Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt! DER FLUCH DER SCHWARZEN KATZE
R. L. LAFEVERS
Der Fluch der schwarzen Ka...
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Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt! DER FLUCH DER SCHWARZEN KATZE
R. L. LAFEVERS
Der Fluch der schwarzen Katze
R. L. LaFevers
Der Fluch der schwarzen Katze Mit Illustrationen von
Yoko Tanaka Aus dem amerikanischen Englisch von
Tanja Ohlsen
© 2008 Boje Verlag GmbH, Köln Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten Die Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel »Theodosia and the Serpents of Chaos« bei Houghton Mifflin Company, Boston Text © 2007 R. L. LaFevers Illustrationen © 2007 Yoko Tanaka Aus dem amerikanischen Englisch von Tanja Ohlsen Einbandillustration von Eva Schöffmann-Davidov Satz: Noch & Noch, Balve Gesamtherstellung: Verlags- und Medien AG, Köln Printed in Germany ISBN 978-3-414-82120-1 5 4 3 2 1
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www.boje-verlag.de
Für alle klugen Mädchen in der Welt, die es satthaben, dass ihnen nie jemand zuhört.
Und für Kate O’Sullivan, die wirklich sehr klug ist und nicht ein bisschen überheblich.
TEIL I
Mutter schickt eine Überraschung
17. Dezember 1906 ICH TRAUE CLIVE FAGENBUSH NICHT. Wie soll man jemandem vertrauen, dessen Augenbrauen so dicht und schwarz sind wie Bürsten und der nach gekochtem Kohl und Silberzwiebeln riecht? Außerdem hege ich den Verdacht, dass er etwas ausheckt. Und was noch schlimmer ist, ich glaube, er vermutet, dass ich etwas aushecke. Was ich in der Regel auch tue. Nicht dass irgendjemand einem elfjährigen Mädchen eher glauben würde als dem zweiten stellvertretenden Kurator – nicht einmal, wenn das Mädchen zufälligerweise die Tochter des Museumsdirektors ist und wesentlich klüger als die meisten anderen (das hat man mir zumindest gesagt; allerdings hatte ich nicht das Gefühl, als sei es als Kompliment gemeint). Wie ich das sehe, ist es Erwachsenen völlig gleichgültig, wie schlau Kinder sind. Sie halten einfach immer zusammen. Solange man nicht sterbenskrank oder tödlich verwundet ist, werden sie immer zu anderen Erwachsenen halten. Jedenfalls ist das hier mit Sicherheit der Fall. Mein Vater leitet das Museum für Legenden und Antiquitäten, das zweitgrößte Museum in London. Infolgedessen treibe ich mich die meiste Zeit in diesem alten Kasten herum. Das macht mir nichts aus. Wirklich nicht. Zumindest nicht viel. Auch wenn es ganz nett wäre, wenn sich Vater gelegentlich an meine Anwesenheit erinnern würde … 11
Auf jeden Fall habe ich eine Menge zu tun. Das Museum birgt viele Geheimnisse, und ich habe festgestellt, dass ich sehr gut darin bin, Geheimnisse zu lüften. Und Flüche aufzuspüren. Ihr wärt überrascht, wenn ihr wüsstet, wie viele von den Dingen, die in ein Museum kommen, mit einem Fluch belegt sind – und zwar mit einem bösen Fluch. Alte, dunkle ägyptisch-magische Flüche. Nehmt heute Morgen zum Beispiel, als eine Kiste von Mum geliefert wurde. Als die Klingel ertönte, lief ich zum Liefereingang hinunter. Dolge und Sweeney, die beiden Hilfsarbeiter des Museums, öffneten gerade die Tür zur Laderampe. Gelblicher Nebel drang in den Raum wie zerfließender Pudding. Draußen konnte ich den Kutscher erkennen, der sich auf die Finger blies und mit den Füßen stampfte, um sich warm zu halten, während er neben seinem Karren wartete. Seine Kutschlampen brannten und wirkten im dichten Nebel wie verschwommene Monde. Sweeney sprang von der Rampe und half ihm, eine Kiste von der Kutsche zu holen und hineinzubringen. Als sie an mir vorbeigingen, verrenkte ich mir den Hals, um das Etikett lesen zu können. Sie kam aus Theben! Das bedeutete, sie musste von Mum kommen. Ihre erste Sendung aus dem Tal der Könige! Die erste von vielen, höchstwahrscheinlich. Sobald sie die Kiste auf einem leeren Arbeitstisch abgestellt hatten, tippte sich der Kutscher an die Mütze und eilte zurück zu seiner Kutsche, um möglichst schnell fortzukommen. Dröhnend schlug Dolge die Tür hinter ihm zu. Mittlerweile waren die Kuratoren eingetroffen und wir alle sahen Vater beim Öffnen der Kiste zu. Während ich mich vorsichtig näher schlich, bemerkte ich, dass er mal wieder keine Handschuhe trug. In meinen eigenen behandschuhten Fingern juckte es vor Ärger. 12
»Ähm, Vater?« Er hielt inne, die Hände über der Kiste. »Ja, Theodosia?« »Hast du keine Angst, dass du dich an einem Splitter verletzen könntest?« Die anderen sahen mich verwundert an. »Unsinn«, gab er zurück. Natürlich ging es mir keineswegs um Splitter. Die bereiteten mir die geringsten Sorgen. Aber das wollte ich ihm nicht sagen. Da sich alle wieder auf die Kiste konzentrierten, huschte ich näher zu Vater, um ihn zu erreichen, bevor er tatsächlich berührte, was Mutter da auch immer geschickt haben mochte. Problemlos kam ich an Dolge und Sweeney vorbei, aber als ich mich an Fagenbush vorbeischlich, hielt ich den Atem an. Er sah mich böse an und ich starrte ebenso zurück. Kurz bevor er mit den Händen in die Kiste griff, trat ich zu Vater, griff in meine Schürze und ließ so unauffällig wie möglich ein kleines Schutzamulett aus meiner Tasche in seine gleiten. Dummerweise blieb mein Tun nicht unbemerkt. Er hielt inne und knurrte mich an: »Was zum Teufel tust du da?« »Ich will nur zusehen, Vater. Ich bin doch hier die Kleinste.« Um seine Aufmerksamkeit von mir abzulenken, neigte ich mich über die Kiste und versuchte hineinzusehen. »Was glaubst du, was hat sie uns diesmal geschickt?« »Nun, das versuche ich ja gerade herauszufinden.« In seiner Stimme schwang leichter Ärger mit. Dann vergaß er mich glücklicherweise komplett, als er mit großer Geste in die Kiste griff und die absolut hinreißende schwarze Statue einer Katze herausholte: Bastet, die ägyptische Fruchtbarkeitsgöttin. 13
Als ich sie erblickte, war es, als liefe eine Armee von Käfern mit eisigen Füßchen über meinen Rücken. Meine Katze Isis, die unter der Arbeitsbank geschmollt hatte, warf einen Blick auf die Statue, miaute laut und entschwand dann in unbekannte Regionen. Ich erschauderte. Wieder einmal hatte uns Mutter ein Kunstwerk geschickt, das vor alten, bösen Flüchen nur so triefte. »Alles in Ordnung, Theo?«, fragte Nigel Bollingsworth, der erste stellvertretende Kurator. »Du bekommst doch keine Erkältung, oder?« Besorgt sah er mich an. Der neben ihm stehende Fagenbush betrachtete mich, als sei ich irgendetwas Ekliges, das Isis hereingeschleppt hatte. »Nein, Mr Bollingsworth. Mir geht es gut.« Nun, abgesehen von der schwarzen Magie, die von dem neuen verfluchten Objekt ausging. Mutter erkannte natürlich nie, wenn so ein Ding verflucht war. Vater auch nicht. Keiner von beiden konnte so etwas je feststellen. Auch von den stellvertretenden Kuratoren schien niemand etwas zu bemerken. Außer dieser Ratte Fagenbush. Er sah die Statue mit leuchtendem Gesicht an und seine langen knochigen Finger zuckten. Da er die meiste Zeit über genauso aussah, war es schwer zu sagen, ob das eine Reaktion auf das Kunstwerk oder nur seine eigene eklige Natur war. Meiner Meinung nach war ich die Einzige, die die schwarze Magie erkennen konnte, die an den antiken Objekten haftete. Daher war es meine Aufgabe, die Natur des Fluches aufzudecken, der auf dieser Statue lastete, und herauszufinden, wie man ihn lösen konnte. Und zwar schnell. Denn wenn Mutter morgen ankam, hatte sie mit 14
Sicherheit noch viele weitere Kunstwerke mit sich. Und im Laufe der nächsten Wochen trudelten noch mehr Kisten hier ein. Wer weiß, wie viele der Stücke ebenfalls verflucht waren? Eine monatelange Beschäftigung für mich! Das einzig Gute daran war, dass ich dann meinen Eltern aus dem Weg gehen konnte. Sie neigen dazu, ungehalten zu werden, wenn ich ihnen in die Quere komme, und reden darüber, mich in die Schule zu schicken. Aber so konnte ich wenigstens einige Zeit mit Mum verbringen. Doch auch wenn Ahnungen und Instinkt als erste Teststufe gut und schön sind, musste ich logisch und wissenschaftlich vorgehen. So bald wie möglich musste ich einen zweiten Test durchführen. Die Gelegenheit bot sich, als alle den Lieferbereich verließen und zu ihren Pflichten zurückkehrten. Da ich keine Pflichten hatte, zu denen ich hätte zurückkehren können, konnte ich unbemerkt zurückbleiben. Ich ging zu einem der Regale an der Wand des Lieferbereiches und nahm eine kleine angeschlagene Kanope herunter. In solchen Tonkrügen wurden im alten Ägypten die Eingeweide der Verstorbenen, die man vor der Mumifizierung entnahm, separat beigesetzt. Diese hier war in arg beschädigtem Zustand angeliefert worden, und da sie nicht sonderlich wertvoll war, hatte sich niemand die Mühe gemacht, sie zu restaurieren. Ich hatte angefangen, darin Wachs zu sammeln (alte Kerzenstummel, Siegelwachs und Ähnliches), das ich viel für meine zweite Teststufe brauchte. Mit Wachs kann man sehr gut Heka oder böse Magie absorbieren. Ich nahm einige Wachsstücke aus dem Krug und legte sie vorsichtig im Kreis um den Sockel der Statue. Bis zum Abendessen hatte der gesamte Kreis von 15
Wachsstücken eine fiese grünschwarze Farbe angenommen. Verflixt! Ich glaube nicht, dass sich das Wachs jemals zuvor so schnell verfärbt hat. Jetzt musste ich noch einmal wiederkommen und einen dritten Test durchführen. Dummerweise brauchte ich dazu Mondlicht. Nur bei Mondlicht kann man die Flüche für das menschliche Auge sichtbar machen. Und natürlich kann man nur nachts etwas bei Mondlicht betrachten. Ich hasse das Museum bei Nacht!
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Der Mondlicht-Test
DER ZUFALL WOLLTE ES, dass es wieder einer dieser Abende war, an denen Vater so in die Arbeit vertieft war, dass er vergaß, nach Hause zu gehen. Es war der vierte Abend in Folge und passte mir zur Abwechslung mal gut in meine Pläne. Kurz vor Mitternacht wagte ich mich aus dem Personalraum ins Museum. Die Gaslichter waren heruntergedreht, sodass nur in regelmäßigen Abständen eine winzige blaue Kugel im Gang aufleuchtete. Das schwache Licht meiner Öllampe machte kaum Eindruck auf die mich umgebende Schwärze, aber dadurch ließ ich mich nicht abschrecken. Ich umklammerte die drei Schutzamulette, die um meinen Hals hingen. Vater sagt immer, dass die Fantasie mit mir durchgeht, aber die Wahrheit ist, dass man, wenn man in den dunkelsten Stunden der Nacht genau hinsieht (was ich zu vermeiden versuche), die gefährlichen Toten sehen kann – die Akhu und Mut –, die sich aus ihren Urnen und Sarkophagen erheben wie ein dichter, stickiger Nebel. Antike Magie und Worte der Macht sickern aus den obskuren Texten und Inschriften. Sie verstecken sich in den Ecken und lauern in den Schatten. Wie ich mich da 17
ohne irgendeine Art von Schutz hinwagen könnte, möchte ich wissen! Da ich kein Geräusch verursachen wollte, das die Aufmerksamkeit der Geister auf mich lenken konnte, ging ich auf Strümpfen und hatte bald eiskalte Füße. Natürlich hatte Vater die verflixte Statue aus dem Lieferbereich hinauf in sein Arbeitszimmer im dritten Stock bringen lassen. Dicht an der Wand schlich ich die gebohnerte Holztreppe empor, wobei ich vorsichtig die knarrenden Stufen vermied. Doch so leise ich auch war, die tiefen, endlosen Schatten um mich herum schienen immer größer und bedrohlicher zu werden. Ich war mir schmerzlich der menschlichen Überreste, der Knochen, Särge und geheiligten Relikte alter, längst vergessener Religionen bewusst, die mich umgaben. Im Licht meiner Öllampe hüpften und tanzten die Schatten wie grinsende Dämonen. Endlich erreichte ich den dritten Stock und betrat die Skulpturenhalle. Hier waren riesige ägyptische Statuen an den Wänden aufgereiht wie stets aufmerksame Wächter. Die majestätischen Gesichter von Pharaonen standen Seite an Seite mit geheimnisumwitterten Sphinxköpfen, von denen der kleinste sieben Meter hoch war und harte schwarze Schattenpfützen auf den Boden warf. Schnell eilte ich an den hoch aufragenden Statuen vorbei und gelangte an die Tür, die zur Ägyptischen Sammlung führte. Dort hielt ich inne und versuchte, mich zusammenzureißen. Obwohl ich so oft wie möglich durch die Ausstellung ging, konnte ich nie sicher sein, was mich da drinnen erwartete. Magie ist ein tückisches Geschäft und die Ägypter waren Meister auf diesem Gebiet. Einige Flüche schienen sich nach einem Vollmond oder an besonders unheiligen Tagen zu erneuern. 18
Andere waren nur zu bestimmten Jahreszeiten sichtbar oder wenn Sterne und Planeten in der richtigen Konstellation standen. Alles in allem besteht die ägyptische Magie aus einer schrecklichen Mischung von düsteren Möglichkeiten, und wenn ich damit zu tun habe, verlasse ich mich auf gar nichts. Ich holte noch einmal kräftig Luft, dann huschte ich durch den Raum, vorbei an den Ausstellungsvitrinen, ohne nach rechts und links zu sehen. Mit einem letzten Zittern erreichte ich die Tür zum Arbeitszimmer, riss sie auf und schlüpfte hinein. Der Raum war ebenfalls dunkel, aber fahles silbriges Mondlicht schien durch die Fenster. Und in diesem blassen Mondlicht stand die Statue von Bastet, über deren Oberfläche ein kompliziertes, bösartiges Muster von heiligen Worten und Symbolen waberte wie ruhelose Vipern. Manchmal hasse ich es, recht zu haben.
Als ich mich der Statue näherte, konnte ich das Symbol von Anubis, dem Gott der Unterwelt, und das für Seth, dem Gott des Chaos, erkennen. Da! Noch ein Symbol zog vorüber, eines, das ich noch nicht oft gesehen hatte, aber von dem ich glaubte, dass es die dämonischen Geister der ruhelosen Toten repräsentierte. Alle Hoffnung, dass es sich um einen kleinen, unbedeutenden Fluch handelte, schwand dahin. Hier hatte ich es mit einem besonderen Kunstwerk zu tun, das förmlich mit böser schwarzer ägyptischer Magie getränkt war. Das musste ich mir genauer ansehen. Das hieß, dass ich das schreckliche Ding anfassen musste. 19
Ich sah mich im Arbeitsraum um. Wenn die Hieroglyphen so umherschwärmten wie hier, boten Handschuhe nicht genug Schutz. Die Symbole versuchten immer, durch die Handschuhe in meine Hände zu dringen. Und wenn ich bitten darf, ich bin nicht allzu scharf darauf, dass sich solche Worte und Symbole böser Macht auf meiner Haut herumschlängeln. Auf Vaters Arbeitstisch fand ich einen alten Lumpen, den ich mir wie einen Extra-Handschuh um die Hand wickelte. Dann hob ich die Statue auf und brachte sie ans Fenster, um sie genauer betrachten zu können. Als ich die Statue an mich nahm, wurden die Symbole etwas langsamer. Ich konnte spüren, wie sie versuchten, an dem Lumpen vorbeizukommen, um sich in mein Fleisch zu bohren. Ich musste mich beeilen. Das Symbol für Apep, die Chaosschlange, zog vorbei, gefolgt von dem für Mantu, dem Gott des Krieges. Wie merkwürdig. Ihn hatte ich noch nie auf einem verfluchten Symbol gesehen. Und da waren noch mehr Symbole: Zeichen für Armeen und Zerstörung und … Direkt vor der Tür zum Arbeitszimmer knarrte eine Diele. Wie elektrisiert schoss ich durch den Raum, schubste die Statue wieder in ihr Regal und sah mich hektisch nach einem Versteck um. Es gab zwar viele dunkle Ecken, aber ich wollte etwas Handfesteres als das. In einer Ecke sah ich eine leere Kiste. Ich hüpfte hinein und deckte mich so gut wie möglich mit dem alten Verpackungsmaterial zu. Dort kauerte ich mich zusammen, wandte den Blick von der Tür und wartete ab. Vielleicht fragt ihr euch, warum ich den Eindringling nicht sehen wollte. Ich kann euch versichern, dass ich es gerne getan hätte. Aber ich habe lange genug unter den ruhelosen alten Geistern gelebt, um zu wissen, dass man, 20
wenn man Dinge ansieht, sein ganzes Ka, seine Lebenskraft, auf sie konzentriert, wodurch ihre Macht nur noch größer wird. Wenn dieser nächtliche Besucher von der übernatürlichen Sorte war, dann hieß, meine Lebenskraft auf ihn zu konzentrieren genauso viel, wie ihm mit einer brennenden Öllampe ins Gesicht zu leuchten. Meine Öllampe! Ich spähte durch einen Spalt in der Kistenwand und sah sie neben den Regalen stehen. Glücklicherweise war die Flamme ausgegangen. Leise in den Angeln quietschend, schwang die Tür auf. Auf der Schwelle hielten die Schritte inne, als ob die Person oder das Ding sich einen Überblick über den Raum verschaffen wollte. Dann knarrten wieder die Dielen, als jemand – oder etwas – hereinkam. Ich riskierte noch einen Blick durch den Spalt, gerade genug, um eine dunkle Gestalt mit einer Kapuze erkennen zu können. Schnell wandte ich mich ab und versuchte, mein klopfendes Herz zu beruhigen, das in meinen Ohren wie Donnerschläge hallte – das musste der Eindringling doch hören! Vor einem der Regale hielten die Schritte an – nur ein paar Zentimeter von meinem Versteck entfernt. Mit einem weiteren Blick sah ich, dass die große schwarze Gestalt das mittlere Regal betrachtete, wo ich die Statue von Bastet wieder hingestellt hatte. Als ich nach unten sah, bemerkte ich, dass unter dem langen Umhang der Gestalt zwei schwarze Schuhe hervorsahen. Sofort beruhigte sich mein Herzschlag etwas. Übernatürliche Wesen tragen keine Schuhe. Was auch immer das war – oder wer auch immer das war –, es musste ein Mensch sein. Was mir wesentlich lieber war als die Alternative. Dennoch führte jemand, der mitten in der Nacht im 21
Museum herumschlich, wahrscheinlich nichts Gutes im Schilde. Außer mir natürlich – ich hatte das Edelste aller Motive. Etwas zuversichtlicher geworden, riskierte ich noch einen Blick und sah, wie ein langer schwarzer Arm unter dem Umhang hervorkam. Mit der Bewegung wehte ein leiser Lufthauch zu mir herüber, der nach gekochtem Kohl und Silberzwiebeln roch. Clive Fagenbush! Bevor ich mich weiter darüber wundern konnte, quietschten erneut die Dielenbretter vor der Tür des Arbeitszimmers. Zischend sog Fagenbush die Luft ein und zog seine leere Hand zurück, trat dann hinter die Regale und presste sich flach an die Wand, sodass er außer Sichtweite war. Jetzt sah er genau in meine Richtung. Ich machte mich in meiner Kiste so klein wie möglich und wünschte mir, ich wäre unsichtbar. Der neue Eindringling rüttelte lautstark am Türknopf und versuchte nicht einmal leise zu sein. Mit sicherem, schnellem Schritt kam er ins Arbeitszimmer, tonlos vor sich hin pfeifend. Erleichtert sackte ich zusammen. Es war nur mein Vater auf einem seiner mitternächtlichen Spaziergänge. Er drehte das Gas an und tauchte das Zimmer in weiches gelbliches Licht. Ich fragte mich, ob Vater Fagenbush sehen konnte, und sah zu seinem Versteck hinüber, nur um feststellen zu müssen, dass er verschwunden war. Ich verdrehte mir den Hals, um zu sehen, wohin er gegangen war, konnte ihn aber nirgendwo entdecken. Dann erhaschte ich eine flinke Bewegung an der Tür, als er aus dem Arbeitszimmer schlüpfte. Mistkram! Er war 22
entwischt. Aber zumindest hatte er nicht Vater eins über den Schädel gezogen oder mein Versteck entdeckt. Während ich in der Kiste kauerte, wurde mir klar, dass ich einen guten Plan brauchte, um die Statue in die Finger zu bekommen, bevor sie jemand anderes holte. Erst überlegte ich, ob ich sie mit in mein Zimmer nehmen sollte, aber der Gedanke daran, diese grässlichen Flüche in meiner Nähe zu haben, während ich schlief, war unerträglich. Schließlich entschloss ich mich, sie noch in dieser Nacht zu verstecken und früh am Morgen zu holen, wenn Vater noch beim Frühstück war. Vater brauchte Ewigkeiten, um zu finden, wonach er gesucht hatte, aber schließlich ging er, machte das Licht aus und schloss die Tür hinter sich. Ich wartete noch ein paar Minuten, damit er auch sicher weg war. Nachdem sich meine Augen wieder an die Dunkelheit gewöhnt hatten, kletterte ich aus der Kiste und ging zum Regal. Mit dem Lumpen nahm ich die Statuette und legte sie in die Kiste, in der ich mich versteckt hatte. Ich warf etwas Verpackungsmaterial darüber, nahm meine Öllampe, die jetzt nutzlos und dunkel war, und suchte meinen Weg zur Tür. Vorsichtig sah ich in den Ausstellungsraum. Das Museum schien ungewöhnlich unruhig zu sein. Das Knirschen und Ächzen war lauter und häufiger zu hören als zuvor. Fest meine drei Amulette umklammernd, rannte ich durch die Ausstellungsräume. Im Vorbeigehen spürte ich, wie verärgerte tote Dinge raschelten und sich lange Schatten nach mir ausstreckten. Ich legte noch einen Zahn zu. Versteht ihr jetzt, warum ich das Museum nachts hasse?
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Arbeit
»THEODOSIA ELISABETH THROCKMORTON!« »Ja? Was ist?« Ich setzte mich auf und rieb mir den Schlaf aus den Augen. Vater stand in der Tür und sah mich verärgert an. »Nicht schon wieder der Sarkophag!«, sagte er. Huch! Normalerweise versuche ich genau aus diesem Grund, vor ihm aufzustehen. Aber wenn er die ganze Nacht aufbleibt, um seinen wissenschaftlichen Forschungen nachzugehen und gar nicht ins Bett geht, ist das ziemlich unmöglich. »Aber Vater. Ich mache doch nichts kaputt und hier zieht es am wenigsten.« (Außerdem war es der sicherste Ort, um den ganzen Flüchen zu entgehen, die nachts im Museum herumschwirrten, aber ich konnte mir schon denken, was er sagen würde, wenn ich ihm das erklärte.) »Schon, aber es ist ein kostbares Kunstwerk …« »Das ganz allein in einer Kammer steht, weil in der Ausstellung kein Platz dafür ist. Wirklich, Vater, ich bin ganz vorsichtig. Außerdem, wo soll ich denn sonst schlafen, wenn ich die ganze Nacht hier sein muss?« Netterweise zuckte er daraufhin wenigstens leicht zusammen. »Vielleicht in einem Sessel, oder auf dem 24
Teppich vor dem Kamin im Aufenthaltsraum für das Personal. Irgendwo anders als in einem verdammten Sarkophag!« Ja, aber an diesen Orten gab es keinen Schutz. In der Nacht vertraute ich einfach nicht allein auf den Schutz der Amulette vor der schwarzen Magie und den lästigen Geistern. Aber das konnte ich ihm natürlich auch nicht sagen. »Aber Vater, ich bin sicher, Men’naat hätte nichts dagegen.« »Wer zum Teufel …?« »Die junge Priesterin, der der Sarkophag gehört hat«, erklärte ich. »Sie diente im Tempel von Taweret, einer ägyptischen Göttin und Schutzherrin der Kinder. Überleg doch mal, wie viel leichter ich hier drin geschützt werden kann.« Er seufzte verzweifelt auf und schloss dann die Tür. Ich hätte noch weiter argumentieren können, aber ich wollte ihn nicht daran erinnern, dass ich eigentlich auch in der Schule hätte schlafen können, wo alle anderen Mädchen meines Alters waren. Dieses Thema versuchte ich so gut wie möglich zu vermeiden. Ich kletterte über die hohe Seitenwand des steinernen Sarkophages, der die Hälfte meines Zimmers einnahm. Na ja, eigentlich war es eher eine Kammer. Aber da sie nie jemand anderer nutzte, hatte ich sie ganz für mich allein. Es war gerade genug Platz für einen kleinen Schreibtisch und einen noch kleineren, zerbeulten Waschtisch, den Flimp, der Wachmann, für mich besorgt hatte. Er hatte auch ein paar Nägel in die Wand geschlagen, damit ich meine Kleider und Schürzen aufhängen konnte. Während ich mir kaltes Wasser ins Gesicht spritzte, stellte ich fest, dass ich die beste Gelegenheit verschlafen hatte, mich unbemerkt in Vaters Arbeitszimmer zu 25
schleichen. Ich musste unbedingt an die Statuette kommen. Und zwar bald. Ich sah auf die Uhr. Mutter würde in fünf Stunden und siebenundfünfzig Minuten zurückkommen und brachte sicherlich jede Menge neuer Kunstwerke mit. Wahrscheinlich würden in Kürze Schwärme von neuer, unbekannter Magie durch das Museum ziehen. Ich streifte mir fest die Handschuhe über und ging hinaus, um mich dem Tag zu stellen. Die nächste Gelegenheit bot sich, als Vater sein Arbeitszimmer verließ, um sich eine Tasse Tee zu holen. Normalerweise brachte ich ihm seinen Tee jeden Morgen um diese Zeit, aber heute hatte ich es nicht getan, in der Hoffnung, dass er schließlich aufgeben und selbst danach suchen würde. Und es hatte geklappt. Ich warf einen Blick ins Arbeitszimmer. Außer Kunstgegenständen aus jeder bekannten Zivilisation, die in unterschiedlichen Zuständen halb fertiger Restauration auf den verschiedenen Tischen lagen, schien der Raum leer zu sein. Doch auf halbem Weg zu der Kiste ließ mich eine widerliche Stimme erstarren. »Wo ist sie?« Ich drehte mich um. Clive Fagenbush stand genau neben der Tür, geradeso, als ob er mich erwartet hätte. »Wo ist was?«, fragte ich. »Die Statue.« Seine Augen wanderten von meinem Gesicht zu der Papyrusrolle in meiner Hand. Er kam auf mich zu und nahm mir den Papyrus ab. Gerade als ich den Mund öffnete, um zu protestieren, hörte ich eine bekannte Stimme: »Hey, Fagenbush, was ist da los? Gib Theo ihren Papyrus wieder!« Stirnrunzelnd trat Nigel Bollingsworth in den Raum. Habe ich schon erwähnt, wie sehr ich Nigel Bollingsworth bewundere? Ehrlich gesagt, ich glaube, wenn ich 26
groß bin, werde ich ihn heiraten. Aber das habe ich ihm noch nicht gesagt. (Vater meinte, ich solle es lassen. Genauer gesagt, als ich Vater davon erzählte, meinte er: »Und was macht dich so sicher, dass dich irgendjemand heiraten will, Fräulein Neugierdsnase?«) »Ich dachte, sie hätte etwas, was ihr nicht gehört«, murmelte Fagenbush. »Sie sehen doch, dass es nicht so ist. Nun gehen Sie und machen Sie die Ausstellung unten für die Klasse der Hedgewick-Schule für schwer erziehbare Jungen fertig, die für heute Morgen ihren Besuch angemeldet hat. Ich will, dass alles festgeschraubt wird. Sie erinnern sich sicher noch an ihren letzten Besuch.« Fagenbush verzog angewidert den Mund und schob mir die Papyrusrolle wieder in die Hand, dann drehte er sich auf dem Absatz um und ging. »Alles in Ordnung, Theo?«, fragte Nigel. »Ja, Mr Bollingsworth.« Ich sah an ihm hoch und legte so viel Dankbarkeit wie möglich in meinen Blick. »Vielen Dank auch.« Ich rieb mir das Handgelenk, damit er auch ja sah, wie eklig Fagenbush gewesen war. Ehrlich gesagt tat es auch ein ganz kleines bisschen weh. Er strahlte mich an. »Na, dann ist ja gut. Mach weiter.« Damit verließ auch er den Raum. Ohne weitere Zeit zu verschwenden, schnappte ich mir die Statue aus der Kiste, versteckte sie in der Papyrusrolle und ging zum Leseraum im ersten Stock. Die ganze Zeit über hielt ich sorgfältig Ausschau nach Fagenbush, aber er schien sich wieder unter seinem Felsen verkrochen zu haben.
