppe immer noch treu ergeben war, hatte irgendeinen Kumpel angerufen und ihm von DeMarco und seinen Fragen erzählt. Danach war die Neuigkeit sofort über die Befehlskette an Donnelly weitergegeben worden. Auch wenn kein anderer wusste, worum es ging, 82
kannte Donnelly Banks’ Bedenken wegen Mattis. Vielleicht hatte Donnelly sogar Banks’ Terminkalender überprüfen lassen und in Erfahrung gebracht, dass er sich mit DeMarco getroffen hatte. DeMarco hätte für seinen Besuch bei Engles einen falschen Namen benutzen sollen. »Was am Chattooga passiert ist, ist Sache des FBI und des Secret Service, Mister, und Sie werden sich da raushalten. Haben Sie verstanden? Man hat nicht nur den Täter gefunden, sondern es arbeiten dreihundert verdammte FBI-Agenten an der Aufklärung des Attentats! Selbst wenn Sie die Befugnis hätten – was zum Henker glauben Sie, werden Sie herausfinden, was meine Leute und die vom FBI nicht längst wissen?« Bevor DeMarco antworten konnte, fuhr Donnelly fort: »Ich leite den Secret Service, Sie Idiot. Das bedeutet, dass ich alles über jeden herausfinden kann. Ich weiß zum Beispiel, dass Sie John Mahoneys Gorilla sind. Wenn es um einen leichten Auftrag geht, wenn jemand wegen ein paar unbezahlter Rechnungen ein schlechtes Gewissen kriegen soll, schickt Mahoney seinen Personalchef, diesen Fettsack, der mit Hosenträgern rumläuft. Aber wenn er keine Kompromisse eingehen will, wenn er jemandem die Hölle heiß machen will, dann schickt er Sie.« »Ich arbeite nicht für den Sprecher des Repräsentantenhauses«, sagte DeMarco. »Ich bin ein unabhängiger …« »Blödsinn! Es gibt keine offiziellen Daten, die Sie mit Mahoney in Verbindung bringen, aber Mahoney hat Ihren Posten eingerichtet. Sonderberater – dass ich nicht lache! Ich weiß, dass Sie für Mahoney arbeiten.« Aber kannst du es auch beweisen?, fragte sich DeMarco. »Ich weiß auch, warum Mahoney nicht offiziell mit Ihnen in Verbindung gebracht werden möchte. Ihr Vater war Gino DeMarco, ein krimineller Schwanzlutscher, der für Carmine Taliaferro gearbeitet hat. Vor fünfzehn Jahren hat Ihr Daddy
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drei von Taliaferros Rivalen kaltgemacht, bevor der vierte Glück hatte und ihn ausknipsen konnte. So war es doch, nicht wahr?« DeMarco sagte nichts, aber er hatte das Bedürfnis, Donnelly die kleinen Ohren abzureißen, weil er seinen Vater als Schwanzlutscher bezeichnet hatte. »Das Erstaunlichste ist der Umstand«, sagte Donnelly, »dass Mahoney Sie eingestellt hat, nachdem Sie ihr Jurastudium abgeschlossen hatten. Ich weiß nicht, warum er Sie eingestellt hat – das ist das einzige Geheimnis, das ich bislang nicht enträtseln konnte. Aber ich weiß, dass er es getan hat. Und ich weiß auch, dass Ihr Vater der Grund ist, warum Mahoney die Verbindung zu Ihnen unter Verschluss hält. Er will nicht ständig jedem erklären müssen, was er mit Ihrem Spaghetti-Arsch zu tun hat.« Donnelly beugte sich vor, sodass sein Gesicht nicht mehr allzu weit von DeMarco entfernt war. »Deshalb möchte ich Sie etwas fragen, mein Junge. Wir beide wissen, was für ein egoistisches Arschloch John Mahoney ist. Was meinen Sie, wie lange Sie noch Ihren Job behalten werden, wenn die Presse von Ihnen und Ihrem Vater und Ihrer Arbeit für den Sprecher des Repräsentantenhauses erfährt?« »Haben Sie persönlich dafür gesorgt, dass Billy Mattis der Leibwache des Präsidenten zugeteilt wird, Mr. Donnelly?«, fragte DeMarco. »Was …« Donnelly unterbrach sich und holte tief Luft. »Jetzt hören Sie mir mal ganz genau zu: Meine Agenten sind sauber. Alle haben hervorragende Führungszeugnisse, insbesondere Mattis, und alle haben Tests mit dem Lügendetektor bestanden. Banks ist ein Idiot, wenn er glaubt, der Secret Service könnte irgendwas mit dieser Sache zu tun haben.« »Warum haben Sie das Warnschreiben dann nicht analysieren lassen?« »Sie unverschämter Drecksack!«, stieß Donnelly hervor. Sein Gesicht wurde puterrot. 84
Das genügt, dachte DeMarco. Jetzt kannst du an einem Herzinfarkt verrecken, du kleiner Scheißer. Donnelly öffnete den Mund, um loszubrüllen, aber er schaffte es mit Mühe, seine Emotionen wieder unter Kontrolle zu bekommen. Er zeigte mit dem Daumen auf DeMarcos Haus. »Ich schlage vor, dass Sie möglichst bald eine Immobilienannonce aufgeben«, sagte er. »Denn Sie werden nicht mehr allzu lange in dieser Stadt wohnen.« »Tatsächlich?«, fragte DeMarco. Donnelly lächelte. Er hatte kleine, scharfe Zähne. »Für Ihren Job brauchen Sie eine Unbedenklichkeitserklärung, Sie Klugscheißer. Raten Sie mal, welche Behörde für die Sicherheitsüberprüfung zuständig ist. Jetzt verschwinden Sie.« DeMarco verließ den Wagen und schloss leise die Tür. Während er zusah, wie sich die Rücklichter der Limousine entfernten, stand er reglos mitten auf der Straße. Er spürte, wie der Schweiß an seinen Armen und Beinen kalt wurde. Also wusste Donnelly über seinen Vater Bescheid.
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12 Eine Frau meldete sich an Emmas Telefon. Sie klang genauso wie Emma, die gleiche tiefe Stimme, der gleiche Tonfall, aber es war nicht Emma. Die Frau, wer immer sie war, reichte das Telefon an Emma weiter. »Wenn Sie mir etwas verkaufen wollen«, sagte Emma, »mache ich Sie ausfindig, brenne Ihr Haus nieder und töte Ihren Hund.« Sie klang, als würde sie es ernst meinen. »Ich bin’s, Joe. Wäre es nicht einfacher, wenn du dich auf eine Robinson-Liste setzen lässt, Emma?« »Diese Listen sind bei uns verfassungswidrig.« »Das mit dem Niederbrennen des Hauses und der Tötung des Hundes etwa nicht?« »Warum rufst du mich zu einer so unchristlichen Zeit an?« »Emma, es ist erst neun.« »Aha? Na gut. Was willst du?« »Patrick Donnelly hat mich vorhin besucht und bedroht. Als wir uns neulich mit deiner Freundin, dieser Cellistin, getroffen haben, hatte ich den Eindruck, dass du etwas über ihn weißt. Ich würde gerne wissen, was du weißt.« »Er ist zu dir nach Hause gekommen?« »Ja.« Emma zögerte kurz. »Also gut«, sagte sie. »Komm vorbei.« Ihre Stimme klang seltsam. Als wäre sie … besorgt. DeMarco hatte nur äußerst selten erlebt, dass Emma wegen einer Sache wahrhaftig besorgt war. Als Emma die Tür öffnete, trug sie Jeans, ein weißes T-Shirt und einen blauen Kittel, der mit Farbe beschmiert war. DeMarco wusste nicht, dass sie malte. Wieder etwas, das er nur durch einen Zufall über sie erfahren hatte. Sie führte DeMarco in ein Wohnzimmer, das geeignet war, das Titelblatt einer Einrich86
tungszeitschrift zu zieren, und goss zwei Gläser Whiskey ein. Ihren Drink kippte sie in einem Zug hinunter, um sich gleich darauf einen zweiten einzugießen. Bevor DeMarco etwas sagen konnte, betrat eine junge Frau das Wohnzimmer. Ihm fiel sofort ihre Ähnlichkeit mit Emma auf. Sie war groß und schlank wie Emma, hatte Emmas Nase und Emmas Kinn, aber ihr Haar war dunkler, und ihre Augen waren braun. Die junge Frau warf DeMarco einen misstrauischen Blick zu. »Julie, das ist Joe DeMarco. Ein Freund von mir.« Heute Abend gab es keine Spitzfindigkeiten, dass DeMarco ein Geldeintreiber sei oder so. Emma war kaum wiederzuerkennen. Die junge Frau nickte Joe zu und wandte sich dann wieder an Emma. »Ich bin müde. Wahrscheinlich der Jetlag. Ich werde mich jetzt hinhauen«, sagte Julie. Ich bin müde, Mom. Das hörte DeMarco aus ihren Worten heraus. Er war überzeugt, dass die junge Frau Emmas Tochter war. »Eine gute Idee, Schatz«, sagte Emma. »Wir klären die Sache morgen früh.« Und Emma klingt eindeutig mütterlich, dachte DeMarco fassungslos. Eine mütterliche Emma kam ihm außergewöhnlicher vor als zwei schmusende Schlangen. Nachdem Julie das Wohnzimmer verlassen hatte, sagte DeMarco: »Ist alles in Ordnung, Emma?« Emma tat seine Frage mit einem Kopfschütteln ab. »Erzähl mir, was Donnelly zu dir gesagt hat.« DeMarco teilte ihr die wesentlichen Punkte seiner recht einseitigen Unterhaltung mit Donnelly mit. »Ich wusste das mit deinem Vater«, sagte Emma. DeMarco nickte. Es überraschte ihn nicht im Geringsten.
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»Ich weiß, dass es ziemlich blöd klingt, aber er war kein schlechter Mensch.« Emma sagte nichts dazu. Nur ihre Augen weiteten sich für einen Moment voller Erstaunen. »Ja, ich weiß, was du jetzt denkst. Er war ein Killer. Wie konnte er kein schlechter Mensch gewesen sein? Aber in meinen Augen, in den Augen seines Sohnes, war er in Ordnung. Er war ein ruhiger Mann, nicht so ein Mafia-Großkotz, der ständig beweisen muss, wie taff er ist. Und wenn mein Vater nicht – äh – arbeitete, haben wir wie jede andere Familie auch gemeinsam zu Abend gegessen, und die Gespräche drehten sich meistens um mich, sein einziges Kind. Wie ich mich in der Schule und im Sport machte, warum ich keine besseren Zensuren bekam. Solche Sachen. Er war gut zu meiner Mutter, und er war gut zu mir. Er ging mit mir fast jeden Samstag zu den Yankees, wenn sie in der Stadt spielten, und an jedem Sonntag stellte er sich in die Küche und richtete das Frühstück her.« DeMarco schwieg einen Moment und erinnerte sich an seinen Vater, wie er mit ihm auf der Zuschauertribüne im Stadion der Yankees saß, eine alte Mütze auf dem Kopf, eine nicht angezündete Zigarre im Mundwinkel. Er hatte nicht viel gejubelt, sondern die meiste Zeit nur beobachtet, wie Joe sich amüsierte. Und er erinnerte sich an seine Mutter, wenn sie vom Spiel nach Hause kamen und sie mit seinem Vater schimpfte, weil er seinem Sohn so viel ungesundes Zeug zu essen gab. Dann stand der große Kerl, dessen Hände Armierungseisen verbiegen konnten, zerknirscht mit gesenktem Kopf da, während seine Augen unter der Mütze vor Vergnügen funkelten. Eins wusste DeMarco ganz genau – dass seine Mutter niemals Angst vor seinem Vater gehabt hatte. »Erst mit etwa fünfzehn Jahren habe ich erfahren, was er machte«, sagte DeMarco, »und selbst dann fiel es mir sehr schwer, es zu glauben. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen,
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wie er jemanden in die Sümpfe von New Jersey verschleppt und ihm eine Kugel in den Kopf jagt.« »Hast du jemals mit ihm über seinen Job gesprochen?«, fragte Emma mit sanfter Stimme. »Ich habe es einmal versucht, als ich sechzehn war. Ich habe ihm irgendeine blöde Frage gestellt, ›Stimmt es, Dad, dass du für Mr. Taliaferro arbeitest?‹ oder so. Er wusste sofort, was ich meinte. Aber mein Vater hat nicht gerne über persönliche Dinge geredet.« »Das erinnert mich an jemanden, den ich flüchtig kenne«, sagte Emma und sah DeMarco an. »Jedenfalls hat er nur irgendwas gesagt wie ›Man kann sich sein Leben nicht immer aussuchen‹ und dann das Thema gewechselt. Wir haben nie wieder darüber gesprochen.« »Familien«, sagte Emma und meinte damit vielleicht auch ihre eigene. DeMarco nahm einen Schluck von seinem Drink, während sein Geist immer noch in der Vergangenheit weilte. »Er hat mich dazu überredet, Jura zu studieren«, sagte DeMarco lächelnd. »Ich glaube, er hat sich gedacht, ich könnte sehr viel Geld machen, wenn ich seine Kollegen verteidige.« »Und was war nun der Grund, warum Mahoney dich eingestellt hat, nachdem du mit dem Studium fertig warst?«, fragte Emma. DeMarco lachte. »Ich habe eine Patin, eine Freundin meiner Mutter, die ich eigentlich nur als Tante Connie kenne. Sie lebt inzwischen in Albany und arbeitet für eine Gewerkschaft, aber in jungen Jahren hatte sie einen Job in Washington. Inzwischen ist Tante Connie etwas in die Breite gegangen, sie hat einen Schnurrbart und ein Gesicht wie ein trauriges Pferd. Aber als sie jung war, sah sie aus wie Sophia Loren. Sie war einfach eine Wucht.« »Ah, ich glaube, ich weiß, was jetzt kommt«, sagte Emma. »Darauf kannst du wetten«, sagte DeMarco. »Auf jeden Fall 89
hat Tante Connie – die übrigens nie geheiratet hat – einen Sohn, der einen richtig guten Posten bei einer sehr großen Bank hat. Und Tante Connie ist Italienerin, wie ich vielleicht schon angedeutet habe, aber ihr Sohn hat eine erstaunliche Ähnlichkeit mit einem großen Kerl irischer Abstammung, den ich ganz gut kenne.« »Hab ich’s mir gedacht«, sagte Emma. »Ich hatte meinen Abschluss ungefähr zur gleichen Zeit in der Tasche, als mein Vater getötet wurde. Ich habe es meiner Mutter – und nicht zuletzt auch meinem Vater – zu verdanken, dass ich nie Ärger mit dem Gesetz hatte. Ich wurde niemals verhaftet, geschweige denn für irgendein Verbrechen verurteilt, aber wegen meines Vaters bekam ich keinen Job in der juristischen Zunft. Keine einzige Anwaltskanzlei in der westlichen Hemisphäre war bereit, Gino DeMarcos Sohn auf ihre Gehaltsliste zu setzen. Meine Mutter beklagte sich darüber bei meiner Patentante, und ich glaube, sie hat daraufhin mit Du-weißt-schon-wem gesprochen. Vielleicht hat sie gedroht, einen Vaterschaftstest bei ihm und einem gewissen Bankmitarbeiter machen zu lassen. Und dieser Du-weißt-schon-wer – der glücklich verheiratete Vater von drei ehelichen Kindern – fügte sich Tante Connies Wünschen und gab ihrem armen, unvermittelbaren Patenkind einen Job.« »Sie hat ihn also erpresst.« »Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Es mag sein, dass Mahoney ihr einfach nur aus alter Zuneigung einen Gefallen getan hat. Ich weiß es nicht. Was auch immer dahinterstecken mag, weder sie noch Mahoney haben jemals ein einziges Wort von dem bestätigt, was ich dir gerade gesagt habe. Ich weiß nur, dass ich eines Tages völlig unverhofft einen Anruf vom Sprecher des Repräsentantenhauses erhielt, der mir einen Job anbot.« »Einen Job, den du schnellstens kündigen solltest.« »Um anschließend was zu tun, Emma?« Diese Diskussion hatten sie schon einmal geführt. 90
»Egal. Was wird Mahoney tun, wenn du ihm sagst, dass Donnelly überlegt, ob er der Presse von deinem Vater erzählen soll?« »Ich weiß es nicht. Ich werde morgen mit ihm reden. Jetzt sag mir, was du über Donnelly weißt.« »Der kleine Pat«, sagte Emma, »ist ein harter Brocken.« Emma erzählte, dass Donnelly seit einundvierzig Jahren für den Secret Service arbeitete, davon fünfzehn als Leiter der Organisation. Sein Ruf war fast genauso wie der von J. Edgar Hoover. Er führte die Organisation mit eiserner Hand und erließ mit der Launenhaftigkeit eines Königs Richtlinien für das Verhalten der Agenten. Eine weitere Ähnlichkeit zu Hoover offenbarte das Gerücht, dass er die Macht seines Amtes angeblich dazu benutzte, um das Privatleben von Bürgern auszuspionieren. »Nach dem versuchten Attentat auf Reagan im Jahr ’81 hat man versucht, ihn rauszuwerfen«, sagte Emma. »Damals war er stellvertretender Leiter und ließ bereits durchblicken, aus welchem Holz er geschnitzt war. Aber Donnelly verschanzte sich und machte klar, dass er im Fall einer Kündigung den Paparazzi verraten würde, wo die Knochen vergraben waren. Er hat Reagans Amtszeit überstanden, aber nach dem Anschlag am Chattooga fordern wieder einige Leute, dass sein Kopf rollen muss.« »Wer fordert es und warum?«, fragte DeMarco. »Jeder, der schon sehr lange dabei ist. Er ist ein hinterhältiger, intriganter kleiner Scheißer, der Politiker erpresst, um das zu kriegen, was er haben will.« »Was will er? Geld?« »Nein. Wie ich gehört habe, soll er sehr wohlhabend sein. Er will Macht. Macht über Politiker, mehr Macht für seinen Secret Service, genug Macht, um seinen Job bis zum Lebensende zu behalten.«
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»Wenn er so viel Geld hat, warum setzt er sich dann nicht einfach zur Ruhe?«, fragte DeMarco. Er konnte sich nicht vorstellen, dass jemand weiterhin als Staatsbediensteter arbeiten wollte, sobald er pensionsberechtigt war. »Ich habe es dir doch gesagt. Er liebt seinen Job. Der Secret Service ist seine Privatarmee. Er führt sich wie der Diktator einer Bananenrepublik auf. Und wenn die Gerüchte stimmen, dass er gegen jeden Politiker etwas in der Hand hat, dann wird er seinen Posten vielleicht niemals freiwillig räumen.« »Wie hat er so viel Geld gescheffelt?« Emma runzelte die Stirn. »Ich weiß es nicht«, sagte sie und schien sich selber darüber zu wundern. Sie saß einen Moment nachdenklich da, dann stand sie von der Couch auf, ging zum Telefon und wählte eine Nummer. »George, hier ist Emma. Mir geht es gut. Wie geht es dir?« Sie plauderte etwa fünf Minuten lang mit George, wer immer das sein mochte, bevor sie auf ihr eigentliches Anliegen zu sprechen kam. Sie fragte George, was er über Patrick Donnellys finanzielle Verhältnisse wusste, und danach hörte DeMarco auf dieser Seite nur noch ein gelegentliches »Aha«, »Oh« oder »Tatsächlich?« Dann sagte sie zu George, dass sie sich demnächst unbedingt zum Essen verabreden müssten, und legte auf. »George sagt …« »Wer ist George?«, wollte DeMarco wissen. »George sagt, dass er keine Ahnung hat, woher Donnellys Geld stammt. Und wenn George es nicht weiß, weiß ich nicht, wer es sonst noch wissen könnte. Aber George weiß, dass Donnelly in Pennsylvania in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen ist. Also scheint er nichts geerbt zu haben. Er war nie verheiratet, sodass auch diese Geldquelle nicht in Frage kommt. Und er hat nie in der Privatwirtschaft gearbeitet. Morgen werde ich jemanden anrufen, der vielleicht mehr darüber herausfinden kann.«
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DeMarco vermutete, dass dieser Jemand ein Hacker war, aber er verzichtete darauf, sich diesen Verdacht bestätigen zu lassen. Emma trank ihr Glas aus und ging noch einmal zur Bar. DeMarco hatte noch nie erlebt, dass sie sich auf diese Weise zuschüttete. Emma goss sich einen neuen Drink ein und kehrte zu DeMarco zurück. »Donnelly handelt nicht mehr rational«, sagte sie. »Wie meinst du das?« »Donnelly ist ein guter Bürokrat, und gute Bürokraten gehen keine Risiken ein. Es ist, wie Banks gesagt hat: Als dieser Brief hereinkam, hätte Donnelly unverzüglich den inneren Zirkel alarmieren müssen. Und es hätte ihm scheißegal sein müssen, ob er dadurch dem Präsidenten den Angelurlaub mit Montgomery verdirbt. Warum ist er also nicht auf Nummer sicher gegangen?« »Vielleicht …«, begann DeMarco. »Und warum ist er höchstpersönlich zu dir gekommen? Leute in seiner Stellung sprechen keine Drohungen aus, die direkt auf sie zurückgeführt werden können. Er legt nicht nur ein ungewöhnlich intensives Interesse an Billy Mattis an den Tag, er manövriert sich damit außerdem in eine unsichere Position. Was könnte ihn dazu veranlassen, sich so zu verhalten, Joe? Und welche Verbindung könnte es zwischen einem bescheidenen Agenten und dem Leiter des Secret Service geben, einem Mann, der länger als Gott auf seinem Posten sitzt? Donnelly benimmt sich wie jemand, der …« Bevor Emma ihre Überlegung ausführen konnte, war ein erstickter Schrei aus einem der hinteren Zimmer zu hören. Es klang, als hätte Julie im Schlaf geschrien. Emma stand sofort auf. Ihr Gesicht zeigte tiefe Besorgnis. »Du musst jetzt gehen, Joe. Ich muss mich um … etwas kümmern.« »Was ist mit Julie los, Emma? Du weißt, dass ich bereit bin, dir in jeder erdenklichen Weise zu helfen.«
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Emma, die immer so gelassen wirkte, die sich anscheinend durch nichts aus der Ruhe bringen ließ. Aber nicht an diesem Abend. Heute wirkte sie wie ein in die Enge getriebenes Tier. Ein sehr gefährliches in die Enge getriebenes Tier. »Danke, Joe, aber … Gute Nacht.«
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13 »Sir, haben Sie gehört, was ich Ihnen gerade gesagt habe? Donnelly weiß, dass ich für Sie arbeite, und er weiß auch über meinen Vater Bescheid. Er droht damit, die Presse zu informieren.« Mahoney reagierte immer noch nicht. Seine ganze Aufmerksamkeit wurde vom beeindruckenden Brustkorb einer Kellnerin in der Nähe beansprucht. DeMarco wusste, dass der Mann schon fast siebzig war, aber seine sexuelle Obsession war größer als die eines durchschnittlichen Teenagers. Den Viagra-Erfinder hatte er vermutlich in seinem Testament berücksichtigt. »Auch wenn er weiß, wer Ihr Vater ist«, sagte Mahoney, nachdem die Kellnerin aus seinem Blickfeld verschwunden war, »kann er noch lange nicht beweisen, dass Sie für mich arbeiten.« »Aber wenn er es doch kann, haben Sie Verbindungen zu den Gewerkschaften, und die Gewerkschaften haben Verbindungen zur Mafia, und die Mafia hat Verbindungen zu mir. Dabei könnte herauskommen, dass die Mafia Sie in der Tasche hätte und ich der Kontaktmann vor Ort wäre, der Sie im Auge behalten soll.« Der Sprecher bedachte DeMarco mit einem berechnenden Blick. Anscheinend rechnete er sich die Vorteile aus, die es mit sich brächte, wenn er DeMarco weiterhin beschäftigte. Nach fünfzehn Jahren voller zwielichtiger Schandtaten für Mahoney, eine Arbeit, die nur selten etwas mit juristischer Berufspraxis zu tun hatte, war DeMarco klar, dass er schwerer für einen neuen Job zu vermitteln sein würde als die üppig gebaute Kellnerin – die in diesem Moment an ihrem Tisch anhielt. »Möchten Sie noch Kaffee, Mr. Mahoney?«, fragte sie. »Meine Liebe, du bist der Sonnenstrahl an einem tristen Tag im Leben eines alten Mannes«, sagte Mahoney. 95
»Ach, so alt sind Sie doch gar nicht, Mr. Mahoney«, sagte seine Liebe. Ihr war offenbar bewusst, dass sie ihr Trinkgeld hauptsächlich ihrem Lächeln und ihrem Dekolleté und weniger ihrem Service zu verdanken hatte. Mahoney wartete, bis die Kellnerin gegangen war, dann zog er eine kleine Flasche aus der Innentasche seines Anzugs. Er kippte eine Unze Bourbon in seine Kaffeetasse und nahm geräuschvoll schlürfend einen Schluck. »Donnelly wird sich in Acht nehmen«, sagte er. »Wenn er jetzt etwas unternimmt, weiß er genau, dass ich die Sache mit dem Brief an die Medien durchsickern lasse.« »Außerdem hat er angedeutet, dass er an meinem Sicherheitsstatus drehen könnte.« »Das könnte er natürlich tun. Wenn seine Jungs sich Mühe geben, sind Sie anschließend verdächtiger als Osamas Stellvertreter.« »Das ist ja großartig«, sagte DeMarco. »Und was passiert, wenn er das tut?« Mahoney ging nicht auf DeMarcos Frage ein. Er zündete sich einen Zigarrenstummel an, der vor ihm im Aschenbecher gelegen hatte, blies den Rauch himmelwärts und betrachtete den Smog, den er erzeugt hatte. Niemand an den Nachbartischen erinnerte den Sprecher des Repräsentantenhauses daran, dass dies ein Nichtraucherlokal war. »Was gibt es also Neues über diesen Mattis?«, fragte er. DeMarco berichtete ihm, was er bis dato getan hatte: Akten studiert, eine Überprüfung seiner finanziellen Situation in Auftrag gegeben, eine Beschattung von Mattis organisiert, mit Frank Engles in Middleburg gesprochen. Am meisten faszinierte Mahoney das Gerücht, dass Mattis von Donnelly persönlich der Leibwache des Präsidenten zugeteilt worden sei. Alle anderen Bemühungen DeMarcos beeindruckten ihn kaum. »Gibt es irgendeine Verbindung zwischen Mattis und Edwards?«, wollte Mahoney wissen. 96
»Bisher nicht, aber ich warte noch darauf, dass sich ein Kumpel von Emma zurückmeldet.« Mahoney nahm einen weiteren Zug von seiner Zigarre und verarbeitete die Informationen mit den Windungen seines machiavellistischen Gehirns. »Donnelly macht sich verdammt große Sorgen wegen irgendwas«, sagte er. »Dass er Sie besucht hat, war völlig überflüssig. Eine Verzweiflungstat.« Die gleiche Schlussfolgerung, zu der auch Emma gelangt ist, dachte DeMarco. Mahoney lächelte und winkte einem Angestellten des Weißen Hauses zu, der gerade vorbeikam. »Dieser verdammte Wichser«, murmelte er und wandte sich wieder an DeMarco. »Setzen Sie diesen Agenten etwas unter Druck, Joe. Machen Sie ihm Feuer unterm Arsch, wie man so sagt.« »Was genau soll ich machen?«, fragte DeMarco. »Keine Ahnung. Lassen Sie sich etwas einfallen.«
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14 DeMarcos Augenlider fühlten sich an, als hätte sich darunter eine Sandschicht angesammelt, und er vermutete, dass nur noch seine ungeradzahligen Gehirnzellen funktionierten. Es war halb sechs. Morgens. Er saß mit Emma in einem Mietwagen, einem Modell, das seriösen Behördenmitarbeitern angemessen war, und sie warteten darauf, dass Billy Mattis zur Arbeit fuhr. Während DeMarco mit geschlossenen Augen dasaß, den Kopf in unbequemer Haltung gegen das Fenster auf der Beifahrerseite gelehnt, dachte er, dass nur Schweinehirten, Milchmädchen und andere landwirtschaftliche Arbeitskräfte zu so einer unchristlichen Stunde auf den Beinen sein sollten. Emma saß entspannt hinter dem Lenkrad und hing ihren eigenen Gedanken nach. Ihre amüsierte Unnahbarkeit, mit der sie ansonsten ihre Mitmenschen betrachtete, hatte sie auch heute zu Hause gelassen. Der Grund mochte die Uhrzeit sein, aber DeMarco vermutete, dass sie immer noch mit den Problemen ihrer Tochter beschäftigt war. Es überraschte ihn, dass Emma überhaupt hier war. Normalerweise waren Überwachungsjob weit unter ihrer Würde. Als er sie gefragt hatte, warum sie an diesem Morgen aufgekreuzt war, statt Mike zu schicken, hatte Emma nur gesagt: »Ach, ich bin wahrscheinlich nur neugierig, was Billy so treibt.« Vielleicht war es sogar die Wahrheit. Vordergründig mochte sich Emma gegenüber DeMarco verpflichtet fühlen, weil er ihr das Leben gerettet hatte, aber er hatte den Verdacht, der wahre Grund für ihre gelegentliche Unterstützung war nicht so sehr Dankbarkeit, sondern eher Langeweile. Sie liebte den Nervenkitzel der Jagd, auch wenn das Wild, dem DeMarco auf der Spur war, ein zahmes Kätzchen war, verglichen mit den Raubtieren, die sie in ihrem früheren Leben gejagt haben musste. Dann kann 98
noch der Tratschfaktor hinzu. Im Laufe seiner Ermittlungen förderte DeMarco häufig brisante Informationen über die Elite der Stadt zutage, von denen die Betroffenen hofften, dass sie niemals und unter gar keinen Umständen in den Zeitungen auftauchten. Emma reagierte mit einem nur allzu menschlichen Entzücken auf einige Dinge, die DeMarco ihr erzählte, aber er hatte den Verdacht, dass sie einige Bröckchen an ihre früheren Arbeitgeber weitergab, die finsteren, stets wachsamen Gestalten aus den Reihen der DIA. Doch der eigentliche und hauptsächliche Grund für ihre Anwesenheit an diesem Morgen war vermutlich weder Neugier noch Langeweile oder Tratschsüchtigkeit, sondern ihr Patriotismus. Emma mochte sich als die herausragendste Zynikerin der Nation betrachten, aber wenn Mattis oder sonst jemand versucht hatte, den Präsidenten zu töten, und sie mithelfen konnte, einen erneuten Versuch zu verhindern, dann fühlte sie sich verpflichtet, alles in ihrer Macht Stehende dazu beizutragen. Was auch immer ihr Motiv sein mochte, DeMarco war froh, sie dabeizuhaben. Außerdem machte sie sich in dieser Rolle einfach wunderbar. Ihr schlanker Körper steckte in einem praktischen dunklen Hosenanzug, dazu trug sie eine weiße Bluse, deren oberste Knöpfe geöffnet waren, und Schuhe, die sowohl zum Schleichen als auch zum Rennen geeignet waren. Vervollständigt wurde das Ensemble durch eine Waffe – eine große Waffe – in einem Holster an ihrer Hüfte. Emma wirkte professionell, kompetent und tödlich. DeMarco hatte die Waffe für etwas übertrieben gehalten und es ihr gesagt. Worauf sie geantwortet hatte: »Ich bin gerne mindestens genauso gut bewaffnet wie die Person, die ich beschatte, vor allem, wenn es sich um einen potenziellen Mordkomplizen handelt.« DeMarco glaubte immer noch nicht daran, dass sich Billy Mattis irgendeiner Komplizenschaft schuldig gemacht hatte, aber es war noch viel zu früh am Morgen, um sich mit Emma darüber zu streiten. Ihr scharfer 99
Verstand würde ihn wie ein Stück Obst aufschlitzen. Oder sie würde ihn erschießen. DeMarco öffnete ein Auge und sah zu Billys Haus hinüber. Sie parkten auf der anderen Straßenseite und gaben sich keine Mühe, ihre Intention zu verbergen. Wenn Billy zur Arbeit fuhr, würde er ein zweiköpfiges Team in einem typischen Fahrzeug einer Regierungsbehörde sehen, das praktisch vor seiner Haustür stand. Und wenn er losfuhr, würden sie ihm folgen und praktisch an seiner Stoßstange kleben. Auf diese Weise wollte DeMarco die Anweisung von Mahoney umsetzen, Billy ein wenig unter Druck zu setzen, um zu sehen, wie er reagierte. Wenn Billy nichts zu verbergen hatte, würde er sie schließlich direkt ansprechen und sie fragen, was das alles zu bedeuten habe. Darauf würden sie Unverständnis heucheln und behaupten, dass sie nur ein Ehepaar seien, das jeden Tag diese Strecke fuhr. DeMarco erkannte, dass dieser Plan – wie die meisten Pläne – darüber hinaus keine genaueren Einzelheiten vorsah. Um sechs Uhr fünfzehn verließ ein schlanker, eins achtzig großer Mann mit kurzem blondem Haar das Haus. Er trug eine Sonnenbrille und war in einen blauen Anzug mit einfarbig blauer Krawatte und einem kurzärmligen Hemd gekleidet. Das Jackett trug er über dem Arm. Als er DeMarco und Emma auf der gegenüberliegenden Straßenseite sah, blieb er stehen und musterte sie. Vielleicht dachte er für einen kurzen Moment, dass sie Journalisten seien, aber er musste diese Idee gleich wieder verwerfen, weil Journalisten sofort über die Straße gestürmt wären, um ihn auszufragen. Mattis blieb eine ganze Weile stehen und schien ernsthaft zu überlegen, ob er zu ihnen gehen und sie ansprechen sollte. Doch dann wandte er sich ab und öffnete die Tür seines Wagens. Nachdem er im Rückwärtsgang von der Auffahrt auf die Straße abgebogen war, sah er noch einmal zu Emma und DeMarco
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hinüber, bevor er losfuhr. Beide blickten geradeaus und gaben sich alle Mühe, ihn zu ignorieren. Emma blieb während der gesamten Fahrt von Annandale in den Regierungsdistrikt ein bis zwei Wagenlängen hinter Billy. Als Billy auf den Parkplatz des Secret Service bog, stellte Emma ihren Wagen so ab, dass Billy ihn sehen konnte, als er zum Eingang des Gebäudes ging. Wieder schaute Billy zu ihnen hinüber, und wieder zögerte er, als hätte er sich immer noch nicht entschieden, ob er die beiden offen ansprechen sollte. Er betrat das Gebäude, und Emma setzte DeMarco an einer Stelle ab, von der aus er zwei der Ausgänge beobachten konnte. Wenn DeMarco mit Emma zusammenarbeitete, übernahm sie automatisch das Kommando. Emma ging auf der anderen Seite des Gebäudes in Position, damit sie die übrigen Türen im Auge behalten konnte. In den nächsten dreieinhalb Stunden wurde DeMarco fünfmal wegen etwas Kleingeld, zweimal wegen Zigaretten und einmal wegen einer Wegauskunft angesprochen. Es fiel ihm schwer, die Touristen von den Schnorrern zu unterscheiden. Ein paar Minuten vor zwölf kam Billy aus dem Gebäude. Er blieb kurz auf der Treppe stehen und schaute sich um. Sofort hatte er DeMarco entdeckt. Und während Billy ihn anstarrte, starrte DeMarco zurück und zog ein Handy hervor, um Emma anzurufen. Billy ging die Treppe hinunter und schlug die Richtung ein, in der die National Mall lag. DeMarco folgte ihm, und Emma stieß an der nächsten Ecke zu DeMarco. An der Constitution Avenue, die auf der Nordseite der Mall verlief, bog Billy nach links ab, in Richtung des Kapitals. Einmal schaute er sich zu dem Mann und der Frau um, die hinter ihm gingen, aber danach blickte er wieder unbeirrt geradeaus. DeMarco lebte schon seit über zehn Jahren in D. C, aber der Panoramablick über die Mall war für ihn immer noch genauso beeindruckend wie für jeden Besucher, der sie zum ersten Mal 101
sah. Es war eine weite Ebene, auf der man Schlachten ausgetragen und Geschichte geschrieben hatte. Der Bereich zwischen dem Kapitol und dem Lincoln Memorial – fast drei Meilen lang und eine halbe breit – war seit Jahren der Ort gewesen, an dem Menschenmassen zusammenkamen, um gegen Kriege zu protestieren, für die Bürgerrechte zu demonstrieren und sich gegen die Ignoranz der herrschenden Klasse Gehör zu verschaffen. Zu beiden Seiten der Mall erhoben sich majestätische Gebäude, in denen Regierungsbehörden und das Smithsonian Institute untergebracht waren – solide Granitbastionen der Macht, die neben Marmortempeln der Kunst und der Geschichte standen. Bedauerlicherweise hatte die Nähe von Kunst und Geschichte nur wenig Einfluss auf die Regierenden – genauso wie die Proteste. Billy ging noch eine Viertelmeile, dann hielt er am Stand eines Straßenverkäufers vor der National Gallery of Art an. Er bestellte sich einen Hotdog und schaute sich erneut zu Emma und DeMarco um, während er auf sein Wechselgeld wartete. Der Ostflügel der Nationalgalerie war von I. M. Pei entworfen worden und schien überhaupt nicht zur traditionelleren Architektur rund um den großen Platz zu passen. Die Wände trafen in extrem spitzen Winkeln aufeinander, vor allem auf der Südseite, was DeMarco jedes Mal an den Bug eines steinernen Schiffs erinnerte, das durch ein urbanes Meer aus Beton und Asphalt segelte. Im Atrium hing ein riesiges Mobile von Alexander Calder von der Decke. Das Mobile war aus Stahl und Aluminium konstruiert und schwarz, blau und rot bemalt. Es hatte eine Flügelspannweite von etwa 25 Metern und wog fast tausend Pfund. Am Boden hätte das Objekt so aerodynamisch wie ein Amboss gewirkt, aber aufgehängt machte es einen schwerelosen Eindruck, als wäre es einzig und allein zum Fliegen gemacht. Der geringste Luftstrom versetzte es in flatternde Bewegungen.
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DeMarco konnte sehen, wie sich das Mobile langsam drehte, als Billy den Hotdog vom Verkäufer entgegennahm. Während Billy sich Senf auf sein Mittagessen klatschte, ging Emma unter einem Baum in Stellung und richtete ihre kalten blauen Augen auf Billys breiten Nacken. Mit einer herrischen Kopfbewegung gab sie DeMarco zu verstehen, dass er zu einem anderen Baum ein paar Meter weiter gehen sollte. Emmas Strategie bestand darin, Billy eher psychologisch als physisch zu umzingeln. Als Billy mit seinem Hotdog zufrieden war, lief er ein paar Schritte, warf unterwegs das Papier, in das sein Essen eingewickelt war, in einen Abfallbehälter und setzte sich nicht weit davon entfernt auf eine Bank. Von dort aus schaute er zunächst zu Emma und dann zu DeMarco hinüber. Er nahm einen unsicheren Bissen vom Hotdog und kaute ihn langsam durch. DeMarco beobachtete, wie sich Billys Adamsapfel auf und ab bewegte. Der Mann war so nervös, dass ihm das Schlucken schwer fiel. Dann tat Emma etwas, das DeMarco gleichzeitig genial und völlig idiotisch fand. Sie ging zum Hotdogverkäufer, ließ sich von ihm eine Papiertüte geben und näherte sich dann dem Abfallbehälter, in dem Billy seinen Müll entsorgt hatte. Emma griff in den Behälter und zog mit spitzen Fingern das Wachspapier heraus. Für einen kurzen Moment blickte sie Billy in die Augen, während sie das Papier in die Tüte legte, als würde sie ein wichtiges Beweisstück an einem Tatort sichern. Billy starrte Emma an und versuchte, seine Mahlzeit fortzusetzen. Er hob den Hotdog, um ein zweites Mal davon abzubeißen, doch wenige Zentimeter vor den Lippen hielt er in der Bewegung inne. Unvermittelt warf er den Hotdog weg, stand auf und ging mit energischen Schritten auf Emma zu. DeMarco verließ sofort seinen Beobachtungsposten, um sich in der Nähe seiner Partnerin zu postieren.
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»Warum verfolgen Sie mich?«, wollte Billy wissen. Sein Körper war vor Wut angespannt, und er hatte die Hände zu Fäusten geballt. DeMarco hörte den Südstaatenakzent in seinen Worten und konnte sich vorstellen, dass seine Stimme normalerweise tiefer und sanfter klang. DeMarco spürte auch, wie viel Angst sich unter der oberflächlichen Entrüstung verbarg. DeMarco hatte Mattis im Video und auf Fotos in der Zeitung gesehen, aber diese Aufnahmen hatten ihn nicht auf den Eindruck vorbereitet, den dieser Mann leibhaftig und aus nächster Nähe machte. Er sah wirklich wie Mickey Mantle aus, wie Mike gesagt hatte, und die Ähnlichkeit war nicht nur äußerlich. Er hatte die gleiche Aura des typisch amerikanischen Jungen vom Lande, den gleichen Flair der Unschuld, den auch Mantle zu Anfang seiner Karriere gehabt hatte. Billys Gesicht, seine Stimme, seine klaren blauen Augen – alles vermittelte exakt das, was er angeblich war: ein einfacher, aber grundehrlicher Kerl, ein gehorsamer Sohn und ein treuer Diener der Herren seines Landes. Er sah genau aus wie jemand, von dem man erwartete, dass er sich ohne Zögern eine Kugel einfing, die eigentlich für einen Politiker gedacht war. Billy wandte sich wieder an Emma. »Lady, ich habe Sie gefragt, warum Sie mich verfolgen!« Aus irgendeinem Grund ging Billy davon aus, dass Emma die Verantwortung für die Aktion trug, was DeMarco ein klein wenig ärgerte. Emma verhielt sich völlig untypisch und drehte sich zu DeMarco um, als wollte sie ihm die Entscheidung überlassen. Der überlegte, ob er alles abstreiten sollte. Dass sie ihn keineswegs verfolgten, während er keinen Zweifel daran ließ, dass er log. Aber er tat es nicht. Der Luchs wusste selber nicht, was ihn dazu veranlasste. Er hätte gerne behauptet, es wäre ein intuitiver Quantensprung gewesen, aber das war es nicht. Die Worte strömten aus DeMarcos Mund, bevor sie durch seinen Verstand zensiert werden konnten. 104
»Sie waren nur ein Agent am falschen Ort, nicht wahr, Billy?«, sagte er leise. Als DeMarco aus dem Brief zitierte, schloss Billy, der die ganze Zeit Emma wütend angestarrt hatte, plötzlich die Augen. Er hielt sie noch ein paar Herzschläge lang geschlossen und hoffte, dass die beiden »Agenten« verschwunden sein würden, wenn er sie wieder öffnete. Dann drehte er den Kopf langsam in DeMarcos Richtung. »Was … was zum Teufel soll das bedeuten?«, sagte er. »Ich glaube, das wissen Sie ganz genau, Billy.« »Verdammt, wer sind Sie? Kommen Sie vom FBI?« »Billy«, sagte Emma, »Sie haben eine Warnung an General Banks geschickt. Er sollte den Ausflug zum Chattooga abblasen. Woher wussten Sie, was an diesem Tag geschehen würde?« »Ich habe wirklich keine Ahnung, wovon Sie reden«, sagte Billy. Im Gegensatz zu Patrick Donnelly – oder zu Joe DeMarco – war Billy Mattis kein professioneller Lügner. Er blinzelte so hektisch, dass seine Augenlider wie Schmetterlinge wirkten, die sich bemühten, Fluchtgeschwindigkeit zu erreichen. »Billy«, sagte DeMarco leise, »ich glaube, Sie wurden da in etwas ziemlich Hässliches hineingezogen. Vielleicht können wir Ihnen helfen.« »Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen«, beteuerte Billy. »Zeigen Sie mir bitte Ihre Ausweise.« »Warum haben Sie den Kopf eingezogen, Billy?« »Den Kopf?« »An jenem Vormittag am Fluss. Sie haben Ihre Sonnenbrille fallen gelassen, damit der Attentäter freies Schussfeld auf den Präsidenten hatte. Sie haben sich geduckt, bevor der erste Schuss fiel. Auf dem Video ist es deutlich zu sehen.« Billys Gesicht wurde knallrot. In aggressiver Haltung ging er einen Schritt auf DeMarco zu und stieß ihm heftig mit dem Zeigefinger in den Brustkorb. »Das ist eine verdammte Lüge!«, 105
sagte er. Seine Wut war nicht gespielt, und zum ersten Mal hörte DeMarco Wahrheit in seiner Stimme und sah sie in seinem Gesichtsausdruck. »In der Aufzeichnung vom Attentat kann man es genau erkennen«, wiederholte DeMarco. »Sie waren so nervös wie eine Katze auf dem heißen Grillrost, als Sie an diesem Morgen zum Hubschrauber gegangen sind. Ihre Augen sprangen herum wie Gummibälle. Sie …« »Meine Augen haben sich bewegt, weil ich die Umgebung beobachtet habe, Sie Idiot! Das war mein Job.« »Das glaube ich nicht, Billy. Ich glaube, Sie wussten, was geschehen würde, und dann haben sie genau im richtigen Moment die Sonnenbrille fallen gelassen. Haben Sie Harold Edwards eine Kopie vom Terminplan des Präsidenten gegeben, Billy?« Schweißperlen standen plötzlich auf Billys Stirn, und DeMarco sah, wie sich unter seinen Armen feuchte Flecken im kurzärmligen Hemd bildeten. Billy öffnete den Mund, um etwas zu sagen, dann schloss er ihn wieder. Seine Lippen wurden zu einer Schranke, die eine Zunge im Zaum hielt, der er nicht vertrauen konnte. Schließlich sagte er: »Ich will Ihre Ausweise sehen. Sofort!« Auch diesmal ging DeMarco nicht auf die Forderung des Agenten ein. »Wie haben Sie den Lügendetektortest überstanden, Billy?« Mattis sah ihn verdutzt an. »Welchen Test? Niemand hat mich mit einem Lügendetektor überprüft.« Nun war es DeMarco, der zögerte, weil es klang, als würde Billy die Wahrheit sagen. Dann erinnerte sich DeMarco daran, dass es Patrick Donnelly gewesen war, der Banks und dem FBI mitgeteilt hatte, dass man Billy an einen Lügendetektor angeschlossen hatte.
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»Dann lassen Sie uns darüber reden, welchen Umständen Sie es zu verdanken haben, dass Sie der Leibwache des Präsidenten zugeteilt wurden, Billy.« Billy schüttelte unnachgiebig den Kopf. »Nein. Wir reden über gar nichts. Ich sage kein Wort mehr zu Ihnen beiden.« Er wandte sich zum Gehen, doch dann blieb er noch einmal stehen. Als er sich zu ihnen umdrehte, schimmerten Tränen in seinen blauen Augen und ließen sie wie Edelsteine funkeln. »Ich habe an diesem Tag meine Pflicht erfüllt. Ich habe alles getan, um ihn zu schützen.« Seine Stimme stockte kurz, als er hinzufügte: »Ich wäre für ihn gestorben.« DeMarco glaubte ihm jedes Wort. Als Billy sich entfernte, musste DeMarco wieder an Calders Mobile denken, wie es sich langsam im Atrium des Museums drehte. Ein gewichtiges Objekt, das sich in einem so labilen Gleichgewicht befand, dass schon der Lufthauch einer geöffneten Tür ausreichte, um es in Bewegung zu setzen. Genauso wie Billy Ray Mattis – ein winziger Schubs, und er begann zu rotieren.
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15 »Unglaublich!«, sagte Emma leise. »Dieser Mistkerl«, stieß DeMarco fast gleichzeitig hervor. »Als du den Brief zitiert hast, dachte ich, der arme Junge würde sein Mittagessen verlieren.« »Ja, er kennt den Wortlaut. Daran gibt es keinen Zweifel. Aber als ich ihn beschuldigt habe, dass er sich vor dem Schuss geduckt hätte, wollte er mir am liebsten den Kopf abreißen. Er hat die Wahrheit gesagt: Er würde sterben, um den Präsidenten zu schützen.« »Richtig«, sagte Emma. »Trotzdem ist er irgendwie in die Sache verwickelt, und ich wüsste gerne, wie. Und ich sage dir noch etwas, Joe: Ich glaube, weder das FBI noch sonst jemand hat den Jungen befragt. Zumindest nicht auf die harte Tour. Ich glaube, Donnelly schirmt ihn irgendwie vor den Verhörspezialisten des FBI ab.« »Dieser verdammte Donnelly. Ich werde zu Banks gehen. Sofort. Ich muss den Dickkopf davon überzeugen, dass er sich endlich an die Bundespolizei wendet.« Emma sah DeMarco überrascht an. »Ich dachte, Mahoney hätte gesagt, dass du abwarten sollst, was Donnelly als Nächstes tut.« »Ich scheiße auf Mahoney«, sagte DeMarco mit mehr Überzeugung, als er tatsächlich empfand. Emma lächelte, das erste Mal, dass sie an diesem Tag eine Spur von Humor zeigte. »Na gut. Und was soll ich tun, während du mit dem Minister redest, Schätzchen?« »Kannst du an Billy dranbleiben?« »Nein. Aber ich kann jemanden anrufen.«
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Wie zu erwarten war, saß der Minister für Heimatschutz nicht Däumchen drehend in seinem Büro und wartete nur darauf, dass Joe DeMarco ihm endlich einen Besuch abstattete. Joe hockte zweieinhalb Stunden lang in Banks’ Wartezimmer und beobachtete, wie bedeutende Persönlichkeiten ein- und ausgingen. Ihm fiel auf, dass jeder, der Banks’ Büro betreten hatte, unglücklicher aussah, als er es wieder verließ, und gegen fünf Uhr fühlte sich auch DeMarco ziemlich unglücklich. Er hatte noch nichts zu Mittag gegessen, worüber sich sein Magen immer lauter beschwerte. Um halb sechs wurde er endlich zu Banks vorgelassen. An den Wänden seines Büros klebten plakatgroße Organisationsdiagramme. Der General ging von einem Diagramm zum nächsten und malte mit einem dicken roten Filzstift große Kreuze in die Rechtecke, die für verschiedene Abteilungen standen. Jedes Mal, wenn er einen neuen Kasten mit einem roten X verziert hatte, sagte er »Ha!«, als hätte er wieder eine Fliege mit einer Klatsche erledigt. Nun verstand DeMarco, warum das Lächeln seiner Besucher verschwunden war, nachdem sie ihn besucht hatten. Während er sich weiter auf die Organigramme konzentrierte, sagte Banks zu DeMarco: »Als das Ministerium für Heimatschutz gegründet wurde, hat man zweiundzwanzig verschiedene Organisationen mit einhundertachtzigtausend Mitarbeitern zusammengepappt, und jede dieser Organisationen hatte natürlich ihre eigene Struktur. Sie wissen schon, Führungspersonal, Finanzbuchhalter, Verwaltungskräfte, Personalabteilungen und so weiter. Aber glauben Sie, auch nur ein Einziger von diesen Verwaltungsleuten wäre freiwillig bereit, Abteilungen zusammenzulegen, um die Kosten zu reduzieren? Nein, natürlich nicht! Diese verdammten Fleischtöpfe kosten uns …« »Sie müssen dem FBI sagen, was Sie wissen.«
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Banks wandte sich von den Diagrammen ab und fasste DeMarco ins Auge. »Sie haben etwas herausgefunden, nicht wahr?«, fragte er. Eigentlich war es gar keine Frage. »Vielleicht«, antwortete DeMarco und erzählte Banks, wie er Billy Mattis auf der Mall angesprochen hatte und wie der Agent reagiert hatte, als er ihn mit dem Zitat aus der Warnung konfrontiert hatte. Banks warf den roten Filzstift gegen die Wand. »Verdammt noch mal, DeMarco!«, brüllte er. »Ich habe Ihnen nicht gesagt, dass Sie den Mann befragen sollen. Sie gehen ungefähr so feinfühlig vor wie ein Elefantenpimmel!« DeMarco konnte Banks nichts von Mahoneys Anweisung erzählen, also sagte er: »Ich bin nicht weitergekommen, General. Ich konnte keine Verbindung zwischen Mattis und Edwards finden. Oder sonst etwas, das ihn belastet hätte. Ich dachte, es wäre das Beste, ihn ein wenig unter Druck zu setzen, um zu sehen, wie er reagiert. Und seine Reaktion war hochinteressant. Wenn Sie dabei gewesen wären, würden Sie verstehen, was ich damit sagen will.« DeMarco sprach sofort weiter, bevor Banks ihm Insubordination vorwerfen konnte. »Und eine der interessantesten Reaktionen zeigte Billy, als er glaubhaft einen Lügendetektortest abgestritten hat. Donnelly scheint also auch in diesem Punkt gelogen zu haben, genauso wie er Sie bezüglich der Analyse des Briefes belogen hat.« Banks wollte etwas sagen, doch dann hielt er inne. Er schien zu erkennen, dass sich möglicherweise seine schlimmste Befürchtung bewahrheitet hatte – dass der Brief echt war und er es versäumt hatte, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. »Es ist Zeit, mit dem FBI zu reden, General. Die Bundespolizei muss Mattis etwas genauer unter die Lupe nehmen.« Banks ging nicht darauf ein, sondern hob den Filzstift vom Boden auf. Dann ging er zum Fenster und blickte auf den Verkehrsstau in der Straße hinab. DeMarco hätte ihm am 110
liebsten erklärt, dass all der Verkehr von Leuten verursacht wurde, die von der Arbeit kamen und zum Abendessen zu Hause sein wollten. »Nein«, sagte Banks schließlich. »Alles, was wir bis jetzt haben, ist Ihr Bauchgefühl – und das ist kein Stück besser als mein eigenes Bauchgefühl. Sie machen noch ein paar Tage lang weiter und versuchen, mir etwas Handfesteres zu bringen.« »General«, sagte DeMarco, »wenn es eine Verbindung zwischen Mattis und Harold Edwards gibt, tendiert die Wahrscheinlichkeit, dass ich aussagekräftige Beweise dafür finde, gegen Null. Die jungfräuliche Empfängnis dürfte wahrscheinlicher sein. Je länger Sie damit warten, zum FBI zu gehen, desto kälter wird die Spur und desto schlechter stehen Sie am Ende da.« Banks schüttelte den Kopf. »Noch nicht, mein Lieber, noch nicht.« DeMarco stritt sich noch weitere zehn Minuten mit Banks, aber er konnte ihn nicht von seiner Meinung abbringen. Als er sich zum Gehen wandte, hörte er hinter sich wieder den Filzstift quietschen und Banks »Ha!« rufen.
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16 »Hast du Mahoney erzählt, wie Billy gestern reagiert hat?«, fragte Emma. Sie und DeMarco fuhren auf der Mittelspur der I-395, drei Wagen hinter Billy Mattis. Es war halb sieben am Morgen des nächsten Tages. »Nein. Vergiss nicht, dass er sich nur wegen Patrick Donnelly für diese Sache interessiert«, sagte DeMarco. »Wenn ich zu ihm gegangen wäre, hätte ich von ihm dasselbe gehört, was ich auch von Banks gehört habe – dass ich noch ein paar Tage weitermachen und schauen soll, was passiert. Mein Leben wird von Arschlöchern dominiert.« Auf dem Freeway bewegte sich der Verkehr noch zähflüssiger als sonst. Die Fahrzeuge kämpften wie Rennwagen um die günstigste Position. Emma und DeMarco waren nun fünf Wagen hinter Billy zurückgefallen. Als sie sich der letzten Ausfahrt in Virginia näherten, kurz bevor es über die Fourteenth Street Bridge nach D.C. ging, bog Billy plötzlich nach rechts ab und hätte fast die Stoßstange eines Lieferwagens in der Nebenspur gestreift. Dann zog er über eine weitere Spur und zwang einen anderen Fahrer, abrupt auf die Bremse zu treten, bis er die Ausfahrt erreicht hatte. Emma ließ sich nicht anmerken, ob dieses Manöver sie überrascht hatte. Seelenruhig beobachtete sie, wie Billys Wagen verschwand. »Scheiße«, sagte DeMarco und schlug mit der Faust auf das Armaturenbrett. »Was zum Teufel macht er da?« »Uns abhängen«, sagte Emma, aber sie lächelte. »Was ist daran so witzig?«, fragte DeMarco verärgert. »Er hat uns abgehängt, aber nicht Sammy.« »Sammy?« »Ein alter Freund«, sagte Emma. 112
Emma und ihre alten Freunde. »Und was macht Sammy gerade?«, fragte er. »Joe, ich habe es dir schon einmal gesagt. Mit nur einem Wagen kannst du bei dichtem Verkehr niemandem auf den Fersen bleiben, und schon gar nicht, wenn der Betreffende weiß, dass er verfolgt wird. Man braucht mindestens zwei Wagen, noch besser wären vier. Mike hatte heute keine Zeit, also habe ich gestern Abend Sammy angerufen und ihm gesagt, dass wir Unterstützung brauchen. Seit wir auf den Freeway gefahren sind, ist er die ganze Zeit auf der rechten Spur geblieben, und jetzt hat er die gleiche Ausfahrt wie Billy genommen.« »Sehr nett von dir, mir zu sagen, dass Sammy auf meiner Gehaltsliste steht«, bemerkte DeMarco. »Sei nicht so grantig!« DeMarco brummte etwas. Das war immer noch besser, als zuzugeben, dass Emma Recht hatte. Wie immer. »Ich hoffe, du hast Sammy nicht gesagt, warum wir Mattis beschatten.« Emma beantwortete DeMarcos Unverschämtheit mit einem vorwurfsvollen Blick. »Ich habe ihm gar nichts gesagt. Er soll Billy folgen, falls er uns abschüttelt, und darauf achten, ob er mit jemandem redet.« Wieder brummte DeMarco nur. Ein paar Minuten fuhren sie schweigend weiter, bis er sagte: »Vielleicht sollten wir die nächste Ausfahrt nehmen und versuchen, ihn wiederzufinden.« »Das wäre blödsinnig«, sagte Emma. »Wir trinken irgendwo einen Kaffee und fahren dann zu Billys Büro. Irgendwann wird er dort eintreffen, und dann wird Sammy hinter ihm sein.« Um halb neun fand sich Billy tatsächlich auf dem Parkplatz ein, schloss seinen Wagen ab und ging langsam zum Gebäude des Secret Service hinüber. Sein Blick war fest auf den Boden gerichtet. Unterwegs schüttelte er den Kopf, als wäre er in ein stummes Selbstgespräch vertieft. Er sah Emma und DeMarco nicht, die auf der anderen Seite des Parkplatzes standen, obwohl 113
er dazu nur den Blick hätte heben müssen. Nachdem Billy im Gebäude verschwunden war, stiegen Emma und DeMarco aus ihrem Wagen. »Und wo ist jetzt dein Kumpel Sammy?«, fragte DeMarco. Emma antwortete nicht, sondern schaute sich weiter auf dem Parkplatz um. Als sie nach einigen Minuten immer noch nichts von Sammy gesehen hatte, sagte sie: »Vielleicht hat sich Billy mit jemandem getroffen, und Sammy ist dieser Person gefolgt.« »Klar«, sagte DeMarco. Mattis, der in solchen Dingen ausgebildet worden war, hatte diesen Sammy vermutlich innerhalb weniger Minuten abgehängt, nachdem er den Freeway verlassen hatte. Zwanzig Minuten später hob Emma den Arm und winkte einem kleinen Mann zu, der in ihre Richtung gelaufen kam. Sammy Wix wog etwa hundert Pfund und war klein genug, um als großer Bruder eines Jockeys durchzugehen. Sein unauffälliges Trollgesicht mit der langen Nase bestand aus sonnengebräuntem, runzligem Leder. Er hatte einen Händedruck, bei dem DeMarco leicht in die Knie ging. »Was hat unser Billy angestellt, Sammy?«, wollte Emma wissen. Sammy hatte einen ausgeprägten New Yorker Akzent. »Er ist ein paar Ecken weitergefahren, nachdem er vom Freeway runter ist. Dann ist er eine Weile rumgekurvt. Wollte anscheinend sichergehen, dass ihm niemand folgt. Dann hielt er an einem 7-Eleven an und telefonierte. Im Laden waren zwei Zellen nebeneinander, und da er mich nicht kennt, hab ich mich in die andere Zelle gestellt, um zu horchen, was er quatscht.« Er hielt inne und lächelte. Es war nur ein leichtes Lächeln, kaum mehr als ein Zucken der Mundwinkel. Es besagte, dass Sammy Wix immer wieder von den Leuten unterschätzt wurde und dass es ihm Spaß machte, es ihnen zu zeigen. »Er hat jede Menge Tasten gedrückt. Offenbar ein Ferngespräch, das er auf eine Telefonkarte gebucht hat.« 114
»Haben Sie die Nummer der Zelle, von der aus er angerufen hat?«, fragte DeMarco. Sammy sah DeMarco zum ersten Mal direkt an und zeigte wieder sein dezentes Lächeln. »Klar«, sagte er. »Auch die Zeit seines Anrufs.« Sein Blick ruhte noch einen Moment auf DeMarco, als wäre er sich nicht ganz sicher, ob er ihm trauen konnte. DeMarco fragte sich, ob sein Gesicht den Mann an die Typen erinnerte, die ihn als kleinen Jungen auf dem Schulhof geärgert hatten. »Auf jeden Fall klang er ziemlich aufgeregt.« Sammy sprach wieder Emma an. »Er sagte: ›Onkel Max, hier passiert gerade was sehr Komisches.‹ Bevor er noch mehr sagen kann, wird er von diesem Onkel Max angebrüllt. Das weiß ich, weil der Junge plötzlich den Hörer vom Ohr wegzieht. Dann sagt er: ›Tut mir Leid, Onkel Max.‹ Er sagt es ein paarmal. Dann: ›Nein, ich rufe von einer Telefonzelle an.‹ Und schließlich: ›Gut, ich werde Dale anrufen.‹ Dann entschuldigt er sich noch ein paarmal und legt auf.« Sammy schwieg, als hätte er das Ende seiner Geschichte erreicht. »Und wo war er, nachdem er telefoniert hat?«, fragte DeMarco. »Er ist eine halbe Stunde zu spät zur Arbeit gekommen.« »Das wollte ich gerade erzählen.« Wieder das feine, siegessichere Lächeln. »Nach dem Anruf legt er auf und wählt eine andere Nummer. Jemand geht ran. Billy nennt ihn Dale und sagt, dass sie miteinander reden müssen. Der andere, dieser Dale, quatscht ihn eine Weile voll, dann legt Billy auf.« Wieder schwieg Sammy, als wäre er fertig, doch diesmal wartete DeMarco geduldig ab. Er wollte kein zweites Mal auf den Trick des kleinen Mistkerls hereinfallen. »Anschließend steigt er in seinen Wagen und fährt nach D.C. Nicht weit von der Universität entfernt hält er an und wartet neben seinem Wagen. Ein paar Minuten später kreuzt dieser andere Typ auf. Sah irgendwie aus, als wäre er gerade aus dem 115
Bett gekrochen. Er geht zu Billy rüber, und Billy redet völlig aufgeregt mit wedelnden Armen auf ihn ein. Ich konnte nicht hören, was sie gequatscht haben, weil ich im Wagen bleiben musste. Ich stand ein Stück weiter in der zweiten Reihe. In dieser Scheißstadt findet man nie einen Parkplatz. Auf jeden Fall steht der andere Typ vor ihm, und dann scheuert er ihm eine.« »Wie bitte?«, fragte DeMarco. »Ja, er scheuert ihm eine. Verpasst ihm ’ne Ohrfeige. Nach dem Motto: ›Nun reiß dich mal zusammen!‹ Dann quatscht er eine Weile auf Billy ein und legt ihm einen Arm um die Schulter. Will ihn offenbar trösten und beruhigen. Billy nickt immer wieder, putzt sich irgendwann die Nase, als hätte er geheult, dann steigt er schließlich in seinen Wagen und fährt weg.« »Wer könnte dieser andere Typ gewesen sein?«, fragte DeMarco, zu Emma gewandt. Emma antwortete nicht, sondern sah Sammy an. Sammys Lippen zuckten. »Nachdem Billy weg ist, schnappe ich mir seinen Parkplatz und verfolge den Kerl, mit dem Billy geredet hat, zu Fuß. Er geht zu einem Wohnkomplex eine Ecke weiter, an der Ecke Nineteenth und G Street. Da habe ich mir die Namen der Mieter auf den Briefkästen angeguckt. Nur ein Name ist dabei, der mit D anfängt. Jemand, der D. Estep heißt.«
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17 DeMarco rief Alice an, gab ihr die Nummer der Telefonzelle durch, die Billy benutzt hatte, und sagte ihr, dass sie sich für ihn ins Zeug legen sollte. Er wollte wissen, wer Onkel Max war. Alice wirkte etwas unkonzentriert, als sie sagte, es würde ein paar Stunden dauern, bis sie DeMarco die gewünschte Information liefern konnte. »Alice«, sagte DeMarco. »Ich weiß genau, dass du nur zehn Minuten brauchst, um mir die verdammte Nummer rauszusuchen. Es ist dringend.« »Ich wollte gerade losziehen und einen Arzttermin wahrnehmen, als du angerufen hast. In letzter Zeit habe ich ständig Schmerzen im Brustkorb. Ich glaube, es ist mein Herz.« »Alice, du hast überhaupt kein Herz. Es kann nur eine Magenverstimmung sein. Geh morgen zum Arzt.« »Ich will nicht, dass ich deinetwegen einen Herzinfarkt bekomme!«, sagte Alice gekränkt. »Alice, weißt du, was viel schlimmer als ein Herzinfarkt wäre?«, fragte DeMarco. »Was?« »Den Hungertod zu sterben. Denn so wirst du eines Tages enden, wenn du weiterhin jede Woche deinen Gehaltsscheck an die Spielautomaten verfütterst. Du brauchst das Geld, das ich dir regelmäßig zukommen lasse, Alice. Aber wenn du die Leistung nicht erbringst, für die ich dich bezahle, werde ich aufhören, dir Geld zu schicken. Und wenn das passiert, wirst du dich am Ende des Monats von Hundefutter ernähren müssen.« »Jetzt hör mir mal zu, du gefühlloser Klotz«, zischte Alice. »Ich gehe jetzt zum Arzt. In ein paar Stunden werde ich zurück sein, falls er mich nicht ins Krankenhaus einweist, und wenn ich wieder hier bin, suche ich nach dieser verdammten Nummer.« 117
Dann legte Alice ohne ein Wort des Abschieds auf. D. Estep wohnte in einem dreistöckigen Apartmentkomplex, der insgesamt ein Dutzend Mieter beherbergte. DeMarco klingelte an der Tür, neben der »Hausmeister« stand, dann wurde er mit einem Rülpser und einem »Ja?« begrüßt. »Sind Sie der Hausmeister?« »Ja.« »Ich muss mit Ihnen reden. Drücken Sie bitte auf den Türöffner.« »Wenn Sie ein Vertreter sind, können Sie gleich wieder abzischen.« »Ich will nichts verkaufen. Ich bin Ermittlungsbeamter, und wenn Sie mich nicht reinlassen, mache ich Ihnen das Leben zur Hölle.« Ich werde mich aufblasen und schnaufen und sehr böse dreinschauen und … »Mein Leben ist bereits die Hölle, Sie Idiot«, sagte der Hausmeister, doch bevor DeMarco das Stichwort aufgreifen und sagen konnte, dass es viel schlimmer als die Hölle sein würde, hörte er das Klicken, mit dem das Türschloss geöffnet wurde. Der Hausmeister des Wohnkomplexes gehörte zu jener ästhetischen Spezies, die einen gewaltigen Bauch, aber keinen Hintern hatte. Er trug ein viel zu enges grünes T-Shirt und ausgeleierte Jeans, sodass der Betrachter von vorn eine Fettrolle, die ihm über den Gürtel hing, und von hinten den Ansatz der Poritze bewundern konnte. Der Hausmeister setzte sich in einen wackligen Sessel und griff sich eine Budweiser-Dose von einem Beistelltisch. Neben dem Sessel standen drei leere Bierdosen auf dem Boden. Während er trank, wanderten seine Augen zum Fernseher, in dem eine Familienserie lief, und er schien völlig zu vergessen, dass sich noch jemand im Raum aufhielt. Die schmuddelige Wohnung roch nach Rauch, abgestandenem Bier und mit großem Druck ausgestoßenen Verdauungsgasen. 118
DeMarco ging zum Fernseher und drückte auf den Ausschaltknopf. »He! Was soll das? Ich will das sehen!« DeMarco schaute sich nach einem Sitzplatz um, gelangte jedoch zur Erkenntnis, dass er Reinigungskosten sparen konnte, wenn er stehen blieb. »Ich muss mit Ihnen reden, und dazu brauche ich Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.« »Dann reden Sie. Und machen Sie schnell. Das ist meine Lieblingssendung.« »In 2B wohnt ein Mieter namens D. Estep. Ich möchte mehr über ihn wissen.« »Weswegen?« »Weil ich mit einer Ermittlung beschäftigt bin.« »Das mag ja sein. Aber wäre das nicht eine Verletzung seiner Privatsphäre oder seiner Bürgerrechte oder so was?« »Im Augenblick verletze ich nur seine Privatsphäre. Wie würde es Ihnen gefallen, wenn ich es mit Ihrer mache? Ich kann mir zum Beispiel vorstellen, dass Sie zur Weihnachtszeit Trinkgeld bekommen. Vielleicht haben Sie auch noch einen Zweitjob, der bar bezahlt wird. Ich wette, dass Sie nicht alle Ihre Einkünfte dem Finanzamt melden. Stimmt’s?« »Okay, okay. Ich hab’s kapiert. Was wollen Sie wissen? Ich habe den Kerl sowieso nie gemocht, diesen Maisgrießscheißer.« »Maisgrieß?« »Er kommt aus dem tiefsten Süden. Und spricht wie der letzte Südstaatler.« »Haben Sie etwas Schriftliches über ihn? Er muss doch einen Vertrag oder andere Dokumente ausgefüllt haben, als er die Wohnung gemietet hat.« »Ja, warten Sie, ich hole Ihnen die Sachen.« Mit einem Ächzer erhob er sich vom Sessel, unternahm den sinnlosen Versuch, sich die Hosen hochzuziehen, und stapfte langsam zu einem verbeulten olivgrünen Aktenschrank. Er 119
kramte eine Weile darin herum und zog schließlich ein einzelnes, zerknittertes Blatt Papier hervor. DeMarco nahm das Papier entgegen. Es war ein Standardmietvertrag, in dem der Bewohner des Apartments 2B als Dale Estep angegeben war. Sein Hauptwohnsitz war eine Adresse in Folkston, Georgia. DeMarco hatte noch nie von diesem Ort gehört. Er schrieb sich die Adresse und Esteps Sozialversicherungsnummer ab. Im Feld für die finanziellen Sicherheiten war nichts eingetragen. Die Mietdauer war auf drei Monate festgelegt, der Gesamtbetrag sollte einschließlich einer Schadenskaution in Höhe von fünfhundert Dollar im Voraus bezahlt werden. »Ist eine Vermietung für drei Monate nicht etwas ungewöhnlich?«, fragte DeMarco. »Ja, aber er sagte, ich könnte die Schadenskaution behalten, wenn er auszieht.« »Was macht er beruflich, wenn er die Wohnung nur für drei Monate braucht?« »Keine Ahnung. Als ich danach gefragt habe, aus reiner Freundlichkeit, sagte er zu mir, dass ich mich um meinen eigenen Kram kümmern soll.« »Was glauben Sie, was er macht?« Der Hausmeister zuckte mit den Schultern, wodurch das TShirt auf seinem Oberkörper verrutschte. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Er kommt und geht zu völlig unregelmäßigen Zeiten. Manchmal ist er drei oder vier Tage lang überhaupt nicht da.« »Lebt er allein?« »Ja. Ein paarmal hat er Frauen nach Hause mitgenommen, jedes Mal eine andere. Die meisten sahen nach Nutten aus.« »War jemals ein Mann bei ihm?« »Sie meinen, ob er schwul ist?« »Nein, ich meine, ob er regelmäßige Besucher hat, egal, ob männlich oder weiblich.«
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Der Hausmeister runzelte die Stirn, als hätte DeMarco ihn gebeten, ihm die Schwerkraft zu erklären. Schließlich sagte er: »Es gibt da jemanden, den ich vielleicht dreimal gesehen habe. Ich weiß aber nicht, wie er heißt. Blonder Junge, kurzes Haar, könnte beim Militär sein.« »Hat Estep einen Wagen, wenn er hier ist?« »Ja. Einen Oldtimer. Kirschrot. Mit Kennzeichen aus Georgia, Sie wissen schon, diese Wunschkennzeichen. Auf seinem steht GATOR.« DeMarco hatte dem Hausmeister mit schweren behördlichen Konsequenzen gedroht, falls er Estep von seinem Besuch erzählte, und war dann zu seinem Büro zurückgefahren. Dort fand er eine Nachricht von Alice auf seinem Anrufbeantworter vor. »Er hat einen Maxwell Taylor in Folkston, Georgia, angerufen.« Sie gab Taylors Adresse durch und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: »Ich glaube zwar, dass es dich einen Scheißdreck interessiert, aber der Arzt sagte, dass mit meinem Herzen alles in Ordnung ist.« Eine Magenverstimmung, genau wie DeMarco vermutet hatte. Als Nächstes rief er Emma an. Er nannte ihr die Adressen von Maxwell Taylor und Dale Estep in Georgia, Esteps Sozialversicherungsnummer und das GATOR-Nummernschild und bat sie, über ihre weitläufige behördliche Verwandtschaft mehr über die Männer in Erfahrung zu bringen. »Ich muss wissen, wer diese Leute sind, Emma«, sagte DeMarco. »Sie sind aus heiterem Himmel auf der Bildfläche erschienen. Ganz offensichtlich stehen sie in Verbindung zu Billy, aber ich muss herausfinden, ob sie auch eine Verbindung zu Harold Edwards haben. Vielleicht haben sie auch gar nichts mit dem Attentat zu tun.« Den Rest des Vormittags versuchte DeMarco, mit eigenen Mitteln nachzuforschen, wer Maxwell Taylor war. Sammy Wix hatte gesagt, dass Billy ihn Onkel Max genannt hatte, aber in 121
Billys Personalakte wurde kein Verwandter namens Taylor erwähnt. Andererseits musste das nichts heißen. Die einzigen Verwandten, die in staatlichen Personalakten aufgeführt werden mussten, waren direkte Familienangehörige und Verwandte, die ebenfalls in Staatsdiensten standen. Das war Uncle Sams wasserdichte Methode, um Vetternwirtschaft zu vermeiden. Als er noch einmal Billys Akte durchblätterte, fiel ihm etwas auf, das er bislang übersehen hatte. Es war kein Vater angegeben. Im Feld für den Namen des Vaters standen nur die kryptischen Initialen »NZ«. Da die unbefleckte Empfängnis noch nicht wieder in Mode gekommen war, bezweifelte er, dass ein »nicht zutreffend« als Deutung zutreffend gewesen wäre. DeMarco wusste, dass der Secret Service den Hintergrund seiner Angestellten gründlich durchleuchtete, und ein unbekannter Vater hätte sicherlich mehr als nur eine verwundert hochgezogene Augenbraue als Reaktion ausgelöst. Hier handelte es sich um eine staatliche Behörde, die immer wieder für ihre penible Genauigkeit gerühmt wurde. Da ihm Billys Personalakte nicht weiterhalf, versuchte er es mit der Highschool, an der Billy seinen Abschluss gemacht hatte. Im Gegensatz zu seinem Erzeuger war die Schule in der Akte angegeben. Er telefonierte mit der Konrektorin, einer Dame, die wie Andy Griffiths Mutter klang. DeMarco täuschte einen vornehmen Südstaatenakzent vor und behauptete, ein Reporter aus Atlanta zu sein. Er erzählte der Dame, seinem Verleger, der gelegentlich eine etwas lange Leitung hatte, sei zu Ohren gekommen, dass ein Sohn des Staates Georgia dem Präsidenten das Leben gerettet hatte, als dieser Yankee versucht hatte, ihn zu erschießen. Nun wollte er sich erkundigen, ob es noch jemanden an der Schule gab, der sich an den Helden erinnerte. Die Konrektorin konnte DeMarco zu ihrer großen Freude verkünden, dass sie Billy persönlich kannte, da sie schon an der Schule arbeitete, seit Lesen und Schreiben in Georgia als 122
Pflichtfach eingeführt worden waren. Sie bat ihn, einen Moment zu warten, während sie das Jahrbuch der Highschool holte. Dann leierte sie die Liste von Billys hervorragenden Leistungen herunter, die sich ausschließlich auf Sportarten bezogen, die mit einem Ball gespielt wurden. Rein schulische Leistungen wurden nicht erwähnt. Dann lenkte DeMarco das Gespräch auf Billys Familie und fragte die Frau, was sie ihm über seine Herkunft sagen konnte. Es folgte eine längere Pause, und als die Konrektorin schließlich antwortete, war die Südstaatenfreundlichkeit aus ihrer Stimme verschwunden. Sie schlug vor, dass DeMarco sich direkt an Billy wandte, wenn er etwas über seine Ma und seinen Pa wissen wollte. Sie sprach tatsächlich von »Ma« und »Pa«. DeMarco erkannte an ihrem Tonfall und den Pausen zwischen den einzelnen Worten, dass sie mehr wusste, es aber für sich behalten würde. Als DeMarco dann seine letzte Frage stellte – ob sie Billys Lieblingsonkel Max Taylor kannte – hörte er, wie ihm die Tür des Schulgebäudes vor der Nase zugeschlagen wurde. Er erhielt die sachliche Mitteilung, dass es gegen die Richtlinien der Schule verstieß, Informationen über ehemalige Schüler weiterzugeben. Wenn er weitere Fragen hatte, würde er sie in schriftlicher Form an die Schulverwaltung der Gemeinde richten müssen. DeMarco legte langsam das Telefon zurück. Mit der Frage nach Billys Familie hatte er einen wunden Punkt berührt, aber er konnte sich nicht vorstellen, was der Grund dafür sein mochte. Das »Clyde« war eine Institution in Georgetown und laut dem Messingschild neben der Eingangstür vor über vierzig Jahren gegründet worden. Trotzdem schien das Lokal die Phase der Identitätsfindung immer noch nicht abgeschlossen zu haben. Modellflugzeuge hingen über manchen Tischen, Palmwedel über anderen, die Speisekarte umfasste Chili-Gerichte und französische Cuisine, alte Poster von Dampfschiffen wetteifer123
ten mit Fotos von Rennwagen und Sportlerbüsten aus längst vergangenen Tagen. In der Nähe der Theke hing ein großes Gemälde von Custers letzter Schlacht, das eher zu einem Saloon in Montana gepasst hätte. Der Laden gehörte zu DeMarcos Lieblingslokalen. Er setzte sich an einen wackligen Tisch, der nicht allzu weit von der Theke entfernt war, und wartete auf Emma. Eine Kellnerin, eine hübsche junge Frau mit viel zu viel blauem Lidschatten, fragte ihn, was er trinken wollte. Er zögerte. Eigentlich hätte er gerne etwas Süßes bestellt, zum Beispiel eine Piña Colada, aber er konnte sich lebhaft das Kichern der Kellnerin vorstellen, wenn er ihr seinen Wunsch genannt hätte. Also bestellte er einen männlichen Wodka Martini. Als das Getränk kam und wie kaltes Kerosin schmeckte, wurde ihm klar, dass Männer manchmal einen zu hohen Preis zahlten, um ihre Männlichkeit zu demonstrieren. DeMarco sah auf die Uhr. Emma verspätete sich, was recht ungewöhnlich war. Er nahm einen weiteren Schluck von seinem Drink und verzog erneut das Gesicht. Wenn Emma kam, konnte er sie vielleicht überreden, eine Piña Colada zu bestellen und mit ihm zu tauschen. DeMarco warf einen Blick zur Tür, und dabei fiel ihm eine Frau auf, die an der Theke saß. Sie hatte schwarzes Haar, braune Haut und eine ausgesprochen nette Figur. Es kam zum Blickkontakt, und die Frau sah ihn mit einem sanften Lächeln an. Kein Komm-doch-mal-rüber-Lächeln, dachte DeMarco, aber immerhin ein freundliches Hallo-Fremder-Lächeln. Oder war es vielleicht doch ein Komm-doch-mal-rüber-Lächeln? Emma betrat das Lokal. Sie begab sich in hoheitsvoller Haltung zu DeMarcos Tisch und wartete, bis er aufgestanden war und den Stuhl zurückzog, damit sie Platz nehmen konnte. Manchmal hatte sie solche Anwandlungen. Die Kellnerin kam. »Darf ich Ihnen etwas zu trinken bringen, Madam?« 124
»Ach, ich weiß nicht«, sagte Emma mit geistesabwesender Miene. Bevor DeMarco sie daran hindern konnte, zeigte sie auf seinen Wodka Martini und sagte: »Geben Sie mir einfach dasselbe, was er hat.« Nachdem die Kellnerin den Drink serviert hatte, sagte sie: »Dieser Estep ist Wildhüter in einem Nationalpark.« DeMarco hatte ihr nicht zugehört, weil er zur schwarzhaarigen Frau an der Theke schaute. Emma folgte seiner Blickrichtung und verzog verärgert den Mund. »Joe, hast du gehört, was ich gerade gesagt habe? Estep arbeitet als Wildhüter.« »Als Wildhüter?« »Ja. Er ist für ein Sumpfgebiet in Georgia zuständig. Den Okefenokee-Sumpf.« »Okefenokee?« »Willst du heute Abend jedes Wort wiederholen, das ich sage?« »Tschuldigung. Warum sollte ein Wildhüter unserem Billy eine Ohrfeige verpassen?« DeMarco schaute wieder zur Theke hinüber. Eine zweite Frau, die mit der Beute einer Marathon-Einkaufstour beladen war, ging zur schwarzhaarigen Frau. Sie umarmten sich wie alte Freundinnen. Verdammt, dachte DeMarco. Er hatte gehofft, dass die Frau allein hier war. »Ich weiß es nicht«, sagte Emma. »Aber Mr. Estep ist kein gewöhnlicher Naturliebhaber. Er ist Vietnam-Veteran mit zwei Belobigungen für Tapferkeit, aber dann wurde er mit zwanzig Jahren wegen schlechter Führung aus der Armee entlassen.« »Warum?« »Ich weiß es nicht. In den frühen Achtzigern hatte er Ärger mit der Drogenpolizei, weil er eine Lastwagenladung Haschisch über verschiedene Staatsgrenzen geschmuggelt hat. Wegen seines militärischen Führungszeugnisses erhielt er nur eine Bewährungsstrafe.« 125
»Aber du hast doch gesagt, dass er unehrenhaft entlassen wurde.« »Nein, ich sagte, er wurde wegen schlechter Führung entlassen, und ich erwähnte auch seine Auszeichnungen. Vielleicht hatte der Richter ein schlechtes Gewissen, weil er selbst nicht gedient hatte. Ich weiß nur, was mein Freund von der Drogenpolizei aus seinem Computer herausgeholt hat.« »Mehr hat er nicht gefunden?« »Nein. Nur die eine Verhaftung vor zwanzig Jahren und sonst nichts.« »Und Max Taylor?«, fragte DeMarco. »Nichts«, sagte Emma. »Nirgendwo sind Vorstrafen aufgeführt. Mein Informant versucht noch rauszukriegen, ob er oder Estep irgendeine Verbindung zu Edwards haben.« DeMarco sah, wie die schwarzhaarige Frau etwas zu ihrer Freundin sagte, worauf beide Frauen zu DeMarco herüberschauten. Die Schwarzhaarige lächelte ihn wieder an. Eindeutig ein Komm-doch-mal-rüber-Lächeln, dachte DeMarco. Kein Zweifel. »Mein Gott, Joe!«, sagte Emma. »Geh doch einfach rüber und sag ›Hallo, ich heiße Joe DeMarco und ich bin hin und weg, weil Sie genauso wie meine Exfrau aussehen. Sind Sie zufällig auch eine Schlampe?‹« »Sie sieht überhaupt nicht …« »Aber hallo! Sie ist vom gleichen mediterranen Schlag, sie hat den gleichen süßen Arsch und genauso große Titten. Wann wirst du endlich diese Frau vergessen haben?« DeMarco zuckte mit den Schultern. »Mit wie vielen Frauen habe ich dich zusammengebracht, Joe?« Es ging schon wieder los. »Es waren drei«, sagte Emma, als DeMarco nicht antwortete. »Und alle drei waren richtig nett. Und alle hatten Eigenschaften, die deine Exfrau nicht hatte, Kleinigkeiten wie Humor, Einfüh126
lungsvermögen und Intelligenz. Und alle mochten dich, auch wenn ich nicht verstehe, warum. Und du hast nicht eine von ihnen zurückgerufen.« DeMarco wusste, dass sie Recht hatte. Seine Frau war eitel, gehässig und nicht allzu helle gewesen – und sie hatte ihn mit seinem eigenen Cousin betrogen, einem Drecksack, der als Buchmacher für die alte Truppe seines Vaters gearbeitet hatte. Seine Frau hatte ihm immer erzählt, sie würde nach New York zu ihrer Mutter fahren, und dann hatte sie mit seinem Cousin das Wochenende in Atlantic City verbracht. Aber sie war auch die sinnlichste Frau gewesen, die DeMarco jemals kennen gelernt hatte. Und es war mehr als nur Sex gewesen. Er hatte sich in sie verliebt, als er sechzehn und sie vierzehn gewesen war. Sie war für ihn in jeder Hinsicht die Erste gewesen – das erste Mädchen, mit dem er Händchen gehalten hatte, das erste Mädchen, das er geküsst hatte, die erste Frau, mit der er geschlafen hatte. Er hätte Emma gerne gesagt, dass in der Liebe nichts logisch war, aber sie hatten diese Diskussion schon ein paarmal geführt. Und wenn er bedachte, in welcher Stimmung Emma war, würde sie sein Herz höchstwahrscheinlich in kleine Schnipsel zerfetzen. »Du solltest endlich wieder anfangen zu leben«, sagte Emma. »Kauf dir neue Möbel, leg dir eine Freundin zu, und kehre in die menschliche Gesellschaft zurück.« »Ja, schon gut«, sagte DeMarco. Wenn er genau hinsah, hatte die Schwarzhaarige doch Ähnlichkeit mit seiner Ex. »Was schlägst du vor, wie ich jetzt weitermachen sollte, Emma?« »Meinst du dein Privatleben oder den Fall?« »Den Fall.« »Ich weiß es nicht.« Emma sagte nur selten, dass sie etwas nicht wusste. Sie saß eine Zeit lang schweigend da und hing ihren eigenen Gedanken nach, während ihr langer Fingernagel den Rand ihres Glases entlangfuhr. 127
»Heute Nacht bin ich nicht in der Stadt, Joe. Ich komme morgen oder übermorgen wieder. Ruf Mike an, wenn du etwas brauchst.« Verdammt, er hatte sich so sehr auf seine verkümmerte Libido konzentriert, dass er Emmas Problem völlig vergessen hatte. Er kam sich wie ein egoistisches Arschloch vor. »Geht es um die junge Frau, die ich neulich in deiner Wohnung gesehen habe? Julie?« »Ja.« »Ist sie deine Tochter, Emma?« Emma zögerte. »Ja«, antwortete sie schließlich. Für DeMarco war es undenkbar, Emma zu fragen, wie sie zu einer Tochter gekommen war. Stattdessen sagte er: »Wie kann ich dir helfen, Emma? Sag es mir.« Emma nahm einen Schluck von ihrem Drink und sah DeMarco über den Rand des Glases hinweg an. »Meine Tochter ist eine brillante junge Frau, die einen grässlichen Geschmack hat, was Männer betrifft. Vor zwei Jahren hat sie etwas mit einem verheirateten Mann angefangen. Irgendwann kam sie wieder zur Vernunft und erklärte ihm, dass sie ihn nicht mehr sehen wollte. Aber er war nicht bereit, sie gehen zu lassen. Er ist völlig besessen von ihr. In den vergangenen sechs Monaten hat er sie pausenlos bedrängt. Mit E-Mails und Anrufen mitten in der Nacht. Er hat Leute beauftragt, sie zu verfolgen. Er hat ihr Telefon abgehört. Er hat ihre Post geöffnet. Vor einem Monat hat er einen Mann in die Flucht geschlagen, mit dem sich Julie getroffen hat, und letzte Woche hat sie seinetwegen ihren Job verloren. Deshalb ist sie zu mir gezogen. Er ist dabei, ihr Leben zu ruinieren.« »Dann soll sie es seiner Frau sagen.« »Das hat sie schon getan. Seine Frau ist ein Fußabtreter und hat seine Affären seit Jahren geduldig ertragen. Wahrscheinlich wird sie von diesem Monstrum missbraucht und hat viel zu viel Angst vor ihm.« 128
»Und die Polizei will Julie nicht helfen?« »Er ist die Polizei. Er ist sogar Staatsanwalt in einer großen Stadt im Westen. Er ist sehr reich und sehr mächtig und hat sehr gute Beziehungen. Der Gouverneur ist sein Kumpel, ein Senator ist sein Onkel.« »Was willst du gegen ihn unternehmen?«, fragte DeMarco. Ihre blassblauen Augen waren so kalt und lebensfeindlich wie das Polarmeer. »Vielleicht bringe ich ihn um«, sagte Emma.
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18 Byron Moore, Colonel a. D. der US-Army, war einssiebzig groß, hatte eine schlanke Figur und trug eine schwarze Hornbrille. Sein Haar war schwarz, an den Seiten kurz geschnitten und oben nach vorn gekämmt, um die hohe Stirn zu verdecken. Außerdem hatte er einen leichten Buckel und humpelte, die Folgen der Verwundungen, die er sich in Vietnam zugezogen hatte. DeMarco musste jedes Mal an Shakespeares Richard III. denken, wenn er ihn sah. Er hatte Moore vor fünf Jahren kennen gelernt. Mahoney hatte den Hinweis erhalten, dass der Assistent eines politischen Rivalen seine Verbindungen zum Pentagon nutzte, um an Insiderinformationen über die Verwendung des Militärbudgets zu gelangen. Der Mann im Pentagon brachte in Erfahrung, welche Rüstungsfirma als Nächste eine Finanzspritze zu erwarten hatte, worauf der Mitarbeiter des Kongresses losrannte und haufenweise Aktien für sich und seinen Kumpanen kaufte. Wahrscheinlich war der Sprecher des Repräsentantenhauses nur neidisch, dass er nicht selber auf diese Idee gekommen war. Während der Ermittlungen war DeMarco zu der irrtümlichen Schlussfolgerung gelangt, dass Byron Moore der Kontaktmann im Pentagon war. Als er Moore eines Abends beschattet hatte, ging Moore auf ihn los, warf ihn mit einem Judogriff um und drohte, mit einem Finger seine Luftröhre zu zerquetschen. Moore lächelte, als er die Drohung aussprach. Obwohl DeMarco zehn Zentimeter größer und fünfzig Pfund schwerer als der Colonel war, hegte er nicht den leisesten Zweifel, dass der Mann in der Lage war, seine Ankündigung in die Tat umzusetzen. Moore teilte DeMarco schließlich mit, dass er im Auftrag des Militärs am selben Fall arbeitete. Außerdem sagte er, DeMarco hätte sich völlig verrannt und steckte so tief in der Scheiße, dass 130
sonnige Tage für ihn bald nur noch eine ferne Erinnerung sein würden. Dann hatte Moore ihm verraten, wer der wirkliche Übeltäter war. Seine erste Begegnung mit dem Colonel war eine zutiefst demütigende Erfahrung gewesen. DeMarco hatte herausgefunden, dass Byron Moore ein erstklassiger Soldat gewesen war, ein Green Beret mit drei Einsätzen in Vietnam und ein Experte im unbewaffneten Kampf und für Sprengaktionen. Vor zwei Jahren sah er sich gezwungen, sich zur Ruhe zu setzen, als man ihm einen weiteren Stern verweigerte. Auf DeMarcos Frage, warum er nicht befördert worden war, antwortete er mit einem ironischen Lächeln und der Auskunft, dass es eine ganz simple Sache war. Die Armee beförderte keine buckligen Zwerge zu Generälen, weil das nicht gut für das Image des Militärs war. Moore lebte allein in einem kleinen Apartment mit Blick auf den Soldatenfriedhof in Arlington. Die endlosen Reihen der weißen Grabmäler waren unstrittig von einer wehmütigen Schönheit, aber für DeMarco war es kein Anblick, den er jeden Tag genießen wollte. Die Wohnung des Colonels hing voller Bilder mit Freunden in Uniform und Souvenirs von Feldzügen, über die das Pentagon am liebsten den Mantel des Vergessens gebreitet hätte. Auf einem kleinen Tisch stand ein Foto, das beinahe zwischen all den anderen unterging – das Bild eines jungen Byron Moore, sonnengebräunt und mit freiem Oberkörper, der symmetrisch und durchtrainiert war. Er hielt eine M16 in der Hand und blinzelte in die gnadenlose Sonne Asiens. Es gab auch ein Foto von Moores Verabschiedung. Er trug eine prächtige Ausgehuniform, seine Brust wurde von einem Regenbogen der Tapferkeit geziert, und an seinem Gürtel hing ein Ziersäbel. Sein verbittertes Lächeln war genauso schief wie seine Wirbelsäule. Byron trauerte der Armee nach, die sein ganzes Leben und seine große Liebe gewesen war. Während er sich mit DeMarco unterhielt, wanderte sein Blick immer wieder nach draußen zu 131
den weißen Grabsteinen, und DeMarco konnte sich vorstellen, wie er an den meisten anderen Tagen allein dasaß und auf den Moment wartete, an dem sein Name auf einem der Steine stand. »Ich hoffe, Sie unternehmen nichts, was diesen Estep aus der Reserve lockt, Joe«, sagte Moore. »Noch habe ich es nicht vor«, erwiderte DeMarco. »Warum? Sollte ich Angst vor ihm haben?« »Er ist ein Verrückter. Er ging gleich nach der Highschool zur Armee – freiwillig, nicht als Wehrpflichtiger. Er war ein verdammt guter Schütze, und er wurde hauptsächlich für weitläufige Erkundungen eingesetzt. Man hat ihn ganz allein losgeschickt, manchmal drei oder vier Tage am Stück, um das Gelände auszukundschaften. Wenn er etwas sah, das sich töten ließ, tötete er es.« »Ist er in dieser Hinsicht ein Verrückter?« »Nein, das war nur sein Job. Aber das Töten machte ihm viel zu viel Spaß. Haben Sie von den Leuten gehört, die da drüben mit Halsketten aus Ohren rumgelaufen sind?« DeMarco nickte. »Estep war ein leidenschaftlicher Sammler.« »War das der Grund für seine Entlassung aus der Armee?« Moore schüttelte den Kopf. »Man muss aus einem ganz besonderen Holz geschnitzt sein, um sich allein durch den Dschungel zu kämpfen. Wenn man jemanden gefunden hat, der den Mumm dazu aufbringt, nimmt man ein paar Absonderlichkeiten in Kauf.« Moore hielt für einen Moment inne. DeMarco spürte, dass er nicht an Dale Estep, sondern an sich selbst dachte, und fragte sich, welche Absonderlichkeiten zu den Eigenarten des Colonels gehören mochten. Moore ging zu seinem Schreibtisch hinüber und hob eine Handgranate auf, die er als Briefbeschwerer benutzte. DeMarco war sich instinktiv sicher, dass die Granate noch funktionsfähig und keineswegs ein harmloses Souvenir war. Moore drückte die Granate, als wäre sie eins dieser gefederten Fitnessgeräte, mit 132
denen man die Handmuskeln trainierte. »Irgendwann war Estep mit einem kleinen Trupp auf Patrouille, als sie an ein Reisfeld kamen. Dort arbeiteten sieben Vietnamesen, die Hälfte von ihnen Frauen. Der zweite Lieutenant wollte das Feld überqueren, aber es war nicht ganz klar, ob die Bauern friedlich waren oder zu den Vietcong gehörten. Er sagte seinen Männern, dass sie sich aufteilen, ruhig abwarten und eine Weile die Lage beobachten sollten. Dann erhebt sich ein alter Vietnamese und entfernt sich ein Stück von den anderen, um zu scheißen. Während er über einem Loch hockt, fällt plötzlich ein Schuss. Der Alte steht schreiend auf und starrt entsetzt auf die Stelle, wo bis eben noch sein Sack hing.« DeMarco erschauderte unwillkürlich. »Darauf mäht Estep alle nieder, bevor sie in Deckung gehen können. Kein einziger Fehlschuss. Sieben Kugeln, sieben Treffer – schneller, als man blinzeln kann. Der Lieutenant dreht durch. Schreit ›Feuer einstellen!‹, als würde auf seine eigenen Verwandten geschossen. Natürlich sind dem Lieutenant die Schlitzaugen völlig egal. Er denkt nur an My Lai. Mit jedem Toten sieht er seine Karriere weiter den Bach runtergehen. Später hat Estep behauptet, er hätte den Befehl zum Einstellen des Feuers nicht gehört. Dafür will er den Befehl gehört haben, das Feuer zu eröffnen, auch wenn ihn sonst niemand gehört hat.« »Und deswegen wurde er entlassen?« »Ja, aber in den Akten steht, dass man ihn wegen ›wiederholter Insubordination‹ rausgeworfen hat. Es gibt keine Dokumentation über das, was an jenem Tag auf dem Reisfeld passiert ist.« Der Colonel warf die Granate hoch und fing sie mit der linken Hand wieder auf. Er sah DeMarco mit einem Augenzwinkern an und fügte hinzu: »Heute trägt dieser Lieutenant zwei Sterne.« »Wenn es keine Dokumentation des Vorfalls gibt, wie haben Sie dann davon erfahren?«, wollte DeMarco wissen. 133
Moore starrte ihn an, als hätte er eine völlig idiotische Frage gestellt. »Jemand, der Estep da drüben erlebt hat«, sagte Moore, »erzählte, dass er einer der besten Schützen war, die es je gegeben hat. Und dass er völlig aufs Töten versessen war. Menschen, Affen, Vögel, egal. Schießen und Töten machte ihm mehr Spaß als Baseball oder Wichsen.« DeMarco dachte an die Schießscharte in der Böschung. »Glauben Sie, jemand mit seiner Ausbildung könnte sich gut ein paar Tage lang verstecken? Während in der Nähe überall Leute herumlaufen?« Moore lachte. »Ob er so etwas könnte? Ich will Ihnen eine kleine Geschichte erzählen, Joe. Vor meinem ersten Einsatz führten wir ein Manöver gegen eine andere Einheit durch. Diese Leute waren genauso wie Estep für längere Erkundungsvorstöße ausgebildet und mussten sich vor uns auf einer freien Fläche verstecken. Wir sollten sie finden, bevor sie uns mit Farbbeuteln töten konnten. Das Feld war zwei Meilen lang und eine halbe Meile breit, und es gab kaum Deckung. Meine Leute waren ziemlich gut. Wir haben drei von den anderen aufgespürt. Und während wir herumstanden und nach dem vierten Typen suchten, wurden wir getroffen. Jeder von uns hatte plötzlich einen Farbklecks im Nacken. Die Dinger tun höllisch weh, das kann ich Ihnen sagen. Auf jeden Fall scheinen wir einfach über den vierten Kerl rübermarschiert zu sein. Als ich mich umdrehte, konnte ich ihn immer noch nicht sehen. Und plötzlich öffnet sich ein Loch im Boden, und dieser Junge im Tarnanzug kriecht aus der Erde. Er grinst von einem Ohr zum anderen, obwohl eine Hälfte seines Gesichts voller roter Striemen und das Auge völlig zugeschwollen ist. Irgendein Vieh hat ihn gebissen, während wir nach ihm suchten, und dieser Kerl hat sich die ganze Zeit nicht bewegt.« Moore warf erneut die Handgranate in die Luft. »Ob sich Estep für ein paar Tage irgendwo verstecken könnte? Jemand 134
wie er könnte sich eine Woche lang in Ihrer Toilettenschüssel verstecken, Joe, ohne dass Sie ihn bemerken würden.«
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19 Emma hatte Eric Masons Foto auf einer Internetseite gesehen, und sie war sich sicher, dass er der Mann war, der auf den schwarzen Lexus zuging. Er war attraktiv, einen Meter achtzig groß, hatte schwarzes Haar, die Sonnenbräune eines Golfspielers und Augen, die funkelten, wenn er lächelte. Er trug einen grauen Zweireiher, ein blaues Hemd mit weißem Kragen und eine rotbraune Krawatte. Er pfiff vor sich hin und klimperte mit den Autoschlüsseln im Rhythmus. Er schien rundum zufrieden mit der Welt und sich selbst zu sein. Emma hatte eine kurzhaarige rote Perücke und eine große Sonnenbrille aufgesetzt. Sie trug Jeans, ein T-Shirt der University of Nevada und Wanderstiefel. Sie ging auf Mason zu und stimmte ihr Tempo so ab, dass sie im gleichen Moment neben ihm war, als er seinen Lexus erreichte. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte Emma. »Sind Sie nicht Eric Mason, der Bezirksstaatsanwalt?« Mason lächelte die Frau an und zeigte seine makellos weiß überkronten Zähne. »Ja, der bin ich.« Er freute sich darauf, in seinen Club zu fahren, wo er mit seinem Makler einen trinken wollte, aber es konnte nie schaden, nett zu potenziellen Wählern zu sein. Außerdem war die Frau recht hübsch, wenn auch etwas zu alt für ihn, wie er bei näherem Hinsehen feststellte. »Ich wollte mich nur vergewissern«, sagte Emma, dann holte sie mit dem Knüppel aus, den sie an ihr Bein gepresst hatte und brach Eric Masons perfekte Nase. Mason wirbelte unter der Wucht des Schlages herum, und Emma setzte noch einmal mit einem Hieb gegen seinen Hinterkopf nach. Mason brach bewusstlos am Boden zusammen, und Emma hob seine Autoschlüssel auf, wo sie auf den Beton gefallen waren. Als sie den Kofferraum von Masons Wagen geöffnet hatte, war eine zweite 136
Frau zu ihr gestoßen, die mithalf, Mason in den Kofferraum zu verfrachten. Mason kam langsam wieder zu Bewusstsein. Er lag auf dem Rücken. Er war nicht gefesselt, aber er hatte trotzdem kaum Bewegungsspielraum. Als er eine Hand hob, stieß er auf eine harte, glatte Oberfläche, die nur zehn Zentimeter von seinem Gesicht entfernt war. Er befand sich in einer Art Kasten, und die Luft roch abgestanden, feucht … erdig. In diesem Moment wurde ihm klar, dass er sich in einem Sarg unter der Erde befand, und er begann zu schreien und mit den Händen gegen den Deckel zu hämmern. Während er schrie, glaubte er, eine Stimme im Ohr zu hören. Die Stimme sagte zu ihm, dass er still sein sollte. Er hörte auf zu schreien, obwohl er seine Panik kaum beherrschen konnte. Dann bemerkte er, dass er im linken Ohr einen Hörer hatte, aus dem die Stimme kam. »Schon besser«, sagte die Stimme, die er nun als die der rothaarigen Frau erkannte, die ihn in der Tiefgarage niedergeknüppelt hatte. »Was zum Teufel soll das?«, brüllte Mason. »Wer sind Sie? Lassen Sie mich sofort frei!« »Was ist, Mr. Mason? Leiden Sie unter Klaustrophobie?« Emma wusste, dass es so war. Sie hatte sich gründlich über den Mann informiert. »Verdammt, lassen Sie mich hier raus!« »Mr. Mason, die Luft, die Sie gegenwärtig atmen, kommt durch ein Rohr mit zwei Zentimetern Durchmesser, das sich genau über Ihrem Kopf befindet. Schauen Sie nach oben. Ich werde mit einer Lampe hineinleuchten.« Emma hielt eine Kugelschreiberleuchte über das Atemrohr. Sie konnte Masons Augen sehen. Sie waren riesig und schienen ihm aus dem Kopf springen zu wollen.
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»Im Moment ist das Atemrohr offen, Mr. Mason, aber da Sie nicht bereit sind, Vernunft anzunehmen, werde ich es jetzt mit einem Stöpsel verschließen.« »Nein!«, schrie Mason. »Ihr Luftvorrat wird in genau fünfzehn Minuten aufgebraucht sein. Ich werde in sechzehn Minuten wieder mit Ihnen reden.« »Nein!«, schrie Mason erneut. Entsetzt beobachtete er, wie das Licht erlosch, dann hörte er, wie etwas in die Öffnung des Atemrohrs gestopft wurde. In den nächsten Minuten schrie er und hämmerte mit Händen und Füßen gegen den Sargdeckel. »Sie verbrauchen den Sauerstoff viel zu schnell, Mr. Mason«, sagte die Stimme in seinem Ohr. »Unter diesen Umständen wird die Luft nicht für fünfzehn Minuten reichen, sondern vielleicht nur für dreizehn oder vierzehn. Können Sie drei Minuten lang den Atem anhalten, Mr. Mason? Sie sind doch kein Raucher, oder?« Emma wusste, dass er es war. Während Mason im Dunkeln lag und versuchte, nicht zu atmen und nicht erneut auszurasten, beobachtete Emma ihn. Über seinem Kopf war ein dünnes Glasfaserkabel angebracht, das an einen Monitor angeschlossen war. Emma könnte aufzeichnen, wie Mason starb, wenn sie wollte. Sie schaltete das Mikro aus, das sie zur Kommunikation mit Mason benutzte, und sagte zu ihrer Freundin: »Du hast wirklich gute Arbeit geleistet, Sam.« Emma und Samantha saßen auf Plastikgartenstühlen. Sie befanden sich in einer Garage zwei Meilen von Masons Haus entfernt. Der Sarg stand vor ihnen auf dem Boden. Der erdige Geruch, den Mason wahrgenommen hatte, stammte von einem kleinen Haufen Kompost neben der Atemöffnung. Samantha hatte den Sarg mit der Röhre, der Glasfaserkamera und dem Kommunikationssystem ausgestattet. »Es war ziemlich einfach«, sagte Samantha. »Alles, was ich dazu brauchte, gab es in meinem Laden. Ich musste nur noch die 138
Kiste kaufen.« Obwohl sie seit ihrer Pensionierung offiziell nicht mehr in Staatsdiensten stand, half Samantha immer wieder gewissen Behörden und alten Freunden aus, wenn spezielle Aufgaben gefordert waren. »Auf jeden Fall danke ich dir für die Unterstützung«, sagte Emma. »Kaffee?«, fragte sie und griff nach der Thermoskanne zu ihren Füßen. »Gerne«, sagte Samantha. Auf den ersten Blick schien es sich um zwei Frauen zu handeln, die sich gut verstanden und deren entspanntes Geplauder nur gelegentlich von dumpfen Geräuschen aus dem Sarg unterbrochen wurde. »Wie geht es Richard?«, fragte Emma. Richard war Samanthas Mann. »Im Moment ist er ganz wild auf Fliegenfischen. Du kennst doch Richard. Wenn er ein neues Hobby entdeckt, ist er völlig davon besessen. In den vergangenen zwei Monaten waren wir jedes Wochenende an irgendeinem Fluss, Teich oder Bibertümpel.« »Ein Ehemann kann schlimmere Hobbys haben als Fliegenfischen«, sagte Emma. »Ja. Wie zum Beispiel dieses Arschloch.« Samantha blickte auf den Sarg. Emma sah auf die Uhr. Noch zehn Minuten. Sie schaute auf dem Monitor nach, wie es Mason ging. Sie hoffte, dass er keinen Herzinfarkt bekam. »Und wie geht es deiner Enkeltochter?«, erkundigte sich Emma. Samantha hatte den Luftvorrat im Sarg sehr präzise berechnet, und als Emma zehn Minuten später wieder auf den Monitor schaute, keuchte Mason wie ein Fisch auf dem Trockenen und brach sich die manikürten Fingernägel am Sargdeckel ab. Emma zog den Stöpsel aus dem Atemrohr und richtete die Kugelschreiberleuchte auf Masons Gesicht. 139
»Mr. Mason, sind Sie jetzt bereit, mir zuzuhören?« »Ja, sicher«, sagte Mason. »Sagen Sie mir einfach, was Sie wollen. Geht es um einen meiner Fälle?« »Nein, Mr. Mason. Es geht um eine junge Frau namens Julie Fredericks, der Sie in den vergangenen sechs Monaten das Leben zur Hölle gemacht haben. Sie kann nicht mehr schlafen, sie hat Gewicht verloren, und sie nimmt Antidepressiva. Sie steht kurz vor einem Nervenzusammenbruch – und das nur, weil Sie nicht verstehen wollen, was das Wort ›nein‹ bedeutet.« »Julie?« Masons Verwirrung schien nicht vorgetäuscht zu sein. »Ja, Julie«, sagte Emma. »Sie sind ein Egoist ohne Gewissen, Mr. Mason. Und Sie haben vor nichts Angst, weil Sie wissen, dass Sie für das Rechtssystem unantastbar sind. Sie könnten diese junge Frau ungestraft weiter belästigen, bis sie entweder sich selbst oder Sie umbringt. Und wenn Julie Sie töten würde, wäre damit auch ihr Leben ruiniert.« »Ich werde damit aufhören«, sagte Mason. »Ich schwöre, dass ich aufhören werde.« »Ihnen ist niemals in den Sinn gekommen, dass sich jemand einen Scheißdreck um die Gesetze schert und Sie körperlich zur Rechenschaft ziehen könnte, nicht wahr? So etwas tun nur miese Verbrecher. Sie hätten sich niemals träumen lassen, dass so etwas einem mächtigen Mann wie Ihnen passieren könnte, und schon gar nicht wegen einer solchen Kleinigkeit wie die Belästigung einer jungen Frau.« »Bitte, ich verspreche …« »Aber es war ganz einfach. Ich habe Sie aus der Tiefgarage des Gebäudes geholt, in dem Sie arbeiten, wo es vor Gesetzeshütern nur so wimmelt. Fühlen Sie sich immer noch unantastbar, Mr. Mason?« »Wer sind Sie?« »Darüber werden wir in sechzehn Minuten reden, Mr. Mason. Ach nein, machen wir diesmal siebzehn Minuten draus.« 140
Emma steckte den Stöpsel wieder in die Atemröhre und schnitt Masons Schrei ab. »Wie geht es Audrey?«, fragte Samantha. »Sie ist nach New York gezogen.« »Oh, das tut mir Leid, Emma.« »Sie hat ein Jobangebot erhalten, das sie einfach nicht ausschlagen konnte. So etwas wollte sie schon immer machen.« »Und du konntest nicht mitgehen?« »Du kennst mich doch, Sam. Ich bin ein Gewohnheitstier. Und … nun ja, vielleicht ist es sogar besser so.« Diesmal wartete Emma, bis Mason bewusstlos wurde. Erst dann öffnete sie das Atemrohr. Einen Moment lang befürchtete sie, dass sie den Sarg aufmachen mussten, um den Mann wiederzubeleben, doch dann kam er von selbst wieder zu sich. »Können Sie mich hören, Mr. Mason?«, fragte Emma. Masons Antwort bestand aus einem gierigen Einsaugen frischer Luft. »Um Ihre Frage von vorhin zu beantworten – ich gehöre zu einer Organisation, die geschaffen wurde, um Frauen wie Julie Fredericks zu helfen, Frauen, die von Männern missbraucht und terrorisiert werden. Frauen, denen der Staat keinen Schutz gewährt, weil der Staat von Männern wie Ihnen repräsentiert wird. Es ist eine Organisation von Frauen für Frauen, Mr. Mason. Eine Organisation, die Frauen wie Julie Fredericks vor Monstern wie Ihnen schützt.« Emma sah Samantha an und zog eine Grimasse. Sie klang wie die in Leder gekleidete Heldin einer Comicserie. Samantha grinste zurück und bildete mit den Lippen die lautlosen Worte Weiter so, Mädchen! »Ich verspreche, dass ich sie in Ruhe lassen werde!«, brüllte Mason. »Ich glaube Ihnen nicht, Mr. Mason.« Emma verstopfte das Atemrohr wieder, und Mason begann zu heulen. Klaustrophobie in Kombination mit der Vorstellung, 141
lebendig begraben zu sein, gesteigert durch die sehr reale Erfahrung des Erstickens, konnte selbst den mutigsten Mann fertig machen. Und Emma wusste, dass Eric Mason nicht zu den mutigsten Männern zählte. Sechzehn Minuten später gewährte Emma ihrem Opfer wieder frische Luft. Sie rümpfte die Nase. Mason hatte sich in die teure Anzughose gemacht. Es dauerte mehrere Minuten, bis er sich so weit beruhigt hatte, dass Emma wieder mit ihm reden konnte. »Mr. Mason«, sagte Emma, »sind Sie davon überzeugt, dass wir jederzeit ohne Schwierigkeiten an Sie herankommen?« »Ja!« »Glauben Sie, es könnte passieren, dass eine nette Frau, die wie eine harmlose Großmutter aussieht, mit einer Einkaufstüte hinter Sie tritt und Ihnen mit einer schallgedämpften Pistole eine Kugel in den Rücken jagt?« »Ja!« »Glauben Sie, es könnte passieren, dass eine junge Frau, die wie eine ganz normale Sekretärin aussieht, bis zu Ihrem Büro vordringt und Gift in die Kaffeekanne schüttet, die in Ihrem Vorzimmer steht?« »Ja!« »Glauben Sie, es könnte passieren, dass eine junge Mutter, eine wirklich überzeugende junge Mutter, Sie überfährt, während Sie joggen, und anschließend erklärt, Sie wären gestolpert und zufällig unter die Räder ihres Wagens geraten? Sind Sie davon überzeugt, dass Ihnen solche oder ähnliche Dinge zustoßen könnten, Mr. Mason?« »Ja, verdammt, ja! Ich glaube Ihnen!«, kreischte Mason. »Das hoffe ich sehr, Mr. Mason, denn ich kann Ihnen versprechen, dass Ihnen etwas in dieser Art zustoßen wird, falls Sie Julie Fredericks noch einmal belästigen. Haben Sie das verstanden?« »Ja, ich schwöre bei Gott, dass ich nie wieder …«
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»Mr. Mason, in zehn Minuten wird ein Wecker klingeln. Wenn Sie dieses Signal hören, drücken Sie gegen den Deckel des Sarges. Wenn Sie gegen den Deckel drücken, bevor Sie den Wecker hören, wird ein Sprengsatz gezündet, der dafür sorgt, dass Sie Ihre Hände verlieren.« Samantha musste sich den Mund zuhalten, um nicht laut zu lachen. »Ihr Wagen steht vor dem Gebäude, in dem Sie sich befinden, Mr. Mason. Die Schlüssel liegen unter der Matte vor dem Beifahrersitz. Und noch etwas, Mr. Mason. Nachdem Sie ihre voll geschissene Hose gegen eine saubere gewechselt haben, nachdem Sie ein paar Tage wieder ins Büro gegangen sind und vor Ihren Lakaien damit geprahlt haben, was für ein toller Kerl Sie sind, nachdem Ihre Nase verheilt ist und Sie wieder mit dem zufrieden sind, was Sie im Spiegel sehen, sollten Sie unter gar keinen Umständen dem Irrglauben verfallen, dass diese Erfahrung nur ein böser Alptraum gewesen war. Vergessen Sie nicht, dass dies eine sehr reale Erfahrung ist. Wir kommen wieder, Mr. Mason, falls Julie Fredericks noch einmal von Ihnen hören sollte.«
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20 »Hallo, Emma.« »Hallo, Neil«, sagte Emma. »Du hast mir gar nicht angekündigt, dass du einen Freund mitbringst, Emma.« Neil zeigte mit seinem Kinn – beziehungsweise den drei Lagen seines Dreifachkinns – auf DeMarco. Neil war ein extrem fetter Mann Anfang fünfzig mit gelblichgrauem Pferdeschwanz, der an seinem kahler werdenden Schädel herabhing wie der Schwanz eines räudigen Tieres. Er trug ein Hawaii-Shirt, weite Shorts und Sandalen. Seine Waden hatten etwa den gleichen Umfang wie DeMarcos Oberschenkel. Der große Raum, in dem er sich ausgebreitet hatte, war vollgestellt mit Computern, Aufzeichnungsgeräten und zahllosen anderen elektronischen Apparaturen, deren Zweck DeMarco bestenfalls erraten konnte. Die einzige Beleuchtung kam von den Monitoren. Neil saß auf einem Hocker mit Rollen. Sein Hintern ragte weit über die Sitzfläche hinaus. Der Hocker ermöglichte es ihm, sich schnell und mühelos zwischen den Gerätschaften hin und her zu bewegen. Wenn er nicht sprach, leckte er an einem Fruchteis. »Du kannst ihm vertrauen, Neil«, sagte Emma. »Joe ist nicht nur mein Freund, er ist auch der Auftraggeber.« DeMarco hatte den Eindruck, dass Emma müde wirkte, aber sie schien ihre Krise überwunden zu haben. Vielleicht hatte sie mit dem Mann gesprochen, der ihrer Tochter so große Probleme machte. DeMarco wusste, das Emma sehr überzeugend sein konnte. »Ach, der Auftraggeber«, sagte Neil. »Also bezahlt er die Rechnung?« »Es wird keine Rechnung geben, Neil. Erinnerst du dich an Tel Aviv?« 144
»Emma, mein Personal und ich …« »Dein Personal?« Neil warf einen Blick in Richtung eines jungen Schwarzen, der ein Sweatshirt der Washington Wizards trug. Weder Emma noch DeMarco hatten ihn gesehen, als sie den schwach beleuchteten Raum betreten hatten. Der Mann saß in einer Ecke und hatte sich hinter dem Bildschirm eines Laptops versteckt. Rostfarbene Dreadlocks hingen ihm bis zu den Schultern herab. Sein Körper bewegte sich im Rhythmus der unhörbaren Musik, die aus seinen Kopfhörern kam. Er war so sehr in seine Arbeit und die Musik vertieft, dass er Neils Besucher offenbar gar nicht bemerkt hatte. »Personal ist nicht gut, Neil«, sagte Emma. »Genauso wie unangekündigt Freunde mitzubringen, Emma.« Mit einer Kopfbewegung nahm Emma seinen Standpunkt zur Kenntnis. »Ich wollte sagen, dass mein Personal und ich über dreißig Stunden an diesem Projekt gearbeitet haben. Dreißig Stunden, die ich für zahlende Klienten hätte nutzen können.« »Wir betrachten Tel Aviv jetzt als vollständig abbezahlt, Neil. Einverstanden?« Neil schwieg einen Moment lang, dann verzog sich sein Gesicht zu einem breiten Grinsen, das schief gewachsene Zähne offenbarte. »In diesem Fall sollten wir in mein Büro gehen, Emma. Da können wir es uns etwas gemütlicher machen.« Emma und DeMarco folgten Neils riesigem Hintern durch eine Metalltür in das Spielzimmer eines Erwachsenen. Auf den Regalen stapelten sich sämtliche existierenden Brettspiele. Hardware von Nintendo und Sega war an riesige Plasmabildschirme angeschlossen, die wie moderne Kunstwerke an den Wänden hingen. Dazwischen waren hintereinander ein Flipper, ein Billardtisch und ein Tischfußballspiel aufgereiht.
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Neil gab Emma und DeMarco mit einem Wink zu verstehen, dass sie in den Polstersesseln vor seinem unaufgeräumten Schreibtisch Platz nehmen sollten, während er sich auf einen Stuhl setzte, der eine Spezialanfertigung für seine besonderen Gewichtsverhältnisse zu sein schien. »Kann ich dir und deinem Freund etwas anbieten, Emma? Fruchteis, Müsliriegel, Konfekt?« »Um Himmels willen! Schieß lieber los, Neil.« Neil hob einen Laptop vom Fußboden auf und stellte ihn auf den Schreibtisch. Er klappte ihn auf und drückte ein paar Tasten. »Da hätten wir’s ja schon«, sagte er. »Zunächst einmal habe ich keine Verbindung zwischen dem verstorbenen Harold Edwards und irgendeinem der anderen Mitspieler im Dixieland-Drama gefunden. Mattis hat niemals Kontakt mit ihm aufgenommen, weder über E-Mail noch über Telefon. Mattis und Edwards haben niemals in der gleichen Einheit der Armeereserve gedient und gehörten auch nicht der gleichen Kirche, dem gleichen Club oder irgendeiner anderen Organisation an. Edwards war zehn Jahre älter als Mattis und lebte ausschließlich oberhalb der Mason-Dixon-Linie, was die Möglichkeit, dass sie zu irgendeinem Zeitpunkt ihres Lebens miteinander zu tun hatten, weiter reduziert. In Edwards’ medizinischen Daten ist mir aufgefallen, dass er leichtes Übergewicht hatte …« DeMarco hätte beinahe laut aufgelacht. Für Neil war vermutlich jeder, der weniger als hundert Pfund über dem Idealgewicht lag, »leicht« übergewichtig. »… aber sonst bei guter Gesundheit war, und laut Gerichtsdatenbank wurde er in den letzten drei Jahren zweimal wegen Trunkenheit am Steuer erwischt.« Neil schleckte an seinem Eis, bevor er fortfuhr. »Nun zu William Raymond Mattis. Der Kerl ist ein GS-11, und seine Frau ist eine Friseuse, die etwa fünf Dollar pro Stunde verdient.« Neil blickte vom Computerbildschirm zu Emma und 146
schüttelte bestürzt den Kopf. »Unser Land müsste dringend einen Mindestlohn einführen, mit dem man überleben kann.« »Mach weiter, Neil«, sagte Emma. »William und seine Frau leben genauso, wie man es aufgrund ihres Einkommens erwarten würde. Auf ihrem Haus lastet eine Hypothek, die erst in vierzig Jahren abgezahlt sein wird, und auf ihrem gemeinsamen Sparkonto liegen weniger als fünftausend Dollar. Jeder von ihnen hat ein Auto, mit beiden sind sie knapp hunderttausend Meilen gefahren. Sie können Gott dafür danken, dass William eines Tages eine staatliche Pension beziehen wird, sonst könnten die beiden im Alter nur noch von Dosenfutter leben. Fazit: Wenn dieser Typ ein Nachwuchsattentäter ist, dann muss in dieser Branche die Bezahlung zumindest für Berufsanfänger absolut beschissen sein. Als Nächstes kommen wir zu diesem Sumpfwärter, diesem Mr. Estep. Ein ziemlich interessanter Bursche. Er ist genauso wie William im mittleren Staatsdienst beschäftigt. Anders als William hat er überhaupt nichts gespart. Ich habe mir seine Steuererklärungen besorgt. Er hat nichts, was ihm Zinsen einbringt, und gleichzeitig bezahlt er für nichts Zinsen. Was bedeutet, dass er keine Kreditverträge abgeschlossen hat. Ursprünglich hatte ich daraus geschlussfolgert, dass Estep irgendwie mit seinem spärlichen Gehalt zurechtkommt und sein Haus vielleicht geerbt hat. Dann bin ich auf eine geniale Idee gekommen – was übrigens der Grund ist, warum alle Leute außer Emma mich so gut bezahlen. Ich habe mir seine Versicherungspolicen angesehen. Der gute Mr. Estep besitzt sämtliches Spielzeug, an dem der durchschnittliche Macho Spaß hat. Er hat eine Corvette, Baujahr 1999, die er als Neuwagen mit allen Extras gekauft hat. Sein Haus, das nicht belastet ist, wird auf einen Wert von hundertzwanzigtausend Dollar geschätzt. Wenn er in einer zivilisierten Gegend leben würde, zum Beispiel in Arlington, wäre dasselbe Haus eine halbe Million wert. Er hat außerdem einen Jeep, 147
Baujahr 2000, einen Ford-Transporter, Baujahr 2003, ein Motorboot, das dreißigtausend Dollar gekostet hat, und einen Jetski, der fünfzehntausend wert ist. Seine Waffensammlung ist mit dreißigtausend versichert. Was fällt meiner lieben Emma und ihrem Freund dazu ein?« »Das Gleiche wie dir, Neil«, sagte Emma. »Er hat ein unsichtbares Einkommen, das bar und in großen Mengen fließt.« »Du könntest ihn damit caponieren, wenn du möchtest, Emma. Oder ihm damit drohen, wenn du ihn unter Druck setzen willst.« »Caponieren?«, fragte Emma. Zum ersten Mal meldete sich DeMarco zu Wort. »Al Capone landete wegen Steuerhinterziehung im Gefängnis, nicht weil er ein Gangster war.« »Das ist mir bekannt«, sagte Emma. »Ich hatte nur noch nicht davon gehört, dass er schon als Verbform in die Umgangssprache eingegangen ist.« Das kann ich mir vorstellen, dachte DeMarco. Emma mochte es nicht, wenn Zweifel aufkamen, dass sie die intelligenteste Person im Raum war. Neil schlürfte hörbar an seinem Fruchteis und leckte dann den Stiel sauber. »Und jetzt kommen wir zu den richtig interessanten Typen«, sagte er. »Taylor und Donnelly. Diese zwei Herren erlebten im Jahr 1964 ihre finanzielle Wiedergeburt.« »Was soll das heißen?«, fragte DeMarco. »Bis 1964 hatten sowohl Donnelly als auch Taylor ein Einkommen der unteren Mittelklasse, wie man es angesichts ihrer Jobs erwarten würde. Donnelly war frisch gebackener Agent des Secret Service und stand 1963 auf der Gehaltsstufe GS-5, was damals etwa fünftausend Dollar pro Jahr waren. Mr. Taylor ließ sich von der Armee einziehen, schaffte es in einer steilen Karriere bis zum Sergeant, und nach seiner Entlassung arbeitete er bei der texanischen Polizei. 1963 verdiente er weniger als Donnelly. Die beiden jungen Männer – Donnelly war damals fünfundzwanzig und Taylor siebenundzwanzig – hatten keine 148
Ersparnisse und keine Immobilien. Keiner von beiden war verheiratet, auch später nicht.« Neil wackelte mit den schwabbeligen Fingern. »Ich habe mich auf digitale Wanderschaft begeben und festgestellt, dass beide Männer in ganz miesen Verhältnissen aufgewachsen sind, Taylor im ländlichen Georgia, wo die Leute ohne Schuhe rumgelaufen sind, und Donnelly auch nicht viel besser in Pennsylvania, wo sich sein Vater als Arbeiter in einer Gießerei durchschlug.« »Und was ist nun im Jahr 1964 passiert?«, fragte Emma. »Ich weiß es nicht, meine liebe Emma. Das ist der Grund, warum mein Personal und ich so viel Zeit mit deiner Anfrage verbracht haben. Hast du eine Vorstellung, wie schwer es ist, an Informationen aus der Zeit vor vierzig Jahren ranzukommen – weit vor der Geburt der Denkmaschinen?« »Was hast du also herausgefunden, Neil? Und wenn du nicht aufhörst, die Sache künstlich in die Länge zu ziehen, werde ich anfangen, dir verschiedene Knochen zu brechen. Das schwöre ich dir.« »Warum willst du immer alle Probleme mit Gewalt lösen, Emma?« »In Tel Aviv warst du darüber ganz froh«, murmelte Emma. Neil erschauderte, als er sich an die Sache erinnerte. »Ich fange mit Donnelly an«, sagte er. »1964 bezahlte er Steuern auf ein Erbe von ungefähr zwei Millionen Dollar.« »Von wem hat er das Geld geerbt?«, wollte Emma wissen. »Keine Ahnung. Wie ich bereits sagte, war es 1964, lange bevor unser Leben auf Einsen und Nullen reduziert wurde. Aber ich weiß, dass er es nicht von seinen stinkarmen Verwandten in Pennsylvania geerbt haben kann. Es mag natürlich sein, dass Donnelly eine reiche Tante hatte, die in Singapur lebte und ihren Lieblingsneffen testamentarisch bedacht hat. Aber ich weiß es nicht. Ich konnte nur herausfinden, dass Donnelly seinen neu
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erworbenen Reichtum brav dem Finanzamt meldete und einen ziemlichen Batzen Steuern für seine Ehrlichkeit zahlte. Von da an verhielt er sich in finanzieller Hinsicht so konservativ, dass sich mir der Magen umdreht. Wenn mir 1964 jemand zwei Millionen gegeben hätte, wäre ich jetzt der Besitzer mehrerer Kasinos in Atlantic City, gleich neben denen von Donald Trump. Aber Donnelly, dieser Idiot, legt das Geld aus dem Erbe und sein gutes Beamtengehalt auf Sparbüchern, in Aktiendepots, Pfandbriefen, Fonds und solchen Sachen an. Absolut keine Phantasie und kein Risiko. Heute ist er schätzungsweise sechs Millionen Dollar schwer, wenn man sein Haus dazurechnet.« Ein Vermögen von sechs Millionen klang für DeMarco atemberaubend, aber Neil hatte nur Verachtung für den Mann übrig. »Ich habe mir auch Donnellys Versicherungsdaten angesehen, nachdem die von Mr. Estep so erhellend waren. Aus ihnen geht hervor, dass Donnelly ein bescheidener Sammler orientalischer Kunst ist. Alle paar Jahre kauft er ein Schwert oder eine Reisschüssel. Seine Sammlung ist mit zweihunderttausend versichert, aber seine Liquidität zum Erwerb asiatischen Geschirrs steht nicht im Widerspruch zu seinem monatlichen Einkommen.« »Aber du weißt nicht, woher der ursprüngliche Geldregen kam.« »Nein, Emma. Zum dritten Mal. Dieser Punkt ist mir sehr peinlich. Darf ich jetzt fortfahren?« Emma nickte. »Der allseits geschätzte Mr. Taylor ist das genaue Gegenstück zu Donnelly. Er ist ein finanzielles Wunderkind. 1964 hörte Taylor bei der texanischen Polizei auf, ging zurück in die idyllische Landschaft Georgias und begann, alles Mögliche zu kaufen. Woher er das Geld für seine anfänglichen Investitionen hatte, ist mir ein absolutes Rätsel, das monetäre Äquivalent einer spontanen Selbstentzündung. Das Weitere erklärt sich wohl 150
daraus, dass er vom ersten Augenblick seiner Kaufaktivitäten an die Dienste der besten Steuerberaterkanzlei in Atlanta in Anspruch nahm. Wie du vielleicht weißt, Emma, bin ich ziemlich gut darin, den Fluss des Geldes zu verfolgen, aber diese Leute in Atlanta sind die absoluten Meister der finanziellen Verschleierung. Taylor hat seine Erträge in so ziemlich jede Wohltätigkeitsorganisation außer dem Ku-Klux-Klan gepumpt, dazu kommen enorme geschäftliche Verlustabschreibungen und Steueroasen, in denen man einen Buckelwal verstecken könnte. Nach meiner vorsichtigen Schätzung liegt Taylors gegenwärtiges Vermögen bei über hundert Millionen, aber ich könnte mich um den Faktor vier vertan haben.« »Aber er hat 1964 angefangen, zur gleichen Zeit, als Donnelly geerbt hat?«, fragte Emma. »Richtig, aber mit wie viel er angefangen hat und woher das Geld kam, weiß ich nicht. Und das stinkt mir ganz gewaltig.« »Könnte man Taylor caponieren?«, fragte DeMarco. »Auf gar keinen Fall. Wegen der Steuerjongleure aus Atlanta. Außerdem wäre es theoretisch möglich, dass Taylor sein Vermögen völlig legal erworben hat. Er könnte 1964 beim Pokern neuntausend Dollar gewonnen und damit IBM-Aktien gekauft haben. Schon hätte sich der Betrag verdoppelt. Dann kauft und verkauft er etwas Land, und sein Geld hat sich vervierfacht. Und so weiter. Vielleicht war es so, und 1964 ist weiter nichts Besonderes passiert. Ich weiß es einfach nicht, Emma.« »Haben sich ihre Wege jemals gekreuzt?«, fragte DeMarco. »Nicht dass ich wüsste. 1963 war Donnelly in Los Angeles stationiert, und Taylor arbeitete in Texas, wie ich bereits erwähnte. Zwischen Juni 1964 und Januar 1966 war Donnelly in New York und seit 1966 in D.C. Taylor verließ Texas im Dezember 1963 und kehrte in seine Heimatstadt in Georgia zurück. Dort wohnt er seit 1965 im gleichen Haus.« 151
Emma stand auf. Sie wollte Neil die Hand schütteln, dann sah sie den klebrigen grünen Fleck vom Eis an seinen Fingern. Also griff sie stattdessen in die Hosentasche, um ihre Autoschlüssel herauszuziehen. »Vielen Dank, Neil«, sagte sie. »Da nicht für, Emma«, sagte Neil.