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Aus dem Regen direkt in die … äh, Katze
ES IST JA GANZ GUT UND SCHÖN ZU WISSEN, dass etwas verflucht ist, aber man muss immer noch herausfinden, was zum Himmel man damit machen soll. Vater hat mir beigebracht, dass man, wenn alle Hinweise keinen Schluss zulassen, Nachforschungen anstellen muss. Jede Menge davon. Vater war natürlich nicht klar, mit welchen Studien ich meine Zeit verbrachte, aber Tatsache war und blieb, dass Nachforschungen mein einziges Mittel zur Verteidigung darstellten. Als ich noch sehr klein war und dem Museum meine ersten Besuche abstattete, machte es mir Angst, obwohl ich noch zu klein war, um zu verstehen, warum. Jetzt wusste ich natürlich, dass ich die bösen Flüche und die ruhelosen Seelen gespürt hatte, die hier herumgeisterten. Aber damals wusste ich nur, dass meine Eltern mich nicht mehr ins Museum kommen lassen würden, wenn sie von meiner Furcht erfuhren. Dann würde ich sie gar nicht mehr sehen! Also habe ich mir geschworen, meine Befürchtungen für mich zu behalten. Jahrelang glaubten meine Eltern, dass ich eine chronische Erkältung hatte, so sehr zitterte ich, wenn ich in die 28
Nähe des Museums kam. Ich weiß immer noch nicht, warum mir die Flüche und Geister nichts getan haben. Allerdings hatten wir einen ziemlichen Verschleiß an Kuratoren und Angestellten. Die meisten von ihnen erlitten bedauerliche Unfälle oder wurden sehr krank. Ein oder zwei von ihnen schienen völlig den Verstand verloren zu haben. Glücklicherweise teilten weder Mutter noch Vater das Schicksal der anderen Museumsangestellten. Der einzige Grund, den ich mir dafür vorstellen konnte, war, dass die Kunstwerke – und damit die Flüche und Geister – ohne meine Mutter für immer im Verborgenen begraben bleiben würden und somit nie die Gelegenheit hätten, Unheil unter der Menschheit anzurichten. Es schien fast, als ob sie ihr dadurch, dass sie sie in Ruhe ließen, dafür danken würden, dass sie sie freigesetzt hatte, obwohl sie davon natürlich keine Ahnung hatte. Vater war nicht ganz so glücklich. So hat er sich übrigens auch sein Bein verletzt. Er ist ganz böse alle drei Treppen hinuntergestürzt. Anschließend hat er gesagt, er hätte das Gefühl gehabt, als habe ihn jemand von hinten gestoßen. Und ich bin mir auch ganz sicher, dass das irgendjemand – oder irgendetwas – getan hat. Auch wenn ich der Meinung bin, dass sie mit ihm eher pfleglich umgingen, da er derjenige ist, der seine ganze Zeit damit verbringt, den Kunstwerken durch die Restaurierung wieder zu ihrem früheren Glanz zu verhelfen. Natürlich verstand ich nichts davon, bis ich alt genug war, um Lesen zu lernen. Dann begann ich alles zu erforschen, was wir im Museum hatten, in der Hoffnung, meine Furcht durch Wissen ersetzen zu können. Aber erst als ich die alten, halbvergessenen Bücher über altägyptische Magie entdeckte, begann ich zu verstehen. Nachdem ich sie gelesen hatte, wusste ich genau, 29
womit ich es zu tun hatte, und das war keineswegs beruhigend. Glücklicherweise führten die alten Texte auch Möglichkeiten auf, die Flüche zu entfernen oder aufzuheben. Langsam lernte ich alles über verschiedene Gegengifte und Heilmittel. Gelegentlich schlichen sich ein paar fatale Fehler ein, aber zumeist hatte ich Glück. Da ich so viel Zeit im Museum verbringe, habe ich eines der kleinen Büros für mich als Arbeitszimmer beansprucht, die neben dem Haupt-Leseraum liegen. (Unser Leseraum wird kaum genutzt, da die meisten für ihre Forschungen ins British Museum gehen.) Vater glaubt, dass ich hier lerne, und ich lasse ihn in dem Glauben. An diesem Morgen saß ich zwischen merkwürdigen, in Leder gebundenen Büchern, die mit Schnallen und Bändern zusammengehalten wurden, antiken Lehmtafeln mit langen Reihen von Hieroglyphen und Rollen aus Papyrus und Pergament, auf denen alte Priester und Zauberer ihre Aufzeichnungen festgehalten hatten. Schließlich konzentrierte ich mich auf Das verborgene Ägypten: Magie, Alchemie und das Okkulte von T. R. Nektanebos. Er scheint mehr über antike Zaubersprüche und Flüche aufgezeichnet zu haben als alle anderen. Ich biss kräftig in mein Marmeladebrot und begann zu lesen. Die verfluchten Statuetten sind häufig aus Basalt, einem harten schwarzen Stein, der mit der Unterwelt in Verbindung gebracht wird. Jetzt kam der schwierige Teil. Ich musste das Ding mit bloßen Händen anfassen. Aber zumindest schien kein Mondlicht und der Fluch schlief ruhig. Ich zog einen Handschuh aus und schnippte mit dem Fingernagel gegen die Statue. Es war kalter, harter Stein und definitiv schwarz. Um genau zu sein, sah sie sogar genauso aus wie die Abbildung im Buch. Ich zog den Handschuh wieder an und fuhr fort zu lesen. 30
Wenn die Statue mit den notwendigen Hieroglyphen beschrieben worden war, wurde sie mit magischen Sprüchen und Tinkturen umhüllt, die ihre Macht entfalten sollten, wenn sie mit den richtigen Mitteln aktiviert wurden. Vornehmlich wurde dies zur Heilung angewandt, gelegentlich aber auch zu üblen Zwecken. Wenn die Statue verfluchen statt heilen sollte, dann enthielt die Tinktur höchstwahrscheinlich Schlangenöl (von einer Kobra oder Natter), das dem Objekt einen besonderen Glanz verlieh. Wenn es verflucht ist, so sagte das Buch, dann riecht das Objekt schwach nach Schwefel. Flüche hatten einen besonderen Geruch und der war nicht gerade angenehm. Ich neigte mich vor und schnüffelte. Neben dem Geruch der Brombeermarmelade war es schwer zu erkennen, aber ich war mir sehr sicher, dass ich einen schwachen Schwefelgeruch an der glänzenden Oberfläche der Statue wahrnehmen konnte. Ich las weiter. Ich musste mich anstrengen, um die verblichene, krakelige Handschrift entziffern zu können, als plötzlich dunkle Wolken aufzogen und das wenige Licht, das durchs Fenster fiel, fast auslöschten. Um den Fluch aufzuheben, muss man ein kleines Abbild der Statue aus Wachs nachbilden, etwa vier Fingerbreit hoch. Am Fuß der Figur ritzt man die entsprechenden Hieroglyphen ein und erstellt dann aus den folgenden Zutaten eine Mixtur. Den angegebenen Spruch aufsagen, während man die Statuette damit einreibt. Sie wird den Bann lösen und den Zauber aktivieren, aber der Spruch, den man aufsagt, wird ihn in die kleine Wachsfigur lenken, die dann sofort den Flammen übergeben werden muss. Von höchster Wichtigkeit ist es, ganz auf den Spruch konzentriert zu bleiben, wenn man erst einmal damit angefangen hat. 31
Man beachte, dass Nektanebos nicht beschreibt, was passiert, wenn der Fluch aktiviert wird. Diese antiken Schreiber lassen immer das Wichtigste weg. Ehrlich gesagt mag ich keine Überraschungen, da die meisten hier eher bösartiger Natur sind. Wenn ich mich mit alten Flüchen und schwarzer Magie einlasse, ziehe ich es vor, zu wissen, wie schlimm es werden kann, wenn etwas schiefgeht. Nicht dass ich sicher bin, es wieder in Ordnung bringen zu können, aber es ist dennoch beruhigend, es zu wissen. Gerade in diesem Moment sprang Isis, die zusammengerollt von der kleinen Couch aus wachsam die Statuette betrachtet hatte, auf die Füße, machte einen Buckel und fauchte die Tür an. Ich knallte das Buch zu und sah mich nach einem Versteck für die Statue um. Schließlich ließ ich sie vom Tisch verschwinden und schob sie wieder in die aufgerollte Papyrusrolle. Die Tür flog auf und Clive Fagenbush trat ein. »Wo ist sie, du kleine Plage?«, fragte er mich. Man könnte meinen, der Mann verfolgt mich! »Wo ist was?«, fragte ich und biss in mein Marmeladebrot, weil ich wusste, dass ihn das anekeln und zu der Meinung verleiten würde, ich sei nur ein schmutziges kleines Mädchen. »Die Bastet-Statue. Wo ist sie?« »Geht es Ihnen immer noch da drum? Ich habe Ihnen doch gesagt, ich habe nicht die leiseste Ahnung, wovon Sie reden. Sucht Vater sie?« »Nein«, schnaubte Fagenbush. »Ihm ist noch gar nicht aufgefallen, dass sie nicht mehr da ist. Aber mir. Es ist ein besonders interessantes Kunstwerk und ich habe … Pläne … damit. Wo hast du sie hingetan?« 32
»Was soll ich denn mit einer Statuette?«, fragte ich und versuchte, so unschuldig wie möglich dreinzuschauen. Fagenbush machte zwei schnelle Schritte ins Zimmer, bis er direkt vor mir stand. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen und bildeten ein dickes schwarzes V über seinen Augen. Der Kohlgeruch, der ihn umgab, in Verbindung mit dem Schwefelgeruch, der von der Statue ausging, ließ meine Augen tränen. »Gib mir die Statue!« Ich hatte ihn noch nie so wütend gesehen und brauchte meine gesamte Willenskraft, um ihm standzuhalten. Ich würde nicht zurückweichen, egal wie sehr mir auch die Knie schlotterten. Ich bemühte mich, nicht zur Papyrusrolle zu sehen, knirschte mit den Zähnen und starrte zurück. »Falls Sie schwerhörig sind: Ich habe sie nicht!« Fagenbush holte so tief Luft, dass seine lange Nase zitterte. »Ich weiß, dass du lügst. Ich will diese Statue. Ich will, dass sie bei Sonnenuntergang wieder da ist, wo sie war. Hast du mich verstanden? Ich habe Pläne mit dieser Statue.« Er sah mich forschend an. »Und dazu gehört nicht, dass sich ein fieses, klebriges kleines Mädchen einmischt!« Er lächelte, aber es war ein kaltes Lächeln. »Das könnte sich allerdings ändern, wenn du dich nicht kooperativ zeigst«, meinte er unheilvoll. Dann stürmte er aus dem Raum, vor sich hin murmelnd: »Dieses Kind ist total verrückt.« Donnernd schlug er die Tür hinter sich zu, sicher, dass seine Drohung mich dazu bringen würde, zu tun, was er wollte. Fagenbush war furchtbar, aber wenn er zornig war, dann war er geradezu furchterregend. Ehrlich gesagt, diese neue Seite an ihm ließ mir vor Angst die Knie schlottern. Ich ging zur Tür und schloss sie ab. »Idiot«, flüsterte 33
ich, wütend darüber, dass ich mich überhaupt so über ihn aufregte. Der Drang, ein bisschen mit Isis zu kuscheln, war sehr stark, aber dazu hatte ich keine Zeit. Ich bückte mich, um sie kurz unter dem Kinn zu kraulen, und versprach mir, ganz lange mit ihr zu schmusen, wenn ich mit der Statue fertig war.
Hinter dem Schreibtisch zog ich eine Tasche voller fluchlösender Ingredienzien hervor und begann, darin zu suchen. Für alle, die es interessiert, habe ich eine Liste mit dem Inhalt zusammengestellt.
Empfohlene Zutaten und Geräte, um altägyptische Flüche aufzuheben Fäden ungebleichten Leinens oder Musselins in den folgenden Farben: Rot, Grün, Gelb, Weiß, Blau und Schwarz Mörser und Stößel Jede Menge Wachs, vorzugsweise weiß Spitzes Stöckchen, um das Wachs zu ritzen Gold- und silberfarbener Draht Zweige aus Weidenholz Verschiedene Kräuter, wie Katzenminze und Raute Weihrauch und Myrrhe 34
Rotwein Honig Milch Lattichsaft (aus Lattichblättern. Sie sind nicht leicht zu finden, daher kann man auch Kohl nehmen und ihn etwas verdünnen. Scheint zu funktionieren.) Steinchen, Kiesel und Muscheln in interessanten Größen und Formen Kleine Fischgräten oder Hühnerknochen Kleine Stücke von kleinen Naturprodukten wie Katzenzähnen, Stücke von Eidechsenhaut, einfach eine gute Sammlung solcher Dinge Kleine Felsstückchen und Halbedelsteine wie Quarz, Sandstein, Lapislazuli, Jaspis, Malachit, Karneol, Türkis und Alabaster Da ich wie eine Verrückte Wachs sammle, hatte ich mehr als genug, um ein kleines Wachsabbild anzufertigen. Nachdem ich die Kopie hergestellt hatte (die einer Katze nicht allzu ähnlich sah, sondern eher einem Baumstamm mit Ohren glich – was hoffentlich keine Rolle spielte), ritzte ich die richtigen Hieroglyphen in den Fuß ein und stellte sie hin. Aus meiner Tasche zog ich ein Glasröhrchen, öffnete es und roch daran. Rotwein. Den musste ich immer aus der Karaffe in Vaters Bibliothek klauen. Falls er jemals dahinterkam, dass etwas fehlte, würde ich Fagenbush die 35
Schuld geben. Lächelnd beim Gedanken an diese subtile Art der Rache, wühlte ich in der Tasche, bis ich eine kleine Musselintasche fand. Da man für so viele magische Rezepte das Kraut Raute braucht, habe ich immer einen kleinen Vorrat davon zur Hand. (Es wirkt gut, um böse Geister abzuwehren, und ist nützlich gegen die hysterischen Anfälle oder Beschwerden, die Flüche hervorrufen können.) Es ist höllisch schwer zu bekommen und verschlingt überdies mein ganzes Taschengeld. Flüche zu bannen, ist nichts für Feiglinge oder arme Schlucker. Dummerweise bin ich beides. In einem Mörser mischte ich die beiden Zutaten und zerrieb die Raute gut mit dem Stößel. Als ich fertig war, holte ich tief Luft und zog meine Handschuhe aus. Mit einem Bleistiftstummel zeichnete ich auf jede meiner Handflächen ein stilisiertes Auge, das sogenannte Horusauge, das angeblich schützende und heilende Kräfte besitzt, in der Hoffnung, dass es Schutz genug sein würde. Dann tauchte ich einen sauberen Lappen in die Mixtur und begann, sie auf die verfluchte Statue aufzutragen. Während ich die Worte aus dem Buch sang, achtete ich streng darauf, dass sich zwischen meinen Fingern und der Statue stets der Lappen befand. Bei der ägyptischen Magie sind bei jedem Fluch oder Zauber neben dem richtigen Rezept auch die Worte und ihre Anwendung von großer Bedeutung. Man muss sie richtig aussprechen und den angemessenen Tonfall treffen, damit sie wirken. Zumindest stand das so in den Büchern. Ich wusste, dass ich es richtig machte, denn die Statue begann zu zittern und der Schwefelgeruch wurde stärker. Die Hieroglyphen, die ich letzte Nacht gesehen hatte, stiegen wild durcheinanderflatternd an die Oberfläche. Gut 36
war, dass sie zurückschraken, wenn ich die Statue mit der Lotion berührte, als ob sie davor Angst hätten. Das war sicherlich ein gutes Zeichen. Als mir die Tinktur ausging, waren alle Symbole auf die Hälfte ihrer ursprünglichen Größe geschrumpft. Ich hörte mit dem Tupfen auf und trat, immer noch singend, zurück. Langsam versuchten sich die Hieroglyphen von der Oberfläche zu lösen, als ob ich sie mit meinen Worten rufen würde. Mit dumpfen Plopps lösten sie sich von der Statue und stiegen in die Luft auf, wo sie wie ein Schwarm wütender Bienen hingen. Ich streckte meine geschützten Handflächen aus. Der Schwefelgestank war jetzt überwältigend, und ich versuchte, die Machtworte zu sprechen, ohne die garstigen Dämpfe einzuatmen. Doch als ich zu dem Satz kam »Verschwinde, du ekliges Katzenvieh!«, protestierte unglücklicherweise Isis, indem sie mir mit den Krallen über den Knöchel fuhr. Erschrocken sah ich nach unten. »Du doch nicht«, sagte ich. Sobald ich es ausgesprochen hatte, hörten die summenden Symbole auf stillzustehen und strömten direkt auf meine Katze zu. In dem Augenblick, als sie sie berührten, fauchte sie, und jedes Haar an ihrem Körper stellte sich auf, als die Hieroglyphen an ihrem Fell entlangtanzten. Isis machte große Augen und legte eng die Ohren an. Ein unheiliges Grollen entrang sich ihrer Kehle. Plötzlich war sie nicht länger mein geliebtes Schmusetier, sondern eine Inkarnation des Bösen. War es das, was Nektanebos gemeint hatte, als er sagte, es sei von entscheidender Bedeutung, sich zu konzentrieren und Ablenkungen zu vermeiden? Der Fluch hätte von der Statue aufsteigen und in die Wachsfigur fließen sollen, 37
die ich dann hätte verbrennen können. Zumindest war es in der Vergangenheit so gewesen. Aber jetzt hatte ich keine Ahnung, was ich tun sollte. Und ich wagte nicht, Isis lange genug aus den Augen zu lassen, um im Buch nachzuschlagen. Die verzauberte Katze schlug erneut nach mir, diesmal allerdings mit der Kraft aller Furien der Hölle. Ihre Klauen schlitzten meine wollenen Strümpfe auf und schnitten mir schmerzhaft ins Schienbein. Sie machte einen Buckel, fauchte und versteckte sich dann schnell unter dem Bücherregal, von wo aus sie weiter leise, dämonische Klagelaute hervorstieß. Ich ließ mich auf einen Stuhl fallen und starrte das Regal an, dann wieder auf die schlanke Statue von Bastet, die nun so friedlich aussah, wie man es sich nur wünschen konnte. Was hatte ich getan? Die arme Isis! Umkehren. Das war es. Ich musste es rückgängig machen. Aber … man konnte es doch rückgängig machen, oder? Oh mein Gott. Und wenn der garstige Fluch auf mich übergegangen wäre? Mein Magen hob sich unangenehm. Lieber nicht darüber nachdenken. Als ich sicher war, wieder stehen zu können, eilte ich zu den auf meinem Tisch ausgebreiteten Büchern. Sicherlich gab es einen Weg, das wieder in Ordnung zu bringen. In diesem Augenblick begann die Uhr zu schlagen. Zwei Uhr! Wo war nur der Tag geblieben? Es war Zeit, Mutter abzuholen. Meine Freude über die Heimkehr meiner Mutter wurde durch die prekäre Lage, in der sich Isis befand, etwas gedämpft. Aber ich musste mich später darum kümmern, 38
was ich in der Sache unternehmen konnte. Ich schlug das Buch zu und nahm die vom Fluch befreite Statuette, die ich in ein altes Stück Pergament einrollte, damit ich sie oben wieder ins Regal stellen konnte. Auf halbem Weg aus dem Zimmer erinnerte ich mich daran, dass Vater wahrscheinlich Hunger haben würde, also ging ich zum Schreibtisch zurück, um die letzten Marmeladebrote in meine Tasche zu stecken. Mit einem letzten entschuldigenden Blick auf Isis ging ich hinaus. Vorsichtig hielt ich unterwegs Ausschau nach Fagenbush. Wer weiß, was er tun würde, wenn er mich mit der Statue erwischte? Wahrscheinlich würde er mir damit auf den Kopf hauen. Endlich erreichte ich Vaters Arbeitszimmer und bahnte mir meinen Weg durch umgefallene Dinosaurierknochen, halb offene Kisten, gesprungene Tonkrüge und eine kopflose Marmorstatue. Nachdem ich die Statuette an ihren Platz im Regal zurückgestellt hatte, machte ich mich auf die Suche nach Vater. Ich fand ihn an einem der Werktische, wo er versuchte, eine Tontafel von Mutters Ausgrabung zusammenzusetzen, die zusammen mit der Bastetstatue in der Kiste gewesen war. Die Stele war in sieben Stücke zerbrochen und scheinbar hatte er damit Schwierigkeiten. Geduldig wartete ich, bis er mich bemerkte. Da dies nicht geschah, räusperte ich mich. »Vater? Es ist Zeit, Mum vom Bahnhof abzuholen.« »Sobald ich hier fertig bin«, entgegnete er in einem Ton, als habe er mich überhaupt nicht gehört. Ich sah aus dem Fenster. Die Wolken hatten sich schließlich zusammengetan und ließen grauen Regen ab. »Ich glaube nicht, dass Mum so lange warten will.« Da er nicht antwortete, sah ich ihm über die Schulter. 39
Er versuchte, die Hieroglyphen auf der Tontafel zu entziffern. Neugierig beugte ich mich tiefer darüber. Ich liebe Hieroglyphen. Manche Leute zeichnen gerne und andere lieben Musik oder Puzzlespiele, aber ich mag am liebsten Hieroglyphen. Für mich ergeben sie immer ein völlig klares Bild, als ob sie unsere natürliche Art der Kommunikation seien. Aber Vater schien überfragt. »Hier«, empfahl ich und griff an seinem Arm vorbei. »Wie wäre es, wenn du dieses Stück hierhin legst und es dann um 90 Grad im Uhrzeigersinn drehst?« So. Vielleicht sah er jetzt, wie hilfreich ich sein konnte. »Theodosia, ich glaube nicht, dass du eine Ahnung hast, wie kompliziert das ist. Kein Kind kann erkennen, wie diese Stücke …« »So etwa.« Ich schob das letzte Stück an seinen Platz. »Hmmpf.« Er neigte sich vor, um die vollständige Stele zu begutachten. »Sei ein gutes Kind und bring mir etwas zu essen, bevor wir gehen, ja?« »Daran habe ich schon gedacht.« Ich zog die Marmeladebrote aus meiner Tasche und legte sie vor ihn auf den Tisch. Sein Gesicht hellte sich auf. »Oh! Sehr gut! Danke.« Er nahm einen Bissen und verzog dann das Gesicht. »Marmelade? Schon wieder?« Meine Laune sank. Immerhin war es etwas zu essen, oder? Außerdem hatte ich im Schrank nichts anderes gefunden. Wieder sah ich auf die Uhr. Meine arme Mutter musste sich schon fragen, was uns um Himmels willen passiert war. Aber Vater war schon wieder in die Betrachtung der Stele versunken. »Aber bedenket, dass sie sich fürchten müssen, auch nach seinem Tode«, las er, als die Uhr halb drei schlug. 40
»Komm schon, Vater! Mutter wird wütend sein wie eine nasse Katze!« »Oh!«, rief er, als er aus dem Fenster sah. »Regnet es etwa?« Ein lauter Donnerschlag erklang und ein Blitz zuckte über den Himmel, als sich der Regen in eine wahre Flut verwandelte. »Ein bisschen«, meinte ich.
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Merkwürdige Geschehnisse am Bahnhof Charing Cross
VOR DEM MUSEUM empfing uns ein tosender Sturm, der mir fast den schweren Wintermantel von den Schultern gerissen hätte. Der Himmel war von schweren Wolken verhüllt, die uns mit wütendem, beißendem Regen peitschten. Vater führte uns zur Kutsche, wo wir das Wasser abschüttelten und uns in die Kissen fallen ließen. Dann klopfte er mit dem Stock gegen das Kutschdach und wir schwenkten vom Bordstein in den Verkehr ein. Die Straßen waren voller Karren, Kutschen, Omnibusse und Automobile, die alle um die Vorfahrt stritten. Menschen mit großen schwarzen Regenschirmen huschten über die Straßen und bemühten sich, dem Unwetter zu entkommen. Ein Omnibus versuchte, einem Fußgänger auszuweichen, und wäre beinahe mit uns zusammengestoßen. Unser Fahrer fluchte, als die Kutsche heftig schwankte und ich gegen die Seitenwand knallte. »Pass doch auf, du Blödmann!«, rief der Fahrer. Als ich mich wieder aufsetzte, bemerkte ich, dass mich Vater unwillig ansah. »Wo ist denn dein Hut?«, 42
fragte er. »An deine Handschuhe denkst du immer. Warum nicht an deinen verflixten Hut?« Weil ich verfluchte Objekte nicht mit dem Kopf anfasse, wollte ich sagen. Aber das tat ich natürlich nicht. »Ich hasse Hüte. Es fühlt sich immer an, als ob sie meinen Kopf zerdrücken würden, sie quetschen und quetschen, bis sich mein Gehirn wie Brei anfühlt. Wie Porridge in einer zu kleinen Schüssel.« Vater runzelte die Stirn. »Wirklich, Theodosia. Du musst deine Fantasie in den Griff bekommen. Eines Tages holst du dir noch den Tod.« Warum bemerken Eltern einen eigentlich nur, wenn sie meckern wollen? Wenn man etwas richtig macht, ihnen zum Beispiel ihr Mittagessen bringt oder ihnen bei einem Rätsel hilft, dann tun sie so, als sei man unsichtbar. Aber mach einen kleinen dummen Fehler, wie den Hut zu vergessen, und sie lesen dir die Leviten. Ich sah aus dem Fenster und versuchte, nicht vor Ungeduld hin und her zu rutschen. Mutter war Ewigkeiten weg gewesen, und ich konnte es nicht erwarten, sie zu sehen. Meine größte Hoffnung war, dass sie so viel Heimweh gehabt hatte, dass sie schwören würde, nie wieder wegzugehen. Die meisten Mütter gehen nicht einfach monatelang von zu Hause fort, aber die meisten Mütter sind auch nicht so toll wie meine. Sie ist klasse und abenteuerlustig und superklug. Und Amerikanerin. Sie gibt nicht viel auf staubige alte Konventionen. Großmutter Throckmorton sagt, ich käme ganz nach ihr. Ich glaube nicht, dass sie das als Kompliment meint. Hoffentlich wollte Mutter sofort nach Hause und einen der gemütlichen, glücklichen Familienabende verleben, die ich so sehr vermisste. Ich war es ein wenig leid, immer im Sarkophag zu schlafen – ein oder zwei Nächte 43
lang ist das abenteuerlich, aber vier Nächte hintereinander sind eine Strafe. Mir gingen die sauberen Kleider aus, ich lechzte nach einer ordentlichen Mahlzeit und nachts gab es nie genug Decken. Die Kutsche hielt vor dem Bahnhof Charing Cross und wir stolperten auf die Straße. Vater konnte mich gerade noch festhalten, bevor ich in eine dreckige Pfütze fiel. Von der Menschenmenge hin und her geschoben, bahnten wir uns unseren Weg in den Bahnhof. Ich fühlte mich wie eine Billardkugel, die man auf dem Tisch herumrollt. Da ich fürchtete, Vater in dem Gedränge zu verlieren, fasste ich nach seinem Mantelzipfel. Vor ihm öffnete sich auf mysteriöse Weise ein Weg durch die Menge. Ich war mir nicht sicher, aber ich vermute, er benutzte seinen Stock (sachte natürlich), um die Leute dazu zu ermuntern, uns Platz zu machen. Nach einem besonders heftigen Schubs spürte ich plötzlich eine kleine kalte Hand neben meiner an Vaters Mantel. Schockiert sah ich, wie die Hand in seine Tasche griff und seine Brieftasche herauszog. Ohne nachzudenken griff ich nach dem schmutzigen Handgelenk. Die Brieftasche fiel in Vaters Tasche zurück und der Besitzer des Handgelenkes quiekte leise auf. »Verdammt! Lass mich los! Lass mich los! Nicht die Polizei rufen, Miss! Ich wollte sie doch nur ansehen und gleich zurücktun.« Der Quieker hatte eine Stupsnase und aus seinem rotzverschmierten Gesicht blickten mich zwei helle blaue Augen an. »Wolltest du nicht«, zischte ich, nicht bereit, ihn gleich einer Horde von Beamten zu übergeben. Denn eigentlich sah er aus wie ein Unglücklicher. (Mutter und Vater achten sehr streng darauf, dass man zu denen, die weniger glücklich sind als wir, freundlich sein muss. 44
Aber ich glaube nicht, dass das heißt, dass er Vater bestehlen durfte.) »Doch, wollte ich. Ehrlich.« Er zappelte heftig und riss an seinem Arm, um loszukommen. »Ich werde dich nicht verraten, aber halt dich von unseren Taschen fern, verstanden? Schwöre es!« »Ich schwör’s! Ich schwör’s! Jetzt lass mich schon los! Deine Fingernägel sind echt scharf.« Das waren sie eigentlich nicht, aber ich hatte sie sehr effektiv eingesetzt. Das war nicht sehr nett, aber Taschendiebstahl ist es auch nicht. »Schwöre es beim Grab deiner Mutter!«, verlangte ich ernst. Durch meine Arbeit im Museum habe ich gelernt, dass es eine sehr ernste Angelegenheit ist, wenn man auf jemandes Grab schwört. Er verdrehte die Augen und seufzte genervt auf. »Na gut. Ich schwöre beim Grab meiner Mutter.« »Also dann.« Ich ließ sein Handgelenk los. Er nickte mir kurz dankbar zu und war in der Menge verschwunden, bevor ich auch nur blinzeln konnte. In diesem Moment blickte Vater über die Schulter zurück. »Theodosia, was machst du denn da hinten? Hör auf zu trödeln und beeil dich!« Im Bahnhof eilten wir den Bahnsteig entlang, an dem Mutter auf uns wartete. Sie war eine der wenigen Reisenden, die noch da waren, und saß auf einem ihrer größeren Koffer. Neben ihr stand noch ein anderer Stapel von Koffern und Kisten, der aussah, als ob er beim nächsten stärkeren Windstoß umfallen würde. Ich war so glücklich, sie zu sehen, dass ich am liebsten losgerannt wäre und sie umarmt hätte, aber sie war so lange fort gewesen, dass ich fast ein wenig schüchtern war. Doch dann schlang sie ihre Arme in einer 45
wundervollen Umarmung um mich, die alle Zweifel beseitigte. Der weiche Stoff ihres Reisekleides an meiner Wange und der vertraute Fliederduft ließen mir schrecklich klar werden, wie sehr ich sie vermisst hatte. Ich öffnete die Augen weit und zwinkerte schnell, um mir keine peinliche Blöße zu geben. Als Mum mich losließ, waren auch ihre Augen ein wenig feucht, und sie brauchte einen Augenblick, um ihren Hut zu richten. Vater hatte bereits ihr Gepäck begutachtet. »Meine Güte, Henrietta! Wie viele neue Kleider hast du dir denn eigentlich in Kairo gekauft?« Mutter legte ihm eine behandschuhte Hand auf den Arm. »Das sind doch nicht meine Kleider, du Dussel. Die Konkurrenz da drüben ist stark.« Sie sah mich vielsagend an, was bedeutete, dass sie das nicht vor mir besprechen wollte. »Ich hielt es für das Beste, einige der Kunstwerke so nah wie möglich bei mir zu haben, anstatt sie zu verschiffen.« Vater strahlte sie an. »Das ist mein Mädchen!« Mutters Blick wurde weich, und ich musste mich abwenden, damit ich nicht sah, wie sie rührselig wurden. Und das war auch gut so. Mittlerweile war der Bahnsteig fast ganz leer. Wenn er voll gewesen wäre, hätte ich den Mann sicher nie gesehen. Er versuchte auch stark, nicht bemerkt zu werden, was ihn natürlich nur umso auffälliger machte. Noch wichtiger war, dass ich in dem Moment, als ich ihn ansah, das Gefühl hatte, als krabble ein Käfer mit eiskalten Füßen über meinen Rücken. Es war dasselbe Gefühl, das ich hatte, wenn ich ein verfluchtes Objekt im Museum erkannte. Der Mann verbarg sich im Schatten und sah Mutter an wie ein hungriger Geier. 46
Nein, nicht Mutter. Ihre Koffer. Ich sah weg, bevor er bemerkte, dass er gesehen worden war, und zupfte Mum am Rock, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. »Mum, wer ist der Mann da drüben? Der sich da im Schatten herumdrückt«, fragte ich möglichst leise. »Der sich im Schatten herumdrückt!«, wiederholte mein Vater etwas zu laut. »Also wirklich, wo hast du so etwas nur her, Theodosia?« Ich starrte ihn wütend an und wünschte mir einen Augenblick lang, ich hätte den kleinen Kerl vorhin seine Brieftasche stehlen lassen. Mutter legte mir die Hand auf die Schulter und warf einen raschen Blick auf den Mann. In dem Moment, als sie sich zu ihm umwandte, sah er weg und studierte den Fahrplan, der vor ihm an der Wand hing. »Der? Ich weiß es nicht, Liebes. Er war mit mir auf dem Schiff aus Alexandria.« »Wieder einer deiner Verehrer, Henrietta?«, neckte sie Vater. »Unsinn«, wehrte Mutter ab und wedelte mit der Hand. Müssen sie das machen? Der Kutscher war nicht gerade glücklich, als er Mums Kisten und Koffer sah. Ich sah mich nach dem kleinen Taschendieb um, halb davon überzeugt, dass er versuchen würde, sich mit einem ganzen Koffer aus dem Staub zu machen, wenn sich die Gelegenheit bot. Schließlich schaffte es der Fahrer (mit Vaters Hilfe), alle Gepäckstücke zu verstauen. Es wurde etwas eng, aber wir hatten es ja nicht weit. Ich saß gleich neben Mutter, wegen der vielen Gepäckstücke dicht an sie gedrängt, was mir gar nichts 47
ausmachte. Schließlich musste ich sechs lange Monate nachholen. Ich versuchte, mich darauf zu konzentrieren, wie schön es war, dass sie wieder zu Hause war und dass auch ich eine Weile wieder nach Hause gehen könnte. Ich war die Abendessen aus der Dose satt. Ich wollte ein richtiges Bad und Sahnetee und Steak mit Bohnen zum Abendessen, mit einer ordentlichen Portion Pudding zum Nachtisch. Nach sechs langen Monaten dachte Mutter hoffentlich genauso. Im Augenblick war ich jedenfalls glücklich, mich an sie kuscheln zu dürfen, und überließ die beiden ihren langweiligen politischen Gesprächen. »Und, wie läuft es da drüben, Henrietta?«, fragte mein Vater. Mum setzte sich in den Kissen zurecht. »Nun, die Franzosen haben sich einigermaßen beruhigt. Die Amerikaner sind wie Welpen, die völlig außer Rand und Band überall herumspringen und nicht darauf achten, auf wen oder was sie treten. Und es wimmelte nur so von Deutschen.« »Irgendein Zeichen von von Braggenschnott?« »Ja, tatsächlich. Wenn man bedenkt, dass er bis über beide Ohren damit beschäftigt ist, Antiquitäten aus dem Land zu schmuggeln, hat er erstaunlich viel Einfluss erhalten. Aber ich kann mich nicht beklagen: Er hat mir geholfen, als ich versuchte, die örtlichen Behörden dazu zu überreden, dass ich meine Entdeckungen mit nach England nehmen darf.« »Ich weiß nicht, Henrietta. Mir gefällt es nicht, wenn du dich mit von Braggenschnott oder jemandem seines Charakters einlässt.« Abwehrend wedelte Mutter mit der Hand. »Unsinn. Ich kann ganz gut allein auf mich aufpassen.« 48
»Nun ja, gut. Auch in ihrem Land sind die Deutschen fleißig gewesen. Der Aufbau ihrer Flotte beunruhigt das ganze Ministerium. Der Justizminister hat ihnen einen weiteren Vertrag angeboten, aber Kaiser Wilhelm besteht auf Zugeständnissen, zu denen wir nicht bereit sind. Die Leute werden nervös. Sie sind sicher, dass er etwas vorhat.« Da mich dieses Gespräch gründlich langweilte, sah ich aus dem Fenster. Zu meiner Enttäuschung stellte ich fest, dass die Kutsche am Chesterfield Place vorbeifuhr und die Marlborough Street zum Museum nahm. Ich warf Vater einen fragenden Blick zu. Er streichelte mir den Arm: »Keine Angst, Theodosia. Wir bleiben nur kurz. Wir laden einige von den Kisten ab und deine Mutter möchte uns ein paar ihrer neuen Entdeckungen zeigen.« Nur kurz, denkste, dachte ich. Ich lehnte mich in die Kissen zurück und bereitete mich resigniert darauf vor, noch eine Nacht im Museum zu verbringen. Was wahrscheinlich auch ganz gut war, da ich mir schreckliche Sorgen um Isis machte. Ich musste einen Weg finden, diesen Zauberspruch rückgängig zu machen. Außerdem würde es der letzte Tag sein. Morgen mussten wir nach Hause zurückkehren. Zum einen waren es nur noch ein paar Tage bis Weihnachten, und selbst meine zerstreuten Eltern tauchten lange genug aus ihrer wissenschaftlichen Arbeit auf, um Weihnachten zu feiern. Der andere Grund war mein kleiner Bruder Henry. Er würde morgen von der Schule nach Hause kommen und er hasst das Museum. Er langweilt sich leicht und wird dann so eine Plage, dass meine Eltern sich darauf geeinigt haben, ihn dort möglichst überhaupt nicht hinzubringen. Natürlich sollte ich eigentlich auch in der Schule sein. 49
Ich bin auch das erste Drittel des Schuljahrs hingegangen und es war schrecklich langweilig und öde. Unglücklicherweise hatte ich wesentlich bessere Noten als alle anderen, was in deren Augen ein unverzeihlicher Fehler war. (Hätte ich geahnt, dass ich mich so unbeliebt machte, hätte ich die Tests absichtlich verhauen!) Als ich in den Ferien nach Hause kam, bin ich einfach nicht wieder zurückgegangen, und meinen Eltern fiel glücklicherweise gar nicht ein, mich wieder hinzuschicken. Besser gesagt, ich habe sie nicht daran erinnert. Als es Vater einmal in den Sinn kam, habe ich ihm erklärt, dass ich hier wesentlich besser Geschichte, alte Sprachen, Griechisch und Hieroglyphen lerne als in irgendeiner Schule. Das akzeptierte er zögernd und wir haben das Thema fallen gelassen. Vater ließ die Kutsche an der Laderampe vorfahren. Dolge und Sweeney kamen uns entgegen und brachten die Kisten und einige Koffer in den unteren Arbeitsraum und das Übergangslager. Dann wies Vater Dolge an, in die Kutsche zu springen und den Rest von Mums Sachen nach Hause bringen zu lassen. »Nun«, verkündete Mutter, als sich das Durcheinander beim Abladen geklärt hatte und Dolge fort war, »wer möchte ein paar neue Kunstwerke sehen?« Vater und ich stellten uns neben sie, während Mutter einen Schlüssel aus ihrer Brieftasche nahm und sich vor den ersten Koffer kniete. »Oh Alistair! Es war alles da, genau so, wie du es gesagt hast. Deine Forschungen waren einfach brillant!«, meinte Mutter. Ich war erleichtert, festzustellen, dass sie ihre Handschuhe noch anhatte, als sie sich mit dem Schloss abmühte. Auch Vater trug Handschuhe, wie ich bemerkte, als er sich vor Vorfreude die Hände rieb. Ich sah ihm prüfend ins Gesicht, ob sich dort eine Spur 50
von Bitterkeit zeigte. Es schien nicht so, obwohl er allen Grund dazu gehabt hätte. Vor langer Zeit, als ich erst zwei Jahre alt war, entdeckte Vater nach Jahren sorgfältigster Forschung den möglichen Fundort des Grabes von Thutmosis III., einem mächtigen ägyptischen Pharao aus der 18. Dynastie des Neuen Reiches. Er reiste mit meiner Mutter ins Tal der Könige (während ich bei meiner englischen Großmutter blieb, die mich wahrscheinlich in Spitzenkram kleidete und mich zwang, stundenlang stillzusitzen). Ihre Expedition war ein voller Erfolg, wenn man davon absieht, dass sie betrogen wurden und ein Mann namens Victor Loretti offiziell die Entdeckung für sich beanspruchte. Noch schlimmer war, dass das British Museum, für das Vater zu dieser Zeit arbeitete, ihn nicht unterstützen wollte und Loretti als den Entdecker akzeptierte. Daraufhin verließ Vater das stickige alte Museum und begann, für das Museum für Legenden und Antiquitäten zu arbeiten. Auf jeden Fall arbeitete Vater die letzten Jahre an einer Theorie über den Ort des Grabes von Amenemhab. Amenemhab war der Kriegsminister von Thutmosis III. und viele schreiben die großen militärischen Erfolge des Pharaos Amenemhabs Genialität zu. Nachdem Mutter zwei Jahre hintereinander mit leeren Händen nach Hause gekommen war, hatte sie schließlich das Grab von Amenemhab dicht neben dem von Thutmosis III. gefunden. Vater konnte es nicht erwarten zu sehen, was sie gefunden hatte. Ich im Übrigen auch nicht. Ich trat näher heran und fragte: »War das nicht gruselig, Mum, so in die alten versiegelten Gräber hinabzusteigen? Hattest du denn gar keine Angst?« 51
Bevor sie mir antworten konnte, kam Bollingsworth herein und lenkte sie ab. »Hallo, Mrs Throckmorton! Willkommen zu Hause!« »Danke, Mr Bollingsworth. Es ist schön, zurück zu sein.« Nigel rieb sich die Hände genau wie Vater. »Haben Sie uns viele neue Schätze mitgebracht?« »Jede Menge«, meinte Mum und warf den Deckel des Koffers mit dramatischer Geste auf. Ein furchtbares Durcheinander von üblen Gerüchen traf mich wie ein Schlag: der Kupfergeschmack von Blut, der Geruch nach Fäulnis und Verwesung, Holzrauch und Schwefel. Ich schnappte nach Luft und fast hätten meine Knie nachgegeben, so viel schwarze Magie drang vom Koffer in den Raum. Vater sah mich scharf an. »Was ist los, Theodosia?« »Sie … sie sind wundervoll, das ist alles«, erwiderte ich und versuchte, so normal wie möglich dreinzusehen. Konnte das denn sonst niemand spüren? »Aber sie hat doch noch nichts herausgeholt!« »Oh, aber ich weiß, dass sie toll sind. Mum findet immer die besten Sachen.« Er sah mich böse an, war aber sofort abgelenkt, als Mum ein großes, flaches Paket auszuwickeln begann. Nigel trat neben mich. »Hallo Theo. Geht es dir gut? Du siehst ein wenig blass aus. Möchtest du dich hinlegen oder so?« Ich schüttelte den Kopf und atmete schnell und flach, während Mutter die letzten Hüllen entfernte. Der Geruch ließ mich fürchten, dass es sich um den Körperteil einer Mumie oder etwas ähnlich Ekelhaftes handelte. Aber es war eine Tafel mit komplizierten Symbolen und der Zeichnung eines Mannes, der die Kronen des oberen und unteren 52
Ägyptens trug. Er hatte einen anderen Mann an den Haaren ergriffen und schwang ein großes Messer in der anderen Hand. Mein Magen machte einen Sprung, als mir klar wurde, dass er dem anderen Mann den Kopf abschlagen wollte. Unter seinen Füßen waren viele Reihen von Figuren dargestellt, die das gleiche Schicksal ereilt hatte. »Ich muss schon sagen«, meinte Vater, »das ist ja reichlich blutrünstig.« »Oh, und das ist noch nicht mal das Schlimmste«, gab Mutter zurück. »Neben ihm sieht Kaiser Wilhelm aus wie eine Krankenschwester.« Sie zog ein weiteres flaches Paket aus dem Koffer und wickelte es aus. Es handelte sich um ein langes, gebogenes Messer mit einer kleinen Anubisfigur auf dem Griff. Vater pfiff durch die Zähne. »Das ist wundervoll, Henrietta.« »Nicht wahr?«, strahlte Mum. »Und davon gibt es noch so viel mehr! Die Wände waren bedeckt von detaillierten Geschichten über alle Kriege, die Thutmosis geführt hat, seine Siege und seine Strategien. Es wird Jahre und Jahre dauern, das alles zu entziffern.« Ich bezweifelte das. Ich wettete, wenn sie mich es versuchen lassen würden, hätte ich es in ein paar Monaten geschafft. »Es enthielt alle möglichen Waffen«, fuhr Mutter fort. »Speere, Dolche und lange Schwerter, viele von ihnen sind mit Bildern von Apep und Mantu verziert.« Vater runzelte die Stirn. »Ich habe noch nie gesehen, dass die Chaosschlange und der Kriegsgott so zusammen dargestellt wurden.« »Ich auch nicht«, bestätigte Mutter. Ich hatte eine kurze Vision von der MantuHieroglyphe, die ich letzte Nacht gesehen hatte. »Ich 53
schon«, murmelte ich. Mum und Vater sahen mich an, als ob sie vergessen hätten, dass ich überhaupt da war. »Und wo willst du das gesehen haben, Theodosia?«, fragte Vater und zog überrascht die Augenbrauen hoch. Doch ich konnte ihm natürlich nicht sagen, dass es auf der Bastet-Statue gewesen war. »Äh … ich kann mich nicht mehr erinnern … tut mir leid«, sagte ich. Sein Gesichtsausdruck sagte mir deutlich, dass er glaubte, ich führe ihn an der Nase herum. »Auf jeden Fall«, fuhr Mutter fort, »enthielt das Grab von Amenemhab auch einen kleinen Tempel für den Kriegsgott Mantu.« »Wirklich?«, rief Vater. In den nächsten Minuten betrachteten wir fröhlich Stele auf Stele, Speere, Dolche und alle möglichen anderen Dinge. Dann kam Fagenbush und hätte uns sicher die Laune verdorben, doch Mutter bekam auf einmal ihren »Ich bin ja so schlau«-Ausdruck. Sie zog ihre Handtasche unter dem Arm hervor und hielt sie hoch, bis sie unser aller Aufmerksamkeit hatte. »Jetzt ratet alle mal, was ich hier drinhabe«, verkündete sie mit blitzenden Augen. »Oh Henrietta!«, beklagte sich Vater. »Das können wir unmöglich erraten. Erlöse uns doch!« Mum lächelte, öffnete die Handtasche und zog ein kleines, flaches Päckchen hervor. Sie legte es auf ihre immer noch behandschuhte Hand und begann es auszupacken. Glücklicherweise konzentrierten sich alle auf das Kunstwerk, sodass sie nicht sahen, dass ich heftig zitterte, als ob ich gerade eine schreckliche Erkältung bekommen hätte. Was auch immer sich in dem Päckchen befand, es 54
war mit etwas so Mächtigem und Bösem verflucht, dass es sich anfühlte, als säßen tausend beißende Ameisen auf meinem Körper. Als Mum die letzte Papierschicht entfernte, kam ein großer, aus einem Edelstein geschnittener Skarabäus, das beliebteste Glückssymbol der Ägypter, zum Vorschein. Goldene Flügel breiteten sich zu seinen Seiten aus, die mit Tausenden von Edelsteinen besetzt waren. Der Kopf bestand aus einem runden Karneol, so groß wie eine Kirsche, und ein kleinerer grüner Stein verzierte die Unterseite. »Das Herz Ägyptens«, verkündete Mum. »Direkt aus Amenemhabs Grab.«
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Der Junge, der dem Mann folgte, der dem Mädchen folgte
ZU BEGINN SEINER HERRSCHAFT ließ jeder Pharao zu seiner Krönung ein großes Herzamulett für sich anfertigen. Man nannte es das Herz Ägyptens, weil die Gesundheit und das Wohlergehen des Pharaos und das Ägyptens eins waren. Nach seinem Tode sollte es dem Pharao auf den Leib gelegt werden. Das Herz Ägyptens von Thutmosis III. war nicht in seinem Grab gewesen, und seit Jahren hatte man sich den Kopf darüber zerbrochen, wo es wohl sein könnte. »Ja«, sagte Mutter, die vor Stolz fast platzte, »es war gar nicht in Thutmosis’ Grab, sondern die ganze Zeit in dem von Amenemhab.« Als Mum Vater den Skarabäus gab, warf ich einen Blick auf Fagenbush. Sein Gesicht glühte förmlich vor Gier und Aufregung. Den meisten Leuten steht es ja ganz gut, wenn sie so leuchten. Aber nicht Fagenbush. Er sah noch fürchterlicher aus als sonst, als ob sein Glühen direkt von den Höllenfeuern kam. Mum nahm Vater das Herz Ägyptens aus der Hand und packte es wieder ein. Dann steckte sie es in ihre 56
Handtasche und klopfte vielsagend darauf. »Das werden wir erst mal hier drin aufbewahren, nicht wahr, Alistair?« »Auf jeden Fall.« Die Erwachsenen begutachteten weiter Mutters Ausbeute, und es war ehrlich gesagt ziemlich langweilig, die ganzen Ohs! und Ahs! zu hören, während ich ständig gesagt bekam, ich solle meine Finger davon lassen. Außerdem verursachten mir die ganzen Flüche pochende Kopfschmerzen und machten mich unruhig. Ich sah auf die Uhr und stellte fest, dass es fast Teezeit war. Mit etwas Glück konnte ich meine Eltern dazu überreden, mich zu einem Laden gehen zu lassen, damit ich etwas für ein vernünftiges Essen einkaufen konnte. Der einzige Haken an der Sache war, dass Fagenbush dann einige der neuen Stücke vor mir zu sehen bekommen würde. Wahrscheinlich würde er versuchen, sie beiseitezuschaffen, bevor ich zurückkam. Und wie ich ihn kannte, würde er sich die mit den schlimmsten Flüchen herauspicken. Da hatte ich plötzlich einen Geistesblitz. »Oh, Mr Bollingsworth?«, fragte ich möglichst beiläufig, was immer die Aufmerksamkeit meines Vaters erregt, wenn er gerade zuhört. »Ja, Theo?« Nigel sah von einer Schachtel mit wächsernen Uschebti auf, die er gerade geöffnet hatte. »Ist eigentlich die Klasse von der Hedgewick-Schule für schwer erziehbare Jungen schon weg?« Nigels Gesicht verzog sich, als er an die Bande wilder Schuljungen dachte, die am Nachmittag in das Museum eingefallen war. »Oh mein Gott. Ich habe keine Ahnung. Ich glaube, ich sollte lieber nachsehen. Sicherstellen, dass sie nichts kaputtgemacht haben oder ein legendäres Schwert haben mitgehen lassen oder so etwas.« 57
Ich kam zu ihm und stellte mich neben die Schachtel, die er gerade betrachtet hatte. »Was ist das?«, wollte ich wissen. Ich wusste genau, dass es Uschebti waren, ein üblicher Bestandteil jedes ägyptischen Grabes, das etwas auf sich hielt. Die Figuren aus Wachs und Ton wurden mit dem Verstorbenen beigesetzt, um die körperlichen Arbeiten zu verrichten, die dem Toten im Jenseits eventuell abverlangt wurden. Doch als ich näher kam, stellte ich fest, dass diese Uschebti sich deutlich von anderen unterschieden. Zum einen sahen sie recht bedrohlich aus. Und jeder trug eine Waffe in den kleinen tönernen Armen: Speer, Dolch, Schwert, alle trugen ein tödliches Gerät. Sehr merkwürdig. Mit einem schnellen Blick auf Fagenbush fragte ich Bollingsworth: »Sind das Puppen? Haben die Mumienkinder damit gespielt?« Fagenbush hob den Kopf und richtete seine kleinen Knopfaugen auf mich. »Du lieber Himmel, nein!«, rief Nigel, entsetzt über mein Unwissen. »Sie sind eigentlich sehr interessant … Augenblick mal. Clive, würden Sie bitte nachsehen, ob diese schwer erziehbaren Kinder auch nichts anstellen?« Das hatte ich gehofft! Welcher erste stellvertretende Kurator würde sich um einen Haufen ungezogener Schulkinder kümmern, wenn das genauso gut ein zweiter stellvertretender Kurator machen konnte? Ich blinzelte durch die Wimpern, während Fagenbush mir Blicke wie Dolche zuwarf. Er wusste genau, dass es mir darum gegangen war, ihn loszuwerden. Ich lächelte ihn zuckersüß an. »Danke sehr, Mr Fagenbush. Ich bin ja so neugierig auf diese Puppen.« Mit einem Knurren warf er den Deckel der Kiste zu, die er gerade geöffnet hatte, und stürmte hinaus. 58
»Nun, Theo«, begann Nigel. »Diese Figuren sind Uschebti. Sie wurden verwendet, um … Theo? Also, Theo?« Aber ich wühlte schon geschäftig in dem Verpackungsmaterial der Kiste, die Fagenbush gerade geöffnet hatte. »Willst du denn nichts über die Uschebti wissen?«, wunderte sich der arme Bollingsworth, doch bevor ihm klar wurde, was ich getan hatte, rief ich: »Kommt euch das ansehen! So etwas habe ich noch nie gesehen. Ihr etwa?« Sofort waren die Uschebti vergessen (Gott sei Dank!), und Nigel kam angelaufen, um zu sehen, was ich gefunden hatte. Er fuhr mit der Hand durch die kleinen schwarzen Stückchen. (Ich wünschte wirklich, diese Kuratoren würden es lernen, Handschuhe zu tragen!) »Seltsam«, murmelte er. »Nicht wahr?« Ich ließ sie durch meine Finger gleiten (die natürlich ordentlich bekleidet waren). Es waren kleine schwarze Steinchen – aus Basalt oder Onyx, glaube ich – und alle sehr exakt geformt, obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, was sie darstellen sollten. »Korn«, erklärte Mum, als sie mit Vater zu der Kiste trat. »Sie sollen aussehen wie Getreidekörner. Roggen, Weizen, sogar Reis. Ich habe so etwas noch nie zuvor gesehen«, gab sie zu. »Aber warum ist es schwarz?«, fragte ich. »Ist Korn nicht eher, nun ja, kornfarben?« »Ich weiß auch nicht, warum sie die Körner nicht aus Sandstein oder Speckstein oder anderem, hellerem Material geschnitten haben. Vielleicht finden wir es heraus, wenn wir die Funde untersuchen.« 59
»Da wir gerade von Getreide reden«, warf ich ein, weil mir mein Hunger wieder einfiel, nun, da Fagenbush versorgt war. »Kann ich zum Laden gehen und uns etwas zum Abendessen holen? Ich sterbe vor Hunger. In den letzten beiden Tagen gab es nur Marmeladebrote.« »Oh mein Liebling, natürlich.« Mum stieß Vater an. »Alistair, du kannst nicht zulassen, dass sie immer nur solches Zeug isst.« »Ich … wir … wir hatten hier viel zu tun, weißt du, Henrietta«, stammelte Vater und sah betreten drein. Um ihn etwas aufzumuntern, fragte ich: »Soll ich dir ein paar schöne fette Pasteten holen, Vater? Ich weiß, wie gerne du sie magst.« Augenblicklich hellte sich seine Miene auf. »Ja, sicher, das wäre schön!« Ich streckte die Hand nach Geld aus. Vater kramte in seinen Taschen, legte mir ein paar Shilling in die Handfläche und wandte dann seine Aufmerksamkeit dem Zeremonialdolch zu, den er gerade aus einer von Mums Kisten gezogen hatte. Ich warf einen Blick auf den immer dunkler werdenden Himmel. Wenn ich mich beeilte, ich meine, wirklich beeilte, dann konnte ich zurück sein, bevor es dunkel wurde. Vielleicht. Ich rannte durch den Arbeitsraum und stampfte die Treppe hinauf. »Vergiss deinen Mantel nicht!«, rief mir Vater nach. »Und deinen Hut!«
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Der Regen hatte immerhin so weit nachgelassen, dass ich glaubte, ich könne es zum Laden und zurück schaffen, bevor die dunklen Wolken ihre zweite Angriffswelle starteten. Es war kalt und immer noch stieß der Wind die Leute hin und her. Aber es tat gut, draußen zu sein, weg von den übel riechenden Flüchen und Kunstwerken und Clive Fagenbush. Ein paar Blöcke hinter dem Museum wurden die Häuser und Läden kleiner und die Straßen schmaler. Die Wolken verdüsterten sich wieder, und ich stellte fest, dass ich mich beeilen musste. Erst in der Haddington Street hörte ich die Schritte hinter mir. Ich hielt ganz plötzlich an und tat so, als ob ich meinen Stiefel neu knöpfen musste, und die Schritte hielten ebenfalls inne. Langsam richtete ich mich auf und überlegte, was ich tun sollte. Die Straße war zwar nicht menschenleer, aber es waren auch nicht allzu viele Leute unterwegs. Ich machte noch ein paar Schritte und sah dann in ein Schaufenster. Während ich mir Bowlerhüte und Melonen ansah, hörte ich wieder die Schritte kommen und dann anhalten. Nach kurzer Überlegung entschied ich, am besten beim Pastetenbäcker Zuflucht zu suchen. Also rannte ich die Straße hinunter und seufzte erleichtert auf, als Pilkington’s Pies in Sicht kam. Ich riss die Tür auf und stürmte in den Laden, was die arme Mrs Pilkington sichtlich erschreckte. »Meine Güte, Liebes, hast du mich erschreckt. Warum hast du es denn so eilig?« Mrs Pilkington war eine wunderbare Frau, rund und prall wie die Waren, die sie verkaufte. Immer verströmte sie einen herrlichen Duft nach buttrigem Teig und würziger Pastetenfüllung, wie ein persönliches Eau de Toilette. »Ich habe nur Hunger, Mrs Pilkington.« 61
Sie warf mir einen wissenden Blick zu. »Ah ja. Sie haben dich wieder viel zu lange in diesem alten zugigen Museum eingesperrt, nicht wahr?« »Ja, Ma’am«, sagte ich nachdrücklich. »Und was soll es zum Abendessen geben, meine Liebe?« »Nun, Mum ist nach Hause gekommen, daher sollte es schon ein bisschen mehr sein, zur Feier des Tages.« »Das sollte es, Liebes. Wie schön, dass deine Mum wieder zu Hause ist.« Ich traf meine Auswahl und ließ mir im letzten Moment eine Pastete extra geben. Ich hatte wirklich Hunger. Ich nahm meine Einkäufe, ging hinaus und biss in die lockere Fleischpastete, an der ich fast erstickte, als ich mit dem lästigen kleinen Taschendieb zusammenstieß, den ich zuvor am Bahnhof Charing Cross aufgehalten hatte. »Du!«, sprühte ich, wobei mir die Krümel aus dem Mund schossen. Doch das ignorierte ich. Geschah ihm recht dafür, dass er mich verfolgt hatte. »Ach, was ist mit mir?«, fragte er und beäugte hochinteressiert meine Pastete mit seinen scharfen blauen Augen. »Warum bist du mir gefolgt? Lüg mich jetzt nicht an!« Der Kleine richtete sich zu seiner vollen Höhe auf, die gut fünf Zentimeter unter der meinen lag. »Ich lüge nie!«, behauptete er beleidigt. »Und ich habe nicht dich verfolgt, sondern den Kerl, der dich verfolgt hat.« Meine Knie wurden etwas weich. »Welcher Kerl, äh, welcher Herr?« »Der, der euch heute auch aus’m Bahnhof gefolgt ist. Weißt schon, der dunkle Kerl.« Ich konnte mir denken, wen er meinte. Den Kerl, der Mutters Koffer angestarrt hatte. »Aber warum?«, fragte ich. 62
»Keine Ahnung. Vielleicht habt ihr was, was er will.« »Nein, nein. Ich meine, warum bist du ihm gefolgt?« Ich sah ihn scharf an. »Bist du auf eine Belohnung aus?« Entrüstet trat er zurück, »’türlich nich! Hab nur gedacht, ich schulde dir was, Miss. Weil du mich am Bahnhof nich verpfiffen hast und so. Sticky Will zahlt immer seine Schulden.« Er betrachtete mein Päckchen. »Hm, dein Essen wird kalt.« Ich betrachtete die saftige Pastete in meiner Hand. Noch vor ein paar Minuten hatte es herrlich geschmeckt. Jetzt brachte ich keinen Bissen mehr hinunter. Außerdem betrachtete der Kleine sie so eindringlich, dass ich mich unwillkürlich fragte, wann er wohl das letzte Mal etwas gegessen hatte. »Hier«, sagte ich. »Magst du? Verfolgt zu werden hat mir irgendwie den Appetit verdorben.« Seine Augen begannen zu leuchten, aber er steckte die Hände in die Hosentaschen und scharrte mit dem linken Fuß. »Na, so hungrig bin ich auch wieder nicht. Wär aber wohl Sünde, es zu verschwenden, oder?« »Oh ja, sicher. Wahrscheinlich eine Todsünde.« »Na dann …«, meinte der Kleine. Mit heftigem Augenrollen, um mir ja klarzumachen, dass er mir nur einen Riesengefallen tat, nahm er die Pastete und schlang sie mit zwei riesigen Bissen hinunter. Was mich auf eine gute Idee brachte. »Ich gebe dir noch eine Pastete, wenn du dem Kerl weiter folgst, wenn ich weg bin, und herausfindest, wohin er geht«, bot ich ihm an. Wieder scharrte er mit den Füßen und versuchte, gelangweilt auszusehen, aber die Wirkung wurde ihm durch heftiges Magenknurren versaut. »Schätze schon. Hab eh nix Bessres vor.« Er wischte sich die Nase am Ärmel ab. 63
»Na gut. Hier, bitte.« Ich gab ihm noch eine Pastete. Nun, da wir ein Abkommen hatten und die Situation unter Kontrolle war, fühlte ich mich wieder besser. Er stopfte sich die Pastete in die Jackentasche. »Wenn ich es rausgefunden hab, soll ich dann zum Museum kommen?« »Oh. Äh, nein.« Ich war mir nicht sicher, ob Flimp, der Wachmann, ihn hereingelassen hätte. Außerdem hätte ich seine Anwesenheit kaum erklären können. »Aber ich bin morgen wieder am Bahnhof Charing Cross. Etwa um dieselbe Zeit. Können wir uns dann treffen?« »Wir seh’n uns!«, meinte er. Ich sah ihm nach, als er in den Schatten zwischen den Häusern verschwand. Ehrlich gesagt war es ein gutes Gefühl, eine Weile jemanden auf meiner Seite zu wissen. Auch wenn es nur ein Taschendieb war. Wenigstens einer gab mir Rückendeckung. Ich richtete mich auf und ging die Straße entlang. Dabei versuchte ich, möglichst nicht darüber nachzudenken, dass ich verfolgt wurde, aber das war schwierig. Türöffnungen gähnten wie dunkle Rachen und die Fenster schienen mich im Vorübergehen zu beobachten. Die Straßen waren leer, abgesehen vom alten Laternenanzünder, der begann, die Lichter anzuzünden, die schwach gegen die dichten Nebelfetzen anleuchteten, die sich auf die Straße herabsenkten. Auch mit den Geräuschen tat der Nebel seltsame Dinge und verstärkte das Knallen von Stiefelabsätzen hinter mir deutlich. Ich war mir nicht sicher, aber es hörte sich fast so an, als ob sie näher kamen. Gerade als ich mich darauf gefasst machte, den ganzen Weg zum Museum zurückzurennen, hörte ich das Rattern einer Kutsche. Ich blickte über die Schulter. Den Einspänner kannte ich doch! 64
Nun hatte ich zwei Möglichkeiten: Ich konnte mich von einem bedrohlichen Fremden durch die Straßen von London verfolgen lassen oder eine Fahrt mit Großmutter Throckmorton auf mich nehmen. Eigentlich hätte mir die Wahl nicht schwerfallen sollen, aber ihr kennt meine Großmutter nicht. Ich machte einen Schritt auf die Kutsche zu und winkte dem Fahrer. Es dauerte einen Moment, bis er mich erkannte, aber dann fuhr er an den Straßenrand. Als die Kutsche angehalten hatte, klopfte ich an die Tür. Von drinnen wurde ein Vorhang zur Seite gezogen und die arrogante Hakennase meiner Großmutter kam zum Vorschein. Sie runzelte die Brauen, als sie mich sah, und zog den Mund zusammen, als hätte sie zu viel Zitrone in ihren Tee getan. Ich blickte über die Schulter. Die Schritte waren verstummt. Hatte mein Verfolger aufgegeben? Oder wartete er außer Sichtweite in irgendeiner Tür? Würde er Großmutters Einspänner folgen? Würde Sticky Will ihm folgen? Der Fahrer sprang von seinem Sitz. »Hallo, Miss«, begrüßte er mich und öffnete mir die Tür. Großmutter steckte den Kopf hinaus. »Los, beeil dich. Du lässt ja die ganze kalte Luft herein! Du kannst mir alles erklären, wenn du drinnen bist.« Ich kletterte hinein und setzte mich vorsichtig auf den Rand des Sitzes gegenüber von Großmutter Throckmorton. In ihrer Nähe machte man es sich besser nicht allzu gemütlich. Sie klopfte mit ihrem Stock auf den Boden der Kutsche. »Ich möchte wissen, was du hier draußen ohne Begleitung zu suchen hast.« 65
Ich rutschte unruhig auf dem Sitz hin und her. Plötzlich wurde mir bewusst, wie schmuddelig ich aussehen musste. »Vater hat mich gebeten, etwas fürs Abendessen zu besorgen.« »Ohne Begleitung?« Sie war wirklich schockiert, wie ich befürchtet hatte. »Und wo ist deine Gouvernante?« Die hatte schon vor Monaten gekündigt. Sie war zu Tode gelangweilt, hatte sie gemeint. Sie hatte gehofft, dass es Teepartys und Tanzstunden geben würde, nicht jedoch, dass sie in einem alten Museum herumlaufen musste. Aber wenn Großmutter Throckmorton das herausfinden würde, hätte sie mir bis morgen Mittag eine neue Gouvernante besorgt. »Sie … äh, sie besucht eine kranke Verwandte«, behauptete ich. Großmutter sah mich von oben herab an und rümpfte die Nase. »Hmm. Ist deine Mutter endlich von ihrer Herumtreiberei nach Hause gekommen?« Ich knirschte mit den Zähnen. »Ja. Mutter ist heute Nachmittag aus Ägypten zurückgekehrt.« Großmutter Throckmorton sagt immer ganz schreckliche Dinge über Mutter. Sie glaubt, dass Mum viel zu modern und unkonventionell ist. »Sie hat ein paar wunderbare Kunstgegenstände gefunden«, sagte ich, um sie zu verteidigen. »Hmpf. Hat in alten staubigen Gräbern gebuddelt. Kann mir nicht vorstellen, dass es da viel Wundervolles gibt.« Ich ballte die Fäuste, aber ich ging nicht darauf ein. Schließlich hatte mich Großmutter Throckmorton gerade vor meinem Verfolger gerettet, auch wenn sie das nicht wusste. »Wann kommt dein Bruder, dieser Lausebengel, nach Hause?«, wollte sie wissen. 66
»Morgen.« Die Kutsche hielt an und der Fahrer öffnete den Wagenschlag. Ohne jemanden direkt anzusehen, meinte er: »Wir sind am Museum, Ma’am.« Ich sprang auf. »Ich danke auch schön fürs Mitnehmen, Ma’am.« »Das hoffe ich auch«, meinte Großmutter. Als ich aus der Kutsche kletterte, rief sie mir nach: »Ich werde mit deinem Vater über die Gouvernante reden!« Mistkram!