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21 »Tja, Joe«, sagte Senator Maddox, »ich würde Ihnen gerne helfen, aber ich weiß einfach nicht, was ich Ihnen über den guten alten Max erzählen könnte, der da unten im Sumpf haust, so weit weg von der Zivilisation. Er ist einfach nur jemand, der die Partei unterstützt, und das ist auch schon alles, was ich über ihn weiß.« »Senator«, sagte DeMarco, der keinen Hehl aus seiner Ungläubigkeit machte, »Maxwell Taylor ist reich genug, um sich einen eigenen Sumpf zu kaufen. Und eins kann ich mit Sicherheit sagen: dass Sie viel mehr über ihn wissen. Für mich ist es sehr wichtig, etwas über ihn zu erfahren, Sir.« »Es tut mir sehr Leid, Joe, aber …« »Wie geht es Mrs. Maddox?«, sagte DeMarco, und beide Männer blickten gleichzeitig auf das Foto, das am Rand von Maddox’ Schreibtisch stand und die Frau des Senators zeigte, eine frühere Südstaatenschönheit, die sich in einen Drachen verwandelt hatte. J. D. Maddox war der älteste Senator aus Georgia, in der Politik aktiv, seit er Hosen trug. Das J. D. stand für Jefferson Davis, aber seit man den Schwarzen in Georgia das Wahlrecht gewährt hatte, benutzte er nur noch seine Initialen. Sein Akzent war so schwer wie ein Alabama-Schinken, er hatte schneeweißes Haar und einen Mark-Twain-Schnurrbart. Diese noch recht attraktiven Züge kombinierten sich mit einem rotfleckigen Gesicht, das er zu vielen Mint Juleps zu verdanken hatte, und einen Bauch, der von zahlreichen Büfetts aufgequollen war. Mit über siebzig war er – vielleicht sogar mit Absicht – zur lebenden Karikatur eines Südstaatenpolitikers geworden. Vor zwei Jahren hatte Maddox – Ehemann, Vater, Großvater und Erzfeind allen unchristlichen Tuns – seinen runzligen alten 153
Schwanz in eine neunundzwanzig Jahre alte Assistentin gesteckt. Der Assistent eines anderen Politikers hatte Wind von Maddox’ Ausrutscher bekommen und kam sehr bald darauf, dass der Senator zu jeder Gefälligkeit bereit war, wenn er das Gespräch mit einem Augenzwinkern und einer Bemerkung über frische süße Pfirsiche aus Georgia eröffnete. Mahoney hatte von Maddox’ Schwierigkeiten gehört und erwartungsgemäß großes Mitgefühl gezeigt. DeMarco erhielt den Auftrag, den lästigen Assistenten irgendwie zu überzeugen, sich fortan vom Senator fernzuhalten. Als äußerst hilfreich hatte sich die Feststellung erwiesen, dass der Mann ein Faible für die Prostituierten in der Fourteenth Street hatte. Der Senator war DeMarco so dankbar, dass er ihm ewige Dankbarkeit versprochen hatte. Doch nun sah es danach aus, dass die Ewigkeit bereits nach zwei Jahren abgelaufen war. Maddox saß hinter einem Schreibtisch von den Ausmaßen eines Flugzeugträgers und zwirbelte mit einer leberfleckigen Hand das eine Ende seines Schnurrbarts. Er überlegte sich, wie er DeMarco auf nette Art klar machen konnte, dass er zum Teufel gehen sollte. Maddox war DeMarco zwar einen Gefallen schuldig, aber Max Taylor war ein Parteifreund aus seinem Wahlkreis. Andererseits stellte DeMarcos Erwähnung der Frau des Senators eine unterschwellige Drohung dar. Als erfahrener Politiker entschied sich Maddox für pragmatische und gegen prinzipielle Erwägungen. »Max Taylor ist ein Mysterium, Joe. Er hat mehr Geld als Midas, aber ich wette, außerhalb von Georgia gibt es keine zehn Menschen, die seinen Namen kennen. Außerhalb von Charlton County gib es in Georgia keine fünfzig Menschen, die jemals von ihm gehört haben. Aber in Charlton County kennt ihn jeder Mann, jede Frau und jeder größere Hund, und zwar ganz einfach deshalb, weil Max der komplette Bezirk gehört.« »Wo liegt Charlton County, Senator? Ich meine, welche größere Stadt liegt in der Nähe?« 154
»Es liegt nicht in der Nähe einer größeren Stadt, mein Junge. Es liegt in der Nähe des Okefenokee-Sumpfes.« Der Senator erhob sich mit etwas Mühe von seinem Stuhl. »Kommen Sie rüber, Yankee, dann zeige ich es Ihnen auf der Karte.« DeMarco trat mit Maddox vor eine Landkarte des Staates Georgia, die den größten Teil einer Wand seines Büros bedeckte. »Sehen Sie hier?«, sagte Maddox. »Dieses Viereck in der südöstlichen Ecke, gleich neben Florida? Das ist Charlton County, Georgia. Überall, wo Sie diese kleinen grünen Zeichen sehen, ist Sumpfland – der große Okefenokee, der die komplette westliche Hälfte des Bezirks einnimmt. Und hier auf der Ostseite des Sumpfes liegen am Highway 23 die kleinen Provinznester wie Racepond, Uptonville und St. George. Das größte Kaff ist Folkston, die Bezirkshauptstadt und die Heimat von Maxwell Taylor.« DeMarco erinnerte sich, dass Billy Mattis in Uptonville aufgewachsen war. Nach dieser Karte lag Billys Heimat-Stadt nur eine Daumenbreite von Folkston entfernt, wo Estep und Taylor lebten. »Was meinen Sie damit, wenn Sie sagen, dass ihm Charlton County gehört, Senator?« »Das meine ich genauso, wie ich es sage, mein Junge. Max Taylor besitzt drei Viertel des Landes in diesem Bezirk und fast jede Firma, die größer als eine Tankstelle ist. Seit vierzig Jahren hat er alles aufgekauft, was sich unter den Nagel reißen lässt. Charlton County ist sein privates Königreich.« Das mochte Taylors derzeitige finanzielle Situation erklären, aber nicht, wie er seinen Reichtum begründet hatte. »Woher hatte er das Geld für diesen Eroberungsfeldzug?«, fragte DeMarco. Maddox sagte nichts, sondern kehrte zu seinem Stuhl zurück, dessen Federn protestierend kreischten, als er ihn besetzte. Er 155
lächelte ironisch und wackelte wie ein Südstaaten-Groucho mit den Augenbrauen. »Das ist einer der Punkte, die Max zu einem Mysterium machen.« »Wie meinen Sie das, Sir?«, fragte DeMarco. Warum ließ sich dieser Arsch jede Information einzeln aus der Nase ziehen? »Ich meine, dass niemand weiß, woher er das Startkapital hat. Max ist in einer Blechhütte ohne Wasser und Strom aufgewachsen. Sein Vater war zeitweise Bergarbeiter, zeitweise Holzfäller und die ganze Zeit betrunken. Er hat seine Frau und seine Kinder regelmäßig verprügelt. Max hat zwei Schwestern, eine etwa fünfzehn Jahre älter als die andere. Ich habe Gerüchte gehört, nach denen die ältere Schwester die Mutter der jüngeren und Max’ Vater deren Vater sein soll. Sie verstehen, was ich damit sagen will?« DeMarco nickte. »Jetzt haben Sie einen ungefähren Eindruck von der Familie, die Max verlassen hat, als er sechzehn war. Er verbrachte ein paar Jahre in der Armee und arbeitete dann für die HighwayPolizei von Texas. Und 1964 oder so kam er zurück und fing an, alles Mögliche zu kaufen. Aber woher er das Geld dafür hatte – ich habe nicht den leisesten Schimmer, Joe, und das schwöre ich, so wahr mir Gott helfe. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass Max 1964 viel mehr Geld besaß, als er durch bloße Sparsamkeit hätte zusammenraffen können.« Der Senator zog ein rotes Taschentuch hervor und putzte sich lautstark die Nase. Während Maddox das Ergebnis seiner Bemühungen begutachtete, fragte DeMarco: »Sind Ihnen jemals Gerüchte zu Ohren gekommen, nach denen er an irgendwelchen illegalen Aktionen beteiligt gewesen sein soll, Senator?« »Nein, Joe. Mir ist nichts dergleichen zu Ohren gekommen. Allerdings hatte ich schon immer den Eindruck, dass Max ein sehr vorsichtiger Mensch ist.« »Wie steht es um seine politische Einstellung?« 156
Der Senator ließ seine Zahnkronen aufblitzen, die weiß wie das Porzellan einer Toilettenschüssel waren. »Ich kann Ihnen eine Geschichte erzählen, die Max’ politische Einstellung illustriert. Max hat mich eines Tages etwa einen Monat vor einer Wahl – vergessen Sie nicht, dass diese Sache Jahre zurückliegt – in meinem Büro angerufen und seine große Unzufriedenheit über meinen Standpunkt bezüglich einer Gesetzesvorlage zum Ausdruck gebracht, die eins seiner Investitionsobjekte betraf.« »Um welches Objekt handelte es sich?«, fragte DeMarco. »Können Sie sich daran erinnern?« »Ich erinnere mich sehr gut daran. Es ging um die Ölförderung vor der Küste. Max war an einer Gesellschaft beteiligt, die in einem Vogelschutzgebiet nach Öl bohren wollte. Die Naturfreunde stimmten gegen die Bohrerlaubnis, und ich stimmte mit ihnen, weil ich ihre Stimmen für einen Deal brauchte, durch den eine Firma in Savannah einen Rüstungsauftrag bekommen sollte. Max waren die Vögel scheißegal, das kann ich Ihnen sagen.« Der Senator lachte keuchend, als er sich an den Vorfall erinnerte, dann wurde aus der Heiterkeit ein ausgewachsener Hustenanfall, bei dem seine Gesichtsfarbe von Rot nach Violett wechselte. Als ihm nicht mehr die Augen tränten, sagte er: »Jetzt will ich Ihnen erzählen, was er dann gemacht hat, Joe. Max rief mich an und sagte, dass sein Bezirk – ich wiederhole, sein Bezirk – bei der nächsten Wahl geschlossen gegen mich stimmen würde. Können Sie sich vorstellen, was für ein Ego jemand haben muss, um so etwas zu äußern? Ich habe das natürlich für totalen Blödsinn gehalten, weil Charlton County schon immer unsere Partei gewählt hat, also habe ich ihn abblitzen lassen. Aber dann kam die Wahl, und fast jeder registrierte Wähler in diesem Bezirk stimmte für meinen Gegenkandidaten. Er bekam achtundneunzig Prozent! Wenn man genauer darüber nachdenkt, kann einem so etwas verdammt große Angst machen, mein Junge. Entweder hat Max den Leuten 157
gesagt, was sie wählen sollen, und sie haben es gehorsam wie eine Schafherde getan, oder er hatte Einfluss auf die Auszählung der Stimmen, sodass er das Ergebnis fälschen konnte. Beides kommt mir verdammt unheimlich vor, wenn Sie mich fragen. Ich stand haarscharf davor, meinen Sitz im Senat zu verlieren.« Maddox nahm einen Schluck aus einer Kaffeetasse, die auf seinem Schreibtisch stand. Für DeMarco roch es, als wäre der Kaffee aus Bourbon-Bohnen geröstet worden. Der Senator sah ihn lächelnd an. »Zum Glück sind meine Wähler heutzutage mehr die guten Leute in den Städten und nicht mehr die Rednecks am Okefenokee-Sumpf. Wenn Max sauer auf mich ist, kann ich jetzt also wieder etwas besser schlafen als damals. Aber ich kann Ihnen flüstern, dass ich seinetwegen fast einen Schlaganfall bekommen hätte.« DeMarco schwieg eine Weile, während er überlegte, wie er seine nächste Frage formulieren sollte. Er wusste nicht, wie er sie möglichst subtil stellen konnte. »Wie denkt Taylor über die derzeitige Regierung, insbesondere über den Präsidenten?« »Den Präsidenten? Ich vermute, er mag ihn sehr. Er hat fünfzig Riesen für seinen letzten Wahlkampf gespendet.« »Warum hat er das getan?« »Der Präsident hat erklärt, dass er Steuerreformen durchsetzen will – und der alte Max zahlt eine Menge Steuern.« »Hat er Sie in letzter Zeit angerufen, um sich über irgendetwas zu beklagen, was der Präsident getan hat?« »Nein? Warum fragen Sie danach? Was hat Max mit dem Präsidenten zu tun?«
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22 DeMarco zögerte kurz, dann hob er die Hand und klopfte gegen Billy Mattis’ Tür. Eine hübsche Frau Ende zwanzig machte ihm auf. Sie hatte schulterlanges aschblondes Haar, das sie zu einer altmodischen Farrah-Fawcett-Frisur angeordnet hatte, und eine gute Figur, die sie in Shorts und einem engen Oberteil zur Schau stellte. DeMarcos erster Eindruck war, dass sie von frivolem, aber gutmütigem und freundlichem Naturell war. Er dachte unwillkürlich, dass eine Schar flachsblonder Kinder am Saum ihrer Shorts hängen sollte. »Hallo«, sagte die Frau lächelnd. »Was kann ich für Sie tun?« DeMarco zog seinen Ausweis aus der Tasche, klappte ihn auf und wieder zu, bevor sie etwas lesen konnte. »Ich arbeite für die Bundesregierung, Madam«, sagte er mit seiner besten JoeFriday-Stimme. »Ich möchte mich mit Mr. Mattis unterhalten.« »Äh, natürlich«, sagte sie, nachdem DeMarcos Sachlichkeit sie für einen Moment aus dem Konzept gebracht hatte. Dann hellte sich ihre Miene wieder auf. »Ich bin Darcy, Billys Frau. Kommen Sie doch rein.« Sie war stolz darauf, Billys Frau zu sein. Das war ihrem Tonfall deutlich anzuhören. Als er ihr ins Haus folgte, fragte sie: »Arbeiten Sie mit Billy zusammen?« »Nein, Madam. Ich möchte mich nur mit ihm unterhalten.« »Dann setzen Sie sich bitte, während ich ihn hole.« Sie verließ das Wohnzimmer und rief gut gelaunt: »Liebling, hier ist jemand, der dich sprechen will!« DeMarco sah sich in Mattis’ Haus um. Von Neil wusste er, dass Billy nicht reich war, aber er konnte erkennen, dass jeder Gegenstand sorgfältig und mit kritischem Blick ausgewählt worden war. Hier war es gemütlich, warm und einladend. Er
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wünschte sich, er hätte Darcy Mattis bitten können, ihm bei der Einrichtung seines verödeten Hauses behilflich zu sein. Billy trat ins Wohnzimmer. Sein kurzes blondes Haar war feucht, als wäre er gerade aus der Dusche gekommen. Er trug ein T-Shirt und Jeans. Seine Füße waren nackt. Als Billy sah, dass DeMarco in seinem Wohnzimmer stand, wich er unwillkürlich ein Stück zurück, und DeMarco konnte beinahe sehen, wie sich sein flacher Bauch ängstlich anspannte. »Was zum Teufel wollen Sie von mir?«, fragte Billy. DeMarco sah, wie Darcy Mattis die Augen aufriss. Sie waren höfliche und anständige Leute, und sie war über die unerwartet feindselige Reaktion ihres Mannes schockiert. Als DeMarco nicht sofort antwortete und Billy ihn weiterhin anstarrte, sah Darcy ihren Besucher voller Besorgnis und Misstrauen an. Ihre Loyalität zu ihrem Gatten war unerschütterlich und konnte durch nichts in Frage gestellt werden. Wenn Billy DeMarco nicht mochte, dann mochte sie ihn auch nicht. »Was ist los, Billy?«, fragte sie. »Wer ist dieser Mann?« »Billy«, sagte DeMarco, »wir müssen miteinander reden. Am besten unter vier Augen.« Billy sah seine Frau an, dann wandte er den Blick wieder DeMarco zu. »Nein. Es gibt nichts, worüber wir reden müssten. Verlassen Sie mein Haus!« »Billy, ich bin hier, weil ich Ihnen helfen möchte. Was immer am Chattooga passiert ist – ich weiß, dass sie dazu gezwungen wurden.« »Billy, was will er damit sagen?«, fragte Darcy. Als er ihre Besorgnis hörte, nahm Billy ihre Hand und sagte leise: »Damit will er gar nichts sagen, Schatz.« Sein sanfter Tonfall sollte ihr schlechtes Gefühl vertreiben, aber diesmal funktionierte es nicht. Er sah wieder DeMarco an. »Außerdem geht er sowieso. Jetzt gleich.«
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»Billy, machen Sie keinen Fehler«, sagte DeMarco. »Ich weiß von Taylor und Estep.« Billys Gesicht wurde kreidebleich. »Oh Gott!«, entfuhr es ihm, bevor er sich zusammenreißen konnte. »Es ist noch nicht zu spät, Billy«, appellierte DeMarco an ihn. »Erzählen Sie mir keinen Blödsinn.« Billy schüttelte den Kopf. DeMarco spürte genau, dass er immer noch über Taylor und Estep nachdachte. Er wirkte so schockiert, dass er DeMarco an einen Krebspatienten erinnerte, dem soeben offenbart worden war, dass er nur noch wenige Monate zu leben hatte. »Billy«, sagte Darcy Mattis, »das macht mir Angst. Was ist hier los?« Billy drückte erneut ihre Hand und sagte: »Ganz ruhig, Schatz. Alles ist in Ordnung.« Die Liebe, die diese beiden Menschen miteinander verband, war beinahe greifbar. DeMarco mochte sich gar nicht vorstellen, wie Darcy leiden würde, wenn ihrem Mann etwas zustoßen sollte. Gleichzeitig fragte er sich, wie es sich anfühlen mochte, so bedingungslos geliebt zu werden. »Es ist nicht in Ordnung, Billy«, sagte DeMarco, »und das wissen Sie ganz genau.« »Verdammt, Sie sollen endlich von hier verschwinden! Sonst muss ich wohl Gewalt anwenden!« Nein, das würdest du niemals tun, dachte DeMarco. Dieser Mann verletzte keine Menschen, er beschützte sie. »Also gut, Billy. Ich werde gehen. Aber rufen Sie mich bitte an, falls Sie es sich anders überlegen.« Er hielt Billy eine Visitenkarte mit seinen Telefonnummern hin, und als Billy sie nicht annahm, legte er sie auf einen Tisch. Dann sah er Darcy an. »Versuchen Sie bitte, Ihren Mann zur Vernunft zu bringen, Mrs. Mattis.« »Lassen Sie meine Frau aus dem Spiel!« Billy trat mit geballten Fäusten einen Schritt auf DeMarco zu. »Und jetzt verlassen Sie auf der Stelle mein Haus!« 161
DeMarco ging zu seinem Wagen zurück und saß eine Stunde lang im Dunkeln, ohne irgendetwas zu tun. Er wollte sehen, ob Billy zu Estep rannte. Er tat es nicht. Um halb elf gingen im Haus die Lichter aus. Doch DeMarco bezweifelte, dass Billy ohne Schwierigkeiten schlafen konnte. DeMarco rief Mike mit seinem Handy an und bat darum, dass Sammy am nächsten Morgen Billy beschatten würde, während sich Mike um Estep kümmerte. »Und was werden Sie machen?«, fragte Mike. »Ihrer beider Arbeit koordinieren«, sagte DeMarco.
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23 An manchen Tagen ging alles schief. Sie begannen schlecht und hörten genauso auf, und zwischendurch passierte auch nichts Gutes. Dass DeMarco verschlief, war für ihn das erste Anzeichen, dass es sich um einen solchen schlechten Tag handelte. Er sprang in seinen Wagen, das Haar nach der Dusche noch nass und ungekämmt, das Hemd nicht richtig in die Hose gestopft, die Krawatte nicht gebunden, und raste seine Auffahrt hinunter. Dabei schleuderte er den Inhalt seiner Mülltonne auf den adrett gepflegten Rasen seines Nachbarn. Nachdem er den Abfall aufgesammelt hatte, waren seine Hände mit Tomatensoße beschmiert. Das hätte eigentlich für einen Morgen genügen müssen, aber ein launischer Gott hatte entschieden, dass es genau so weitergehen sollte. Während er auf der Mittelspur des Beltway fuhr, beschloss das Getriebe seines Wagens, den Geist aufzugeben. Die meisten der Autofahrer aus dem Stau, den er verursachte, bis es ihm gelungen war, den Wagen an den Straßenrand zu schieben, grüßten ihn freundlich mit einem erhobenen Finger, als sie an ihm vorbeifuhren. In den zwei Stunden, die er auf den Abschleppdienst warten musste, hatte er viel Gelegenheit, sich selbst zu bemitleiden und zu dem Schluss zu gelangen, dass es an diesem Tag unmöglich noch schlimmer kommen konnte. DeMarco saß im Warteraum einer überteuerten Werkstatt in Georgetown – einem jener Läden, in denen man StarbucksKaffee bekam, zum Ausgleich für die neunzig Dollar, die einem pro Arbeitsstunde berechnet wurden –, als er einen Anruf von Mike erhielt. »Billy hat sich wieder mit Estep getroffen«, sagte Mike. »Als er heute früh wie gewohnt losfuhr, ist er eine Weile herumgekurvt, um sich zu überzeugen, dass ihm niemand folgt. 163
Aber Sammy ist an ihm drangeblieben. Sammy ist eine Klette auf Rädern. Schließlich landet er in einem Restaurant an der K Street, nicht weit von Esteps Apartment entfernt. Estep war schon da, als Billy eintraf. Dort habe ich sie beobachtet.« Mike berichtete, dass Estep die meiste Zeit geredet habe, während Billy nur wie ein »geprügelter Hund« dagesessen sei. »Sammy ging rein und versuchte mitzuhören, was sie redeten, aber er kam nicht nahe genug ran. Estep griff nach Billys Unterarm und redete flüsternd auf ihn ein, ›irgendwie verzweifelt‹ soll es nach Sammys Worten gewirkt haben. Als wollte er ihn von etwas überzeugen. Nach dem Gespräch fuhr Billy zur Arbeit. Sammy ist ihm auf den Fersen geblieben.« »Was hat Estep gemacht, nachdem Billy gegangen war?«, fragte DeMarco. »Er saß noch eine halbe Stunde im Restaurant und machte nichts anderes, als Zigaretten zu rauchen und Kaffee zu trinken. Ich schätze, er hat nachgedacht. Dann stand er auf und führte ein sehr kurzes Telefonat. Er setzte sich wieder, und etwa zehn Minuten später klingelte das Telefon des Restaurants. Er redete eine Weile, dann rief er jemanden an. Dieses Gespräch dauerte etwa zehn Minuten.« »Geben Sie mir die Nummer dieses Anschlusses«, sagte DeMarco. »Ich werde Alice Bescheid sagen.« »Habe ich schon gemacht. Alice ist ganz schön sauer auf Sie. Sie sagt, es wäre Ihnen scheißegal, ob sie lebt oder stirbt.« »Stimmt. Und was hat Alice herausgefunden?« »Nix. Das erste Klingeln könnte nur ein Zeichen gewesen sein. Sie wissen schon, man ruft an, lässt es einmal klingeln und legt wieder auf. Dann geht der Betreffende zu einer Zelle und ruft Estep im Restaurant zurück.« »Was ist mit dem zweiten Anruf, der etwa zehn Minuten dauerte?« »Er ging an die Nummer einer Bar in Waycross, Georgia.« »Also wissen wir nicht, wen er dort angerufen hat.« 164
»Das hatte ich doch schon gesagt.« Weil ihm nichts anderes mehr einfiel, sagte DeMarco: »Okay, dann bleiben Sie an Estep dran.« »Das werde ich tun«, sagte Mike. Mann, war er heute grantig! »Sammy hat meine Handynummer, nicht wahr?«, fragte DeMarco. »Ja. Er wird Sie auf jeden Fall anrufen, wenn er Ihren Rat braucht.« Mike legte auf, ohne sich zu verabschieden. Die Moral seiner Angestellten schien im Keller zu sein. Vielleicht sollte er einen Betriebsausflug spendieren, dachte DeMarco. DeMarco fuhr mit dem Taxi zu seinem Termin im Marriot. Zu diesem Zeitpunkt hatte er sich bereits um fünf Stunden verspätet. George Morris, der Mann, mit dem er verabredet war, der Finanzbuchhalter eines Stahlwerks in Mahoneys Wahlkreis, war kein glücklicher Mann. Allerdings wäre er auch unglücklich gewesen, wenn DeMarco pünktlich eingetroffen wäre. »Wir müssen unsere Pensionszahlungen reduzieren, Joe. Das ist eine Tatsache, über die wir Mahoney aus reiner Freundlichkeit informieren. Wir fragen ihn nicht um Erlaubnis.« »Er hat es abgelehnt«, sagte DeMarco. Dass der Sprecher des Repräsentantenhauses DeMarco beauftragt hatte, für General Banks zu arbeiten, hielt ihn nicht davon ab, ihm weitere Aufträge zu geben. »Entweder das, oder wir müssen Leute entlassen.« »Sie werden niemanden entlassen. Lesen Sie sich das Kleingedruckte im Vertrag über den Rüstungsauftrag durch. Dort steht, dass Strafgebühren fällig werden, wenn Sie verspätet liefern. Im Pentagon wird irgendwer im Kleingedruckten nachsehen, sobald Sie auch nur eine Kündigung ausstellen.« »Verdammt noch mal, Joe, wir stehen vor dem Ruin! Unsere Konkurrenz betreibt Outsourcing im großen Stil, und unsere
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Materialkosten schießen in die Höhe. Wir müssen irgendetwas tun.« »Ich hätte da mal eine Frage, George. Wenn es Ihrer Firma so schlecht geht, wie kommt es dann, dass Ihr Vorstandsvorsitzender dieses Jahr eine Prämie von drei Millionen Dollar erhalten hat? Zusätzlich zu seinem Jahreseinkommen von zwölf Millionen Dollar?« »Woher wissen Sie …?« »Und Sie selbst bekommen eins Komma sechs Millionen, einschließlich der Aktienoptionen.« »Ich habe mir jeden einzelnen Cent dieser Prämie …« »Sie werden keine Rentenzahlungen reduzieren, und Sie werden auch niemanden entlassen, George.« Morris saß einen Moment lang da, kochte stumm vor sich hin und sagte schließlich: »Warum haben wir eine halbe Million in seinen verdammten Wahlkampf gesteckt? Erklären Sie mir bitte, wofür wir das getan haben, DeMarco.« »Sie haben eine halbe Million gespendet, um zwei Rüstungsaufträge im Wert von sechshundert Millionen Dollar zu erhalten, mit denen die Arbeitsplätze von zwölfhundert Menschen gesichert werden.« »Aber unsere Gewinnspanne …« DeMarcos Handy klingelte. Sammy Wix’ näselnder Brooklyn-Akzent sickerte in sein Ohr. »Dieser Mattis. Er sitzt hier in einer Bar, als würde er auf jemanden warten.« »Prima«, sagte DeMarco. »Rufen Sie mich an, wenn jemand kommt.« »Äh, ich muss um sechs Schluss machen, Chef. Ich hab’s Emma gesagt, als sie mich für diese Sache angeheuert hat. Ich kann diese Woche jeden Tag arbeiten, außer heute Abend. Mein Enkel hat Geburtstag. Emma hat gesagt, es wäre kein Problem.« Scheiße. »Kein Problem, Sammy. Dafür habe ich Verständnis. Wo sind Sie?« 166
Sammy sagte es ihm. »Ich muss jetzt gehen, George. Machen Sie Mahoney keinen Ärger!« Dann erinnerte sich DeMarco daran, dass sich sein Wagen immer noch auf der Intensivstation befand. Jetzt würde er erfahren, was ein schlechter Tag wirklich bedeutete.
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24 Das Taxi setzte DeMarco vor einem griechischen Imbiss ab. Sammy Wix saß drinnen an einem Fensterplatz. »Er ist in der Bar da drüben«, sagte Sammy und zeigte mit dem schmalen Kinn quer über die Straße. »Wahrscheinlich hat er jetzt einen kräftigen Schluck gebraucht.« »Den brauche ich auch«, sagte DeMarco und dachte kurz nach. »Sammy, wann müssen Sie spätestens los?« »Erst in einer Stunde.« »Gut. Dann gehen Sie doch einfach mal rüber, und genehmigen sich selbst einen Drink. Schauen Sie, ob sich Mattis mit jemandem unterhält.« Sammy ließ die Zunge herausschnellen wie eine Schlange, die versuchte, einen Regentropfen aufzufangen. »Klar. Das kann ich machen.« DeMarco übernahm Sammys Platz im kleinen Restaurant. Dreißig Minuten später kehrte Sammy lächelnd zurück. Der kleine Mistkerl hatte sich offenbar einen doppelten Drink genehmigt, dachte DeMarco. »Er sitzt ganz allein da, Chef«, sagte Sammy. »Er trinkt Bier, und zwar ganz langsam. Vielleicht ist er gar nicht verabredet. Vielleicht will er sich nur besaufen, oder er hat keine Lust, zu seiner Alten nach Hause zu fahren.« DeMarco konnte verstehen, dass jemand mit Billys Problemen das Bedürfnis nach zwei bis drei Bieren hatte, aber er glaubte nicht, dass Billy ein Trinker war. »Hat die Bar einen Hinterausgang, Sammy?« »Ja, aber er ist mit einer Feuerschutztür gesichert.« Sammy scharrte ein wenig mit den Füßen. Dann räusperte er sich. »Äh, Chef, ich müsste jetzt los. Ich möchte nicht zu spät
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zur Geburtstagsparty meines Enkels kommen. Er ist mein Lieblingsenkel, der kleine Scheißer.« »Ich verstehe, Sammy. Verschwinden Sie.« Sammy hatte sich ein paar Schritte weit entfernt, als DeMarco sich an seinen Wagen erinnerte. »Einen Moment noch, Sammy«, rief er ihm nach. »Ich habe keinen fahrbaren Untersatz. Mein Wagen ist in der Werkstatt. Wenn der Typ wegfährt, stecke ich in der Klemme. Könnten Sie ein Taxi nehmen und mir Ihren Wagen borgen? Ich werde Ihnen das Taxigeld erstatten.« »Kein Problem, Chef. Ich nehme die U-Bahn. Sie hält genau vor dem Haus meiner Tochter. Hier sind meine Autoschlüssel.« Sammy zeigte ihm, wo er seinen Wagen abgestellt hatte. »Übrigens, Chef«, fügte Sammy mit gesenkter Stimme hinzu, »falls es Ärger gibt, unter dem Fahrersitz liegt eine Kanone. Eine Achtunddreißiger. Sie ist geladen und entsichert.« »Sammy«, sagte DeMarco, »wenn ich in eine Situation geraten sollte, in der ich eine Waffe gebrauchen könnte, werde ich die Polizei rufen.« Diese Antwort überraschte Sammy. DeMarco wirkte wie jemand, der über ein gut ausgestattetes Waffenarsenal verfügte. DeMarco hoffte, dass Billy noch längere Zeit mit seinem Bier beschäftigt war, sodass er etwas essen konnte. Er bestellte sich ein Gyros und ein Bier und setzte sich auf einen Hocker am Tresen neben dem Fenster, um zu warten. Es wurde eine sehr lange Wartezeit. Er versuchte, sich mit dem Imbissbetreiber zu unterhalten, um die Zeit totzuschlagen, aber die Sprachbarriere erwies sich als unüberwindlich. Der Ladenbesitzer interessierte sich nicht für Baseball, und DeMarco verstand zu wenig von der Ökonomie des Gaststättengewerbes. Gegen acht Uhr hatte er zwei weitere Biere getrunken, und der Besitzer machte allmählich Feierabend. Als er unter dem Hocker, auf dem DeMarco saß, den Boden wischte, verstand dieser den Wink mit dem Zaunpfahl und verließ den Imbiss, um im Eingang zu einem benachbarten Computerladen herumzulungern. 169
Gegen halb neun kam Billy endlich aus der Bar. DeMarco beobachtete, wie er zu seinem Wagen ging und die Tür aufschloss. Für jemanden, der seit fünf Uhr getrunken hatte, bewegte sich Billy erstaunlich sicher. Warum hatte er fast vier Stunden ganz allein in einer Bar gesessen, um sie praktisch nüchtern zu verlassen? DeMarco fragte sich, ob er auf jemanden gewartet hatte, der nicht gekommen war. Dann fiel ihm eine andere Möglichkeit ein, als ihm klar wurde, dass die Dämmerung eingesetzt hatte. Vielleicht hatte Billy gewartet, dass es dunkel wurde, weil er sich dann mit jemandem treffen wollte. Sammys Wagen war ein Plymouth-Kombi aus den Achtzigern, der länger als eine normale Limousine war. DeMarco machte sich Sorgen, dass Billy ihn abhängen würde, bis er den Schlüssel im Zündschloss gedreht hatte. Das Fahrzeug gehörte vielleicht in ein Automobilmuseum, aber der Motor klang wie der eines Rennwagens. Jetzt musste er nur noch den Hebel finden, um den Sitz etwas nach hinten zu schieben, bevor er sich einen schweren Knieschaden zuzog. DeMarco rechnete damit, dass Billy zum Beltway und dann zurück nach Annandale fuhr, wo er wohnte. Aber er wandte sich in die entgegengesetzte Richtung. Je länger DeMarco ihn verfolgte, desto mehr wunderte er sich. Billy machte keine Anstalten, eine der Ausfallstraßen anzusteuern, sondern bewegte sich nach Südosten. Der Südosten der Hauptstadt war eine urbane Kampfzone, ein soziales Experiment, das auf katastrophale Weise fehlgeschlagen war. Dort waren Schießereien, Raubzüge von Gangs und Crack-Kriminalität an der Tagesordnung. Wer durch dieses Viertel fuhr, verriegelte die Wagentüren und betete, dass ihm nicht der Sprit ausging. DeMarco konnte sich nicht vorstellen, warum sich Billy in diesen Hexenkessel wagte. Billy überquerte die John Philip Sousa Bridge und hielt in der Nähe der Minnesota Avenue an. An einer Ecke gab es eine Bank mit einem Geldautomaten und an der anderen einen Drugstore. 170
Das Geschäft wurde gerade geschlossen, und jemand ließ die Stahlpanzerung vor den Fenstern herunter. Im Gegensatz zu DeMarco und seinen Nachbarn aus Georgetown hatten die Geschäftsinhaber in diesem Viertel keine ästhetischen Vorbehalte gegen schwere Metalljalousien vor ihren Schaufenstern. DeMarco fuhr an Billy vorbei und parkte einen halben Block weiter auf der gleichen Straßenseite. Er konnte Billy nicht in seinem Wagen beobachten, aber wenn er ausstieg, würde DeMarco ihn in seinen Seitenspiegeln sehen. Um genau zehn Uhr verließ Billy seinen Wagen, schaute sich vorsichtig um und näherte sich dem Geldautomaten. Während er seine Geheimzahl eintippte, kamen auf der anderen Straßenseite zwei schwarze Jugendliche um die Ecke. »He, Mister Geldmann!«, rief einer der beiden. »Ziehen Sie auch für mich ein paar Scheine raus!« Billys Kopf fuhr zu den zwei Jugendlichen herum, und DeMarco konnte erkennen, dass er stärker angespannt war als die Saiten auf Willie Nelsons Gitarre. Doch er sah sofort, dass ihm von den beiden keine Gefahr drohte, und schloss die finanzielle Transaktion ab. Er zählte das Geld, das der Automat ausgespuckt hatte, steckte es aber nicht sofort in die Brieftasche. Eine recht gefährliche Nachlässigkeit in einer Gegend wie dieser, dachte DeMarco. DeMarco wurde für einen Moment von den Jugendlichen abgelenkt. Sie feierten Billys Reaktion auf ihren Spruch mit einer Serie von Handschlägen, die so kompliziert war, dass sie sorgfältig choreografiert und einstudiert sein musste. Dann liefen sie auf der gegenüberliegenden Straßenseite weiter in DeMarcos Richtung, während sie herumalberten. Sie waren auf seiner Höhe, als eine dunkle Limousine um die Ecke bog und vor dem Geldautomaten anhielt. Ein Mann stieg aus dem Wagen, ging Billy ein Stück entgegen und sagte etwas zu ihm. Billy nickte und zeigte ihm das Bargeld, das er in der Hand hielt. Der Mann lächelte – dann hob er die 171
Pistole, die er unauffällig an der Seite getragen hatte, und schoss Billy in die Brust. Billy Mattis wurde rückwärts gegen das Bankgebäude geschleudert. Eine Sekunde lang stand er da und starrte erstaunt auf seinen blutenden Brustkorb, dann rutschte er langsam an der Wand neben dem Geldautomaten herunter. Er verschränkte ordentlich die Hände im Schoß, während er zusammenbrach. Der Schütze lief zu Billy hinüber, nahm ihm das Geld ab, das er immer noch in einer Hand hielt, und lief zu seinem Wagen zurück. Er ließ den Motor aufheulen und jagte die Straße entlang in DeMarcos Richtung. DeMarco traf keine bewusste Entscheidung über das, was er als Nächstes tun wollte. Er tat es einfach. Es war eine automatische Reaktion ohne die geringste Vorüberlegung möglicher Konsequenzen. Er ließ den Motor von Sammys hochgezüchtetem Kombi an und schob sich mit der Motorhaube aus der Parklücke und genau vor die heranrasende Limousine. Die Wucht des Zusammenstoßes warf DeMarco auf den Beifahrersitz, wo sein Kopf schmerzhafte Bekanntschaft mit der Tür machte. DeMarco schüttelte sich, um den Schmerz zu vertreiben und sah zum Wagen des Schützen hinüber. Er stand, und der Fahrer schien bewusstlos zu sein. Sein Kopf lag auf dem Lenkrad und drückte gegen die Hupe. Für DeMarco hatte der Lärm der Hupe etwas seltsam Tröstliches. Schließlich hatte DeMarcos Verstand seine Reflexe wieder eingeholt. Er suchte nach der Pistole, die sich laut Sammy unter dem Fahrersitz befinden sollte. Seine Hand tappte hektisch herum, und es schien eine halbe Ewigkeit zu dauern, bis er etwas Metallisches spürte. Mit der 38er zwischen den Fingern schob er sich durch die Beifahrertür nach draußen und ging hinter dem rechten Kotflügel in Deckung. Sammy hatte gesagt, dass die Waffe entsichert war. Das war gut, denn DeMarco hatte keine Ahnung, wie man eine Pistole sicherte oder entsicherte. 172
Er sah, dass sich der Fahrer allmählich vom Schock des Zusammenstoßes erholte. Er setzte sich langsam auf und wirkte benommen und desorientiert. Blut lief ihm aus einer Platzwunde über der linken Augenbraue über eine Gesichtshälfte. DeMarco bemerkte eine Bewegung auf der anderen Straßenseite. Es waren die schwarzen Jugendlichen, die sich hinter einem Müllcontainer versteckt hatten. Er brüllte ihnen zu: »Verschwindet von hier, und ruft die Polizei!« Sie rührten sich nicht. Verdammte Bengel! Der Schütze öffnete die Tür seines Wagens und stieg mit vorsichtigen Bewegungen aus. Er schwankte und wäre fast gestürzt, aber er konnte sich im letzten Moment fangen. Er war etwa so groß wie DeMarco, hatte ein schmales Gesicht, trug einen leichten beigefarbenen Anzug und ein weißes Frackhemd mit offenem Kragen. Sein pechschwarzes Haar hatte hohe Geheimratsecken, war kräftig geölt und aus dem hohlwangigen, aknenarbigen Gesicht gerade nach hinten zurückgekämmt. Neben dem rechten Auge hatte er einen tränenförmigen Leberfleck. Als er dieses auffällige Merkmal sah, wurde DeMarco klar, dass er den Mann kannte. Sein Name war John Palmeri, und sein Vater war ein Kollege von DeMarcos Vater gewesen. Doch im Gegensatz zu DeMarco hatte John Palmeri das Familienunternehmen seines Vaters fortgeführt. Mit sechzehn oder siebzehn Jahren hatte DeMarco ihn das letzte Mal gesehen, als Palmeri wegen Autodiebstahls in eine Jugendstrafanstalt gebracht worden war. Und nun traf er ihn zwanzig Jahre später wieder, im Südosten von D. C, wo er soeben einen Agenten des Secret Service erschossen hatte. Was zum Teufel war hier los? Palmeri stand auf unsicheren Füßen und wirkte, als könnte er jeden Augenblick vom Schlag gegen den Kopf das Bewusstsein verlieren. DeMarco beobachtete mit morbider Faszination, wie Palmeri langsam ein Blutstropfen am Gesicht hinunterlief und auf sein Hemd fiel, wo er einen kleinen Fleck über dem Herzen 173
hinterließ. An seiner linken Seite hing ein Revolver, der über einen halben Meter lang zu sein schien. »John, lass die Waffe fallen«, sagte DeMarco. »Bitte.« DeMarcos Herz pumpte so viel Adrenalin durch seinen Körper, dass es sich anfühlte, als würde er unter Strom stehen. Palmeri schien nicht gehört zu haben, was DeMarco sagte, sondern stand weiterhin schwankend da. Vielleicht war ihm gar nicht bewusst, dass DeMarco bewaffnet war, weil er sich hinter Sammys Wagen gekauert hatte. Um auf sich aufmerksam zu machen, stand DeMarco auf und richtete Sammys Waffe auf Palmeri, als wüsste er genau, was er tat. Als DeMarco sich bewegte, sah Palmeri in seine Richtung. Anscheinend hatte er ihn nicht wiedererkannt. Er blinzelte mehrere Male, als müsste er sein Sichtfeld klären und DeMarco scharf stellen – dann griff er nach seiner Waffe. DeMarco war überzeugt, dass sich Palmeri nicht bewusst war, wie extrem langsam er sich bewegte. »John, lass die Waffe fallen, verdammt!«, brüllte DeMarco. Palmeri sah ihn mit glasigen Augen an und hob die Pistole. Warum zum Teufel ließ er das nicht sein? DeMarco wusste später nicht mehr genau, ob er ihn noch einmal gewarnt hatte, jedenfalls feuerte Palmeri in diesem Moment. Die Kugel prallte als Querschläger an der Motorhaube von Sammys Wagen ab. Sie hätte DeMarco in den Bauch getroffen, wenn der Wagen nicht im Weg gewesen wäre. DeMarco schoss sofort zurück. Er hatte nicht die Absicht, Palmeri zu töten. Er drückte den Abzug von Sammys Waffe aus nackter Angst, als die Kugel des Killers Sammys Wagen traf. DeMarco schoss John Palmeri genau ins Herz. Ein reiner Zufallstreffer. Dann stand er erstarrt da. Er konnte nicht fassen, was soeben geschehen war. Er wartete einen Moment, ob Palmeri wieder aufstand, obwohl er wusste, dass er es nicht tun würde, dann ging er langsam auf ihn zu, die Waffe weiterhin auf den am 174
Boden Liegenden gerichtet. Die Hand, in der er die Waffe hielt, zitterte wie in einem epileptischen Anfall. Palmeris schwarze Augen waren weit aufgerissen und starrten himmelwärts zu einem Gott, der ihn längst vergessen hatte. Sein weißes Hemd saugte das Blut wie Löschpapier auf. Der Fleck breitete sich konzentrisch aus und bildete einen vollendeten Kreis, durch den seine Seele austreten konnte. Aus dem Augenwinkel bemerkte DeMarco eine Bewegung. Die Jugendlichen hatten ihr Versteck hinter dem Müllcontainer verlassen. »Ruft die Polizei!«, forderte er sie auf, aber seine Worte hatten nur wenig Überzeugungskraft. Die Jungen machten keine Anstalten, seiner Aufforderung Folge zu leisten, sondern kamen über die Straße auf ihn zu. Ihre empfindlichen urbanen Überlebensinstinkte hatten längst erkannt, dass DeMarco keine Gefahr darstellte. »Mann, den haben Sie ja weggepustet wie nix!«, sagte einer der beiden. DeMarco starrte immer noch auf die Leiche und wiederholte langsam: »Geht, und ruft die Polizei.« Er wusste nicht, was er mit der Waffe in seiner Hand machen sollte. Er hätte sie am liebsten fallen gelassen, aber er befürchtete, dass sie dabei losging und er sich selbst ins Bein schoss. Schließlich legte er sie vorsichtig auf der Motorhaube von Sammys Wagen ab. »Ist der Drecksack tot?«, fragte derselbe Junge. DeMarco nickte und sah die beiden an. Sie waren schätzungsweise vierzehn Jahre alt. Der eine, der als Einziger gesprochen hatte, wirkte freundlich und hatte ein schiefes Grinsen. Er trug eine Baseballkappe der Chicago Bulls mit dem Schirm nach hinten, ein ärmelloses Michael-Jordan-T-Shirt und weite Shorts, die ihm bis zu den Knien reichten. Seine hohen Tennisschuhe schienen für Astronauten konstruiert zu sein. Der zweite Junge war fast identisch gekleidet, nur dass er ein Fan der New York Knicks war. 175
DeMarco zog sein Handy aus der Tasche und warf es dem Jungen mit der Chicago-Bulls-Kappe zu. »Ruf die Polizei.« Die Jungen sahen sich unsicher an. Mit der Polizei zu telefonieren gehörte eindeutig nicht zu ihren Lieblingsbeschäftigungen. »Warum rufen Sie nicht selber an?«, fragte der Knicks-Fan. »Weil ich nach dem Typen neben dem Geldautomaten sehen will«, sagte DeMarco und machte sich auf den Weg zu Billy. Aber er beeilte sich nicht sehr. Er wusste bereits, dass er dem Mann nicht mehr helfen konnte. »Und nichts anfassen!«, rief er im Gehen zu ihnen zurück. »Das wissen wir, Bleichgesicht«, sagte der Bulls-Fan. »Ich wette, wir haben schon mehr Tatorte gesehen als Sie.« Davon war DeMarco überzeugt. Mit traurigem Blick sah er sich Billy Mattis an. Im Gegensatz zu Palmeri waren seine Augen geschlossen, und er machte einen seltsam friedlichen Eindruck. Wenn das kleine rote Loch in seiner Brust nicht gewesen wäre, hätte man ihn für jemanden halten können, der sich eine ungewöhnliche Stelle für ein Nickerchen ausgesucht hatte. Obwohl er keinen Zweifel daran hatte, dass Billy tot war, ging DeMarco in die Knie und fühlte an dessen Kehle nach einem Puls. Er spürte sehr deutlich, wie sein eigenes Herz raste, und war sich nicht sicher, ob er die letzten Schläge von Billys Puls überhaupt wahrnehmen würde. Du armes Schwein, dachte DeMarco. Wie kann jemand, der wie Mickey Mantle aussieht, so enden? DeMarco wollte nicht darüber nachdenken, wie Billys Frau auf die Nachricht von seinem Tod reagieren würde. Als er zu Sammys Wagen zurückging, fragte er die Jungen, ob sie die Polizei angerufen hatten. »Ja«, sagte der Bulls-Fan. »Die Truppe ist unterwegs.« Er warf das Handy zu DeMarco zurück, der es beinahe fallen gelassen hätte. 176
»Wir können nicht warten, bis die Bullen hier sind«, sagte der Jugendliche. »Sie werden uns kein Wort glauben, wenn hier zwei tote Weiße herumliegen und ein dritter mit ’nem rauchenden Colt dasteht.« »Das glaube ich auch, Ritchie«, sagte der andere mit besorgter Miene. »Sie werden uns beide sofort verhaften.« »Niemand wird euch verhaften«, sagte DeMarco. »Ich werde hier bleiben. Und ich werde der Polizei erklären, was passiert ist.« Dann fiel ihm ein, dass er eigentlich keine Ahnung hatte, was er den Beamten erklären wollte. Er lehnte sich gegen den Kotflügel von Sammys Kombi, der jetzt nur noch Schrottwert besaß, und zündete sich eine Zigarette an. Der Bulls-Fan, den der andere Ritchie genannt hatte, schnorrte eine von ihm. Der andere wirkte zunächst etwas unsicher, aber dann fragte auch er, ob er eine haben könnte. DeMarco überlegte, ob er ihnen einen Vortrag über die schädlichen Folgen des Rauchens insbesondere für ihre jungen Körper halten sollte, aber dann wurde ihm klar, wie absurd seine Worte in der gegenwärtigen Situation gewesen wären. Er fragte den zweiten Jungen nach seinem Namen. Er hieß Jamal. DeMarco wusste genau, dass er in Notwehr gehandelt hatte, aber er war sich nicht sicher, ob die Polizei ihm glauben würde. Er konnte durchaus in ernsthafte Schwierigkeiten geraten, mit Prozess, Gefängnis und teurem Anwalt, und das machte ihm viel mehr Sorgen als der Tod eines Gorillas, der Billy Mattis ermordet hatte. Ihm wurde klar, dass er Ritchie und Jamal als Zeugen brauchte, die seine Aussage bestätigten, und gab jedem eine zweite Zigarette. Außerdem dämmerte ihm, dass er obendrein in ganz andere Schwierigkeiten geraten konnte, die vielleicht viel schlimmer waren als das, was die Polizei ihm antun konnte. Sein alter Jugendfreund schien über Kleinigkeiten wie Autodiebstahl hinausgewachsen zu sein und eine steile kriminelle Karriere
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gemacht zu haben. War es möglich, dass die verdammte Mafia etwas mit dem Attentat zu tun hatte? Es dauerte zwanzig Minuten, bis die Polizei eintraf. Damit wurden wieder einmal die Beschwerden bestätigt, dass sich die Gesetzeshüter bei Einsätzen in Stadtteilen, die mehrheitlich von Minderheiten bewohnt wurden, gerne besonders viel Zeit ließen. Es schien die Polizisten gar nicht sonderlich aufzuregen, dass zwei Tote auf der Straße lagen, aber wie Ritchie vermutet hatte, reagierten sie tatsächlich mit leichter Verblüffung auf die Tatsache, dass die Opfer Weiße waren. Aber dennoch hätten die Polizisten und die zwei Jugendlichen wahrscheinlich mehr Bestürzung gezeigt, wenn ein Hund oder eine Katze überfahren worden wären. Im Nachhinein war es jedoch gar nicht so schlecht, dass die Polizei getrödelt hatte, weil sie DeMarco dadurch genügend Zeit gegeben hatte, sich ein glaubhaftes Geflecht aus Lügen auszudenken, das er ihnen erzählte wollte.