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Das gemütliche Familienessen, das nicht stattfand
GERADE ALS DIE DUNKELHEIT über Londons Straßen hereinbrach, kam ich wieder am Museum an. Zitternd stieg ich die Vordertreppe hinauf und schlüpfte hinein, bevor Flimp für die Nacht zuschloss. Kurz dachte ich daran, Vater und Mutter aus dem Arbeitsraum herauszulocken, aber dann fiel mir ein, dass der schnellste Weg, ihre Aufmerksamkeit zu erringen, der Geruch von Essen war. Als ich den düsteren Korridor entlangging, der zum Personalraum führte, schoss eine dunkle Gestalt aus dem Schatten. Mein Herz tat einen Sprung, als sich die Gestalt mit einem zornigen Fauchen an meine Schulter heftete. Vor Schreck war ich schon halb gelähmt, als ich feststellte, dass es kein richtiger Dämon war, sondern nur Isis. Ich konnte es noch immer nicht fassen, dass ich so einen Mist gebaut hatte. Ihr kleines Herz schlug fast so schnell wie meines und ihre Krallen gruben sich tief in meinen Mantel. Ihre Ohren lagen flach am Kopf an und sie rollte heftig mit den Augen. »Sscht, Isis, ist ja schon gut. Komm, wir holen dir ein Würstchen, ja?« Ich riss ein Stückchen Fleisch von einer der Pasteten ab und hielt es ihr hin. Sie hielt inne und für einen Moment lang blickte sie klar und 68
ich erkannte meine alte Katze wieder. Doch dann kehrte der wilde Blick zurück, und sie fauchte mich an, bevor sie wieder in den Schatten zurücksprang und verschwand. Ich musste meine Katze in Ordnung bringen. Und zwar bald. Das heißt, wenn ich sie einfangen konnte. Und wenn ich einen Weg fand, sie zu entfluchen. War das überhaupt möglich? Das herauszufinden würde meine dringendste Aufgabe nach dem Abendessen sein. Ich erreichte den Aufenthaltsraum fürs Personal, den wir als Familienzimmer nutzten, und packte das Essen aus, in der Hoffnung, dass der leckere Geruch bis zu meinen Eltern durchdrang. Zwei Minuten später tauchte Vater in der Tür auf. »Schon wieder da, Theodosia?« Schon? Ich hatte das Gefühl, Ewigkeiten weg gewesen zu sein, mit der ganzen Verfolgung und so, aber ich sagte nur: »Ja, Vater.« »Ausgezeichnet.« Er kam herein und setzte Wasser auf. »Mum kommt gleich.« »War die Reise dieses Mal wirklich gefährlich?« Die Frage schoss heraus. Es war mir gar nicht klar gewesen, dass ich daran gedacht hatte, bevor sie wie ein zappelnder Fisch auf dem Tisch landete. Vater sah mich an. »Wirklich, Theodosia. Wenn ich geglaubt hätte, dass deine Mutter in Gefahr ist, wäre ich selbst mit ihr gegangen.« Reizend! Dann wären beide meine Eltern weg gewesen. »Und außerdem kennt sich deine Mutter gut aus in Ägypten. Wenn sie will, kann sie ganz gut ein oder zwei Deutsche um den Finger wickeln. Wie dem auch sei«, meinte er streng, »du solltest keine Gespräche belauschen, die nicht für deine Ohren bestimmt sind. Nächstes Mal müssen wir wohl vorsichtiger sein.« 69
Also ehrlich. Was war ich denn? Ein Kissen in der Kutsche? Wie hätte ich denn ihr Gespräch nicht mit anhören können? Deshalb frage ich meine Eltern so selten etwas. Wenn sie merken, dass ich sie gehört habe, machen sie dicht, sobald ich in der Nähe bin. Ich weiß nicht, wie sie sich vorstellen, dass ich auf diese Weise irgendetwas lerne … In diesem Moment kam Mum herein. »Oh Liebling! Hier riecht es ja herrlich!« Sie kam zu mir und küsste mich auf die Wange. So lange wie möglich presste ich mein Gesicht an ihres, bevor sie sich abwandte. Immerhin musste ich sechs Monate aufholen. »Vielen Dank, dass du uns heute Abend etwas Ordentliches zu essen besorgt hast.« Sie kramte in der Anrichte, bis sie genügend Teller und Besteck gefunden hatte, um den Tisch zu decken. Dann setzten wir uns alle. Es gab zwar nicht Steak mit Bohnen, und es war auch nicht zu Hause, aber es war die Familie und die meiste Zeit war es wirklich schön. Vater biss in eine dicke, saftige Pastete und schloss genießerisch die Augen. »Nun, Mum«, fragte ich und lehnte mich vor. »Wie war es wirklich? Musstest du diesmal in einem Zelt schlafen? Hast du lebendige Skarabäen gesehen?« Vater öffnete die Augen. »Das wollte ich dich schon früher fragen: Ist die ägyptische Unabhängigkeitsbewegung schlimmer geworden?«, fragte er. »Nun, der Generalkonsul hat mit der wachsenden ägyptischen Nationalbewegung alle Hände voll zu tun«, brachte Mum zwischen zwei Bissen Pastete hervor. »Sie verlangt immer noch, dass die Briten das Land verlassen.« Seufzend mummelte ich an meiner Pastete, während sich das Gespräch wieder der ägyptischen Politik zuwandte. 70
Als Vaters Faust auf den Tisch krachte, zuckte ich zusammen. »Das wäre alles nicht gewesen, wenn dieser verflixte Lord Cromer nicht so verbohrt und herrschsüchtig gewesen wäre! Das könnte unsere Arbeit im Tal der Könige zum Stillstand bringen!« »Das ist wahr«, bestätigte Mum, ohne bei Vaters Ausbruch mit der Wimper zu zucken. Sie hat Nerven aus Stahl, meine Mum. Um das Gespräch wieder auf glücklichere Dinge zu lenken, fragte ich: »Bist du dieses Mal auf einem Kamel geritten?« Mum neigte sich über den Tisch zu Vater. »Du hast doch davon gehört, dass Kamil eine Nationalpartei gegründet hat, oder? Es gibt starke anti-britische Tendenzen.« »Ja. Ist an dem Gerücht, dass sie teilweise von den Deutschen finanziert werden, etwas dran?«, fragte Vater. »Das weiß man nicht. Aber als Reaktion darauf hat Lutfi as-Sayyid eine Volkspartei gegründet. Er ist etwas kooperativer, doch auch er strebt letztendlich eine Landesregierung an.« Erneut seufzte ich gelangweilt auf. Ich konnte einfach nicht fassen, wie meine Eltern etwas so Aufregendes wie Ägypten so langweilig machen konnten. »Tut mir leid, Kleines«, meinte Mum und tätschelte mir den Arm. »Das muss alles sehr ermüdend für dich sein. Was hast du denn so angestellt, während ich weg war?« Erfreut, dass sich das Gespräch interessanteren Dingen zuwandte – nämlich mir –, erzählte ich Mum alles, was ich während ihrer Abwesenheit getan hatte. Nach dem Essen erzählte ich weiter und versuchte, alle am Tisch festzuhalten, damit ich es auskosten konnte, dass wir alle wieder beisammen waren. Als wir so zusammen 71
saßen, legte Mutter plötzlich erschrocken die Hand an die Wange. »Oh Liebling! Wie konnte ich das nur vergessen? Ich habe dir etwas mitgebracht!« Ich horchte auf. Manchmal fand Mutter ganz entzückende Geschenke. Sie stand auf, wühlte in ihrer Reisetasche und zog ein langes, aufgerolltes Pergament hervor. »Das ist ein Abrieb von den Tafeln, die wir in dem Teil der Pyramide fanden, den wir geöffnet haben. Es sind Amenemhabs geheime Schriften über die Kriegskunst.« Sie blinzelte die erste Hieroglyphenreihe an. »Wie man seine Feinde ins Chaos stürzt«, las sie laut und höchst selbstzufrieden vor. »Oh Mum! Das ist toll! Vielen Dank!« Ich nahm den Papyrus, rollte das dicke Material auf und ließ meine Augen über die langen Reihen von Hieroglyphen gleiten, die über die Seite tanzten. Ich schlang meine Arme um Mutter. »Ich werde mich da in den Sessel verkriechen und es lesen, damit du dich mit Vater unterhalten kannst.« »Nun, mein Kind, dein Vater und ich müssen etwas Berufliches besprechen.« »Das macht nichts. Ich verspreche, ich bin mucksmäuschenstill.« »Ehrlich gesagt, Theodosia«, warf mein Vater ein, »deine Mutter und ich müssen uns unter vier Augen unterhalten. Warum gehst du nicht in deine kleine Kammer? Du kannst deinen neuen Abrieb dort lesen.« Ich ließ die Schultern hängen. »Ja, Vater, wenn du darauf bestehst.« »Das tue ich. Geh jetzt.« Ich schlurfte zur Tür, wo ich mich noch einmal zu ihnen umdrehte. »Ihr vergesst doch nicht, mich zu holen, wenn wir nach Hause gehen, ja?« 72
»Natürlich nicht, Liebes«, erwiderte Mum. »Es dauert nicht lange.« Als ich aus dem Zimmer in den kalten, düsteren Gang hinaustrat, versuchte ich, mich daran zu erinnern, dass dies eine ausgezeichnete Gelegenheit war, der Sache mit Isis auf den Grund zu gehen. Ich eilte durch die Gänge und dann nach unten in den Leseraum der Bibliothek. Doch als ich am Türgriff drehte, fand ich sie verschlossen! Mistkram! Welcher idiotische Kurator war auf die Idee gekommen, die Bibliothek nachts zuzuschließen? Vermutlich Fagenbush, diese Ratte. Entmutigt ging ich nach oben in mein Zimmer. Ich zündete die Öllampe an, kletterte in den Sarkophag und zog mir eine Decke bis unters Kinn, um es mir gemütlich zu machen. Dann zog ich die Schriftrolle auseinander und begann zu lesen: Heil dir, oh Seth, Herr des Chaos, Heil Mantu, Zerstörer der Feinde, Heil Anat, deren schreckliche Schönheit Furcht in die Herzen unserer Feinde dringen lässt, hört unser Flehn. Durch Thutmosis, den mächtigsten Herrscher unseres Landes, ist die Macht des Staates groß geworden, unsere Feinde verneigen sich vor uns und bitten uns um Gnade, die von Thutmosis ausgeht … Bald war ich in Amenemhabs Theorien vertieft, wie man seinen Feinden Tod und Verderben bringt. Hunger, Seuchen, Überschwemmungen, Heuschrecken, Pest – für alles gab es Flüche, Amulette und geheime Rituale, die die Feinde in die Knie zwingen sollten. Nach stundenlangem Lesen wurden mir die Augenlider schwer. Ich vermisste Isis schrecklich. Normalerweise lag sie zu meinen Füßen und ohne sie war es nicht dasselbe. 73
Ich vermisste die Wärme ihres kleinen pelzigen Körpers, den Trost ihres zufriedenen Schnurrens. Ich versuchte, nicht daran zu denken, dass sie unter dem Fluch wie eine Verrückte im Museum herumschoss. Aber wenn sie sich dämonisch fühlte, dann war sie wenigstens nicht einsam. Oder verängstigt. Als ich einzuschlafen begann, musste ich mir vor Augen halten, dass es nicht gruselig ist, in einem Sarkophag zu schlafen. Nicht wirklich. Nicht, wenn man nicht darüber nachdenkt … Außerdem, selbst wenn es unheimlich war, war es immer noch sicherer, zwischen sich und den Geistern, die im Museum nachts herumspukten, drei Tonnen festen, mit schützenden Symbolen bedeckten Stein zu wissen.
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Fagenbush nimmt ein überraschendes Bad
AM NÄCHSTEN MORGEN erwachte ich mit brennenden Augen, was mir sagte, dass ich nicht gut geschlafen hatte. Kein Wunder. Meine Träume waren voller Bilder von marschierenden ägyptischen Armeen und anderen Kriegsschrecken gewesen. Dieser Amenemhab hatte ein ziemliches Talent für Beschreibungen, seine Schriften waren als Bettlektüre denkbar ungeeignet. Und was noch schlimmer war, ich war immer noch im Sarkophag, was bedeutete, dass meine Eltern gar nicht nach Hause gegangen waren. Oder sie hatten vergessen, mich zu holen. Dieser Gedanke ließ mich mit klopfendem Herzen kerzengerade aufsetzen. Sie würden mich doch nicht wirklich vergessen, oder? Ich kletterte aus dem Bett, goss kaltes Wasser aus der Kanne in die Waschschüssel und spritzte es mir ins Gesicht. Mit dem Schlaf, so hoffte ich, wusch ich auch die letzen Reste der Erinnerung an meine merkwürdigen Träume fort. Auch das hatte mich letzte Nacht wach gehalten. Das Museum bebte geradezu von Knarren und Stöhnen, als ob die Kunstwerke sich entschlossen hätten, eine Party zu geben. Ich musste mich unwillkürlich 75
fragen, ob das etwas mit der neuen Sammlung zu tun hatte. Meine erste Aufgabe heute war es, das herauszufinden. (Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass mich meine Eltern nicht vergessen hatten.) Oh je. Das würde erst die zweite Aufgabe werden. Die erste und wichtigste war es, Isis zu finden und von dem Fluch zu erlösen. So gut wie möglich strich ich mir das zerknitterte Kleid glatt, enttäuscht, dass ich zwei Tage hintereinander dasselbe tragen musste. Ehrlich, da fühle ich mich, als sei ich nur einen Schritt von einem Straßenkind entfernt. Ich zog die sauberste Schürze vom Haken und schlüpfte hinein. Zuletzt knöpfte ich mir die Handschuhe zu, dann ging ich zum Aufenthaltsraum, in der Hoffnung, meine Eltern zu finden, oder zumindest ein paar Pastetenreste. Doch so viel Glück hatte ich nicht. Keine Eltern, keine Reste. Mit dem letzten Rest Marmelade machte ich mir schnell ein Sandwich. Während ich aß, hörte ich Vaters Stimme von unten aus dem Arbeitszimmer. Das bedrückende Gefühl in meiner Brust wich. Sie hatten mich nicht vergessen. Auf dem Weg zum Leseraum beschloss ich, Edgar Stilton, dem dritten stellvertretenden Kurator, einen Besuch abzustatten. Auch wenn er nach einem Käse benannt ist, ist Stilton ein sehr nützlicher Mensch. Er ist einfach gestrickt, aber intelligent und ehrlich und aus irgendeinem Grund wirkt er wie ein Blitzableiter für die Unruhe im Museum. Wenn ich Zweifel habe, muss ich nur Edgar besuchen, um zu wissen, wie die Stimmung im Museum augenblicklich ist. Da Stilton der jüngste der Kuratoren ist, kommt er meist früher als die anderen, da er drei Vorgesetzte hat, die er beeindrucken muss. (Obwohl er 76
sich bei Vater keine Sorgen machen muss, so etwas fällt ihm gar nicht auf.) Stiltons Tür im zweiten Stock stand offen. Sein Büro war nicht viel größer als meine Kammer, was wahrscheinlich ein weiterer Grund dafür war, dass ich mich ihm verbunden fühlte. Auf seinem Tisch stapelten sich Papiere, Schriftrollen und Lieferscheine. Selbst wenn das Gaslicht hell brannte, wirkte der Raum düster und unheimlich. Ich steckte den Kopf hinein. »Guten Morgen!« Stilton erschrak so, dass er fast seine Teetasse hinuntergeworfen hätte. Kein gutes Zeichen. »Oh, Miss Throckmorton, hallo.« Er stellte die Tasse wieder hin und wischte den verschütteten Tee mit einem Taschentuch von seiner Hand. »Theo«, sagte ich, als ich eintrat und mich ihm gegenübersetzte. »Haben Sie schon von Mutters neuen Funden gehört?«, fragte ich, nicht weil mich das sonderlich interessierte, sondern weil ich ihn ein paar Minuten lang beobachten musste, um meine Schlüsse ziehen zu können. »Ja, Bollingsworth hat mir gestern auf dem Weg etwas darüber erzählt. Klasse Entdeckung.« Seine linke Schulter zuckte leicht. »Ja, nicht wahr? Und sie hat mir den Abrieb einiger Tafeln von dort mitgebracht. Das ist eine interessante Lektüre.« »Das glaube ich gerne«, meinte Stilton, unter dessen rechtem Auge es zu zucken begann. In dem Moment ertönte die Klingel am Liefereingang, und Stilton sprang auf, als hätte er sich verbrannt. »Die Lieferung ist da«, räusperte er sich. »Schön«, gab ich zurück. Das hieß, noch einer von Mutters Koffern war angekommen. Hoffentlich lenkten die neuen Objekte alle ab, damit ich am Vormittag nach 77
einem Heilmittel für Isis forschen konnte. »Ich glaube, ich helfe ihnen beim Auspacken.« Ich verabschiedete mich von dem armen Stilton und verließ ihn zuckend und zappelnd wie ein Insekt auf einer Stecknadel, während ich zum Leseraum eilte. Und wen erblickte ich, als ich dort ankam? Clive Fagenbush, der gerade die Tür aufschloss. Sein Gesichtsausdruck verdüsterte sich, als er mich sah. »Was machst du denn hier?«, fragte er. Ich lächelte ihn zuckersüß an und fasste den Entschluss, mir einen eigenen Schlüssel zu besorgen. »Ich hatte vor, hier zu lernen.« »Das glaube ich nicht«, höhnte er. »Dein Vater hat mir gesagt, dass er deine Hilfe im Lieferbereich braucht.« Mistkram. Wie oft hatte ich mir schon gewünscht, dass Vater mich um meine Hilfe bittet, und das einzige Mal, dass er es tat, hatte ich etwas wirklich Wichtiges vor. Das musste ja so sein. Na gut. Ich würde mich eben bei der ersten Gelegenheit davonmachen. Als ich den Lieferbereich erreichte, steckten meine Eltern bis zu den Ellbogen in Uschebti. Hunderte und Aberhunderte davon. Und jeder einzelne mit einem Fluch belegt. Wir brauchten Ewigkeiten, sie auszupacken. Mum und Dad waren begeistert, weil eine ganze Armee von Uschebti ein eindrucksvolles Ausstellungsteil ergab. Ich fand es eher mühsam, vor allem weil die Flüche meine Augen tränen ließen und mir auf den Magen schlugen. Ständig sah ich auf die Uhr und hoffte, dass Henrys Zug sich beeilen würde. Was zeigt, wie langweilig mir war. Morgen würde ich mir zweifellos wünschen, Henrys Zug würde ihn zur Schule zurückbringen. 78
Endlich waren die Uschebti ausgepackt, und Mutter und Vater waren so damit beschäftigt, sie zu katalogisieren, dass ich hinausschlüpfen konnte. Es war Zeit, den Fluch von meiner geliebten armen Katze zu nehmen. Beim Auspacken der Uschebti hatte ich viel darüber nachgedacht. Zunächst würde ich versuchen, der Katze eine Glocke umzuhängen, die nicht nur eine Glocke war, sondern auch ein Amulett. Ich hoffte, dass die Wirkung des Fluches etwas nachlassen würde, wenn Isis einen Schutzzauber trug. Aber das verflixte Ding musste ich erst mal herstellen. Ich ging zum Lesesaal hinauf, nahm mir den Band von Erasmus Bramwell Bestattungsmagie, Mumien und Flüche mit in mein kleines Arbeitszimmer und blätterte ihn von vorne bis hinten durch. Zum ersten Mal nutzte mir die Forschung nichts. Bramwell hatte keine einzige brauchbare Idee. Er schrieb eine Menge darüber, wie man Katzen mumifizierte (was die alten Ägypter recht häufig taten) und wie man richtig um eine Katze trauert (dazu muss man seine Augenbrauen abrasieren), aber nichts über Exorzismus bei Katzen. Ich war also auf mich allein gestellt. Keine alten Bücher oder Gelehrten aus vergangenen Jahrhunderten konnten mir dabei helfen. Ich würde mir etwas ausdenken müssen und hoffen, dass es wirkte. Ich musste einen Weg finden, um Isis’ regenerative Fähigkeiten dazu zu nutzen, dass sie den Fluch abwarf und ihre eigene Persönlichkeit wiederfand (wie ihr wisst, haben Katzen neun Leben). Dazu musste ich sie reinigen und ihr Schutz vor den bösen Mächten bieten, die durch ihren kleinen pelzigen Körper zogen. Außerdem musste ich ihr klarmachen, was ihre eigentliche Natur war. Ganz schön viel. 79
Ich durchsuchte meine Stofftasche (die ich am Tag zuvor wegzuräumen vergessen hatte. Wie unachtsam von mir!) und fand tatsächlich alle Zutaten, die ich brauchte. Ich habe sie aufgeschrieben, für die Nachwelt, wie mein Vater immer sagt. Zuerst einmal zog ich meine Handschuhe aus. Für die. Feinarbeit, die es benötigte, um das Amulett zu machen, waren sie viel zu klobig. Dann zeichnete ich in die Mitte des Leinenstücks mit dem verbrannten Ende des Weidenstockes ein Horusauge. Das verlieh Isis die heilende Kraft von Horus und den Schutz des Auges von Ra. Dann legte ich den Zahn, die Fischgräte und die Katzenminze in die Mitte des Leinenstoffs. Ich stach mir mit einer Nadel in den Finger und ließ einen Tropfen Blut auf das Häufchen fallen. Danach faltete ich das Stück Leinen immer wieder zusammen, bis es nur noch ein kleiner viereckiger Klumpen war. Die sechsundzwanzig Fäden flocht ich zu einem kleinen Halsband zusammen. Dann musste ich mit meiner Nadel Löcher in beide Seiten der Leinentasche machen und das Halsband hindurchfädeln, damit ich sie an Isis’ Hals befestigen konnte. Den Zauberstab und das Wasser würde ich später brauchen, bei der Zeremonie. Doch bevor ich damit beginnen konnte, musste ich zuerst einmal die arme verfluchte Katze finden. Wie fängt man überhaupt eine dämonische Katze? Ganz abgesehen davon, dass man sie lange genug festhalten muss, um einen Fluch aufzuheben. Katzen sind widerspenstig, auch wenn sie nicht gerade von schwarzer Magie besessen sind. Sobald man beschließt, sie zu finden, fangen sie an, sich zu verstecken. Wenn ich die Katze gerade nicht brauchen konnte, dann lief sie mir natürlich ständig zwischen die Füße, wand sich um meine Knöchel und brachte mich zum Stolpern. 80
Theodosia Throckmortons Rezept, um einen Fluch von einer Katze zu nehmen 1 kleines Rechteck weißen Leinens 1 Weidenholzstock mit angesengter Spitze 1 kleiner Katzenzahn aus der Zeit, als die fragliche Katze ein Kätzchen war (glücklicherweise hatte ich so etwas!) 1 kleine Fischgräte (um ihre Sinne zu stimulieren und sie an ihre wahre Natur zu erinnern) 1 Fingerhut voll getrocknete Nepetua Cararia, auch Katzenminze genannt (um ihre Sinne noch mehr zu stimulieren) 1 Tropfen Blut (meines, nicht das der Katze) 1 Gefäß mit klarem Wasser 1 Flusspferdzahn, der mit magischen Symbolen verziert ist und bei magischen Zeremonien in Ägypten im Mittleren Reich verwendet wurde (ausgeliehen aus dem Museum für Legenden und Antiquitäten, Sammlung Ägyptische Magie, Inventarnummer #136) 26 Fäden – 12 weiße (für Reinheit), 8 grüne (für die Macht des Wachstums), 6 rote (für die Wiedergeburt – Isis musste schleunigst wiedergeboren werden!) 81
Stundenlang wanderte ich auf der Suche nach Isis in dem kalten, riesigen Museum herum. Ich überprüfte all ihre Lieblingsplätze: hinter der Heizung, an der Laderampe, wo es Mäuse und Ratten gab, im Aufenthaltsraum unter dem Schrank und unter den Vitrinen in der Vogelgalerie (sie tut gerne so, als ob sie den Vögeln nachstellt). Aber sie war nirgends zu finden. Als die diversen Uhren im Museum zu schlagen begannen, zählte ich die Glockenschläge: zwölf. Mittagszeit. Was bedeutete, dass sich Isis irgendwo in der Nähe aufhielt, weil sie auf Sandwichkrümel oder Ähnliches hoffte. Dolge und Sweeney waren nicht unbedingt die ordentlichsten Esser. Flimp auch nicht. In der nächsten Stunde schlich ich selbst wie eine Katze herum. Zwar fand ich keine Spur von Isis, brachte es aber auf einen ansehnlichen Haufen von Krümeln. Im Foyer, unter dem Balkon, von dem Isis gerne heruntersprang, richtete ich einen Haufen Leberwurst, ein Stückchen Käse und etwas hart gekochtes Eiweiß an. Noch während ich diese reizvolle Falle für Isis aufbaute, spürte ich ein Wutsch!, als eine kleine pelzige Gestalt an mir vorbeihuschte, und einen scharfen Schmerz, als ihre messerscharfen Krallen meine Hände von den Resten fegten. Ich war so erschrocken, dass Isis schon fast den letzten Bissen Ei vertilgt hatte, bevor ich daran dachte, sie festzuhalten. Sie heulte wie ein Dämon und strampelte heftig bei dem Versuch, meinem Griff zu entkommen. Es war, als ob man einen kleinen Wirbelwind festhalten wollte. Ich hielt sie eng an mich gepresst und betete, dass der Lesesaal noch leer war. Das hätte mir gerade noch gefehlt, 82
dass ausgerechnet jetzt irgendein alter Gelehrter dasaß, während ich versuchte, meine Katze hineinzuschmuggeln. Zu meiner Erleichterung war der Raum leer und ich eilte in mein Arbeitszimmer. Mit einer Hand hielt ich Isis fest, während ich mit der anderen meine Sachen suchte. Unglücklicherweise hatte sie so die Pfoten frei, um damit um sich zu schlagen. Ich zuckte zusammen, als ihre Krallen meinen Körper trafen, und hätte sie fast fallen gelassen, als ihre Pfote meinen linken Ärmel aufschlitzte. Ich rang sie auf dem Boden nieder und hielt sie mit einer Hand in meinem Schoß fest, während ich mit der anderen versuchte, ihr das Halsband anzulegen. Zum Glück bewahrten mich meine diversen Lagen Kleidung vor größerem Schaden. Endlich konnte ich ihr das Halsband um den mageren kleinen Hals legen. Dann musste ich meinen Griff lösen, um das schreckliche Ding zuzubinden, was ihr die Gelegenheit bot, wegzulaufen oder meinen Arm zu zerfetzen. Beides versuchte sie nach Kräften. Während ich das Amulett festband, murmelte ich so schnell wie möglich den Spruch: »Mögen die heilenden Kräfte von Horus dich erfüllen. Möge die Stärke des Auges von Ra über dir leuchten. Mögest du wieder zu deinem reizenden Selbst werden.« Bei diesen Worten riss sich Isis aus meinem Griff los. Als sie zur Tür lief, sprang ich auf die Füße und nahm die Wasserschüssel. »Möge dieses Wasser deine Seele reinigen!«, rief ich und schüttete es ihr nach, als sie durch die Tür verschwand. Ein überraschter Ausruf erklang und dann steckte ausgerechnet Clive Fagenbush seinen hässlichen Kopf zur Tür herein. Seine Augenbrauen waren über der Stirn zusammengezogen wie ein riesiger Schnurrbart und mitten auf 83
seiner Brust prangte ein großer nasser Fleck. Ihr könnt euch vorstellen, dass er darüber nicht gerade erfreut war. Ein Wassertropfen hing von seiner langen Nase, als er einen langen, langsamen Schritt in den Raum tat. »Was zum Teufel tust du da, du elendes Kind?«, fragte er. Sein Zorn war wie eine Mauer, die mich zurückstieß. Unwillkürlich machte ich einen Schritt zurück. »Ich habe Isis gebadet«, sagte ich. Er kam einen Schritt näher. »Eine Katze? Gebadet? Im Winter? Sag mal, verwendest du immer Reinigungsrituale, wenn du deine Katze badest?« Mistkram. Das hatte er wohl gehört, was? Ich hörte auf zurückzuweichen, kreuzte die Arme vor der Brust und sah ihn herausfordernd an. »Natürlich. Sie etwa nicht? Wie soll sie denn sonst richtig sauber werden?« Die Falten auf seiner Stirn vertieften sich. In dem Moment hörte ich Vaters Stimme aus dem Flur. »Theodosia! Komm her! Wir kommen zu spät, um Henry abzuholen!« Oh mein Gott. Er klang ärgerlich. »Tut mir leid. Ich muss gehen.« Ich machte einen Schritt, um zu flüchten, doch dann fiel mir ein, dass ich ihn dann mit meinen Sachen allein lassen musste. Er starrte mich böse an. »Ich warne dich …« »Sofort!«, erklang Vaters Stimme und sowohl Fagenbush als auch ich erschraken. Vater stand hinter uns in der Tür. Als er den zweiten stellvertretenden Kurator in meinem Arbeitszimmer sah, erschrak er ebenfalls. »Was machen Sie denn hier drin, Fagenbush?« Ja, dachte ich. Was machst du hier eigentlich? Ich legte den Kopf zur Seite, gespannt auf seine Antwort. »Ich, äh, ich dachte, Theodosia hat etwas, was ich suche.« 84
»Unsinn. Theodosia hat hier gar nichts.« Er sah mich stirnrunzelnd an, plötzlich alarmiert. »Oder?« Ich lachte leise auf. »Was soll ich denn hier schon haben?« Vater nickte. »Genau. Nun gehen Sie schon, Fagenbush. Theodosia kommt mit mir.« Fagenbush nickte und zog sich dann hastig zurück. Gerade als ich mich in Sicherheit wiegte, wandte sich Vater wieder an mich. »Was um Himmels willen ist denn mit dir passiert? Sieh dich doch nur an! Du siehst ja schrecklich aus!« Ich rieb mir den Ellbogen, schob mir die Haare aus den Augen, sah an mir herunter und konnte feststellen, was Isis angerichtet hatte. Das Ende meines rechten Ärmels hing in Fetzen und mein Handgelenk wies mehrere Kratzer auf. »Isis und ich hatten eine kleine Auseinandersetzung.« »Diese verflixte Katze ist noch mal dein Untergang«, erklärte Vater im Hinausgehen. »Komm jetzt. Deinetwegen verspäten wir uns noch.« Als ich ihm folgte, konnte ich nur hoffen, dass das Amulett bei Isis wirkte. Wenn wir aus dem Urlaub zurückkehrten, war sie hoffentlich wieder ganz die Alte.
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Henrys Heimkehr
DER BAHNHOF CHARING CROSS glich heute noch mehr einem Tollhaus als gestern, wenn das überhaupt möglich war. Familien in Reisekleidung mit schweren Koffern scheuchten aufgeregte Kinder in den Bahnhof, während die Träger mit den überladenen Gepäckkarren ihr Bestes taten, ihnen auszuweichen. Züge liefen am Bahnsteig ein und spuckten Schulkinder in die Weihnachtsferien aus wie graue Rauchwolken. Als ich den zuletzt angekommenen Haufen nach Henry absuchte, fühlte ich ein leichtes Zupfen an meinem Mantel. Ich wirbelte herum und stand dem kleinen Kerl, Sticky Will, gegenüber. »Hallo du.« Er sah noch ein wenig schmutziger aus als gestern und sein Kragen stand offen. »Hallo!«, sagte ich. »Ich hatte gehofft, dich zu finden …« »Scheint, als sei ich der, der hier was findet.« Ich wedelte mit der Hand. »Egal. Was hast du herausgefunden?« »Mann, Miss!«, rief der Kleine aus und starrte auf meinen Arm. »Hast du dich geprügelt?« »Nein, ich habe mich nicht geprügelt«, stellte ich klar. »Es gab Missverständnisse zwischen mir und meiner Katze.« 86
Der Taschendieb sah mich von oben bis unten an. »Na, das muss ja ne Katze sein. Hat die Löwenblut in den Adern?« »Im Moment sieht es ganz danach aus«, murmelte ich. »Nun, was hast du herausgefunden?« »Der Typ ist zu einer Bude in den Carlton Terrace Gardens gegangen.« »Carlton Terrace! Ist das nicht direkt neben der deutschen Botschaft?« Hieß das, dass der finstere Geselle ein Deutscher war? Aber warum sollte ein Deutscher Mum folgen? Oder sich für ihre Koffer interessieren? Der Kleine zuckte mit den Schultern. »Ich laufe Leuten nur nach, Miss. Ich sage ihnen nicht, wohin sie gehen sollen.« Er sah mir über die Schulter und dann wieder zu mir. »Sind wir jetzt quitt, Miss?« »Ich schätze schon …« »Ich muss gehen«, sagte er und wandte sich um, um in der Menge zu verschwinden. »Warte mal«, rief ich. »Wie kann ich dich finden?« Der Kleine grinste und zeigte dabei eine Zahnlücke. »Ich bin normalerweise fast den ganzen Tag hier.« Noch einmal sah er über meine Schulter und war dann zwischen den vielen Menschen verschwunden. Überrascht stellte ich fest, wie einsam ich mich plötzlich fühlte. Man konnte sich daran gewöhnen, einen Verbündeten zu haben. In dem Moment erklang eine nur allzu vertraute Stimme hinter mir. »Weiß Vater das?« Langsam drehte ich mich um. »Henry. Du bist zu Hause.« Ich versuchte, nicht enttäuscht zu klingen. Zumindest ein bisschen. Warum konnte er nicht so hilfsbereit sein wie Sticky Will? »Suchst du so verzweifelt nach Freunden, dass du jetzt schon Streuner aufliest?« 87
Ich wurde rot und ballte die Fäuste, um ihm nicht eine zu langen. »Ich habe viele Freunde«, sprühte ich. »Echt? Wen? Eine struppige Katze? Flimp? Einen langweiligen Kurator, dem du schöne Augen machst?« »Ich mache ihm keine schönen Augen!« »Straßenkinder?« »Ach, halt die Klappe. Natürlich habe ich Freunde.« Hatte ich. Echt. Sticky Will war schließlich mein Verbündeter, nicht wahr? Oder war er doch nur ein Taschendieb, der auf eine weitere Pastete spekulierte? Und überhaupt, wer braucht schon Freunde? »Wo sind Vater und Mutter?« »Holen mein Gepäck. Sie haben mich gebeten, vorauszulaufen und dich zu suchen.« Hinter ihm sah ich meine Eltern sich ihren Weg durch die Menge bahnen, zusammen mit einem Gepäckträger, der Henrys Koffer jonglierte. »Wie viele Tage hast du in diesem Winter frei?«, fragte ich. »Drei Wochen«, entgegnete Henry. »Und wenn du gemein zu mir bist, dann werde ich dafür sorgen, dass sie auch dich in einen Zug zur Schule stecken, wenn sie mich zurückschicken.« Dieser Schuft!
Nachdem wir Henry vom Bahnhof abgeholt hatten, fuhren wir direkt zu unserem Haus in der Chesterfield Street. Es war so schön, zu Hause zu sein! Dicke Vorhänge und noch dickere Teppiche hielten die Zugluft ab und in allen Zimmern brannte ein gemütliches Feuer. Die Köchin, 88
froh, endlich wieder etwas zu tun zu haben, bereitete ein herrliches Mahl aus Steak und gebackenen Bohnen zu, und selbst Henry war gar nicht mal so schrecklich. Und nach dem Abendessen schaute dann auch noch ausgerechnet Onkel Andrew herein, Mums Bruder und für mich der liebste Onkel auf der ganzen Welt. Weil das Stadthaus für uns alle ein wenig eng war, beschlossen Mum und Dad in letzter Minute, aufs Land zu fahren. Wir packten wie die Verrückten unsere Siebensachen zusammen und quetschten uns in eine Kutsche, die uns in unser Haus in Surrey brachte. Ich glaube, das war das schönste Weihnachten aller Zeiten. Mal abgesehen vom Regen. Unangenehm wurde es nur, als meine Eltern ihre Geschenke von mir öffneten. Sie versuchten, höflich zu sein, aber ich merkte, dass sie verwunderte Blicke tauschten, wenn sie glaubten, dass ich nicht hinsah. Ich hatte jedem von ihnen ein Amulett gemacht. Zum Schutz. Damit sie es im Museum tragen konnten. Ehrlich. Man sollte meinen, dass sie so etwas mittlerweile kannten. Am Nachmittag brachte mir Onkel Andrew das Messerwerfen bei. Mum haben wir das nicht gesagt. Sie ist schon letztes Jahr böse geworden, als er mir gezeigt hat, wie man mit einem Gewehr auf Tontauben schießt. Ich bin rücklings im Matsch gelandet und hatte einen blauen Fleck, so groß wie ein Kuchen, auf meiner rechten Schulter. Aber die Tontaube hab ich in Stücke geschossen. Ich weiß auch nicht, warum sich Mum so aufgeregt hat. Onkel Andrew sagt, dass sie selbst eine Meisterschützin ist. Aber sie sagt, ich sei noch zu klein. Ich würde gerne wissen, wie alt man werden muss, bis man die ganzen lustigen Sachen tun darf.
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Genauso, aber anders
WENN ICH NACH LÄNGERER ABWESENHEIT ins Museum zurückkomme, habe ich normalerweise das Gefühl, als ob mich ein alter Freund begrüßt. Jedes Knarren und Ächzen klingt freundlich. Als ob die Geister und Gespenster erleichtert wären, dass ich zurück bin, als ob es ihnen gefiele, jemanden um sich zu haben, der von ihrer Existenz weiß. Aber nicht heute. Heute fühlte es sich anders an, sobald ich einen Fuß ins Gebäude gesetzt hatte. Kälter. Stiller. Als ob alles den Atem anhielt. Ich sah mich in der riesigen Eingangshalle um und sah zu den kleinen Balkonen und Bogengängen hinauf, die die Steinwände säumten, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken. Das war zumindest hochgradig beunruhigend. Als ich meinen Handkoffer auf den Fliesen abstellte, hallte das leise Klick im Raum wider und verschwand in absolute Stille. Vater wollte um mich herumlaufen, aber ich hielt ihn fest. »Fällt dir etwas auf?« Er sah mich unwillig an und konzentrierte sich einen Moment. »Nein«, meinte er ziemlich scharf. »Nichts. Das Einzige, was mir auffällt, ist, dass du schon wieder eine deiner Geschichten spinnst. Ich warne dich, Theodosia!« 90
Vater wandte sich zur Treppe und stolperte über meinen Koffer. »Was in Teufels Namen ist das denn?« »Nur ein paar Sachen, die ich mitgebracht habe. Vorräte, so etwas.« Saubere Kleider, genauer gesagt. Nur für den Fall, dass wir mal wieder tagelang im Museum festsaßen. »Hmpf«, grollte er und stapfte dann die Treppe zu seinem Arbeitszimmer hinauf. Seufzend wandte ich mich von Vater ab, nur um festzustellen, dass Henry mich angrinste. »Da hast du aber einen guten Eindruck gemacht, Theo.« Ich blitzte ihn zornig an. »Ja, fast so gut wie du, als du zu Hause versucht hast, das Gaslicht mit den Fingern anzuzünden, und dir fast die Hand abgesengt hast.« Henry trat halbherzig nach meinem Koffer. »Das war doch nur ein Experiment. Über statische Elektrizität.« Er sah so bekümmert drein, dass es mir fast leidtat, davon angefangen zu haben. Aber ich brauchte Henry wirklich nicht, um zu wissen, wie unsicher meine Position war. Viel würde es nicht brauchen, um meinen Vater davon zu überzeugen, dass meine Nerven überreizt waren oder ähnlicher Unsinn und er mich in eine kalte graue Schule schickte, um mich zu kurieren. Ich ließ Henry im Foyer stehen und seinen verbundenen Finger betrachten und ging in den zweiten Stock, um meinen Koffer in meiner Kammer zu verstauen. Dann trabte ich zum dritten Stock in die Altägyptische Abteilung hoch, neugierig, ob ich herausfinden konnte, warum sich das Museum so merkwürdig anfühlte. Außerdem, wenn ich so tat, als suche ich nicht nach Isis, dann würde ich sie vielleicht sogar finden. Als ich die Treppe halb hinauf war, ließ mich eine Stimme hinter mir erschrecken. 91
»Was ist eigentlich los?« Es war Henry. »Als ob ich dir das sagen würde, du kleines Monster. Du würdest doch sofort zu Vater rennen, ihm alles erzählen und versuchen, dass er mich auch wieder in einer dieser grässlich langweiligen Schulen einsperrt.« »So grässlich sind die gar nicht. Da kann man Sport machen, weißt du. Außerdem verrate ich vielleicht nichts. Nicht, wenn es sich für mich lohnt«, meinte er. Ich drehte mich auf dem Absatz zu ihm um. »Und warum solltest du das tun?« »Wenn du mir sagst, was hier los ist, werde ich sogar versuchen, dir dabei zu helfen, herauszufinden, was vor sich geht.« »Ich brauche deine Hilfe nicht, um etwas herauszufinden.« Henry sah so enttäuscht drein, dass ich mich sofort schrecklich fühlte. Dann kam mir plötzlich ein brillanter Gedanke. Was war, wenn Henry das Museum deshalb so hasste, weil er die schwarze Magie ebenfalls spüren konnte? Schließlich war er mein Bruder. Sollten wir da nicht auch die gleichen Eigenschaften haben, wie wir ja auch die gleiche Augenfarbe haben (braun, falls ihr es wissen wollt)? »Es gibt tatsächlich etwas, wobei du mir helfen kannst«, erklärte ich. »Aber sprich leise und behalte die Hände in den Hosentaschen.« Er murmelte etwas davon, dass Herumkommandieren nicht zu unserer Abmachung gehörte, und schlurfte hinter mir her. Als wir auf dem Weg zum Ausstellungsraum an den ägyptischen Statuen vorbeikamen, konnte ich nichts Ungewöhnliches entdecken. Vor der Tür zu den Exponaten hielt ich an und schloss die Augen. Wieder spürte ich nichts. 92
»Nach was suchen wir?«, fragte Henry. »Und wie willst du es finden, wenn du die Augen zumachst?« »Henry«, fragte ich, öffnete die Augen und beobachtete ihn scharf. »Macht dir irgendeines dieser Ausstellungsstücke Angst oder gibt dir ein unheimliches Gefühl?« »Wie unheimlich?« »Wie Gänsehaut zum Beispiel.« »Nein. Nie. Wie ist das mit dir?« »Nein. Nie.« »Warum fragst du dann?« Einen Moment lang dachte er nach. »Geht es dir darum? Hast du Angst vor den verstaubten alten Ausstellungsstücken?« »Nein! Aber du hasst es, im Museum zu sein, deshalb habe ich gedacht, es liegt vielleicht daran, dass du dich hier nicht wohlfühlst.« »Ich bin kein Feigling!« Mist. Ich hatte so gehofft, dass er die gleichen Gefühle hatte wie ich, aber ich wusste nicht, wie ich es ausdrücken sollte. Es schien schon jetzt eine dumme Idee gewesen zu sein, Henry mitzunehmen. »Ich versuche nur herauszufinden, was mit dem Museum nicht stimmt. Irgendetwas fühlt sich hier nicht richtig an. Als ob jemand hier gewesen wäre, während wir weg waren, oder sich jemand an einem der Exponate zu schaffen gemacht hätte oder so etwas.« »Du bist ja bekloppt«, stellte Henry fest. »Vergiss das mit der Schule, Vater steckt dich sofort in die Klapse.« Ich wirbelte herum und funkelte ihn an. »Nimm das sofort zurück! Sofort! Nimm es zurück!« Erstaunt starrte er mich an. Ich hob die Fäuste und trat einen Schritt auf ihn zu. »Ich warne dich, Henry! Ich meine es todernst! Nimm das sofort zurück, oder ich …« 93
»Ist ja schon gut! Ich nehme es zurück. Jetzt mach dir mal keinen Fleck ins Hemd!« Böse sah ich ihn an. »Du bist mir keine große Hilfe.« Ich wandte mich ab und betrat den Raum, in dem die Exponate zur ägyptischen Bestattungsmagie standen. Es war noch Vormittag, daher war die Präsenz der alten Geister gedämpft. Vielleicht war es ja das. Waren sie nicht zu gedämpft? Ich warf einen letzten Blick in den Raum. Alles schien völlig normal zu sein. So normal, wie ägyptische Ausstellungsstücke eben sein können. Wir verließen den Raum und gingen zur Waffenkammer. Gelegentlich fand ein mit einem Fluch belegtes Schwert seinen Weg ins Museum. Vielleicht war mir eines durch die Lappen gegangen und das Gefühl kam daher. Henry und ich gingen an den großen Glasvitrinen vorbei, in denen Speere, Schwerter und Streitäxte aus allen Schlachten der Geschichte aufbewahrt wurden. Zumindest kam es mir so vor. Nach kurzer Zeit war Henry so in die Betrachtung der vielen Waffen im Raum vertieft, dass ich meine Untersuchungen ohne Störungen fortsetzen konnte. Während ich zwischen den vollständigen Rüstungen hindurchging, die im Raum postiert waren, spürte ich nichts. Kein Zeichen von dem, was mit dem Museum nicht stimmte, und auch keine Spur von Isis. Ich versuchte, meine Enttäuschung zu unterdrücken, kaute an meiner Unterlippe und überlegte, was wir als Nächstes tun sollten. Aber natürlich! Unser nächster Halt war Edgar Stiltons Büro. Wenn wirklich etwas nicht stimmte, dann würde er es auch fühlen. Es war noch früh, und wahrscheinlich war er der erste Kurator, der bislang hier war. 94
Als ich an seine Tür klopfte, rief Stilton: »Komm rein!«, wobei seine Stimme beim »rein« brach, was ihn heftig erröten ließ. »Guten Morgen, Stilton«, sagte ich. »Hallo, Theo. Und Henry! Willkommen zu Hause.« Er nieste kräftig und suchte dann nach einem Taschentuch. »Danke«, meinte Henry und trat ein oder zwei Schritte zurück. »Haben Sie sich erkältet?«, fragte ich. Er betupfte seinen Riecher mit dem Taschentuch. »Nein«, meinte er. »Hat erst heute Morgen angefangen, als ich hergekommen bin. Muss am Staub liegen oder so.« Aha! Wusste ich es doch. Es ging tatsächlich etwas Ungewöhnliches vor sich. Wir verabschiedeten uns, und dann ging ich zögernd zum Übergangslager hinunter, wo wir letzte Woche Mutters Funde ausgepackt hatten. Da ich den lästigen Schwarm von Flüchen vermeiden wollte, der von den Objekten ausging, hatte ich es so lange wie möglich hinausgezögert. »Was ist da unten?«, fragte Henry, der mir dicht auf den Fersen folgte. »Mums neueste Entdeckungen. Es wird dir gefallen, Henry. Es sind haufenweise Waffen dabei.« Bei dieser Aussicht hellte sich sein Gesicht auf und er hörte auf zu schlurfen. Im Übergangslager war niemand, daher stellte ich Henry vor einer Kiste bösartig aussehender Uschebti ab und begann zu arbeiten. Das Gefühl von Bosheit, das von den verfluchten Objekten ausging, war genauso wie vor Weihnachten, 95
also ignorierte ich sie und begann, den Inhalt der anderen Kisten zu untersuchen, um festzustellen, ob irgendetwas fehlte. Die Stelen waren da, ebenso der ekelhafte Zeremonialdolch. Ich durchsuchte eine weitere Kiste und fand einen Haufen Skarabäen, die sich eindeutig bösartig anfühlten, aber sie waren nicht stark genug, das ganze Museum in Aufruhr zu versetzen. In der Nähe standen vier neue Kisten, die aber noch nicht geöffnet worden waren. Als ich von den Kisten aufblickte, sah ich, dass Henry ein Dutzend Uschebti aus der Kiste geholt und wie Zinnsoldaten auf dem Boden aufgestellt hatte. »Henry!«, zischte ich. »Das ist kein Spielzeug! Das sind viertausend Jahre alte Kunstobjekte! Tu sie sofort zurück!« Ich betrachtete die Tonfiguren. Mit klopfendem Herzen nahm ich eine davon hoch. »Hey! Du hast gerade meine Truppenformation ruiniert!«, beschwerte sich Henry. Ich ignorierte ihn und betrachtete die Figur in meiner Hand. Sie hatte sich verändert. Die Linien waren schärfer, klarer. Der Ausdruck härter. Aber nein. Das war doch sicher unmöglich. Ich schloss die Augen und versuchte, mich zu konzentrieren. Kam das unangenehme Gefühl vielleicht von den Uschebti? Ich wartete einen Augenblick und spürte … nichts. Nein. Was auch immer für merkwürdige Dinge mit den Tonsoldaten vor sich gingen, das war es nicht, was ich gefühlt hatte, als ich heute Morgen hier ankam. Allerdings bedeutete es, dass es zwei Dinge gab, die ich untersuchen musste. »Na gut, Henry«, sagte ich, als ich den Uschebti wieder in seine Kiste legte. »Pack sie weg. Unser nächster Halt sind die Katakomben.« 96
»Jetzt hör aber auf«, gab Henry unsicher zurück. »Hier gibt es doch gar keine Katakomben.« »Wenn du meinst«, erwiderte ich und ging zur Tür. »Gibt es nicht«, beharrte Henry und beeilte sich, mit mir zu kommen. »Da ist nur ein Haufen alter Krempel im Keller. Krempel, den Vater nicht mehr nutzt.« Henry hatte recht. Es gibt wirklich keine Katakomben, aber Lagerräume für Dinge, die wir im Moment nicht in den Ausstellungen brauchen. Aber die sind wirklich unheimlich. Dort, zehn Meter unter der Erde gibt es alle möglichen toten Dinge, Mumien und Särge und alte Skelette von wer-weiß-was. Hört sich für mich an wie Katakomben. Ich öffnete die Tür und erschauderte, als mich ein eiskalter Hauch abgestandener Luft traf. Es roch feucht und modrig und … »Okay, hier unten ist nichts verändert worden.« Ich wandte mich um und prallte mit Henry zusammen, der versuchte, mir über die Schulter die Treppe hinabzusehen. »Woher willst du das wissen?«, erkundigte er sich. »Ich weiß es einfach, das ist alles.« Ich merkte an der Luft – feucht und schwer und ohne frische Verwirbelungen –, dass sie seit Monaten nichts gestört hatte. Der Ort verbreitete eine Atmosphäre wie ein schlafendes Ungeheuer, das seit Ewigkeiten nicht gestört worden war. Ich wollte nicht die Erste sein, die das tat. Und schon gar nicht ohne wesentlich mehr Schutz, als ich im Moment trug. »Teezeit!«, verkündete ich so fröhlich wie möglich. »Da unten gibt es keinen Tee«, meinte Henry, der immer noch in den dunklen Gang blickte. »Natürlich nicht.« Ich schloss die Tür, wobei ich nur 97
knapp seine Nase verfehlte. »Aber es ist Zeit, dass unsere Eltern ihren Tee bekommen«, meinte ich fest. Henry zuckte mit den Schultern und folgte mir. Er sagte, er hoffe, dass ich ihm auch welchen machte. Und da gibt es Leute, die behaupten, er hätte keine Fantasie!
Als ich begann, den Morgentee zu machen, fragte ich mich, ob die Unruhe im Museum vielleicht von Isis ausging. Kopfschüttelnd verteilte ich die Teetassen. So fühlte es sich nicht an. Es war etwas Bedrohlicheres als das. Obwohl Isis bedrohlich genug war, wenn man es recht betrachtete. Nachdem ich mich bei meinen Eltern eingeschmeichelt hatte, indem ich ihnen ihren Tee brachte, begann ich, Mum zu bearbeiten, und bestand darauf, dass sie ein Inventar aller Dinge anlegte, die sie mitgebracht hatte. Vielleicht verursachte ja irgendetwas in einer der ungeöffneten Kisten das Gefühl. Schließlich gab sie resigniert nach. »Aber nur, weil das sowieso getan werden muss, Theodosia. Nicht wegen deines melodramatischen Auftritts.« Kann sie denn nicht sehen, dass ich hier viel zu viel zu tun habe, ohne auch noch Dinge zu erfinden? Fast eine Stunde waren wir im Übergangslager gewesen, als Henry lautstark die Treppe heruntergepoltert kam. »Wie war das noch, Mum? Ich habe dich nicht gehört, weil hier irgendjemand höllischen Krach macht.« »In dieser Kiste sind sechs Stelen, jede mit Kriegsszenen verziert«, wiederholte sie. 98
Ich schrieb es auf die Liste vor mir. »Und als Nächstes?« »Mum«, unterbrach Henry. »Dad sagt, du sollst sofort kommen. Dieser verrückte alte Snowthorpe ist da.« »Henry!« Henry zuckte mit den Schultern. »Ich kann nichts dafür. Das waren seine genauen Worte.« Mit einem ergebenen Seufzer stand Mum auf und strich sich über den Rock. »Ich frage mich, was er wohl will.« Lord Snowthorpe war irgendein hohes Tier beim British Museum, für den Vater früher einmal gearbeitet hatte. Keiner von uns mochte ihn so recht, vor allem Vater nicht. Er ist ein schmieriger Kerl, und immer wenn er uns besucht, hat Vater mindestens zwei Tage hinterher schlechte Laune. Ich überlegte kurz, ob ich bleiben und allein weitermachen sollte, aber manchmal geschehen interessante Dinge, wenn Snowthorpe da ist. Daher entschloss ich mich, Mutter zu folgen. »Kommst du?«, wandte ich mich zu Henry um. »Nee. Ich glaube, ich bleibe hier unten.« Ich bemerkte den gierigen Blick, mit dem er die ausgepackten Waffen ansah, die wir gerade inventarisiert hatten. »Komm schon«, drängte ich. »Du kannst nicht allein hier unten bleiben.« »Wer sagt das?« »Ich. Jetzt komm. Wir spionieren Snowthorpe nach, wenn dir das irgendwie hilft.« Daraufhin hellte sich sein Gesicht auf, und er folgte mir die Treppe hinauf, wobei er sich anhörte wie eine ganze Herde Nilpferde. Wie will er denn spionieren, wenn er nicht leise sein kann? Am oberen Ende der Treppe bedeutete ich ihm mit der 99
Hand, leise zu sein. Lord Snowthorpe lehnte an einer der Marmorsäulen im Foyer und klopfte ungeduldig mit dem Stock auf den Boden. Mutter und Vater waren nirgendwo in Sichtweite. Wahrscheinlich bereiteten sie sich auf die Begegnung vor. Snowthorpe ist ein großer Mann mit einer Hakennase und einem sehr roten Gesicht, so als ob er zu lange in der Sonne gewesen wäre. Er hat einen riesigen, runden Bauch, den er kaum in seinem Mantel unterbringt, und an seiner Hochnäsigkeit würde selbst ein Pharao ersticken. Gerade als ich mich fragte, ob meine Eltern ihn absichtlich warten ließen, hörte ich ein leises Zischen von oben. Als ich aufsah, entdeckte ich Isis, die auf dem Balkon direkt über Snowthorpe kauerte. Bevor ich irgendetwas unternehmen konnte, kreischte sie auf, wobei sie mehr nach einem Panther im Zoo als nach einer Katze klang, und stürzte sich auf Lord Snowthorpe. Er brüllte, als sich ihre scharfen Krallen in seine Schulter bohrten, und versuchte, sie von seinem Rücken zu scheuchen. Henry kicherte, als ich losrannte, um Isis zu retten. Auf Snowthorpes Ausruf hin kamen meine Eltern angerannt, und bald herrschte das totale Chaos, als wir versuchten, Isis von Snowthorpes Rücken zu bekommen, ohne seinen Mantel zu zerreißen oder die Katze zu verletzen. Obwohl, so wie Vater vorging, hatte ich die Befürchtung, dass ich die Einzige war, die sich Sorgen um Isis machte. Endlich konnte Vater die Katze vom Mantel trennen und warf sie mir zu. »Nimm diese verfluchte Katze, Theodosia, und schaff sie hier raus! Sofort!« Isis strampelte in meinen Armen herum wie ein Derwisch und versuchte zu entfliehen. Mit einem einzigen 100
gutgezielten Krallenhieb befreite sie sich von mir und verschwand wieder in den Eingeweiden des Museums. Alle taten so, als sei Snowthorpe fast umgebracht worden, und sahen mich an, als sei das alles meine Schuld. Nachdem sie ihn ausreichend bemitleidet hatten, kam er schließlich zur Sache, wobei er allerdings wesentlich weniger fröhlich aussah als zuvor. »Throckmorton. Der Grund meines Besuchs ist, dass ich gehört habe, Sie hätten das Herz Ägyptens von Thutmosis III. gefunden. Ich warte schon mein ganzes Leben lang darauf, so etwas mal zu sehen zu bekommen, und dachte mir, dass Sie die Gelegenheit nutzen wollen, damit anzugeben.« In dem Moment, als er »Herz Ägyptens« sagte, wusste ich es. Das war es, was gefehlt hatte. Natürlich! Mutter war ganz scharf darauf, ihren neuesten Fund zu zeigen, und zog ab, um ihn zu holen. Ich folgte ihr und überließ es Henry, weiter zu spionieren. Die beiden Männer würden nur am Tee nippen und dümmliche Dinge übers Wetter sagen. Das konnte Henry auch allein schaffen. Als ich Mutter einholte, warf sie mir über die Schulter hinweg einen Blick zu und meinte: »Du musst irgendetwas wegen dieser Katze unternehmen. Sie ist absolut wild geworden.« »Nicht wild, Mum. Eher dämonisch«, meinte ich leise. Während ich Mutter folgte, stellte ich fest, dass ich keine Ahnung hatte, wo sie das Herz Ägyptens versteckt hatte. Schließlich erreichte sie das obere Arbeitszimmer, ging zur hintersten Wand und schob ein paar Bücher aus dem zweiten Regal. An der Wand dahinter hing ein alter Wandteppich (Spätmittelalter). Was für ein merkwürdiger Platz für einen Gobelin! 101
Mutter schob ihn zur Seite und enthüllte einen kleinen Safe. Echt! Mir erzählt nie jemand etwas! Ich stand auf Zehenspitzen und versuchte, ihr über die Schulter zu sehen, während sie die Kombination eingab. Doch sie war zu schnell für mich. Sie schwang die Safetür auf und gab den Blick auf eine ziemlich große Kammer frei, in der alle möglichen großen, verpackten Objekte lagen. Was versteckten sie denn alles hier drin, von dem ich nichts weiß? Mutter griff in den Safe und nahm die Samthülle, in die sie das Herz Ägyptens eingewickelt hatte, heraus. Sorgfältig wickelte sie es aus. Als sie die letzte Lage Samt fortzog, starrten wir beide auf einen matten schwarzen Gegenstand. Das war nicht das Herz Ägyptens.
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Einfach verschwunden
»ES IST WEG!«, japste Mutter und wirbelte zu mir herum. Das Ding in ihrer Hand war wie ein richtiges Herz geformt und tiefschwarz. Auf der Vorderseite prangte eine zusammengerollte Schlange – Apep – aus Blattgold. »Was soll ich nur Snowthorpe sagen?«, rief Mum. »Oh, was soll ich nur deinem Vater sagen?«, fragte sie mich zutiefst bestürzt. Sie schob mir das schwarze Herz zu und drehte sich zur Wand um, um den Safe wieder zu schließen. Als sich meine Hand um das Objekt schloss, wappnete ich mich innerlich vor den Wellen von Flüchen, die ich davon erwartete. Aber da war nichts. Ich untersuchte den kalten schwarzen Stein und roch dann daran. Keine Spur von Schwefel. Mit einem Finger fuhr ich über die Oberfläche, aber es blieb kein öliger Rückstand daran hängen. Ich legte das Herz in eines der Regale, ziemlich weit hinten, in der Hoffnung, dass es niemand anderes sah, bevor ich die Gelegenheit hatte, ein paar weitere Tests durchzuführen. Mum hatte mittlerweile den Safe verschlossen und eilte zur Tür. »Wir können Snowthorpe nicht sagen, dass es 103
verschwunden ist. Ich werde ihm nicht die Genugtuung geben, uns für Amateure zu halten.« »Mum?«, fragte ich, als ich ihr folgte. »Was ist, Theodosia?«, wollte sie ungeduldig wissen. »Hast du Snowthorpe vom Herz Ägyptens erzählt? Ich meine, woher wusste er davon? Du bist doch erst seit ein paar Tagen wieder hier.« Immer noch damit beschäftigt nachzudenken, was sie den anderen sagen sollte, wedelte Mutter mit der Hand. »Ich habe den Fund nicht groß verkündet, wenn du das meinst. Aber ich musste ihn deklarieren, um ihn außer Landes bringen zu dürfen.« »Ja, aber hast du ihn bei Snowthorpe deklariert?« »Natürlich nicht, Theo. Ich könnte mir vorstellen, dass jemand, den er kennt, Wind davon bekommen hat.« Vielleicht, aber wer sollte das sein? Und wie konnten sie das so schnell erfahren? Mutter hatte das Herz während der Reise sorgfältig verborgen bei sich getragen. Sie hatte nicht einmal Vater telegrafiert, um ihm zu sagen, dass sie es mitbrachte. Irgendetwas stimmte da nicht. Als wir den Vorraum erreichten, konnte ich von drinnen Snowthorpes Stimme hören und Vaters mentale SOSSignale fast körperlich spüren. »Was wirst du ihnen sagen?«, flüsterte ich. »Keine Sorge, ich habe alles unter Kontrolle«, behauptete Mum. Das beruhigte mich nicht ganz so sehr, wie sie es vielleicht erwartete. Mutter richtete sich auf, strich sich den Rock glatt und setzte ein fröhliches Lächeln auf (das mehr nach einer Grimasse aussah), bevor sie durch die Tür ging. Ich folgte ihr dicht auf dem Fuß, nicht gewillt, mir das entgehen zu lassen. 104
»Da sind ja die Damen«, schrie Snowthorpe förmlich. »Ich hatte schon gedacht, Sie hätten sich verlaufen.« Er kicherte über seinen eigenen schlechten Scherz. »Keineswegs, Snowthorpe«, erwiderte Mum etwas heftig. Er klatschte in seine feisten Hände. »Nun, dann lassen Sie es uns einmal sehen.« »Nun ja«, räusperte sich Mutter, »ich fürchte, Sie haben sich nicht gerade die beste Zeit dafür ausgesucht, Snowthorpe. Es wird im Moment gereinigt.« Der Mann runzelte die Stirn. »Gereinigt? Nun, ich sehe es mir gerne auch dabei an.« Mum warf Vater einen verzweifelten Blick zu. Der erkannte sofort, dass etwas nicht in Ordnung war, auch wenn er nicht genau wusste, was es war. Ich sprang in die Bresche. »Das ist ein sehr komplizierter Vorgang. Das liegt an … äh, am Zustand des Objektes«, meinte ich mit meiner wissenschaftlichsten Stimme, die, die mein Vater immer die Miss-KommandoStimme nennt. Mutter sprang auf meine Argumentation an wie eine Katze auf eine Maus. »Genau! So ist es. Der Reinigungsvorgang bei solch einem Stück ist außerordentlich kompliziert, wie Sie sich sicher vorstellen können.« Sie ging zu Snowthorpe hinüber, nahm ihn am Arm und steuerte ihn sanft zur Tür. »Sobald es fertig ist, werden Sie der Erste sein, dem wir es zeigen.« Ihre Stimme wurde leiser, während sie ihn durch das Foyer geleitete. »Theodosia?«, erklang Vaters Stimme scharf. »Was ist los?« »Das Herz Ägyptens ist weg, das ist los.« Sobald Mum zurückkam, verschwand sie mit Vater in 105
seinem Büro und schloss die Tür. In kurzen, knappen Sätzen konnte ich sie miteinander reden hören. In ein paar Minuten würden sie sicher das Museum auf den Kopf stellen, um es zu suchen. Ich glaubte nicht, dass sie es finden würden. Es war einfach ein zu merkwürdiger Zufall, dass Snowthorpe gerade an dem Morgen hier auftauchte, an dem wir das Verschwinden des Amuletts bemerkten. Ich meine, woher wusste er denn überhaupt, dass es hier war? Im Moment war Snowthorpe unsere einzige Spur zu demjenigen, der vielleicht etwas über das Objekt wusste – jemand, der ihm erzählt hatte, dass es hier war. Und bevor wir herausbekamen, wer es genommen hatte, mussten wir erst einmal wissen, wer sonst noch davon gewusst hatte. Wenn ich meinen Eltern das Herz Ägyptens zurückbrachte, dann würde sie das sicherlich beeindrucken. Dann würden sie endlich sehen, was für eine große Hilfe ich ihnen wirklich sein konnte, wenn sie mich nur ließen.