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25 »Kannten Sie Mr. Mattis oder Mr. Robinson?«, fragte der Detective. Der Ermittlungsbeamte benötigte dringend eine Rasur und hatte dunkle Ringe unter den schlammbraunen Augen. Er sah genauso aus, wie man sich einen Polizisten vorstellte, der in einer Gegend, wo einem immer wieder Kugeln um die Ohren flogen, Überstunden machen musste. »Wen?«, fragte DeMarco und dachte: Wer zum Teufel ist Mr. Robinson? Als der Detective DeMarcos Verblüffung bemerkte, erklärte er mit sarkastischer Miene: »Mattis war der Mann, der neben dem Geldautomaten tot aufgefunden wurde. Robinson war der Mann, den Sie erlegt haben, Cowboy. Sie haben einen Mr. David Robinson aus Waycross, Georgia, getötet. Also noch einmal: Kannten Sie eins der beiden Opfer?« DeMarco war überrascht, dass der Detective nichts von Billy Mattis’ Zugehörigkeit zum Secret Service erwähnte. Er hatte offenbar keinen Dienstausweis bei sich gehabt, und der übermüdete Beamte schien keine Verbindung zwischen dem Toten neben dem Geldautomaten und dem Agenten im Video vom Attentat auf den Präsidenten herzustellen. »Nein«, sagte DeMarco. Es war zwei Uhr morgens, als er das Polizeirevier verlassen durfte. Vielleicht hätte man ihn bis auf Weiteres dabehalten, wenn Ritchie und Jamal nicht gewesen wären. Die Jungen waren hervorragende Zeugen. Sie waren kein bisschen verwirrt oder hysterisch, und beide hatten in allen Details unabhängig voneinander die gleiche Geschichte erzählt. Nach den Befragungen war der Detective fest davon überzeugt, dass Mr. Mattis in der Tat von Mr. Robinson ausgeraubt und kaltblütig erschossen worden war, worauf DeMarco dem Täter mit seinem Wagen 179
den Fluchtweg abgeschnitten und nur zur Selbstverteidigung auf ihn geschossen hatte. Eigentlich hätten die Polizisten ihn als Helden feiern sollen, aber sie taten es nicht. Ihre empfindlichen, zynischen Nasen witterten die Lüge, als DeMarco erklärte, wie er, ein völlig durchschnittlicher Bürger aus Georgetown, sich rein zufällig in den Südosten von D.C. verirrt hatte, wo Billy Mattis erschossen worden war. Er hatte im Vorfeld entschieden, nicht zu erwähnen, dass er Billy beschattet hatte. Seine erfundene Geschichte klang relativ simpel und auf jeden Fall viel glaubwürdiger als die Wahrheit. Für ihn gab es keinen Zweifel, so erzählte er den Polizisten, dass Billy wegen des Geldes, das er aus dem Automaten geholt hatte, sterben musste. Es war purer Zufall gewesen, dass er in der Nähe gewesen war. Er hatte etwas getrunken (das stimmte – ein paar Biere im griechischen Imbiss), war aus Versehen in dieses Stadtviertel geraten, weil er sich nicht so gut in der Gegend auskannte (das stimmte nur zur Hälfte), und er hatte angehalten, um einen Freund anzurufen und ihm zu sagen, dass er sich zu ihrer Verabredung verspäten würde (das stimmte überhaupt nicht, aber anderthalb von drei Aussagen waren gar kein schlechter Schnitt). Der Detective hatte den Verdacht, dass DeMarco log, aber er konnte ihm nichts nachweisen, und dank Ritchie und Jamal ließ sich nicht an den Fakten rütteln. Außerdem war DeMarco Anwalt. Er sagte den Polizisten, dass sie eine fette Anklage zu erwarten hatten, wenn sie versuchten, ihn zu schikanieren. Schließlich konfiszierten sie Sammy Wix’ Pistole und entließen DeMarco mit der ernsten Warnung, dass er auf keinen Fall die Stadt verlassen sollte. Während er die eingedellte Stoßstange vom Vorderrad wegbog, wurde sich DeMarco bewusst, dass er das Bedürfnis empfand, sich trotz der späten Stunde mit jemandem zu unterhalten. Er 180
hatte soeben einen Menschen getötet. Er musste dieses Erlebnis verarbeiten, indem er es noch einmal erzählte und sich für alles rechtfertigte, was er getan hatte. Und er wollte ergründen, warum er keine Gefühlsregung verspürte, nachdem er John Palmeri erschossen hatte. Er hatte einem anderen Menschen das Leben genommen und dachte, dass er eigentlich irgendetwas empfinden müsste – Reue, Bedauern, Trauer oder sonst etwas. Aber da war nichts. In seinem Innern gab es einen tauben Fleck, und er wollte, dass jemand mit einer Nadel hineinstach, um zu sehen, ob seine Seele zuckte. Er wusste, dass selbst Emma irgendwann schlafen musste, aber als sie ihm um drei Uhr morgens die Tür öffnete, sah sie nicht aus, als hätte er sie aus dem Bett geklingelt. Sie trug ein mit Perlen besetztes ärmelloses Top und eine Lederhose, in der sie eine richtig gute Figur machte. Hinter ihr im Flur stand ein Cellokasten, und auf Emmas Handrücken entdeckte DeMarco einen Stempelabdruck, wie man ihn erhielt, nachdem man den Eintritt zu einem Club bezahlt hatte. Emma und ihre Cellistin waren um die Häuser gezogen. Sie öffnete den Mund, um eine bissige Bemerkung von sich zu geben, doch bevor sie es tun konnte, sagte DeMarco: »Ich habe vorhin einen Mann getötet.« Emmas Reaktion bestand darin, eine Augenbraue hochzuziehen. »Dann sollte ich dich wohl lieber hereinbitten.« Sie sagte zu DeMarco, dass er sich ins Wohnzimmer setzen sollte, dann ließ sie ihn kurz allein. Als sie zurückkehrte, schenkte sie ihm drei Fingerbreit Bourbon auf Eis ein und hörte ohne Unterbrechung zu, als er ihr erzählte, was geschehen war. DeMarco hatte sich seit dem frühen Morgen nicht rasiert, und Emma dachte unwillkürlich, dass er einen ziemlich brutalen Eindruck machte. Wenn er mit einer Waffe auf sie gezielt hätte, wäre sie nie auf die Idee gekommen, ihm Widerstand zu leisten. Okay, sie hätte es vielleicht doch getan, aber die meisten Menschen nicht. 181
Als DeMarco fertig war, fragte Emma: »Wer war der Mann, der Billy erschossen hat?« DeMarco sagte es ihr. »Er benutzte den Namen David Robinson. Auf seinem Führerschein stand, dass er aus Waycross, Georgia, kam. Vielleicht kannst du dich morgen früh umhören und mehr über ihn herausfinden.« »Werde ich machen«, sagte Emma. Sie saßen eine Weile schweigend da. »Dir ist natürlich klar«, sagte sie schließlich, »dass Billy nicht das Opfer eines zufälligen Überfalls an einem Geldautomaten war. Ich denke an die zwei Telefonate, die Estep heute Vormittag geführt hat. Ich glaube, beim ersten ging es darum, die Erlaubnis einzuholen, Billy auszuschalten, und beim zweiten, Palmeri den entsprechenden Auftrag zu erteilen.« »Es sieht ganz danach aus«, sagte DeMarco. »Jemand hat Palmeri bezahlt, damit er Billy das Lebenslicht ausbläst. Estep und wer sonst noch darin verwickelt ist, wahrscheinlich dieser Taylor, haben entschieden, dass Billy zu einem Problem geworden ist. Er drohte umzufallen. Ich denke an die Szene heute früh im Restaurant. Also hat Estep zu Billy gesagt, dass er nach Anbruch der Dunkelheit zu einer Bank an der Ecke Sowieso-Sowieso fahren sollte, wo ihn jemand erwarten würde, dem er Geld geben würde.« »Welchen Grund könnte er genannt haben, warum sich Billy mit dem Mann treffen sollte?«, fragte Emma. »Keine Ahnung. Estep hat sich irgendeine plausible Lüge ausgedacht, und Billy, der unschuldige Dummkopf, hat gehorcht. Es wäre eine nette, saubere Geschichte gewesen, wenn ich nicht dazugekommen wäre. Man hätte Billy in einer ziemlich heruntergekommenen Gegend neben einem Geldautomaten gefunden. Die Auszahlungsquittung hat er noch in der Hand, aber das Geld ist weg. Ein Mord, für den es eine ganz einfache Erklärung gibt. In D.C. ist die Wahrscheinlichkeit, auf diese
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Weise ums Leben zu kommen, größer als die, von einem Bus überfahren zu werden.« »Und du hast ihnen einen zusätzlichen Gefallen erwiesen, als du den Mörder getötet hast«, fügte Emma hinzu. Er stand mit dem Rücken zu ihr, als er sich Whiskey nachschenkte. »Ich habe Billy in den Tod getrieben, Emma.« »Was soll das heißen?« DeMarco drehte sich wieder zu ihr um. »Ich habe ihn unter Druck gesetzt, wie Mahoney es mir befohlen hat. Das hat schließlich zu seiner Ermordung geführt.« »Das mag sein, Joe, aber letztlich ist Billy unter die Räder gekommen, weil er in eine miese Sache verwickelt war.« »Ja, aber du weißt genauso gut wie ich, dass er irgendwie hineingezogen wurde. Billy Mattis hatte eine saubere Weste, die ihm irgendwer bekleckert hat. Und ich denke an seine Frau, Emma. Inzwischen muss sie erfahren haben, dass er tot ist. Jetzt heult sie sich die Augen aus und wird nie mehr damit aufhören. Ich hätte die Sache irgendwie anders angehen müssen.« »Billy hätte sich uns anvertrauen sollen, als er die Gelegenheit dazu hatte«, sagte Emma. Ende der Diskussion. Für Emma gab es nur Schwarz und Weiß – zwiespältige Grauzonen waren nur etwas für Sterbliche von niedrigerem Rang. »Wahrscheinlich hast du Recht«, sagte DeMarco. »Was mit Billy geschehen ist, erklärt gleichzeitig, was Estep an diesem Abend getrieben hat.« »Was meinst du damit?« »Während ich am Tatort auf die Polizei wartete, habe ich Mike angerufen. Er hat Estep beschattet. Mike sagte, er wäre in eine Bar an der K Street gegangen, etwa eine Stunde bevor Billy ermordet wurde. Dort hat er sich ziemlich verrückt benommen. Er war laut und unausstehlich, er hat gesoffen wie ein Loch und alle Frauen angebaggert, sogar die, die mit einem Partner da waren. Irgendwann schmeißt er eine Lokalrunde, und zehn
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Minuten später fängt er an, sich mit jemandem zu prügeln. Der Barkeeper hat ihn gegen Mitternacht rausgeworfen.« »Ah«, sagte Emma. »Er hat dafür gesorgt, dass jede Menge Zeugen sein Alibi bestätigen können.« DeMarco nickte. »Mike hat auch berichtet, dass Estep in der Bar verkündet hat, er würde morgen, also heute, aus D.C. verschwinden und nach Georgia zurückkehren. Deshalb hat er die Lokalrunden spendiert, um seinen Abschied zu feiern.« »Möchtest du, dass Mike ihm nach Georgia folgt?«, fragte Emma. »Auf gar keinen Fall. Diese Leute sind Mörder. Ich werde Banks überzeugen, dass er zum FBI geht, und wenn er es nicht tut, werde ich einem Journalisten von dieser Scheiße erzählen.« »Ich glaube nicht, dass es so einfach sein wird, Joe.« »Aber sicher«, sagte DeMarco. Er trank sein Glas aus und stellte es auf den Tisch. »Es ist spät geworden. Ich … ich sollte zusehen, dass ich ins Bett komme.« »Ist da noch etwas, das dir Sorgen macht, Joe?« DeMarco zögerte. »Emma, wie viele Menschen hast du schon getötet?« »Also wirklich, Joe! Du erwartest doch nicht, dass ich dir eine Antwort auf diese Frage gebe.« »Wahrscheinlich nicht. Aber … wie hast du dich danach gefühlt? Hattest du anschließend damit zu kämpfen, wenn du jemanden getötet hast?« Ihre Antwort überraschte ihn. »Es hat mir jedes Mal gewaltige Probleme bereitet.« Vielleicht gab es doch Grauschattierungen in Emmas Leben. »Warum fühle ich mich dann nicht beschissener?«, fragte DeMarco. »Ich habe in dieser Nacht einen Mann erschossen, jemanden, den ich als Kind gut gekannt habe. Eigentlich müsste ich so etwas wie Zerknirschung empfinden. Aber ich empfinde gar nichts. Ich habe mich immer gefragt, wie mein Vater so
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etwas tun konnte, wie er damit leben konnte, dass er jemanden getötet hat. Vielleicht hat auch er nichts dabei empfunden.« Emma schüttelte den Kopf. »Joe, du bist müde, und du stehst unter Schock. Du bist kein Soziopath. Du bist nicht wie dein Vater.« »Ich muss jetzt gehen«, sagte DeMarco und stand auf. »Du kannst heute Nacht hier bleiben. Es ist schon spät, und du hast getrunken.« »Geht nicht«, sagte DeMarco. »Ich muss morgen, das heißt, heute früh den ersten Flug nach New York erwischen.« »Was willst du in New York?«
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26 Der alte Mann hörte es an der Tür klingeln. Er wuchtete sich ächzend aus dem Sessel hoch und tappte langsam zur Tür. Durch das Fliegengitter konnte er sehen, dass jemand auf seiner Veranda stand. Da er die Sonne im Rücken hatte, war es schwer, seine Gesichtszüge zu erkennen. Wahrscheinlich irgendein verdammter Verkäufer, dachte der alte Mann, irgendein Nervtöter, der das Schild KEINE VERTRETER ERWÜNSCHT übersehen hat. Kurz vor der Tür blieb er abrupt stehen, und ihm klappte schockiert der Unterkiefer herunter. Beinahe hätte er sich bekreuzigt, aber sein Stolz hielt ihn davon ab, die Hand zu erheben. »Gino? Bist du das?«, sagte der alte Mann und schämte sich, dass seine Stimme zitterte. »Nein, Mr. Taliaferro. Ich bin nicht Gino, sondern sein Sohn Joe.« Der alte Mann stieß ein bellendes Lachen aus. »Donnerwetter! Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt! Ich dachte, du wärst ein Geist. Gut, dass ich keine Herzprobleme, sondern nur Krebs habe.« »Darf ich reinkommen, Mr. Taliaferro?«, fragte DeMarco. »Ob du hereinkommen darfst?«, sagte Carmine Taliaferro, der immer noch über die Erscheinung eines Toten auf seiner Veranda verwirrt war. »Aber natürlich darfst du.« Er öffnete die Tür. »Immer hereinspaziert!« Der alte Capo hatte sehr viel Gewicht verloren, seit DeMarco ihn das letzte Mal auf der Beerdigung seines Vaters gesehen hatte. Der Carmine Taliaferro, an den er sich erinnerte, hatte sich stets durch große Leibesfülle ausgezeichnet – zu viel Pasta, die seine Frau so wunderbar zubereiten konnte, hatte er immer gescherzt –, doch der Mann, der jetzt vor ihm stand, war 186
praktisch ein Skelett. Nur seine Augen waren immer noch dieselben. Aus dem Gesicht des fröhlichen dicken Mannes hatten die kältesten Augen geblickt, die der junge Joey DeMarco jemals gesehen hatte. Der Krebs hatte nichts an diesen Augen verändert, weil es schon immer die Augen einer Leiche gewesen waren. Taliaferro trug ein kurzärmliges blaues Hemd, das am Kragen geöffnet war, und eine graue Hose, die zu einem alten Anzug gehört haben musste. Sie glänzte auf dem Hintern, und die Beine schleiften über den Boden. Seine Füße steckten in braunen Pantoffeln. Die dünnen Fäden des weißen Haars, das sich noch auf seinem leberfleckigen Schädel gehalten hatte, standen ab, als wären sie mit statischer Elektrizität aufgeladen. Es war kaum zu glauben, dass dies einmal der gefürchtetste Mann in Queens gewesen war. »Ich habe mich zur Ruhe gesetzt, weißt du«, sagte Taliaferro, als DeMarco ihm durch einen schwach beleuchteten Flur folgte. »Das habe ich mir bereits gedacht, als ich keine Leibwächter gesehen habe.« Taliaferro lachte. »Heutzutage würde niemand mehr eine Kugel an mich verschwenden. Wer sich meinen Tod wünscht, muss einfach nur ein paar Monate abwarten.« Sie betraten ein Wohnzimmer mit altmodischen dunklen Möbeln. Auf dem Kaminsims und kleinen Tischen an der Wand standen Schwarzweißfotos von Taliaferros weitläufiger Verwandtschaft. Der Fernseher in der Ecke war ein 55-ZentimeterModell von Sony, und der einstmals beigefarbene Teppich war fast vollständig durchgewetzt. DeMarco bemerkte einen kleinen Riss im Bezug der Couch, auf die er sich setzen sollte. Taliaferros Haus war bescheiden und lag in einer Mittelklassegegend der Stadt, wo hauptsächlich Arbeiter wohnten. Er lebte seit fünfzig Jahren in diesem Haus, und wie die meisten älteren Menschen sah er nicht ein, warum er in dieser Lebensphase
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noch etwas verändern sollte. DeMarco wusste aber, dass er Millionen im Hintergrund hatte. Taliaferro ließ sich in einen braunen Ledersessel fallen. Neben ihm stand eine grüne Sauerstoffflasche. »Ich würde dir gerne einen Kaffee anbieten«, sagte er, »aber meine Frau ist in der Kirche. Um dort blöde Kerzen für mich anzuzünden, als könnte Gott im Dunkeln nichts sehen.« »Kein Problem, Mr. Taliaferro. Ich möchte keinen Kaffee.« Taliaferro musterte DeMarcos Gesicht. »Nein, aber du möchtest etwas anderes von mir. Nach so vielen Jahren ist klar, dass Ginos Junge mich nicht besucht, weil er sich Sorgen um meine Gesundheit macht. Worum geht es?« DeMarco nickte und war froh, dass der alte Sack darauf verzichtete, in Erinnerungen zu schwelgen. »Was wissen Sie über …?« »Ich habe dich im Auge behalten«, sagte Taliaferro. »Ich weiß, dass du für den Kongress arbeitest, aber dein Job ist nichts Besonderes. Mein Schlachter verdient mehr Geld als du. Du hättest ein gutes Leben haben können, wenn du gewollt hättest, aber du wolltest nichts mit uns zu tun haben, nicht wahr?« »So ist es. Und daran hat sich nichts geändert.« Taliaferro ließ wieder sein bellendes Lachen hören. »Genau wie dein Vater. Nicht bereit, auch nur einen Zentimeter nachzugeben, selbst wenn man jemanden um einen Gefallen bitten möchte.« »Vielleicht kann ich Ihnen einen Gefallen tun«, sagte DeMarco und hoffte, dass er sich irrte. »Das wäre ja was ganz Neues! Also, was willst du von mir?« »Was wissen Sie über John Palmeri?« »Palmeri! Dieses Stück Rattenscheiße! Was willst du über ihn wissen?« Taliaferros heftige Reaktion überraschte DeMarco. Anscheinend war Palmeri in Ungnade gefallen. Das war gut. »Ich möchte wissen, für wen er jetzt arbeitet«, sagte DeMarco. 188
»Wenn ich das wüsste«, sagte Taliaferro. »Palmeri hat vor sechs oder sieben Jahren als Kronzeuge ausgesagt und dadurch drei meiner Leute ins Gefängnis gebracht. Erinnerst du dich an Schmidt, diesen dürren Deutschen, der für mich die Buchhaltung gemacht hat?« DeMarco nickte. »Ihn und zwei weitere. Schmidt kam bei der Razzia ums Leben. Ich wäre beinahe mit ihnen in den Bau gewandert, aber Palmeri wusste nicht genug, um mich belasten zu können. Dieser Scheißer! Sie haben ihn untertauchen lassen.« »Wer?« »Das FBI. Hat ihn ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen. Gut für ihn. Denn andernfalls hätte er …« Taliaferro sprach nicht weiter. Selbst an der Schwelle zum Tod war er nicht bereit, etwas zu sagen, das ihn belasten konnte. »Palmeri hat den Namen David Robinson benutzt«, sagte DeMarco, »und in Waycross, Georgia, gelebt.« »Georgia? Er hat sich die ganze Zeit da unten verkrochen?« »Ich weiß nicht, wie lange er sich dort aufgehalten hat. Ich hatte gehofft, Sie könnten es mir sagen.« »Georgia! Kein Wunder, dass wir ihn nicht gefunden haben. Das ist, als hätte er sich auf den Mond zurückgezogen!« Taliaferro schüttelte den Kopf. »Also, was willst du über Palmeri wissen?« DeMarco zögerte. Dass Palmeri Billy Mattis getötet hatte, konnte viele Gründe haben, und einer dieser möglichen Gründe war, dass die Mafia irgendwas mit dem Attentat zu tun hatte. Wenn das der Fall war und man feststellte, dass DeMarco in dieser Geschichte herumstocherte, war er vielleicht schon bald genauso tot wie Billy Mattis. Aber DeMarco wusste etwas, das Oliver Stone nicht wusste. Leute wie Carmine Taliaferro töteten nicht einmal Polizisten, geschweige denn Präsidenten. Das organisierte Verbrechen stand seit einiger Zeit so sehr unter Druck, dass man niemals 189
etwas so Dummes – oder so Großes – tun würde. Die Mafia plante nicht in solchen Maßstäben. Es ging um Kreditwucher und Prostitution und Kisten, die man von der Ladefläche von Lastwagen stahl. Und natürlich um Drogen. All diese Aktionen waren Kleinkram; erst wenn man alles zusammenrechnete, kam eine beträchtliche Summe heraus. Aber ein Attentat auf den Präsidenten, ganz gleich, welche Schwierigkeiten das Weiße Haus bereiten mochte, kam für sie einfach nicht in Frage. Zumindest war DeMarco davon überzeugt, und er betete, dass er Recht hatte. »Palmeri hat in Washington einen Agenten des Secret Service erschossen, einen Mann, den ich gekannt habe«, sagte DeMarco. »Ich möchte gerne wissen, warum er das getan hat.« »Vom Secret Service? Dieser Idiot! Und du suchst Palmeri, weil dieser Agent dein Freund oder etwas Ähnliches war?« »Nein, ich suche nicht nach ihm, Mr. Taliaferro. Palmeri ist tot.« DeMarco machte eine kurze Pause. »Ich habe ihn getötet«, sagte er schließlich. Eigentlich hatte er es nicht erzählen wollen, aber ihm war klar, dass Taliaferro es über kurz oder lang sowieso erfahren hätte. »Du? Unser armseliger kleiner Kongresslaufbursche? Du hast Johnny Palmeri getötet? Wenn es nicht so früh am Tag wäre, würde ich jetzt eine Flasche für uns beide aufmachen.« DeMarco sagte nichts. »Und warum hast du ihn getötet?«, fragte Taliaferro, nachdem die Belustigung aus seinen Leichenaugen verschwunden war. »Mir blieb keine andere Wahl«, sagte DeMarco. Er wusste, dass Taliaferro sich jederzeit eine Kopie des Polizeiberichts besorgen konnte, vielleicht würde er sogar jemanden losschicken, der mit den Polizisten redete, die DeMarco ausgefragt hatten. Aber er würde nicht mehr als das in Erfahrung bringen, was DeMarco der Polizei gesagt hatte. »Keine andere Wahl«, wiederholte Taliaferro. »Was du nicht sagst.« 190
DeMarco überhörte den ungläubigen Tonfall. »Wollen Sie mir also helfen oder nicht?«, fragte er. »Wie kann ich dir helfen? Ich erwähnte bereits, dass er uns verraten hat.« DeMarco sagte nichts, sondern erwiderte nur den starrenden Blick des alten Mannes. »Warum sollte ich dir helfen? Wegen der vielen Gefälligkeiten, die du mir im Laufe der Jahre erwiesen hast? Weil du glaubst, dass ich dir wegen deines Vaters etwas schuldig bin?« »Nein, nicht weil Sie mir etwas schuldig sind«, sagte DeMarco. »Sondern weil es eine gute Sache wäre.« Taliaferro lachte. Eine gute Sache! Was für ein Blödsinn! Er beobachtete eine Zeit lang DeMarcos Miene und wartete ab, dass er ihn anflehte, obwohl er wusste, dass er es nie tun würde. »Also gut. Ich werde ein paar Leute anrufen. Lass mir eine Nummer da, unter der ich dich erreichen kann.« Als DeMarco ging, lachte der alte Mann und sagte in seinen Rücken: »Also ist Ginos Junge schließlich doch zum Mann geworden!«
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27 Auf dem Rückflug nach D.C. blätterte DeMarco die Washington Post des Tages durch, um zu sehen, ob darin etwas über Billys Tod stand. Eigentlich hatte er erwartet, dass die Meldung auf der ersten Seite gebracht wurde, aber zu seiner Überraschung war es nicht so. Schließlich fand er etwas auf der zweiten Seite der Lokalnachrichten. Dort stand nur, dass jemand von einem bewaffneten Räuber ermordet worden war, nachdem er einen Geldautomaten benutzt hatte, und dass ein Passant eingegriffen und den Räuber erschossen hatte. Der Name des Opfers wurde vorläufig zurückgehalten, da seine Angehörigen noch nicht benachrichtigt worden waren. DeMarco verstand, was geschehen war. Billy war in der vergangenen Nacht gegen zehn Uhr getötet worden, und die Polizei hatte DeMarco und die Jugendlichen bis etwa zwei Uhr vernommen. Billys Frau konnte erst am frühen Morgen oder vielleicht noch später über den Vorfall informiert worden sein und die Leiche identifiziert haben. Doch irgendwann im Laufe des Tages würde man Billys Namen an die Presse geben, worauf Journalisten, die ihr Handwerk verstanden, die Geschichte sofort mit dem Agenten des Secret Service in Verbindung bringen würden, der den Präsidenten am Chattooga geschützt hatte. Seit der Auffindung von Harold Edwards’ Leiche waren elf Tage vergangen, und in dieser Zeit hatte die Presse im Großen und Ganzen die Ansicht des FBI übernommen, dass Edwards das Attentat im Alleingang durchgezogen hatte. Aber nachdem Billy Mattis jetzt tot war, vermutete DeMarco, dass die Journalisten scharenweise das Hoover Building belagern und die Frage stellen würden, ob Billys Tod etwas mit dem Anschlag auf den Präsidenten zu tun habe. Das FBI würde es wahrscheinlich kategorisch abstreiten, 192
aber danach würde die Hochkonjunktur der Verschwörungstheorien einsetzen. Das Gute an der Sache war, dass DeMarco sich aufgrund des Tonfalls des Artikels ziemlich sicher war, dass die Polizei ihn nicht weiter behelligen würde. Außerdem war es in der Zwischenzeit zu sechs weiteren Morden im Südosten von Washington gekommen, und die übermüdeten Polizisten, die für dieses blutige Stadtviertel zuständig waren, hatten einfach keine Zeit, sich Gedanken über einen unschuldigen, wenn auch etwas rätselhaften Passanten zu machen. Das Lämpchen seines Anrufbeantworters blinkte hektisch, als DeMarco nach Hause kam. Vier der fünf Nachrichten stammten von General Banks. Die Grundaussage seiner Botschaften lautete: Bewegen Sie unverzüglich Ihren Arsch zu meinem Büro, und erklären Sie mir, was mit Mattis passiert ist! DeMarco überlegte, ob er Banks zurückrufen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Er wollte Banks noch eine Zeit lang kochen lassen. Schließlich war es seine Schuld, dass DeMarco in solchen Schwierigkeiten steckte. Die fünfte Nachricht stammte von Carmine Taliaferro. DeMarco sah auf die Uhr. Es war erst vier Stunden her, seit er mit dem sterbenden Mafioso gesprochen hatte. Seine Botschaft war kurz und bündig: »Ich habe, was du von mir wolltest, du undankbares Arschloch.« »Palmeri hat für diesen Typen in Waycross gearbeitet«, sagte Taliaferro. »Er heißt Junior Custis. Er kontrolliert einen Großteil der Geschäfte dort unten, die üblichen Sachen, Spielhöllen, Nutten und so weiter. Ein kleiner Fisch. Aber mein Informant hat mir erzählt, dass Palmeri von diesem Custis für größere Sachen benutzt wurde.« »Zum Beispiel?«, fragte DeMarco. »Erwartest du von mir etwa eine exakte Definition?«
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»Wollen Sie damit sagen, die Justiz nimmt einen Mafia-Killer ins Zeugenschutzprogramm auf und lässt ihn dann in seinem bisherigen Job weiterarbeiten?« Taliaferro lachte. »Mein Gott, es war der einzige Job, mit dem Palmeri vertraut war. Und vielleicht wusste die Polizei nicht, was er gemacht hat. Er hat da unten eine Frau geheiratet, die ein Motel besitzt. Er hat immer von irgendeiner Tussi gelebt, selbst als er noch für uns gearbeitet hat. Auf jeden Fall hat er ihr geholfen, das Motel zu führen, sodass er eine sichtbare Einkommensquelle hatte.« »Aber die lokale Polizei muss doch von Palmeris Verbindung zu Custis gewusst haben.« »Das mag sein. Aber wenn man versucht hätte, mehr über ihn herauszufinden, wäre man schnell auf eine unüberwindliche Mauer gestoßen. Die Justiz erzählt dem FBI nicht, wer im Zeugenschutzprogramm ist, weil das FBI zu viele undichte Stellen hat, und dem örtlichen Polizeirevier wird sie es schon gar nicht verraten. Solange Palmeri nicht verhaftet wurde, was nie passiert ist, und sofern er sich vorsichtig verhielt, was er laut meinem Informanten getan hat, wusste die rechte Hand von Uncle Sam wie üblich nicht, was die linke tat.« »Hat Ihr Mann irgendeine Idee, warum Palmeri einen Agenten des Secret Service getötet hat?« »Nein. Das hat er auch nicht verstanden. Wollte dieser Agent vielleicht Custis’ Geschäfte da unten auffliegen lassen?« »Nein«, sagte DeMarco. »Die Art Agent war er nicht.« »Mein Mann sagte noch, dass Palmeri nicht exklusiv für Custis tätig war. Er hat Aufträge von verschiedenen Leuten angenommen.« »Das heißt, als er den Agenten erledigte, arbeitete er vielleicht für Custis, vielleicht aber auch nicht.« »Mein Mann sagt, dass er auf keinen Fall für Custis gearbeitet hat. Jemand anders hat ihn beauftragt, deinen Jungen kaltzumachen.« 194
Mein Mann, dein Junge – mein Gott!, dachte DeMarco. »Könnten Sie herausfinden, für wen?« »Ich habe es versucht. Mein Mann sagt, dass Palmeri immer sehr vorsichtig war, wenn er ein Ding gedreht hat. Das Komische ist, dass er fast nie die Gegend verlassen hat, er ging nicht in den Norden und auch nicht in größere Städte. Hatte wahrscheinlich Angst, dass jemand ihn wiedererkennt. Wenn er außerhalb von Waycross etwas zu erledigen hatte, war es immer nur irgendwo anders im Süden – Mississippi, Texas und andere ländliche Gegenden. Niemand kann sich erklären, was der Drecksack in D.C. gemacht hat.« Das bedeutete, dass jemand ihm eine Menge Geld gezahlt hatte, dachte DeMarco. »Vielen Dank für Ihre Hilfe, Mr. Taliaferro.« »Vielleicht kannst du dich eines Tages für diesen Gefallen revanchieren.« »Rechnen Sie lieber nicht damit.« Taliaferro lachte. »Ich würde gerne noch etwas länger leben, um zu sehen, was aus dir wird. Du kannst nicht vor deinem eigenen Blut davonlaufen, Gino Junior.« Eine pummelige grauhaarige Frau mit tiefen Sorgenfalten im normalerweise freundlichen Gesicht öffnete die Tür. DeMarco zeigte seinen Allzweck-Kongress-Ausweis und erklärte großkotzig, dass er »für die Regierung« arbeitete und dass er sich mit Mrs. Mattis unterhalten musste. Es war durchaus möglich, dass Billy seiner Frau alles erzählt hatte. Darcy Mattis war jetzt ganz allein und ohne jeden Schutz. Dort, wo sich einmal ihr Herz befunden hatte, war nun ein großes Loch. Sie musste unter Schock stehen, und wahrscheinlich dachte sie – falls sie überhaupt etwas dachte –, dass sie am besten nicht an das glaubte, was sie gehört hatte, damit sich alles Böse von selbst in Luft auflöste und ihr hübscher Billy irgendwann doch wieder nach Hause kam. Und in dieser schlimmen 195
Situation beging DeMarco die Unverschämtheit, die arme Darcy auszufragen. Die ältere Frau warf einen kurzen Blick auf DeMarcos Ausweis und sah ihm dann ins Gesicht. »Könnten Sie vielleicht später wiederkommen? Darcy geht es überhaupt nicht gut.« »Dürfte ich fragen, wer Sie sind?«, sagte DeMarco. Er musste sich vergewissern, dass sie keine Betreuerin vom Secret Service war. »Ich bin ihre Nachbarin. Dottie Parker. Als heute früh die Polizisten kamen – das war um fünf Uhr –, klingelten sie zuerst bei mir. Sie fragten, ob ich eine gute Freundin bin und bei ihr bleiben könnte, nachdem man ihr die traurige Nachricht überbracht hat. Ich war natürlich einverstanden, aber …« Jetzt wusste DeMarco, dass sie nur eine Durchschnittsbürgerin war, auf die er keine Rücksicht nehmen musste. »Madam, ich muss sofort mit ihr reden. Es ist sehr wichtig. Es geht um die nationale Sicherheit.« Die anständige, verständnisvolle Dottie Parker war völlig aufgeregt. »Aber sicher. Natürlich. Entschuldigung. Sie sitzt auf der Terrasse hinter dem Haus. Ich habe ihr gesagt, dass sie reinkommen soll, um Tee zu trinken, aber sie wollte sich nicht von der Stelle rühren.« Darcy Mattis saß auf einem Aluminium-Klappstuhl. Das blonde Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie trug Jeans und einen braunen Cardigan-Pullover, der ihr zwei Nummern zu groß war, über einem weißen T-Shirt. Der Himmel war bedeckt, und es war ein wenig zu kühl für die Jahreszeit, aber nicht so kühl, dass man draußen einen Pullover hätte tragen müssen. DeMarco vermutete, dass er ihrem Mann gehört hatte und sie etwas mit seinem Geruch in ihrer Nähe haben wollte, das sie genauso warm umhüllte, wie es seine Arme getan hatten. Er musste unwillkürlich daran denken, wie er Billy und sie bei seinem letzten Besuch erlebt hatte. Damals hatten sie ihn an 196
Hansel und Gretel erinnert, die sich im finsteren Wald aneinander klammerten und nach Brotkrumen suchten, die von wilden Tieren gefressen worden waren. Und nun war Billy den wilden Tieren zum Opfer gefallen. Ohne um Erlaubnis zu fragen, nahm sich DeMarco einen Stuhl und setzte sich neben sie. Ihr Kopf drehte sich erst in seine Richtung, als sein Stuhl über den Betonboden der Terrasse kratzte. Ihre Augen waren gerötet und ihr Blick starr. »Mrs. Mattis«, sagte DeMarco leise, »erinnern Sie sich an mich?« Sie nickte langsam. »Sie waren vor ein paar Tagen hier. Billy hat sich sehr über Sie aufgeregt.« »Es tut mir unendlich Leid, was mit Ihrem Mann geschehen ist, Mrs. Mattis. Er war ein anständiger Kerl. Ich würde Sie nicht zu diesem ungünstigen Zeitpunkt belästigen, wenn es nicht wichtig wäre.« Sie schien ihm gar nicht zugehört zu haben. »Wussten Sie, dass er wegen hundert Dollar abgeknallt wurde?« »Nein.« DeMarco hatte nicht die Absicht, ihr zu sagen, dass er den Mord an ihrem Mann beobachtet hatte. »Er hat seine Geldkarte fast nie benutzt. Er hatte sie eigentlich nur für den Notfall dabei, wenn er zum Beispiel unterwegs war und etwas brauchte, das ich nicht für ihn eingepackt hatte. Aber hier in der Stadt hat er sie nie benutzt. Warum in Gottes Namen hat er letzte Nacht Geld am Automaten abgehoben?« »Ich weiß es nicht, Mrs. Mattis«, sagte DeMarco. »Er war im Krieg und hat überlebt. Dann geht er an einen Geldautomaten und wird erschossen. Was treibt Gott nur für ein Spiel mit uns?« Tränen liefen aus ihren Augenwinkeln und ihr hübsches Gesicht hinab. »Mrs. Mattis, ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen. Es geht um …«
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»Sie dachten, Billy wüsste etwas über die Sache am Chattooga, als auf den Präsidenten geschossen wurde.« »Richtig«, sagte DeMarco. »Ich glaube nicht, dass Billy etwas Unrechtes getan hat«, log er, »aber ich glaube, dass er etwas wusste und Angst hatte, darüber zu reden.« »Billy hatte vor nichts Angst!«, sagte Darcy Mattis. Ein Funke des Zorns glitzerte in ihren verweinten Augen, aber er erlosch sofort wieder. Im nächsten Moment starrte sie erneut mit leerem Blick auf Erinnerungen, die nur sie sehen konnte. »Kennen Sie jemanden namens Dale Estep?«, fragte DeMarco. »Nein.« »Und einen gewissen Maxwell Taylor aus Folkston in Georgia?« »Nein. Billy hat nie über Leute aus der Gegend gesprochen, mit Ausnahme seiner Mutter. Billy mochte seine Heimatstadt nicht. Während der ganzen Zeit, die wir verheiratet waren, hat er mich nur einmal dorthin mitgenommen.« Sie zog sich in sich selbst zurück und dachte vielleicht an all die anderen Dinge, die sie nie wieder zusammen mit ihrem Mann tun würde. »Hat sich in den vergangenen zwei Monaten irgendetwas an Billys Gewohnheiten geändert?«, fragte DeMarco. »Ich weiß nicht, was Sie damit meinen.« »Hat er in letzter Zeit Dinge getan, die Ihnen ungewöhnlich vorkamen, die er sonst nicht getan hat? Hat er seinen üblichen Tagesablauf geändert?« Es gab nicht allzu viele Möglichkeiten, wie er seine Frage anders formulieren sollte. Darcy nickte. »Im Juni kam er häufig später nach Hause. Früher hat er fast nie Überstunden gemacht, wenn er in der Stadt war.« »Hat er Ihnen gesagt, was er getan hat?« »Er hat nur gesagt, dass er im Büro am Computer arbeitet. Die Abende waren dazu die günstigste Zeit. Weil weniger Leute im System waren.« 198
»Hat er Ihnen gesagt, wozu er den Computer benutzt hat?« »Nein. Nur dass er am Computer gearbeitet hat. Und er hat es mir erst gesagt, als ich sauer auf ihn wurde, weil er so oft länger geblieben ist. Ich konnte es nicht verstehen. Billy und ich haben uns sonst alles erzählt. Er hat mir nie etwas verschwiegen. Aber in den letzten Monaten war er ziemlich … in sich gekehrt.« Sie unterdrückte einen Schluchzer. »Gott möge mir verzeihen, denn ich dachte, er hätte eine Affäre.« »Aber er hat Ihnen nicht gesagt, was ihm Sorgen gemacht hat?« »Nein.« »Wann ist diese Veränderung eingetreten?« »Das kann ich Ihnen nicht genau sagen.« »War es ungefähr zu dem Zeitpunkt, als er der Leibwache des Präsidenten zugeteilt wurde?« Sie sah DeMarco überrascht an. »Ja, das könnte sein. Ich hatte erwartet, dass er sehr glücklich über diesen neuen Job gewesen wäre, was er zu Anfang auch war, aber dann benahm er sich, als wäre es ein Fluch. Ich dachte, es würde an der Last der Verantwortung liegen.« »Aber er wollte Ihnen nicht sagen, was sein Problem war?« »Nein, das hatte ich doch schon erklärt. Warum stellen Sie mir überhaupt diese Fragen? Was wollen Sie ihm anhängen?« DeMarco ging nicht auf ihre Frage ein. »Mrs. Mattis, wenn er sich Ihnen nicht anvertrauen wollte, hat er vielleicht mit irgendjemand anderem gesprochen, wenn ihm etwas Sorgen …?« »Nein.« Doch dann zögerte sie. »Außer mit seiner Mutter. Sie und Billy standen sich sehr nahe.« DeMarco erinnerte sich an Billys Telefonrechnung und die vielen Anrufe, die im Juni an seine Mutter gegangen waren. »Hätte Billy sich Mr. Donnelly anvertraut?«, fragte DeMarco. »Wem?« »Patrick Donnelly, dem Leiter des Secret Service.« 199
»Nein. Ich bezweifle, dass er Billy überhaupt gekannt hat.« »Ich habe erfahren, dass Mr. Donnelly persönlich dafür gesorgt hat, dass Billy dem Sicherheitsteam des Präsidenten zugeteilt wird.« Sie zuckte mit den Schultern. »Mag sein. Billy war jedenfalls ziemlich überrascht, als er diesen Auftrag erhielt. Er dachte, dass man ihn wegen seiner guten Leistungen ausgesucht hatte, aber er sagte auch, dass es viele andere gab, die schon wesentlich länger beim Secret Service waren und denen man eigentlich den Vorzug hätte geben müssen. Ich weiß nicht, warum man sich für ihn entschieden hat. Auf jeden Fall war er nicht mit Mr. Donnelly befreundet.« DeMarco überlegte noch, was er als Nächstes fragen sollte, als sie sagte: »Wir hatten daran gedacht, vielleicht ein Baby zu adoptieren, wissen Sie. Ich kann keine Kinder bekommen, und Billy hätte gerne einen Jungen gehabt. Mit dem er angeln gehen wollte.« Sie schlang die Arme um ihren Oberkörper, und wieder liefen ihr Tränen übers Gesicht, die wie unerhörte Gebete in ihren Schoß fielen. DeMarco hielt es nicht mehr aus. Er stand auf und drückte unbeholfen ihre Schulter. »Es tut mir Leid, Mrs. Mattis. Mein aufrichtiges Beileid.« Er ließ sie auf der Terrasse zurück, wo sie sich in den Pullover ihres Mannes kuschelte. Er wusste, dass sie in ihrem Leben nie wieder Wärme empfinden würde.
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28 DeMarco trat in Banks’ Büro, und bevor er die Tür geschlossen hatte, brüllte Banks los: »Was zum Teufel ist mit Mattis passiert? Was haben Sie getan?« DeMarco erzählte es ihm – in allen Einzelheiten. Er sprach über die seltsame Verbindung zwischen Dale Estep und Billy Mattis, über Esteps Militärkarriere und sein Geschick im Umgang mit der Waffe und über die vage Verbindung zu einem reichen Mann in Georgia. Er erzählte, wie Mattis von Estep in die Falle gelockt und von John Palmeri getötet worden war. »Dieser Estep ist interessant«, sagte Banks. »Als das FBI bekannt gab, dass sich der Attentäter zwei oder drei Tage in einem Erdloch versteckt haben soll, fiel mir als Erstes ein ExSoldat ein. Aber was hat er mit Edwards zu tun? Hat er ihm geholfen?« »Ich weiß es nicht«, sagte DeMarco. DeMarco stand auf, ging zu einem Fenster und blickte zum Weißen Haus hinüber. In den Zeitungen hieß es, dass der Präsident seine Arbeit wieder aufgenommen hatte, auch wenn er aus gesundheitlichen Gründen ab und zu einen halben Tag Pause einlegte. DeMarco drehte sich wieder zu Banks um, der immer noch über das nachdachte, was er von DeMarco erfahren hatte. »General, ist es möglich, dass Harold Edwards gar nichts mit dem Attentat zu tun hat?« »Was soll das heißen?« »Nur weil Edwards mit einem Zettel am Zeh gefunden wurde, auf dem ›Ich war’s‹ steht, sollten wir nicht alles andere vergessen, was wir in Erfahrung gebracht haben. Wir wissen vom Brief mit der Warnung – von dem das FBI nichts weiß –, und wir wissen, dass der Brief wahrscheinlich von Mattis geschrie-
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ben wurde. Und jetzt wissen wir, dass er nicht das zufällige Opfer eines Raubüberfalls wurde.« »Und?« »Ich habe mit Mattis’ Frau gesprochen, bevor ich zu Ihnen gekommen bin. Sie sagte, dass ihr Mann in der Zeit vor dem Attentat Überstunden an den Computern des Secret Service gemacht hat. Bisher hatte ich diesem Punkt keine besondere Bedeutung zugemessen, aber jetzt sehe ich das anders. Ich glaube, Billy hat versucht – beziehungsweise wurde er dazu gezwungen –, jemanden wie Harold Edwards zu finden. Jemanden, der in den Daten des Secret Service bereits als Gefahr für den Präsidenten eingestuft wurde. Ich glaube, dass Billy den perfekten Sündenbock gefunden hat, dass Estep die Waffen aus dem Lager von Fort Meade gestohlen hat, weil Edwards dort früher gedient hat, und ich glaube, dass Estep der Schütze war. Nach dem Anschlag haben sie Edwards getötet – es war entweder Estep oder der Typ, der Billy erschossen hat –, und anschließend wurden die Beweise in seinem Haus deponiert.« »Das ist eine Menge Glauben und wenig Gewissheit«, sagte Banks. »Das ist es, General«, sagte DeMarco. »Und deshalb müssen Sie mit dem FBI reden. Die Bundespolizei braucht alle Fakten. Sie muss von dem Brief erfahren und von allem, was wir über Estep und diesen Taylor wissen. Wenn Edwards gar nicht der Attentäter war, besteht die Möglichkeit, dass die wahren Schuldigen noch einmal versuchen, den Präsidenten zu töten.« Banks sagte nichts. Er nahm seine Brille ab und putzte die Gläser. Ohne seine Sehhilfe wirkte er plötzlich sehr verletzlich, dachte DeMarco, wie ein uralter Adler mit schlechten Augen. DeMarco wusste, dass Banks ihn nur deshalb mit der Überprüfung von Mattis beauftragt hatte, weil er nicht angemessen auf das Warnschreiben reagiert hatte. Er war zu keinem Augenblick davon überzeugt gewesen, dass Mattis etwas mit dem Mordan202
schlag auf den Präsidenten zu tun gehabt hatte. Und selbst nachdem DeMarco ihn auf den neuesten Stand gebracht hatte, zögerte er noch, die Tatsache publik zu machen, dass er das FBI nicht über den Brief informiert hatte. Wenn er sich zum jetzigen Zeitpunkt outete, konnte die Sache äußerst peinlich für Banks werden. Vielleicht lief es auf einen politischen Selbstmord hinaus. Banks setzte die Brille wieder auf und sah DeMarco mit undurchschaubarer Miene an. Nach einer ganzen Weile drehte er sich mit dem Schreibtischsessel herum und blickte auf das Foto des World Trade Center, das hinter ihm an der Wand hing. »Verdammt«, sagte er, »Sie haben Recht. Bringen wir es hinter uns.«
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29 Als DeMarco Patrick Donnelly am Konferenztisch in Simon Walls Büro sitzen sah, wusste er, dass Banks und er einen kräftigen Arschtritt zu erwarten hatten. Banks hatte Donnelly nicht zur Besprechung mit dem Generalstaatsanwalt eingeladen, was bedeutete, dass der Generalstaatsanwalt es getan hatte. Und DeMarco sah sofort, dass Donnelly, Simon Wall und der dritte Mann im Raum, Kevin Collier, der Leiter des FBI, recht gute Kumpel waren. Als DeMarco und Banks das Büro betraten, waren sie gerade in eine angeberische Diskussion über die Kosten der Mitgliedschaft im Country Club vertieft. Wie es schien, hatte Bretton Woods vor kurzem die Beiträge erhöht und gleichzeitig das Angebot reduziert. Die Herrschaften hatten es in der Tat nicht leicht. »Was tun Sie hier, Mr. Donnelly?«, war das Erste, was Banks fragte. Bevor Donnelly antworten konnte, sagte Simon Wall: »Ich habe ihn eingeladen, General.« Er sprach im beruhigenden, nichtaggressiven Tonfall eines Vermittlers bei einem Geiseldrama. »Als Sie anriefen und ankündigten, dass es um das Attentat auf den Präsidenten geht, dachte ich, dass wir von Pats … Erfahrung profitieren könnten.« Simon Wall hatte glattes braunes Haar und eine übergroße Brille mit dunklem Gestell, in dem seine wässrigen braunen Augen riesig wirkten. Bevor er zum Leiter des Justizministeriums aufstiegen war, hatte er das Fundraising für die Partei gemanagt, und es wurde bereits über die Möglichkeit gesprochen, dass er bei der nächsten Wahl als Kandidat für den Posten des Vizepräsidenten aufgestellt werden sollte. Wall war ein politisches Mischwesen, das in jeder politischen Umwelt überlebensfähig war. Wie ein Tier mit Lungen und Kiemen 204
konnte er an Land und im Wasser existieren, und wenn ihm plötzlich die Luftzufuhr abgeschnitten wurde, konnte er den Atem länger als jede andere Spezies anhalten. »Berechtigter ist die Frage, was er hier macht«, sagte Donnelly und bedachte DeMarco mit einem finsteren Blick. Diesem fiel wieder auf, wie wenig seine grausamen, scharfkantigen Züge zum klein geratenen Körper passten. Er sah aus wie eine Puppe, der jemand aus Versehen den falschen Kopf aufgesetzt hatte. Banks fuhr zu Donnelly herum. »Ich bin derjenige, der diese Besprechung einberufen hat, Mister«, sagte er, »und ich muss nicht erklären, wen ich dazu mitbringe und warum ich es tue.« Der Generalstaatsanwalt spielte weiter die Rolle des Vermittlers. »Pat, ich bin überzeugt, dass der General einen guten Grund hat, Mr. DeMarco an dieser Konferenz teilnehmen zu lassen.« Er warf DeMarco einen Blick zu. »Außerdem bin ich davon überzeugt, dass Mr. DeMarco alles für sich behalten wird, was wir hier besprechen werden. So ist es doch, Mr. DeMarco?« »Ja, Sir«, sagte DeMarco. Ja und Amen. Es störte ihn schon, dass Wall überhaupt seinen Namen kannte. Joe hatte versucht, Banks zu überzeugen, dass er ihn bei diesem Treffen nicht brauchte, aber Banks hatte darauf bestanden, dass er mitkam. DeMarco ging ein gewisses Risiko ein. Er hätte mit Mahoney sprechen sollen, bevor er zu Banks ging, und auf jeden Fall hätte er den Sprecher über sein Treffen mit dem Generalstaatsanwalt informieren müssen. Unter Staatsbediensteten hieß es: Lieber vorher um Erlaubnis fragen, als später um Verzeihung bitten zu müssen. DeMarco hatte gegen eine bürokratische Grundregel verstoßen, und er hoffte, dass ihn das nicht den Job kosten würde. DeMarco und Banks setzten sich zu den anderen an den großen runden Konferenztisch. »Fangen Sie einfach an, General«, sagte Simon Wall. »Als Sie anriefen, sagten Sie, das FBI hätte eine wichtige Information
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übersehen, und Sie wollten dafür sorgen, dass Kevin und ich von Ihren, äh, Erkenntnissen profitieren.« »Ich mag mich irren«, sagte Banks, »aber ich halte es durchaus für möglich, dass Edwards gar nicht der Attentäter war – oder dass er zumindest nicht der einzige Täter war.« Kevin Collier war ein stämmiger Mann in den Fünfzigern. Er hatte Glupschaugen und aggressive Gesichtszüge und erinnerte DeMarco an diese kampflustige Hunderasse mit der eingedrückten Schnauze. Collier war in politischer Hinsicht nicht so clever wie Simon Wall, aber er war klug genug, um zu wissen, dass die Fahndungserfolge des FBI nicht so wichtig waren wie die Frage, mit wem er Golf spielte. »Verzeihen Sie, General, aber die Beweise gegen Harold Edwards sind einfach erdrückend«, sagte Collier. »Immerhin hat er einen Brief in seiner Handschrift hinterlassen, in dem er die Tat gesteht.« Er lachte humorlos und fügte hinzu: »Was erwarten Sie noch von ihm, Sir? Dass er von den Toten aufersteht, um ein mündliches Geständnis abzulegen?« Banks ging nicht auf Colliers Versuch ein, die Sache herunterzuspielen, sondern sagte schroff zu DeMarco: »Erzählen Sie, was Sie herausgefunden haben.« DeMarco gefiel es nicht, die Rolle des Referenten übernehmen zu müssen, aber er räusperte sich und tat, was Banks von ihm verlangte. »Vor dem Mordanschlag erhielt der General einen Brief, der nur von einem Agenten des Secret Service geschrieben worden sein kann. Das Papier stammt aus den Beständen des Secret Service und wurde mit der internen Post des Heimatschutzministeriums zugestellt. Darin heißt es …« »Na bitte!«, murmelte Donnelly und schaute zu Kevin Collier hinüber. Es war offensichtlich, dass Donnelly bereits mit Wall und Collier über den Brief gesprochen hatte, und DeMarco konnte sich problemlos vorstellen, welche Ansichten er dazu geäußert
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hatte. General Banks musste dieselben Schlussfolgerungen gezogen haben. Banks’ Kopf ruckte zu Donnelly herum, und er sah ihn mit funkelnden Augen an. »Haben Sie etwas zu sagen, Mr. Donnelly?« »Nein«, sagte Donnelly kopfschüttelnd und hob mit kapitulierender Geste die Hände. »Wenn Sie weiterhin daran glauben wollen, dass der Brief echt ist, kann ich Sie leider nicht daran hindern.« Bevor Banks etwas darauf erwidern konnte, sagte der Generalstaatsanwalt: »General, lassen wir Mr. DeMarco doch einfach mit seiner, äh, Zusammenfassung fortfahren.« Und das tat DeMarco. Er machte es recht gut, bis er den Fehler beging, zu erwähnen, dass sowohl Banks als auch er glaubten, Mattis würde auf dem Video vom Attentat einen nervösen Eindruck machen. »Darauf kann ich sofort eingehen, General«, sagte Kevin Collier. »Weil Mattis vor dem ersten Schuss die Sonnenbrille heruntergefallen ist, haben meine Techniker ihn natürlich besonders genau unter die Lupe genommen, als sie das Video untersucht haben. Sie haben zum Beispiel gemessen, wie schnell er sich bewegt hat, um den Präsidenten vor weiteren Schüssen zu decken. Dabei wurde festgestellt, dass er schneller als jedes andere Mitglied der Leibwache reagiert hat. Außerdem war er der erste Agent, der auf die Böschung gefeuert hat, um den Schützen zu irritieren. Es gibt nicht den geringsten wissenschaftlichen Beweis, dass Mattis in irgendeiner Weise verdächtig gehandelt hat.« »Mr. Collier«, sagte Banks, »ich habe Mattis’ Bewegungen zwar nicht mit der Stoppuhr gemessen, aber ich kenne mich mit Menschen aus. Und ich kann mit meinen eigenen Augen sehen, dass sich Mattis anders als die übrigen Männer der Leibwache verhalten hat. An jenem Morgen war er ungewöhnlich nervös, und zwar, bevor der erste Schuss fiel.« 207
»Das mag sein, General«, sagte Collier, »aber es lässt sich durch das Video nicht empirisch belegen. Auch der Lügendetektortest, den Mr. Donnelly an allen Agenten, einschließlich Mattis, durchführen ließ, hat nichts ergeben.« »Billy Mattis hat abgestritten, einem solchen Test unterzogen worden zu sein«, sagte DeMarco. »Sie haben mit Mattis gesprochen?«, fragte Donnelly mit aufrichtiger Überraschung. »Wer hat Ihnen das Recht dazu gegeben?« Bevor DeMarco antworten konnte, sagte Banks: »Ich habe es ihm gegeben. Fahren Sie fort, DeMarco.« Später erkannte DeMarco, dass Donnelly, der sich darauf viel besser als er oder Banks verstand, das Gespräch von der Frage abgelenkt hatte, ob er Mattis wirklich mit dem Lügendetektor getestet hatte. DeMarco kam Banks’ Aufforderung nach, mit dem Bericht fortzufahren. Er erzählte, wie er Billy zunächst auf der National Mall und später in seinem Haus befragt hatte. »Er wirkte schuldig«, sagte er. »Es war völlig klar, dass er vom Brief mit der Warnung wusste und irgendwie in den Mordanschlag verwickelt war.« Donnelly lachte. Es war ein schallendes Gelächter, um genau zu sein. »Er wirkte schuldig? So stellen Sie sich einen handfesten Beweis vor? Wenn jemand schuldig wirkt?« DeMarco erwiderte, dass es jeder gesehen hätte, der dabei gewesen wäre, was selbst in seinen Ohren ein unglaublich schwaches Argument war. Donnelly schnaufte verächtlich. »Wenn Sie auf diese Weise einen Fall vor Gericht verhandeln wollen, würde man Ihnen sofort die Lizenz entziehen.« Wieder ergriff Banks schneller das Wort als DeMarco. »Donnelly, ich verlange, dass Sie aufhören, ständig diese Besprechung zu stören. Das ist ein Befehl, verdammt noch mal!« 208
Ein direkter Befehl von einem Höherrangigen konnte jemanden beeindrucken, der ein Leben lang in Uniform gedient hatte, doch für einen zivilen Bürokraten in Donnellys Position bedeutete er gar nichts. Erneut griff Wall ein, um Banks zu beschwichtigen. »Da muss ich dem General zustimmen, Pat. Wir sollten uns zunächst anhören, was DeMarco zu sagen hat.« Doch als DeMarco davon sprach, wie er bei der Beschattung von Billy auf Dale Estep und Maxwell Taylor gestoßen war, indem er seine Telefonate belauscht hatte, konnte sich Donnelly nicht mehr zurückhalten. »Würden Sie uns bitte erklären, DeMarco, wie Sie ohne gerichtlichen Beschluss an diese Telefonnummern gelangt sind?« »Nein«, sagte DeMarco. Es wurde nicht besser, als er seinen Bericht fortsetzte. Er beschrieb, wie er Billy Mattis verfolgt und seinen gewaltsamen Tod beobachtet hatte, worauf er gezwungen war, Billys Mörder zu erschießen. »Als ich hörte, dass Sie diesen Robinson umgelegt haben«, sagte Donnelly, »schoss mir als Erstes durch den Kopf, dass der Apfel nicht weit vom Stamm fällt.« »Was zum Henker soll das heißen?«, fragte Banks aufgebracht, der die Anspielung auf DeMarcos Vater nicht verstand. Bevor Donnelly sich erklären konnte, sagte Wall: »Wir sollten beim Thema bleiben, meine Herren. Ich wüsste nicht, was Mattis’ Tod mit …« »Es hat eine ganze Menge damit zu tun, Mr. Wall.« DeMarco sagte, es sei völlig klar gewesen, dass Billy am Geldautomaten auf seinen Mörder gewartet hatte, und er sei davon überzeugt, dass Estep die Begegnung arrangiert hatte. Er erzählte sogar, was er von Billys Frau erfahren hatte, dass Billy seine Geldkarte noch nie in Washington benutzt hatte. »Warum sollte Mattis in einer Bar herumlungern, bis es dunkel wird«, schloss er, »um sich dann zu einem Geldautomaten zu begeben, den er sonst nie 209
benutzt, und das in einem Stadtviertel, in dem er eigentlich nichts zu suchen hat?« »Wissen Sie«, sagte Collier, »das ist genau die Art von wirren und unausgegorenen Überlegungen, auf denen Verschwörungstheorien basieren. Wenn ich es nicht besser wüsste, DeMarco, würde ich denken, dass Sie für den verdammten Enquirer arbeiten. Die Tatsachen sehen so aus, dass Billy Mattis an einem Geldautomaten ausgeraubt und erschossen wurde. Ein bedauerlicher Vorfall, aber nicht allzu ungewöhnlich. Warum sich Mattis zu diesem speziellen Geldautomaten begeben hat, könnte die unterschiedlichsten rationalen Gründe haben. Vielleicht wollte er einen Bekannten besuchen, der in diesem Teil der Stadt wohnt, und hat vor dieser Bank gehalten, weil sie auf dem Weg lag. Was auch immer der Grund gewesen sein mag, es gibt keinen Beweis und nicht einmal einen vagen Hinweis, dass Mattis getötet wurde, weil er in das Attentat verwickelt war. Das Gegenteil zu implizieren, ist schlichtweg unverantwortlich!« DeMarco spürte, wie sein Gesicht rot wurde. Er hatte es satt, ständig von Collier zurechtgewiesen zu werden. »Der Mann, der Billy Mattis tötete, kam aus Waycross, Georgia«, sagte er, »und am Morgen des Tages, an dem Billy starb, hat Estep in Waycross angerufen.« »Wenn das stimmt, bedeutet das nur, dass Mr. Estep ein Telefonat mit einem unbekannten Teilnehmer in seinem Heimatstaat geführt hat«, sagte Collier und wandte sich mit jovialer Heiterkeit an Banks. »Meine jungen Agenten tun so etwas ständig, General. Sie ziehen voreilige Schlüsse, weil sie den Fall in ihrer Phantasie längst gelöst haben. Ich sage ihnen immer wieder, dass sie ihre Theorien auf Fakten gründen sollen und nicht umgekehrt.« »Zu den Fakten gehört der Umstand«, sagte DeMarco, »dass der Mörder von Billy Mattis kein gewöhnlicher Räuber war, der an Geldautomaten seinen Opfern auflauerte. Sein richtiger Name lautet nicht David Robinson, sondern John Palmeri, ein 210
Mafioso, der in das Zeugenschutzprogramm des Justizministeriums aufgenommen wurde.« Der Blick, den Collier mit Simon Wall wechselte, ließ keinen Zweifel, dass die beiden genau wussten, wer Billys Mörder war, und gehofft hatten, dass diese Tatsache nicht ans Licht kommen würde. Deshalb hatte der Generalstaatsanwalt Donnelly das Wort abgeschnitten, als er gesagt hatte, dass der Apfel nicht weit vom Stamm fällt. Selbst wenn Mattis’ Tod nichts mit dem Attentat zu tun hatte, wollte Wall auf keinen Fall hinausposaunen, dass jemand, der ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen worden war, seine Verbrecherkarriere fortsetzen konnte. »Wie sind Sie an diese Information gelangt?«, fragte Wall, dessen Stimme plötzlich eiskalt geworden war. »Das tut hier nichts zur Sache«, erwiderte DeMarco. »Es geht darum, dass John Palmeri kein Kleinkrimineller war. Er war ein Auftragskiller und wurde von jemandem angeheuert, um Billy Mattis zu töten.« Collier und Wall schwiegen eine Weile. »Dann werden wir wohl herausfinden müssen«, sagte Wall schließlich, »was dieser Palmeri hier in Washington gemacht hat. Aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt gibt es nichts, was ihn mit dem Anschlag am Chattooga in Verbindung bringt.« Bevor DeMarco darauf hinweisen konnte, dass Billy Mattis’ Tod eine deutliche Verbindung zum Attentat darstellte, kam ihm Collier zuvor. »Und Sie glauben, der Mann, der ihn beauftragt hat, soll dieser Dale Estep gewesen sein, dieser Wildhüter?« »Richtig«, sagte DeMarco. »Wildhüter gehören nicht unbedingt zur gleichen Gesellschaftsklasse wie frustrierte Postangestellte, Kevin«, sagte Donnelly zu Collier, »aber mir ist klar, dass beide kein guter Umgang sind.« Collier lachte, und DeMarco sah, wie Banks’ große Hände nach der Kante des Konferenztisches griffen. Er schien sich auf Donnelly stürzen zu wollen, um ihn zu erdrosseln, doch dann 211
holte er einmal tief Luft und ließ sich auf seinen Stuhl zurücksinken. »Estep«, sagte DeMarco, »ist alles andere als ein einfacher Wildhüter. Er war als Scharfschütze in Vietnam und wurde entlassen, weil er einen Knall hatte.« »Sie erwähnten auch, dass er in den vergangenen zwanzig Jahren ein vorbildlicher Bürger war«, erwiderte Collier. DeMarco sah sich hilfesuchend zu Banks um. Das Gesicht des Generals wirkte härter als Beton, während sein Blick von Donnelly zu Wall und zurück wanderte. Auf DeMarco wirkte es, als hätte Banks’ militärischer Verstand längst akzeptiert, dass er seine Stellung nicht mehr halten konnte. Anscheinend plante er bereits die nächste Kampagne. Doch vorläufig ging der Angriff weiter. »Wenn ich Sie richtig verstanden habe«, sagte Donnelly, »wissen Sie über diesen Taylor nur, dass er reich ist und den Wahlkampf des Präsidenten mit einer Spende unterstützt hat. Könnte es sein, dass Sie hier das Nichtvorhandensein eines Motivs übersehen haben, DeMarco?« »Ich hatte noch keine Gelegenheit, Taylor gründlicher unter die Lupe zu nehmen«, räumte DeMarco ein. »Ich dachte, für diese Aufgabe wäre das FBI besser geeignet.« »Aber ansonsten waren Sie der Ansicht, ausreichend befugt zu sein, jeden anderen auszuspionieren, einschließlich einen meiner Agenten«, sagte Donnelly. »Warum also nicht Taylor? Warum haben Sie diesen Waldschrat nicht in Handschellen und im Ochsenjoch angeschleppt?« DeMarco ging nicht auf Donnelly ein, sondern wandte sich an Collier. »Ich möchte noch einmal Ihren Tatverdächtigen Edwards zur Sprache bringen, von dem Sie glauben, er hätte sich eine Schießscharte in einen Abhang gegraben und sich an einer Armee von Agenten des FBI und des Secret Service vorbeigeschlichen. Der Mann war übergewichtig, ein nicht mehr
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vermittelbarer Arbeitsloser und ein Trinker. Wie hat er es geschafft …?« »Er war ein guter Schütze, ein Jäger, der sich viel im Freien aufhielt, und es ist dokumentiert, dass er den Präsidenten für seine Arbeitslosigkeit verantwortlich gemacht hat«, sagte Collier. »Da wären schon wieder diese lästigen Tatsachen, Mr. DeMarco.« »Dann möchte ich Ihnen eine weitere Tatsache vorlegen«, erwiderte DeMarco. »Billys Frau sagte, dass Mattis während des Monats vor dem Mordversuch am Präsidenten Überstunden an den Computern des Secret Service gemacht hat. Ich glaube, er hat in den Datenbanken nach einem perfekten Sündenbock gesucht und ihn gefunden.« »So ein Blödsinn!«, sagte Donnelly. »Haben Sie dafür einen Beweis?«, wollte Collier wissen. »Nein«, sagte DeMarco, »aber vielleicht können die ITSpezialisten herausfinden, was er im Computersystem gemacht hat. Vielleicht sind seine Anfragen irgendwo gespeichert.« Als er fragend zu Donnelly sah, wurde ihm klar, dass er einen weiteren Fehler begangen hatte. Wenn DeMarco Recht hatte, würden Donnellys Computerleute sämtliche Spuren von Billy Mattis’ Recherchen beseitigen. »Ich würde gerne noch einmal Ihre Argumentationskette zusammenfassen«, sagte Collier zu DeMarco, »sofern man in Ihrem Fall von logischen Argumenten reden kann. Gehen wir also davon aus, Billy Mattis hätte tatsächlich, aus welchen Gründen auch immer …« »Ich glaube, er wurde erpresst oder auf irgendeine Weise von Estep und Taylor unter Druck gesetzt«, sagte DeMarco. »… versucht, jemanden wie Harold Edwards in den Datenbanken des Secret Service ausfindig zu machen. Wie ist die Tatwaffe dann in Edwards’ Haus gelangt? Eine Waffe, die übrigens aus der Armeereserveeinheit gestohlen wurde, in der auch Edwards gedient hat?« 213
»Estep könnte das Gewehr aus dem Waffenlager gestohlen haben. Da Billy Mattis ebenfalls der Armeereserve angehört, könnte er ihm geholfen oder ihn über die Sicherheitsvorkehrungen in Fort Meade informiert haben.« »Aber auch dafür haben Sie keinen Beweis, oder?«, sagte Collier. »Richtig«, sagte DeMarco. Allmählich nervte es ihn, dass er ständig so etwas eingestehen musste. »Gut«, sagte Collier, als würde er sich mit einem geistig Behinderten unterhalten, »vergessen wir für einen Moment den Mangel an Beweisen und machen einfach weiter. Estep stiehlt also die Waffen aus dem Arsenal, benutzt eine davon, um ein paar Schüsse auf den Präsidenten abzugeben, und deponiert die Waffen dann in Edwards’ Haus. Habe ich Sie so weit richtig verstanden, Mr. DeMarco?« DeMarco nickte nur. »Dann erklären Sie mir bitte einen anderen Punkt: Wo war Harold Edwards, während all das geschehen ist? Wo war er, als die Schießscharte angelegt wurde und während sich der Präsident am Chattooga aufhielt? Keiner seiner Nachbarn hat ihn während dieses Zeitraums gesehen.« »Darüber habe ich auch nachgedacht«, sagte DeMarco. »Ich mag mich täuschen, aber vielleicht wurde er von Estep – möglicherweise mit Palmeris Hilfe – entführt und irgendwo versteckt, während Estep den Mordanschlag durchführte.« »Das wird ja immer abenteuerlicher!«, rief Donnelly. »Äußerst faszinierend«, sagte Collier. »Und was ist dann passiert, DeMarco? Er zwingt Edwards, einen Abschiedsbrief zu schreiben, und tötet ihn dann auf eine Weise, dass alles nach einem Selbstmord aussieht? Wollen Sie etwas in der Art andeuten?« »Richtig«, sagte DeMarco. »Genau so könnte es abgelaufen sein.« Er wünschte sich nur, er hätte irgendetwas in der Hand gehabt, das seine Mutmaßung stützte. 214
»Und wie erklären Sie sich die aufgefundenen Beweise, Mr. DeMarco?«, fragte Collier. »Zum Beispiel die Quittung, die bestätigt, dass Edwards kurz vor dem Attentat in der Nähe des Chattooga getankt hat?« »Jeder hätte diese Quittung in seinen Wagen legen können.« »Und der Abschiedsbrief, der ohne jeden Zweifel in Edwards’ Handschrift verfasst wurde?« »Estep hat ihm eine Waffe an den Kopf gehalten und den Text diktiert«, sagte DeMarco. »Und die Schmauchspuren an Edwards’ Händen, die zu einer selbst zugefügten tödlichen Verwundung passen?« »Ich weiß es nicht«, sagte DeMarco. »Vielleicht …« »Völlig richtig!«, brüllte Collier ihn an. »Sie wissen es nicht! Sie wissen überhaupt nichts, und Sie haben nicht den Hauch eines Beweises für das, was Sie behaupten!« »Mein Gott!«, brüllte DeMarco zurück. »Ist Ihnen noch nicht aufgefallen, dass die Edwards-Geschichte ein bisschen zu perfekt klingt? Oswald hat sich wenigstens in einem Theater versteckt. Er musste wenigstens gejagt werden, bis man ihn erwischt hat! Edwards hat man Ihnen als eingewickeltes Geschenk vor die Füße gelegt!« »Wenigstens gründen sich unsere Vermutungen auf Beweise, DeMarco, und nicht auf die felsenfeste Überzeugung, dass irgendwer schuldig wirkt«, sagte Collier. Scheiße, dachte DeMarco völlig frustriert. Vielleicht hätte er seine Geschichte vorher vor dem Spiegel proben sollen. Bevor ihm eine Erwiderung einfallen konnte, stand Banks auf. »Mir reicht es«, sagte der General. »Wall, ich sehe ein, dass Harold Edwards für Sie eindeutig tatverdächtig ist. Die Sache scheint glasklar zu sein. Und wenn die Journalisten Sie über Mattis’ Tod ausfragen, werden Sie ihnen die gleichen schlagfertigen Antworten geben, wie es Collier die ganze Zeit getan hat. Aber ich möchte Ihnen eins sagen: Ich bin kein Idiot, und ich rate Ihnen dringend, mich ernst zu nehmen, wenn ich sage, dass 215
Sie Billy Mattis und Dale Estep unbedingt unter die Lupe nehmen müssen. Ich habe nicht getan, was ich hätte tun sollen, als diese Sache losging, aber Sie sollten nicht den gleichen Fehler begehen.« »Einen Augenblick, General«, sagte Simon Wall. »Natürlich nehme ich ernst, was Sie …« Aber Banks war noch nicht fertig. »Und noch etwas«, fuhr er fort, während er einen Finger auf Patrick Donnelly richtete. »Ich glaube, dass dieser kleine Mistkäfer absichtlich die Ermittlungen behindert.« Banks drehte sich um und marschierte aus Simon Walls Büro. Er ließ DeMarco einfach stehen, der in die müden Augen von Patrick Donnelly blickte. DeMarco holte Banks ein, als der in seinem Wagen gerade losfahren wollte. Banks’ Augen funkelten immer noch vor Wut und Beschämung, als er sah, wie DeMarco einstieg. Sein Zorn auf Simon Wall mochte größer sein als der auf DeMarco, aber Joe war im Moment greifbarer. Banks starrte ihn noch ein paar Sekunden lang an, dann schüttelte er angewidert den Kopf. »Scheißpolitiker! In Vietnam hatte ich weniger Feinde.« Er tippte gegen das Fenster, das ihn von seinem Fahrer trennte. »Jimmy, ich weiß, dass Sie einen Flachmann im Handschuhfach haben. Geben Sie ihn mir!« »Klar, Chef«, sagte Jimmy, dessen Stimme wie eine zwölfsaitige Gitarre näselte. Banks nahm einen Schluck aus der kleinen Flasche und wandte sich dann wieder an DeMarco. »Das war übrigens das letzte Mal, dass ich einen Rat von Ihnen annehme, mein Freund. Diese Mistkerle haben mich gerade in der Luft zerrissen.« »Sie haben uns beide in der Luft zerrissen, General. Und Donnelly ist uns in den Rücken gefallen.« »Ich weiß, was er getan hat, und ich schwöre, bevor ich diese Stadt verlasse, werde ich dafür sorgen, dass dieser Hurensohn 216
gefeuert wird. Ich weiß noch nicht, wie ich es anstellen soll, aber ich werde es tun, so wahr mir Gott helfe!« Er nahm einen zweiten tiefen Schluck aus dem Flachmann, zögerte kurz und reichte ihn dann an DeMarco weiter. DeMarco trank den Rest aus. Er genoss es, wie der billige Bourbon seine Kehle versengte. »Und was machen wir jetzt, Sie Genie?«, sagte Banks. »Haben Sie schon irgendwelche neuen Ideen ausgebrütet?« »Ich weiß noch nicht. Vielleicht …« DeMarco unterbrach sich und schüttelte nur den Kopf. »Das habe ich mir gedacht«, sagte Banks. »Jimmy, halten Sie an!« Dann wandte er sich an DeMarco. »Und Sie verlassen sofort meinen Wagen. Ich hätte wissen müssen, dass ich von einem Schluckspecht wie Mahoney keine bessere Unterstützung erwarten konnte.«
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30 Der Sprecher des Repräsentantenhauses stand neben DeMarco und blickte in die steinernen Augen von Robert Taft. Auch dieses Mal hatten sie sich während Mahoneys mittäglichem Spaziergang am Denkmal verabredet. In seiner weißen Sportkleidung erinnerte er DeMarco an Melvilles Wal. DeMarco hatte ihm die komplette Geschichte seiner Ermittlungen erzählt, alles, was seit ihrem letzten Gespräch geschehen war. Es sah aus, als würde Mahoney ihm zuhören, aber das mochte eine Täuschung sein. DeMarco hatte schon seit längerem den Verdacht, dass Mahoney genauso wie ein großes, breitärschiges Pferd im Stehen und mit offenen Augen schlafen konnte. Als er berichtete, wie er gezwungen gewesen war, John Palmeri zu töten, hatte er eine heftige Reaktion von Mahoney erwartet, aber dieser hatte einfach nur genickt. Als wäre ihm schon immer klar gewesen, dass sein Angestellter zu solchen Dingen imstande war. Das machte DeMarco Sorgen. Zur Besprechung in Simon Walls Büro brummte Mahoney nur: »Diese Ärsche.« DeMarco konnte nicht sagen, ob sich diese Gefühlsäußerung darauf bezog, wie Wall, Collier und Donnelly ihn und den General behandelt hatten, oder ob es seine allgemeine Ansicht über die drei Männer war. DeMarco kam zum Schluss seines Berichts. »Sir, ich bin mir ziemlich sicher, dass Mattis und Estep in das Attentat verwickelt sind. Ich glaube, Estep hat Palmeri beauftragt, Mattis aus dem Weg zu räumen, und Edwards ist mit hoher Wahrscheinlichkeit eine falsche Spur.« Mahoney sagte eine Minute lang gar nichts, dann seufzte er. »Mein Gott, Joe. Sie sind sich ziemlich sicher, Sie glauben und behaupten etwas mit hoher Wahrscheinlichkeit.« 218
DeMarco ließ sich nicht durch seinen Sarkasmus beirren. »Genau deshalb müssen die Leute vom FBI dazu gebracht werden, ihre Arbeit zu tun. Sie müssen Taylor und Estep vernehmen, ihre Häuser durchsuchen lassen, überprüfen, wo sich Estep zum Zeitpunkt des …« »Aber selbst wenn sie etwas finden, gibt es nach dem Tod des Agenten keine nachweisbare Verbindung zu Donnelly mehr.« »Das könnte sein«, sagte DeMarco, Mahoney war völlig auf Patrick Donnelly fixiert, und er schien zu glauben, dass Mattis die Verbindung zu Donnelly war. Was zum Henker hatte Donnelly damit zu tun? »Was glauben Sie, was Banks jetzt tun wird?«, fragte Mahoney und zupfte am Schritt seiner Jogginghose. »Ich weiß es nicht, aber ich vermute, dass er zunächst einmal gar nichts unternehmen wird. Nach der Besprechung war er verdammt sauer, aber ich glaube, hauptsächlich wegen der Art und Weise, wie Wall ihn behandelt hat. Jetzt hat er seine Schuldigkeit getan. Er hat Collier gesagt, was er weiß, und nun liegt die Sache in den Händen des FBI.« »Scheiße«, murmelte Mahoney. »Sir, Sie müssen sich in diese Sache einbringen«, sagte DeMarco. »Reden Sie selber mit Wall und Collier. Wenn das nicht funktioniert, wenden Sie sich an den Präsidenten. Er ist derjenige, dem hier die größte Gefahr droht.« Mahoney riss die Augen in gespieltem Erstaunen auf. »Ich habe nichts damit zu tun. Warum sollte ich mich einmischen?« Verdammt, dachte DeMarco. Donnelly hatte sich durch Harold Edwards’ Abschiedsbrief und die Beweise, die in dessen Haus gefunden wurden, in eine günstige Position manövriert, und Mahoney hatte diesen Punkt längst in die politische Gleichung einbezogen. »Dann erlauben Sie mir, dass ich der Post von dem Warnschreiben erzähle«, schlug DeMarco vor. »Die Presse wird sich begeistert darauf stürzen. Danach bleibt dem FBI nichts anderes 219
mehr übrig, als die Ermittlungen aufzunehmen, und Donnelly kriegt Ärger, weil er versucht hat, die Sache zu vertuschen.« Wieder schüttelte Mahoney den Kopf. »Wenn Sie jetzt die Presse informieren, kriegen auch Andy Banks und der Secret Service mächtigen Ärger. Es wäre etwas anderes, wenn Sie Beweise für Ihre Behauptungen hätten, aber die haben Sie nicht. Sie haben lediglich einen Bauch voller Mutmaßungen. Ob es Ihnen gefällt oder nicht, aber dieser Arsch Collier könnte Recht haben. Edwards könnte die Sache im Alleingang durchgezogen haben, und Mattis hat vielleicht überhaupt nichts damit zu tun.« »Ja, aber wir müssen irgendetwas unternehmen«, sagte DeMarco. »Wenn ich Recht habe, könnten Estep und Taylor noch einmal versuchen, den Präsidenten zu erledigen.« Mahoney seufzte. »Joe«, sagte er, »dass jemand auf den Präsidenten geschossen hat, ist gar nicht das Problem.« »Wie bitte?« »Seit Lincoln ist jeder Präsident zur Zielscheibe geworden. Mein Gott, man hat sogar versucht, diese Tunte Gerald Ford zu ermorden, wissen Sie noch? Weswegen? Was hat Gerald Ford getan, um zur Zielscheibe eines Attentäters zu werden?« Er hat Nixon begnadigt, dachte DeMarco. »Nein, der Mordanschlag ist gar nicht das Thema, jedenfalls nicht das Hauptthema.« Mahoney begeisterte sich immer mehr an seiner Rhetorik. »Das eigentliche Problem ist, dass der Typ, der den Präsidenten schützen sollte, ein korrupter kleiner Scheißer ist, der möglicherweise den Attentätern geholfen hat. Das ist das wahre Scheißproblem.« »Dann bringen Sie das FBI dazu …« »Das FBI wird nichts gegen Pat Donnelly unternehmen, jedenfalls nicht auf Grundlage Ihrer Ermittlungen.« DeMarco fühlte sich aufgeschmissen. Er suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit, wie er Mahoney überzeugen konnte, seinen Einfluss als Sprecher des Repräsentantenhauses zu
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nutzen. Er musste dafür sorgen, dass das FBI gegen Estep und Taylor ermittelte. Mahoney kam ihm zuvor. »Vielleicht sollten Sie sich ein wenig in Georgia umsehen und diesen Taylor persönlich unter die Lupe nehmen. Und diesen Wildhüter. Es muss irgendeine Verbindung zu Donnelly geben.« DeMarco hätte ihn am liebsten angebrüllt, ob er jetzt völlig durchgedreht sei. Aber er versuchte, ruhig zu bleiben. »Ich bin mir nicht sicher, wozu das gut sein soll, Sir.« »Ich auch nicht«, räumte Mahoney ein. »Aber es ist besser, als gar nichts zu tun, und Sie haben im Moment nichts Dringlicheres zu erledigen, wenn ich mich nicht täusche.« »Das stimmt«, sagte DeMarco, »aber …« »Gut«, sagte der Sprecher des Repräsentantenhauses und wandte sich zum Gehen. »Einen Moment noch!«, sagte DeMarco. »Ihnen müsste klar sein, dass ich jetzt bis zum Hals in dieser Sache drinstecke. Aber ich bin kein Polizist, und diese Typen könnten Killer sein.« Mahoney sah DeMarco eine Weile mit ernstem Blick an und nickte. DeMarco wusste, was als Nächstes kommen würde. Er hatte diese Szene schon mehrere Male erlebt. Er war Kanonenfutter, und Mahoney war der General, der es bedauerte, seinen treuen Soldaten in die Schlacht schicken zu müssen. Seine Miene zeigte unehrliche Besorgnis um DeMarcos Wohlergehen, während er ihm eine Hand auf die Schulter legte. »Passen Sie da unten gut auf sich auf, mein Junge.«
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31 DeMarco fuhr vom Highway 23 ab und blickte über den Okefenokee, auf die fremdartige Vegetation, die knorrigen Sumpfzypressen, von denen Vorhänge aus Spanischem Moos tropften. Dieser Anblick gefiel ihm überhaupt nicht, und irgendein latenter sechster Sinn, der bei einem Stadtbewohner wie ihm normalerweise tief und fest schlummerte, schrie ihm die Warnung zu, sich vor Ungeheuern mit Krallen und Zähnen in Acht zu nehmen, die im träge schwappenden dunklen Wasser lauerten. Morgens hatte er widerstrebend eine Reisetasche gepackt und einen Flug nach Jacksonville, Florida, genommen. Am Flughafen hatte er ein Mustang-Kabrio gemietet, das Verdeck aufgeklappt und war die vierzig Meilen durch die undurchdringliche heiße Luft bis nach Folkston gefahren. Dort hatte er sich ein Motel gesucht und war am Empfangstresen von einem Mädchen mit hellen Augen, Nasenring und rot gefärbtem Haar begrüßt worden, das all seine Vorurteile über Jugendliche aus den Südstaaten über den Haufen warf. In seinem Zimmer hatte sich DeMarco aufs Bett fallen lassen und teilnahmslos den Broschürenstapel durchgeblättert, der ihm mehr über den Südosten von Georgia verriet, als er jemals wissen wollte. Dem Informationsmaterial des Hotels entnahm er, dass zehntausend bedauernswerte Seelen in Charlton County zu Hause waren und das Pro-Kopf-Einkommen bei etwa elf Riesen lag. Einen wesentlichen Teil dieses Reichtums hatte man der Holzfällerei zu verdanken. Überall in der Gemeinde gab es kleine Sägewerke, Papiermühlen, Terpentinfabriken und andere Gewerbe, mit denen sich ein karger Profit aus Bäumen schlagen ließ. DeMarco erinnerte sich, dass Maxwell Taylor beim Finanzamt ein Jahreseinkommen von über dreihunderttausend 222
Dollar angegeben hatte, also das Dreißigfache dessen, was seine Durchschnittsnachbarn verdienten. Am Nachmittag unternahm Joe eine kleine Rundfahrt durch die Umgebung von Folkston einschließlich Uptonville, wo Billy Mattis aufgewachsen war. Unterwegs gelangte er zu der Erkenntnis, dass Charlton County eigentlich gar nicht so unattraktiv war. Diese widerstrebende Konzession wurde zudem durch die Tatsache gestützt, dass der zweite größere Gewerbezweig der Region der Tourismus darstellte. In einer der Broschüren des Hotels hieß es, dass jedes Jahr insgesamt vierhunderttausend Menschen die Sümpfe besuchten, um die Vögel und die Alligatoren, die überall das Wasser verpesteten, zu beobachten. Während er herumfuhr, redete er sich ein, dass er sich ein Bild von der Umgebung machen wollte, dass er das Feindesland auskundschaftete, aber in Wirklichkeit versuchte er nur, Zeit zu schinden. Schließlich landete er am Rand des Sumpfes, wo er seinen Wagen abstellte und sein Schicksal im Allgemeinen sowie Mahoney im Besonderen verfluchte. Er befand sich in einer Region, über die er nichts wusste, wo er keine Kontakte und keine Befugnisse hatte, und er sollte etwas über zwei Personen herausfinden, die möglicherweise versucht hatten, den Präsidenten der Vereinigten Staaten zu ermorden. Und eine dieser beiden Personen war ein militärisch ausgebildeter Scharfschütze und noch dazu vermutlich ein Irrer. DeMarcos Möglichkeiten waren sehr eingeschränkt. Es bestand nicht die geringste Aussicht, dass er an handfeste Beweise käme, die Estep oder Taylor mit dem Attentat in Verbindung brachten. Vielleicht würde er nachweisen können, dass Estep während des Anschlags nicht dort gewesen war, wo er gewesen zu sein behauptete, aber auch das war nicht sehr wahrscheinlich. Er konnte sich nur darauf konzentrieren, die Verbindung zwischen Taylor, Estep, Mattis und Donnelly aufzudecken. Diese vier Männer mussten irgendetwas miteinander gemeinsam 223
haben. Neil hatte mit seinen Computern und geheimnisvollen Apparaten nichts in Erfahrung bringen können, also standen DeMarcos Chancen verdammt schlecht. Er konnte nur versuchen, mit verschiedenen Leuten zu reden und in öffentlichen Dokumenten zu stöbern. Dann war da noch die Frage nach dem Motiv. Bis jetzt konnte er sich noch keinen Grund vorstellen, warum Taylor und Estep den Präsidenten töten wollten. Vielleicht würde er hier in Georgia über ein Motiv stolpern – sofern Estep ihn nicht vorher kaltmachte. DeMarco erinnerte sich lebhaft an Colonel Moores Geschichte, wie sich der Soldat aus einem Erdloch erhoben hatte, das Gesicht von Insektenbissen entstellt. Er zuckte erschrocken zusammen, als ein Vogelschwarm plötzlich mit panischem Kreischen von einem Baum in der Nähe aufflog – offenbar aus Furcht vor einem unsichtbaren Raubtier. Nachdem er die Nacht über im viel zu warmen Motelzimmer schlecht geschlafen hatte, machte sich DeMarco auf den Weg zu einem urigen Landrestaurant, um zu frühstücken. Die meisten anderen Gäste im Etablissement trugen Bluejeans, Arbeitshemden und Baseballmützen. Nur ein gepflegter Herr hatte einen weißen Strohhut mit rot-weißblauem Hutband aufgesetzt. Dazu passend war diese einzige modische Erscheinung Folkstons in ein weißes Hemd mit offenem Kragen unter einem weißen Leinenanzug mit roten Hosenträgern gekleidet. Wahrscheinlich der Bürgermeister, dachte DeMarco. Er hatte keinen Mann mit Strohhut mehr gesehen, seit The Music Man im Kennedy Center wiederaufgeführt worden war. DeMarco hatte sich für legere Kleidung entschieden, nicht nur wegen der Hitze, sondern weil er das Gefühl hatte, dass seine dunklen Anzüge von Brooks Brothers und die Button-DownKragen hier etwas fehl am Platze wären. Er trug ein weißes Izod-Polohemd, khakifarbene Dockers und Top-Siders ohne Socken – genau das, was er in Georgetown an einem sonnigen Samstagmorgen tragen würde. Als er sich im Raum umsah und 224
die Baseballmützen von John Deere und Caterpillar musterte, wünschte er sich, er hätte Socken angezogen. Er schätzte diese Leute so ein, dass sie sich nur dann von ihren Socken trennten, wenn sie Sex hatten. Auf keinen Fall zogen sie sie aus, wenn sie Schuhe trugen. Eine gut gelaunte Kellnerin kam zu ihm an den Tresen. Es war ein Mädchen Ende zwanzig mit blond gefärbter, hoch aufgetürmter Mähne und rosafarbener Uniform, die kurz genug war, um die rustikalen Beine gut zur Geltung zu bringen. »Guten Morgen, Süßer«, sagte die Frau. »Willst du auch Kaffee?« Süßer? Das gefiel ihm. Ja, das war genau das, was er jetzt brauchte – eine Frau, die ihn »Süßer« nannte. Und wenn er einst alt, fett und impotent wäre, würde sie ihn »Daddy« nennen und ihn mit einem schlacksigen Kerl mit schmierigen Haaren und John-Deere-Mütze betrügen. »Gerne«, sagte er und erwiderte ihr Lächeln. »Das ist aber niedlich«, sagte sie und richtete den Zeigefinger auf seine Brust, während sie ihm Kaffee einschenkte. »Wie bitte?« DeMarco wurde von Frauen normalerweise nicht als »niedlich« charakterisiert. »Dieser kleine grüne Alligator auf deinem Hemd. Hast du das in einem der Touristenläden drüben am Sumpf gekauft?« »Ach so. Nein«, sagte DeMarco. »Mann, ist das niedlich!«, wiederholte sie. Dann drehte sie sich um und rief einer Kollegin am anderen Ende des Restaurants zu: »Patty May, komm mal rüber, und guck dir den niedlichen kleinen Alligator an, den dieser Typ auf seinem Hemd hat!« DeMarco spürte, wie sich sein Gesicht vor Verlegenheit rötete, als die Gäste in seine Richtung blickten. So viel zu seinem Vorsatz, unauffällig zu bleiben. Er sah zum U-förmigen Tresen hinüber und entdeckte Emma an der Seite des Mannes mit dem Strohhut. Sie lächelten einander an und ergötzten sich gemeinsam an DeMarcos Erniedrigung. 225
Emma trug ein weißes Sommerkleid, weiße Pumps und eine Perlenkette. Das Einzige, was noch an ihrem Südstaaten-LadyOutfit fehlte, wäre ein Hut mit Rüschen und Blümchen und ein dazu passender Sonnenschirm gewesen. Emma machte es Spaß, sich zu verkleiden, wenn es ihr Job erforderte, und DeMarco konnte erkennen, dass der Mann mit den roten Hosenträgern ziemlich von ihr angetan war. Da der Ausflug nach Georgia nicht ganz ungefährlich war, hatte DeMarco entschieden, nicht allein zu reisen. Emma besaß eine Waffe und wusste auch, wie man damit umging, was für DeMarco ein äußerst tröstlicher Gedanke war. Sie waren mit derselben Maschine geflogen, doch seit der Landung in Jacksonville verhielten sie sich vereinbarungsgemäß wie Fremde. Es konnte von Vorteil sein, jemanden zu haben, der dem Gegner nicht bekannt war und DeMarco notfalls den Rücken deckte. Emma hatte diese strategische Vorgehensweise vorgeschlagen. Die junge Kellnerin brachte DeMarco endlich das Frühstück. Freundlichkeit gehörte zum Service – Schnelligkeit nicht. Er hatte Schinken und Eier bestellt, und auf seinem Teller befanden sich tatsächlich Schinken und Eier – aber daneben lag eine weiße, flüssige Masse, die nach Weizenbrei mit einem Klecks Butter aussah. »Was ist das?«, sagte DeMarco und zeigte auf das widerliche weiße Zeug. Die Kellnerin zeigte ihm ihr strahlendstes Lächeln. »Das ist Weizengrütze, alter Yankee.« Grütze. Er hätte es sich denken können. Er würde es auf keinen Fall essen. Die Kellnerin senkte die Augenlider mit den langen falschen Wimpern zu einem lasziven Schlafzimmerblick. »Wirst du lange in der Stadt bleiben, Schätzchen?« DeMarco war von »Schätzchen« fast genauso begeistert wie von »Süßer«. »Eine Weile«, sagte er. 226
»Und was machst du hier in der Gegend?« Es wurde Zeit, mit der Arbeit zu beginnen. DeMarco brauchte einen Grund, um Fragen zu stellen und herumzuschnüffeln. Er hatte überlegt, ob er die Wahrheit sagen sollte, dass er im Auftrag des Kongresses ermittelte, aber er glaubte nicht, dass er die Leute damit ohne weiteres zum Plaudern bewegen konnte. Seine – allerdings etwas fadenscheinige – Tarngeschichte lautete, dass er ein Schriftsteller war, der für einen Artikel über Billy Mattis recherchierte, den guten Jungen aus der kleinen Stadt, den tapferen Soldaten und den Helden des Secret Service. Er wünschte sich, er hätte sich die Zeit genommen, um sich Referenzen für diese Arbeit zu beschaffen. Er erzählte der Kellnerin von seinem angeblichen Vorhaben. Nachdem sie mit vielen »Ohs« zum Ausdruck gebracht hatte, wie cool sie es fand, fragte er, ob sie Billy gekannt hatte. »Ja«, sagte sie, »aber nicht richtig gut, weil er ein paar Jahre älter als ich ist.« Sie sagte, Billy musste ein richtig toller Kerl gewesen sein, wenn er für den Secret Service gearbeitet hatte und so. Echt schlimm, dass er gestorben war. Ob sie Billys Mutter kannte? Ein bisschen. Sie wohnte Richtung Uptonville, arbeitete da als Kellnerin. Und Billys Vater? Nun antwortete DeMarcos langbeinige neue Freundin zum ersten Mal ausweichend. Sie entschuldigte sich damit, dass sie nach einer Bestellung sehen musste, aber DeMarco glaubte, dass sie etwas Zeit zum Nachdenken brauchte. Er schaute der Kellnerin nach und genoss den Anblick, dann sah er zu Emma hinüber. Sie unterhielt sich immer noch mit dem schnieken Typen. DeMarco wandte den Blick ab, aber genau in diesem Moment starrte ein Mann, der hinter Emma allein an einem Fenstertisch saß, zu ihm herüber. DeMarco konnte den Blick dieses Mannes nicht richtig in Worte fassen. Er wirkte einschüchternd und gleichzeitig 227
desinteressiert und kalt. Dann wurde DeMarco klar, dass es der Blick war, mit dem ein Profiboxer seinen Gegner vor dem Kampf einschätzte. Ein unerschrockener Blick, der eine harte, aber emotionslose Prügelei versprach. Die Hautfarbe des Mannes war wie poliertes Mahagoni, und er hatte eine Raubvogelnase, die sein Gesicht dominierte. Sein dichtes schwarzes Haar war zu einem kurzen Pferdeschwanz zusammengebunden. Vielleicht ein Latino, aber mit höherer Wahrscheinlichkeit indianischer Herkunft, vermutete DeMarco. Auf der linken Gesichtshälfte zog sich eine dünne weiße Narbe im Zickzack von der Augenbraue zum Mundwinkel. Der Mann starrte DeMarco noch ein paar Sekunden lang ausdruckslos an, dann blinzelte er langsam mit den dunklen Augen. Gleichzeitig wandte er den Blick ab und hob die Kaffeetasse an die Lippen. Der Unterarm war mit kräftigen Muskeln bepackt. Die Kellnerin kehrte an den Tresen zurück und beugte sich so nahe an DeMarco heran, dass er den Blütenduft ihres Shampoos und das Bratfett in ihrem Haar riechen konnte. Sie sagte kokett, dass sie ein paar Gerüchte über Billys Daddy gehört hatte, aber sie gehörte schließlich nicht zu den Leuten, die herumtratschten. Ach nee, dachte DeMarco. Er bohrte nicht nach, aber ihre Zurückhaltung verdutzte ihn. Das erinnerte ihn daran, wie er gegen eine ähnlich feste Mauer gerannt war, als er die Konrektorin der Highschool nach Billys Erzeuger gefragt hatte. DeMarco plauderte noch eine Weile mit der Kellnerin, ließ ein überdurchschnittlich hohes Trinkgeld zurück und wandte sich zum Gehen. »He, Süßer«, rief sie ihm nach. »Du hast die Rechnung vergessen.« »Ich brauche keine Rechnung.« »Doch, die brauchst du«, sagte sie, zwinkerte und drückte ihm einen kleinen Papierstreifen in die Hand.