Ich schnappte mir meine Sachen und huschte aus der Tür, Snowthorpe nach. Die dunkelgrauen Wolken ignorierend, die gemächlich Regen abließen, rannte ich ihm hinterher. Als ich seine Rockschöße an der Straßenecke flattern sah, beschleunigte ich mein Tempo. Ein paar Häuserblocks weiter erreichten wir das British Museum. Ich eilte die Treppen hinauf und folgte Snowthorpe in das marmorverzierte Foyer mit den verschnörkelten Pfeilern, gotischen Bögen und dem riesigen Skelett eines Diplodocus-Sauriers. 106
(Mein Hass auf dieses Museum rührte zum großen Teil daher, dass es so viel großartiger war als unseres.) Ich zwang mich, nicht auf die Exponate zu starren, und sah, wie Snowthorpe einen Gang zu meiner Linken betrat. Hier war natürlich selbst ein Gang noch grandios. Ein dicker Teppich lag auf dem Boden, reich geschnitzte Paneele zierten die Wand und die Mahagonitüren trugen Namensschilder aus Messing. Als Snowthorpe anhielt, um sich mit einem Mann auf dem Gang zu unterhalten, drehte ich mich schnell um und tat so, als ob ich eines der Namensschilder lesen würde. Ich wollte nicht, dass Snowthorpe mich sah. Außerdem war die Anwesenheit eines Mädchens in der Sammlung des Museums wohl noch erklärbar, in den Bürogängen war sie es nicht. Die beiden Männer beendeten ihr Gespräch und gingen ihrer Wege, wobei der Unbekannte die Augenbrauen hob, als er mich an der Tür sah. Ich warf ihm ein kurzes Lächeln zu, wies auf Snowthorpe, murmelte irgendeinen Unsinn und ging schnell weiter. Snowthorpe betrat eines der Büros und ich blieb zwei Türen weiter stehen und versuchte zu lauschen, was mir nicht weiter schwerfiel bei der Lautstärke, mit der Snowthorpe sprach. »Nun, Tetley«, dröhnte er, »Sie lagen vollkommen falsch. Die Throckmortons haben das Herz Ägyptens nicht.« Aha! Es war also dieser Tetley gewesen, der von dem Objekt gewusst und Snowthorpe davon erzählt hatte. Er murmelte eine Antwort, die ich nicht verstehen konnte. Ich sah mich um, stellte erleichtert fest, dass der Gang leer war, und schlich näher. »Nein. Nein, ich glaube, sie bluffen. Sie haben mir 107
irgendeine Geschichte aufgetischt, dass es gereinigt werden müsste. Das nächste Mal überprüfen Sie Ihre Quellen besser!« »Jawohl, Sir. Es tut mir sehr leid, Sir«, hörte ich Tetley sagen. Snowthorpe räusperte sich. »Nun gut, dann machen Sie weiter.« Mich überfiel Panik, als ich erkannte, dass das Gespräch beendet war und Snowthorpe aus dem Büro kommen würde – direkt auf mich zu –, und zwar jeden Moment. Ich sah mich in dem langen Gang um. Es gab kein Versteck außer hinter der Tür, vor der ich stand. Ich presste mein Ohr ans Holz und hörte nichts, keine Stimmen und kein Papierrascheln. Ich hatte keine Wahl. Ganz leise drehte ich am Türknauf und öffnete die Tür einen Spalt. Es war irgendeine Art Lagerraum. Ich ging hinein und schloss die Tür, vorsichtig darauf achtend, dass sie dabei nicht zu laut Klick machte. Im Rückwärtsgehen stieß ich auf eine Teppichrolle. Ausgemusterte Stühle und ungenutzte Lampen standen in den Ecken, und auf dem Boden lagen Stapel von verstaubten wissenschaftlichen Zeitschriften, die fast so hoch waren wie ich. Ich ignorierte den Krempel, konzentrierte mich auf den Gang draußen auf der anderen Seite der Tür und lauschte. Nur eine Sekunde später hörte ich – oder besser gesagt spürte ich – Snowthorpes schwere Schritte, die sich im Gang entfernten. Das war knapp. Wie um Himmels willen hätte ich diesem Besserwisser meine Anwesenheit hier erklären sollen? Und wer war eigentlich dieser Tetley? Woher wusste er vom Herz Ägyptens? Es schien, als hätte ich nichts weiter herausgefunden als weitere Fragen. 108
Ich hörte, wie sich ganz in der Nähe eine Tür mit einem Klick schloss. Wieder hörte ich Schritte im Gang. »Der alte Knacker sollte doch gar nicht danach suchen«, murmelte jemand, als er an der Tür vorbeikam. Ich wartete noch ein paar Sekunden, dann öffnete ich leise die Tür einen Spalt und bemerkte, dass Tetleys Tür rechts von mir jetzt geschlossen war. Als ich nach links blickte, sah ich einen jungen Mann mit Hut und Stock, der rasch fortging, als ob er hinauswollte. Höchstwahrscheinlich war das Tetley. Interessant. Sobald er von Snowthorpe gehört hatte, dass das Herz Ägyptens nicht da war, musste er ganz plötzlich das Museum verlassen? Das war einfach zu auffällig. Wieder musste ich die Verfolgung aufnehmen.
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Ihm nach!
TETLEY ZU VERFOLGEN, WAR RELATIV EINFACH. Wir waren uns noch nie zuvor begegnet, und er wusste nicht, wer ich war, daher machte es nichts aus, wenn er mich sah. Ich ging ihm unauffällig durch die Great Russell Street nach, von der er nach links in die Bloomsbury Street einbog, der wir ein paar Häuserblocks bis zur Oxford Street folgten, wo es schon schwieriger wurde. Zum einen ist es eine sehr belebte Straße, und sie zu überqueren, ohne von einer Kutsche, einem Wagen, einem Omnibus oder, was noch schlimmer ist, von einem dieser neuen Motorbusse über den Haufen gefahren zu werden, verlangt ein flinkes Köpfchen und noch flinkere Füße. Außerdem stellte sie für mich eine Grenze dar, die Straße, über die ich ohne meine Eltern nicht gehen durfte. Niemals. Nun würde ich ja gerne sagen, dass mich mein Gewissen wenigstens kurz innehalten ließ, bevor ich die Straße betrat und hinüberhuschte, aber das wäre gelogen. Ich kämpfte mich tapfer durch, stets das Bild vor Augen, wie sich meine Eltern freuen würden, wenn ich ihnen das verlorene Herz Ägyptens wiederbringen würde. Hinter der Oxford Street führte mich Tetley durch ein 110
Labyrinth dunkler Straßen und gewundener Gassen mit Kneipen, Bäckereien und Buden, Pensionen und Pfandleihern. Die Häuser wurden immer schäbiger, die Luft dicker und feuchter vom schwarzen Qualm und Nebel, der wie ein böser Geist über London hing. Vergessene Wäsche hing regengetränkt vor den Fenstern. In den Hauseingängen kauerten kleine Gestalten und beäugten mich mit großen, glanzlosen Augen. Nur wenige von ihnen hatten Mäntel an, die meisten hatten sich in alte Schals eingehüllt, die fast nur noch Fetzen waren. Ich wünschte, ich hätte etwas Taschengeld bei mir, damit ich es mit ihnen teilen könnte. Ehrlich gesagt wurde ich langsam etwas nervös. Ich war mir sicher, dass man mir genau deshalb verboten hatte, über die Oxford Street hinauszugehen. Ich warf einen Blick auf Tetley und kam ihm etwas näher. Der hielt einen Moment inne, um auf die Uhr zu sehen, und sah sich auf der Straße um. Ich bückte mich, um an meinen Stiefelknöpfen zu fingern. Da hörte ich plötzlich das Geräusch von Schritten, die kurz hinter mir anhielten. Ein kleines, schmieriges Angstgefühl krampfte mir den Magen zusammen. Ich zwang mich, mich aufzurichten, und blickte unauffällig über die Schulter, doch ich konnte niemanden entdecken. Zumindest niemanden, der aussah, als ob er mir folgte. Allerdings würde ja niemand den Eindruck erwecken wollen, weil er versuchen würde, genau das zu verhindern, nicht wahr? Doch halt! Da hinten war jemand mit ziemlich guter Kleidung, ein Junge, der nur ein wenig größer war als ich selbst. Er hatte eine Stirnlocke, die aussah wie ein einzelnes Teufelshörnchen. »Henry!« Eine Welle der Erleichterung durchlief mich. 111
Henry grinste mich an – er lächelte tatsächlich! Als ob das alles nur ein Spaß wäre! Dann zog er die Hände aus den Hosentaschen und kam auf mich zu. Tetley lief weiter. Meine Furcht, ihn zu verlieren, war größer als mein Verlangen, Henry dafür eins überzubraten, dass er mich fast zu Tode erschreckt hatte, daher wandte ich mich um, um ihm zu folgen. »Theo! Warte!«, rief Henry mir halblaut nach. Ich wirbelte herum. »Henry! Du Dummkopf! Hast du denn keine Ahnung vom Spionieren? Du kannst doch nicht solchen Krach machen, wenn du jemandem folgst!« Mit breitem Grinsen schloss Henry zu mir auf. »Aber dich habe ich doch ganz gut beschattet, oder?« »Komm schon, sonst verlieren wir ihn noch.« Er war tatsächlich gut gewesen, als er mir gefolgt war, aber das würde ich ihm nicht sagen, damit er nicht noch eingebildeter wurde, als er so schon war. Allerdings muss ich zugeben, dass ich froh war, auf diesen Straßen einen Begleiter zu haben. »Warum verfolgst du ihn?«, fragte Henry. Ich ging auf die Straße, Tetley sorgfältig im Auge behaltend. »Warum folgst du mir, wenn du das nicht weißt?« Er zuckte mit den Schultern. »War immer noch besser, als in dem muffigen alten Museum herumzuhängen.« »Unser Museum ist nicht muffig«, verwies ich ihn. An einer Kreuzung, an der sieben Straßen wie die Speichen eines Rades aufeinandertrafen, hielten wir an. Erschrocken stellte ich fest, dass wir uns in Seven Dials befanden, einer der berüchtigtsten Gegenden Londons. Wenn meine Eltern das je herausfanden, würde ich eine Menge Ärger bekommen. Hoffentlich waren sie so 112
begeistert darüber, das Herz Ägyptens wiederzubekommen, dass sie alles andere vergessen würden. Tetley hielt an und sah sich um, als ob er jemanden erwartete. Henry flüsterte: »Was ist eigentlich los, Theo?« Ich fragte mich, ob ich ihm trauen konnte. Er hatte immerhin einiges riskiert, um mir zu folgen. Und außerdem konnte es nicht schaden, wenn noch jemand wusste, was los war … nur falls es schiefging. »Du musst mir erst versprechen, niemandem etwas zu sagen!« »Ich verspreche es!« Schnell klärte ich ihn auf. Als ich fertig war, pfiff Henry durch die Zähne. »Das ist wirklich verdächtig.« »Genau. Ich bin sicher, er hat irgendetwas mit dem Verschwinden zu tun.« »Da hast du sicher recht«, stimmte Henry zu. Stolz stieg in mir auf. Vielleicht war es instinktiv richtig gewesen, ihm zu vertrauen. Wieder ging Tetley weiter und wir mit ihm. Er betrat eine Nebenstraße, in der die Häuser nicht nur schäbig, sondern nahezu verfallen waren. Die düsteren, rattenverseuchten Straßen waren voller apathischer, erschöpfter Männer und Frauen. Schmutzige, hohläugige Kinder kauerten zu ihren Füßen. Ihre traurigen Gesichter und stumpfen Augen waren beängstigend. Henry schloss dichter zu mir auf, und ich atmete tief ein, um ruhiger zu werden. Meine Lungen füllten sich mit der dreckigen Londoner Luft, die nach der Themse roch, auf die wir uns zuzubewegen schienen. »Wie lange wollen wir ihm denn noch folgen?«, erkundigte sich Henry unsicher. »Ich bin nicht sicher.« Ich fragte mich genau dasselbe und versuchte, mir darüber klar zu werden, wie weit ich 113
in diesen Teil der Stadt noch eindringen sollte. Aber ich wollte nicht, dass Henry herausfand, wie unsicher ich war. Ich war die Ältere und hatte die Pflicht, tapfer zu sein. Doch es schien, als ob wir nirgendwohin kämen – zumindest nirgendwohin, wo wir gerne sein wollten. Und ich wollte auch nicht, dass man uns dabei die Kehle durchschnitt. »Sieht aus, als ob er zum Fluss geht. Wir folgen ihm bis dorthin, und wenn bis dahin nichts passiert, machen wir, dass wir zurückkommen.« Nur würde ich dann einen anderen Weg nehmen. Gerade in diesem Moment bog Tetley in eine besonders schmutzige Straße ein, in der es nach Abwässern roch. Fast hätte ich mir die Nase zugehalten, aber dann fiel mir ein, dass das vielleicht jemanden beleidigt hätte. Und das war nicht die Gegend, in der man jemanden beleidigen sollte. »Atme durch den Mund!«, wies ich Henry an. »Keine Sorge, mach ich«, meinte er gepresst. Nervös blickte ich auf die Schatten zwischen den Häusern und wurde fast ohnmächtig vor Angst, als sich einer von ihnen davon löste und auf uns zuzulaufen begann. »Lauf!«, flüsterte ich eindringlich.
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Ein Schlag auf den Kopf
DAS MUSSTE ICH HENRY nicht zweimal sagen. Wir starteten gleichzeitig, und es war uns egal, wie nahe wir dabei Tetley kamen. Vielleicht hatte er ja genau wie Vater eine scharfe kleine Klinge in seinem Spazierstock verborgen und konnte uns alle beschützen. Ich fürchte, wir rannten jämmerlich langsam, denn die schweren Schritte kamen immer näher. Ich griff nach Henrys Arm. Eine Kirche. Wir würden in eine der Kirchen flüchten. Verzweifelt sah ich mich um. Die ganze Zeit über hatte an jeder Ecke eine Kirche gestanden. Jetzt, wo ich eine brauchte, gab es nur Brauereien und Kneipen. Mistkram! Jetzt waren wir fast bei Tetley. Das war doch sicher das kleinere Übel, oder? Selbst wenn er etwas mit dem gestohlenen Kunstgegenstand zu tun hatte, machte ihn das doch noch nicht zu einem, der sich weigern würde, Kindern zu helfen, oder? Oder würde er uns nur einfach die Kehle durchschneiden und unsere Leichen in die Themse werfen? Ich entschied mich für den Schurken, den ich kannte, 115
anstatt für den Unbekannten. Gerade als ich den Mund öffnete, um nach Tetley zu rufen, fühlte ich eine kalte, klauenartige Hand an meinem Ellbogen. Fast hätte ich aufgeschrien, wenn ich nicht sofort die. Stimme des Angreifers erkannt hätte. »Was machst du denn hier, Miss?« »Sticky Will!« Erleichterung überfiel mich, so warm und weich wie Honig. »Wie kommst du denn hierher?« Henry legte die Hände auf die Knie, um wieder zu Atem zu kommen. Will ließ meinen Ellbogen los und zuckte mit den Schultern. »Gehört zu meinem Bereich.« »Bereich? Meinst du, dass Taschendiebe eigene Bereiche haben?« Wie interessant. »Klar doch. Sonst würden wir uns um jeden Dreck streiten, der hier langkommt.« »Aber niemand hat versucht, uns zu bestehlen«, meinte ich. Will sah unwillig drein. »Klar. Ich bin euch nach, von der Broad Street an. Hab den andern Kerlen Zeichen gegeben, sie sollen euch in Ruhe lassen.« »Oh.« Da waren wir dank Will gar nicht in ernsthafter Gefahr gewesen. »Ich danke dir. Ich danke dir sehr.« Wieder einmal hatte mir Will den Rücken gedeckt. Und ich hatte ihn nicht einmal darum gebeten. Ich sah mich nach Tetley um, der gerade um die nächste Ecke bog. »Na, dank mir nicht zu viel, Miss. Ein Kerl da kriegt das Zeichen nicht mit.« »Du meinst, uns folgt jemand? Außer dir?« »Ja. Seit der Queen Street.« »Ist das der, der mir vom Bahnhof gefolgt ist?« »Nee. Hab ich auch erst gedacht. Ist er aber nicht.« »Wer ist es dann?«, fragte ich und blickte mich um. 116
»Nicht hinsehen! Sonst weiß er, dass du ihn gesehen hast. Wer weiß, was er dann macht?« Ich nahm Wills Arm. »Wir dürfen den Mann vor uns nicht aus den Augen verlieren. Ich glaube, er hat etwas Wertvolles aus dem Museum gestohlen. Ich muss herausfinden, was er damit vorhat.« »Mann, Miss. Das is ja wie im Groschenroman.« Er klang ziemlich fröhlich. »Na, dann los!« Er schob die Hände in die Hosentaschen und schlenderte los, wobei er aussah, als mache er lediglich seinen Morgenspaziergang. Ich versuchte, genauso unauffällig auszusehen, aber es ist schrecklich schwer herumzuschlendern, wenn man weiß, dass man verfolgt wird. Das schwache Gefühl von Abenteuer, das ich anfangs gehabt hatte, war verschwunden, und es blieb nur ein grimmiges Pflichtgefühl. Dann kam mir der Gedanke – wir waren ein Team! Wie eine Gruppe von Archäologen auf einer Ausgrabung oder einer Forschungsreise. Ein warmes Gefühl machte sich in meiner Brust breit und sofort wurden meine Schritte leichter. Wir gingen noch zwei Häuserblocks weiter, bis Tetley plötzlich schneller wurde und mit einem kurzen, unerwarteten Sprint in einer kleinen Gasse an der Parker Street verschwand. Hinter uns konnten wir hören, wie die Schritte der Person, die uns verfolgte, sich beschleunigten. Schnell blickte ich mich um. Wollte er uns jetzt angreifen, da Tetley außer Sichtweite war? Ich bemerkte, wie sich Will auf der Suche nach einem Versteck umsah. Das schäbige Haus neben uns mit seinen noch schäbigeren Bewohnern schien uns nicht allzu viel Schutz zu versprechen. Im Nu waren die Schritte bei uns angelangt. Ich holte 117
tief Luft, blickte so böse wie möglich drein und machte mich auf eine Konfrontation gefasst.
Aber der Mann rauschte an uns vorbei! Er war überhaupt nicht uns gefolgt, sondern Tetley! Wenn das der Fall war, dann wusste der Verfolger höchstwahrscheinlich auch über das Herz Ägyptens Bescheid. Mistkram! Warum um Himmels willen annoncierten sie es nicht gleich in der Times? In stillschweigender Übereinkunft schlichen wir alle drei die Gasse entlang. Jede Menge Dreck mischte sich ins Regenwasser und lief über die Pflastersteine. Die Ziegelsteinmauern waren schwarz von Ruß und von der Feuchtigkeit zerfressen. Die Gasse wirkte wie eine Mischung aus einem Rinnstein und einer Mülltonne. Außerdem war es eine Sackgasse. Tetley wurde der Weg von einer Backsteinmauer versperrt. Sein Verfolger kam näher und zog eine lange schwarze Keule aus seinem Mantel. Tetley wandte sich um und erkannte gerade noch, wie der Stock auf seinen Kopf zusauste. »Er hat dem Kerl eins übergebraten«, meinte Will, der die ganze Sache aus irgendeinem verdächtigen Grund lustig zu finden schien. Tetley fiel in sich zusammen wie ein verunglücktes Soufflé. Ich hielt mir die Hand vor den Mund, um nicht aufzuschreien. War er tot? Oder nur bewusstlos? Ich wusste es nicht. Aber es war eindeutig, dass der Kerl auf Nummer sicher ging. Der Angreifer (groß und in gewisser, schurkenhafter 118
Weise sogar ziemlich schick) kniete sich rasch nieder und begann, Tetleys Taschen zu durchsuchen. In der oberen Manteltasche fand er etwas, das er herausnahm und selbst einsteckte. Er fühlte Tetley den Puls, stand dann auf, zog den Mantel gerade, rückte sich den Hut zurecht und wandte sich wieder zur Straße. Schnell sprangen wir außer Sichtweite. Mein Verstand schlug Purzelbäume. Der arme Tetley! Hatten wir gerade einen Mord beobachtet? Sollte ich das Herz Ägyptens vergessen und lieber Hilfe holen? Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Glücklicherweise übernahm Will das Kommando. »Ihr beide wartet bei der Bude an der Ecke. Ich gehe hier lang und warte an der Brauerei auf ihn. So erwischen wir ihn, egal wie rum er geht.« Meine Unentschlossenheit verflog, als ich aus der Gasse ein Stöhnen hörte. Wenn es Tetley gut genug ging, um zu stöhnen, dann konnte er offensichtlich auch auf Hilfe warten, bis Henry und ich das Herz Ägyptens wiederhatten. Doch noch bevor Will in Position gehen konnte, kam der Angreifer rasch aus der Gasse und lief die Drury Lane zum Fluss entlang. Wir folgten ihm alle drei. Diesmal kamen wir nicht mal einen einzigen Häuserblock weit, bevor wir wieder den Klang von Schritten hinter uns hörten. Also wirklich! Hat denn in London niemand etwas Besseres zu tun, als anderen zu folgen? Will sah mich an und wies leicht mit dem Kopf auf die Straße. Ich nickte vorsichtig und ließ ihn wissen, dass ich es auch gehört hatte. Er hielt drei Finger hoch. Drei Verfolger. Dieses Mal konnten wir natürlich nicht darauf zählen, dass uns der Mann, dem wir folgten, irgendwie helfen würde. 119
An der Russell Street schien der Mann vor uns plötzlich zu bemerken, dass er verfolgt wurde (obwohl er wahrscheinlich nicht merkte, dass ihm halb London auf den Fersen war!). Er änderte die Richtung und ging vom Fluss weg, so schnell, dass wir traben mussten wie Pferde, um mit ihm Schritt zu halten. Die Verfolger waren natürlich auch nicht dumm und liefen schneller, bis wir in einer ganzen Horde die Straße entlangliefen. Und niemanden schien es zu kümmern. Auf meiner Seite der Oxford Street hätten die Leute uns zumindest nachgestarrt oder »He ihr da!« gerufen. Aber nicht auf dieser Seite. Hier gingen sie schnell aus dem Weg und warteten ab, um zuzusehen. Der Mann vor uns schien mittlerweile verzweifelt zu versuchen, seine Verfolgerschar loszuwerden. Er bog ab und schlug Haken, nahm Nebenstraßen und Gassen, aber wir blieben ihm hartnäckig auf den Fersen. Schließlich kamen wir an der Rückseite von Covent Garden an. Der Mann rannte um die Ostecke des Gartens, wobei er geschickt den Wagen auswich, die noch vom Markt am Morgen dort standen. Schließlich gelangten wir am Westende des Gartens zum Hof von St. Pauls. Natürlich! Er wollte in einer Kirche Zuflucht suchen! Brillant! Auch seine übrigen Verfolger merkten dies schnell. Sie schlichen mit tödlicher Anmut auf den Fremden vor uns zu, was mich an Isis erinnerte, wenn sie Mäuse jagte. Sie teilten sich auf und schnitten ihrem Opfer den Weg zur Kirchentür ab. Wir drei hockten uns hinter eine der großen Säulen, um zuzusehen und hoffentlich außer Sichtweite zu bleiben. Der Mann, der Tetley angegriffen hatte, holte seinen 120
Schlagstock heraus und duckte sich kampfbereit. Da die anderen ihm zahlenmäßig überlegen waren, griff er zuerst an und hatte damit das Überraschungsmoment auf seiner Seite. Doch das dauerte nur einen Augenblick, bevor sie sich mit fliegenden Fäusten auf ihn warfen. In die Ecke gedrängt, kämpfte er wie ein Wilder und schwang seine Keule wie ein Schwert, stieß mit den Ellbogen zu und trat um sich, doch letztendlich waren es zu viele. Zwei der Männer ergriffen ihn schließlich an den Armen und einer der anderen ging zu ihm, legte ihm den Arm um den Hals, als wolle er ihn umarmen, und stieß ihm ein Messer in den Bauch. Als der Angreifer zurücktrat, stürzte der Mann zu Boden. In der Hand des anderen blinkte ein hässliches Messer auf, blutverschmiert. »Oh Gott«, flüsterte Will. »Oh Gott, allerdings«, wiederholte Henry mit großen, runden Augen. Ich stieß ihm mit dem Ellbogen in die Rippen. Diese Männer waren wirklich gefährlich. Wenn wir Glück hatten, kamen wir mit dem Leben davon, das Herz Ägyptens konnten wir vergessen. »Psst!«, mahnte Will. »Die durchsuchen ihn, wie er den anderen.« Schnell und effizient leerten sie alles aus den Taschen des gefallenen Mannes, einschließlich dessen, was er Tetley abgenommen hatte, was auch immer das war (und ich hätte gewettet, dass es das Herz Ägyptens war, so aufgeregt, wie sie klangen). Einer von ihnen – der, der ihn niedergestochen hatte – steckte seinen Fund ein und stieß triumphierend einen Ruf aus. »Das ist deutsch!«, behauptete Will. Er hatte recht. Ich wandte mich zu ihm um. »Woher weißt du das?« 121
»Bin ich etwa nicht gut genug, um Deutsch zu erkennen, wenn ich es hör?«, fragte er missbilligend. »Mach dich nicht lächerlich. Natürlich nicht! Ich meine nur, wo hast du es schon gehört?« »Bei so ’ner politischen Versammlung, da war das.« Ich ignorierte Wills plötzlichen Anfall von Beleidigtsein und wandte mich wieder den Männern zu, die von der Leiche zurückgetreten waren und mit leisen Stimmen eindringlich aufeinander einsprachen. Dann gingen sie einzeln davon, jeder in eine andere Richtung. Ich war hin und her gerissen. Einerseits mussten wir nach dem Verletzten sehen. Aber ich musste auch das Herz Ägyptens im Auge behalten. Und irgendwann mussten wir auch zurück zu Tetley. Ich wandte mich an Will. »Kannst du dem folgen, der das Päckchen aus der Manteltasche eingesteckt hat?« Will nickte. »Unternimm nichts! Folge ihm nur und finde heraus, wo er hingeht. Und sei um Himmels willen vorsichtig!« Will nickte nur kurz. »Schon klar. Wenn ich ihm nah genug komme, kann ich es ihm vielleicht wieder abnehmen.« Ich nahm ihn am Arm und schüttelte ihn leicht, woraufhin er mich erstaunt ansah. »Leg dich nicht mit diesen Männern an! Sie haben eben kaltblütig auf einen Mann eingestochen, mitten auf dem Kirchplatz. Ich möchte mir gar nicht ausmalen, was sie dir antun könnten.« »Na, danke, Miss. Das is ja nett von dir, dass du dir Sorgen machst. Aber das hier is mein Gebiet. Ich komm schon klar.« Er stand auf und huschte immer noch gebückt fort. Henry sprang auf und versuchte, ihm zu folgen. Ich griff 122
ihn am Mantel und zog ihn wieder herunter. »Was hast du denn vor?« »Ich will dem Deutschen nach. Mit Will.« »Du wirst nichts dergleichen tun. Will ist ein Profi und kann auf sich selbst aufpassen. Du wirst nur Schwierigkeiten kriegen. Außerdem müssen wir nachsehen, ob wir dem Kerl da helfen können.« Henry murmelte etwas in der Richtung, dass das ein Haufen Blödsinn sei. »Aber«, flüsterte ich, »das hier ist doch viel gefährlicher, als einfach nur jemandem zu folgen! Das hier ist ein Angreifer, jemand, der einem eins auf den Schädel gibt! Er könnte immer noch leben und gefährlich sein.« Das munterte Henry auf, daher folgte er mir, als ich aus unserem Versteck schlich. Vorsichtig gingen wir zu dem am Boden liegenden Mann. Mein Herz klopfte so wild in meiner Brust, dass ich fürchtete, es würde herausspringen und sich in der Kirche verstecken. Noch nie zuvor war ich auch nur in der Nähe eines Toten gewesen. Nicht mal eines toten Dinges. Naja, außer den Mumien und so etwas natürlich, aber das war schon so lange tot, dass es eigentlich nicht mehr zählte. Es war geradezu gespenstisch still. Aus den umliegenden Straßen erklang kein Verkehrslärm oder Krach, als ob über dem Ort selbst Totenstille lag. »Das ist ganz schön gruselig, was?«, flüsterte Henry. »Sei nicht so eklig!«, verlangte ich. Ich weiß nicht, warum wir flüsterten, aber im Angesicht des Todes schien uns das angemessen zu sein. Zuerst sah ich die Beine des Mannes, die hinter dem Gebäude hervorsahen. Ich streckte die Hand aus, um Henry zu bremsen, damit er nicht geradewegs darüber123
fiel. Langsam ging ich herum und folgte den langen Beinen bis zum Körper des Mannes. Er lag ganz still, und sein Gesicht war totenblass, als ob alles Blut daraus gewichen wäre. So viel Blut! Seine ganze Weste war dunkelrot und an seiner linken Seite bildete sich eine kleine Pfütze. Ich versuchte zu erkennen, ob er noch atmete, aber seine Brust schien sich nicht zu bewegen. Kein gutes Zeichen. Behutsam kniete ich mich so dicht neben ihn, wie ich es wagte. Ich neigte mich vor und starrte seine Schnurrbarthaare an. Bewegten sie sich? Ich wandte mich an Henry. »Er atmet n…« Kräftige Finger schlossen sich um meinen Ellbogen. Fast hätte ich aufgeschrien, doch ich biss die Zähne zusammen, damit mir kein Laut entwich. So weit wie möglich krabbelte ich von dem Mann weg, was nicht sehr weit war, da er sich wie eine Klette an mich krallte. Henry legte gerade die Arme um mich, um mir zu helfen, von ihm loszukommen, als der Mann ein einziges Wort hervorstieß: »Hilfe!« Es war sehr schwach, aber es war ein Wort. Und wenn er sprechen konnte, dann war er definitiv nicht tot. Was bedeutete, dass wir ihm helfen mussten. Ich atmete aus und zwang mich, ihm näher zu kommen, falls er noch etwas sagen wollte. »Henry, ich glaube, auf dem Weg hierher sind wir an der Bow Street an einer Polizeiwache vorbeigekommen. Glaubst du, dass du dorthin zurückgehen und Hilfe holen kannst?« »Hast du nicht Angst, dass sie glauben könnten, wir hätten ihn umgebracht?« »Das hättest du wohl gerne. Wir sind Kinder. Kinder laufen nicht herum und erstechen Fremde.« 124
Der Mann zupfte mich am Ärmel und zog mich näher. »Keine Polizei«, brachte er hervor. »Aber Sie bluten wie ein angestochenes Schwein. Wir müssen Hilfe holen.« »Som set hau«, sagte er. So ein Mist! Jetzt redete er in einer fremden Sprache. Sprach denn hier niemand mehr das Englisch unserer Königin? »Es tut mir leid, ich verstehe Sie nicht.« Der Mann leckte sich über die Lippen und versuchte es erneut. »Somerset House. Da Hilfe.« »Somerset House?«, fragte Henry nach. »Ja, das ist ein paar Blocks von hier am Fluss«, erklärte ich. »Ich weiß, wo das ist«, sagte Henry. »Aber was für Hilfe erwartet er denn von dort? Ich finde es sehr verdächtig, dass er keine Polizei will. Woher wissen wir denn, dass er uns nicht in eine Falle zu locken versucht?« »Warum sollte er, wenn wir ihm doch helfen wollen? Außerdem kann er uns, wenn er wieder zusammengeflickt wird, vielleicht sagen, woher er von dem du-weißtschon-was weiß und warum er Tetley eins übergezogen hat, um es zu bekommen.« »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass er dir das erzählen wird. Der Kerl riecht doch förmlich nach ›Geheimnis‹.« Ich wandte mich wieder um, als der Mann erneut an meinem Ärmel zupfte. »Dritter Stock. Antiquitätengesellschaft.« Er verstummte, und ich dachte schon, er wäre bewusstlos geworden oder noch Schlimmeres. Doch dann sprach er wieder, und dieses Mal musste ich fast das Ohr an seinen Mund legen, um ihn verstehen zu können. »Wigmere. Nur Wigmere.« Er krallte sich in meinen 125
Ärmel und bemühte sich verzweifelt, die Worte hervorzubringen. »Sagt ihm …« Noch einmal holte er zitternd Luft. »… die Mächte des Chaos …« Dann verstummte er.