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DeMarco blickte zum Tisch hinüber, an dem der Mann mit dem Pferdeschwanz gesessen hatte. Er war gegangen. Dann schaute er auf die Quittung. Darauf stand der Name Cindy mit einem kleinen Herzen als i-Punkt, außerdem eine Telefonnummer und die Worte »Wenn ein Mann rangeht, leg auf«. In dieser Stadt drohten an jeder Ecke Gefahren. DeMarco sehnte sich nach Washington zurück. DeMarco parkte seinen Wagen an einer Stelle, von der aus er einen guten Blick auf die Wildhüterstation des OkefenokeeSumpfes hatte. Um fünf Uhr nachmittags kamen drei Ranger aus dem Gebäude. DeMarco hatte sich von Emmas Mitarbeiter Mike eine Beschreibung Esteps geben lassen, aber keiner der Männer passte dazu. Zwei der Wildhüter bestiegen einen mit Schlamm bespritzten Ford Explorer, der andere eine mittelgroße japanische Limousine. Die zwei Fahrzeuge verließen den Parkplatz, und DeMarco folgte ihnen. Fünf Minuten später hielt die Karawane an einer kleinen Gaststätte an, wie er gehofft hatte. Alle drei Männer waren in den Fünfzigern, hatten Bierbäuche und breite Ärsche. DeMarco war einmal in Yellowstone gewesen, und diese Ranger sahen nicht so aus wie die Männer, die er dort gesehen hatte. Sie machten nicht den Eindruck, als wären sie stundenlang zu Fuß im Wald unterwegs, um Fährten zu lesen oder Feuerschneisen anzulegen. Sie waren keine gesunden Naturburschen, sondern rauchten Kette, vernichteten literweise Bier und machten schmutzige Witze über den Hintern der Kellnerin. Für DeMarco sahen diese Männer wie typische korrupte New Yorker Polizisten aus – mit verschlagenem Blick, jederzeit zum Äpfelstehlen und Zuschlagen bereit, genauso wie die Bullen, die mit lässig geschwungenen Knüppeln über die Straßen von Queens spazierten. Die Einstellungsvoraussetzungen für Okefenokee schienen weit unter denen von Yellowstone zu liegen.
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DeMarco bestellte ein Bier und setzte sich an die Theke, nahe genug, um die Unterhaltung der Wildhüter belauschen zu können. Er hoffte, irgendwie mit ihnen ins Gespräch zu kommen und sie nach Dale Estep auszufragen. Während er dasaß, dachte er an den ersten Tag zurück, den er in Georgia verplempert hatte. Nach dem Frühstück war er zum Sitz der Bezirksverwaltung gefahren und hatte im Archiv nach Billy Mattis’ Geburtsurkunde und Informationen über seinen Vater gesucht. Aber es war kein Vater angegeben. Danach wandte er sich den Immobilienund Geschäftsverzeichnissen zu und suchte nach Verbindungen zwischen Taylor, Estep, Donnelly und Mattis. Nach drei Stunden hatte er bestätigt, dass Taylor in der Umgebung fast alles aufgekauft hatte, was sich aufkaufen ließ, genauso wie Senator Maddox ihm erzählt hatte. Aber nirgendwo waren die anderen drei Männer als Partner, Pächter oder Mieter aufgeführt. Den Nachmittag verbrachte er im Gebäude des Charlton County Herald. Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass der Mann mit dem Strohhut der Herausgeber war. Ihm erzählte er die gleiche Lüge wie der Kellnerin, dass er einen Artikel über Billy Mattis schreiben wollte, worauf der Gentleman ihm freundlicherweise gestattete, die antike Mikrofiche-Maschine zu benutzen, um die älteren Ausgaben der Zeitung durchzusehen. Die Haupterkenntnis dieser Nachforschungen war die Tatsache, dass Maxwell Taylor nur äußerst selten eine Nachricht wert war. Vor 1970 wurde gelegentlich erwähnt, dass Taylor ein Stück Land gekauft oder ein Geschäft übernommen hatte, aber nach 1970 tauchte sein Name praktisch nicht mehr auf. Das war ungewöhnlich, wenn man den Reichtum und die Umtriebigkeit des Mannes bedachte. DeMarco fand heraus, das die Zeitung im Jahr 1969 einen neuen Herausgeber bekommen hatte, und er fragte sich unwillkürlich, ob das Grundrecht der Pressefreiheit in Charlton County seitdem seine Gültigkeit verloren hatte. Über Dale Estep erfuhr er nur, dass er im Laufe der Jahre jeden 230
Wettbewerb gewonnen hatte, bei dem Feuerwaffen eine Rolle spielten, und dass er im Bezirk den Rekord im ForellenbarschAngeln hielt. DeMarco wandte seine Aufmerksamkeit wieder den drei biertrinkenden Wildhütern zu. Jetzt ließen sie sich über ihre Frauen aus. Offenbar waren sie alle mit Hausdrachen aus der Gegend verheiratet, die ständig an ihnen herumnörgelten. DeMarco wollte bereits seinen Barhocker verlassen, um den Wildhütern irgendeine blöde Frage zu stellen, so etwas wie »Arbeitet ihr alle in diesem großen Sumpf da drüben?« Doch bevor er dazu kam, betrat ein weiterer Mann in Ranger-Uniform die Bar. Er war ebenfalls in den Fünfzigern, doch im Gegensatz zu seinen Kollegen hing ihm der Bauch nicht über den Gürtel, und er bewegte sich mit der eleganten Anmut einer Dschungelkatze. Er hatte hohe Wangenknochen und tiefe Furchen zu beiden Seiten des Mundes. Seine Nase war lang und gerade, und sein schwarzes Haar war mit tiefen Geheimratsecken eingekerbt. Er erinnerte DeMarco an diesen Schauspieler und Drehbuchautor, der Jessica Lange geheiratet hatte. Für DeMarco gab es keinen Zweifel, dass es sich um Dale Estep handelte, und im nächsten Moment erhielt er die definitive Bestätigung, als der Neuankömmling von einem der Männer am Tisch angesprochen wurde. DeMarco drehte sich auf dem Barhocker herum, sodass Estep sein Gesicht nicht sehen konnte. »Hallo, Dale! Komm rüber, und trink was mit den Hiwis!« Estep ging nicht auf die Einladung ein, sondern wandte sich an einen anderen Mann. »Charlie, hatte ich dir nicht gesagt, dass du heute die Zugangsstraße im Norden sperren solltest?« »Ja, Dale, aber …« »Nichts aber! Ich habe dir gesagt, dass es heute erledigt werden muss. Meine Leute treffen heute Abend ein, und ich will nicht, dass morgen früh die Touristenhorden da herumspazieren.« 231
»Dale, ich hatte mir fest vorgenommen, es heute zu machen, aber dann hatten wir ein Problem mit den Abflüssen. Ich bin einfach nicht dazu gekommen.« »Das heißt also, du machst einfach um fünf Feierabend wie immer und kommst hierher, um dein Bier zu schlürfen.« »Also, irgendwie schon, aber …« DeMarco musterte Estep in einem Spiegel, während der Charlie herunterputzte. Mike hatte gesagt, Estep hätte die »Augen eines Jägers«. Nun verstand DeMarco, was er damit gemeint hatte. Esteps dunkle Augen waren ständig in Bewegung, als würde er im Dickicht nach Beute suchen, als würde er nur darauf warten, dass sein Opfer in Panik geriet und schreiend die Flucht ergriff. Dale Estep hatte etwas Gefährliches an sich, das beinahe körperlich spürbar war. »Charlie«, sagte Estep, »beweg endlich deinen fetten Arsch. Du auch, Harv. Ihr kommt auf der Stelle mit. Ich habe die Straßensperren und Umleitungsschilder im Pickup. Wir werden sie jetzt aufstellen.« »Mensch, Dale, hat das nicht Zeit bis morgen? Ich werde ganz früh aufstehen und …« »Charlie, willst du die Ausführung einer klaren Anweisung verweigern?« »Nein, Dale, ich meine nur …« »Wie würde es dir gefallen, Charlie, wenn du und deine fette Scheißfrau und deine fetten Scheißkinder tatsächlich für euren Lebensunterhalt arbeiten müsstet? Möchtest du gerne erleben, wie das ist?« Estep starrte Charlie an, bis der Mann wie ein geprügelter Hund den Blick senkte. »Also los jetzt!« Die zwei Männer erhoben sich und verließen in Esteps Gefolge die Bar. Der dritte Mann rief ihnen hinterher: »He, Charlie, wie soll ich nach Hause kommen? Du bist heute gefahren.« Bevor Charlie antworten konnte, sagte Estep: »Bleib einfach hier sitzen, und besauf dich, Junior. So wie jeden Abend. Ich
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bringe Charlie in ein paar Stunden zurück, wenn wir mit der Arbeit fertig sind.« Nachdem Estep und die zwei Wildhüter fort waren, saß Junior eine Weile allein am Tisch und trank, bis er zu einem Billardtisch ging und die Kugeln in den Rahmen legte. DeMarco wartete ein paar Stöße ab und fragte ihn dann, ob er Lust hätte, eine Runde gegen ihn zu spielen. Junior musterte DeMarcos Kleidung und ordnete seinen nördlichen Akzent ein. »Nur wenn du kein Yankee bist, der die Leute beim Billard abzockt.« »Keine Sorge«, sagte DeMarco. »Ich bin nur jemand, der ab und an ganz gerne spielt.« In Wirklichkeit war DeMarco ein ziemlich guter Spieler, aber er hatte längst beschlossen, Junior hin und wieder gewinnen zu lassen. »Wenn das so ist«, sagte Junior, »machen wir es etwas interessanter. Was hältst du von zwei Dollar pro Runde?« DeMarco stellte fest, dass er seinen Gegner gar nicht gewinnen lassen musste, da der Mistkerl wie Minnesota Fats spielte. Während DeMarco von Junior fertig gemacht wurde, sagte er: »Anscheinend war dieser Typ vorhin ziemlich sauer auf deinen Kumpel Charlie.« »Scheiß-Dale«, sagte Junior. »Er war zwei gottverdammte Monate lang oben in Washington und hat sich den Arsch platt gesessen, und dann kommt er wieder runter und verlangt, dass wir uns zu Tode schuften.« »Wirklich?«, sagte DeMarco. »Ich komme aus D.C. Was hat er dort gemacht?« »Die Neun ins Eckloch. Ach, er hat an den Kursen teilgenommen, die das Innenministerium veranstaltet. Ökoscheiße, Landverwaltung und der ganze Mist. Die Fünf ins Seitenloch.« »Klingt interessant. Ich schätze, ihr macht ständig Schulungen mit, um euch über ökologische Richtlinien und solche Sachen auf dem Laufenden zu halten.«
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»Aber klar doch«, höhnte der Ranger. »Keiner von uns geht zu irgendeiner verdammten Schulung, und Dale war jetzt zum ersten Mal bei einer. Dale ist schon als kleiner Junge kaum zur Schule gegangen. Er war immer nur auf der Jagd. Jeder verdammte Bauunternehmer in Florida nimmt mehr Rücksicht auf die Umwelt als Dale. Da oben im Norden hat er nicht mehr getan, als tagsüber rumzusitzen und nachts die Stadt unsicher zu machen. Er hat nicht ein einziges verdammtes Buch mitgebracht. Du bist erledigt, Stadtjunge. Jetzt schuldest du mir schon acht Dollar.« DeMarco legte die Kugeln für die nächste Runde zurecht. »Du hast gesagt, er wäre Jäger. Was jagt man denn so in dieser Gegend?« »Ich jage gar nichts, aber Dale schießt auf alles, was Fell oder Federn hat. Der Mistkerl hat einfach Spaß am Töten.« »Womit geht er auf die Jagd? Pfeil und Bogen? Gewehr?« »Gewehr. Er ist ein verdammt guter Schütze.« »Tatsächlich?«, sagte DeMarco. »Ja. Einmal sind wir losgezogen, um einen tollwütigen Fuchs zu erlegen, und während wir durch den Sumpf stapften, sehe ich ein Flughörnchen von einem Baum springen. Irgendwie mag ich Flughörnchen. Die Viecher können fast hundert Meter weit durch die Luft segeln. Auf jeden Fall sage ich: ›He, Dale, guck mal, das kleine Vieh.‹ Und Dale, dieser Mistkerl, hebt sein Gewehr, er scheint gar nicht richtig hinzugucken, und pustet das Flughörnchen einfach weg. Dieser Drecksack kann einem Marienkäfer auf dreihundert Metern Entfernung einen Punkt wegschießen. Aber warum hat der Scheißer ein kleines Flughörnchen getötet? Der Idiot, der verrückte.« DeMarco erkannte, dass das Gespräch zwar ansatzweise interessant war, ihn aber kaum weiterbrachte. Er hatte bereits von Colonel Moore erfahren, dass Estep verrückt war und sehr gut schießen konnte. DeMarco überlegte sich eine Strategie, wie er Junior nach Billy Mattis und seinen Verwandten fragen 234
konnte, als er bemerkte, dass der Pick-up mit Dale und den anderen zwei Wildhütern auf den Parkplatz vor der Kneipe einbog. Mist. Estep hatte gesagt, dass sie erst in ein paar Stunden wiederkommen würden. DeMarco sah auf seine Armbanduhr. »Scheiße, schon so spät!« Er zog einen Zehn-Dollar-Schein hervor, warf ihn auf den Billardtisch und schüttelte Junior zum Abschied die Hand. »Warte«, sagte Junior. »Du kriegst noch Wechselgeld von mir.« »Vergiss es. Ich muss los«, sagte DeMarco. »Nein, ich hab’s gleich«, sagte Junior und zückte seine Brieftasche. Scheiße. Bevor er verschwinden konnte, betrat Estep die Bar. DeMarco ließ sich zwei Dollar von Junior geben, schüttelte ihm noch einmal die Hand und sagte ihm, wie viel Spaß es gemacht hatte, sich viermal nacheinander von ihm fertig machen zu lassen. Esteps Augen verfolgten jeden seiner Schritte, als er nach draußen ging.
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32 DeMarco lag in seinem Motelzimmer auf dem Bett. Um seine Hüften hatte er sich ein Handtuch geschlungen, das immer noch feucht von der Dusche war. Die Klimaanlage, die ausgerechnet jetzt funktionierte, wo er sie nicht brauchte, ließ ihn frösteln, aber er war zu faul, um sich vom Bett zu erheben und sie auszuschalten. Er telefonierte mit einer Dame namens Becky Townsend, die im Innenministerium arbeitete. Nach seiner Scheidung war DeMarco ein paarmal mit ihr ausgegangen, doch sie hatte erkannt, das sein Herz nicht dabei war. Aber sie mochte ihn und hoffte, dass er sich irgendwann wieder gefangen hatte. Sie freute sich, wenn sie ihm einen Gefallen erweisen konnte. Er bat sie nachzusehen, ob Dale Estep als Teilnehmer einer Schulung des Innenministeriums registriert war. Außerdem wollte er wissen, ob er tatsächlich daran teilgenommen hatte, insbesondere am Tag, als auf den Präsidenten geschossen wurde. Natürlich sprach er nicht vom »Tag, als auf den Präsidenten geschossen wurde«, sondern nannte ihr nur das Datum. Als Becky fragte, wozu er all diese Informationen brauchte, antwortete DeMarco, dass er den Verdacht hatte, Estep könnte staatliche Gelder für nicht besuchte Kurse zweckentfremdet haben. »Bürokratische Kleinkriminalität, Becky«, sagte er beiläufig. »Es könnte sein, dass dieser Redneck Uncle Sam übers Ohr gehauen hat.« »Mann!«, sagte Becky. »Papergate.« »Mach dich ruhig lustig über mich, aber dein größter Verehrer wird unbeirrt den Kampf gegen die staatliche Korruption fortsetzen.« Bevor er auflegte, versprach er ihr ein Souvenir aus
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dem tiefsten Süden – vielleicht eine Plastikfigur von George Wallace im Rollstuhl. Das fand Becky überhaupt nicht lustig. Er zog sich Shorts, ein T-Shirt und Sandalen an und ging zu Emmas Zimmer hinüber. Da sie darauf achten wollten, nicht zusammen gesehen zu werden, schaute er sich sorgfältig im Gang um, obwohl er sich dabei idiotisch vorkam. Während sich DeMarco auf die Archive konzentrierte, sollte sich Emma um die Immobilien in der näheren Umgebung kümmern. DeMarco hielt es für einen geeigneten Aufhänger, um die Leute über Maxwell Taylor auszufragen, da ihm praktisch sämtliche Grundstücke gehörten. Emma ließ sich Zeit, nachdem DeMarco geklopft hatte. Als sie ihn endlich hereinließ, fiel ihm auf, dass sie mit langsamen und bedächtigen Bewegungen zum einzigen Stuhl zurückkehrte, der sich in ihrem Zimmer befand. In Ermangelung einer anderen Sitzgelegenheit ließ sich DeMarco aufs Bett fallen. Im Fernseher lief ein Baseballspiel. Das war seltsam, da Emma bei mehr als einer Gelegenheit verkündet hatte, ihre Vorstellung der Hölle würde darin bestehen, an einen Stuhl gefesselt ein endloses Spiel ohne Highlights anschauen zu müssen. »Wer gewinnt, Emma?«, fragte DeMarco. Die Atlanta Braves spielten gegen die Dodgers. DeMarco hasste Ted Turner fast genauso heiß und innig wie den Sponsor der Orioles, und er war froh, dass Jane Fonda ihn sitzen gelassen hatte. Er hoffte, dass Los Angeles die Braves in Grund und Boden stampfen würde. »Keine Ahnung«, sagte Emma. Sie sprach genauso, wie sie sich bewegt hatte – langsam, präzise und vorsichtig. Sie tastete nach der Fernbedienung, drückte eine Taste und schaltete damit auf einen anderen Kanal. Sie drückte eine andere Taste, worauf die Lautstärke ohrenbetäubende Ausmaße annahm. Schließlich fand sie die Taste, mit dem sich der Fernseher ausschalten ließ. Sie war betrunken, erkannte DeMarco. Bis zum Stehkragen. Er hatte Emma nie auch nur leicht beschwipst erlebt, aber nun war 237
sie voll wie eine Strandhaubitze und gab sich alle Mühe, sich nichts anmerken zu lassen. »Wie war dein Tag?«, fragte DeMarco. »Interessant«, sagte sie nach einer längeren Pause. »Willst du mir erzählen, was du herausgefunden hast?« Emma zögerte und stieß einen fast lautlosen Rülpser aus. »Entschuldigung. Ich habe nur erfahren, was wir bereits wissen – dass Taylor fast sämtliches Land der Gemeinde besitzt. Ich bin zu drei oder vier Immobilienbüros gefahren, um mich nach Grundstücken zu erkundigen, die zum Verkauf angeboten werden. Aber jeder hat mir das Gleiche gesagt. Wenn ich Land kaufen will, soll ich mit Max Taylor reden. Aber über Taylor selbst wollten sie mir nichts sagen. Wie es scheint, haben die Leute hier eine Heidenangst vor ihm.« »Irgendeine Verbindung zu den anderen?« »Bisher nicht.« »Also war der Tag ein totaler Fehlschlag.« »Nicht ganz.« Sie griff nach einem Wasserglas auf dem Beistelltisch neben ihrem Sessel und stieß es um. »Ups«, sagte sie. Dann erhob sie sich mit einiger Mühe und ging mit steifen Beinen zum Bad, um das Glas wieder aufzufüllen, wobei sie den Türrahmen mit der Schulter rammte. DeMarco hielt es nicht mehr aus. »Emma!«, sagte er lachend. »Du bist ja völlig blau! Wie viel hast du getrunken?« »Eine ganze Menge. Ich bin so besoffen, dass zwei von dir in meinem Zimmer sind, und Gott weiß, dass einer schon schlimm genug ist.« Emma kehrte zu ihrem Stuhl zurück und schaffte es, die Sitzfläche zu treffen. »Ich stand gerade in meinem ScarlettO’Hara-Outfit vor einem Haushaltswarengeschäft und quatschte mit ein paar Dorftrotteln, als diese Tussi, etwa in meinem Alter, aus dem Laden kommt und einen Strafzettel an der Windschutzscheibe ihres Pick-ups findet. Sie rastet völlig aus. Sie schimpft schlimmer als ein Rohrspatz, reißt den Strafzettel vom Schei238
benwischer und wirft ihn weg. Dann brüllt sie jemandem im Laden zu: ›Sag diesem Scheißkerl Max Taylor, ich werde diesen Strafzettel sofort bezahlen, wenn er meinen fetten Arsch knutscht!‹ Dann braust sie davon. Also frage ich die Dorftrottel, wer diese Lady war, und ich erfahre, dass sie Hattie McCormack heißt. Sie soll der Teufel auf Rädern sein. Und ich soll mich ja von ihr fernhalten. Weiter erfahre ich, dass sie zwei Hektar Land am Rand dieses Kaffs besitzt und dort ihren eigenen Tabak züchtet. Ich fahre also zu ihr und erzähle wieder meine Immobiliengeschichte. Hattie findet Gefallen an meinem unwiderstehlichen Charme, lädt mich ein, hereinzukommen und bietet mir wirklich und wahrhaftig selbstgebrannten Whiskey an. Ich sage dir, Joe, das Zeug hat mindestens zweihundert Prozent. Der Kater, der mich morgen heimsuchen wird, könnte mich umbringen. Auf jeden Fall saßen wir lange auf ihrer Veranda, tranken ihren Fusel und quatschten. Die Frau ist eine Wucht, ein amerikanisches Original. Es war einfach toll, sich mit ihr zu unterhalten.« »Scheint so«, sagte DeMarco. »Und was hat Taylor mit ihr zu tun?« »Ach ja, Taylor. Sie sagte, dass Mr. Taylor nicht nur sämtliches Land in der Gemeinde besitzt, ihm gehört außerdem die komplette Verwaltung.« »Die Verwaltung?« »Ja. Der Sheriff, die Richter, die Mitglieder des Gemeinderats – alle. Sie behauptet sogar, dass er einen Teil der Steuern für sich abzweigt. Deshalb war sie so sauer über den Strafzettel. Sie sagte, Taylor hätte die Parkuhren nur deshalb aufgestellt, weil er einen Anteil von den Gebühren und Bußgeldern bekommt.« »Warum hat sie keine Angst vor Taylor wie jeder andere in der Stadt?« »Das habe ich sie auch gefragt, und sie sagte, sie wäre viel zu fies, um Angst vor irgendjemandem zu haben. Aber sie sagte
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auch, wenn Taylor wüsste, dass sie sich mit mir unterhält, würde er den ›Indianer‹ zu ihr schicken.« »Den Indianer?« »Wahrscheinlich irgendein Typ, der für Taylor arbeitet.« DeMarco wusste, dass mehrere amerikanische Ureinwohner in der Gegend lebten, aber ihm war sofort klar, dass der »Indianer« nur der Mann mit dem Pferdeschwanz sein konnte, den er am Vormittag im Restaurant gesehen hatte. »Auf jeden Fall ist dieser Taylor ein harter Brocken«, fuhr Emma fort. »Hattie sagt, er fährt fast den ganzen Tag nur im Bezirk herum. Um alles Mögliche zu checken, wie ein General auf Inspektionstour. Er sagt den Leuten, dass sie aufräumen sollen, wenn es irgendwo unordentlich aussieht, er kontrolliert, welche Filme in den Kinos laufen und welche Bücher in den Läden verkauft werden.« »Bücher?« »Ja. Mr. Taylor hält nichts von Magazinen mit nackten Mädels und anderen Sachen, die für ihn Pornographie sind. Ein Mann mit Charakter. Er achtet sogar darauf, was an den Schulen unterrichtet wird. Wenn er etwas sieht oder hört, das ihm nicht gefällt, sorgt er dafür, dass die liberalen Köpfe rollen.« »Er benimmt sich wie ein Diktator«, sagte DeMarco. »Stimmt, aber Hattie meint, dass es eigentlich gar nicht so schlimm ist. Hier gibt es praktisch keine Verbrechen, weil Taylors Richter den Schlüssel der Zelle wegwerfen, nachdem sie jemanden eingesperrt haben. Und Taylor hat eine Menge Geld für die unterschiedlichsten Sachen gespendet, für Sportplätze, ein Schwimmbad, Sportgeräte und solche Sachen. Er hat sogar einen Fonds für Stipendien eingerichtet, der den Unterprivilegierten helfen soll.« »Also ist er ein wohltätiger Diktator.« DeMarco dachte über das nach, was er von Emma erfahren hatte. Selbst wenn Hattie McCormack die Wahrheit über Taylor gesagt hatte, besaßen die Informationen keine Relevanz für das 240
Attentat, und es deutete nichts auf eine Verbindung zu Patrick Donnelly hin. Im Grunde war es keine Schlagzeile wert, dass der reichste Bürger einer ländlichen Region übermäßigen Einfluss auf den Verwaltungsapparat eines Bezirks ausübte. Politiker hatten sich schon immer von den Reichen kaufen lassen. Dass Taylor möglicherweise einen Teil der Steuern in die eigene Tasche steckte, klang etwas abenteuerlich, aber selbst wenn es stimmte, war es nichts Besonderes. DeMarco bemerkte, dass Emma den Kopf gesenkt hatte und ihr aristokratisches Kinn auf ihrer Brust ruhte. Sie drohte jeden Augenblick umzukippen. DeMarco stand vom Bett auf, nahm ihren Arm und dirigierte sie vom Stuhl zum Bett. »Was machst du da?«, murmelte Emma, aber sie leistete keinen Widerstand. DeMarco ließ sie behutsam aufs Bett sinken, zog ihr die Schuhe aus und legte ihr ein Kissen unter den Kopf. Als er die Tür öffnete, um das Zimmer zu verlassen, sagte Emma: »Eins habe ich noch vergessen. Hattie meinte, im April oder Mai wäre schon mal jemand hier gewesen, um alle möglichen Fragen über Taylor zu stellen.« »Wer war es?« »Sie konnte sich nicht an seinen Namen erinnern, weil sie genauso betrunken war wie ich, aber sie sagte, er wäre ein verdammt attraktiver Charmeur gewesen.« Dann verfiel Emma in lautes Schnarchen.
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33 Jillian Mattis’ Haus lag am Rand von Uptonville, einem Städtchen ein paar Meilen nördlich von Folkston. Es war ein einstöckiger Kasten, der dringend ein neues Dach und frische Farbe benötigte. Auf einer Seite des Hauses befand sich ein kleiner Gemüsegarten, der hauptsächlich mit niedrigem Unkraut bewachsen war, das in voller Blüte stand. Hinter dem Haus stand eine Scheune mit durchhängendem Dach, schiefen Wänden und einer Pferdekoppel, auch wenn DeMarco nirgendwo Nutztiere sehen konnte. Die Frau, die zur Tür kam, nachdem er angeklopft hatte, war groß, gut proportioniert und hübsch. Sie hatte faszinierende blaue Augen, mit denen sie DeMarco durch das Fliegengitter anblinzelte, um den Kontrast zwischen dem hellen Tageslicht und der Dunkelheit im Innern des Hauses auszugleichen. Sie trug ein verblasstes graues Hauskleid, das vor mehreren tausend Waschgängen ein lilafarbenes Blumenmuster geziert hatte. Ihr dichtes rotbraunes Haar war mit grauen Strähnen durchsetzt, und in ihren Augen stand eine lebenslang unerfüllte Sehnsucht. Wenn sie ihr Haar gefärbt und etwas Make-up aufgelegt hätte, wäre sie eine umwerfende Frau gewesen, aber DeMarco spürte, dass es ihr gleichgültig geworden war, wie sie auf andere Menschen wirkte. Ohne die Verandatür zu öffnen, sagte sie: »Kann ich Ihnen helfen?« Ihr Tonfall war teilnahmslos und monoton. »Ich suche nach Jillian Mattis«, sagte DeMarco. »Ich bin Jillian. Was kann ich für Sie tun?« DeMarco war überrascht. Die Frau schien höchstens Mitte vierzig zu sein, und Billy war mit zweiunddreißig Jahren gestorben. Die Frau musste sehr jung gewesen sein, als sie ihn zur Welt gebracht hatte. 242
»Mein Name ist Joe DeMarco, Mrs. Mattis«, sagte er. »Ich arbeite für den Kongress.« DeMarco hatte spontan entschieden, auf seine übliche Tarngeschichte zu verzichten. Sein Instinkt sagte ihm, dass sie nicht sehr positiv reagieren würde, wenn irgendein Lohnschreiber versuchte, Profit aus der Tragödie ihres toten Sohnes zu schlagen. »Kongress?« »Es tut mir sehr Leid, was mit Ihrem Sohn geschehen ist, Madam. Ich möchte Ihnen mein tiefes Mitgefühl aussprechen.« »Danke.« Sie sah ihn an, ohne ihn zu sehen. »Ich weiß, dass Sie in Trauer sind, Mrs. Mattis, aber ich möchte Sie trotzdem bitten, mit mir über Billy zu reden.« DeMarco erkannte, dass die Frau vor Kummer beinahe gelähmt war, dass sie kaum ein Gespräch führen konnte, aber er musste erfahren, warum ihr Sohn sie einen Monat vor dem Attentat so oft angerufen hatte. Außerdem wollte er wissen, wer Billys Vater war. Inzwischen hatte er den Verdacht, dass es Dale Estep sein könnte. Estep war nur ein paar Jahre älter als Jillian, und da er sich verrückter aufführte als eine Ratte in der Jauchegrube, konnte sich DeMarco vorstellen, warum die Stadtbewohner nur ungern über Billys Erzeuger sprachen. Wenn Dale Billys Vater war, wurden auch ein paar andere Punkte klarer, zum Beispiel, warum sich jemand wie Billy in den Mordanschlag auf den Präsidenten hatte verwickeln lassen. Das Problem mit dieser Theorie war nur, dass sie in Verbindung mit DeMarcos anderen Theorien darauf hinauslief, dass Estep die Ermordung seines eigenen Kindes angeordnet hatte. »Warum wollen Sie mit mir über Billy reden?«, fragte Jillian. »Wie Sie vielleicht wissen, Madam, hat Ihr Sohn den Präsidenten geschützt, als jemand vor kurzem versucht hat, einen Mordanschlag auf ihn zu verüben. Im Zusammenhang mit dem Attentat gibt es noch ein paar unbeantwortete Fragen.«
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»Ich dachte … jemand hätte bereits gestanden, auf den Präsidenten geschossen zu haben.« »Ja, Madam. Harold Edwards. Aber es gibt da noch ein paar andere Fragen.« »Zum Beispiel?« »Mrs. Mattis, kennen Sie einen Mann namens Patrick Donnelly?« Dies war eigentlich der Punkt, an dem sie so etwas hätte sagen sollen wie: Na klar, er war Billys Mentor, sein Kumpel, sein Pate oder etwas Ähnliches. Stattdessen sagte sie nichts. Sie blickte an DeMarco vorbei. Er drehte sich um und folgte der Richtung ihres Blicks. Dort hing ein Autoreifen an einem Seil am Ast einer sterbenden Ulme. Wahrscheinlich sah sie einen jungen Billy Mattis, der mit fliegender blonder Mähne und lautem Lachen versuchte, sich bis zum Mond hochzuschaukeln. »Mrs. Mattis«, wiederholte DeMarco, »kennen Sie jemanden namens Patrick Donnelly?« »Es tut mir Leid«, entschuldigte sich Jillian für ihre geistige Abwesenheit. »Nein, ich kenne ihn nicht. Wer ist er?« »Er ist der Leiter des Secret Service, Billys Chef.« »Oh«, sagte Jillian Mattis. »Und in welcher Beziehung steht Maxwell Taylor zu Ihrem Sohn, Mrs. Mattis?« Plötzlich schenkte Jillian ihm ihre ungeteilte Aufmerksamkeit, als hätte sie für einen Moment Billys Tod vergessen. »Max?«, sagte sie. »Ja, Madam.« »Sie sollten jetzt gehen.« Die Frau schien Todesangst zu empfinden. »Es ist sehr wichtig, Mrs. Mattis«, sagte DeMarco. »Darf ich reinkommen, damit wir uns in Ruhe unterhalten können?« Jillian schüttelte den Kopf. »Und was ist mit Dale Estep? Ist er …?«
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»Sie müssen jetzt gehen«, sagte Jillian Mattis. Sie hatte die Worte gezischt, beinahe geflüstert, als würde sie befürchten, jemand anderer könnte sie hören. »Mein Sohn ist tot, und er kommt nie mehr zurück, und ich hatte in meinem Leben schon genug Schmerz.« Sie schlug DeMarco die Tür vor der Nase zu. Verfluchter Mahoney, dachte DeMarco, als er zu seinem Motel zurückfuhr. Er schämte sich dafür, dass er Jillian Mattis belästigt hatte. Eigentlich sollten die verdammten FBI-Leute mit ihren Dienstmarken, Durchsuchungsbefehlen und Experten hier herumschnüffeln und den Bewohnern der Stadt auf den Geist gehen! Er schmollte still vor sich hin, während er weiterfuhr. Er wusste genau, dass er nur seine Zeit verschwendete. Im Mikrofiche-Archiv einer Lokalzeitung würde er keine Verbindung zwischen Donnelly, Taylor und Billy Mattis finden. Und wie sollte Billys Mutter ihm handfeste Beweise verschaffen, dass Estep und Taylor versucht hatten, den Präsidenten zu ermorden? DeMarco wusste, was er als Nächstes tun sollte – aber er wollte es nicht tun. Wäre dies ein normaler Auftrag gewesen, bei dem es um irgendeinen Politiker im Kapitol ging, hätte er jetzt kräftig den Topf umgerührt, um zu sehen, ob irgendetwas Faules an die Oberfläche gespült wurde. Er würde alle Beteiligten ausfragen und dafür sorgen, dass jeder wusste, dass auch alle anderen ausgefragt wurden. Er würde andeuten, dass irgendjemand sich an die Behörden gewandt und die anderen verraten hatte. Er würde die Übeltäter unter Druck setzen, Beweise erfinden, die gar nicht existierten, und behaupten, dass es in Kürze zu den ersten Verhaftungen kommen würde. Mit anderen Worten, er würde alles tun, um eine überstürzte Reaktion zu provozieren. Wenn es bei diesem Fall um eine undichte Stelle im Mitarbeiterstab eines Politikers oder die üblen Tricks eines eigenwilligen 245
Bürokraten gegangen wäre, hätte er genau das getan. Er wusste auch schon ganz genau, wie seine Gegner darauf reagieren würden. Sie würden versuchen, ihn einzuschüchtern, indem sie sich aufbliesen und von ihrer mächtigen, schrecklichen Schlagkraft erzählten. Vielleicht versuchten sie sogar, ihn zu bestechen, und auf jeden Fall würden sie damit drohen, dass er seinen Job verlor. Ihre schlimmste, ihre allerschlimmste Drohung wäre, dass sie ihre Anwälte anriefen und DeMarco verklagten, bis er keinen Cent mehr in der Tasche hätte. Aber Estep und Taylor – sofern sie wirklich etwas mit der Sache zu tun hatten, diesen Zusatz durfte er nie vergessen – würden ihn nicht bestechen oder einschüchtern oder auf Schadensersatz verklagen. Sie würden ihn töten. Jetzt war sich DeMarco ganz sicher, was er als Nächstes tun sollte – obwohl er es immer noch nicht tun wollte. Er rief Emmas Zimmer im Motel an, aber niemand ging ran. Am Morgen hatte seine mächtig verkaterte Freundin gesagt, sie würde noch einmal zu Hattie McCormacks Tabakfarm und Brennerei hinausfahren. Sie wollte Hattie ein paar weitere Fragen stellen, diesmal allerdings in nüchternem Zustand. DeMarco wunderte sich, dass sie noch nicht wieder da war. Er blickte aus dem Fenster seines Motelzimmers auf den kleinen Swimmingpool. Er wollte erst mit Taylor reden, nachdem er mit Emma gesprochen hatte. Anders ausgedrückt: Emma war für ihn ein Vorwand, um die Begegnung mit Taylor hinauszuschieben. Da ihm nichts Besseres einfiel, womit er die Zeit totschlagen konnte, beschloss er, zum Pool zu gehen, ein paar Bier zu trinken und sich wie ein Tourist zu benehmen. Verdammt, er war ein Tourist! Als er mit einem Bier in einer Hand und einem Handtuch in der anderen am Pool eintraf, sah er zwei kleine Jungen, die das Wasser verpesteten. Sie waren neun oder zehn Jahre alt und trugen schlecht sitzende Badeanzüge, die mit Zeichentrickfiguren verziert waren. Sie rannten um das Becken herum und 246
beschossen sich gegenseitig mit überdimensionierten Wasserpistolen, wobei sie mit maximaler Lautstärke schrien. DeMarco war nicht unbedingt ein Kinderhasser, er wusste nur nicht, wie er sich in ihrer Nähe verhalten sollte. Dass sie wie kleine Menschen aussahen, bedeutete nicht, dass sie tatsächlich Menschen waren. Aus einer Raupe mochte eines Tages ein Schmetterling werden, trotzdem war sie kein Schmetterling. DeMarco trat ein Stück vom Pool zurück und musterte die Jungen. Stirnrunzelnd versuchte er einzuschätzen, wie weit das Wasser spritzte, wenn ein sechzig Pfund schweres, zu einer Kanonenkugel zusammengerolltes Kind ins Becken sprang. Als er sich eine ungefähre Vorstellung gemacht hatte, stellte er den Liegestuhl des Motels in der doppelten Entfernung zum Pool auf. Dann versuchte er, sich zu entspannen. Doch nun kreischte ein Kind los, weil das andere versuchte, es zu ertränken. DeMarco beobachtete besorgt das Geschehen, bis ihm – mit einiger Enttäuschung – klar wurde, dass keiner der Jungen über die nötige Kraft verfügte, den schlüpfrigen Kopf des anderen lange genug unter Wasser zu halten. DeMarco zog sein T-Shirt aus, öffnete sein Bier und lehnte sich auf dem Liegestuhl zurück. Er nahm einen Schluck und schloss die Augen. Er war fest entschlossen, zu relaxen und sich keine Gedanken über die Sinnlosigkeit seines derzeitigen Auftrags zu machen. Schon nach etwa einer Minute hatte er ein seltsames Gefühl. Er spürte, dass jemand ihn anstarrte, und gleichzeitig wurde ihm bewusst, dass das Geschrei der zwei Jungen verstummt war. Als er ein Auge öffnete, sah er die Jungen direkt vor seinem Liegestuhl stehen. Sie hielten immer noch die bedrohlichen Wasserpistolen in den Händen, auch wenn sie die Waffen gesenkt hatten. Beide hatten Kurzhaarschnitte, kleine blaue Schweineaugen und Sommersprossen rund um die triefenden Knopfnasen. Brüder. Irgendwo in der Nähe gab es eine Frau, die zweifach gestraft war. 247
»Mister«, sagte einer der beiden, »haben Sie schon mal einen Alligator gesehen?« »Ja«, sagte DeMarco. Hau ab, du kleiner Pisser. »Im Zoo.« »Wir haben einen im Sumpf gesehen! Einen ganz großen! Sein Maul war offen, und er hatte ganz viele Zähne.« Der Junge riss den Mund auf und zeigte DeMarco seine Zähne. Sein Bruder nickte mit ernster Miene, um seine Worte zu bestätigen. »Tatsächlich?«, sagte DeMarco. »Ja«, erklärte der Junge todernst. »Mister, glauben Sie, dass die Alligatoren aus dem Sumpf bis hierher zum Motel kommen und in den Swimmingpool kriechen können?« DeMarco stand vor einem schweren moralischen Dilemma. Sollte er den Jungen erzählen, dass so etwas selbstverständlich durchaus möglich war? Dass ein drei Meter langer Alligator wie ein Chamäleon getarnt am Grund des Beckens lauern konnte? Mit dieser Geschichte würde er sie vielleicht vertreiben, andererseits mochte er damit Bettnässeralpträume von gewaltigen Reptilien auslösen, die durch den Türschlitz in ihr Motelzimmer krochen. DeMarco fragte sich, was sie wirklich von ihm hören wollten – den Nervenkitzel einer drohenden Gefahr, ein Phantasiemonster, das sie mit ihren Wasserpistolen jagen konnten, oder die Versicherung eines freundlichen Erwachsenen, dass sie in Sicherheit waren? DeMarco öffnete den Mund, um eine Antwort zu geben, doch bevor er etwas sagen konnte, hörte er eine Frauenstimme. »Bobby, Randy, ärgert ihr etwa diesen netten Mann?« »Nein, Mom«, riefen die beiden Jungen im Chor. Verdammte Lügner! DeMarco drehte sich um und sah eine Frau, die in einem absolut hinreißenden, winzigen lindgrünen Bikini auf ihn zukam. Sie hatte hellbraunes Haar, das die Sonne mit blonden Strähnen durchsetzt hatte, Augen, die so klar und so blau wie das Wasser des Swimmingpools waren, und eine Stupsnase, die
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genauso wie bei den Jungen mit Sommersprossen besprenkelt war. Sie war ein Leckerbissen. »Haben die kleinen Monster Sie belästigt?«, fragte sie DeMarco und strich über den nassen Kopf eines Jungen. Ihr Lächeln war entzückend. »Überhaupt nicht«, sagte DeMarco und lächelte zurück. Diese Frau anzulügen schien eine ansteckende Angewohnheit zu sein. »Sie haben mich nur nach Alligatoren ausgefragt.« »Das hätte ich mir denken können«, sagte sie mit gespielter Verzweiflung. »Seit wir gestern diese Bootsfahrt durch den Sumpf gemacht haben, nerven Sie mich mit Alligatoren und Schlangen.« Sie nahm die Kinder an die Hand. »Kommt jetzt, ihr kleinen Teufel. Ihr wart lange genug in der Sonne. Jetzt gehen wir rein und machen euch sauber.« Wieder lächelte sie DeMarco zu. Dabei legte sich ihre Nase auf hinreißende Art in Fältchen. »Jetzt können Sie sich in Ruhe am Pool entspannen. Bis dann.« Während sie sich entfernte, genoss DeMarco den Anblick ihres geschmeidigen Körpers, der sich anmutig im winzigen Badeanzug bewegte, und ihres Haars, das im Rhythmus ihrer Schritte über den Rücken schwang. Der einzige Makel an dieser bezaubernden Szene waren die zwei bewaffneten Zwerge, die an ihren Händen hingen. DeMarco musste eingenickt sein, denn als Nächstes bemerkte er, wie jemand gegen seinen Liegestuhl stieß. Er blinzelte in der Helligkeit und sah einen Mann in dunkelblauer Uniform mit einem Smokey-the-Bear-Hut und verspiegelter Sonnenbrille. Der Stern auf seiner Brust blitzte im Licht. Aus DeMarcos Perspektive wirkte er riesig mit dem Bierbauch und den dicken, sommersprossigen Unterarmen. »Sind Sie DeMarco?«, fragte der Mann. DeMarco setzte sich auf und versuchte, die Benommenheit des Schlafes abzuschütteln. 249
»Ja«, sagte er. »Was kann ich für Sie tun?« »Mr. Taylor möchte sich mit Ihnen unterhalten.« Aha. Schon tat sich etwas, obwohl er sich gar keine besondere Mühe gegeben hatte, den Topf umzurühren. Er stand auf, weil es ihm nicht gefiel, wenn der Polizist ihn überragte. Dabei bemerkte er, dass der Mann gar nicht so groß war, wie er ursprünglich gedacht hatte. Trotzdem würde er gerne darauf verzichten, sich mit ihm beim Armdrücken zu messen. DeMarco musterte blinzelnd den Stern, der ihn als Angehörigen der Polizei von Charlton County auswies. ’ »Weil Mr. Taylor mich sehen möchte, hat er Sie hergeschickt, um mich zu verhaften, Sheriff?« »Deputy«, sagte der Mann. »Deputy Pat Haskell.« »Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Deputy. Aber warum hat Mr. Taylor Sie geschickt?« Der Hilfssheriff kniff verärgert die Lippen zusammen. Er war es gewohnt, respektvoller behandelt zu werden. »Der Sheriff möchte Mr. Taylor lediglich einen Gefallen tun. Mr. Taylor sagte, er möchte sich mit Ihnen unterhalten, also hat mein Chef mich losgeschickt, um Sie ausfindig zu machen.« Großartig. Taylor besaß genug Einfluss, um die Polizei für Botendienste einzuspannen. »Und was wäre, wenn ich nicht mit Mr. Taylor reden möchte, Deputy?« »Sie sind ganz schön widerspenstig, Partner. Ich bin nur der Überbringer einer Botschaft. Wenn Sie mir folgen möchten, bringe ich Sie zu Mr. Taylor. Wenn Sie es nicht tun möchten, können Sie zusehen, wo Sie bleiben.« DeMarco starrte in die Sonnenbrille des Hilfssheriffs. »Geben Sie mir ein paar Minuten, um mich anzuziehen. Wir treffen uns auf dem Parkplatz.«
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34 DeMarco folgte dem Wagen des Deputys über die lange, mit Kies bestreute Auffahrt und parkte im Schatten einer Trauerweide neben zwei Pick-ups neueren Baujahrs. Wenn er bedachte, was er über Taylors Einkommen und seinen Einfluss in der Region wusste, war sein Haus eine Überraschung. DeMarco hatte einen Herrensitz erwartet, aber Taylor wohnte in einem einfachen, zweistöckigen weißen Haus mit grünen Fensterläden. Es war groß, hübsch und von guter Qualität, aber nicht größer oder beeindruckender als viele andere Häuser, die DeMarco in der Umgebung gesehen hatte. Eine Hollywoodschaukel schwankte quietschend auf der Veranda, und das Fliegengitter vor der Eingangstür schlug leise im Takt zu einer leichten, sehr angenehmen Brise gegen den Rahmen. Der Deputy klopfte vorsichtig an, und kurz darauf erschien eine große Schwarze mit einer weißen Schürze über einem schwarzen Hauskleid. »Wie geht’s Ihnen, Deputy Pat?«, sagte sie. »Wollen Sie zu Mr. Taylor?« »Nein, Tilly, aber dieser Mann hier. Mr. Taylor hat mich gebeten, ihn vorbeizubringen.« Tilly nickte DeMarco zu. »Wenn Sie einen Augenblick hier warten, Mister, gehe ich zu Mr. Taylor und sage ihm, dass Sie da sind. Wie ist Ihr Name?« »Joe DeMarco.« »Ich bin gleich wieder da, Mr. DeMarco.« Nachdem die Haushälterin verschwunden war, tippte sich der Hilfssheriff gegen den Hut. »Wir sehen uns, Partner«, sagte er. Es klang wie eine Drohung. DeMarco trat von einem Bein auf das andere, bis die Haushälterin zurückkehrte. Er war sich nicht sicher, wie er sich Taylor 251
gegenüber verhalten sollte, ob er einen Frontalangriff starten oder lieber wie die Katze um den heißen Brei herumschleichen sollte. Bevor er zu einer Entscheidung gelangen konnte, war die Haushälterin wieder da. »Gehen Sie den Flur hier runter, und nehmen Sie dann die erste Tür rechts«, sagte sie. »Mr. Taylor erwartet Sie in seinem Büro.« Als er den Raum betrat, sah DeMarco eine junge Frau und einen älteren Mann, der vermutlich Taylor war. Sie standen zusammen neben einem großen handbemalten Globus. Er hatte einen Durchmesser von gut einem Meter und ruhte in einem Ständer aus Mahagoni. Mit einer Hand zeigte der Mann auf eine Stelle auf dem Globus und sagte: »Siehst du, Honey, von dort sind sie alle gekommen.« Seine andere Hand lag locker auf der Hüfte der Frau. Üppig. Das war das erste Wort, das DeMarco in den Sinn kam. Sie war die üppigste Frau, die er jemals gesehen hatte. Sie war barfuß und trug ein leichtes Baumwollkleid, das mehr enthüllte, als es verdeckte. Der Stoff überspannte kaum ihre vollen Brüste und weiten Hüften, und man konnte die dunklen Umrisse großer Brustwarzen und die Form kräftiger Schenkel durch das dünne Material hindurchschimmern sehen. Die oberen drei Knöpfe des Kleides waren geöffnet und legten einen Busen frei, der weder zur Betonung noch zum Stützen einen BH benötigt hätte. Ihre Arme und Beine waren in einem perfekten Goldton gebräunt, und zerzaustes blondes Haar hing ihr bis zu den Schulterblättern herab. Ihr Gesicht hatte makellose Züge und wies nicht die geringste Spur von Intelligenz auf. Sie war ein Superweib, eine Gebärmaschine auf zwei Beinen – und sie war kaum älter als fünfzehn Jahre. DeMarco schaffte es endlich, den Blick vom Mädchen loszureißen, und stellte beschämt fest, dass Taylor ihn musterte. Es gab keinen Zweifel, dass er sich über DeMarcos Reaktion auf das Mädchen amüsierte. 252
Taylor war etwa Mitte sechzig, recht groß, vielleicht um die eins neunzig, und hatte einen schlaksigen, muskulösen Körper. Er trug neue Arbeitsstiefel, Jeans und ein kariertes Hemd, dessen Ärmel hochgekrempelt waren. Er hatte ein hageres Gesicht mit tiefen Falten zwischen Nase und Mundwinkeln. Sein volles Haar war weiß, und unter buschigen weißen Augenbrauen blickten tief liegende Augen hervor, die mit der Intensität eines Landpredigers leuchteten. Es fehlte nur noch ein weißer Rauschebart, dann hätte man meinen können, er wäre Gott, der soeben Adam aus dem Garten Eden vertrieben hatte, während er Eva für sich selbst dabehielt. Taylor ließ die Kindfrau an der Weltkugel stehen und ging zu einem großen Schreibtisch hinüber, der aus dem gleichen Holz wie der Globusständer bestand. Das Mädchen warf DeMarco einen kurzen Blick zu, um ihn daraufhin zu ignorieren. Es versetzte den Globus in schnelle Rotation, als wäre er ein großer Spielzeugkreisel. Während sich die ganze Welt unter den schlanken Fingern drehte, schien das Mädchen fasziniert die sich verwischenden Farben zu beobachten. »Setzen Sie sich«, sagte Taylor und zeigte auf einen Stuhl vor dem Schreibtisch. Es war keine höfliche Einladung, sondern ein Befehl. Zum Mädchen sagte er: »Honey, sei so lieb, und hol Morgan.« Doch das Mädchen tat, als hätte es ihn nicht gehört, und drehte weiter den Globus. »Honey, ich rede mit dir«, sagte Taylor. »Ich mag Morgan nicht, Onkel Max«, sagte das Mädchen, ohne ihn anzusehen. Onkel Max? War sie seine Nichte? Taylor lächelte still – entweder amüsierte er sich über ihr kindliches Schmollen oder über ihre Einstellung zu Morgan. »Morgan wird dich nicht belästigen, Honey. Jetzt geh schon.« Er sprach mit sanfter Stimme, aber langsam sickerte seine Ungeduld durch. Taylor war es gewohnt, dass seine Anweisungen unverzüglich ausgeführt wurden. 253
Das Mädchen warf einen letzten Blick auf den rotierenden Globus und löste sich widerstrebend von diesem Spielzeug. Taylors Augen folgten ihr und genossen die Bewegung ihrer vollen Hüften und das Spiel der Muskeln in ihren nackten Waden, als sie langsam den Raum verließ. Seine Geilheit war offenkundig und in Anbetracht ihres jugendlichen Alters ekelerregend. Doch seine erotischen Phantasien waren schlagartig verschwunden, als er wieder zu DeMarco sah. »Bob Storch von der Zeitung erzählte mir, dass Sie sich nach mir erkundigt haben. Also wollte ich gerne von Ihnen hören, worum es geht.« DeMarco hatte den Herausgeber der Zeitung nur gefragt, ob er Taylor kannte, was der Mann verneint hatte, aber diese eine Frage war offenbar Grund genug gewesen, Taylor sofort zu alarmieren. Er verfügte über ein Frühwarnsystem, auf das die Entwickler von NORAD neidisch sein konnten. »Ich bin Schriftsteller, Mr. Taylor, und arbeite hauptsächlich für Magazine. Ich habe über Billy Mattis gelesen, wie er gelebt hat und wie er gestorben ist, und dachte mir, dass er ein gutes Thema für einen Artikel wäre. Ich bin hier, um über ihn zu recherchieren.« »Können Sie sich ausweisen?«, fragte Taylor. Scheiße. DeMarco nahm seinen Führerschein aus der Brieftasche und reichte ihn Taylor. Dieser musterte ihn eine Weile, dann notierte er sich die Daten auf einem Zettel. »Und weiter?« »Das war schon alles. Ich bin hier, um für eine Story zu recherchieren.« Taylor hielt immer noch DeMarcos Führerschein in der Hand. Er starrte seinen Besucher an, während er mit der laminierten Karte auf die Oberfläche des Schreibtischs klopfte. »Und warum haben Sie nach mir gefragt?« »Kannten Sie Billy Mattis, Mr. Taylor?«
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Verärgerung flammte in Taylors Augen auf, und er öffnete den Mund zu einer wütenden Erwiderung. DeMarco nahm sich die Unverschämtheit heraus, Fragen zu stellen, statt welche zu beantworten. Doch dann hatte sich Taylor wieder in der Gewalt, wenn auch mit sichtlicher Mühe. Seine Lippen verzogen sich zuckend zu einem unaufrichtigen Lächeln. »Natürlich habe ich ihn gekannt. Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht und kenne fast jeden in diesem Bezirk. Wenn ich mich richtig erinnere, war Billy der beste Short Stop des Highschool-Teams. Wahrscheinlich hätte er ein Stipendium für das College bekommen können, aber er hat sich entschieden, zur Armee zu gehen. Jetzt beantworten Sie meine Frage. Warum erkundigen Sie sich nach mir?« DeMarco zuckte mit den Schultern. »Irgendwie bin ich auf Ihren Namen gestoßen. Jemand sagte, dass Sie und Billy verwandt sein sollen.« »Wer hat das erzählt?«, sagte Taylor mit blitzenden Augen. »Ich weiß es nicht mehr, Mr. Taylor. Vielleicht war es Billys Frau.« »Sie haben mit Billys Frau gesprochen?« »Natürlich«, sagte DeMarco. »Stimmt es also, dass Sie mit Billy verwandt sind?« »Nein, es stimmt nicht, und es gefällt mir überhaupt nicht, dass Sie hinter meinem Rücken Fragen über mich stellen, Mister.« »Mr. Taylor, ich weiß nicht, worüber Sie sich so aufregen. Ich versuche nur, einen Artikel über einen Helden aus dieser Gegend zu schreiben. Ich hätte gedacht …« »Es ist mir scheißegal, was Sie denken. Mit euch Journalisten habe ich immer wieder die Erfahrung gemacht, dass ihr nie etwas Gutes über andere Leute sagt. Aber wir kommen vom Thema ab. Ich mag keine Fremden, die Fragen über mich stellen. So etwas lasse ich mir nicht bieten …«
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Taylor verstummte und schaute auf etwas hinter DeMarco. Gleichzeitig hörte DeMarco, wie im Zimmer ein Stiefel über den Hartholzfußboden schlurfte. Er drehte sich um und sah den Mann aus dem Restaurant, den mit dem Pferdeschwanz und der gezackten Narbe im Gesicht. Er trug abgenutzte Cowboystiefel, schwarze Jeans und ein graues ärmelloses T-Shirt, das die harten Muskeln eines Gewichthebers zur Schau stellte. Er sah DeMarco genauso wie im Restaurant an – mit ausdrucklosem Gesicht, mit emotionslosen, aber bedrohlichen Augen. DeMarco schätzte die Situation ein. Er war verhältnismäßig fit, und der Mann, der hinter ihm stand, war nur etwas größer als er und höchstens zwanzig Pfund schwerer. Trotzdem hatte DeMarco dasselbe Gefühl wie vor einiger Zeit, als er dem mittleren Linebacker der Washington Redskins die Hand geschüttelt hatte. Auch dieser Spieler war kaum größer oder schwerer als DeMarco gewesen, aber DeMarco hatte sofort gespürt, dass er zu einer stärkeren und gewalttätigeren Spezies gehörte, die über die Erde herrschen würde, wenn es irgendwann nur noch um den unbewaffneten Kampf gehen sollte. DeMarco wandte sich wieder Taylor zu. Taylor konnte erkennen, dass es DeMarco nicht gefiel, Morgan im Rücken zu haben, und seine Lippen verzogen sich zu einem dünnen Lächeln, in dem die ganze Wärme einer Winternacht lag. »Dieser Mann aus Washington, mein lieber Morgan«, sagte er und sah DeMarco an, obwohl er mit Morgan sprach, »behauptet, ein Schriftsteller zu sein. Er glaubt, das gibt ihm das Recht, herumzuschnüffeln und hinter meinem Rücken Fragen zu …« »Mr. Taylor, ich habe nicht …« »Seien Sie still!«, sagte Taylor. »Unterbrechen Sie mich niemals, wenn ich rede!« Taylors Arroganz war wie eine körperlich spürbare Aura. Es war genau die Art von Arroganz, die DeMarco nur allzu oft an mächtigen Politikern erlebt hatte. Diese Männer waren es gewohnt, dass sie mit allem versorgt wurden und dass man ihre 256
Befehle ohne Rückfrage befolgte. Sie waren so sehr von ihrer Autorität überzeugt, dass sie fest daran glaubten, unantastbar zu sein. »Sie sollten sich etwas klar machen, Mister«, sagte Taylor. »Sie sind hier nicht im gottverdammten Washington, und ich werde nicht dulden, dass Sie weiter in dieser Stadt herumschnüffeln.« DeMarco vermutete, ein echter Schriftsteller hätte sich jetzt auf das Grundrecht der Pressefreiheit berufen und erklärt, dass er tun und lassen konnte, was er wollte. »Sie werden es nicht dulden?«, sagte DeMarco. »Völlig richtig. Ich glaube sogar, dass es besser wäre, wenn Sie spätestens morgen diese Stadt verlassen haben. Das wäre im Augenblick die klügste Lösung.« »Wollen Sie mir drohen, Mr. Taylor?« Hatte schon mal jemand eine dümmere Frage gestellt? Taylor sah ihn lächelnd an. Seine Zähne waren wie kleine Grabsteine. »Würden Sie mir bitte meinen Führerschein wiedergeben?« Taylor warf ihm die Plastikkarte zu. DeMarco stand auf und wandte sich zum Gehen, doch Morgan versperrte ihm den Weg. Er rührte sich kein Stück, als DeMarco »Entschuldigung« sagte. Er stand nur da und blickte leidenschaftslos in DeMarcos Augen, genauso wie er ihn im Restaurant angestarrt hatte. DeMarco durfte anscheinend erst dann gehen, wenn Taylor ihn entlassen hatte. DeMarco ließ sich nicht leicht einschüchtern, aber dieser Morgan … er bewirkte, dass sich seine Nackenhaare aufstellten. DeMarco hatte das Gefühl, dass sich innerhalb dieser menschlichen Hülle nichts befand. DeMarco schaute sich noch einmal zu Taylor um. Taylors dunkle Augen schimmerten zufrieden. Er hatte seinen Standpunkt unterstrichen. Wenn sich DeMarco auf seinem Land herumtrieb, musste er sich an seine Regeln halten. Die Polizei 257
war nicht mehr als ein Fahrdienst, den er benutzen konnte, um Leute zu sich zu holen. Hier war es in der Tat anders als im gottverdammten Washington. »Ich möchte, dass Sie morgen aus Charlton County verschwunden sind«, sagte Taylor. »Haben Sie mich verstanden?« DeMarco nickte. »Lassen Sie ihn vorbei, Morgan«, sagte Taylor. Morgan bewegte sich weit genug zur Seite, dass sich DeMarco an ihm vorbeizwängen konnte. Die Bewegung war wie die eines Boxers, der seinen Gegner umkreiste und ein Stück nach rechts auswich, die Hände zum Zuschlagen bereit, die Augen unbeirrt auf DeMarco gerichtet. DeMarco ließ mit dem gemieteten Mustang Taylors Auffahrt hinter sich und hielt dann am Straßenrand an. Der Himmel machte einen bedrohlichen Eindruck, sodass er lieber das Verdeck schließen wollte, falls es zu regnen begann. Er verriegelte das Dach und war gerade dabei, den Wagen wieder anzulassen, als er zu Taylors Haus zurückblickte und das Mädchen sah. In diesem Moment trat Honey durch die Vordertür und setzte sich auf die Hollywoodschaukel. Sie legte die Beine auf das Geländer der Veranda, sodass ihre wohlgeformten, sonnengebräunten Schenkel unter dem kurzen Kleid bis zum Ansatz zu sehen waren. DeMarco starrte sie eine Weile an, dann schüttelte er von sich selbst angewidert den Kopf. Sie war ein Kind. Irgendwo musste es eine Grenze geben. Er drehte den Schlüssel im Zündschloss, als er sah, wie Morgan hinter dem Haus hervorkam. Auch er sah das Mädchen auf der Veranda sitzen. Morgan näherte sich langsam und trat vorsichtig auf, um kein Geräusch zu verursachen. Er erinnerte DeMarco an einen Panther, der sich an seine Beute anschlich. Dann blieb Morgan höchstens einen Meter von ihr entfernt in der Deckung eines Rhododendronbuschs stehen, gefror zur Statue und starrte das 258
Mädchen an. In dieser Stellung verharrten sie ein paar Minuten lang – DeMarco, der Luchs, beobachtete Morgan, wie dieser das Mädchen beobachtete. Schließlich spürte Honey, dass Morgan in der Nähe war. Sie sprang von der Schaukel auf, richtete anklagend einen Zeigefinger auf Morgan und flüchtete ins Haus. Morgan rührte sich nicht, nachdem sie verschwunden war, sondern blieb weiterhin reglos stehen. Im Schatten und hinter dem Laub rund um die Veranda war er nahezu unsichtbar. Er stand immer noch da, als DeMarco davonfuhr.