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Somerset House
DER MANN LAG SO BLASS UND STILL DA, dass ich schon fürchtete, er würde nicht lange genug leben, um Hilfe für ihn zu holen. Wenn wir nur etwas Medizin oder Verbandszeug hätten! Etwas, das ihm helfen würde durchzuhalten. Aber natürlich! Meine Amulette! Ich zog mein kleines Herzamulett aus dem Ausschnitt und zog es über den Kopf. »Was machst du denn da?«, erkundigte sich Henry. »Ich versuche, ihn zu retten«, erwiderte ich und legte das Amulett vorsichtig direkt auf sein Herz. »Indem du ihm eine alberne Kette gibst?« »Ach, halt die Klappe. Sorg dafür, dass es da liegen bleibt. Pass auf, dass er es nicht versehentlich herunterstößt.« »Aber was ist das denn?«, wollte Henry wissen. »Wie kannst du nur die Hälfte deines Lebens im Museum verbringen und nicht wissen, was das ist?«, fragte ich völlig verzweifelt. »Das ist ein Amulett. Es beschützt seine Lebenskraft, bis ich mit Hilfe wiederkomme.« Stirnrunzelnd blickte ich auf den Verletzten. Er 127
brauchte mehr als nur spirituelle Hilfe. Entschlossen stieg ich aus einem meiner Unterröcke. (Wie gut, dass ich der Kälte wegen heute Morgen zwei davon angezogen hatte!) »Hier«, sagte ich und warf ihn Henry zu. Er schrak zurück. »Was soll ich denn damit?« »Einen Verband machen, du Dummkopf!« Zögernd griff er mit zwei Fingern nach dem Unterrock. Ich sah ihn angewidert an und verließ den Kirchhof. Doch auch wenn er mir auf die Nerven ging, beneidete ich ihn nicht um die Aufgabe, einen halb toten Mann bewachen zu müssen. Ich rannte durch die engen Straßen, bis ich schließlich zum Strand, der Straße am Themseufer, kam. Direkt vor mir stand das Somerset House. Es war groß und ehrfurchtgebietend – fast schon ein Palast – mit tausend Fenstern zur Straße hin. Da ich keine Aufmerksamkeit erregen wollte, lief ich langsamer über den riesigen Hof. Der Pförtner am Eingang zog eine Augenbraue hoch (ich bin sicher, dass ich sehr schmutzig war) und fragte, was ich hier wolle. Ich richtete mich auf, hob das Kinn und warf ihm so gut wie möglich einen hochnäsigen Blick zu, den ich bei Großmutter Throckmorton gesehen hatte. »Ich bin hier, weil ich zu Wigmere in der Antiquitätengesellschaft im dritten Stock will.« »Meinst du die Antikengesellschaft?« »Äh, ja, genau.« Der Mann blinzelte ein Mal und wies mir dann den Weg zur Treppe. Manchmal ist es ganz nützlich, so eine große Dame in der Verwandtschaft zu haben. Unter den neugierigen Blicken der Männer, die im Somerset House zu tun hatten, stieg ich die Treppe 128
hinauf. (Frauen schien es hier nicht zu geben.) Im dritten Stock sah ich ein großes Messingschild, das die Aufschrift »Antikengesellschaft« trug. Ich hatte es fast geschafft. Ein junger, recht steif aussehender Herr mit einer Nickelbrille trat aus seinem Büro. »Kann ich dir helfen?«, fragte er in einem Ton, bei dem man weiß, dass er nicht die Absicht hat zu helfen, sondern nur versucht, dass man vor Scham nicht das tut, was man eigentlich vorhat. Noch einmal versuchte ich es mit dem GroßmutterThrockmorton-Blick, dem, wo sie so von oben herabsieht. (Manchmal läuft es nicht so, wie man möchte, aber der Blick ist wirklich sehr effektiv.) »Ich möchte Wigmere sehen, wenn ich bitten darf.« Was natürlich nicht im Mindesten bitten hieß, sondern nur, wenn Sie mir verdammt noch mal aus dem Weg gehen würden! Der junge Mann verzog den Mund. »Hast du einen Termin bei Lord Wigmere?«, fragte er, obwohl er genau wusste, dass ich keinen hatte. Oha. Dass der Kerl ein Lord war, hatte ich nicht gewusst. »Nein, ich fürchte, dass die ganze Sache etwas zu plötzlich war. Ich habe eine wichtige Nachricht für ihn.« »Gib sie am besten mir, ich werde es ihm ausrichten.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich darf sie nur Lord Wigmere geben.« Der Mann war offensichtlich beleidigt, dass ich mehr wusste als er. »Nun, ich fürchte, das ist unmöglich.« Wie sollte ich an diesem unangenehmen Wachhund nur vorbeikommen? »Wie wäre es, wenn ich ihm eine Notiz schreibe, die Sie ihm bringen, und er kann dann entscheiden, ob er mich sehen möchte oder nicht?« Der Mann seufzte auf. »Wir haben hier wirklich viel zu tun. Wir haben keine Zeit für Kinderspiele.« 129
»Verzeihung, Sir«, sagte ich mit einer Spur Verachtung im »Sir«, »aber ich kann meine Zeit genauso wenig mit Spielen vertrödeln wie Sie. Die Angelegenheit ist von größter Wichtigkeit. Es geht sogar um Leben und Tod. Geben Sie mir jetzt ein Stück Papier oder soll ich es in einem der anderen Büros versuchen?« Das machte ihn sprachlos. Er kniff die Lippen zusammen und zog sich in sein Büro zurück, aus dem er mit einem Stück Papier zurückkehrte, das er mir reichte. Verärgert sah ich ihn an. »Und womit soll ich schreiben – etwa mit Blut?« Der Vorschlag schien ihn anzuwidern, und er holte mir aus seinem Büro den kürzesten Bleistiftstummel, den ich je gesehen hatte. Ich ignorierte den Versuch einer Beleidigung, legte das Papier an die Wand und schrieb meine Nachricht.
Lieber Lord Wigmere, ein Mann stirbt. Muss sie dringend sehen. Mit freundlichen Grüßen Theodosia Elizabeth Throckmorton Sorgfältig faltete ich das Papier zweimal zusammen und wollte es schon dem jungen Mann geben. Seine Augen waren darauf geheftet wie die eines Jagdhundes auf seine Beute und seine Augen glänzten. »Entschuldigung«, sagte ich. »Könnte ich wohl bitte einen Umschlag haben?« Er sah mich an, als ob er mich am liebsten ohrfeigen würde. Doch er ging in sein Büro und brachte mir einen Umschlag. 130
Sorgfältig steckte ich die Nachricht in den Umschlag und betete nur, dass diese schrecklichen Verzögerungen den Verletzten nicht schließlich doch noch das Leben kosten würden. Ich versiegelte den Umschlag gründlich, damit der Mann nicht hineinsehen konnte, und reichte ihn ihm. Er nahm ihn (eigentlich grapschte er danach) und stürmte durch den Gang, so steif, dass ich mich unwillkürlich fragte, ob er ein Stahlrohr im Rücken hatte. Da ich das alles nicht noch einmal durchspielen wollte, merkte ich mir gut, an welche Bürotür er klopfte. Er trat ein, kam aber gleich darauf wieder heraus, mit einem Gesichtsausdruck, als hätte man ihn gezwungen, Lebertran zu schlucken. »Er wird dich empfangen, Miss.« Das »Miss« betonte er reichlich ironisch, was ich jedoch zu ignorieren beschloss, denn schließlich hatte ich mein Ziel erreicht. Als wir schließlich an Wigmeres Tür standen, klopfte der lästige kleine Mann an, bevor er sie öffnete. »Miss Throckmorton möchte Sie gerne sprechen, Sir.« Ich trat ein und er schloss die Tür hinter mir. Lord Wigmere saß an seinem Schreibtisch über ein Schriftstück gebeugt. »Einen Moment noch bitte«, sagte er, ohne vom Schreiben aufzusehen. Ganz schön abgebrüht. Wenn mir jemand geschrieben hätte, dass jemand im Sterben liegt, hätte ich mich sofort mit ihm befasst. Außerdem war er alt, älter als Vater, mit weißen Haaren und einem dichten weißen Schnurrbart. Am dritten Finger der rechten Hand trug er einen interessanten Ring aus Gold und Lapislazuli. Er war abgeschrägt und trug eine kleine Hieroglyphe. Er erinnerte mich an einen Ring von Ramses II., den ich einmal im British Museum gesehen hatte. 131
»Nun, Miss Throckmorton«, sagte er so plötzlich, dass ich aufschrak. »Was soll das mit dem sterbenden Mann?« Als ich aufsah, blickte ich in Augen, die so blau waren wie das Meer und mindestens doppelt so tief. Sein Gesicht war voller Runzeln, und er sah aus, als trüge er die Last der ganzen Welt auf seinen Schultern. »Einer Ihrer Männer hat mich geschickt, Sir. Ich kenne seinen Namen nicht, denn er hat ein Messer in die Rippen bekommen und kann nur schwer sprechen. Aber er sagte mir, ich solle Ihnen sagen, es ginge irgendwie um Mächte und Chaos.« Wigmere horchte auf. »Wo ist das passiert?«, schnappte er. »Vor St. Pauls. Mein Bruder Henry ist bei ihm, bis Sie jemanden hinschicken können.« Wigmere stand auf und nahm den Spazierstock, der an der Wand lehnte. Er lief zur Tür, riss sie auf und schrie: »Boythorpe!« Ich hörte schnelle Schritte im Gang und der lästige Wachhund tauchte vor Wigmere auf. (Ich hatte ihm seine unangenehme Persönlichkeit schon fast verziehen, als ich hörte, dass er den Namen Boythorpe tragen musste.) »Holen Sie mir Thornleigh, sofort. Und auch Dodson und Bramfield.« Er drehte sich um und sein Blick fiel auf mich. »Und bringen Sie Miss Throckmorton eine Erfrischung. Sie sieht aus, als hätte sie es nötig.« Wigmere stampfte wieder zum Schreibtisch und setzte sich. »Nun, Miss Throckmorton. Wären Sie bitte so freundlich, mir alles von Anfang an zu erzählen?« »Bitte nennen Sie mich Theodosia. Das machen alle.« Er nickte. Was sollte ich ihm sagen? Ich hatte keine Ahnung, auf wessen Seite er stand. Nicht einmal, wie viele Seiten es 132
eigentlich gab, wenn man es genau nahm. Wie vertrauenswürdig war ein Mann, wenn einer seiner Leute einen anderen Mann niedergeschlagen hatte, um ihm ein wertvolles Kunstobjekt zu stehlen? »Ah«, meinte Wigmere und lehnte sich zurück. »Du fragst dich wahrscheinlich, ob du mir trauen kannst.« »Nun, ja, gewissermaßen. Ihr Freund hat jemanden niedergeschlagen und ihm etwas weggenommen, das ihm nicht gehörte.« Wigmere erstarrte. »Das Herz Ägyptens? Hat Stokes es bekommen?« »Das Herz Ägyptens! Was wissen Sie darüber? Und ja, Stokes hat es bekommen, aber die Männer, die ihn überfallen haben, haben es ihm weggenommen.« »Ich kann dir versichern, dass mein Mann, Stokes, nur verhindern wollte, dass es in die falschen Hände gerät. Warum erzählst du mir nicht einmal, was du darüber weißt?« Die Geheimnisse des Museums wollte ich nicht gerne verraten, und noch viel weniger wollte ich, dass mich Wigmere für verrückt hielt. Aber ich sah in seine großen, tiefen Augen, aus denen ernsthaft Gerechtigkeit und Stärke leuchteten, und bevor ich es recht begriff, erzählte ich ihm alles. Als ich gerade von Snowthorpes Besuch im Museum und der Entdeckung, dass das Herz Ägyptens verschwunden war, berichtet hatte, klopfte es an der Tür. Ohne abzuwarten, traten drei Männer ein. Wigmere stellte uns vor. »Dodson, Thornleigh, Bramfield, das ist Theodosia Throckmorton. Sie hat mir erzählt, dass Stokes überwältigt wurde, er liegt schwer verletzt, vielleicht schon tot, auf dem Kirchhof von St. Pauls. Ihr Bruder Henry ist bei ihm. Geht und bringt beide sofort hierher. Dodson, Sie und 133
Bramfield bringen Stokes dann zur Ebene sechs. Ich sorge dafür, dass ein Arzt da ist. Thornleigh, Sie bringen den jungen Herrn Throckmorton in mein Büro, wenn Sie zurückkommen.« Die drei Männer nahmen die Anweisungen, ohne zu fragen, entgegen und verschwanden sofort wieder. »Du kannst fortfahren, kleines Fräulein«, sagte Wigmere sehr freundlich, aber es lag auch Härte darin. Man wusste sofort, dass er einen, wenn man nicht gleich tat, was er wollte, schon dazu bringen würde, es zu tun. Ich erklärte, wie Henry, Sticky Will und ich Tetley gefolgt waren, weil er die letzte mögliche Verbindung zum Herz Ägyptens war. Ich erzählte ihm, dass dann Stokes aufgetaucht war. Wigmeres Augenbrauen zogen sich immer höher, je länger ich sprach, bis sie schließlich unter seinen Haaren verschwanden. »Du sagst, Stokes hat den Mann getötet?« »Nun ja, er hat ihn ziemlich fest geschlagen«, meinte ich. »Ich bezweifle, dass der Schlag tödlich war, Miss. Unsere Leute sind dazu ausgebildet, jemanden unschädlich zu machen und zu entwaffnen, nicht zu töten.« »Oh.« Ich muss schon sagen, da fühlte ich mich gleich besser, Stokes geholfen zu haben. »Nun, ihr drei seid sehr tapfer und schlau gewesen«, meinte Wigmere schließlich. Ich kann euch gar nicht sagen, wie gut es tat, das zu hören. Jeder andere Erwachsene, den ich kenne, nennt mich immer nur ein dummes kleines Mädchen oder beschuldigt mich, zu viel Fantasie zu haben, aber Wigmere nicht. Und er sah mir ganz danach aus, als sollte er so etwas wissen. »Ist so etwas schon einmal vorgekommen?«, wollte er wissen. 134
»Was? Dass Leute Kunstwerke aus dem Museum gestohlen haben?« Wigmere neigte sich vor. »Es ist doch etwas Merkwürdiges vorgefallen im Museum, oder?« Meinte er die Flüche? Wie konnte er davon wissen? Es sei denn, es ging noch mehr Merkwürdiges vor sich, von dem ich nichts wusste … Glücklicherweise wurde ich einer Antwort enthoben, da es an der Tür klopfte. Ein Tablett mit Tee wurde hereingebracht. Der Bursche stellte es auf einem kleinen Tisch ab und ging wieder hinaus. Wigmere deutete auf das Tablett. »Bitte, bedien dich.« »Darf ich Ihnen einschenken, Sir?« »Nein danke. Ich werde solange rasch eine Nachricht schreiben, wenn du nichts dagegen hast.« Dagegen hatte ich nicht das Geringste einzuwenden und goss mir eine Tasse Tee mit reichlich Milch und Zucker ein. Auf dem Tablett lagen auch ein paar köstlich aussehende Gurkensandwichs und Teilchen, bei deren Anblick mir plötzlich bewusst wurde, wie hungrig ich war. So leise wie möglich mummelte ich meine Sandwichs und nippte zum leisen Kratzen von Lord Wigmeres Stift auf dem Papier meinen Tee. Das Büro war grandios. Genauso ein Büro möchte ich einmal haben, wenn ich groß bin und nicht mehr mit einer alten Kammer vorliebnehmen muss. Es war luxuriös eingerichtet, mit dicken Vorhängen und einem eleganten Teppich, bequemen Stühlen und wunderschönen Kunstwerken. Endlich erhob sich Lord Wigmere, nahm seinen Gehstock und humpelte zur Tür. Er steckte den Kopf hinaus und rief nach Boythorpe, der so schnell erschien, dass ich 135
mich unwillkürlich fragte, ob er nicht an der Tür gelauscht hatte. »Bitte sorgen Sie dafür, dass Dr. Fallowfield dies hier sofort erhält.« »Sehr wohl, Sir.« Lord Wigmere schloss die Tür und ging zu seinem Schreibtisch zurück. Ich überlegte gerade, ob es ihm auffallen würde, wenn ich noch ein viertes Sandwich verdrückte, als er sagte: »Nun, du wolltest mir doch von den seltsamen Begebenheiten im Museum erzählen?« Mistkram. Ich hatte so gehofft, dass er von dieser Frage abgelenkt worden war. »Was für Begebenheiten meinen Sie, Sir?« Vorwurfsvoll sah er mich an. »Ich erwarte etwas mehr Aufrichtigkeit von dir, mein Mädchen.« Bei dieser Ermahnung wurde ich blutrot, doch wieder rettete mich das Klopfen an der Tür. Lord Wigmere sah ernsthaft verärgert drein. »Herein!« Es war Thornleigh, in Begleitung eines höchst erstaunt dreinblickenden Henry. »Henry!«, rief ich und sprang auf, sodass ich beinahe das Teetablett umwarf. »Alles in Ordnung?« »Klar doch. Bin doch kein Baby«, murmelte er und wurde rot. Ich wandte mich an Thornleigh. »Wie geht es Ihrem, äh … Verbündeten? Ist er …« Ich brachte es nicht fertig, das Wort »tot« auszusprechen. Es klang so endgültig. Thornleigh warf einen Blick auf Wigmere, als erwarte er dessen Erlaubnis zu sprechen. Wigmere nickte. »Stokes lebt, aber nur so eben.« Er hob die Hand, zwischen deren Fingern mein Amulett hing. »Das haben wir bei ihm gefunden. Es lag direkt über seinem Herzen.« Wigmere sah mich mit hochgezogener Augenbraue an. 136
»Deins?« »Ja.« »Woher hast du es?«, wollte er wissen. »Das habe ich selbst gemacht.« »Und woher weißt du so viel über Schutzamulette?« Thornleigh räusperte sich. »Dieser Junge …«, er wies auf Henry, »… hat seinen Kopf benutzt und einen Druckverband um Stokes’ Rippen angelegt, um die Blutung zu stillen.« Henry zuckte mit den Schultern und wurde rot über die unerwartete Aufmerksamkeit. »Das habe ich in der Schule gelernt, Sir.« »Habt ihr noch einen anderen Jungen gesehen?«, fragte Wigmere. »Den, der den Angreifern gefolgt ist?« »Nein, Sir. Aber wir werden Dodson gleich wieder zur Kirche zurückschicken, damit er dort wartet, nachdem wir Stokes zur Ebene sechs gebracht haben.« »Ausgezeichnet.« »Entschuldigung, Sir«, warf ich ein. »Ja?« »Wie wollen Sie ihn denn erkennen?« »Wie bitte?« »Ich meine, Sie haben Will noch nie gesehen. Wie wollen Sie ihn erkennen? Vielleicht sollte ich mit Mr Dodson gehen, damit ich ihn ihm zeigen kann.« Außerdem konnte ich so einer weiteren Befragung durch den scharfsinnigen Lord Wigmere entgehen. »Hm, ja, da hast du recht.« Er sah Henry scharf an. »Was sagst du, junger Mann? Schaffst du das? Kannst du mit Dodson zurückgehen und ihm diesen Will zeigen?« »Sehr gerne, Sir. Ich nehme mir nur schnell ein paar Sandwichs, dann bin ich so weit.« Lord Wigmere wandte sich mir wieder mit einem 137
bedeutungsvollen Blick zu. »Du und ich, wir haben noch etwas zu besprechen«, sagte er. Mistkram.
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Die Bruderschaft der auserwählten Hüter
»MEIN LIEBES KIND, das hier ist kein Spiel. In England geschehen sehr ernste Dinge, und wie es scheint, bist du darin verwickelt. Deine Mutter und dein Vater sind sehr berühmt. Viele der Gegenstände, die deine Mutter ins Land bringt, haben ziemlich … bemerkenswerte Eigenschaften. Ich muss wissen, wie viele andere Kunstobjekte mit solchen Eigenschaften sich in eurem Museum befinden.« Ich vergaß meine frühere Vorsicht, sprang von meinem Stuhl auf und trat einen Schritt auf den Schreibtisch zu. »Sie wissen von den Flüchen?« Bei dem Wort »Flüche« horchte er auf, und ich dachte schon, ich hätte einen furchtbaren Fehler gemacht. »Ja«, sagte er langsam, »ich weiß von den Flüchen. Warum erzählst du mir nicht, was du darüber weißt?« »Nun, Sie sind der erste Mensch, den ich kenne, der überhaupt an ihre Existenz glaubt. Außer mir, meine ich. Mutter und Vater spüren sie nie, aber ich kann sie normalerweise erkennen, sobald ich ein Objekt sehe. Es fühlt sich an wie Käfer, die mit Eisfüßen über meinen Rücken krabbeln. Merken Sie das auch so, Sir?« Lord Wigmeres Schnurrbart zuckte. »Oh nein. Wir haben andere Möglichkeiten, um festzustellen, ob ein Objekt mit einem Zauber belegt ist.« »Wachs? Das ist meine zweite Teststufe.« 139
Wigmere lehnte sich zurück und kreuzte die Arme vor der Brust. »Erzähl mir mehr von deiner zweiten Teststufe.« »Nun, wenn ich der Meinung bin, dass ein Objekt verflucht ist, lege ich einen kleinen Wachskreis …« »Woher bekommst du das Wachs?« »Ich sammle Kerzenreste und so. Aber egal, ich lege einen Kreis aus kleinen Wachsstücken um das Objekt. Ein paar Stunden später komme ich nachsehen, und wenn das Wachs schmutzig grau oder schwarz geworden ist, weiß ich, dass ich recht hatte und das Objekt verflucht ist.« »Hast du dich dabei je geirrt? Ist das Wachs jemals weiß geblieben?« »Nie.« »Faszinierend«, murmelte er. Dann fragte er: »Führst du noch andere Tests durch?« »Ja. Nach dem Wachstest kommt die dritte Teststufe. Der Mondlicht-Test.« Wigmere hob die Augenbrauen, und ich fuhr schnell fort, weil ich weiß, dass es albern klingt, wenn man es laut sagt: »Ich muss die Objekte nachts überprüfen. Wenn das Mondlicht auf sie fällt, dann kann ich … ich kann die Flüche sehen, die um das Objekt schwirren.« Wigmere schien höchst interessiert. »Tatsächlich? Wie sehen sie aus?« »Nun, es sind Hieroglyphen. Aber sie bewegen sich und schwimmen irgendwie, wie ein Schwarm Bienen, die nach jemandem suchen, den sie stechen können, und ein Kribbeln geht von ihnen aus.« Ich hielt inne. »Haben Sie das noch nie gesehen? So im Mondlicht?« »Nein.« Wigmere schüttelte den Kopf und schien fast ein wenig traurig darüber. »Die Hieroglyphen sagen dir also etwas über den Fluch?« 140
»Nein, sie sind der Fluch. Als ob sie von dem geschrieben wären, der das Objekt zuerst verflucht hat.« Wigmere lehnte sich in seinem Sessel zurück und sah mich an wie ein besonders interessantes Kunstobjekt, über das er eben gestolpert war. »Erstaunlich. Und wann hast du dieses ungewöhnliche Talent zum ersten Mal an dir entdeckt?« »Ungewöhnlich, Sir? Ist das denn bei Ihnen nicht auch so?« »Nein, ich fürchte nicht. Unsere Mittel und Wege sind wesentlich weltlicher und mühsamer. Wenn wir deine Gabe hätten, würden wir alle eine Menge Zeit und Mühe sparen.« Aus einem unerklärlichen Grund machte mich das irgendwie unruhig. »Nun, ich habe sie seit meiner frühesten Kindheit.« Dann erklärte ich ihm, wie ich die Forschung entdeckt hatte und sie zu meinem Schutz zu nutzen begann. »So lernte ich auch alles über die verschiedenen Tests und fand die Rezepte, um die Flüche zu bannen.« »Rezepte?« »Ja. Sind es nicht so etwas wie Rezepte? Man folgt den Anweisungen und nimmt die richtigen Zutaten, nur dass man am Ende eben nicht einen Kuchen oder eine Lammkeule bekommt, sondern einen Kunstgegenstand, der nicht länger verflucht ist.« »Nun, für die meisten Menschen ist das nicht ganz so einfach.« Abrupt drehte sich Wigmere mit seinem Sessel zu einem großen Wandschrank hinter seinem Schreibtisch um. Aus der Hosentasche nahm er einen Schlüssel, schloss eine der Türen auf und nahm eine lange schwarze Steinkiste heraus. Er wandte sich wieder um und stellte sie vor mich hin. Während er mich scharf beobachtete, öffnete er vorsichtig den Deckel. 141
Darin lag die mit Schnitzereien verzierte lange, dünne Statue der scheußlichsten Schlange mit aufgerissenem Maul, die ich je gesehen hatte. Sie hatte gezackte Schuppen und riesige Reißzähne und ihre Augen waren aus zwei roten Karneolen. Sie fühlte sich alt an, älter als die Zeit. Ich hob meinen Blick von dem Objekt und sah, dass mich Wigmere aufmerksam musterte. »Na ja, die ist so hässlich wie die Nacht«, sagte ich, als ich merkte, dass er eine Aussage von mir erwartete. »Und eine der scheußlichsten Darstellungen der Chaosschlange, die ich je gesehen habe. Aber es liegt kein Fluch darauf, falls Sie das wissen wollten.« Wigmere fasste sich ans Kinn und blickte nachdenklich zwischen mir und der Schlange hin und her. Dann wandte er sich erneut zum Schrank und holte ein weiteres Kistchen aus dem Regal. Dieses war aus hellgrauem Speckstein und mit vielen Hieroglyphen und Symbolen bedeckt, von denen ich einige noch nie gesehen hatte. Er stellte die Kiste vor mich hin und öffnete den Deckel. Sofort begann die Haut auf meinem Rücken zu kribbeln, als ob sie sich am liebsten lösen und aus dem Raum rennen wollte. Ich starrte das kleine geschnitzte Nilpferd an, das so harmlos wie ein Kinderspielzeug aussah. Aber das war es nicht. Ich konnte spüren, wie sich Unglück und schreckliche Flüche darauf wanden. Ich schauderte, dann griff ich nach dem Deckel und stülpte ihn wieder auf die Kiste. »Seth. In einer seiner unschuldigeren Gestalten.« Nicht dass es überhaupt irgendetwas Unschuldiges am Gott des Chaos und der Vernichtung geben konnte. »Stark verflucht. Fühlt sich an wie irgendetwas mit Tod und Vernichtung, aber ich bin mir nicht sicher.« Ein leicht triumphierender Ausdruck schlich über 142
Wigmeres Gesicht. »Ich dachte, du könntest den Fluch auf dem Objekt direkt sehen?« Ich seufzte auf. »Nur bei Mondlicht.« Wie enttäuschend. Ich schätze, es ist einfach zu viel verlangt, dass ein Erwachsener, vor allem ein so bedeutender wie Wigmere, jemandem meines Alters wirklich zuhört. Sein Schnurrbart zuckte, eine Reaktion, die ich langsam zu verstehen begann. »Sie haben mir ja doch zugehört! Das war nur ein Test! Um zu sehen, ob ich die Wahrheit sage!« Wigmere sah ein wenig verlegen drein. »Nun, das kannst du mir nicht übel nehmen. Dein Talent ist wirklich bemerkenswert. So etwas habe ich noch nie gesehen.« Mich erfüllten zugleich Stolz und Bestürzung. Es gefiel mir zwar, einzigartig zu sein, dennoch behagte mir der Gedanke nicht sonderlich, die Einzige mit dieser besonderen Gabe zu sein. Das lag nahe daran, komplett verrückt zu sein. »Und wie finden Sie so etwas normalerweise heraus?« »Indem ich die Herkunft und die Geschichte des Stückes untersuche. Manchmal haben wir so eine Ahnung, aber wir bekommen nie einen Schrecken, der uns fast aus dem Stuhl reißt. Eigentlich sind vieles auch nur Vermutungen.« Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Lord Wigmere fuhr fort: »Es muss angeboren sein, eine Intuition oder ein Talent, das du hast. So wie manche Menschen gut reiten oder Klavier spielen können.« »Aber müssten meine Eltern die Flüche dann nicht auch sehen können? Oder Henry?« »Henry sieht sie auch nicht?« »Nein.« Wigmere zuckte mit den Schultern. »Nun, ich stelle 143
hier nur Vermutungen an. So etwas ist mir noch nicht untergekommen. Obwohl ich weiß, dass manche Menschen mehr Sinn für Magie haben als andere.« Er hielt einen Moment inne und blickte auf einen Punkt hinter meinem Kopf. »Was ist?«, fragte ich. »Mir ist gerade etwas aus meiner Kindheit eingefallen.« Ich rutschte an den Rand meines Stuhls vor. »Was denn?« »Es war bei meinem ersten Besuch im British Museum. Ich weiß noch, dass ich vom ägyptischen Raum völlig fasziniert war. Als Erwachsener habe ich immer geglaubt, dass in diesem Augenblick die Entscheidung über meine Laufbahn gefallen ist, aber wenn ich mich jetzt daran erinnere, wird mir klar, dass es nicht so sehr die Objekte waren, obwohl sie an sich schon sehr interessant waren.« Wieder hielt er inne. Am liebsten wäre ich aufgestanden und hätte ihn geschüttelt. »Ja?«, forderte ich ihn auf. »Jetzt erinnere ich mich daran, dass ich die ganze Zeit über ein ungutes Gefühl hatte. Ich weiß noch, dass ich mich gewundert habe, warum es dort so entsetzlich kalt war. Meine Eltern haben mich schließlich weggebracht, weil ich so gezittert habe.« »Und jetzt fragen Sie sich, ob Sie nicht auf die Exponate genauso reagiert haben wie ich auf die verfluchten Objekte?« »Genau. Als ob es eine Fähigkeit wäre, die man als Kind hat, als Erwachsener jedoch verliert.« Na, das war Unsinn. Ich hatte nicht die Absicht, meine Fähigkeiten zu verlieren, wenn ich erwachsen wurde. »Aber halt«, meinte ich. »Was ist mit all den Leuten, die die Bücher über ägyptische Magie geschrieben haben? Das waren doch keine Kinder.« 144
Wigmere strich sich über den Schnurrbart. »Nein, das stimmt schon. Aber diese Bücher wurden auch Jahrhunderte nach den eigentlichen Geschehnissen verfasst. Diese Autoren sind wahrscheinlich nie mit der Magie selbst in Berührung gekommen. Sie haben nur alte ägyptische Texte abgeschrieben.« »Und was ist dann mit den alten Ägyptern selber? Das waren doch auch nicht nur Kinder?« »Nein, aber sie lebten in viel engerem Kontakt zu ihren Göttern als wir heute. Auf jeden Fall«, meinte Wigmere und wandte sich von der Vergangenheit ab, »werden uns diese Spekulationen heute nichts helfen. Es ist sehr wahrscheinlich, Miss Theodosia, dass wir gelegentlich auf dein Talent zurückgreifen müssen.« »Es wäre mir eine Ehre, Ihnen in jeder Weise behilflich zu sein, Lord Wigmere. Aber wer ist wir?« »Wir, mein liebes Kind, sind die Bruderschaft der auserwählten Hüter. Eine Gruppe von Männern, ein Verein sozusagen …« Genau in diesem Moment klopfte es leise an der Tür und Wigmere sprang auf. Ehrlich, in diesem Büro ging es schlimmer zu als im Bahnhof Charing Cross! »Entschuldigung«, sagte er, humpelte zur Tür, öffnete sie und sprach leise mit jemandem. »Möchtest du einen kurzen Spaziergang zur Ebene sechs machen?«, fragte er mich. »Stokes hat das Bewusstsein wiedererlangt und fragt nach mir. Ich dachte, vielleicht willst du ihn selbst sehen, damit er sich bei dir bedanken kann.« Ich sprang auf. Ich starb vor Neugier, Ebene sechs zu sehen, aber ich sagte nur: »Wenn Sie es wünschen.«
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Ebene sechs
Wir gingen den Gang entlang, bis wir zu einer schmalen kleinen Tür mit der Aufschrift PRIVAT, KEIN ZUGANG kamen. Wigmere ignorierte das Schild und ging hinein. Ich folgte ihm dicht auf den Fersen. Es war ein kleiner Raum, nicht größer als ein großer Wandschrank, mit schweren Vorhängen an der Ostwand. Wigmere ging zum Vorhang und zog ihn beiseite. Dahinter war eine Tür! Eine flache, glänzende Metalltür ohne Griffe, nur mit einem Spalt in der Mitte. Wigmere drückte auf einen Knopf an der Wand und die Türhälften glitten auseinander. Verblüfft schnappte ich nach Luft. Ein Aufzug! Hier im Somerset House. Erstaunlich! Ich folgte ihm in die kleine Kabine. Er nickte dem Mann an der Schalttafel zu. »Ebene sechs, bitte.« Der Mann drückte auf einen Knopf und dann sackte plötzlich die Welt unter meinen Füßen weg und mein Magen kam mir fast zur Nase heraus. Ich streckte die Hand aus, um mich an der Wand abzustützen. »Alles klar?«, erkundigte sich Wigmere. Ich nickte. »Man muss sich erst daran gewöhnen.« 146
Allerdings. Mit dem Geräusch knirschender Gänge und einem Ruck kamen wir auf Ebene sechs an. Ich ging nach Wigmere aus dem Lift, froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Doch die Aufregung über den Aufzug war bald vergessen, als ich das geschäftige Treiben um mich herum sah. Dutzende von Tischen standen in ordentlichen Reihen hintereinander. Das war aber auch das einzige Ordentliche an dem Raum. Ansonsten herrschte ein völliges Durcheinander. Männer saßen an Tischen voller alter Pergamente, Papyrusrollen und Tontafeln. In schnellem Stakkato hämmerten Telegrafiermaschinen ihre Nachrichten heraus. Männer eilten mit Akten und Büchern hin und her. Es sah aus wie in einer wild gewordenen Bibliothek. Allerdings einer hochmodernen Bibliothek, wenn ich das hinzufügen darf. Nicht eine einzige Gaslampe war zu sehen. Überall brannte elektrisches Licht! »Willkommen auf Ebene sechs, dem Herzstück unserer Operationen«, sagte Wigmere mit nicht wenig Stolz. Meiner Schätzung nach hielten sich hier zwischen zwanzig und dreißig Männer auf (es war schwer zu sagen, weil sie alle durcheinanderliefen). Arbeitstische und Plätze mit Kunstwerken standen herum wie vergessener Müll. Es herrschte ein völliges Durcheinander und doch war es absolut wunderschön! Bis auf den schwachen Geruch nach Flüchen, der in den Ecken des Raumes lungerte. Wigmere humpelte recht forsch drauflos. Ich musste mich anstrengen, ihm zu folgen, weil ich so damit beschäftigt war, mir alles anzusehen. Wir kamen an mehreren großen Becken aus Quarzit vorbei und an einem riesigen Alabastersarkophag. Sehr merkwürdig. Noch nie hatte ich ein so großes Objekt aus 147
Alabaster gesehen. Ein paar Schritte weiter stand eine Wanne, eine ganz normale Badewanne mit Löwenfüßen, wie wir sie auch zu Hause hatten. Nur dass diese Wanne voller dickem, rötlichem Schlamm war. »Schlamm?«, fragte ich. »Ja. Nilschlamm. Manchmal kann er die Flüche absorbieren und aufheben. Was tust du, wenn ein Fluch aus einem Objekt entkommt und sich in einem Menschen niederlässt«, fragte er. Das Bild der armen Isis stand mir kurz vor Augen. »Oh, das ist noch nie vorgekommen«, meinte ich, nachdenklich den Schlamm betrachtend. Eigentlich war es keine Lüge. Isis war schließlich kein Mensch. Wir gingen weiter und kamen an einer Reihe Büros mit großen Glasfenstern vorbei. In einem davon beugten sich zwei Männer über einen Tisch und untersuchten etwas, irgendeinen Kunstgegenstand. Einer der Männer hob ihn hoch. Ich konnte die Luft um den Gegenstand und um den Arm des Mannes wirbeln sehen wie die Hitze, die an heißen Sommertagen über dem Straßenpflaster flimmert. Plötzlich schrie der Mann auf und hielt sich die Hand. Sein Partner sprang vom Tisch auf und rannte los, um einen Schalter an der Wand zu betätigen. Sofort ertönte ein Summer und im ganzen Raum brach hektische Aktivität aus. »Bleib hier!«, befahl Wigmere und humpelte so schnell wie möglich auf den Unruheherd zu. Selbstverständlich folgte ich ihm.