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35 Emma war nicht in ihrem Zimmer, sie ging nicht ran, wenn man sie über Handy anrief, und sie hatte keine Nachricht für DeMarco hinterlassen. Sie hätte schon vor Stunden von ihrem Besuch bei Hattie McCormack zurückkehren müssen. Wo steckte sie? Da Emma nicht für eine Diskussion der weiteren Vorgehensweise zur Verfügung stand, rief er Becky an, seine Freundin im Innenministerium. Sie hatte ihre Hausaufgaben gemacht und konnte DeMarcos Verdacht bestätigen. Estep hatte sich für mehrere Kurse angemeldet, die vom Innenministerium veranstaltet wurden, und seine Teilnahme war eher sporadisch gewesen. Da es sich jedoch um freiwillige Erwachsenenbildung handelte, hatte niemand Anwesenheitslisten geführt oder die Tage notiert, an denen er nicht zur Schulung erschienen war. Was den Tag betraf, der DeMarco am meisten interessierte, hatte Becky nicht in Erfahrung bringen können, ob Estep durch An- oder Abwesenheit geglänzt hatte. Also auch in diesem Fall keine eindeutigen Fakten, sondern nur ein weiterer vager Indizienbeweis, dass Estep der Attentäter gewesen sein könnte. Nachdem Becky ihm alles mitgeteilt hatte, was sie über Estep herausgefunden hatte, berichtete sie von ihrem hektischen Tag, den sie mit dem Kampf gegen politische Schurken auf dem Capitol Hill verbracht hatte. DeMarco beneidete sie um ihren Optimismus. Er fragte sich mit einem Anflug von Selbstmitleid, was aus seinem eigenen Optimismus geworden war. Er wollte das Gespräch nicht abwürgen, aber kurz darauf behauptete Becky, einen mächtigen Broker auf der zweiten Leitung zu haben, und legte auf. Gegen sechs Uhr abends hatte sich DeMarcos Verstimmung über Emmas Abwesenheit in Besorgnis verwandelt. Er rief die Auskunft an und bat um die Telefonnummer und Adresse von 260
Hattie McCormack. Aber unter diesem Namen war niemand verzeichnet. Danach erkundigte er sich beim städtischen Krankenhaus, ob jemand eingeliefert worden war, auf den Emmas Beschreibung passte, aber auch diese Möglichkeit erwies sich zum Glück als Fehlanzeige. Da er nicht wusste, was er als Nächstes tun sollte, beschloss er, etwas zu essen. Er verließ das Motel und fuhr eine Weile herum, bis er ein fast leeres Restaurant fand. Er wollte in Ruhe nachdenken, ohne allzu viele Menschen in seiner Nähe zu haben. In der Gaststätte setzte er sich in der Lounge an die Theke. Bevor sein Hintern die Sitzfläche des Barhockers berührt hatte, war bereits der Barkeeper zur Stelle. »Was darf’s sein, Partner?«, fragte der Mann. Er war ein dürrer alter Kerl, der wie der Affe eines Leierkastenmannes hinter der Theke herumsprang und dienstbeflissen die kariösen Zähne bleckte. Er trug ein schniekes weißes Hemd mit schwarzer Westernkrawatte und Bluejeans – die besonders elegante Georgia-Abendgarderobe, befand DeMarco in seiner miesen Laune. »Ein Bier vom Fass und einen Cheeseburger, bitte.« »Alles klar.« Während er auf sein Essen wartete, rief er mit seinem Handy im Hotel an. Emma war immer noch nicht da. Er überlegte kurz, dann wählte er die Nummer eines Bekannten, von dem er wusste, dass er für das Finanzamt arbeitete. Der Mann war ihm noch einen Gefallen schuldig. DeMarco musste ihn bequatschen, beknien und schließlich mit einem Kasten Bier bestechen, bevor er einverstanden war, noch einmal in sein Büro zu fahren und in der Steuerdatenbank die Adresse von Hattie McCormack nachzuschlagen. DeMarco war sich nicht sicher, ob eine Frau, die ihren eigenen Schnaps brannte, Steuern zahlte, aber ihm war keine andere Möglichkeit eingefallen, wie er an ihre Adresse gelangen konnte.
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Der Barkeeper brachte das bestellte Bier. DeMarco nahm einen Schluck und dachte an sein Treffen mit Taylor zurück. Taylor hätte freundlich und nett zu ihm sein können, er hätte seine Fragen mit geschickten Lügen beantworten können. Ob er mit Billy verwandt war? Nein, er war nur ein alter Freund der Familie. Es gab keinen Grund, warum Taylor versuchen sollte, ihn zur Schnecke zu machen. Das konnte nur bedeuten, dass Taylor nicht einmal dann Bescheidenheit heucheln konnte, wenn es in seinem eigenen Interesse war. Der Barkeeper fragte DeMarco, ob er ein zweites Bier wollte. DeMarco war klar, dass ihm niemand etwas über Taylor erzählen würde, aber vielleicht konnte er etwas mehr über Morgan oder Estep herausfinden. »Klar«, sagte DeMarco. »Und gieß dir auch was ein, Kumpel. Du weißt doch, wie das ist. Wenn man anfängt, allein zu trinken, landet man bald in einer dieser Gruppen, die nur Kaffee trinken.« Obwohl sich sonst niemand in der Bar aufhielt, vergewisserte sich der Mann, dass er von niemandem beobachtet wurde, wie er sich während der Arbeit einen Schluck genehmigte. »Vielleicht hast du Recht. Ein winziges Gläschen fördert bestimmt die Geselligkeit.« Er goss sich drei Fingerbreit Jack Daniels ein. »Ich habe heute einen merkwürdigen Typen gesehen«, sagte DeMarco. »Könnte ein Indianer gewesen sein. Hatte einen Pferdeschwanz und eine auffällige Narbe.« DeMarco zeichnete mit dem Finger eine Zickzacklinie vom linken Auge zum Mundwinkel. »Hast du eine Ahnung, wer das sein könnte?« »Warum willst du das wissen?«, fragte der Barkeeper zurück, der sich plötzlich gar nicht mehr so gesellig fühlte. »Er kam mir irgendwie bekannt vor. Jemand mit solchen Muskeln war vielleicht mal Sportler oder etwas in der Art.« Der Barkeeper zeigte wieder seine Zähne. »Sportler? Guter Witz!« »Du kennst ihn also?« 262
»Aber klar. Er heißt Morgan. Aber wenn er jemals Sportler war, dann höchstens in der Gefängnismannschaft.« »Gefängnis?« »Ja, da hat er einige Zeit seines Lebens verbracht. Schlechte Erziehung, könnte man sagen.« »Tatsächlich?« »Ich weiß nicht, wer sein Vater war, aber seine Mutter war ein verrücktes altes Huhn.« »Wie meinst du das?« »Na, sie war eben verrückt, ganz einfach. Sie wohnte draußen am Rand des Sumpfes in einer Hütte ohne Strom. Ab und zu kam sie zum Einkaufen in die Stadt, und dabei brabbelte sie die ganze Zeit rum und sah die Leute so komisch an. Ziemlich unheimlich. Sie hat Morgan immer mitgenommen, als er noch jung war, und er sah immer wie ein Schwein aus. Sie hat ihn wie ein Tier behandelt.« »Ist er zur Schule gegangen?« »Erst später, als Jugendlicher. Eines Tages tauchte er von sich aus in Folkston auf. Jemand fragte ihn, wo er seine Mutter gelassen hätte, und er sagte nur, dass sie nicht mehr da sei. Einfach nicht mehr da. Der Sheriff fuhr zu ihrer Hütte und suchte nach ihr, aber sie war spurlos verschwunden, wie Morgan gesagt hatte. Niemand weiß, was mit ihr passiert ist.« Der Barkeeper zündete sich eine Zigarette an und nahm einen Schluck von seinem Bourbon. »Der Sheriff konnte den Pfarrer überreden, den Jungen bei sich aufzunehmen. Er sorgte dafür, dass der Junge zur Schule ging. Offenbar haben sie eine Weile versucht, ihm Lesen und Schreiben beizubringen, aber dann haben sie ihn in eine Besserungsanstalt gesteckt. Er hat ständig die Mädchen belästigt.« »Wie belästigt?«, fragte DeMarco. Der Barkeeper zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. In dieser Zeit habe ich in Florida gearbeitet. Aber er scheint nicht nur an ihren Zöpfen gezogen zu haben.« 263
DeMarco sah wieder vor sich, wie Morgan hinter dem Rhododendronbusch lauerte und das Mädchen auf der Veranda anstarrte. »Was ist danach passiert?« »Als er aus dem Gefängnis kam, war er ein erwachsener Mann und hatte diese Blitznarbe im Gesicht. Und er hat im Gefängnis garantiert Hanteln gestemmt, denn er war kräftiger als ein alter Hufschmied geworden.« »Was macht er heute?« Der Barkeeper trank den Rest in seinem Glas mit einem Schluck aus. »Danke für den Drink, Partner. Aber ich sollte lieber mal nachsehen, wo dein Burger bleibt.« DeMarcos Handy klingelte, während er aß. Es war sein Bekannter vom Finanzamt. Er hatte Hattie McCormacks Adresse gefunden. DeMarco ließ sich den Weg vom Barkeeper beschreiben und rief dann ein letztes Mal im Motel an, um zu erfahren, ob Emma zurückgekehrt war. Sie war es nicht. DeMarco hatte sich erst ein kurzes Stück vom Restaurant entfernt, als er im Rückspiegel sah, dass er von einem roten Pick-up verfolgt wurde. Der Wagen überholte ihn, kehrte auf die rechte Fahrspur zurück und hielt unvermittelt an. DeMarco musste eine Vollbremsung machen, um einen Auffahrunfall zu vermeiden. Als er zum Stehen kam, waren nur noch wenige Zentimeter Platz zwischen seiner vorderen Stoßstange und der hinteren Stoßstange des Pick-ups. Die Fahrertür des Pick-ups öffnete sich. Morgan stieg aus. Der Mann ging langsam zu DeMarcos Wagen. Sein dunkles Gesicht ließ keine Regung erkennen. DeMarco stieß die Tür auf, um auszusteigen, doch bevor er ganz draußen war, sprang Morgan vor, packte ihn am Hemdkragen und zog ihn aus dem Mustang. Dann drehte er DeMarco herum und zog seinen linken Arm den Rücken hoch, bis seine Hand zwischen den Schulterblättern lag. Ein grausamer Schmerz raste durch DeMarcos linke 264
Schulter. Morgan hatte die Bewegung so schnell ausgeführt, dass DeMarco keine Zeit zum Reagieren gehabt hatte. Nachdem er sein Opfer auf diese Weise handlungsunfähig gemacht hatte, führte Morgan ihn zur Beifahrerseite des Pickups. Taylor saß hinter der heruntergedrehten Seitenscheibe. Er war genauso wie am Vormittag gekleidet, in ein kariertes Arbeitshemd und Jeans, nur dass er nun eine rote Baseballkappe aufgesetzt hatte. In seinem hageren Gesicht stand selbstgerechter Zorn. Morgan ließ DeMarco los, als sie neben dem Wagen standen. DeMarco war so wütend, dass er herumfuhr, um auf seinen Peiniger loszugehen. Doch bevor er irgendetwas unternehmen konnte, schlug Morgan ihm einfach mit der Hand gegen den Rücken, wodurch er gegen den Pick-up geworfen wurde. Der Mann war verdammt reaktionsschnell. »Welches Spiel treiben Sie wirklich, Mister?«, fragte Taylor. »Was soll das hießen?«, gab DeMarco zurück. Morgan nahm die Hand von DeMarcos Rücken und ließ ihn einen Schritt vom Pick-up zurücktreten. Nun stand er schräg rechts hinter DeMarco. Er atmete völlig normal, und sein Gesicht war weiterhin ausdruckslos. Er war so ruhig wie jemand, der auf den Bus wartete. »Ich habe in Washington angerufen, Sie Idiot«, sagte Taylor. »Sind sind kein Schriftsteller, sondern ein verdammter Anwalt, und Sie arbeiten für den Kongress. Jetzt will ich endlich wissen, was Sie hier machen und warum Sie die Leute nach mir ausfragen.« Mit wem hatte er gesprochen? Donnelly? Maddox? Billys Frau? Es konnte nur Donnelly gewesen sein. Aber wie viel hatte Donnelly ihm gesagt? »Mein Auftrag ist streng vertraulich, Taylor. Jetzt …« »Verdammt noch mal, wagen Sie es nicht, mich weiter zu verarschen!«, brüllte Taylor. »Morgan, sorgen Sie dafür, dass der Kerl versteht, dass ich es ernst meine!« 265
Morgan griff nach DeMarcos rechter Schulter, drehte ihn ein Stück herum und rammte ihm eine Faust in den Solarplexus. Der Schlag war so kräftig, dass es sich anfühlte, als wäre sein Magen an der Wirbelsäule zerquetscht worden. DeMarco klappte zusammen, hielt sich den Bauch und bemühte sich, nicht zu kotzen, während er gleichzeitig seine Lungen zu überreden versuchte, wieder Luft zu holen. »Haben Sie ein Problem, Mr. Taylor?«, hörte DeMarco eine Stimme. »Hat dieser Kerl Ihren Pick-up gerammt?« DeMarco blickte auf. Gott sei Dank. Zu seiner großen Erleichterung sah er einen Streifenwagen der Polizei von Charlton County und einen jungen Hilfssheriff, der neben der Motorhaube von Taylors Pick-up stand. Der Deputy konnte genau erkennen, in welcher Verfassung sich DeMarco befand. Er war zusammengebrochen, hielt sich den Bauch, und sein Gesicht war vor Schmerz verzerrt. Taylor hatte den Deputy vorher nicht gesehen. Nun blickte er sich gereizt zu ihm um. »Nein, es ist nichts passiert. Verschwinden Sie, Gary. Das ist eine Privatangelegenheit.« Der Deputy zögerte und musterte DeMarco. »Wenn Sie es sagen, Mr. Taylor. Ich wollte mich nur vergewissern, dass alles in Ordnung ist.« Mein Gott!, dachte DeMarco. Was ist nur mit diesen Leuten los? »Das ist es. Jetzt gehen Sie wieder an Ihre Arbeit«, sagte Taylor. Der Hilfssheriff warf DeMarco einen letzten schuldbewussten Blick zu, dann fuhr er weiter. DeMarco hatte sich immer noch nicht von Morgans Schlag erholt. Er überlegte, ob er aufspringen, sich herumdrehen und Morgan einen Tritt in die Eier verpassen sollte. Als hätte Morgan seine Gedanken gelesen – oder die unterschwellige Veränderung in seiner Haltung bemerkt –, trat er einen Schritt zurück. Er war bereit für DeMarcos Angriff. Er stand locker da 266
und hatte die Handflächen leicht nach vorn gedreht. DeMarco wusste, dass er Morgan auf keinen Fall überrumpeln konnte – also beschloss er, stattdessen Taylor zu bedrohen. »Taylor«, sagte er schwer atmend, »wenn dieser Mistkerl mich noch einmal angreift, sollte er mich lieber töten, sonst lasse ich ein paar Marshals der Bundespolizei kommen, um Sie beide verhaften zu lassen.« Taylor antwortete mit einem arroganten Lächeln. »Diesen Tag möchte ich erleben«, sagte er und nickte Morgan zu. Morgans rechte Hand fuhr hoch und packte DeMarcos Hals von hinten, sodass sich die Finger in seine Kehle bohrten. DeMarco versuchte, sich zu befreien, aber Morgan musste nur mit einer Hand an seinem Hals reißen, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. DeMarco griff mit beiden Händen nach Morgans Fingern und wollte sie von seinem Hals lösen, was Morgan die Gelegenheit verschaffte, DeMarcos linke Hand zu schnappen und sie ihm wieder auf den Rücken zu drehen. Mit einer Hand war DeMarco nicht mehr in der Lage, etwas auszurichten. Morgans Finger waren wie Krallen, die sich fest in seine Haut geschlagen hatten. Morgan verstärkte den Druck auf seine Kehle und seinen linken Arm, bis DeMarco aufhörte, sich zu wehren. »Sie werden mir jetzt sagen, was Sie hier machen«, knurrte Taylor. »Und wenn Morgan ihnen dazu einen Arm aus dem Gelenk reißen muss, dann wird er es tun.« Morgan lockerte ein wenig den Griff um seine Kehle, sodass DeMarco sprechen – und wieder atmen – konnte. »Taylor, ich werde gar nichts sagen, solange dieser Scheißkerl mich nicht loslässt«, stieß DeMarco keuchend hervor. Die Schmerzen in seiner Schulter waren fast unerträglich. Er hatte keine Ahnung, was er sagen wollte, falls Morgan ihn wirklich losließ, aber er musste sich eine Gelegenheit verschaffen, sich verteidigen zu können.
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Taylor sah DeMarco in die Augen. Er sah darin den Schmerz und die Wut, aber nicht die Angst, nach der er suchte. »Offenbar wollen Sie nicht verstehen, was ich Ihnen sagen will. Morgan, kugeln Sie ihm den Arm aus.« Scheiße! Wieder strengte sich DeMarco an, Morgans Finger von seiner Kehle zu lösen und sich seinem Griff zu entziehen, aber es war einfach unmöglich. Morgan war zu kräftig, und er spürte bereits, wie die weicheren Bestandteile seiner Schulter – die Muskeln, Sehnen und Bänder – nachgaben und sich vom Knochen lösten. »Max, hattest du einen Unfall? Kann ich irgendwie helfen?« Morgan verringerte den Druck auf DeMarcos Arm und Kehle, aber er behielt ihn fest im Griff. DeMarco blickte auf und sah eine Frau mittleren Alters in einem Cadillac. Sie sprach zu Taylor, während sie DeMarco anstarrte. Ihr rundliches Gesicht zeigte tiefe Besorgnis. »Verdammt noch mal!«, murmelte Taylor, »in dieser Stadt ist mehr los als in Atlanta.« Dann wandte er sich an die Frau. »Vielen Dank, Ellen, aber hier ist alles in Ordnung. Du kannst beruhigt weiterfahren.« »Rufen Sie die Pol…«, stieß DeMarco hervor, dann drückten Morgans Finger wieder zu. Es fühlte sich an, als würde er ihm die Luftröhre zerquetschen. Die Frau sah Taylor mit nervösem Blick an. »Bist du dir ganz sicher, dass alles in Ordnung ist, Max? Du weißt, dass ich jederzeit bereit bin, dir zu helfen.« Taylor riss der Geduldsfaden. »Verdammt, Ellen! Ich habe gesagt, dass alles bestens ist. Jetzt verschwinde endlich von hier!« Die Frau wurde vor Verlegenheit knallrot. »Tut mir Leid, Max, Entschuldigung«, murmelte sie und und trat so heftig aufs Gaspedal, dass es nach verbranntem Gummi roch.
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Taylor warf einen kurzen Blick zu DeMarco, dann drehte er den Kopf und sah sich auf der Straße um. Ein weiteres Fahrzeug kam in ihre Richtung. »Scheiße«, knurrte er. »Kommen Sie, Morgan«, sagte er. »Steigen Sie ein.« Morgan entließ DeMarco unvermittelt aus seinem Griff, worauf dieser in die Knie ging. Im Vorbeigehen blickte Morgan auf DeMarco hinab. Er sagte nichts, und sein Gesicht zeigte keine Regung, aber DeMarco las in den Augen des Indianers, dass er tiefe Verachtung für seine Schwäche empfand. Durch das Seitenfenster richtete Taylor einen Finger auf DeMarco und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch dann ließ er die Hand fallen. »Fahren Sie los«, brummte er Morgan zu. Als sich der Pick-up entfernte, erhob sich DeMarco langsam auf unsicheren Beinen. Mit der verletzten Kehle fiel ihm das Atmen immer noch schwer. Er verzog das Gesicht, als er vorsichtig den linken Arm bewegte. Es schmerzte, aber glücklicherweise war die Schulter nicht ausgerenkt. Es hatte nicht viel gefehlt, aber es war noch einmal gut gegangen. Er konnte von Glück sagen, dass Morgan ihn nicht umgebracht hatte, während die braven Bürger von Folkston ihren täglichen Beschäftigungen nachgingen. DeMarco brauchte über eine halbe Stunde, um Hattie McCormacks Farm zu finden. Inzwischen war es dunkel geworden. Ein Grund dafür war, dass viele Straßen nicht ausgeschildert waren, und er mehrere Male zurückfahren musste, um sich neu an den Landmarken zu orientieren, die der Barkeeper ihm beschrieben hatte. Der andere Grund für die Verzögerung war der, dass er ständig darauf achtete, ob ihm jemand folgte. Endlich stand er vor einem eingedellten Briefkasten, auf dem mit ungelenker Hand die Buchstaben »H. McCormack« aufge-
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malt waren. Er bog auf den einspurigen Sandweg und sah Emmas Mietwagen vor dem kleinen Haus stehen. DeMarco stellte seinen Mustang neben Emmas Wagen ab, ging zur Tür und klopfte an. Drinnen brannte kein Licht, und niemand reagierte auf sein Klopfen. Er ging einmal ums Haus herum und schaute durch alle Fenster, bis er sich davon überzeugt hatte, dass niemand da war. Emma schien mit Hattie irgendwohin gefahren zu sein. Sie hatte gesagt, dass sie die Frau bei ihrer ersten Begegnung beobachtet hatte, wie sie einen Strafzettel von der Windschutzscheibe ihres Pick-ups gerissen hatte. Weder in der Nähe des Hauses noch in der Garage stand ein Pick-up. DeMarco schaute auf die Uhr. Es war halb zehn. Er setzte sich in seinen Wagen und blieb dort, bis ihm der Rücken wehtat. Er stieg wieder aus und setzte sich auf einen der zwei Schaukelstühle auf Hatties Veranda. Doch schon wenige Minuten später flüchtete er sich wieder in den Mustang, als sich die Moskitos zum Abendessen versammelten. Er kurbelte die Wagenfenster hoch, aber er konnte die Klimaanlage nicht einschalten, weil er nicht mehr allzu viel Benzin im Tank hatte. Innerhalb weniger Minuten wurde das Auto zur Sauna mit Schalensitzen, und er hatte schon wieder krampfartige Schmerzen im Rücken. DeMarco verfluchte diese Stadt. Es beschämte ihn, wie mühelos Morgan ihn in Bedrängnis gebracht hatte, obwohl sein Verstand ihm sagte, dass es dafür keinen Grund gab. Morgan war einfach schneller und stärker als er – und weniger human. Trotzdem schämte er sich. Joe DeMarco, der Sohn von Gino DeMarco, der knallharte Kerl, der auf den brutalen Straßen von New York aufgewachsen war, ließ sich wie ein neunzig Pfund leichter Schwächling herumschubsen! Diese Gedanken führten ihn zur Erkenntnis, dass Morgan nie die Gelegenheit erhalten hätte, seinen Vater auf diese Weise zu behandeln. Gino DeMarco hätte dem Kerl sofort eine Pistole 270
zwischen die schwarzen Augen gehalten, sobald er ihm zu nahe gekommen wäre – und er hätte ihn ohne Zögern getötet, wenn er auch nur das leiseste Anzeichen einer Bedrohung gespürt hätte. Genug! Er war nicht wie sein Vater. Er wollte nicht sein wie er, und er würde es auch nie sein. Dennoch stellte er sich die Frage, was er getan hätte, wenn er bewaffnet gewesen wäre. Um zehn Uhr hatte er die Nase voll. Er hatte keine Ahnung, wann Emma zurückkommen würde, und es hatte keinen Sinn, die ganze Nacht hier auf sie zu warten. Er würde zum Motel zurückkehren, ein paar Stunden schlafen, früh aufstehen und wieder zu Hatties Haus fahren. Wenn es dann immer noch keine Spur von Emma gab, würde er die Polizei des Bundesstaats alarmieren und eine Fahndung nach Hatties Pick-up in die Wege leiten. Er wollte sich nicht damit abgeben, die Behörden von Charlton County zu verständigen. Nach seinen bisherigen Erlebnissen war klar, dass sie ihm nicht helfen würden, falls Taylor etwas mit Emmas Verschwinden zu tun hatte. Aber es gab noch jemand anderen, der ihm helfen konnte. DeMarco wählte mit dem Handy eine Nummer. »Mary Pat, hier ist Joe DeMarco. Ist er zu Hause?« »Joe! Schön, Ihre Stimme zu hören. Wie geht es Ihnen?« DeMarco liebte Mahoneys Frau heiß und innig. Er hätte sich keinen freundlicheren und anständigeren Menschen auf diesem Planeten vorstellen können. Und dass sie Mahoney geheiratet hatte, qualifizierte sie für die Heiligsprechung. »Mir geht es gut, Mary Pat. Aber ich muss unbedingt mit ihm reden. Es ist sehr wich…« »Haben Sie diese hübsche junge Dame angerufen, deren Nummer ich Ihnen gegeben habe, Joe? Bridgett, die in Senator Remmicks Büro arbeitet?« »Äh, ich habe es versucht, Mary Pat. Ich habe sie noch nicht erreicht.« »Sie sind ein schrecklicher Lügner, Joseph. Das hätte ich nicht von Ihnen gedacht, wenn ich bedenke, für wen Sie arbeiten. 271
Warten Sie einen Moment. Ich hole ihn.« »Das wurde auch Zeit, dass Sie anrufen«, brummte Mahoney. »Was ist passiert?« »Emma ist verschwunden, und ein Gorilla, der für Taylor arbeitet, hat mich zusammengeschlagen.« »Sind Sie schwer verletzt?« »Nur mein Stolz.« »Der heilt mit der Zeit.« Nicht unbedingt, dachte DeMarco. »Also, was ist geschehen?«, wollte Mahoney wissen, der DeMarcos Wunden bereits vergessen hatte. DeMarco erzählte es ihm. »Ich fasse zusammen: Sie haben also herausgefunden, dass Taylor den großen Larry in einem kleinen Kaff markiert, was Sie eigentlich schon wussten, bevor sie nach Georgia aufgebrochen sind. Doch Sie haben nichts gefunden, was ihn mit dem Attentat oder Donnelly oder sonst etwas in Verbindung bringt.« »Ich habe erfahren, dass er paranoid und verdammt gefährlich ist. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass er Donnelly kennt. Er hat heute in Washington angerufen und herausgefunden, wer ich wirklich bin. Er kann nur mit Donnelly gesprochen haben.« »Okay, aber warum sollte Donnelly ihm helfen? Und wo ist Taylors Motiv für einen Mordanschlag auf den Präsidenten?« »Ich weiß es nicht.« »Scheiße, Joe, das ist zu wenig.« »Jetzt muss ich zuerst nach Emma suchen.« »Sie kann sehr gut auf sich selbst aufpassen. Taylors Schläger würde es nie schaffen, Emma zu verprügeln.« Das tat richtig weh. »Sie ist schon seit einiger Zeit verschwunden, und wenn Taylor etwas damit zu tun hat, werden die Leute hier unten mir nicht bei der Suche nach ihr helfen. Vielleicht müssen Sie mir sogar jemanden herschicken, den Gouverneur oder den Generalstaatsanwalt.« 272
Dazu sagte Mahoney nichts. »Und noch etwas«, fuhr DeMarco fort. »Wenn Sie morgen nichts von mir hören, sollten Sie auf jeden Fall jemanden anrufen.« »Ach was, Sie kommen schon klar. Wir telefonieren morgen.« Typisch Mahoney. DeMarco näherte sich seinem Hotelzimmer mit dem Gefühl großer Erleichterung und hatte das wenig schmeichelhafte Bild einer Feldmaus vor Augen, die nach einer dunklen, von Eulen heimgesuchten Nacht in ihren Bau zurückkehrte. Das Zimmer war zwar kein trautes Heim, aber im Vergleich zu Hattie McCormacks stockdunkler, von Moskitos verseuchter Tabakfarm war es das Paradies. Er öffnete die Tür und tastete nach dem Lichtschalter. Dann nahm er nur noch wahr, dass der Schalter unter seinem Finger nachgab, doch bevor der geschlossene Stromkreis es hell werden ließ, ging die Welt um ihn herum in einem grellen Schmerz unter.
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36 DeMarco wusste nicht, wo er war, und aus irgendeinem Grund wollten sich seine Augen nicht öffnen und ihm mehr über seinen Aufenthaltsort verraten. Er wusste nur, dass er auf dem Rücken lag, auf etwas Hartem, das sich bewegte. Und er spürte, dass ihm diese Bewegung Übelkeit verursachte. Er schüttelte den Kopf, um die mentalen Spinnweben zu vertreiben. Das erwies sich als großer Fehler. Heftige Schmerzen breiteten sich in seinem Hinterkopf aus. Immer noch mit geschlossenen Augen, hob er eine Hand und berührte die Stelle, von der die Schmerzen ausgingen. Er ertastete eine weiche, empfindliche Delle. Eine Stimme sagte: »Kann nicht so sehr wehgetan haben, Kumpel. Es war ein fast perfekter Schlag. Nicht mal die Haut ist aufgeplatzt.« Adrenalin schoss wie elektrischer Strom durch DeMarcos Körper, und seine Augen sprangen alarmiert auf. Dale Estep lächelte ihn an. Estep trug einen Arbeitsanzug in militärischen Tarnfarben und eine Mütze, die ebenfalls mit grün-braunen Flecken gemustert war. Er bewegte auf seltsame Weise die Arme. Endlich nahm DeMarcos Gehirn wieder die Arbeit auf. Estep paddelte. Er saß in einem Kanu, und die harte Oberfläche, die DeMarco im Rücken spürte, war der Boden des Kanus. Sein Kopf lag auf dem Bugsitz. DeMarco wollte sich aufrichten, aber Estep drückte mit dem Paddel gegen seine Brust. In diesem Augenblick bemerkte DeMarco die Pistole, die Estep an der rechten Hüfte trug, und das lange Jagdmesser, das in einer Scheide an der rechten Wade steckte. »Entspann dich, Kumpel«, sagte Estep. »Ich möchte nicht, dass du das Boot zum Kentern bringst.« DeMarco sah auf die Leuchtzeiger seiner Armbanduhr. Es war ein Uhr nachts. Er war über eine Stunde lang bewusstlos 274
gewesen. Er hob den Kopf über die Bordwand des Kanus und betrachtete die Umgebung. Es war eine mondlose Nacht, aber er konnte die Umrisse einiger Sumpfzypressen und durchscheinende Vorhänge aus Spanischem Moos erkennen, die von den unteren Ästen hingen. Sie waren mitten im verdammten Sumpf! »Was zum Teufel haben Sie vor, Estep?«, fragte DeMarco, der nicht bereit war, sich auf das »Kumpel«-Niveau einzulassen. Einerseits hatte er Angst, aber seine Wut war mindestens genauso groß. Er hatte es satt, ständig von diesen Landeiern herumgeschubst zu werden. »Sie kennen mich also«, sagte Estep. Er hatte es schon wieder vermasselt! Also versuchte er es mit einer anderen Frage. »Wohin fahren wir?« »Immer geradeaus nach Westen, Kumpel, mitten hinein in meinen Lieblingssumpf.« »Warum?« »Ich mag den Oki bei Nacht. Die Nacht ist die Zeit des Tötens. Die Starken töten die Schwachen, die Schnellen töten die Langsamen. Bei Nacht hört man hier draußen ständig irgendwas schreien. Auf einen Schrei mehr oder weniger kommt es also nicht an.« »Was zum Teufel soll das bedeuten?«, fragte DeMarco, obwohl er befürchtete, dass er sich die Antwort denken konnte. »Onkel Max hat mich gebeten, mich mal mit Ihnen zu unterhalten, Kumpel. Ich soll Sie fragen, was Sie im Schilde führen. Ich dachte mir, wir gehen lieber irgendwohin, wo wir ungestört plaudern können. Onkel Max meinte, als er versucht hat, mit Ihnen zu reden, wären alle möglichen Leute vorbeigekommen. Das wird hier nicht so leicht passieren.« Warum bezeichnete Estep ihn als »Onkel Max«? Auch Billy hatte ihn so genannt. Und Honey, das blutjunge Mädchen, das er in Taylors Haus gesehen hatte. »Sie und Taylor sind völlig verrückt«, sagte DeMarco. »Ich komme aus Washington, Estep. Ich arbeite für die Regierung der 275
Vereinigten Staaten. Es gibt Leute, die wissen, dass ich hier unten bin.« »Das ist zum Beispiel einer der Punkte, über die wir reden werden. Wer weiß, dass Sie hier sind, und was wissen diese Leute?« »Estep«, sagte DeMarco, »ich arbeite mit dem FBI zusammen. Wenn ich verschwinde, werden Sie der Erste sein, bei dem sich die Bundespolizei erkundigt.« Estep hörte auf zu rudern und sah DeMarco lächelnd an. Dann schlug er mit dem Paddel nach DeMarcos Kopf. Joe konnte gerade noch rechtzeitig die Arme hochreißen, um den Hieb abzufangen, aber das Holz, das gegen seinen linken Unterarm krachte, bereitete ihm höllische Schmerzen. »Scheiße«, sagte DeMarco und rieb sich den Arm. »Es ist nicht nett von Ihnen, mich anzulügen, Kumpel. Ich weiß nämlich schon, dass Sie nichts mit dem FBI zu tun haben. Das FBI hält Sie für einen Verrückten. Der einzige Mensch, mit dem Sie in letzter Zeit zusammengearbeitet haben, ist irgendein Typ namens Banks. Sie und dieser Banks glauben, dass ich und Cousin Billy versucht haben, den Präsidenten zu ermorden.« Nun gab es für DeMarco keinen Zweifel mehr, dass Taylor mit Donnelly gesprochen hatte. Dieser kleine Mistkerl! »Estep«, sagte DeMarco, »wenn Sie auch nur einen winzigen Rest Verstand im Kopf haben, dann drehen Sie sofort mit diesem Kanu um und bringen mich nach Folkston zurück.« Estep tat, als hätte er DeMarco gar nicht zugehört. »Wissen Sie, Kumpel, Onkel Max glaubt, er weiß, wie Sie mich und ihn mit Billy in Verbindung gebracht haben. Er weiß alles darüber, wie Sie Billy beschattet und seine Telefonanrufe belauscht haben. Dafür sollten Sie sich schämen.« Dieser gottverdammte Donnelly musste Taylor alles erzählt haben, was DeMarco während der Zusammenkunft mit dem Generalstaatsanwalt gesagt hatte.
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»Nun möchte Onkel Max die Namen aller Leute wissen«, fuhr Estep in seinem gelassenen, schleppenden Tonfall fort, »mit denen Sie über diese Sache gesprochen haben. Was Sie ihnen erzählt haben und was Sie darauf gebracht hat, nach Georgia zu kommen.« Estep lächelte wieder und ließ seine Zähne in der Nacht aufleuchten. »Also könnte es sein, dass wir uns eine ganze Weile unterhalten werden.« Sofern er nichts unternahm, war DeMarco bereits so gut wie tot. Dieser Irre wollte ihn in den Sumpf verschleppen, ihn foltern und dann erledigen. DeMarco musterte seinen Entführer. Estep war über fünfzig, aber er war ein Kriegsveteran, und er war bewaffnet. Zumindest wirkte er nicht ganz so kräftig wie Morgan. Also bestand eine gewisse Chance, das DeMarco ihn überwältigen und ihm die verdammte Kanone abnehmen konnte. Das Problem war lediglich seine gegenwärtige Lage: flach auf dem Rücken in einem schaukelnden Kanu. Bevor DeMarco es schaffen konnte, sich aufzurichten und zum Heck des Boots zu gelangen, hätte Estep längst die Waffe gezogen und ihn erschossen. Oder er tat einfach, was er schon einmal getan hatte: ihm einen Schlag mit dem Paddel versetzen. Auf der Backbordseite des Kanus wurde das Wasser von etwas Schwerem aufgewühlt, und DeMarco zuckte unwillkürlich zusammen. Estep lachte. »Das war ein großer Alligator, Kumpel. Ein verdammt großer. Ich wette, das Baby bringt es auf drei Meter. Hat was gefressen, was an der Wasseroberfläche herumgeplanscht ist. Wahrscheinlich eine Bisamratte. Was meinen Sie, Kumpel, ob Sie schneller als eine Bisamratte schwimmen können?« DeMarco sagte nichts. Wenig später trieb das Boot durch einen Vorhang aus Spanischem Moos. Als ihm die Fäden über Kopf und Arme strichen, stieß DeMarco ein recht unmännliches
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Kreischen aus. Er hätte sich fast zu Tode erschrocken. Dies war eindeutig nicht die Umwelt, an die er angepasst war. Estep grinste. »Fühlt sich verdammt unheimlich an, was? Manchmal verstecken sich Schlangen in dem Zeugs.« DeMarco wurde klar, dass Estep das Kanu absichtlich in das Moos gelenkt hatte, um ihn noch mehr zu irritieren, und es hatte funktioniert. Er musste sich zusammenreißen. »Warum haben Sie versucht, den Präsidenten zu töten, Estep?«, fragte DeMarco. Estep lächelte. »Es ist ziemlich beleidigend, so etwas zu sagen. Dafür werden Sie besonders laut schreien, Junge.« Estep paddelte eine Weile weiter. »Es wird spät, also sollten wir langsam anfangen. Am besten fangen wir ganz am Anfang an. Was hat dieser Banks zu Ihnen gesagt, dass Sie auf die Idee gekommen sind, Cousin Billy zu verfolgen?« Was zum Teufel meinte er damit, wenn er sagte, dass er sich beleidigt fühlte? Estep schien ihm klar machen zu wollen, dass er nichts mit dem Attentat zu tun hatte, und im gleichen Atemzug gab er zu, dass er und Billy zusammengearbeitet hatten. Waren Billy und er in eine ganz andere Sache verwickelt? Und warum bezeichnete er Billy ständig als seinen Cousin? »Ich warte«, sagte Estep. »Und ich muss Ihnen gestehen, dass ich kein sehr geduldiger Mensch bin.« DeMarco versuchte nachzudenken. Er konnte Estep nichts erzählen, was er nicht bereits wusste, aber er musste irgendetwas sagen, um Zeit zu gewinnen. Offenbar brauchte DeMarco zu lange, um zu einer Entscheidung zu gelangen. »Wie es scheint, muss ich dafür sorgen, dass du mir deine ungeteilte Aufmerksamkeit schenkst, Kumpel.« Estep schüttelte den Kopf, als wäre er schwer von DeMarco enttäuscht. »Du erinnerst mich an diese Schlitzaugen, die ich in Vietnam verhört habe. Die haben auch nicht geglaubt, dass ich es ernst meine, bis ich ein Stück aus ihnen herausgeschnitten habe.« 278
DeMarco geriet in Panik und versuchte wieder, sich aufzusetzen, aber auch diesmal versetzte Estep ihm mit dem Paddel einen Schlag gegen die Brust. »Ja«, sagte Estep im Plauderton, »ich glaube, wir sind jetzt weit genug draußen.« Er griff unter seinen Sitz und holte einen grünen Abfallsack hervor. Während er DeMarco in die Augen blickte, zog er das Jagdmesser aus der Scheide an der Wade und schlitzte den Sack auf. Es stank nach verwestem Fleisch. Als er DeMarcos angewiderten Gesichtsausdruck bemerkte, lachte Estep. »Riecht verdammt reif, was?« Mit dem Messer spießte Estep ein Stück Fleisch auf, das wie eine Hammelkeule aussah, und warf es etwa drei Meter weit ins Wasser. Dasselbe machte er mit einem zweiten Stück. DeMarco beobachtete, wie die Brocken im schwarzen Wasser versanken, dann schaute er wieder zu Estep und fragte sich, was das zu bedeuten hatte. Estep grinste ihn an. »Ich möchte, dass du ins Wasser hüpfst, Kumpel.« »Was?«, entfuhr es DeMarco. »Ich sagte, du sollst ins Wasser springen. Es wird Zeit, dass du ein paar Runden mit meinen Freunden schwimmen gehst.« »Leck mich«, sagte DeMarco. »Ich dachte mir, dass du so etwas sagen würdest.« Estep klopfte auf das Holster an seiner Hüfte. »Mein Freund, du hast im Grunde nur zwei Möglichkeiten. Ich könnte ein paarmal auf dich schießen, aber nur auf Stellen, die nicht sofort tödlich sind, und dich blutend hineinwerfen. Oder du gehst freiwillig ins Wasser und hoffst, dass sich die Alligatoren auf das reife Fleisch stürzen und dich vorläufig in Ruhe lassen. Eine dritte Möglichkeit sehe ich im Moment nicht. Die Sache ist so, Kumpel: Wenn du meine Fragen sehr schnell beantwortest, halte ich die Monster von dir fern, indem ich mehr von diesem Zeug ins Wasser schmeiße. Vergammelt schmeckt es den Burschen viel besser als frisch. Meistens. Ich habe hier einen großen Sack voll, 279
aber trotzdem solltest du nicht zu lange herumtrödeln. Jetzt hüpf rein.« DeMarco hatte gelesen, dass die meisten Alligatoren keine Menschenfresser waren, und das musste auch Ranger Dale wissen. Trotzdem kam es für Joe nicht in Frage, das Kanu zu verlassen. »Hören Sie, Estep, ich werde …« »Dazu ist es jetzt zu spät, Kumpel«, sagte Estep und stach DeMarco mit dem Jagdmesser in die Wade. DeMarco schrie vor Schmerz auf – nur ein weiterer Schrei in der Nacht, wie Estep gesagt hatte. Die Klinge war etwa fünf Zentimeter tief eingedrungen, und die Wunde blutete heftig. »Wenn du nicht möchtest, dass ich das noch einmal tue, schlage ich vor, dass du jetzt wie besprochen ins Wasser springst. Und ich hoffe sehr, dass dein Blut nicht allzu viele Alligatoren anlockt.« Estep grinste und warf einen weiteren Brocken des stinkenden Fleisches in den Sumpf. DeMarco setzte sich langsam auf. Während er das tat, steckte Estep das Messer in die Scheide zurück und zog den Revolver aus dem Holster an der Hüfte. Er richtete die Waffe lässig auf DeMarco und sagte: »Vorsichtig, mein Junge. Du musst sehr, sehr langsam aufstehen. Wenn du das Boot umkippst, erschieße ich dich. Darauf kannst du Gift nehmen.« DeMarco brachte sich in eine kauernde Haltung und streckte dann langsam die Beine. Schließlich stand er, die Füße auseinander, und balancierte mit den Armen, damit das Kanu nicht zu sehr schaukelte. Er blickte in den Sumpf hinaus. Überall war nur Dunkelheit. Im Wasser neben dem Kanu konnte er nichts sehen, aber er wusste nicht, ob sich etwas unter der Oberfläche verbarg. Dann blickte er in Esteps Augen. In die Augen eines Jägers. »Na los, Junge«, sagte Estep leise. »Hüpf einfach rein. Das Wasser ist schön warm.« Was DeMarco als Nächstes tat, geschah nicht aus einem mutigen Entschluss heraus, sondern aus purer Wut. Ihm war 280
klar, dass Estep ihn früher oder später sowieso töten würde. Entweder mit der Pistole oder dem Messer oder durch die Alligatoren. Deshalb sah er nicht ein, warum er allein leiden sollte. Er sprang auf und warf sich mit dem ganzen Körpergewicht gegen die Bordwand des Kanus, wodurch es zum Kentern gebracht wurde. Estep wurde von dieser Aktion völlig überrascht. Er feuerte einen Schuss ab, aber er hatte bereits das Gleichgewicht verloren und wurde in Richtung Wasser geschleudert – was selbst für einen guten Schützen äußerst erschwerende Umstände waren. Die Kugel streifte DeMarcos Hemd und verfehlte seine Haut. Als DeMarco ins Wasser klatschte, tauchte er sofort unter und schwamm los, so schnell er konnte – weg von Estep und vor allem weg vom Sack mit dem verwesten Fleisch, der nun seinen Inhalt ins Wasser entleerte. Kurz darauf streifte etwas Hartes, Schuppiges sein Bein – das Bein mit der blutenden Messerverletzung. DeMarco öffnete unwillkürlich den Mund, um zu schreien, aber sein Mund füllte sich sofort mit übel riechendem Sumpfwasser. Hustend kam er an die Oberfläche. Estep hörte ihn und schoss in seine Richtung. Die Kugel ließ unmittelbar neben seinem Kopf das Wasser aufspritzen. DeMarco pumpte seine Lungen mit Luft voll, tauchte unter und schwamm weiter. Er konnte überhaupt nichts sehen und zuckte überrascht zusammen, als seine rechte Hand etwas Hartes, Glattes streifte. Die linke Hand und dann auch der Kopf berührten ähnliche Oberflächen. DeMarco erkannte sofort, dass er in das Wurzelgeflecht eines Baums geraten war. Es waren mindestens ein Dutzend armdicker Stränge, die sich vom Sumpfgrund aus dem Wasser erhoben. Er stellte die Schwimmzüge ein, zwang sich, Ruhe zu bewahren, und zog sich dann an den Wurzeln nach oben. Kurz darauf war sein Kopf wieder über Wasser, während er sich an den Stamm eines mittelgroßen Baumes klammerte. Er schlang die 281
Arme fest um den schlüpfrigen Stamm und zog sich weiter hinauf, während er sich mit den Füßen an den Wurzeln abstützte. Beim Klettern verlor er einen Schuh, was zur Folge hatte, dass er besseren Halt fand. Also streifte er auch den anderen Schuh vom Fuß. Schließlich stand er auf den Wurzeln des Baumes, die aus dem Wasser ragten, und hielt sich am Stamm fest. Er drehte sich so, dass sich der Stamm zwischen ihm und Esteps letztem Aufenthaltsort befand. Dann blickte er zu der Stelle, wo das Kanu gekentert war. In der Finsternis konnte er Estep nicht sehen, aber er hörte ihn. Estep lachte. »Diesmal hast du mich überrumpelt, Junge. Ich hatte dich für einen Tollpatsch aus der Stadt gehalten, aber jetzt bin ich überrascht. Da zeigt sich mal wieder, was passiert, wenn man zu sehr von sich selbst überzeugt ist. Aber die Alligatoren werden dich so oder so holen, Kumpel. Sie können das Blut an deinem Bein riechen. Sie werden dir genüsslich die Eier abknabbern.« DeMarco versuchte, weiter am Stamm hinaufzuklettern, aber die Rinde war zu glatt. Es gefiel ihm nicht, mit den Füßen auf dem Wurzelgeflecht im Wasser zu stehen, während ihm das Blut am Bein hinunterlief, aber im Moment gab es für ihn keinen besseren Ausweg. Und hier zu stehen war immer noch um Längen besser, als im Sumpf herumzuplanschen. DeMarco wusste nicht, was er als Nächstes tun sollte. Estep würde irgendwann das Kanu wieder aufrichten, und dann musste er nur bis zur Morgendämmerung warten, um nach ihm suchen zu können. DeMarco wünschte sich, er könnte etwas mehr sehen. Vielleicht war er nur wenige Meter von trockenem Land entfernt, wo er sich im Gebüsch verstecken konnte. Aber er war nicht bereit, jedenfalls noch nicht, erneut ins Wasser zu springen und durch die Finsternis zu schwimmen. Genau im richtigen Moment sagte Estep: »Ich werde dich kriegen, Junge. Ich könnte in diesem Sumpf splitternackt
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überleben, aber du hast keinen blassen Schimmer, was hier los ist. Und wenn ich dich kriege, lasse ich dich leiden.« Hier im Sumpf waren Geräusche schwer einzuschätzen. DeMarco wusste nicht, wie weit er von Estep entfernt war, aber er glaubte nicht, dass es mehr als dreißig oder vierzig Meter waren. Dann stieß Estep einen unterdrückten Fluch aus. Für DeMarco klang es, als würde er versuchen, das Kanu aufzurichten. Als Nächstes hörte er ein Ächzen, aber es war nicht das Ächzen eines Menschen, der sich anstrengte. Es klang, als hätte Estep einen Schlag in die Magengrube erhalten, der ihm die Luft aus den Lungen getrieben hatte. Dann hörte er Estep schreien. Dieser Schrei war der entsetzlichste Laut, den DeMarco jemals von einem anderen Menschen gehört hatte. In diesem Schrei lag unerträglicher Schmerz in Verbindung mit panischer Todesangst. DeMarco dachte daran, was Estep über den Sumpf gesagt hatte, wie die Starken die Schwachen töteten, wie die Schnellen die Langsamen fraßen. Dass ständig Schreie durch die Nacht hallten. Estep schrie erneut, aber nicht mehr so laut, dann hörte DeMarco nur noch, wie das schwarze Wasser aufgewühlt wurde, während die Alligatoren Estep zerrissen. Schließlich wurde es still. DeMarco stand stundenlang auf den Wurzeln des Baumes und klammerte sich an den Stamm. Jedes Mal, wenn ihn etwas berührte, ein Wassertropfen, ein fallendes Blatt, Wellen, die gegen seine Füße schwappten, musste er sich auf die Unterlippe beißen, um nicht laut zu schreien. DeMarco war ein Stadtkind, und dies war nicht sein natürlicher Lebensraum. Seine Phantasie drehte durch und gaukelte ihm Wassermokassinschlangen vor, die am Baumstamm herunterkrochen, giftige Insekten, die ihn stachen, und Egel, die ihm das Blut aussaugten. Seine größte
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Angst war, dass unverhofft ein Alligator angriff, mit den Kiefern sein blutendes Bein packte und ihn ins Wasser zerrte. Wenn er in diesen vier Stunden nicht daran dachte, gebissen, gestochen oder gefressen zu werden, dachte er an die Wunde in seinem Bein. Er erinnerte sich daran, dass Estep das Messer ins vergammelte Fleisch gestochen hatte, bevor er ihn damit verletzt hatte. DeMarco überlegte, welche Organismen mit langen, unaussprechlichen Namen durch seinen Blutkreislauf schwimmen und sich auf überlebenswichtige Organe stürzen mochten. Sein einziger Trost war, dass die Messerwunde nicht mehr blutete. Estep hatte nur Muskelfleisch, aber keine größeren Adern oder Venen getroffen. Die Wunde schmerzte, und es fühlte sich an, als würde sein Bein immer mehr anschwellen, aber zumindest lief DeMarcos Blut nicht mehr ins Wasser. Während er sich in der Dunkelheit an den Baum klammerte, betete er sogar. Er hatte vor langer Zeit aufgehört, in die Kirche zu gehen, und wenn er nach seiner Konfession gefragt wurde, antwortete er scherzhaft, dass er Katholik im Ruhestand sei. Aber nun bat er um göttlichen Beistand. Und da er kein frommer Kirchgänger war und wusste, dass Gott das wusste, begnügte er sich mit einem ganz einfachen Wunsch. Er verlangte gar nicht von Gott, dass er ihn auf der Stelle rettete, dass er ihn auf wundersame Weise aufs trockene Land versetzte oder die Alligatoren über Nacht aussterben ließ. Er wünschte sich nur, dass Gott die Sonne aufgehen ließ. DeMarco fand, dass das kein besonders anspruchsvolles Begehren war. Gott sollte nur eine Kleinigkeit für ihn erledigen, die er sowieso jeden Tag vollbrachte. In seinem ganzen Leben hatte er sich noch nie so sehr danach gesehnt, dass die Sonne aufging. Endlich dämmerte es, und im ersten rötlichen Licht des Morgens sah DeMarco einen geradezu traumhaften Anblick. Das gekenterte Kanu trieb etwa einen Meter vom Baumstamm 284
entfernt im Wasser. Er bückte sich und zog die nasse Socke vom rechten Fuß, dann bewegte er sich mit großer Vorsicht um den Baumstamm herum, bis er dem Kanu so nahe wie möglich war. Er streckte den rechten Fuß aus, bis er damit das Kanu berührte. Sorgfältig achtete er darauf, es nicht wegzustoßen, und bemühte sich, es mit den Zehen langsam heranzuziehen. Als es nahe genug war, ging er in die Hocke und tauchte eine Hand ins Wasser, um das Kanu umzudrehen. Er zögerte kurz, als er sich vorstellte, wie ein Alligator ihn in Captain Hook verwandelte, doch dann wurde ihm klar, dass er keine andere Wahl hatte. Er griff nach der Seitenwand des Kanus und brachte es wieder in die korrekte Position. Als er sich vorsichtig auf die Ruderbank gleiten ließ, fühlte er sich zum ersten Mal seit Stunden wieder einigermaßen sicher. Nun hatte er zwar ein Kanu, aber nichts, um sich damit fortzubewegen. Er schaute sich um, doch im Zwielicht konnte er nirgendwo das Paddel erkennen, das Estep benutzt hatte. Aber es musste irgendwo in der Nähe sein. Es konnte nicht im Wasser versunken sein, hier gab es keine Strömung, und während der Nacht hatte kein nennenswerter Wind geweht. Er beschloss, noch etwas zu warten, bis es heller geworden war. Es war schon schwierig genug, das Boot mit einem Paddel anzutreiben, ohne war es praktisch unmöglich. Eine halbe Stunde später war es richtig hell geworden, und nun sah er zehn Meter entfernt das Paddel, das sich in den Wurzeln eines anderen Baumes verfangen hatte. DeMarco hatte das Gefühl, jemand, der die Schicksalsfäden in der Hand hielt, wollte sich über ihn lustig machen. Er zwang sich dazu, nicht an die Alligatoren zu denken, die im Sumpf lauerten, und ruderte mit den Händen zum Baum hinüber, wo er das Paddel bergen konnte. Er schaute sich nach irgendeiner Spur von Estep um, aber weder im noch auf dem Wasser war etwas zu sehen. Nicht einmal die Tarnmütze schwamm auf der Oberfläche. DeMarco 285
hoffte, der Drecksack war in sehr kleinen Stücken zur Hölle gefahren. Eine ganze Minute lang saß er im Kanu, das Paddel quer über die Knie gelegt, und tat nichts. Er war schon einmal Kanu gefahren – am Potomac gab es eine Stelle, wo man welche mieten konnte –, und er war überzeugt, dass er den Rückweg schaffen würde. Sein Problem war nur, dass er keine Ahnung hatte, in welcher Richtung der Rückweg lag. Dann erinnerte er sich daran, wie Estep in der Nacht davon gesprochen hatte, dass sie geradeaus nach Westen gefahren seien. DeMarco war zwar kein Pfadfinder, aber er wusste, dass die Sonne im Osten aufging – und das war das Gegenteil von Westen. Er drehte das Kanu in diese Richtung, blinzelte im angenehmen hellen Licht und paddelte los. DeMarco hätte sich niemals als Liebhaber der Wildnis bezeichnet. Seine Vorstellung eines Abenteuerurlaubs war ein Strandbungalow mit langsamem Zimmerservice. Mit dem beharrlich pochenden Schmerz in seinem Bein und dem ständigen Summen der Insekten in den Ohren setzte er den Okefenokee gleich neben das Tal des Todes auf die Liste seiner Lieblingsurlaubsziele. Aber die Tierwelt war durchaus interessant. Er entdeckte mehrere Eisvögel und einen größeren Vogel, der auf einem dünnen Bein balancierte – wahrscheinlich ein Blaureiher. Er sah aus, als würde er für ein Foto posieren. Einmal tauchte eine Schnappschildkröte auf der Steuerbordseite des Kanus auf, und DeMarco spritzte mit dem Paddel Wasser in ihre Richtung, bis sie wieder abtauchte. Er war nicht etwa verspielt, sondern wollte nichts in seiner Nähe dulden, das vielleicht einen Alligator zum wackligen Boot lockte. In der ersten halben Stunde fuhr er über eine freie Wasserfläche, die von Sumpfgras und Wildblumen gesäumt wurde. Durch die Lektüre der Broschüren im Motel wusste er, dass das Gras 286
auf Torf wuchs. Oder war das Gras Torf? Egal, wen interessierten diese feinen Unterschiede? Außerdem hatte er gelesen, dass der Name Okefenokee so viel wie »zitternde Erde« bedeutete. Wer auf Torf herumlief – warum auch immer jemand auf so eine Idee kommen sollte – spürte angeblich, wie der Boden unter den Füßen schwankte. Auf der freien Fläche fühlte er sich einigermaßen sicher, aber vor ihm rückten die Bäume immer näher an den enger werdenden Kanal heran. Er hätte es gerne vermieden, sich in die feuchte Allee zu wagen, aber er musste den Ostkurs beibehalten, und die Enge lag genau in dieser Richtung. Bald konnte er sich kaum noch geradeaus fortbewegen, sondern musste immer wieder um große Baumstämme herumrudern. Der Sumpf flößte ihm Furcht ein, die sich durch die erstickende Luftfeuchtigkeit und die immer dichter werdende Vegetation noch verstärkte. Bleiches Spanisches Moos hing von den Ästen der Sumpfzypressen wie dicke Spinnweben und verstärkte das klaustrophobische Empfinden. Die Pflanzen in diesem Abschnitt des Sumpfes wirkten extrem fremdartig und hatten Namen wie Wasserschlauch und Kletterheide. Dieser verdammte Sumpf trieb ihn noch in den Wahnsinn. Er hörte, wie sich sein Atem beschleunigte. Er paddelte schneller, während er sich gleichzeitig ermahnte, nicht in Panik zu geraten, dass er sich nicht wie ein Kind benehmen durfte, das Angst vor der Dunkelheit hatte. Beruhige dich, beruhige dich, sagte er sich und murmelte die Worte wie ein Mantra. Er war erleichtert, als das Kanu endlich aus dem Sumpfzypressentunnel herauskam und er wieder auf eine freie Wasserfläche gelangte. Doch die Erleichterung verwandelte sich kurz darauf erneut in Panik. Er war schon drei Stunden lang herumgepaddelt, doch die Kanufahrt der vergangenen Nacht hatte höchstens eine Stunde gedauert. Er glaubte, dass er sich immer noch nach Osten bewegte, aber irgendwie schien er vom Kurs abgekommen zu sein, während er sich zwischen den Bäumen 287
hindurchgewunden hatte. Später wurde ihm klar, dass er die ganze Zeit der Sonne gefolgt war, doch diese wanderte von Osten über den Süden nach Westen. Nun bereute er es, nie bei den Pfadfindern gewesen zu sein. Er wusste nicht mehr, was er jetzt machen sollte. Er hatte sich verirrt und war dabei, sich immer mehr zu verirren. Er wusste, dass der Okefenokee-Sumpf eine Fläche von über sechshundert Quadratmeilen hatte. Das bedeutete, dass er hier ewig im Kreis herumpaddeln konnte – oder bis er verhungert war. Doch dann kam ihm erneut ein göttliches Wunder zu Hilfe, und DeMarco überlegte, ob er seinen katholischen Glauben reaktivieren sollte. Als er hinter einer kleinen Gruppe von Magnolien hervorkam, sah er in etwa hundert Metern Entfernung ein flaches Boot, in dem zwei Jugendliche saßen und angelten. Nie zuvor hatte der Anblick von Kindern sein Herz mehr erfreut als in diesem Moment. »Hallo, Ihr beiden!«, rief er. Die Kinder blickten verängstigt in DeMarcos Richtung. Wahrscheinlich war es verboten, im Sumpf zu angeln. »Was ist?«, rief der eine in lauerndem Tonfall zurück. Vielleicht überlegte er, ob er und sein Freund mit ihrem Boot schneller als der Mann im Kanu waren. »Ich bin Tourist«, sagte DeMarco. »Ich habe mich verirrt. In welcher Richtung liegt der Highway, auf dem man nach Folkston kommt?« Sie sahen DeMarco an, als würden sie ihn für einen Irren halten. »Da lang«, sagte schließlich einer der Jungen. »Etwa eine Viertelmeile.« Er zeigte in eine Richtung, die im rechten Winkel zu DeMarcos bisherigem Kurs lag. Als DeMarco endlich wieder auf festem Boden stand, drückte er das Kanu unter Wasser, damit es versank. Er wollte vermeiden, dass Esteps Boot allzu schnell gefunden wurde, Erst dann lief er zum Highway hinauf. Ihm wurde klar, dass er schlimm aussah. Seine Kleidung war zerknittert und verdreckt, sein Haar 288
klebte am Schädel, und seine Hose war bis zum Knie aufgerissen, wo Estep ihn verletzt hatte. Und er war barfuß. Er wusste nicht, in welcher Richtung Folkston lag, also warf er mental eine Münze und marschierte einfach los. Als ein Wagen vorbeikam, reckte er den Daumen hoch. Natürlich hielt der Fahrer nicht an, denn DeMarco sah wirklich wie ein Serienmörder aus. Noch zwei Autos fuhren an ihm vorbei, bis sich ein Mann in einem verbeulten Toyota seiner erbarmte. Als DeMarco auf den Beifahrersitz stieg, bemerkte er, dass der Fahrer misstrauisch seine nackten Füße musterte. »Ziemlich blöde Geschichte«, sagte DeMarco verlegen. »Hab gestern Nacht diese tolle Frau kennen gelernt, die mich zu ihrem Haus mitgenommen hat. Dummerweise hat sie mir nicht gesagt, dass sie verheiratet ist. Ich hatte Glück, dass ich nicht mehr als meine Schuhe verloren habe.« Der Fahrer grinste breit. »Ja, bei der war ich auch schon mal. Wohin soll ich dich bringen, Kumpel?«
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37 Emma war immer noch spurlos verschwunden, als DeMarco zum Motel zurückkehrte. Er wollte nur noch möglichst schnell aus Charlton County abhauen. Es würde nicht lange dauern, bis sich Max Taylor fragte, warum Dale Estep sich nicht zurückgemeldet hatte, und dann würden Taylor und sein Freund Morgan nach DeMarco suchen. Wenn er ihnen noch einmal begegnete, wollte er nicht in einem Zimmer ohne Hintertür sitzen. Er zog sich um und war froh, dass er die Voraussicht besessen hatte, ein zweites Paar Schuhe einzupacken. Dann warf er seinen Koffer in den Mustang und verließ den Parkplatz des Motels. Da er jetzt den Weg kannte, brauchte er diesmal nur eine halbe Stunde bis zu Hattie McCormacks Haus. Emmas Wagen stand immer noch an der gleichen Stelle, und es schien immer noch niemand nach Hause gekommen zu sein. Er wusste, dass es sinnlos gewesen wäre, in der Gegend herumzukurven und nach Emma zu suchen. Er konnte sich auch nicht an den Bezirkssheriff wenden. Nicht nur, weil die Polizei unter Taylors Kontrolle stand; es war denkbar, dass die Kollegen bereits nach ihm suchten. Er würde nach Waycross fahren, noch einmal Mahoney anrufen und die Hilfe einer übergeordneten Polizeibehörde anfordern. Und Mahoney tat besser daran, ihn diesmal nicht zu vertrösten. DeMarco zog einen Zettel aus seiner Brieftasche und schrieb: »Emma, ich hoffe sehr, dass du diese Botschaft erhältst. Ich hätte die letzte Nacht fast nicht überlebt. Ich fahre zu Jillian Mattis, um ihr eine Frage zu stellen, und dann verschwinde ich so schnell wie möglich aus dieser Gegend, um Hilfe zu holen. Ruf mich über Handy an, wenn du dies liest.« Er steckte den Zettel unter einen Scheibenwischer von Emmas Wagen. 290
Emma konnte nichts zugestoßen sein, redete sich DeMarco ein. Sie war viel zu zäh und zu gerissen, um sich umbringen zu lassen, und er war überzeugt, dass sie im Verlauf ihrer Karriere schon viel gefährlichere Situationen überstanden hatte. Ein Haufen Landeier aus Georgia hatten einfach keine Chance gegen sie – zumindest hoffte er das. Es war früher Abend, und es wurde allmählich dunkel, als DeMarco an Jillian Mattis’ Haus in Uptonville eintraf. Uptonville lag auf dem Weg nach Waycross, und DeMarco wollte einen allerletzten Versuch unternehmen, die Verbindung zwischen Taylor, Donnelly und Billy Mattis aufzuklären. Jillian war die einzige Hoffnung, die ihm noch geblieben war. Er klopfte an, aber niemand öffnete ihm. Die innere Tür hinter dem Fliegengitter stand offen, und durch das Geflecht konnte DeMarco sehen, dass Jillian im dunklen Wohnzimmer auf dem Sofa saß. DeMarco trat einfach ein und ging zu ihr hinüber. »Mrs. Mattis«, sagte er, »ich muss unbedingt mit Ihnen reden.« Jillian hielt ein Glas in der Hand, und auf dem Tisch neben dem Sofa stand eine halb leere Flasche Bourbon. Ihre hübschen Gesichtszüge waren von Alkohol und Trauer verzerrt. Ihr dichtes, mit grauen Strähnen durchsetztes rotbraunes Haar war zerzaust, und sie trug dasselbe verblasste graue Hauskleid, in dem DeMarco sie am Vortag gesehen hatte. Jillian nahm DeMarcos Anwesenheit nicht zur Kenntnis, obwohl er genau vor ihr stand. Sie trank einen Schluck aus dem Whiskeyglas, dann griff sie nach einer Haarsträhne und wickelte sie geistesabwesend um einen Finger. DeMarco berührte sanft ihre Schulter, um ihre Aufmerksamkeit zu wecken. »Es tut mir wirklich Leid wegen Billy, Mrs. Mattis, aber ich muss mit Ihnen reden.« Ohne ihn anzusehen, sagte Jilian teilnahmslos: »Sie sind der Mann, der neulich schon mal hier war. Wie war noch gleich Ihr Name?« 291
»Joe DeMarco, Mrs. Mattis. Ich arbeite als Ermittler für den Kongress. Ich untersuche das Attentat auf den Präsidenten. Und den Tod Ihres Sohnes.« Jillian nickte, aber DeMarco war sich nicht sicher, ob sie ihn wirklich verstanden hatte. Sie seufzte. »Entschuldigen Sie bitte meine Unhöflichkeit, Mr. DeMarco.« »Wie bitte?« »Weil ich Ihnen keinen Drink anbiete. Ich fürchte, ich brauche alles, was noch in der Flasche ist, um diese Nacht zu überstehen. Und es ist mir völlig egal, für wen Sie arbeiten. Es wäre mir lieber, wenn Sie wieder gehen. Ich will nicht mit Ihnen reden. Ich will mich nur betrinken und um mein totes Kind trauern.« DeMarco nickte mitfühlend, aber er ging nicht. Er zog einen Stuhl neben die Couch und setzte sich ihr gegenüber, sodass sich ihre Knie fast berührten. »Entschuldigen Sie bitte meine Unhöflichkeit, aber ich muss mich trotzdem mit Ihnen unterhalten.« Er wartete ab, ob Jillian seinen Widerspruch zur Kenntnis nahm, aber sie reagierte überhaupt nicht. Sie saß nur da und starrte auf etwas, das es nur in ihrem Kopf gab, während sie weiter die Haarlocke um ihren Finger wickelte. »Mrs. Mattis«, sagte DeMarco, »ich glaube, dass Max Taylor für den Tod Ihres Sohnes verantwortlich ist.« Jillian sah ihren Besucher zum ersten Mal an, seit er das Haus betreten hatte. In ihrem Gesicht stand der Ausdruck des Schocks und der Benommenheit, wie bei einem Unfallopfer in den ersten Momenten nach dem Crash. »Was haben Sie gesagt?«, fragte Jillian. »Ich sagte, dass Taylor die Anweisung gegeben hat, Ihren Sohn zu töten, Madam. Es tut mir Leid, das zu sagen, aber ich glaube, Taylor und Dale Estep …« »Dale ist eine Schlange mit Beinen«, sagte Jillian.
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»Richtig. Und er und Taylor haben Billy gezwungen, ihnen bei der Planung des Mordanschlags auf den Präsidenten zu helfen. Ihr Sohn hat ihnen Informationen über die Terminplanung des Präsidenten und die Sicherheitsvorkehrungen beschafft. Außerdem hat Billy in den Datenbanken des Secret Service nach einem Mann gesucht, dem sich der Anschlag in die Schuhe schieben lässt.« Jillian schüttelte energisch den Kopf. »Sie sind ein verdammter Lügner! Billy würde so etwas niemals tun. Sie sollten sich schämen, solche Behauptungen in die Welt zu setzen!« »Ich sage Ihnen nur die Wahrheit, Mrs. Mattis«, erwiderte DeMarco sanft. Schnell erzählte er ihr die ganze Geschichte, vom Brief mit der Warnung, wie Emma und er Billy beschattet und befragt hatten, wie Billy reagiert hatte, wie er Taylor angerufen hatte und zu Estep gelaufen war. Anfangs schüttelte Jillian nur den Kopf, weil sie nicht glauben wollte, was DeMarco ihr berichtete, doch als er fertig war, saß sie mit geschlossenen Augen und hängendem Kopf da, überwältigt vom Nachdruck, mit dem DeMarco seine Überzeugungen vorgetragen hatte. »Mrs. Mattis, Sie müssen mir alles erzählen, was Sie darüber wissen. Bitte machen Sie sich klar, wie wichtig es ist. Taylor könnte ein zweites Mal versuchen, den Präsidenten zu ermorden.« Jillian antwortete mit leiser Stimme, in beinahe singendem Tonfall, wie ein geflüstertes Gutenachtlied. »Er war so hübsch, mein Billy. Sie hätten ihn sehen sollen, Mister, als er noch jung war. Der süßeste Junge, den Gott jemals geschaffen hat. Lockiges blondes Haar, so weiß wie das Fell eines Kätzchens. Und das Lächeln eines Engels. Er hatte keine Spur von Bosheit in sich.« »Das glaube ich Ihnen, Mrs. Mattis. Ich weiß, dass er ein feiner Kerl war, ein wahrer Held. Er wollte Taylor und Estep nicht helfen, aber sie haben ihn dazu gezwungen.« 293
DeMarco konnte diese Behauptung nicht beweisen, aber es war die einzige sinnvolle Erklärung. Jillian wollte etwas sagen, aber sie brachte die Worte nicht heraus. Dann verzerrten sich ihre Züge zu einer tragischen Maske. Sie öffnete den Mund, um zu schreien, doch wieder drang kein Laut aus ihrer Kehle. Nur zwei Tränen flossen aus ihren Augen und hinterließen parallele Spuren auf der leidgeprüften Landschaft ihres Gesichts. Um sich wieder zu fangen, schlang sie die Arme um die Brust und schaukelte langsam mit dem Oberkörper vor und zurück. »Mein Gott, wie ich ihn hasse!«, sagte sie. »Wen, Mrs. Mattis?« »Diesen Hund Max. Zuerst hat er mein Leben ruiniert und dann Billys.« DeMarco wusste nicht, was sie damit meinte. »Ich habe Billys Telefonrechnungen gesehen, Mrs. Mattis«, sagte DeMarco. »Während des Monats vor dem Attentat hat er Sie ziemlich oft angerufen. Worüber haben Sie gesprochen? Was war der Grund für seine Anrufe?« Sie hörte nicht auf, sich zu wiegen. »Er wollte mich überreden, in den Norden zu ziehen, nach Virginia. Ich sollte bei ihm und Darcy wohnen. Er sagte, er würde sich große Sorgen um mich machen, und er wollte, dass ich von hier weggehe. Ich sagte ihm, dass ich das nicht kann. Ich will nicht in einer großen Stadt leben und ihm und seiner Frau zur Last fallen. Aber Billy hat einfach nicht locker gelassen. Er war geradezu verzweifelt. Deshalb hat er so oft angerufen. Er hat versucht, mich zu überreden. Ich konnte nicht verstehen, warum er es so hartnäckig versucht hat, aber ich glaube, jetzt verstehe ich es.« »Wie meinen Sie das?« »Max muss zu Billy gesagt haben, dass er … mir etwas antun würde, wenn Billy nicht machte, was er von ihm verlangte. Wenn Billy wirklich getan hat, was Sie behaupten, muss Max ihm gedroht haben, dass mir oder seiner Frau etwas zustoßen 294
könnte. Um sich selbst hätte Billy keine Angst gehabt. Er hat wahrscheinlich gedacht, er könnte mich besser schützen, wenn ich bei ihm wohnte.« Es war schön, dass er jetzt Billys Motiv kannte, aber auch damit kam er im Moment nicht weiter. DeMarco verstand immer noch nicht, welche Verbindungen zwischen den Teilnehmern dieses bizarren Spiels bestanden. »Als ich das letzte Mal hier war, erwähnte ich einen Mann namens Patrick Donnelly. Sie sagten, dass Sie ihn nicht kennen.« »Richtig. Ich habe noch nie von ihm gehört. Wer war er noch gleich?« »Der Leiter des Secret Service, Billys Chef. Auch er ist irgendwie in diese Geschichte verstrickt.« Sie zuckte mit den Schultern. »Wie gesagt, ich kenne ihn nicht.« »Wie ist Billy überhaupt an den Job beim Secret Service gekommen?«, fragte DeMarco. »Sein Vater hat ihm geholfen. Der Drecksack.« »Sein Vater? Sie meinen Estep?« »Dale? Nein, Mister, ich rede nicht von Dale. Ich rede von Max. Er ist Billys Vater.« DeMarco ließ sich fassungslos gegen die Stuhllehne fallen. Es war schon kaum zu glauben, dass Taylor Billys Vater war, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass er seinen eigenen Sohn hatte umbringen lassen, aber Jillian Mattis hatte noch mehr Enthüllungen auf Lager. »Er ist auch Dales Vater«, sagte sie. »Was? Sie meinen, dass Taylor …« »Ich meine, dass Taylor in dieser Gegend der verdammte König ist!« Ihre Stimme steigerte sich, sie schrie beinahe. »Ihm gehört alles. Alles! Und wenn er etwas sieht, das er haben will, dann nimmt er es sich einfach. Und wissen Sie, was Max am meisten begehrt? Hübsche junge Mädchen.« 295
Sie wirkte eigentlich gar nicht betrunken, obwohl ihre Worte kaum Sinn ergaben. »Mrs. Mattis, wollen Sie damit sagen …?« »Und wenn Max die Witterung einer armen jungen Frau aufgenommen hat, wie ich eine war, kann sie ihm nicht entkommen. Und wenn sie verheiratet ist, dann kann nur noch Gott ihrem Mann helfen, weil Max dem armen Kerl Morgan an den Hals schickt.« »Hat Taylor Sie vergewaltigt, Mrs. Mattis?«, fragte DeMarco. »Ist es das, was Sie sagen wollen?« Jillians Augen flammten wie ein entzündetes Streichholz auf und wurden genauso schnell wieder kalt. »Ich war fünfzehn, als Max sich für mich interessierte. Damals war er fast vierzig. Würden Sie das als Vergewaltigung bezeichnen?« »Gab es niemanden, der versucht hat, ihn aufzuhalten?« Jillian schüttelte ungläubig den Kopf, wie jemand eine so dumme Frage stellen konnte. »Mein Vater sagte zu Mr. Taylor, dass er es zu schätzen wüsste, wenn er sich von mir fernhielte, weil ich noch so jung war und so weiter. Daddy war so energisch, wie man sein kann, wenn man mit dem Mann redet, dem die Fabrik gehört, in der man arbeitet. Morgan stand damals noch nicht in Max’ Diensten, aber er hatte einen Mann namens Cooper, der genauso wie Morgan war. Cooper hat den Hund meines Vaters erschossen, um seinen Standpunkt klar zu machen.« Jillian stieß ein Lachen aus, das metallisch klang und ohne jeden Humor war. »Ich glaube, Daddy hat sich damals mehr Sorgen um diesen Hund gemacht als um mich. Ich war sechzehn, als ich Billy bekam, und als ich siebzehn geworden war, hatte Max das Interesse an mir verloren. Er richtete mir dieses kleine Haus ein, in dem ich seitdem wohne.« Ihre Lippen verzogen sich zu einem verbitterten Lächeln. »Ich hatte eine Menge Truckfahrer in meinem Bett«, sagte sie. »Männer, die kamen und gingen, weil niemand aus der Gegend
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etwas mit mir zu tun haben wollte. Max wollte mich nicht mehr, aber er wollte auch nicht, dass mich ein anderer Mann bekam.« DeMarco konnte sich kaum die Trostlosigkeit des Lebens vorstellen, das Jillian Mattis geführt hatte – ein Leben, das im Grunde mit fünfzehn Jahren zu Ende gewesen war, für immer in dieser erstickenden Kleinstadt gefangen, wo sie als Kellnerin arbeitete, nachdem sie von einem Mann benutzt und weggeworfen worden war, der so mächtig war, dass andere Verehrer es nicht wagten, sich ihr zu nähern. »Wusste Billy, dass Maxwell Taylor sein Vater ist?« »Ja. Es wusste jeder in diesem verdammten Bezirk, aber Billy durfte nie darüber sprechen. Max war stolz auf die Kinder, die er gezeugt hatte, wie ein verdammter Zuchtbulle, aber er wollte nicht, dass irgendjemand daraus juristische Ansprüche ableitete. Er gestattete, dass Billy ihn Onkel Max nannte, aber das war auch schon die engste verwandtschaftliche Beziehung, die er zuließ.« »Wurde auch Dale Esteps Mutter gegen ihren Willen schwanger?« »Ich weiß es nicht. Max war sehr jung, als Dale geboren wurde. Damals war er noch nicht reich und mächtig. Ich weiß nur, dass Dale genauso wie sein Vater wurde. Schon als Junge war er schlimm genug, aber als er aus dem Krieg zurückkehrte, war er verrückt – und gemeiner als eine Schnappschildkröte. Dale ist Max Taylors Thronerbe.« DeMarco verzichtete darauf, ihr zu sagen, das Dale Estep nur noch ein versumpftes Grundstück in der Hölle erben würde. »Gab es noch andere Frauen, Mrs. Mattis? Andere junge Mädchen?« »Hören Sie endlich damit auf, mich Mrs. Mattis zu nennen!«, sagte sie. »Es gibt keinen Mr. Mattis. Mein Name ist Jillian.« »Was war mit den anderen Frauen, Jillian?« »Sie haben Max gesehen. Was glauben Sie?«
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Sie hatte seine Frage immer noch nicht beantwortet. »Ich habe in Taylors Haus ein sehr junges Mädchen gesehen«, sagte DeMarco. »Er nannte sie Honey. Haben Sie eine Ahnung, wer das sein könnte?« »Max hat uns alle Honey genannt. Aber ich kenne dieses arme Kind mit dem schlichten Gemüt. Sie heißt Cissy Parks. Für das, was Max diesem Mädchen antut, wird er in der Hölle schmoren.« »Und für das, was er Ihnen angetan hat, Jillian.« »Nein, Sie haben mich nicht verstanden. Cissy ist seine Tochter.« »Ach, du großer Gott!«, entfuhr es DeMarco. Sein Magen verkrampfte sich angewidert. »Max hat sich vor fünfzehn oder sechzehn Jahren in Cissys Mutter verguckt und sie geschwängert. Als Cissy ins gleiche Alter kam, stieg er ihr nach. So tief ist selbst Max bisher noch nicht gesunken. Je älter er wird, desto mehr dreht er durch. Er ist verrückt und böse. Und wie ich bereits andeutete, kapiert die Kleine wahrscheinlich gar nicht, was mit ihr geschieht.« Damit konnte DeMarco etwas anfangen. Taylor hatte sich der Vergewaltigung und des Inzests strafbar gemacht. Vielleicht konnte er jemanden, der nicht aus der Gegend stammte, dazu bewegen, der Angelegenheit nachzugehen. Wenn Jillian zu einer Aussage bereit war und wenn es noch weitere Frauen wie sie gab, würde der Kerl den Rest seines Lebens hinter Gittern verbringen. DeMarco erkannte, dass die Enthüllungen über Taylor ihn vom eigentlichen Thema abgebracht hatten. »Jillian, Sie sagten, Taylor hätte Billy den Job beim Secret Service besorgt. Wie hat er das angestellt?« »Als Billy von der Armee zurückkam, hatte er sich in den Kopf gesetzt, zum FBI zu gehen. Unter anderem, weil er von hier wegwollte. Ich hatte Max noch nie um einen Gefallen gebeten, aber ich war bereit, es für Billy zu tun. Ich ging zu ihm 298
und fragte ihn, ob er mit seinem Einfluss irgendwas tun konnte, damit Billy einen Job beim FBI bekam.« Sie blickte zu einem Foto von Billy, das auf dem Fernseher stand. Er trug eine Armeeuniform, die mit zahlreichen Orden geschmückt war. Er sah aus, als wäre er erst zwölf. Erneut fiel DeMarco auf, wie hübsch und rein Billy Mattis gewirkt hatte – ein moderner Lancelot. Er hätte niemals in diese schmutzigen Geschichten hineingezogen werden dürfen. »Max sagte, dass er beim FBI niemanden kennt, aber er hätte einen guten Bekannten beim Secret Service. Er sagte zu Billy, er sollte eine Bewerbung schicken, und ein paar Wochen später hatte er den Job. Ich weiß nicht, mit wem Max geredet hat.« DeMarco wusste es, aber er verstand immer noch nicht, warum Taylor einen so guten Draht zu Donnelly hatte. Er sah auf die Uhr. Er musste bald verschwinden. Je länger er blieb, desto größer wurde die Gefahr, dass Max Taylor oder seine Marionettenpolizei ihn fanden. Aber es gab da noch etwas, das er wissen musste. »Ich kann es nicht fassen, dass niemand versucht hat, ihn aufzuhalten, Jillian. Dass die Leute es einfach so hinnehmen, wenn er ein junges Mädchen in sein Bett schleift, als wäre er ein Feudalherrscher aus alten Zeiten.« Jillian sah DeMarco mit angewidertem Blick an. »Sie kapieren es einfach nicht. Ich habe nie behauptet, das niemand versucht hat, ihn aufzuhalten. Mein Vater hat es getan, und am nächsten Tag hatte er einen toten Hund und die Botschaft, dass mit ihm das Gleiche passieren könnte. Ein anderer Mann, er hieß John Chism, versuchte, das Büro des Staatsanwalts einzuschalten. Sie haben einen Anwalt aus Atlanta geschickt. Max hat den Anwalt geschmiert, und nachdem er wieder weg war, hat Morgan John so schwer zusammengeschlagen, dass er seither im Rollstuhl sitzen muss. Er war ein hübscher Kerl. Heute läuft ihm der Sabber am Kinn hinunter, während er in diesem Stuhl vor sich hinvegetiert. Ein anderer Fall war Tom Hendricks, ein junger 299
Mann, der mit einer Pistole auf Max geschossen hat, weil Max hinter Tommys Frau her war. Sie waren erst seit einem Jahr verheiratet, sie waren fast noch Kinder, beide nicht älter als siebzehn.« »Was ist mit Tom Hendricks geschehen, Jillian?« »Max’ Sheriff hat ihn verhaftet, und Max’ Richter hat ihn verurteilt, zu fünfundzwanzig Jahren Gefängnis wegen versuchten Mordes. Er sitzt nun schon seit … lassen Sie mich überlegen … zwölf Jahren. Seine Frau hat sich von ihm scheiden lassen und ist weggezogen, nachdem Max mit ihr fertig war. Bekommen Sie allmählich eine Vorstellung, wie es hier zugeht, Mister?« DeMarco nickte. Noch eine letzte Frage, dann war er weg. »Jillian, Sie kennen Taylor so gut wie fast jeder andere hier. Welchen Grund könnte er haben, den Präsidenten zu ermorden?« Sie zuckte mit den Schultern. »Er könnte tausend Gründe haben.« »Wie meinen Sie das?« »Max’ Eltern waren so arm, dass er nicht mal Schuhe hatte, bis er fünf oder sechs geworden war, und die Leute haben seine Familie wie den letzten Dreck behandelt, der sie auch waren. Aber Max hatte seinen ungebrochenen Stolz. Er hasste jeden in diesem Bezirk, als er zur Armee ging. Als er dann aus Texas, oder wo er sonst gewesen sein mag, zurückkam, hatte er Geld. Eine Menge Geld. Er hat angefangen, alles aufzukaufen und wurde immer reicher. Aber der Reichtum war ihm gar nicht so wichtig wie die Möglichkeit, sich an allen zu rächen, weil sie ihn in jungen Jahren so mies behandelt hatten. Jeder sollte sich vor ihm verbeugen und ihm den Arsch küssen. Er wollte alles beherrschen, und irgendwann hatte er es geschafft. Wenn man so viel Macht über andere Menschen hat, Mister, und wenn alles so läuft, wie man es haben möchte, dann hält man es nach einer Weile für sein von Gott gegebenes Recht, wirklich alles tun zu 300
können. Wenn jemand etwas tut, das Max nicht in den Kram passt, feuert er ihn oder lässt ihn von der Polizei verhaften. Und wenn das nicht funktioniert, kommt Morgan ins Spiel.« Sie sah DeMarco an. »Auf jeden Fall kann ich mir problemlos vorstellen, dass der Präsident irgendwas tut, worüber Max sich furchtbar aufregt. Vielleicht hat er die Steuern erhöht oder irgendwas in einer Rede gesagt. Weiß der Teufel was! Max ist so sehr von seiner Macht und seinem Stolz besessen, dass er es sich in den Kopf setzt, ihn zu töten. Er hält sich für un … ach, wie heißt noch gleich dieses Wort?« »Unantastbar«, sagte DeMarco. »Ja, für unantastbar. Er glaubt, dass niemand ihm etwas anhaben kann. Schließlich ist er der König von Charlton County.« DeMarco dachte über das nach, was Jillian gesagt hatte, aber es fühlte sich irgendwie nicht richtig an. Taylor mochte noch so arrogant sein, aber DeMarco konnte sich einfach nicht vorstellen, dass er den Präsidenten ermorden wollte, nur weil er die Steuern erhöht oder auf andere Weise dafür gesorgt hatte, dass Taylor Probleme mit seinen Investitionen bekam. Es musste mehr dahinterstecken. Sie saßen ein paar Minuten lang schweigend im dunklen Wohnzimmer, während Jillian von ihrem Whiskey nippte und wieder die Haarsträhne zwirbelte. DeMarco überlegte, was er noch sagen konnte, wie er ihr etwas Trost spenden konnte, bevor er ging. Dann sagte sie unvermittelt: »Glauben Sie, dass sie Max drankriegen können, Mister? Für das, was er meinem Billy angetan hat?« »Ja, Jillian«, sagte er. »Ich werde ihn dafür drankriegen.« »Gut. Aber wenn Sie es nicht schaffen, werde ich es tun. Ich besorge mir eine Schrotflinte und puste ihm den verdammten Kopf weg.« »So etwas Böses solltest du aber nicht sagen. Finden Sie nicht auch, Morgan?«
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DeMarco schloss kurz die Augen und hoffte, dass er träumte. Dann blickte er sich um und sah Taylor und Morgan in der Tür zu Jillians Wohnzimmer stehen.
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38 Jillian sprang von der Couch auf und verschüttete den Inhalt des Whiskeyglases, das sie im Schoß gehalten hatte. »Großer Gott im Himmel!«, rief sie, als sie die beiden Männer sah. Morgan stand hinter Taylor in der Tür und blockierte das letzte schwache Licht des Abendhimmels. Er sagte nichts, und sein dunkles Gesicht war so versteinert wie immer, aber seine Gegenwart breitete sich wie der Gestank nach verwesendem Fleisch im Raum aus. »Honey, du weißt doch, dass in dieser Gegend nichts geschieht, ohne dass ich davon erfahre«, sagte Taylor zu Jillian. »Als Morgan erzählte, dass dieser Typ seinen Wagen vor deinem Haus abgestellt hat … also, Honey, ich kann dir gar nicht sagen, wie enttäuscht ich war.« Jillian stand da und war viel zu erschrocken, um etwas erwidern zu können. Sie hatte beide Hände auf den Mund gepresst, als wollte sie versuchen, die Worte zurückzunehmen, die Taylor mitgehört hatte. Taylor richtete einen Finger auf DeMarco. »Und Sie. Was ist mit Dale passiert?« »Ich kenne niemanden namens Dale«, sagte DeMarco. »Ich habe es endgültig satt, mich ständig von Ihnen anlügen zu lassen, Mister«, sagte Taylor. »Ich werde alles erfahren, was Sie wissen, und danach könnte es sein, dass Sie einfach von der Bildfläche verschwinden.« DeMarco lehnte sich auf dem Stuhl zurück und schlug die Beine übereinander, um einen gelassenen Eindruck zu machen. »Nachdem Ihr Gorilla mich zusammengeschlagen hat, Taylor, habe ich ein paar Leute angerufen. Der Gouverneur weiß, dass ich hier bin, und genauso das Büro des Marshals in Savannah. Wenn mir etwas zustößt, wird man sich an Sie wenden.« 303
Taylor grinste. »Ich glaube, Sie wollen mich verarschen, Mister. Nicht dass es eine Rolle spielen würde, weil ich glaube, dass Sie einen bedauernswerten Unfall haben werden. Und es wird einen ganzen Haufen Zeugen geben, die bestätigen können, dass es wirklich nur ein Unfall war. Es ist kein Problem für mich, das zu arrangieren. Aber wir wollen nicht zu weit vorausgreifen. Zuerst müssen wir in Erfahrung bringen, was Honey Ihnen erzählt hat.« »Ich habe ihm gar nichts erzählt, Max«, sagte Jillian. »Ich schwöre es.« DeMarco sah, dass sie am ganzen Körper zitterte, so große Angst hatte sie vor Taylor. »Honey«, sagte Taylor, »dieser Mann hat einen schlechten Einfluss auf dich. Du solltest wissen, dass du mich nicht anlügen darfst. Weil mich das verdammt wütend macht.« »Bitte, Max …«, sagte Jillian. Taylor ging zu Jillian, nahm behutsam ihr Kinn in die Hand und hob ihren Kopf, damit er ihr in die Augen sehen konnte. Er sprach langsam und ruhig, als wollte er ein ungezogenes Kind zur Vernunft bringen. »Honey, ich bin im Moment so verärgert über dich, dass ich überlege, ob ich dich Morgan überlassen sollte.« »Oh Gott, nein, Max! Ich verspreche dir …« »Ja«, sagte Taylor. »Ich glaube, dass es dir nicht gefallen würde, Honey. Du bist zwar nicht mehr die Jüngste, aber das würde Morgan nicht stören. Morgan ist es egal, ob eine Frau jung oder alt, fett oder mager ist. Verdammt, es wäre ihm sogar egal, wenn du keine Haare und Zähne mehr hättest, solange du eine Frau bist. Für den guten alten Morgan spielt das alles gar keine Rolle.« DeMarco sah zu Morgan hinüber. Sein Gesicht war so leidenschaftslos wie immer, aber in seinen schwarzen Augen stand ein feuchtes, ekelerregendes Schimmern.
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DeMarco stand auf. »Lassen Sie die Frau in Ruhe, Taylor«, sagte er. »Ich erzähle Ihnen, worüber wir geredet haben. Sie müssen es nicht aus ihr herausprügeln.« Taylor wandte den Blick nicht von Jillians angstgeweiteten Augen ab. »Morgan, ich möchte mich in Ruhe mit Honey unterhalten, ohne dass dieser Arsch ständig dazwischenquatscht. Kümmern Sie sich ein bisschen um ihn, damit ich mein Gespräch in Ruhe fortsetzen kann.« Scheiße! DeMarco drehte sich zu Morgan um, aber der Mann bewegte sich so schnell, dass er nur noch ein verwischter Schatten im halbdunklen Raum war. Als Morgans Faust sich seinem Kopf näherte, hob DeMarco die Arme und konnte den Hieb teilweise abblocken. Aber teilweise war nicht genug. Er spürte den Faustschlag gar nicht mehr; es wurde einfach nur plötzlich völlig dunkel um ihn herum. DeMarco kam in der kleinen Scheune hinter Jillian Mattis’ Haus zu sich. Das einzige Licht im Gebäude kam von einer Campinglampe, die an einem Stützpfeiler hing. Er erkannte zwei Boxen, in denen während des Winters Pferde untergebracht werden konnten, und an der Wand neben der Tür befand sich eine Sammlung von Zaumzeug und abgenutzten Sätteln. Eine Harke, zwei Schaufeln und eine rostige Mistgabel hingen an Haken neben der Tür. Die Wände wiesen eine extreme Schieflage auf, und zwischen den verzogenen Holzbrettern klafften große Lücken, durch die die Nachtluft und der übersüße Duft irgendeiner einheimischen Pflanze hereindrangen. DeMarco lag mit dem Gesicht nach unten auf einem strohbedeckten Boden. Sein Hals wurde von einem Metallkragen umschlossen, an den eine schwere Kette angeschweißt war. Die Kette war vielleicht zweieinhalb Meter lang und an einem Metallpflock befestigt, der tief in den Boden gerammt worden war.
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Morgan lehnte lässig an der Scheunenwand, in der die Tür mit den zwei Flügeln eingelassen war. Er trug eine Baseballkappe. Nicht weit von ihm entfernt saß Jillian auf dem Boden. Sie hatte ein geschwollenes Auge, und ihre Unterlippe war aufgeplatzt und blutete. Der Kragen ihres Kleides war zerrissen, sodass eine Schulter bloß lag. Zwei kreisrunde rote Flecken waren auf der blassen Haut zu erkennen. Sie sahen wie Verbrennungen aus, die man ihr durch eine Zigarette zugefügt hatte. Jillian schien unter Schock zu stehen. Sie hatte die Augen weit aufgerissen, aber sie nahm nichts wahr. Sie hatte sich in einen Schrank irgendwo in ihrem Geist eingeschlossen. DeMarco versuchte aufzustehen, doch er schaffte es nur, den Kopf ein Stück zu heben. Sofort jagte eine glühende Lanze aus Schmerz durch seinen Schädel. Er schrie und fiel auf den Boden zurück. Morgan hatte ihm offenbar irgendetwas gebrochen, als er sich um ihn »gekümmert« hatte. DeMarco wusste nicht, wie der medizinische Fachbegriff für seinen Zustand lautete – Schädelbasisbruch oder Gehirnerschütterung, vielleicht sogar beides zusammen –, aber es musste ein ernsthaftes Problem sein. Es fühlte sich an, als würde sein Kopf in einer Schraubzwinge stecken. Anscheinend hatte er noch einmal das Bewusstsein verloren, denn als er das nächste Mal die Augen öffnete, hockte Morgan neben ihm. Sein Gesicht war für DeMarco nur ein dunkler Schatten, so sehr blendete ihn der Schmerz in seinem Schädel. Taylors Gorilla sah DeMarco eine Zeit lang mit völlig ruhigem und gefühllosem Blick an. Dann griff er ohne Vorwarnung nach DeMarco, zog ihn gewaltsam hoch und setzte ihn an der Scheunenwand auf. Die grobe Behandlung bereitete ihm Übelkeit, und der Schmerz war wie ein Presslufthammer, der durch die dünne Knochenschale seines Kopfes brechen wollte. Morgan erhob sich, schaute auf DeMarco herab und nickte zufrieden – auch wenn es dafür keinen ersichtlichen Grund gab. Er kehrte zu Jillian Mattis zurück, packte sie am Arm und zerrte 306
sie über den Boden zu DeMarco hinüber. Etwa einen Meter entfernt ließ er sie los. Dann überzeugte er sich mit einem kurzen Blickkontakt, dass DeMarco bei Bewusstsein war und alles sehen konnte. In Morgans Augen stand ein teuflischer Glanz. Morgan zog Jillian hoch, bis sie auf den Knien saß, griff mit einer Pranke in ihr Haar und zog mit der anderen den Reißverschluss seiner Hose auf. DeMarco wollte etwas sagen, irgendeinen Protest von sich geben, aber sein Mund war so trocken, dass er die Worte einfach nicht herausbekam. Er musste etwas tun, um ihr zu helfen. Er konnte nicht tatenlos zusehen, ganz gleich, in welchem Zustand er sich befand. Ohne auf den Schmerz in seinem Kopf zu achten, versuchte er sich aufzurappeln, obwohl er keine Ahnung hatte, was er eigentlich unternehmen wollte. Doch bevor er sich halbwegs aufrichten konnte, holte Morgan mit dem rechten Bein aus und versetzte DeMarco mit der Spitze seines Cowboystiefels einen Tritt gegen das Kinn. Joe stürzte ins Stroh, übergab sich und verlor das Bewusstsein. DeMarco war nur zwei oder drei Minuten lang weggetreten. Als er wieder zu sich kam, hörte er würgende Laute von Jillian und dann ein befriedigtes Grunzen von Morgan. Er blickte auf und schloss sofort beschämt die Augen, als er die beiden sah. Er wusste nicht, wie er es hätte verhindern können, aber ihm war klar, dass seine Anwesenheit Jillians Demütigung nur noch verstärkt hatte. Morgan stieß Jillian grob zur Seite und ordnete seine Kleidung. Sie blieb am Boden liegen, das Gesicht im Stroh, leise schluchzend. Morgan musterte sie mit einem kurzen Blick. Sein Gesicht war eine Maske ohne jede Regung. Nach einem Blick auf DeMarco sah sich Morgan am Boden der Scheune um. Als er entdeckte hatte, wonach er suchte, ging er ein paar Schritte und hob etwas auf, das im Stroh gelegen hatte. Langsam kehrte er zu DeMarco zurück, dann packte er die 307
Kette, die mit dem Kragen um DeMarcos Hals verbunden war. Mit einem Ruck brachte er ihn wieder in eine sitzende Position und drückte seinen Rücken gegen die Scheunenwand. Morgan ging vor DeMarco in die Hocke. In der rechten Hand hielt er den Gegenstand, den er vom Boden aufgelesen hatte. Es war ein Stock, etwa einen halben Meter lang und kaum dicker als einen Zentimeter. Er wartete einen Moment und musterte DeMarco, dann schlug er den Stock lässig in die linke Handfläche. Unvermittelt holte er mit der rechten Hand aus und versetzte DeMarco mit dem Stock einen Schlag gegen den Kopf, an der gleichen Stelle, wo ihn zuvor Morgans Faust getroffen hatte. Es war kein besonders kräftiger Schlag, aber DeMarco schrie in Höllenqualen auf. In den nächsten Sekunden tat Morgan nichts, außer DeMarco geduldig zu beobachten, wie ein sadistisches Kind, das überlegte, welchen Flügel einer Motte es zuerst ausreißen wollte. Wieder zuckte seine Hand, und wieder traf der Stock die verwundete Stelle an DeMarcos linker Schläfe. DeMarco versuchte, den Hieb mit den Händen abzuwehren, aber seine Reaktion war lächerlich langsam, und Morgan stieß seine Arme einfach weg. Dann klopfte er den Stock mit der gnadenlosen Regelmäßigkeit eines Metronoms gegen DeMarcos Schläfe, im Abstand von drei oder vier Sekunden. Während er ihn schlug, hielt er DeMarcos Unterarme mit einer kräftigen Hand fest, damit er sich nicht wehren konnte. Im tosenden Lärm der Schmerzen hörte DeMarco einen Laut, den er zunächst nicht einordnen konnte, doch dann erkannte er, dass er selbst diesen Laut erzeugte. Als kleines Kind, mit sieben oder vielleicht acht Jahren, hatte er einmal einen jungen Hund gesehen, der von einem Auto überfahren worden war. Die Hinterbeine des Welpen waren völlig zerquetscht gewesen, und während sich das Tier auf dem Pflaster voranschleppte, auf der Flucht vor dem Tod, stieß es Laute aus, die genauso wie das 308
Winseln geklungen hatten, das DeMarco nun von sich gab. »Verdammt noch mal, Morgan! Was zum Teufel machen Sie da?«, war plötzlich Maxwell Taylors Stimme zu hören. Morgan hörte auf, DeMarco mit Stockschlägen zu quälen, und stand auf. Dann übernahm Taylor seinen Platz und ging vor DeMarco in die Hocke. »Um Himmels willen, Morgan! Ich habe Ihnen nur gesagt, dass Sie sich ein wenig um ihn kümmern sollen. Was haben Sie mit ihm angestellt? Sie haben seine linke Kopfseite völlig zertrümmert. In diesem Zustand kann ich nichts mehr mit diesem Mistkerl anfangen.« Taylor musterte DeMarco noch eine Weile. »Honey, geh bitte ins Haus, und hol einen Krug Wasser und Aspirin. Na, mach schon! So schlimm bist du gar nicht verletzt.« Jillian kam mühsam auf die Beine und machte sich mit steifen, stockenden Schritten auf den Weg zum Haus. »Beeil dich gefälligst, Honey! Hast du gehört?«, rief Taylor ihr nach. »Wenn ich Morgan schicken muss, um dich zu holen, wirst du es schwer bereuen.« Taylor zog ein Taschentuch hervor und tupfte vorsichtig DeMarcos Gesicht ab. »Ich werde Sie die Nacht durchschlafen lassen, mein Junge, und ich hoffe, dass Sie nicht ins Koma fallen. Jetzt fragen Sie sich vielleicht, warum ich so sehr um Ihre Gesundheit besorgt bin. Nun, die Sache sieht so aus, dass ich Ihnen ein paar Fragen stellen will, und ich befürchte, dass meine Fragen kein Kinderspiel sind. In Ihrem derzeitigen Zustand könnten Sie mir unter den Händen wegsterben, bevor ich alle Antworten von Ihnen bekommen habe.« Jillian kehrte mit einem Krug Wasser und einer Packung Aspirin zurück. Taylor stützte behutsam DeMarcos Kopf mit einer Hand, legte ihm zwei Tabletten in den Mund, dann hielt er ihm den Wasserkrug an die spröden Lippen, damit er trinken konnte. Als er sich am Aspirin verschluckte und husten musste, schnalzte Taylor besorgt mit der Zunge. 309
Schließlich stand Taylor auf und streckte sich. »Morgan, ich habe keine Lust, heute noch nach Folkston zurückzufahren. Ich werde ins Haus gehen, etwas fernsehen und mich dann in Honeys Bett schlafen legen. Sie und die Frau bleiben hier in der Scheune und passen auf diesen Idioten auf. Ich hoffe, dass es ihm wieder besser geht, wenn der Tag anbricht.« DeMarco versuchte, wach zu bleiben, nachdem Taylor gegangen war, aber er konnte seine Augen nicht offen halten. Seine Hilflosigkeit widerte ihn an. Er wollte sich nur noch am Boden zusammenrollen und schlafen, bis er wieder gesund war – und genau das tat er. Während der Nacht wachte er einmal auf. Sein Kopf tat immer noch weh, aber nicht mehr so heftig wie zuvor. Er tastete mit einer Hand in der Dunkelheit herum, bis er den Krug und die Aspirinpackung fand, und verpasste sich eine weitere Dosis. Er war sich nicht sicher, ob er ein zweites Mal aufgewacht war, denn es hätte genauso gut ein Traum sein können. Er erinnerte sich vage an etwas, das sich rhythmisch in einem Stall bewegte, er hörte das Keuchen eines Tieres und das Winseln eines schwächeren Geschöpfes, das große Schmerzen litt.
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39 DeMarco konnte die ersten Streifen des rötlich-grauen Tageslichts durch die Lücken zwischen den Brettern der Scheune sehen. Sein Kopf schmerzte immer noch, aber die entsetzlichen Qualen der Nacht waren gewichen. Er schluckte noch drei Aspirin und trank des Rest des Wassers aus, das sich im Krug befand. Als sich seine Augen an das morgendliche Licht gewöhnt hatten, sah er Morgan, der mit dem Rücken gegen die Tür der Scheune gelehnt am Boden saß. Sein muskulöser Körper rührte sich nicht, und er hatte die Arme vor der Brust verschränkt, wie ein Henker, der sich für einen Moment von der Arbeit erholte. Seine Augen waren offen und auf DeMarco gerichtet. DeMarco wandte den Blick von ihm ab und suchte nach Jillian Mattis. Sie lag nicht weit von Morgan entfernt in einer Pferdebox. Sie schien zu schlafen. Er hoffte, dass sie schlief. DeMarco musste sich erleichtern. Er hatte in den letzten Stunden schon genügend Demütigungen erlebt und wollte nicht noch eins draufsetzen, indem er sich die Hosen nass machte. Er stand langsam auf und stützte sich mit einer Hand an der Scheunenwand ab. Er wartete ab, ob die Schmerzen ihn wieder einknicken ließen, aber wie es schien, hatte sich sein Zustand durch das Aspirin und ein paar Stunden Ruhe erheblich verbessert. Er ging mehrere Schritte, so weit es ihm die Kette erlaubte, und urinierte. Als er fertig war, wankte er langsam zurück, setzte sich wieder auf den Boden und lehnte sich gegen die Wand. Nun hatte er die erste Gelegenheit zu einer Bestandsaufnahme seiner Situation. Die Kette, die seine Bewegungsfreiheit einschränkte, war rostig, aber die Glieder waren schwer und stabil. Man würde sie nur mit einem Schweißbrenner zerschneiden können. Er spürte ein Schloss, das den Kragen um seinen 311
Hals zusammenhielt, aber er konnte es nicht sehen. Ohne sich allzu auffällig zu bewegen, überprüfte er seine Taschen, aber er hatte nichts dabei, was er als Dietrich benutzen konnte. Sein Handy war nicht mehr da, und der einzige Ausgang, den er erkennen konnte, war die Tür, vor der Morgan hockte. Morgan war das eigentliche Problem. Selbst wenn Joe es irgendwie schaffen sollte, sich vom Halsband und der Kette zu befreien, würde er nicht ohne weiteres an diesem Kerl vorbeikommen. Dazu brauchte er eine Waffe, etwas, womit er den Hund zu Tode prügeln konnte. DeMarco schaute zu Morgan hinüber, und Morgan starrte zurück. Die weiße Narbe in seinem dunklen Gesicht war deutlich zu erkennen, wie eine Neonreklame in der Morgendämmerung. DeMarco sog scharf die Luft ein, als er sah, dass Morgan einen Stock in der Hand hielt, vermutlich denselben, den er schon vergangene Nacht benutzt hatte. Nun klopfte er damit gelangweilt gegen sein Bein, während er DeMarcos Blick erwiderte, und DeMarco wusste, dass er ihm hilflos ausgeliefert war. Wenn Morgan beschloss, ihn erneut zu foltern, blieb DeMarco in seinem gegenwärtigen Zustand nichts anderes übrig, als es zu ertragen. Zu seiner Erleichterung blieb der Mann sitzen. Dann schloss er sogar die Augen und schien in einen leichten Schlaf zu fallen. DeMarco dachte kurz an Mahoney. Es waren fast sechsunddreißig Stunden vergangen, seit DeMarco ihn von Hattie McCormacks Farm aus angerufen hatte. Er fragte sich, ob Mahoney inzwischen hinreichend besorgt war, um die Kavallerie zu Hilfe zu rufen. Er bezweifelte es. Selbst wenn Mahoney etwas unternommen hatte – wo sollten die Leute nach ihm suchen? Eine Stunde später hatte sich die Sonne vollständig vom Horizont gelöst. DeMarco sah, wie sich Jillian Mattis rührte und sich verwirrt aufsetzte. Das zerrissene Kleid ließ ihre linke Schulter frei, und die Brandspuren waren zu intensiven roten 312
Flecken auf ihrer Schulter geworden. Die linke Seite ihres Gesichts war angeschwollen, wodurch ihr Kopf seltsam asymmetrisch wirkte, und auf ihrer Wange prangte ein hässlicher blauer Fleck mit gelben Rändern. Das rotbraune Haar, das DeMarco noch einen Tag zuvor bewundert hatte, klebte an ihrem Schädel und hing ihr in schmutzigen, verfilzten Strähnen bis zu den Schultern. Jeder Zentimeter ihrer nackten Haut war verdreckt und wund, nachdem Morgan sie mehrmals über den strohbedeckten Boden geschleift hatte. DeMarco hatte Jillians Alter mit achtundvierzig Jahren berechnet, aber nach dieser einen Nacht schien sie um zwanzig Jahre gealtert zu sein. In diesem Moment wurde Jillian ganz wach, und als sie Morgan sah, erinnerte sie sich wieder, wo sie war. Sofort rutschte sie fluchtartig rückwärts in die Pferdebox zurück, bis sich ihr Rücken fest gegen die Scheunenwand presste. Sie zog die Knie an und stieß ein leises Winseln aus, wie ein Tier, das sich mit der Pfote in einer Falle verfangen hatte. DeMarco fiel wieder der Traum ein, den er in der Nacht gehabt hatte, vom Tier, das sein Opfer im Dunkeln zu Boden rang. Die Hälften der Scheunentür schwangen auf. Taylor trat ein und wirkte ausgeruht, als wäre er gerade unter der Dusche hervorgekommen. Feuchtigkeitstropfen glitzerten in seinem weißen Haar. Er ging zu DeMarco hinüber, blickte auf ihn hinab und lächelte. In diesem Lächeln lag die ganze Wärme des Seidenstoffs, mit dem Särge ausgelegt wurden. »Wie geht es uns an diesem schönen Morgen, Mr. DeMarco?«, fragte Taylor. Als DeMarco nicht antwortete, sagte er: »Ich finde, dass Sie verdammt gut aussehen, mein Junge. Etwas Schlaf kann wahre Wunder bewirken, nicht wahr?« Er zeigte mit dem Daumen auf die Box, in der Jillian kauerte. »Ich fürchte, Honey sieht ziemlich schlimm aus. Sie braucht mehr als eine kräftige Mütze Schlaf, um wieder auf die Beine zu kommen. Ist Ihnen klar, welche Schmerzen Sie dieser armen Frau zugefügt haben?« 313
DeMarco war klar, dass Taylor Recht hatte. Jillian Mattis hatte unbeschreibliche Qualen erlitten, und das nur, weil er sie besucht hatte. Er hatte alles verbockt. Emma war verschwunden, vielleicht sogar tot, und Jillian war gequält und vergewaltigt worden. Und was ihn selbst betraf, war er an einen Pflock angekettet und würde vermutlich auch nicht mehr lange leben. Und das alles für nichts. Taylor ging vor ihm in die Hocke und hob die rostige Kette auf, die an DeMarcos Halsband hing. »Wissen Sie, was das hier ist?«, fragte er. »Das ist ein Stück Justizgeschichte. Als ich in Texas lebte, habe ich die Kette und das Halsband von einem alten Knaben bekommen, der in den Fünfzigern in der Strafanstalt von Huntsville gearbeitet hat. Damals wusste man noch, wie man Kriminelle behandeln muss. Und heute dient diese Kette immer noch einem sinnvollen Zweck, ein halbes Jahrhundert später. Das kann man nicht von allzu vielen Dingen sagen, die es hier gibt, nicht wahr?« Taylor ruckte kurz an der Kette und riss DeMarcos Kopf in seine Richtung. »Aber ich schweife vom Thema ab. Wir haben heute früh noch einiges vor uns, mein Junge. Wir müssen herausfinden, was Sie wissen und wer es sonst noch weiß. Honey hat mir letzte Nacht gesagt, was sie weiß, und wie Sie sehen, hat diese Aussprache sie ganz schön mitgenommen.« »Warum haben Sie versucht, den Präsidenten zu ermorden?«, fragte DeMarco. Seine Stimme war schwach, und die Worte waren undeutlich. Es erinnerte ihn daran, wie Menschen nach einem Schlaganfall sprachen. Taylor schüttelte den Kopf und lachte leise. Seine dunklen Augen glänzten vor Belustigung. »Den Präsidenten ermorden! Ich bin ein gottesfürchtiger Amerikaner, Mister, kein durchgeknallter Anarchist!« »Ich weiß, dass Estep und Billy in den Anschlag verwickelt waren.«
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Taylor setzte zu einer Erwiderung an, doch dann zeigte er DeMarco den erhobenen Zeigefinger. »Schämen Sie sich! Sie versuchen, mich vom eigentlichen Thema abzubringen.« Er erhob sich und rieb sich die Hände, um den Rost der Kette von ihnen zu entfernen. »Und nun«, sagte er, »möchte ich, dass Sie mir zwei ganz einfache Fragen beantworten.« Er hielt für jede Frage einen Finger hoch. »Erstens müssen Sie mir alle Personen nennen, denen Sie – abgesehen von Honey da drüben – Ihre verrückte Geschichte erzählt haben, und zweitens will ich wissen, welche Beweise Sie für Ihre Behauptungen haben. Haben Sie diese beiden Fragen verstanden? Wenn nicht, ist das kein Problem, denn ich werde sie noch ein paarmal wiederholen, bis wir miteinander fertig sind.« DeMarco wusste, dass Taylor ihn töten würde, ob er die Fragen nun beantwortete oder nicht. Er musste sich etwas ausdenken, was er Taylor erzählen konnte, etwas, das Taylor nur überprüfen konnte, wenn er DeMarco am Leben ließ. Er brauchte eine gute Idee, um Zeit zu gewinnen. Taylor zwinkerte ihm zu. »Ich sehe, wie sich die Räder in Ihrem kleinen Yankee-Gehirn drehen, mein Junge. Aber das nützt Ihnen nichts. Ich werde die Wahrheit so oder so erfahren.« Taylor ging zu einem Melkschemel, der vielleicht zwei Meter von DeMarco entfernt stand, und setzte sich. Er hielt kurz inne, als wäre er ein Lehrer, der seine Gedanken sammelte, bevor er mit dem Unterrichtsvortrag begann. »Sie glauben wahrscheinlich, dass Sie letzte Nacht schlimme Schmerzen erlitten haben, nach dem Schlag gegen den Kopf und so weiter. Aber das war gar kein richtiger Schmerz, mein Junge. Wissen Sie, der menschliche Körper ist wie eine Zwiebel, und mit jeder Schale, die man wegnimmt, vergrößert sich der Schmerz, bis man auf den Kern stößt, den Punkt genau in der Mitte, wo die Nervenenden besonders zart und empfindlich sind. Die Kopfschmerzen, mit denen Sie letzte Nacht zu tun hatten, waren nur die äußerste Schale der Zwiebel. Mehr nicht.« 315
DeMarco wurde sich bewusst, dass er während Taylors Ansprache die ganze Zeit die Luft angehalten hatte, und als er nun ausatmete, nahm er den üblen Geruch seiner Furcht wahr. Er wusste, dass es für Taylor nicht besonders schwierig war, ihn körperlich und geistig genauso zu zerstören, wie er es mit Jillian Mattis gemacht hatte. Das hatte Morgan in der vergangenen Nacht mit dem Stock bewiesen. DeMarco legte mehr Selbstbeherrschung in seine Stimme, als er tatsächlich aufbrachte. »Taylor, ich bin gerne bereit, Ihnen zu sagen, was ich weiß. Und wenn ich es tue, werden Sie erkennen, dass es ein Fehler wäre, mich zu töten.« Taylor schüttelte den Kopf, als wäre DeMarco ein schlechter Schüler, der ständig die falschen Antworten gab. So etwas kam selbst in einer Klasse vor, die nur aus einem Schüler bestand. »Das bezweifle ich, mein Sohn«, sagte Taylor. »Sie sollten sich klar machen, dass ich die Wahrheit erkenne, wenn ich sie höre, und eben habe ich nichts davon in Ihrer Stimme bemerkt. Ich habe die Wahrheit nicht in Ihren Augen gesehen. Glauben Sie mir, mein Junge, ich bin ein menschlicher Lügendetektor.« Taylor sah DeMarco lächelnd und voller Arroganz an. »Machen Sie sich klar, dass jemand, der so reich ist wie ich, ein Mann mit mächtigen Freunden auf wichtigen Positionen, eine Menge Ärger vermeiden kann, wenn er rechtzeitig die Alarmglocken hört. Manchmal glaube ich sogar, dass ich alles erreichen kann, was ich mir zum Ziel setze.« Taylor war ein psychotischer Kontrollfreak, der sich einen ganzen Bezirk gekauft hatte, damit er seine Umgebung vollständig beherrschen konnte. Er war überhaupt nicht am materiellen Drum und Dran des Reichtums interessiert, er wollte nur die ungehemmte Macht, die der Reichtum mit sich brachte, wenn er sich ausschließlich auf eine kleine ländliche Provinz konzentrierte. Er beherrschte das Leben von ein paar tausend bescheidenen Menschen und konnte mit ihnen machen, was ihm
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beliebte. Er war der König von Charlton County, genau wie Jillian gesagt hatte, und er glaubte, er würde ewig leben. DeMarco wusste immer noch nicht, warum Taylor versucht hatte, den Präsidenten zu ermorden, aber er vermutete, dass Jillian auch in diesem Punkt Recht hatte. Der Präsident hatte Taylor durch irgendetwas verärgert oder seinen Lebensstil bedroht, und Taylor hatte sich daraufhin bemüht, die Ursache seiner Verärgerung aus dem Weg zu räumen, ohne jeden Respekt vor dem höchsten Amt des Landes. Taylor stand vom Melkschemel auf und zwinkerte DeMarco zu. »Es wird Zeit, dass wir anfangen, Mister«, sagte er. »Wir wollen jetzt die erste Schale von der Zwiebel lösen.« Er wandte sich an Morgan. »Morgan, gehen Sie zum Pick-up. Im Werkzeugkasten liegt ein Bolzenschneider. Bringen Sie ihn mir, bitte. Ach was, holen Sie am besten den ganzen Werkzeugkasten.« Gott, steh mir bei!, betete DeMarco. Morgan verließ wortlos die Scheune. Konnte dieser Mistkerl überhaupt sprechen? DeMarco erinnerte sich nicht daran, auch nur ein Wort von ihm gehört zu haben. »Ich hätte übrigens noch eine Frage, mein Sohn«, sagte Taylor. »Gibt es jemanden, der mit Ihnen nach Georgia gekommen ist?« In diesem Moment sah DeMarco, wie Jillian aus der Pferdebox kam, in der sie gekauert hatte, während Taylor vor DeMarco doziert hatte. Sie schaute zur Tür hinüber, durch die Morgan hinausgegangen war, und dann zu Taylor und DeMarco. Taylor stand mit dem Rücken zu ihr. »Hören Sie, Taylor«, sagte DeMarco. Er musste dafür sorgen, dass der Mann sich ganz auf ihn konzentrierte. Jillian huschte zur Wand neben der Scheunentür. Ihre Füße bewegten sich lautlos auf dem festgestampften Boden. Dann griff sie nach der rostigen Mistgabel, die dort hing. Sie schaute sich noch einmal zur Tür um, dann stieß sie einen Schrei aus, in dem die ganze Trauer einer Mutter lag, die ihren Sohn verloren 317
hatte, und stürmte quer durch die Scheune auf Taylor zu. Sie sah wie Neptuns Tochter aus, mit Strohhalmen wie trockener Tang in ihrem Haar, die Mistgabel wie einen Dreizack der Rache mit beiden Händen erhoben. Taylor fuhr herum, als er den Lärm hörte, doch bevor er ihr ausweichen konnte, trieb Jillian ihm mit aller Kraft, die sie noch besaß, die vier scharfen Zinken der Mistgabel in die Brust. Einen Moment lang erstarrten die beiden – Jillian mit wutverzerrter Fratze und Taylor mit fassungslosem Blick, maßlos erstaunt, dass sich dieses bemitleidenswerte Geschöpf, das er immer nur herumgeschubst hatte, plötzlich gegen ihn erhoben hatte. Schließlich kippte Taylor um. Er landete nur ein oder zwei Meter von DeMarco entfernt auf dem Rücken. Dabei wurde Jillian der Stiel aus den Händen gerissen. Die Mistgabel blieb aufrecht in Taylors Brustkorb stecken. Er drehte den Kopf zu DeMarco und öffnete den Mund zu einem lautlosen Schrei. Seine Augen blickten nicht mehr voller Arroganz, sondern flehten um Hilfe. DeMarco rührte sich nicht. Er saß nur da und hörte, wie die Luft aus Taylors Wunden drang. Es war ein blubberndes, gurgelndes Geräusch. Dann verstummte das Geräusch, und Taylor erstarrte. DeMarco blickte zu Jillian Mattis auf, die immer noch an der Stelle stand, wo sie Taylor mit der Mistgabel attackiert hatte. Um ihre Mundwinkel spielte der Ansatz eines Lächelns. »Jillian«, zischte DeMarco, »laufen Sie zur Tür!« Morgan musste ihren Schrei gehört haben. Jillian bewegte sich nicht. Sie hatte immer noch das Lächeln im Gesicht, aber nun mischte sich eine Spur von Wahnsinn hinein. »Jillian!«, drängte DeMarco, aber die Frau rührte sich nicht von der Stelle. DeMarco sah zu Taylors Leiche hinüber. Er trug eine leichte Jacke gegen die morgendliche Kühle. Die Jacke stand offen, und 318
DeMarco konnte sehen, dass eine Pistole im Holster am Gürtel steckte. DeMarco dankte Gott für das Grundrecht auf Waffenbesitz. Er versuchte, an die Pistole zu gelangen, aber die Kette war etwa einen halben Meter zu kurz. Er griff nach dem Ärmel von Taylors Jacke, der gerade noch in Reichweite war, und zog die Leiche näher zu sich heran. Die Waffe war nur noch ein paar Zentimeter von DeMarcos ausgestreckten Fingern entfernt, als Morgan in die Scheune stürmte. DeMarco zerrte hektischer an Taylors Arm. Schließlich war er nahe genug dran, um die Pistole mit den Fingerspitzen berühren zu können. Doch bevor er sie aus dem Holster ziehen konnte, hatte Morgan gesehen, was er tat. Morgan durchquerte die Scheune mit drei schnellen Schritten und zog einmal kräftig an Taylors Bein. Damit war die Waffe für DeMarco unerreichbar geworden. Es war unfassbar, wie schnell sich der Mann bewegen konnte. Morgan schaute auf Taylor hinab, und dann zuckte ein Ausdruck – die erste Regung, die DeMarco jemals an ihm beobachtet hatte – über sein Gesicht. Die Haut wellte sich, als würde sich etwas Lebendes darunter bewegen, und für einen winzigen Moment konnte DeMarco die Wut und Trauer sehen, die er für den einzigen Menschen empfand, der sich je um ihn gekümmert hatte. Doch genauso schnell, wie die Regung gekommen war, verschwand sie wieder, und kurz darauf waren Morgans Züge wieder zu einer unmenschlichen, gnadenlosen Maske erstarrt. Morgan wandte sich Jillian Mattis zu. Er erkannte, dass sie Taylor mit der Mistgabel erstochen hatte. Sie erwiderte trotzig seinen Blick. Ihr ganzes Leben war von Erniedrigung und Schande geprägt gewesen, aber für einen Augenblick war sie voller Stolz. Sie war zerlumpt und zerschunden, aber am Ende war sie die Siegerin. Morgan ging langsam auf sie zu. Sie wich nicht zurück, sondern blickte unverwandt in Morgans leblose Augen. Schließlich 319
blieb er vor ihr stehen und hob die Hände. Langsam, fast zärtlich umfasste er Jillians Gesicht. Er hielt einen Moment inne, nickte ihr zu, als wollte er seine Anerkennung für ihren Mut ausdrücken, dann riss er die großen Hände mit einem Ruck herum. Das Knacken, mit dem ihr Genick brach, klang wie ein Gewehrschuss in der leeren Scheune. Jillians Tod schockierte DeMarco so sehr, dass er endlich wieder die Initiative ergriff. Er sprang auf, und das Halsband an der Kette grub sich schmerzhaft in seinen Hals, als er versuchte, an Taylors Leiche und die Waffe zu gelangen. Aber es war hoffnungslos. Ihm fehlte mindestens ein halber Meter. Morgan beobachtete amüsiert, wie er ausgestreckt am Boden lag und sich gegen die Kette stemmte. DeMarco kam schnell wieder auf die Beine und wich zurück. Gleichzeitig suchten seine Augen hektisch die Umgebung nach einer Waffe ab. Aber er wusste bereits, dass sich im Kreis, den die Kette vorgab, nichts außer Stroh befand. Mit dem Rücken zur Wand und geballten Fäusten wartete er darauf, dass Morgan käme und ihn tötete. Morgans Lippen zuckten und verzogen sich fast zu so etwas wie einem Lächeln, als er sich DeMarco näherte. In diesem Moment betrat Emma die Scheune. Sie verschaffte sich einen schnellen Überblick, sah Taylor mit der Mistgabel in der Brust am Boden liegen, und die geschundene Jillian, deren Kopf in ungewöhnlichem Winkel abstand. Schließlich entdeckte sie DeMarco, der wie ein Tier angekettet war und von Morgan in die Enge getrieben wurde. Emma zog eine Pistole aus dem Schulterholster, richtete sie auf Morgan und rief: »Keine Bewegung!« Morgan warf einen kurzen Blick über die Schulter zu Emma, dann überraschte er alle beide, als er nicht stehen blieb, wie es ein normaler Mensch getan hätte. Stattdessen beachtete er Emma und ihre Waffe nicht weiter, sondern stürzte sich auf DeMarco. Er packte ihn und drehte ihn herum, sodass er von 320
DeMarcos Körper gedeckt wurde. Dann legte er beide Hände an DeMarcos Gesicht. »Lassen Sie die Waffe fallen«, sagte Morgan zu Emma, »oder ich breche ihm das Genick.« Es war das erste Mal, dass DeMarco den Mann sprechen hörte. Seine Stimme war ein tiefer Bariton und klang hölzern und krächzend durch die seltene Benutzung. Emma lächelte nur, als sie Morgans Drohung hörte. DeMarco hatte noch nie etwas so wunderbar Böses wie dieses Lächeln gesehen. »Lassen Sie die Waffe fallen«, wiederholte Morgan, »oder ich mache mit ihm dasselbe wie mit der Schlampe.« »Tu es nicht, Emma«, brüllte DeMarco. »Er ist stark und schneller als der Blitz. Er wird uns beide umbringen.« DeMarco wagte es nicht, sich zu bewegen, weil er wusste, dass Morgan ihm genauso mühelos das Genick brechen konnte, wie er es mit Jillian getan hatte. Außerdem wusste er, was Morgan dachte. Er war schnell genug, um DeMarco zu töten, Emma abzulenken, indem er DeMarcos Leiche in ihre Richtung stieß, um dann sie anzugreifen und zu hoffen, dass sie ihn verfehlte, falls sie dazu kam, die Pistole abzufeuern. Er konnte es schaffen, diese Aktion durchzuziehen, und wenn Emma keine Hohlspitzpatronen geladen hatte, brauchte sie mehr als nur eine Kugel, um ihn aufzuhalten. Emma blickte in Morgans Augen und sagte zu DeMarco: »Vertraust du mir, Joe?« Gleichzeitig ließ sie die Waffe sinken. »Nein!«, schrie DeMarco. Als Emma die Waffe herunternahm, verstärkten Morgans Hände den Druck gegen DeMarcos Gesicht. In der nächsten Sekunde würde er ihm das Genick brechen. »Lass die Waffe nicht fallen, Emma!«, rief DeMarco. »Natürlich nicht«, sagte Emma, riss die Pistole in einer eleganten Bewegung wieder hoch und feuerte.
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Im ersten Moment geschah gar nichts, dann spürte DeMarco, wie sich die Hände an seinem Gesicht entspannten und ihm etwas Flüssiges und Warmes über den Nacken lief. Schließlich ging Morgan zu Boden. Er riss DeMarco mit sich und brach mit seinem ganzen Körpergewicht über ihm zusammen. Emma lief schnell zu DeMarco und zog Morgan ächzend von ihm herunter, »Mann, ist der schwer!«, sagte sie. DeMarco setzte sich auf und wischte sich das Blut vom Hals. Dann sah er Morgan an. Emma hatte ihm eine Kugel durch das rechte Auge gejagt. »Großer Gott!«, sagte DeMarco. »Du hättest mich treffen können!« »Red keinen Unsinn. Er war ein leichtes Ziel.« »Leicht? Ich glaube, ich spinne! Du hättest mir den Kopf wegschießen können!« »Gern geschehen, Joe«, sagte Emma. DeMarco atmete einmal tief durch. »Ja, tut mir Leid. Vielen Dank. Und jetzt befrei mich bitte von diesem verdammten Halsband.«
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40 »Wo zum Teufel bist du gewesen?«, fragte DeMarco. Emma antwortete nicht, während sie Taylors Bolzenschneider an das Schloss des Metallhalsbandes legte. Sie ächzte, dann gab das Metall nach. »Im Gefängnis«, sagte sie. »Scheißkerle!«, fluchte DeMarco, als er sich das Band vom Hals riss und es gegen die Scheunenwand warf. »Im Gefängnis? Wie hast du das geschafft?« »Nun ja …« »Schon gut. Heb dir die Geschichte für später auf. Jetzt sollten wir erst einmal aus dieser Stadt verschwinden.« DeMarco blickte sich in der Scheune um. Die Mistgabel ragte senkrecht aus Taylors Leiche. Seine Augen waren immer noch weit aufgerissen und starrten voller Erstaunen auf den Eingang zur Hölle. Morgan lag wie eine umgekippte Statue da, mit einem blutigen Loch, wo sich zuvor sein Auge befunden hatte. Und Jillian Mattis mit dem verdrehten Hals erinnerte ihn an eine kaputte Puppe, die ein unachtsames Kind in den Dreck geworfen hatte. Er wollte nicht darüber nachdenken, welche Verantwortung er für ihren Tod trug. Später war genug Zeit, um sich Vorwürfe zu machen. »Wenn wir den Sheriff rufen und den Vorfall melden«, sagte DeMarco, »kommen wir nie von hier weg.« »Nach dem, was mir passiert ist, neige ich dazu, dir zuzustimmen«, sagte Emma, die offenbar auf ihren kürzlichen Gefängnisaufenthalt anspielte. Vom Schauplatz eines Mordes zu flüchten war keine Entscheidung, die DeMarco leicht fiel, aber er sah ein, dass ihm keine andere Wahl blieb. Er besprach sich mit Emma, und gemeinsam beschlossen sie, es so aussehen zu lassen, als hätten 323
sich Taylor und Morgan gegenseitig umgebracht. DeMarco zog die Mistgabel aus Taylors Brustkorb, wischte Jillians Fingerabdrücke vom Stiel und drückte sie Morgan in die Hand. Emma nahm Taylors Pistole, feuerte eine Kugel in einen Heuhaufen und legte sie anschließend in Taylors Hand. Obwohl der Patronentyp unterschiedlich war, hatte Taylors Waffe das gleiche Kaliber wie Emmas – beide waren 38er. DeMarco stellte sich vor, wie die Polizisten in die Scheune kamen und zur korrekten Schlussfolgerung gelangten, dass Morgan – von dem alle wussten, dass er abartige Neigungen hatte – Jillian Mattis vergewaltigt und ihr das Genick gebrochen hatte. Aus der neuen Anordnung der Tatwaffen würden sie die inkorrekte Schlussfolgerung ableiten, dass der ehrenwerte Maxwell Taylor, der County-Patriarch und Ex-Liebhaber Jillians, versucht hatte, ihren Tod zu rächen. Doch leider hatte Morgan ihn mit der Mistgabel erstochen, worauf Taylor ihm kurz vor seinem Tod eine Kugel durch den Kopf gejagt hatte. Falls der Sheriff die Dienste von Spurensicherungsspezialisten hinzuziehen konnte, würde man DeMarcos und Emmas Täuschung sehr schnell durchschauen, aber es gab zwei Punkte, die dagegen sprachen. Erstens Taylors allgemeine Unbeliebtheit und zweitens das Nichtvorhandensein eines Thronfolgers. Die Menschen im Bezirk würden das Ende des Despoten mit Erleichterung zur Kenntnis nehmen, und da es niemanden gab, der die Polizeibehörden drängte, den Fall gründlicher zu untersuchen, wettete DeMarco, dass man sich mit dem Augenschein zufrieden geben würde. Zumindest hoffte er es. Seine größte Sorge war, dass außer Morgan noch jemand anders seinen Wagen vor Jillian Mattis’ Haus gesehen hatte, aber daran ließ sich nichts ändern. Jeder gute Plan hatte seine Mängel. Es gab kein perfektes Verbrechen. Emma und DeMarco überprüften noch einmal das Ergebnis ihrer Bemühungen in der Scheune, dann begab sich DeMarco in Jillians Haus und entfernte seine Fingerabdrücke. Im letzten 324
Moment fiel ihm ein, dass er vergessen hatte, auch die Kette und das Halsband abzuwischen, und kehrte noch einmal in die Scheune zurück, um das Versäumte nachzuholen. Bevor er ging, warf er einen letzten Blick auf Jillian Mattis und bat sie stumm, ihm zu verzeihen. Als sie zu ihren Fahrzeugen zurückkehrten, stolperte DeMarco und wäre beinahe gestürzt. »Alles klar mit dir, Joe?«, fragte Emma. »Ja.« »Du humpelst.« DeMarco nickte. Er spürte pochende Schmerzen im Unterschenkel, wo Estep ihn mit dem Messer verletzt hatte. Er hätte gerne das Hosenbein hochgezogen, um sich die Wunde anzusehen, aber er hatte Angst vor dem, was er zu sehen bekommen würde. Emma hielt DeMarco am Arm fest und drehte ihn herum, damit sie ihm ins Gesicht blicken konnte. Sie untersuchte seine Pupillen, als wüsste sie, was sie tat, und berührte vorsichtig die Beule an seinem Kopf. »Wir sollten lieber ein Krankenhaus aufsuchen, wo man sich deinen Dickschädel etwas genauer ansehen kann«, sagte Emma. »Nein, wir müssen von hier verschwinden, bevor der Sheriff vorbeifährt und unsere Wagen sieht. Ich werde in Waycross ins Krankenhaus gehen, falls ich wirklich eins brauche.« »Gut. Aber pass auf, dass du unterwegs nicht am Lenkrad zusammenklappst.« Diese Gefahr ist äußerst gering, dachte DeMarco. Wenn er einschlief, würden die Toten ihn in seinen Träumen heimsuchen. Dale Estep, grinsend und in bleiche Spinnweben aus Spanischem Moos gehüllt, Max Taylor, der arrogant lächelte, während die Luft aus den Löchern in seiner Brust zischte, Morgan, der Zwillingsbruder des Zyklopen, dem das Blut aus der leeren Augenhöhle lief. Aber es waren nicht diese Zombies, die ihn in den kommenden Nächten vom Schlaf abhalten 325
würden, sondern die unschuldigen Opfer: Billy Mattis und seine Mutter. Das Knacken, mit dem Jillians Genick gebrochen war, würde er noch bis zum Ende aller Zeiten hören. Der Arzt in der Klinik in Waycross fragte, woher DeMarcos Beinverletzung stammte. DeMarco sagte, er hätte sich an einem Metallstück geschnitten. »Hab draußen am Haus gearbeitet. Hab den ganzen Müll auf einen Haufen geschmissen und bin dann drüber gestolpert.« Der Arzt sah sich DeMarcos Kleidung und die Beule am Kopf an und gab ihm mit einem vorwurfsvollen Blick zu verstehen, dass er kein Volltrottel war. Zum Glück – zumindest aus DeMarcos Sicht – wurde der Arzt dann durch zwei Krankenwagen abgelenkt, die mit den Opfern eines Verkehrsunfalls eintrafen, in den drei Fahrzeuge verwickelt gewesen waren. Ohne weiteren Kommentar erhielt DeMarco eine Tetanusspritze und ein Rezept für Schmerzmittel. Er fand Emma im Wartezimmer der Notaufnahme, wo sie in einer Gartenzeitschrift las. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie sich für etwas interessierte, das nichts mit der Verfolgung krimineller Machenschaften zu tun hatte. Mit ihren zwei Mietwagen fuhren Sie zu einer Apotheke, wo DeMarco sein Rezept einlöste, und dann zu einem Supermarkt, wo sich DeMarco ein Sechserpack besorgte, auch wenn das allen medizinischen Empfehlungen widersprach. Er kehrte mit dem Bier zu Emmas Wagen zurück, riss eine Dose auf und trank. Es war ganz normales Bud, aber er hatte noch nie etwas so Wunderbares gekostet. »Sei mit Alkohol lieber vorsichtig«, sagte Emma. »Denk an die Pillen und deine Kopfverletzung.« DeMarco schlug ihren Rat in den Wind, nahm einen weiteren Schluck und erzählte ihr von seiner Nacht im OkefenokeeSumpf. »Starker Abgang«, lautete Emmas einziger Kommentar, nachdem sie gehört hatte, wie Estep ums Leben gekommen war. 326
»Du wolltest mir noch berichten, warum du es dir in einer Zelle gemütlich gemacht hast, während Estep und Taylor versuchten, mich zu töten«, sagte DeMarco. Emma nahm ihm die Bierdose aus der Hand, trank einen Schluck und gab sie ihm zurück. »Wie du weißt, wollte ich noch einmal zu Hattie fahren. Unter anderem erzählte sie mir, wie Taylor den Sumpf als sein Privatreservat benutzt hat. Er hat illegal Alligatoren geschossen, um die Haut zu verkaufen, er hat Edelhölzer geschlagen und reiche Leute auf die Jagd mitgenommen. Und ähnliche Sachen.« »Interessant. Aber was hat das mit deiner Verhaftung zu tun?« »Darauf komme ich gleich.« DeMarco nickte. »Hat Estep Taylor geholfen?« »Natürlich«, sagte Emma. DeMarco zündete sich eine Zigarette an und nahm einen weiteren Schluck Bier. Es war einfach wunderbar, am Leben zu sein und all die Sünden zu genießen, die das Leben verkürzten. »Wie sind Taylor und Estep damit durchgekommen?« »Zum einen hat jeder, der im Sumpf arbeitete, in Wirklichkeit für Taylor gearbeitet und …« »Also war mein Verdacht richtig, dass die Wildhüter gar keine Streifenkauz-Liebhaber sind.« »… und Hattie glaubt, dass er jemanden in Washington bestochen hat, der für den Okefenokee zuständig ist. Vielleicht im Innenministerium. Außerdem hat er ständig die Grenzen des Sumpfes verändert.« »Die Grenzen?« »Überleg mal. Ihm gehört alles Land, das an den Sumpf angrenzt. Woran soll ein Außenstehender erkennen, wo das öffentliche Land aufhört und Taylors Privatbesitz beginnt? Estep verlegte alle paar Jahre die Grenzmarkierungen und holte Leute, die Holz fällten oder sonst was ernteten. Dann brachte er alles wieder in Ordnung und fing woanders von vorne an. Nach Auskunft von Hattie macht Taylor so etwas schon seit fast 327
dreißig Jahren. Er war im Besitz riesiger steuerfreier Ländereien und nutzte staatliche Gelder, um die Bereiche wieder aufzuforsten, die er zuvor kahl geschlagen oder anderweitig ausgebeutet hatte. Ein genialer Plan.« DeMarco schüttelte verblüfft den Kopf. »Aber das richtig dicke Geld hat er auf andere Weise gemacht«, sagte Emma. »Hattie schätzt, dass jedes Jahr Tausende von Touristen in den verdammten Sumpf strömen.« »Eher vierhunderttausend. Diese Zahl habe ich in einer Broschüre meines Motels gelesen.« »Schlaues Kerlchen. Auf jeden Fall hat Taylor mächtig von den Touristen abkassiert. Er hat nicht nur seinen rechtmäßigen Anteil aus dem Tourismusgeschäft bekommen – ihm gehörte übrigens das Motel, in dem wir in Folkston gewohnt haben –, er hat sich außerdem eine Scheibe von den Eintrittsgeldern für den Sumpf abgeschnitten.« »Wie das?« »Ganz einfach: Zehn Personen zahlen Eintritt, von dreien wird das Geld direkt eingesteckt, und in den Büchern steht, dass es nur sieben Besucher waren. Genauso ist es mit dem Krempel gelaufen, der in den Souvenirläden verkauft wird.« »Können wir irgendwas davon beweisen?« »Ich denke schon. Wenn sich ein Prüfer die Buchhaltung ansieht, wird er sicherlich auf einige Ungereimtheiten stoßen, und mit etwas Nachdruck wären sicherlich auch Esteps Wildhüterfreunde zum Reden bereit.« »Und wie bist du schließlich im Gefängnis gelandet?« »Hattie wollte mir ein paar Stellen zeigen, die früher zum Schutzgebiet gehörten und wo jetzt Taylors Leute arbeiten. Wir fuhren bis zu einer Absperrung, auf der ›Zufahrt verboten‹ stand, und sie hat mich überredet, mit ihr unter dem Zaun hindurchzukriechen. Ich Idiot habe mich tatsächlich breitschlagen lassen. Dann wurden wir von Holzfällern entdeckt, die uns sagten, dass wir uns verpissen sollten, und Hattie zeigte ihnen 328
den Finger. Die Holzfäller haben die Polizei gerufen, und Hattie hat auch den Hilfssheriffs den Finger gezeigt. Also hat man uns mitgenommen.« »Warum hast du mich nicht angerufen? Ich hätte die Kaution für dich stellen können!« »Man hat mich nicht gelassen. Hier unten scheint es sich noch nicht rumgesprochen zu haben, dass man als Gefangener gewisse Rechte besitzt. Weil sie schon öfter Ärger mit Hattie hatten, wollten die Bullen ihr für ihre große Klappe eins auswischen. Also hat man uns einfach zwei Tage lang in die Zelle gesteckt. Ich kann froh sein, dass ich nicht im Straflager gelandet bin. Als ich dann endlich rauskam und deine Nachricht fand, bin ich direkt zu Jillians Haus gefahren.« DeMarco erzählte Emma, was er von Jillian Mattis erfahren hatte, vor allem die traurige Geschichte der vielen Honeys. »Mein Gott, das ist ja die reinste Horrorgeschichte!«, sagte Emma. Das war es. Taylors Schreckensherrschaft hatte in den späten 1960ern begonnen. Das Geld, an das er im Jahr 1964 auf weiterhin rätselhafte Weise gelangt war, hatte er dazu benutzt, wirtschaftlichen Einfluss zu gewinnen und die Justiz und die Medien zu übernehmen. Und mit der Macht war der Machtmissbrauch einhergegangen – ein symbiotisches Verhältnis, das DeMarco nur allzu oft in der Hauptstadt des Landes beobachtet hatte. Taylor gab seiner Vorliebe für minderjährige Mädchen nach, und wenn sich Widerstand gegen eine seiner Launen regte und er das Problem nicht durch Drohungen oder wirtschaftlichen Druck lösen konnte, bat er Morgan oder Estep um Hilfe. DeMarco dachte auch über Taylors jahrelangen Raubbau im Okefenokee-Sumpf nach und vermutete, dass es ihm wahrscheinlich gar nicht so sehr um den finanziellen Gewinn gegangen war, sondern eher um die Möglichkeit, das Schutzgebiet wie sein Privateigentum nutzen zu können. Es war sein
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Sumpf und kein staatlicher Besitz. Es war der Wassergraben rund um König Max’ Burg. »Wir haben es immer noch mit drei Rätseln zu tun, Emma«, sagte DeMarco. »Nur mit drei?« »Rätsel Nummer eins: Woher hatten Taylor und Donnelly im Jahr 1964 plötzlich so viel Geld? Nummer zwei: Welche Verbindung besteht zwischen ihnen beiden? Und Nummer drei: Warum um alles in der Welt hat Taylor ein Attentat auf den Präsidenten in die Wege geleitet?« »Es ging ihm gar nicht darum, den Präsidenten zu ermorden, Joe. Bist du noch nicht von selber draufgekommen?« »Worauf?« »Erinnerst du dich, dass Hattie von einem Mann erzählt hat, der sie ausgefragt hat? Den sie als verdammt attraktiven Charmeur bezeichnet hat?« DeMarco saß einen Moment lang reglos da. »Ach du Scheiße …«, flüsterte er.
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41 DeMarco tat der Kopf weh. Eigentlich tat ihm der gesamte Körper weh. Auf jeden Fall war das schrille Gejammer von Philip Montgomerys Tochter wie ein Bohrer, der in seinen Schädel drang. Er saß zusammen mit der Frau in der Küche des Hauses, das der verstorbene Autor in Atlanta bewohnt hatte. Vor dem Küchenfenster war ein Rosengarten zu sehen, in dem ein Sprenger lief und kleine Regenbogen erzeugte, wenn das spätnachmittägliche Sonnenlicht durch die prismagleichen Wassertropfen fiel. DeMarco hatte Mahoney angerufen, bevor er nach Atlanta geflogen war. Er hatte ihm nur eine kurze Nachricht hinterlassen, ihm gesagt, dass es Emma gutging, dass Taylor kein Problem mehr darstellte und dass er ein paar Sachen geklärt hatte. Er war froh gewesen, dass er nicht persönlich mit Mahoney hatte sprechen können. Sollte der herzlose Sack ruhig eine Weile über die Bedeutung dieser Botschaft nachgrübeln, bis DeMarco wieder in Washington war. Janice Montgomery war eine verhärmte Frau Mitte dreißig und trug zu weite Jeans und ein schwarzes T-Shirt. Sie hatte kurzes braunes Haar und ein blasses Gesicht ohne Make-up, und ihre Lippen waren zu einem dünnen Strich der ewigen Missbilligung zusammengezogen. Zu den vielen Dingen, die sie missbilligte, gehörte ihr Vater. »Er war ein totales Arschloch«, sagte sie. »Er hat meine Mutter während ihrer ganzen Ehe immer wieder betrogen. Und als mein Bruder Selbstmord beging, hat der Mistkerl die bewegendste Lobrede geschrieben, die die Welt je gehört hat. Sie wird bis heute in Zeitschriftenartikeln zitiert. Die Wirklichkeit sah jedoch so aus, dass er seinen eigenen Sohn kaum gekannt hat und nicht den leisesten Schimmer hatte, wie sehr 331
Peter schon immer unter Depressionen gelitten hat. Er lebte im Schatten des großen Mannes und schaffte es nie, seinem berühmten Namen gerecht zu werden. Philip Montgomery hat mehr Zeit mit seinem Agenten als mit seiner Familie verbracht.« Janice Montgomery hatte mit dieser verbitterten Tirade losgelegt, nachdem DeMarco ihr gesagt hatte, dass er den Tod ihres Vaters bedauerte und ein großer Bewunderer seiner Werke war. Obwohl er mit diesem Einstieg nur freundlich sein und eine Beziehung zu Montgomerys mürrischer Tochter herstellen wollte, war er tatsächlich sehr von den Büchern ihres Vaters angetan. Montgomery hatte fiktive Romane geschrieben, die jedoch auf Tatsachen beruhten. Dazu hatte er sich jedes Mal mit Leib und Seele in sein Thema vertieft. Er hatte fast ein Jahr lang in Indien gelebt, bevor er einen neunhundert Seiten dicken Roman verfasst hatte, der immer wieder mit James Clavells Shogun verglichen wurde. Er hatte das indische Kastensystem aus historischer und sozialer Perspektive durchleuchtet und eine Armut beschrieben, die für einen durchschnittlichen amerikanischen Bürger einfach unvorstellbar war. Für ein anderes Buch hatte er sich vier Monate in Kambodscha aufgehalten und eine Gruppe von Bauern kennen gelernt, die die Massaker der Roten Khmer überlebt hatten. Diese Erfahrung hatte sie so schwer traumatisiert, dass sie wie Zombies waren. Daraus war Stumme Schreie entstanden, ein Roman, den selbst die apathischsten Menschen nicht lesen konnten, ohne sich über das Elend eines Volkes zu empören, das die übrige Welt im Stich gelassen hatte. In der Zeit nach der Veröffentlichung des Buches hatte sich das Spendenaufkommen für diese Region verdreifacht. Montgomery reiste sehr gerne – vielleicht nur, um vor seiner Familie zu fliehen – und fast alles, was er geschrieben hatte, spielte in fremden Ländern. Dadurch hatten seine Bücher einen exotischen Reiz, der in einer vertrauteren Umgebung verloren 332
gegangen wäre. Seine offenkundige Leidenschaft für die Unterdrückten und sein literarisches Können machten ihn zu einem der beliebtesten Schriftsteller des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Doch seine Tochter gehörte eindeutig nicht zu seinen Fans. DeMarco hatte sich vor einer halben Stunde auf Montgomerys Anwesen eingefunden und sich als Kongressmitarbeiter vorgestellt, der an den Ermittlungen zum Attentat beteiligt war. Es sei eine reine Routineangelegenheit, und »man« wollte wissen, woran Montgomery vor seinem Tod gearbeitet hatte. Die erste Reaktion seiner Tochter hatte darin bestanden, ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen. »Von jetzt an kriege ich jeden Cent seines Honorars, und wenn ich die Rechte an irgendwelchen unveröffentlichten Texten verkaufen kann, werde ich es tun. Ich lasse mich von Ihnen nicht übers Ohr hauen.« DeMarco erklärte, dass er nicht die Absicht hatte, irgendetwas mitzunehmen oder auch nur Kopien anzufertigen, aber Janice blieb verstockt. DeMarco versuchte, sie zu besänftigen, wobei er davon ausging, dass sie vielleicht immer noch um ihren Vater trauerte. Doch als er auf diese Weise nicht zu ihr durchdrang, gab er die mitfühlende Taktik auf. Danach drohte er ihr mit einem Durchsuchungsbefehl. Er würde alles, was sich im Haus befand, als Beweismittel konfiszieren – was praktisch darauf hinauslief, dass sie mindestens ein Jahrzehnt lang nichts von Montgomerys Nachlass würde verkaufen können. Erst da wurde er durch die Tür und in die Küche eingelassen. Er wusste nicht, was er über ihre Einstellung zu ihrem Vater sagen sollte, und mit seinen Kopfschmerzen verspürte er auch nicht die geringste Lust, sich diesbezüglich zu äußern. »Es tut mir Leid, dass er sich Ihnen gegenüber so, äh, herzlos benommen hat, aber glauben Sie, ich könnte …«
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»Und dann dieser Blödsinn mit dem Präsidenten«, sagte sie. »Ihre tollen Wiedersehensorgien. Wahrscheinlich sind sie erst dann einigermaßen anständig geworden, als Daddys Saufkumpel Präsident wurde. In jungen Jahren haben sie ihren Frauen erzählt, dass sie auf die Jagd oder zum Angeln gingen, und in Wirklichkeit haben sie die Sau rausgelassen und versucht, alles zu vögeln, was einen Rock trug. Ich hatte diese alten Säcke so satt!« »Äh, könnte ich jetzt vielleicht einen Blick in die Unterlagen Ihres Vaters werfen?«, versuchte DeMarco es noch einmal. »Alles, was uns einen Eindruck vermitteln könnte, woran er in letzter Zeit gearbeitet hat?« Er hatte es inzwischen satt, sich das endlose Gejammer dieser Frau anzuhören. »Was Sie sich wahrscheinlich vorstellen, werden Sie hier nicht finden. Es gibt keine Entwürfe oder Zusammenfassungen der geplanten Handlung. Wenn mein Vater für seine Bücher recherchierte, notierte er sich die Fakten in einem ganz einfachen Notizblock. Er hatte ein unglaubliches Gedächtnis. Nachdem die Recherchen abgeschlossen waren, machte er in den folgenden Wochen lange Spaziergänge und rührte alles, was er erfahren hatte, in seinem Kopf zusammen. Dann setzte er sich hin und fing einfach an, das Buch zu schreiben. Er war ein Arsch, aber gleichzeitig war er auch ein Genie.« »Könnte ich mir diese Notizblöcke ansehen?«, fragte DeMarco. »Ja«, sagte sie und erhob sich vom Küchenstuhl. Dabei stieß sie ein Ächzen aus, das besser zu einer Frau gepasst hätte, die doppelt so alt war wie sie. Auf dem Weg zum Arbeitszimmer ihres Vaters fragte DeMarco: »Wissen Sie, woran er gearbeitet hat?« »Ich?«, sagte sie mit einem verbitterten Lachen. »Mein Vater hat sich mir niemals anvertraut. Er hat mich genauso benutzt, wie er es mit meiner Mutter gemacht hat. Ich war seine unbezahlte Köchin und Putzfrau, wenn er zu Hause war.« 334
Warum haben Sie es dann die ganze Zeit bei ihm ausgehalten?, hätte DeMarco am liebsten gefragt, tat es aber doch nicht. »Ich weiß nur«, fuhr sie fort, »dass er hier in den Vereinigten Staaten recherchiert hat. Als er sich im April auf eine Reise vorbereitete, habe ich ihn gefragt, wohin es gehen sollte. Er sagte: ›In meine alte Heimat, zurück zu meinen Wurzeln. Dort bin ich auf einen wunderbaren Haufen Scheiße gestoßen.‹ Mehr hat er mir nicht erklärt. Er kam nie auf die Idee, mir mehr über seine Arbeit zu erzählen. Ich war ja nur seine Tochter.« Sie betraten Philip Montgomerys Allerheiligstes, und DeMarco nahm sich einen Moment Zeit, um die Bilder und Urkunden zu betrachten, die die erstaunlichen Erfolge eines Lebens dokumentierten. Während er sich ein Foto ansah, auf dem Montgomery den Pulitzer-Preis entgegennahm, ging seine Tochter zu einem alten Rollschreibtisch hinüber, nahm einen Notizblock mit Spiralheftung und rotem Umschlag in die Hand und reichte ihn DeMarco. »Ich muss den Sprenger im Garten umstellen«, sagte sie. »Ich bin gleich wieder da. Und ich erinnere Sie an Ihr Versprechen, nichts mitzunehmen.« DeMarco nickte, obwohl er ihr gar nicht mehr zuhörte. Auf dem Deckblatt hatte Montgomery wild herumgekritzelt, hauptsächlich Spiralmuster und Sterne und geometrische Figuren, aber in einer Ecke fand sich eine unbeholfene Zeichnung, die eine Burg und einen Mann mit einer Krone darstellte. DeMarco setzte sich an Montgomerys Schreibtisch und schlug das Notizbuch auf. Die einzigen Worte, die auf der ersten Seite standen, lauteten DER SUMPFKÖNIG – in Großbuchstaben und unterstrichen. DeMarco stellte überrascht fest, dass nur etwa zwanzig Blätter beschrieben waren, hauptsächlich mit kryptischen Stichworten, Namen und Zahlen. Es gab keine erzählenden Passagen. Doch es genügte, um Emmas Verdacht zu bestätigen.
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Philip Montgomery hatte durch irgendwelche Umstände Wind von den Verhältnissen in Charlton County bekommen. DeMarco konnte sich vorstellen, dass jemand, der dort lebte, dem Autor einen Brief geschrieben hatte. Vielleicht hatte er ihm gesagt, dass er gar nicht nach Asien reisen musste, wenn er eine wahre Geschichte suchte, in der es um Tyrannei, Tragik und Unterdrückung ging. Genauso konnte er sich vorstellen, wie Montgomery zu Anfang wahrscheinlich kein Wort geglaubt hatte, aber von der Möglichkeit fasziniert war, bis er irgendwann in den Südosten von Georgia gereist war, um die Sache zu untersuchen. Anhand der Notizen konnte DeMarco nicht erkennen, ob Montgomery einen Tatsachenbericht oder wie üblich einen Roman schreiben wollte. Er tippte eher auf einen Roman. So hätte Montgomery ein größeres Publikum erreicht, und mit seinem Talent, die Wahrheit in Fiktion zu verpacken, hätte das Buch viel mehr Wirkung entfaltet als ein sachlicher Bericht. Wenn Montgomery dieses Buch veröffentlicht hätte, wäre Taylor erledigt gewesen. DeMarco erkannte außerdem, dass Montgomery ein viel besserer Ermittler als er war. In den Notizen standen Details, über die DeMarco nicht einmal Mutmaßungen angestellt hatte. Einige der Zahlen deuteten darauf hin, dass Montgomery genau ausgerechnet hatte, wie viel Taylor durch seinen abgezweigten Steueranteil von Charlton County und die illegale Ausbeutung des Okefenokee-Sumpfes verdient hatte. Allerdings ging es hier nur um ein paar hunderttausend Dollar pro Jahr, was im Vergleich zu anderen Wirtschaftsverbrechen und Wall-StreetSkandalen sehr wenig war. Andererseits brauchte Max Taylor nicht viel, um auf dem Land wie ein König leben zu können. Dann stieß DeMarco im Notizblock auf einen Vermerk, mit dem er nichts anfangen konnte. An der betreffenden Stelle stand: »$$$$ – Guerrero – Dallas?????« Die knappen Stichworte erzählten den Rest der Geschichte: »Feudalherrscher«, »Privatpolizei«, »Ein-Mann-Schlägertrup336
pe«. In einer Zeile stand nur: »die armen Honeys, Gott steh ihnen bei!« Esteps Name wurde erwähnt, auch der von Hattie McCormack und ein paar anderen Personen, die DeMarco nicht kannte. Leider tauchte nirgendwo Patrick Donnellys Name auf, und es gab auch keinen Hinweis, dass Montgomery die ursprüngliche Quelle für Taylors Reichtum ausfindig gemacht hatte. DeMarco hatte – genauso wie alle anderen – bisher keinen Moment lang an die Möglichkeit gedacht, dass gar nicht der Präsident, sondern Philip Montgomery das eigentliche Ziel des Attentats gewesen war. Die Reihenfolge der Schüsse am Chattooga schien keinen Zweifel daran zu lassen, dass der Präsident gemeint war, denn nachdem Estep den Schriftsteller mit der ersten Kugel getötet hatte, waren noch zwei weitere Schüsse gefolgt, die offensichtlich den Präsidenten treffen sollten. Nun wurde DeMarco klar, dass der Präsident mit voller Absicht verletzt worden war. Estep war ein viel zu guter Schütze, um sein Ziel dreimal hintereinander zu verfehlen. Der letzte Schuss, der zwischen Mattis’ Beinen hindurchgegangen war und den Agenten getroffen hatte, der auf dem Präsidenten lag, war genau die Art böser Scherz, zu dem sich Estep hätte hinreißen lassen. In der Nacht im Sumpf hatte DeMarco erlebt, zu welchen bösen Scherzen Estep imstande war. Taylor schien davon erfahren zu haben – auf dieselbe Weise, wie er von DeMarco gehört hatte –, dass Montgomery für ein Buch über Charlton County und ihren despotischen Herrscher recherchierte. Taylor musste Angst vor Montgomery bekommen haben. Staatliche Behörden mochten Klagen von armen Landbewohnern ignorieren, und wenn sie der Sache doch nachgingen, ließen sie sich bestechen oder einschüchtern. Aber niemand würde Philip Montgomery mit Geld oder Drohungen beeindrucken können, den Bestsellerautor und guten Kumpel des Präsidenten. 337
Wenn Taylor den Schriftsteller einfach tötete, würde die Polizei sich sofort fragen, ob das Mordmotiv irgendwie mit dem Buch zusammenhing, an dem Montgomery gerade schrieb. Also entschied sich Taylor für eine unglaublich verwegene Lösung: Er ließ es aussehen, als wäre Montgomery versehentlich bei einem Attentat auf den Präsidenten umgekommen. Seine großen Trümpfe bei der Planung dieses Spiels waren Esteps Treffsicherheit und Billy Mattis. Taylor konnte Billy dazu bewegen, ihm alles über die Sicherheitsmaßnahmen rund um den Präsidenten zu verraten, und Billy hatte die besten Voraussetzungen, um einen Sündenbock ausfindig zu machen, dem man die Schuld in die Schuhe schieben konnte. Unbeantwortet blieb nur die Frage, wie Taylor Druck auf Billy ausgeübt hatte – entweder durch die Drohung, seiner Mutter etwas anzutun, oder einfach dadurch, dass er sein Vater war. Nun war DeMarco alles klar – ausgenommen die Verbindung zu Patrick Donnelly.
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42 »Du hattest Recht, Emma«, sagte DeMarco ins Telefon. »Montgomery wusste über Taylors Machenschaften Bescheid. Der Mann war ein verdammt guter Ermittler.« »Aber in seinen Notizen gibt es keine Verbindung zwischen Taylor und Donnelly?« »Nein. Da war nur eine seltsame … Moment mal … Emma, mein Flug wird gerade aufgerufen. Ich muss jetzt an Bord gehen.« »Du wolltest noch etwas sagen. Über etwas Seltsames.« »Ach ja«, sagte DeMarco. »Es gibt da eine Notiz, mit der ich nichts anfangen kann. Ein paar Dollarzeichen, dann der Name Guerrero, dann die Stadt Dallas und am Ende mehrere Fragezeichen. Ich habe keine Ahnung, was das mit Taylor zu tun haben könnte. Ich muss jetzt gehen, Emma. Ich will den Flug auf keinen Fall verpassen.« »Dallas?«, sagte Emma. Dann folgte eine kurze Pause. »Oh Gott!«, rief sie plötzlich. »Was ist?«, fragte DeMarco nervös. Wenn er diesen Flug verpasste, musste er drei Stunden auf die nächste Maschine nach Washington warten. »Joe, wann sind Taylor und Donnelly reich geworden?« »Anfang ’64. Was hat das mit …?« »Und was ist im Jahr davor passiert? Im November 1963, um genau zu sein?« DeMarco dachte einen Moment lang nach. »Ach, komm, Emma! Kennedy? Das kann nicht dein Ernst sein!« »Lass dir ein neues Ticket ausstellen. Neil und ich werden dich in Dallas erwarten.«
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43 Mahoney hatte Migräne. In seinem Büro waren die Vorhänge zugezogen und die Beleuchtung ausgeschaltet. Nur etwas Licht drang aus dem Korridor durch die Tür herein, sodass DeMarcos Luchsaugen lediglich Mahoneys Silhouette, aber nicht seinen Gesichtsausdruck erkennen konnten. Doch er brauchte gar nichts zu sehen, um zu wissen, dass sein Chef sehr unglücklich war. »Also hatten sie es gar nicht auf den Präsidenten abgesehen?«, fragte der Sprecher des Repräsentantenhauses. »Richtig«, antwortete DeMarco. »Aber Sie haben keinen Beweis, dass diese Leute für den Mord an Montgomery verantwortlich sind. Genauso wenig wie zu Anfang, als Sie sie für das Attentat auf den Präsidenten verantwortlich machen wollten.« »Nein, Sir«, sagte DeMarco. »Aber alles passt zusammen – und ich habe ein verdammt glaubwürdiges Motiv gefunden.« »Hmm«, machte Mahoney und dachte eine Weile nach. »Und alle Beteiligten sind jetzt tot? Estep, Mattis, Taylor, die ganze Bande?« Und Harold Edwards und John Palmeri und Morgan und Jillian Mattis. Sehr viele Menschen waren gestorben, und zwei davon hatte DeMarco auf dem Gewissen. »Ja«, sagte er. »Alle außer Donnelly, und ich glaube nicht, dass …« »Und die Verbindung zwischen Taylor und Donnelly, die können Sie auch nicht beweisen, oder?« »Da dürfte nichts zu machen sein. Nur zwei Berichte, die sich auf einen vierzig Jahre zurückliegenden Unfall beziehen.«
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»Aber wenn Donnelly und Taylor wirklich getan haben, was Sie glauben, wenn sie diese Sache vertuscht haben … mein Gott!« »Wir haben keinen Beweis. Wir haben nur das Indiz, dass alles zeitlich zusammenpasst, und wir haben Emmas Intuition.« »Und Montgomerys.« DeMarco schüttelte den Kopf. »Die Spur nach Texas ist eine Sackgasse, Chef.« »Verdammt!«, sagte Mahoney. Er nahm den Eisbeutel weg, den er sich an die Stirn gehalten hatte, und griff nach der Flasche auf dem Schreibtisch. Er würde niemals auf den Gedanken kommen, dass der Bourbon einen Anteil an seinen Kopfschmerzen haben könnte. Und wenn doch, hätte er ihn trotzdem getrunken. »Mattis tut mir Leid«, sagte DeMarco, während Mahoney sich ein Glas einschenkte. »Er war bei dieser ganzen Sache von Anfang an in der Opferrolle.« »Hören Sie auf«, sagte Mahoney grollend. »Es war sein Job, den Präsidenten zu schützen, und er hat versagt.« Im Halbdunkel hatte DeMarco das Gefühl, er würde in einer Höhle mit einem Bären reden. Mit einem verwundeten Bären. »Aber der Präsident war gar nicht das Ziel des Anschlags«, warf er ein. »Und Billy hat sich wegen seiner Mutter Sorgen gemacht. Wenn Sie diesen Morgan erlebt hätten, würden Sie verstehen, warum.« »Trotzdem«, sagte Mahoney. Dann saß er eine Weile bedrückt da. »Wissen Sie, warum ich ihn drankriegen wollte, Joe? Donnelly, meine ich.« DeMarco zuckte mit den Schultern. »Ich habe mir gedacht, dass er etwas gegen Sie in der Hand hatte.« »Nein. Erinnern Sie sich an Marge Carter und was vor fünf Jahren mit ihr passiert ist?« »Klar«, sagte DeMarco.
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Margaret Carter war eine Abgeordnete der Republikaner aus Mississippi gewesen. Obwohl sie der Opposition angehörte, hatte Mahoney sie gemocht und es geschafft, mit ihr zusammenzuarbeiten. Vor fünf Jahren war ein Artikel mit körnigen Fotos in einer Boulevardzeitung erschienen. Die Bilder zeigten die verheiratete Carter in einer eindeutigen Position mit ihrem Liebhaber – einem attraktiven Farbigen. Sie verlor ihren Sitz im Repräsentantenhaus und ihren Ehemann. Und dieser Ehemann, der nach allgemeinem Bekunden ein Arschloch war, erhielt das Sorgerecht für ihre zwei Kinder. »Die Fotos, die damals in diesem Skandalblättchen erschienen, wurden von Agenten geschossen, die für Donnelly arbeiten. Das weiß ich definitiv. Er war sauer auf Marge, weil sie in einem Ausschuss saß, der eine Kürzung seines Budgets entschieden hat. Deswegen hat dieser Mistkäfer das Leben einer Frau ruiniert, und er hat seine Behörde benutzt, um sich an ihr zu rächen.« Und DeMarco hatte die ganze Zeit geglaubt, Mahoneys Animosität gegen Donnelly hätte persönliche Gründe. Der Mann überraschte ihn immer wieder. »Wir können damit immer noch an die Öffentlichkeit gehen«, sagte DeMarco. »Ich habe genug Material für eine ausführliche Fernsehreportage, und wenn die Sendung gelaufen ist, wäre das FBI gezwungen, gegen Donnelly zu ermitteln.« Er sah, dass Mahoney den Kopf schüttelte. »An die Öffentlichkeit zu gehen wäre schädlich für das Land«, sagte Mahoney. »Was soll das heißen?« »Wenn Sie damit zu 60 Minutes oder einem anderen Fernsehmagazin gehen, wird Mike Wallace, oder wer auch immer die Moderation macht, dafür sorgen, dass Donnelly als der Schuldige dasteht, aber …«
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»Donnelly ist der Schuldige. Vielleicht war er nicht direkt in das Attentat verwickelt, aber er hat alles getan, um die Ermittlungen zu behindern.« »Ich weiß, aber es reicht nicht aus, um ihn ins Gefängnis zu schicken. Wenn Wallace mit ihm fertig ist, würde der Kongress einen Untersuchungsausschuss einsetzen. In den nächsten zwei Jahren müssten wir eine verdammte Anhörung nach der anderen durchführen. Der Dreck würde an allen kleben bleiben, am Secret Service, am FBI, am Ministerium für Heimatschutz. Alle würden …« »Sie hätten es verdient.« »Nein, das hätten sie nicht, Joe. Nicht die Angestellten, nicht die Agenten, nicht die Männer und Frauen, die die eigentliche Arbeit machen. Arschlöcher wie Donnelly und Simon Wall und Kevin Collier hätten es verdient, aber nicht die Agenten.« Mahoney, der sich für die kleinen Leute einsetzte. Manchmal verstand DeMarco einfach nicht, was in diesem Mann vor sich ging. »Wenn die Sache im Fernsehen breitgetreten wird und der ganze unglaubliche Schwindel bekannt wird – wie Agenten des Secret Service den Attentätern geholfen haben, wie Donnelly die Sache vertuscht hat, wie das FBI den falschen Schuldigen drankriegt … verdammt noch mal, denken Sie nach, Joe! Donnelly würde zweifellos seinen Job verlieren, aber dann würden wir noch mehr Zeit damit verlieren, den Secret Service auf Herz und Nieren zu überprüfen. Nein, keine Öffentlichkeit. Wenn ich Donnelly nicht ins Gefängnis bringen kann, gebe ich mich damit zufrieden, dass er gefeuert wird. Also werde ich dem Präsidenten empfehlen, so zu verfahren.« »Sie glauben, dass er es tun wird?« »Aber ja doch. Ich werde ihm alles erklären. Schön langsam. Und der Präsident wird auch nicht daran interessiert sein, dass die Medien von dieser Sache Wind bekommen.« »Warum nicht? Sein bester Freund wurde ermordet.« 343
John Mahoneys Gedankengängen zu folgen war wie eine nächtliche Fahrt über eine kurvenreiche Straße mit ausgeschalteten Scheinwerfern. »Denken Sie nach, Joe«, sagte Mahoney. »Der Junge im Weißen Haus hat eine Menge Profit aus dieser Sache geschlagen. Für jemanden, der nie gedient hat, ist ein solcher Schuss so gut wie eine Kriegsverletzung. Verdammt, der Kerl läuft immer noch mit dem Arm in der Schlinge herum, obwohl sein Arzt mir gesagt hat, dass er jetzt nur noch einen leichten Verband braucht. Nein, dem Präsidenten würde es bestimmt nicht gefallen, wenn herauskommt, dass er gar nicht das Ziel des Attentats war. Bei den Umfragen hat er zwanzig Prozentpunkte dazugewonnen.« Mahoney rieb sich die Hände – wie eine fette, weißhaarige Spinne, die ihr Netz webte. »Ja, der Präsident wird Donnelly feuern, und dann fängt der Ärger für ihn erst richtig an.« »Aha?« »Wenn er sich nicht mehr hinter seiner Position verstecken kann, wenn er keinen Zugriff auf staatliche Rechtsanwälte mehr hat, wird Pat alle möglichen juristischen Probleme bekommen. Alte Damen werden auf dem Bürgersteig vor seinem Haus ausrutschen. Leute, denen er auf die Schulter geklopft hat, werden einen schweren Rückenschaden davontragen. ExAgenten werden ihn wegen Diskriminierung und sexueller Belästigung und aller möglichen anderen Sachen verklagen. Der Mistkäfer wird den Rest seines Lebens im Gerichtssaal verbringen und am Ende keinen Cent mehr auf dem Konto haben.« John Mahoney war ein Mann, den niemand zum Feind haben wollte. »Aber das alles wird für ihn nicht so schlimm wie die Kündigung sein. Ohne seinen Job ist dieser Dreckskerl gar nichts mehr. Er hat sich völlig mit dem Job identifiziert, seine Arbeit ist sein Leben. Deshalb hat er sich nie zur Ruhe gesetzt, obwohl 344
er längst genug Geld hat. Er genießt es, mit seinen Agenten herumzuspazieren, sich mit dem Präsidenten zu treffen und sich von einfachen Polizisten den Arsch küssen zu lassen, wenn er in irgendeine Kleinstadt kommt. Und seit dem 11. September konnte er seine Lebensaufgabe erweitern, weil er nun jedem armen Schlucker mit einem arabischen Namen Ärger machen kann. Ja, wenn er seinen Job verliert, ist er nur noch irgendein kleinwüchsiger alter Kerl, der in der Apotheke Schlange stehen muss. – Wer weiß, vielleicht begeht er sogar Selbstmord.« Mahoney schien seinen Optimismus niemals zu verlieren. Er schaltete die Schreibtischlampe ein. Nun erkannte DeMarco, wie schlimm er aussah. Er sah so alt aus, wie er war. »Deshalb möchte ich, dass Sie noch heute zu ihm gehen, Joe. Sagen Sie ihm alles, was Sie über ihn herausgefunden haben. Sie dürfen gerne etwas übertreiben. Hauptsache, er kapiert, dass er bis zum Stehkragen in der Scheiße steckt.« »Vielleicht tritt er zurück, nachdem ich mit ihm gesprochen habe.« »Nein, das wird er niemals tun. Aber wenn Sie ihn weich geklopft haben und er dann den Anruf vom Präsidenten bekommt, wird er ohne Gegenwehr gehen.« »Sind Sie sich da ganz sicher?« »Er ist ein Schwächling, Joe. Das hat er 1963 in Texas bewiesen. Und was er vor und nach dem Mordanschlag unternommen hat, spricht die gleiche Sprache. Sie präsentieren ihm alles, was Sie haben, es wird eine Weile in ihm gären, und wenn dann der Anruf kommt, nimmt er seinen Hut.« Mahoney zog eine Schublade auf und kramte eine Weile darin herum. »Verdammt, meine Zigarren sind alle. Keine Wunder, dass ich solche Kopfschmerzen habe.«
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44 DeMarco saß mit Emma in der Bar des Vier Jahreszeiten in Georgetown und nippte an einem kobaltblauen Martini. Sie hatten sich hier getroffen, weil Emma den Pianisten angeblich so sehr mochte. Sie behauptete, er würde wie Tony Bennett klingen; DeMarco hatte ihn noch kein einziges Mal singen gehört. »Bist du dir sicher, dass du bei diesem Gespräch dabei sein möchtest, Emma?«, fragte DeMarco. »Wenn dieser Typ rauskriegt, wer du bist, könnte er dir das Leben zur Hölle machen.« »Soll er nur«, sagte Emma. »Ich habe nichts zu verbergen.« Dann sagte sie etwas, bei dem sich DeMarco an seinem Drink verschluckte. »Mein Leben ist ein offenes Buch.« In diesem Moment traf Donnelly ein, begleitet von vier seiner Agenten, allesamt stramme Einsfünfundachtziger, die ihren Chef haushoch überragten. Donnelly schien es zu lieben, mit einem Kontingent aus Leibwächtern unterwegs zu sein, als wäre er ein alternder Rockstar, der sich nur auf diese Weise vor den zahlreichen Autogrammjägern schützen konnte. Donnelly sah Emma und DeMarco und zeigte seinen Agenten, an welchem Tisch sie saßen. Die Gorillas musterten die beiden mit finsteren Blicken, dann verteilten sie sich im Raum. An diesem Ort wirkten sie wie Säulenkakteen im Regenwald. Sie bestellten sich nichts zu trinken, sie schauten sich mit verbissenen Mienen um und überprüften gelegentlich ihre unvermeidlichen Ohrhörer. Donnelly kam zu DeMarco. Sein Gesicht war eine Gewitterwolke. »Wer ist das?«, fragte er und zeigte auf Emma. »Das ist …«
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»Ich bin Emma«, sagte Emma mit einem strahlenden Lächeln. »Setzen Sie sich bitte, Sie kleiner Scheißer.« »Ich weiß zwar nicht, wer Sie sind, aber ich leite den Secret Service. Ich kann …« »Entschuldigen Sie mich für einen Augenblick«, sagte Emma. Sie stand auf und ging zum Pianisten, plauderte kurz mit ihm und legte dann einen großen Schein in die Schale für sein Trinkgeld. Donnelly war verwirrt, und da er nicht wusste, was er sonst tun sollte, setzte er sich. Als Emma an den Tisch zurückkam, begann der Pianist, »As Time Goes By« zu spielen. »Ich liebe dieses Stück«, sagte Emma, die wieder ihren Platz einnahm. »Jetzt wollen wir über Sie reden, kleiner Mann.« »Ich will einen Ausweis von Ihnen sehen, Sie verdammte Hexe«, sagte Donnelly. »Und zwar sof…« »1963«, sagte Emma, »waren Sie fünfundzwanzig Jahre alt und haben in der Außenstelle des Secret Service in Los Angeles gearbeitet. Am 23. November jenes Jahres wurden Sie nach Dallas geschickt, um bei der Aufklärung des Kennedy-Attentats mitzuwirken. Sie sind nicht geflogen – ich habe gehört, dass sie keine Flugzeuge mögen –, sondern in einem Dienstwagen von L.A. nach Dallas gefahren.« »Und?«, fragte Donnelly. Er war immer noch wütend, aber nun schwang ein unsicherer Ton in seiner Stimme mit. »In Odessa hatten Sie eine Panne, und Sie riefen die HighwayPolizei von Texas, die Sie mit einem Wagen abholen sollte. Der Streifenpolizist, der Sie nach Dallas mitnahm, war ein junger Mann namens Maxwell Taylor.« Donnelly sog scharf den Atem ein. Er wollte etwas sagen, aber Emma sprach unbeirrt weiter. »Auf der I-20, dreißig Meilen östlich von Abilene und hundertsechzig Meilen vor Dallas, stießen Sie und Taylor auf ein verunglücktes Fahrzeug. Ein gewisser Ivan Antonio Guerrero hatte sich mit seinem Wagen überschlagen. Die Motorhaube war schwer beschädigt, und neben der Straße fanden Sie einen toten 347
Hirsch. Mr. Guerrero hatte den Unfall nicht überlebt. Können Sie sich erinnern?« »Was zum Teufel soll …?« »Im Winter 1964 kamen Sie und Maxwell Taylor plötzlich und auf unerklärliche Weise zu Reichtum. Drei Wochen nach diesem Unfall auf der Interstate quittierte Taylor den Dienst bei der Highway-Polizei.« »Ich habe mein Vermögen geerbt …«, sagte Donnelly. »Ivan Antonio Guerrero war kubanischer Staatsbürger«, sagte Emma, »und es findet sich nirgendwo eine Erklärung, warum er sich im November 1963 in Texas aufgehalten hat. Aber nun frage ich mich, Mr. Donnelly, welche Schlussfolgerungen der Warren-Ausschuss gezogen hätte, wenn bekannt geworden wäre, dass Mr. Guerrero in seinem Wagen vier Millionen Dollar in bar mit sich geführt hat.« »Vier Millionen?«, sagte Donnelly. »Was zum Teufel soll dieser Unsinn?« Er gab sich alle Mühe, so zu tun, als hätte er noch nie von all diesen Dingen gehört, aber er war viel zu nervös, um glaubhaft lügen zu können. »Richtig, vier Millionen. 1964 erlebten Sie Ihre finanzielle Wiedergeburt, Mr. Donnelly. In jenem Jahr bezahlten Sie Steuern auf zwei Millionen Dollar und behaupteten, das Geld geerbt zu haben. Ich vermute, Sie hatten das Bedürfnis, eine plausible Erklärung für Ihren plötzlichen Reichtum zu liefern. Zufällig kaufte Maxwell Taylor zur gleichen Zeit seine ersten Grundstücke, aber im Gegensatz zu Ihnen schwieg er sich gänzlich über die Herkunft des Kapitals aus. Also habe ich ein bisschen herumgerechnet, Mr. Donnelly. Ich habe Ihre zwei Millionen Dollar aus dem angeblichen Erbe mal zwei genommen. So komme ich auf vier Millionen, die Sie in Guerreros Wagen gefunden haben, vorausgesetzt, Sie und Taylor haben das Geld gerecht aufgeteilt.« Neil hatte es bislang nicht geschafft, eine Verbindung zwischen Taylor und Donnelly nachzuweisen, aber er hatte 348
herausgefunden, dass Taylor 1963 bei der Highway-Polizei von Texas gearbeitet hatte. Als Emma von der rätselhaften Notiz in Montgomerys Unterlagen gehört hatte, kam sie auf die Idee, dass ein Mitarbeiter des Secret Service in dieser Zeit von Los Angeles nach Dallas geschickt worden sein könnte, um nach dem Attentat auf Kennedy die Ermittlungen zu unterstützen. Emma, Neil und DeMarco hatten sich vier Tage lang in Texas aufgehalten und kistenweise alte Dokumente durchgesehen. Mit Druck, Lügen und Erpressung hatten sie verschiedene Personen dazu gebracht, ihnen diese Dokumente zugänglich zu machen. Und schließlich hatten sie gefunden, wonach sie suchten – den Beweis für eine Verbindung zwischen Taylor und Donnelly. Am 23. November 1963 hatte der Polizist Maxwell Taylor den jungen Agenten Patrick Donnelly von Odessa nach Dallas gefahren. Diese an sich banale Geschichte wäre niemals ans Tageslicht gekommen, wenn Taylor keinen Bericht über Guerreros Unfall geschrieben hätte. Warum er die Angelegenheit gemeldet hatte, war bislang unklar. In Montgomerys Notizen wurde Patrick Donnelly an keiner Stelle erwähnt, aber Emma vermutete, dass der Schriftsteller die Herkunft von Taylors Reichtum ausfindig machen wollte und seine Karriere zumindest bis ins Jahr 1963 nach Texas zurückverfolgt hatte. Er musste entweder aus den gleichen Quellen, die auch Emma und Neil gefunden hatten, oder zum Beispiel durch Bekannte von Taylor erfahren haben, dass der Mann drei Wochen nach dem Autounfall eines kubanischen Staatsbürgers seinen Dienst bei der Highway-Polizei quittiert hatte. Falls Montgomery denselben Bericht gefunden hatte, in dem erwähnt wurde, dass Taylor mit einem Agenten des Secret Service unterwegs war, wäre er zur gleichen Schlussfolgerung wie Emma gelangt – dass sich dieser Agent wegen des KennedyAttentats in Texas aufhielt. Dass Guerrero eine große Summe Bargeld bei sich hatte und dass Taylor und Donnelly, zwei junge Männer aus ärmlichen 349
Verhältnissen, beschlossen hatten, das Geld, das sie an einem menschenleeren Highway im Wagen eines Unfallopfers gefunden hatten, unter sich aufzuteilen und niemandem davon zu erzählen – all das war reine Spekulation. Aber für Emma klang es genauso plausibel wie für Philip Montgomery. »Wer war Ivan Guerrero«, fragte Emma, zu Donnelly gewandt, »dieser Kubaner mit jeder Menge Kohle in seinem Auto? Ein zweiter Attentäter, der mit dem Geld flüchtete, das ihm ausgezahlt worden war? Oder war er nur ein Bote, und das Geld war für Oswald bestimmt – oder wer immer ihm sonst noch geholfen hat? Oder gab es vielleicht überhaupt keine Verbindung zu Kennedy?« »Oswald hat allein gehandelt«, murmelte Donnelly. Inzwischen hatte er seine Feindseligkeit verloren, wie ein Reifen, aus dem die Luft entwichen war. »Ich vermute, dass wir es niemals erfahren werden, Mr. Donnelly. Und zwar dank Ihrer Geldgier.« »Ich gehe jetzt«, sagte Donnelly. »Ich will mir diesen Unsinn nicht länger anhören. Sie können nichts von dem beweisen, was Sie behaupten.« Für DeMarco klangen seine Worte eher wie eine Frage, und er stellte fest, dass Donnelly keine Anstalten machte, sich von seinem Stuhl zu erheben. »Ich kann sehr wohl beweisen, dass Sie 1964 plötzlich auf unerklärliche Weise an eine größere Geldsumme gelangt sind, Mr. Donnelly«, sagte Emma. »Ich habe das Geld geerbt, verdammt noch mal!« »Von wem, Mr. Donnelly? Ach was, erzählen Sie das lieber dem FBI, wenn es Ihnen die gleiche Frage stellt.« »Das FBI wird mich überhaupt nichts fragen«, sagte Donnelly. »Ich leite den …« »Viel wichtiger ist, was ich anhand eines aktenkundigen Berichts aus dem Jahr 1963 beweisen kann. Es ist dokumentiert, dass Sie und Max Taylor sich kennen.« Emma beugte sich über den kleinen Tisch, bis ihr Gesicht beinahe Donnellys Nase 350
berührte. »Ich kann es definitiv beweisen, Sie kleiner Scheißer.« »Wir sind uns ein einziges Mal begegnet. Das bedeutet nicht …« »Sie haben Mattis in die Leibwache des Präsidenten eingeschleust, als Taylor Ihnen die Anweisung dazu gegeben hat«, sagte Emma. »Vielleicht haben Sie nicht gewusst, dass er einen Mordanschlag auf den Präsidenten plante, aber anschließend haben Sie sich die größte Mühe gegeben, die Ermittlungen zu behindern. Und warum? Weil Taylor Sie in der Hand hatte, Sie, den Leiter des Secret Service, wegen der Geschichte, die Sie beide miteinander verbindet. Sie wollten um jeden Preis vermeiden, dass Ihre Bekanntschaft mit Maxwell Taylor bekannt wird.« »Sie können nichts beweisen«, wiederholte Donnelly, schätzungsweise zum dritten Mal. Er hatte sogar Recht. Es gab keine Dokumentation der Kommunikation zwischen Taylor und Donnelly, dazu waren die beiden Männer viel zu vorsichtig gewesen. Es würde sich niemals nachweisen lassen, dass Donnelly und Taylor Geld in Guerreros Wagen gefunden hatten. Nicht einmal mit dem Finanzamt ließ sich Donnelly unter Druck setzen, denn er hatte seine Steuern ordentlich bezahlt. Die Herkunft des Geldes spielte keine Rolle. Nichts von alledem spielte eine Rolle. »Beweise sind etwas für Richter, Mr. Donnelly«, sagte Emma. »Aber Journalisten brauchen keine Beweise, um Ihnen das Leben zur Hölle zu machen. Wir haben eine überzeugende Indizienkette, die für Stone Philipps mehr als ausreichend ist, um sie in Dateline zu präsentieren. Dann stehen Sie plötzlich als Mittäter bei schwerem Raub, Mord und einer politischen Verschwörung da. Dann können Sie noch so sehr betonen, dass Sie niemals offiziell angeklagt wurden. Auf jeden Fall wird das FBI gezwungen sein, die Sache etwas gründlicher zu untersuchen. Wer weiß, was die Jungs in Taylors Haus finden? Vielleicht lässt sich dann eine Verbindung zwischen Ihnen 351
beiden nachweisen. Und Ihre Freunde im Kongress – nicht dass Sie welche hätten – werden Sie zu Anhörungen einladen, die vom Fernsehen übertragen werden. Sie werden erklären müssen, warum Sie gelogen haben, als Sie behaupteten, die Agenten des Secret Service mit einem Lügendetektor überprüft zu haben. Sie werden erklären müssen, warum Sie die Verbindung zwischen Dale Estep und Billy Mattis unter den Teppich gekehrt haben. Man wird Sie für den Rest Ihres Lebens immer wieder fragen, was Sie mit einem Verrückten aus Georgia zu tun haben, und welche Rolle Sie beim Mordanschlag auf den Präsidenten gespielt haben, obwohl Sie geschworen haben, sein Leben zu schützen.« Mahoney hatte DeMarco angewiesen, Donnelly nicht zu verraten, wer das wahre Ziel des Attentats gewesen war. Es war eine Sache, in einen Mordanschlag gegen einen Schriftsteller verwickelt zu sein, aber es war etwas ganz anderes, sich am Attentat auf einen Präsidenten zu beteiligen. Donnellys Gesicht war mit einem Mal aschfahl geworden. DeMarco hatte den Eindruck, dass er kurz vor einem Schlaganfall stand. »Nein«, sagte Donnelly. Mit zittrigen Beinen erhob er sich vom Stuhl. »Nein«, wiederholte er etwas lauter. »Sie können mir nichts anhaben. Niemand kann mir etwas anhaben. Ich leite den Secret Service.« Er verließ den Tisch. Zuerst ging er mit langsamen Schritten, um seine Würde zu wahren, doch schon kurz darauf rannte er so schnell, wie seine kurzen Beine es ihm erlaubten. Seine Leibwächter mussten sich Mühe geben, dass sie nicht den Anschluss verloren. »Das hat Spaß gemacht!«, sagte Emma.
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45 Der Sprecher des Repräsentantenhauses quälte eine Taube. Er und DeMarco saßen nebeneinander auf der Treppe vor dem Kapitol und blickten in westlicher Richtung auf das Washington Monument. Der Himmel war wolkenlos, und es ging gerade genug Wind, um die Fahnen rund um das Denkmal in fotogener Perfektion flattern zu lassen. Mahoney hatte eine Tüte ungeschälter Erdnüsse von einem Straßenverkäufer erworben und eine Erdnuss nur wenige Zentimeter neben seinen übergroßen Füßen auf den Boden geworfen. Nicht weit entfernt stand eine Taube, deren Schwanzfedern aussahen, als wären sie in einen Rasenmäher geraten. Die Taube hatte sich watschelnd der Erdnuss genähert, sich wieder entfernt, sich erneut genähert und wieder entfernt. Der Vogel war die Verkörperung der Unentschlossenheit, während das winzige Gehirn zu entscheiden versuchte, ob eine Erdnuss es wert war, sich in Stampfreichweite des riesigen weißhaarigen Tieres zu wagen, das nach gegorenem Getreide roch. »Sie waren wirklich bei seiner Pensionierungsfeier?«, sagte DeMarco. »Ja, verdammt noch mal. Und ich habe Andy Banks mitgenommen.« »Banks ist auch hingegangen?« »Ja. Ich musste ihm erst ein paar Sachen erklären, damit er versteht, warum wir getan haben, was wir getan haben, und warum er die Klappe halten soll. Anfangs gefiel es ihm gar nicht, diesem grundanständigen Kerl, aber dann hat er bald kapiert, dass ich Recht habe – und dass es besser ist, mich und den Präsidenten auf seiner Seite zu haben. Er ist wirklich ein grundguter Mann. Ich bin froh, dass er auf diesem Stuhl sitzt. Auf jeden Fall habe ich mich bei dieser Feier prächtig amüsiert. 353
Ich hätte sie um keinen Preis der Welt verpassen wollen. Der kleine Scheißer war so beliebt, dass nur etwa zwanzig Leute da waren. Viele Chefs haben wahrscheinlich ihre Sekretäre hingeschickt. Das Schöne daran war, dass die Sache in einem Saal stattfand, in dem Platz für dreihundert gewesen wäre. Da hat es jemand wirklich gut mit ihm gemeint.« »Warum gab es überhaupt eine Feier, wenn er gefeuert wurde?« »Hätte seltsam ausgesehen, wenn wir ihn völlig sang- und klanglos in den Ruhestand geschickt hätten. Die Presse hätte vielleicht nachgefragt, warum sich jemand, der so bedeutend ist wie er, keine anständige Verabschiedung verdient haben sollte.« Mahoney ließ eine zweite Erdnuss zu Boden fallen und verdoppelte die Versuchung für die Taube. Das Tier flatterte irritiert mit den Flügeln. Das war die Art des Vogels, gegen Mahoneys Grausamkeit zu protestieren. »Der Präsident ist aufgestanden, hat etwa drei Sätze gesagt, dann gab er Donnelly eine Anstecknadel und eine billige Uhr und eine dieser Urkunden, wie sie Postangestellte bekommen, die jahrzehntelang Briefe durch die Gegend geschleppt haben.« Eine dritte Erdnuss fiel aus Mahoneys Pranke. Nun schien die Taube völlig durchzudrehen und rannte aufgeregt auf den kleinen Taubenfüßen vor und zurück – zur Erdnuss hin, wieder zurück und wieder hin. Mahoney bemerkte offenbar nichts von den Qualen, die der Vogel litt. »Banks hat Donnelly die ganze Zeit nur angestarrt, als würde er versuchen, ihm mit seinem Blick die Haut von den Knochen zu lasern. Ich nicht. Ich gehe zu ihm, während die Leute den beschissenen kleinen Kuchen essen, den sie ihm geschenkt haben. Er steht ganz allein da und sieht aus, als hätte er Katatonie. Ich trete also zu ihm und sage ganz leise: ›Das war für Marge Carter, Sie kleiner Mistkäfer.‹ Und wissen Sie, was er sagt? Er sagt: ›Wer?‹ Ich hätte ihn beinahe erdrosselt, Joe.«
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Die Taube bewegte sich nun seitwärts auf die Erdnüsse zu, wie eine Krabbe mit Federn. Offenbar dachte sie, dieses Manöver würde sie unsichtbar machen. Sie wagte sich bereits in den Schatten des riesigen Wesens und war nur noch wenige Zentimeter von den Leckerbissen entfernt. »Doch am Ende der Veranstaltung, als sich alle zum Gehen bereitmachen, kommt plötzlich diese Frau und schreit ihn an, genau vor den Journalisten. ›Ich werde allen sagen, was du getan hast, du Drecksack!‹, brüllt sie. Natürlich hat Donnelly keinen blassen Schimmer, wovon sie redet. Wie sollte er auch? Er ist ihr nie zuvor begegnet. Aber die Journalisten haben sich sofort um sie geschart.« »Wer war diese Frau?«, fragte DeMarco. »Der Anfang der langen Reihe von Prozessen, die Donnelly bevorstehen«, sagte Mahoney augenzwinkernd. Dann stieß Mahoney ein lautes Lachen aus und schlug sich auf die Schenkel, um seiner Heiterkeit zusätzlichen Ausdruck zu verleihen. Die Taube flog wie eine Explosion aus Federn auf, als hätte sie eine kleine Rakete im Hintern. Die zerrupften Schwanzfedern hätten beinahe Mahoneys kantiges Kinn gestreift. »Mann!«, rief Mahoney. »Was ist plötzlich in diesen blöden Vogel gefahren?« »Also wird das arme Schwein Edwards als Attentäter in die Geschichte eingehen«, sagte DeMarco, »und niemand wird je von der möglichen Verbindung zwischen Kennedy und einem toten Kubaner erfahren.« Mahoney wischte den Einwand mit einer Handbewegung weg. »Nein, ich habe letzte Nacht einen Bericht geschrieben. Ich lasse ihn im Kongressarchiv deponieren, mit dem Vermerk, dass er erst in fünfzig oder sechzig Jahren geöffnet werden darf. Können Sie sich vorstellen, was los ist, wenn die Sache bekannt wird? Ich wünschte, ich könnte dabei sein, um zu sehen, welchen Wirbel die Enthüllung verursacht.« 355
Bei seinem Glück wird Mahoney dann vermutlich sogar noch am Leben sein, dachte DeMarco. Mahoney stand auf und klopfte sich den Hintern ab. »Ich muss jetzt gehen. Habe ich Ihnen gesagt, dass heute mein Hochzeitstag ist?« »Nein.« »Ja, Mary Pat und ich sind jetzt schon seit fast vierzig Jahren verheiratet. Können Sie sich das vorstellen?« DeMarco beschloss, nicht auf diese Frage zu antworten. »Wie steht es mit Ihnen, Joe? Was hat ein attraktiver junger Mann für einen wunderbaren Freitagabend wie heute geplant?« »Ich treffe mich mit einer Bekannten. Sie arbeitet drüben im Innenministerium.« »Sehr gut. Es wird auch Zeit, dass Sie wieder ins Spiel zurückkehren. Besaufen Sie sich, legen Sie sie flach, haben Sie viel Spaß miteinander!« »Eigentlich will sie mir nur dabei helfen, ein paar neue Möbel auszusuchen«, sagte DeMarco.
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Danksagungen Ich möchte mich herzlich bei einer Reihe von Personen, die an der Veröffentlichung dieses Romans beteiligt waren, für ihre Unterstützung bedanken. Matt Williams von der Gernert Company danke ich für die harte Arbeit an den vielen Verträgen, und seinen Kolleginnen Tracy Howell für ihre Umsicht im internationalen Lizenzgeschäft und Karen Rudnicki für ihre Hilfe und Geduld bei meinen zahlreichen Fragen. Außerdem danke ich Abner Stein, Andrew Nurnberg und ihren Partnern, weil sie dafür gesorgt haben, dass das Buch in so vielen Ländern veröffentlicht wird! Ich hoffe, Ihnen eines Tages persönlich zu begegnen, um mich angemessen erkenntlich zeigen zu können. Im Verlag Doubleday bin ich meiner Lektorin Stacy Creamer zu Dank verpflichtet, weil sie das Manuskript erheblich verbessert hat, vor allem durch die Wendung, die sie am Ende hinzugefügt hat, außerdem Karla Eoff für ihre außergewöhnliche Leistung beim Auffinden von Tippfehlern und sprachlichen Unzulänglichkeiten und Tracy Zupancis für ihre Unterstützung eines Anfängers. Den meisten Dank schulde ich jedoch meinem Agenten David Gernert, der sich bereit erklärte, einen neuen Autor zu vertreten, für seinen grenzenlosen Enthusiasmus, für die Zeit, die er sich genommen hat, um mir zu helfen, das Manuskript zu verbessern, und für seine phänomenale Fähigkeit, andere davon zu überzeugen, dass dieses Buch unbedingt veröffentlicht werden müsse. David, dir habe ich es zu verdanken, dass ich jetzt das tun kann, was ich schon immer tun wollte.
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