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Eine Gruppe von Agenten drang in das kleine Büro ein und zog den Mann in den Hauptraum zu der großen schlammgefüllten Badewanne. Als ich näher kam, sah ich, wie die Haut an der Hand des Verletzten Blasen schlug, die bis zu seinem Handgelenk reichten. Es roch unangenehm nach Schwefel. Sie steckten seinen Arm in die Wanne und bedeckten ihn vollständig mit dem Schlamm. Ein paar Sekunden später zogen sie ihn wieder heraus und spülten ihn ab. Gespannt sahen wir ihn an. Langsam, wie eine erwachende Schlange, begannen die Blasen wieder zu blubbern und krochen zum Ellbogen hinauf. Der arme Kerl war nahe daran, panisch zu werden. Der Sanitäter, der ihn behandelte, sah fragend Wigmere an. »Was jetzt, Sir?« »Was für ein Fluch war es, Danver?«, wollte Wigmere von dem Verletzten wissen. »Ich w-weiß nicht, Sir. So weit waren wir noch nicht.« Der arme Danver konnte den Blick nicht von seinem Arm wenden, auf dem die Blasen und Geschwüre seinen Ellbogen bedeckten und weiterwanderten. Wigmere explodierte. »Wollen Sie etwa sagen, dass Sie ein verfluchtes Objekt angefasst haben, ohne zu wissen, wie mächtig oder wie geartet der Fluch ist?« »Entschuldigung«, meinte ich und zwängte mich nach vorne. »Vielleicht wird es dadurch langsamer.« Ich nahm ein anderes meiner Amulette vom Hals. Ohne Danvers Haut direkt zu berühren, wickelte ich die Lederschnur mit dem Amulett wie einen Verband fest um seinen Oberarm. Die brodelnden Blasen brandeten gegen den Verband und zogen sich dann zurück wie Wellen an einem Strand. Wieder stießen sie vor und wieder trieb das Amulett sie 149
zurück. Im Hintergrund hörte ich Stimmen murmeln: »Ziemlich gut, finde ich« und »ganz schön schlau«. »Das wird nicht ewig halten.« Ich durchforstete mein Gehirn nach allen Gegengiften gegen Flüche, die ich kannte. »Wachs! Wir brauchen Wachs. Haben Sie so etwas?« »Wachs?«, fragte Wigmere. »Ja. Beeilen Sie sich. Bitte!« »Wie viel?«, fragte einer der Sanitäter, während er sich schon abwandte. »Genug, um seinen Arm bis zur Schulter zu bedecken«, rief ich. Endlich verstanden die Leute und bewegten sich. Ich sah Danver möglichst zuversichtlich an. »Keine Sorge. Das Amulett wird den Fluch lange genug aufhalten, dass wir ihn entfernen können.« Ich hoffte sehr, dass ich damit recht hatte. Ich wandte mich an Wigmere. »Wir müssen das Wachs schmelzen. Haben Sie einen elektrischen Kocher oder eine Reibe oder so etwas?« Er sah mich aufmerksam an, dann nickte er und kläffte einen Befehl. Kurz darauf rannten überall Männer herum, suchten Wachs, zerkleinerten es, damit es schneller schmolz, und erwärmten es. Während sie die Vorbereitungen trafen, sah ich mir Danvers Arm an, um zu sehen, wie es stand. Ein schmaler Streifen des Fluchs hatte sich wie ein feiner Faden gerade unter dem Verband hindurchgeschlängelt und kroch zur Schulter hinauf. »Wir müssen uns mit dem Wachs echt beeilen!«, rief ich. »Ist in zwei Minuten fertig!«, rief der Sanitäter. Danver rollte mit den Augen, dass fast nur noch das Weiße zu sehen war. »Keine Panik, bitte, keine Panik«, 150
sagte ich. »Alles wird gut.« Glaube ich. Hoffe ich. Ich hatte so etwas erst zweimal getan und nur bei Kunstwerken, nie bei Menschen. Doch nach Hassan Fahkirs antiker Schriftrolle über die Heilung ägyptischer Magie sollte es wirken. Schließlich brachten sie mir einen Kessel voll heißen Wachs. »Ziehen Sie ihm das Hemd aus«, verlangte ich vom Arzt. Der Gedanke, einem Mann vor den Augen eines Mädchens sein Hemd auszuziehen, brachte einen allgemeinen erstaunten Ausruf hervor. »Ach, was für ein Unsinn! Wollen Sie den verflixten Fluch jetzt loswerden oder nicht?« Mit einem Blick auf Wigmere zog der Sanitäter Danver das Hemd aus. »Das Wachs ist heiß, aber es sollte nicht schlimmer sein als der Fluch«, warnte ich ihn. Danver nickte. »Mach schon«, erwiderte er zwischen zusammengebissenen Zähnen. »In Ordnung.« Ich zog die flache Schüssel näher. »Halten Sie den Arm hier hinein, so tief wie möglich.« Danver holte tief Luft und tat, was ich sagte. (Ich liebe es, wenn Erwachsene Anweisungen folgen können!) Er sog die Luft ein, und Schweigen breitete sich im Raum aus, als er seinen Arm in dem Wachs badete. Sorgfältig den Fluch vermeidend, schob ich seinen Arm noch tiefer in das Wachs. Als ich mich umsah, sah ich einen Brieföffner auf einem der Schreibtische. Damit verteilte ich das Wachs so, dass es die ganze Haut bedeckte. Nach ein paar Minuten sagte ich: »Gut. Sie können den Arm jetzt herausnehmen.« 151
Langsam hob Danver den Arm aus der Schüssel. Er war jetzt ganz mit dem warmen, weichen Wachs bedeckt, bis hinauf zur Schulter. »Perfekt«, meinte ich. »Und nun?«, wollte einer der Sanitäter wissen. »Jetzt warten wir«, erklärte ich. Innerhalb weniger Minuten begann sich das Wachs zu trüben, als es den Fluch aus Danvers Haut aufsog. Schnell verfärbte es sich von schmutzig grau zu schwarzgrün und der Geruch von Schwefel stieg auf. Als es härter wurde, begann es mit leisem Geräusch aufzubrechen. Von unten nach oben brach das dunkle Wachs auf Danvers Arm auf und fiel in einem schmutzigen Haufen herunter. Ich sammelte die Wachsstücke in der Schüssel ein und reichte sie dem Sanitäter. »Das hier muss sofort ins Feuer geworfen werden.« »Aber es wird den Rost verschmutzen«, wandte ein Mann ein. Wigmere brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen. Ich beugte mich vor, um den Arm zu untersuchen. Der Fluch war weg. Keine Beulen, Flecken oder Blasen mehr und auch keine … »Oh, Ihre Haare sind auch alle ab.« Ich trat zurück und wischte mir über die Stirn. Wigmere warf mir einen vernichtenden Blick zu. »Das heißt, dass du das noch nie zuvor getan hast?«, fragte er. Ich musste schlucken. »Äh …, doch. Aber noch nie bei einem Mann mit einem haarigen Arm.« Schnell erklärte ich: »In seinen Schriften aus dem Mittleren Reich hat Hassan Fahkir gesagt, es würde wirken. Und das hat es doch auch, oder?« Ich erwartete einen Wutausbruch. Wigmere sah mich scharf an. »Ganz schön geistesgegenwärtig«, meinte er nur. Dann wandte er sich wieder 152
an seinen verletzten Agenten. Als er sich davon überzeugt hatte, dass der Mann außer Gefahr war, winkte er mir, ihm zur Krankenstation zu folgen.
Ich war entsetzt, wie bleich Stokes war. Er sah richtig tot aus. Ich hatte schon Angst, dass jemand einen Fehler gemacht hatte und sein Todesröcheln für einen Ruf nach Wigmere gehalten hatte. (Wenn man den Namen Wigmere murmelt, klingt es doch fast wie ein Todesröcheln, oder?) Der Mann, der ihn versorgte, trat vom Bett zurück. Wigmere zog einen Stuhl heran und setzte sich. »Stokes? Hier ist Wigmere. Man hat mir gesagt, dass Sie mich sehen möchten?« Als nichts geschah, fürchtete ich schon, recht gehabt zu haben. Doch dann erklang ein Laut, wie ihn wahrscheinlich ein Fisch macht, wenn er einen Haken verschluckt hat. »Langsam«, mahnte Wigmere. Stokes’ Augenlider hoben sich flatternd. »Chaos«, sagte er. »Das war das Chaos.« Damit hatte er recht. Der ganze Morgen war ein einziges Chaos gewesen, wenn man mich fragte. »Verdammt«, sagte Wigmere leise. »Wissen Sie wer?« Stokes nickte, dann schwieg er. Erst als er genug Kraft gesammelt hatte, sagte er: »Von Braggenschnott.« »Von Braggenschnott!«, rief Wigmere. Den Namen kannte ich! Wo hatte ich ihn nur schon gehört? Stokes nickte wieder und versuchte fortzufahren. »Wie war das?«, fragte Wigmere und neigte sich noch näher zu ihm. 153
»Die Mächte … des Chaos … erheben sich … wieder«, brachte Stokes hervor. »Verdammt!«, stieß Wigmere hervor, stand auf und kläffte Befehle bezüglich der Pflege von Stokes, dann eilte er durch Ebene sechs zurück zum Aufzug. Ich beeilte mich, um mit ihm mitzuhalten. Für jemanden, der einen Gehstock brauchte, konnte er ein überraschendes Tempo anschlagen, wenn er wollte. »Was soll das heißen Die Mächte des Chaos erheben sich wieder?«, wollte ich wissen, während wir auf den Aufzug warteten. Er sah mich an, als ob er überlegte, ob er es mir sagen sollte oder nicht. »Es bedeutet, dass eine Weile lang schlimme Dinge passieren werden, bis wir das geregelt haben.« Er hielt inne und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Plötzlich sah er zehn Jahre älter aus und niedergebeugt von den Sorgen um die Welt. »Diese Sache mit dem Herz Ägyptens hat die Macht, unsere ganze Nation zu Fall zu bringen, wenn wir etwas falsch machen.« Die volle Bedeutung seiner Worte traf mich wie ein Schlag. »Was soll das heißen, zu Fall bringen?« Ich fand es immer besser, bei Tod-und-Vernichtungs-Dingen völlig im Klaren zu sein. Wigmere begann, vor der Aufzugtür hin und her zu laufen. »Der Fluch, der auf dem Herz Ägyptens lastet, soll eine Nation schwächen, damit sie leicht zu erobern ist. Der Kriegsminister von Thutmosis III. hat sich das sehr gut ausgedacht …« »Amenemhab.« Erstaunt sah er mich an. »Ja. Genau. Auf jeden Fall ist er sehr mächtig. So sollten die Macht und der Ruhm des Reichs von Thutmosis auch nach seinem Tod noch erhalten bleiben. 154
Wer das Herz Ägyptens aus dem Grab entfernte, würde Hunger, Seuchen und Pest über sein Volk bringen. Vernichtung.« Zum ersten Mal war ich sprachlos. Ich konnte es kaum fassen. In meinem Bauch spulte sich ein kleiner Angstfaden ab. »Jetzt, wo von Braggenschnott ihn hat, wird er die Deutschen zu Fall bringen, nicht wahr?« »Nein«, sagte Wigmere und fuhr sich mit den Händen durch das dichte weiße Haar. »Es wurde von einer Britin weggenommen …« Ich wand mich, als ich erkannte, dass es sich dabei um Mutter handelte. »… die es auf britischen Grund und Boden brachte. Großbritannien ist in Gefahr. Wir müssen das Herz Ägyptens wieder bekommen und es wieder in Thutmosis’ Grab bringen. Nur so können wir den Fluch aufhalten. Und dann müssen wir dafür sorgen, dass es dort auch bleibt!« Er drückte den Aufzugsknopf mit Nachdruck. Schweigend fuhren wir mit dem Lift wieder nach oben. Ich war so aufgeregt über diese Neuigkeiten, dass mir gar nicht auffiel, dass mir der Magen bis auf die Knöchel rutschte. »Und noch etwas«, sagte Wigmere schließlich und starrte geradeaus. »Ja?« »Du darfst kein Wort über das sagen, was du heute hier gesehen hast. Wir sind eine sehr geheime Organisation. Nur wenige Menschen wissen von uns. Du darfst es keinem Menschen sagen.« »Niemandem? Aber doch Henry, er war schließlich hier.« »Niemandem«, sagte Wigmere fest. »Nicht deinem Bruder und auch nicht deinen Eltern.« 155
»Aber ich kann doch Mutter und Vater erzählen, was mit dem Herz Ägyptens passiert ist …« »Nein! Es ist äußerst wichtig, dass du es niemandem erzählst!« »Na gut«, meinte ich ernst, und mir wurde das Herz schwer von all den Geheimnissen, die ich bewahren musste. »Meine Lippen sind versiegelt.« Koste es, was es wolle.
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Eine Sardinenfalle
IN WIGMERES BÜRO warteten Thornleigh und Henry auf uns. Wie sie berichteten, war Will nicht zur Kirche zurückgekehrt. Besorgt musste ich mich daran erinnern, dass Sticky Will ziemlich gut selbst auf sich aufpassen konnte. Er hatte jede Menge Erfahrung, und wenn er Seven Dials überleben konnte, dann konnte er alles überleben. Wigmere schickte Henry und mich in einer Kutsche der Bruderschaft zum Museum zurück. Den ganzen Weg lang bombardierte Henry Thornleigh mit Fragen, aber der blieb stumm. Er ließ uns vom Fahrer an der Ecke absetzen, damit niemand die Kutsche sah. »Auf Wiedersehen«, sagte er, als wir ausstiegen. »Das war gute Arbeit, die Rettung von Stokes und Danver.« »Wer ist Danver?«, wollte Henry wissen, als die Kutsche davonfuhr. »Ist doch egal«, antwortete ich. Wir kamen gerade noch rechtzeitig die Treppe zum Vordereingang hinauf, denn Flimp wollte gerade zuschließen. Während er darauf wartete, dass wir durch die Tür kamen, wippte er auf den Fersen. »Man hat schon nach euch gesucht, den ganzen Nachmittag«, schimpfte er. 157
Einen Augenblick blieben Henry und ich im Foyer stehen und versuchten, uns eine Geschichte zurechtzulegen. Wir flüsterten immer noch und waren bemüht, uns etwas auszudenken, mit dem wir nicht allzu viel Ärger bekommen würden, als ausgerechnet Fagenbush angestürmt kam. Er kam geradewegs auf uns zu und starrte an seiner langen Nase vorbei direkt in meine Augen, als ob er versuchte, meine Gedanken zu lesen. »Wo wart ihr?«, wollte er wissen. »Wir sind zum British Museum gegangen. Damit wir aus dem Weg sind. Hier schienen heute alle so beschäftigt zu sein.« Wenn man schon lügt, sollte man so dicht wie möglich bei der Wahrheit bleiben. Fagenbush kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. »Ich glaube euch …« »Theo! Henry! Hier seid ihr!« Mum kam ins Foyer geeilt. »Das war ja reizend von euch, euch so ruhig zu verhalten. Euer armer Vater hat auch so schon genug Sorgen.« Sie hatte nicht einmal bemerkt, dass wir weg gewesen waren! Doch nun mussten wir bei der Halbwahrheit bleiben, die ich Fagenbush erzählt hatte, der in der Nähe geblieben war. Also berichtete ich ihr vom British Museum. »Wirklich, Theodosia, du weißt doch, was dein Vater von diesem Ort hält. Am besten sagen wir ihm nichts davon, ja? Das verdirbt ihm nur die Laune.« Sie hielt inne und fügte dann hinzu: »Noch mehr.« Ein Anflug von Bedauern überkam mich. Ich hätte ihr so gerne erzählt, was mit dem Herz Ägyptens geschehen war. Wie dicht Henry und ich daran gewesen waren, es zurückzubekommen. Aber ich konnte es nicht. Ehrlich 158
gesagt spielte es keine Rolle mehr. Es war nicht wichtig, wie clever ich oder Henry gewesen waren, nicht wenn das Wohlergehen von ganz Großbritannien auf dem Spiel stand.
Da Mutter und Vater immer noch völlig außer sich waren, dass das Herz Ägyptens verschwunden war, ließen sie ein Abendessen kommen. Wir aßen zusammen im Aufenthaltsraum, was eigentlich hätte ganz schön sein können. Aber so war es nicht. Vaters schlechte Laune steckte uns alle an und ich hatte nach meinem Gespräch mit Wigmere genug eigene Sorgen. Wir saßen gedrückt und schweigend zusammen und unsere trüben Gedanken kreisten wie Geier über dem Tisch. Nach dem Abendessen rollte sich Henry im Sessel vor dem Feuer mit seinem neuen Buch Die Schatzsucher zusammen. Mutter und Vater zogen sich zurück, um ungestört ihre Probleme zu diskutieren. Ich hatte wegen meiner vielen Geheimnisse ein schlechtes Gewissen, daher zog ich mich in meine Kammer zurück, einen der Orte, an denen ich am besten nachdenken konnte. In meinem Sarkophag schwor ich mir, am Morgen zuerst über Amenemhabs Kriegskunst zu brüten, wenn ich mich richtig ausgeschlafen hatte. Vielleicht gab es da einen Hinweis, wie man das Problem mit dem Zu-Fall-Bringen lösen konnte. Einen Versuch war es auf jeden Fall wert. Natürlich konnte ich nicht einschlafen. Nach so einem Tag hätte ich eigentlich todmüde sein sollen. Jede Faser meines Körpers war vollkommen erschöpft, aber mein Geist konnte einfach nicht abschalten. Wenn ich mich 159
nicht darum sorgte, dass das Herz Ägyptens Großbritannien zu Fall brachte, dann wunderte ich mich über eine ganze Gemeinschaft von Leuten, die jahrelang studierten, um das zu tun, was ich nicht einmal erst ausprobieren musste. Wer hätte das gedacht? Die Vorstellung beunruhigte mich, als sei ich eine Art Monster. Vor mir lagen riesige Probleme, und es schien, als ob ich nichts dagegen unternehmen konnte. Schließlich musste ich einsehen, dass an Schlaf nicht zu denken war, also kletterte ich aus dem Sarkophag und schlich mich auf Zehenspitzen zur Tür, die ich einen Spalt offen gelassen hatte. Ich überprüfte meine Isisfalle (eine Büchse Sardinen gleich neben der Tür), um zu sehen, ob sie daran genascht hatte, als ich nicht hingesehen hatte. Hatte sie aber nicht. Ich nahm mir eine Decke aus dem Sarkophag und wickelte sie mir um die Schultern. So setzte ich mich auf den Boden neben der Tür und lehnte mich gegen die Wand. Hier würde ich einfach sitzen bleiben und versuchen, Isis mit meinen Gedanken herzurufen. Ich vermisste sie heute Nacht schrecklich. Ich brauchte das Gefühl des kleinen pelzigen Körpers neben mir, um … na eben alles zu verscheuchen. Plötzlich kam mir eine Idee. Einer der Eckpfeiler ägyptischer Magie ist die Kunst der kreativen Sprechweise. Was eigentlich nur eine besondere Form ist, zu sagen: Es kommt darauf an, wie man es sagt. Und auf die Worte, die man gebraucht. Wahre Namen können ein mächtiges Werkzeug sein. Vielleicht konnte ich das für mich ausnutzen? Wigmere hatte gesagt, ich hätte ein einzigartiges Talent, und dabei ging es nicht nur darum, Rezepte zu befolgen. Vielleicht konnte ich daraus einen Vorteil ziehen. 160
Mit dem Zeigefinger zeichnete ich auf dem Boden neben der Sardinenbüchse die Hieroglyphen für »Isis« und flüsterte: »Isis, komm!« Nichts geschah. Dann kam mir noch ein Gedanke. »Komm, Isis«, rief ich wieder, aber diesmal in der alten ägyptischen Sprache, die ich aus meinem Studium der Hieroglyphen kannte. Das tat ich einige Male, wobei ich gelegentlich innehielt, um nach ihr Ausschau zu halten. Nichts. Während ich so dasaß, schweiften meine Gedanken ab zu Wigmere und seiner Bruderschaft. Ich fragte mich, ob sie die ganze Nacht wach blieben, um den Mondlicht-Test selbst auszuprobieren. Ich fragte mich, ob es bei ihnen funktionierte. Der Gedanke an Wigmere führte mich schließlich zu Stokes. Ich war froh, dass er wieder gesund werden würde. Wenn ich die Augen schloss, konnte ich den ausdruckslosen Blick des Deutschen sehen, als er ihm das Messer in die Rippen stieß. Deutsche. Messer. Erstechen. Stopp, du schreckliches Gehirn! Wieso denkt das Gehirn mitten in der Nacht, wenn man mit niemandem reden kann, um sich abzulenken, immer an die scheußlichsten Dinge? Vor der Tür hörte ich die Dielen knarren. Oh bitte, lass das Isis sein! So leise wie möglich erhob ich mich, schlich zur Tür und sah in den tiefschwarzen Gang hinaus. Da war nichts. Beunruhigt setzte ich mich wieder an der Tür nieder. Ich brauchte einen Plan. Nach allem, was mir Wigmere erzählt hatte, war es wichtiger denn je, das Herz Ägyptens zu finden. Und schwieriger. Wie konnte ich an das verflixte Ding nur herankommen? Ich veränderte meine Position und überlegte, ob ich 161
wieder ins Bett gehen sollte, als ich wieder ein leichtes Knarren der Dielen im Gang vernahm. Was mich doppelt so stark wünschen ließ, ich hätte nicht gerade über blutrünstige Deutsche und Erstechen und so nachgedacht. Unsinn. Ich war entschlossen, tapfer zu sein, beugte mich vor und sah in den dunklen Gang. »Isis?«, flüsterte ich. Mein Herz sprang im Galopp, als ich eine große, schlanke Frau im Gang stehen sah. »Mutter?«, stieß ich hervor, doch noch während ich es aussprach, war mir klar, dass das definitiv nicht Mutter war. Die Frau trug ein weißes Kleid mit einem breiten goldenen Kragen. Es schien, als trüge sie eine Sonnenscheibe zwischen zwei Hörnern auf ihrem Kopf. Ich blinzelte, um besser sehen zu können, und als ich die Augen wieder öffnete, war sie fort. Erleichtert ließ ich mich gegen die Tür fallen. Vielleicht hatte Vater recht. Ich musste meine Fantasie wirklich in den Griff bekommen. Genau in diesem Moment tauchten zwei leuchtende grüngoldene Punkte im Gang auf. Isis! Ich zog mich hinter die Tür zurück, bereit, sie zu schließen, falls sie hereinkommen sollte. Es dauerte ewig, aber schließlich näherte sie sich mit der Nase den Sardinen und hielt wie ein Panther auf der Jagd alle paar Zentimeter an, um nach irgendetwas zu wittern. Ich weiß auch nicht, wonach dämonische Katzen so schnuppern. Als sie die Sardinen schließlich erreichte, warf sie alle Vorsicht in den Wind und ging darauf los, als seien es gefährliche, katzenfressende Ratten. Sie nahm eine Sardine ins Maul und schüttelte den Kopf (wobei sie überall Sardinensaft verteilte), als ob sie die Sardine noch einmal totschütteln müsse. Erst dann setzte sie sich hin und aß sie. 162
Während sie so mit ihrem Essen beschäftigt war, schloss ich leise die Tür. Als sie das Klicken hörte, hielt sie inne und sah mich an. Leises Heulen erklang tief aus ihrer Kehle. »Isis«, sagte ich, ihren Namen sorgfältig betonend. Sie hörte auf zu grollen und aß weiter ihren Fisch. Die nächsten paar Minuten sprach ich auf sie ein, sagte ihr beruhigende Dinge und sprach alle drei bis vier Wörter ihren Namen aus. Es schien zu wirken. Sie beruhigte sich ziemlich und aß sogar die letzte Sardine, ohne sie noch einmal zu töten. Dann musste ich mir überlegen, wie ich sie zum Bett locken konnte. Wenn ich schlau gewesen wäre, hätte ich die letzte Sardine aufgehoben und im Sarkophag zu meinen Füßen hingelegt. Warum kommen einem die besten Ideen eigentlich immer, wenn es zu spät ist? Ich ließ mich im Sarkophag nieder und rief immer wieder Isis’ Namen und den von Horus, dem Gott, dessen Schutz ich in das Amulett eingewirkt hatte. Isis’ Augen wirkten ruhiger und konzentrierter. Mit vielem Zögern und Anhalten kam sie zum Sarkophag und sprang graziös auf den Rand. Elegant balancierend überlegte sie, was sie tun sollte. Schließlich sprang sie ans Fußende und begann, die Decke mit ihren Krallen zu kneten. Bald erklang lautes Schnurren. Erleichtert ließ ich mich in die Kissen fallen. Es hatte den Anschein, als ob das Amulett doch wirken würde. Ich konnte nur hoffen, dass ich genauso schnell eine gute Idee haben würde, wie ich das mit dem Britannienzu-Fall-Bringen verhindern konnte.
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Das Chaos erwacht
DAS GERÄUSCH EINER SÄGE weckte mich. Na ja, es klang wie eine Säge. Als ich es schaffte, die Augen zu öffnen und mich umzusehen, erblickte ich Isis, die die Tür mit den Krallen bearbeitete, weil sie raus wollte. Sie hinterließ tiefe Kratzer im Holz. Vater würde mich umbringen. Ich sprang aus dem Bett. Isis blickte mich kurz an, machte einen Buckel und fauchte wild. Was für einen Zauber ich in der Nacht auch gewirkt haben mochte, heute Morgen war er definitiv verflogen. Schweren Herzens öffnete ich die Tür und sah, wie Isis verschwand. Meine Augen waren vom Schlaf verklebt, also wusch ich mir das Gesicht und zog mir ein sauberes Kleid an. Da ich am Verhungern war, ging ich zum Aufenthaltsraum, um Frühstück zu machen, in der Hoffnung, dass Mum daran gedacht hatte, ein paar Vorräte von zu Hause mitzubringen. Doch als ich den Aufenthaltsraum erreichte, hielt ich an, um zu schnüffeln. »Brennt da etwas?«, fragte ich Henry. »Nein. Mum macht uns Frühstück«, antwortete er und schlug zappelig mit den Hacken gegen die Querstreben seines Stuhls. »Aber Mum kocht doch gar nicht«, erinnerte ich ihn. 164
»Nun, ich habe mich entschlossen, es heute zu tun«, erklärte Mum und brachte einen Teller mit angebrannten Toasts und einen Eierbecher zu Henry. »Ich habe euch monatelang schrecklich vernachlässigt, das möchte ich gerne wiedergutmachen.« Ich warf einen Blick auf Henrys schwarzen Toast. Indem sie uns vergiftete? »Ich mache dir gleich auch welchen.« Sie ging zurück zum Schrank und steckte ein dickes Stück Brot auf die Toastgabel. »Wie viele Eier möchtest du?« Ich sah, wie Henry einen schwarzen Toaststreifen nahm und damit gegen sein Ei stieß. Er runzelte die Brauen. Man sollte es eintunken, nicht dagegen stoßen. »Nur eins«, meinte ich, ohne den Blick von Henrys Teller zu wenden. »Kommt sofort, mein Schatz.« Henry stieß noch einmal mit dem Toast gegen sein Ei, dann gab er auf, nahm das Ei in die Hand und biss davon ab. »Mum?«, fragte ich. »Ja, Liebes?« »Wie entscheidest du, welche Kunstwerke du mit nach Hause nimmst, wenn du auf einer Ausgrabung bist? Du hast gesagt, dass du eine Menge Dinge zurücklassen musstest. Wie wählst du dabei aus?« »Ach, ich weiß auch nicht. Manchmal ist es, weil wir so etwas noch nicht im Museum haben oder weil es einzigartig ist. Meistens verlasse ich mich auf den Instinkt.« Aha! Vielleicht hielt Mutter ein Warnzeichen fälschlicherweise für Instinkt. Diese Fähigkeit, die ich hatte, musste doch irgendwo herkommen. »Instinkt?« »Hm-hm. Ich lasse mich vom Instinkt leiten, was wohl die schönsten Ausstellungsstücke sein werden.« Sie 165
brachte einen Teller und einen Eierbecher und stellte sie vor mich hin. »Warum fragst du?« »Ich bin nur neugierig.« Einen Augenblick lang sah ich mein Ei an, dann nahm ich den Löffel und hob den Deckel ab. Wie ich befürchtet hatte. Steinhart. »Hast du je Angst, wenn du in den Gräbern bist? Nur du und die alten Sachen?«, fragte ich. »Was für eine lächerliche Frage! Natürlich nicht.« »Wer wusste eigentlich vom Herz Ägyptens, Mum? Wer wusste, dass du es gefunden hast?« Ich nahm einen kleinen Bissen von einer unverbrannten Ecke des Toasts und begann zu kauen. »Nun, da war das Arbeitsteam, Nabir, Hakim, Stanton und Willsbury. Und der Direktor des Antikeninstituts. Ich musste es ihm sagen, um die Erlaubnis zu erhalten, es außer Landes zu bringen.« Ich würgte den Toastbissen hinunter und nippte am Tee. »Das sind eine Menge Leute.« Ich hatte gehofft, dass es nur einer oder zwei gewesen wären. Dann wäre es einfach gewesen, aufzuklären, wer für den Diebstahl verantwortlich war. Ich sah zu Henry hinüber, der aufgehört hatte, gegen seinen Stuhl zu treten, und aufmerksam zuhörte. »Oh! Und von Braggenschnott wusste auch davon. Er hat mir geholfen, den Direktor dazu zu überreden, dass ich es mitnehmen durfte.« Das war es! Jetzt wusste ich wieder, wo ich den Namen gehört hatte! »Wer ist dieser von Braggenschnott eigentlich?«, fragte ich so beiläufig wie möglich. »Ich habe gehört, wie du mit Vater über ihn gesprochen hast.« »Er ist der Vorsitzende der Deutschen Nationalen Archäologischen Gesellschaft.« 166
»Und was machen die Deutschen in Ägypten?« »Ach, die waren schon immer da. Genauso wie wir, die Franzosen, Amerikaner und Italiener haben auch sie archäologische Teams vor Ort.« »Hast du nicht gesagt, es wären mehr Deutsche dort als sonst?« Mutter runzelte die Stirn. »Ja. Das stimmt. In den letzten vier Jahren sind es immer mehr geworden. Seit von Braggenschnott die Sache übernommen hat.« Ich betrachtete mein Ei. Es musste doch eine Möglichkeit geben, mich davor zu drücken, ohne Mutters Gefühle zu verletzen. »Ich fürchte, er hat nicht den besten Ruf. Was bedauerlich ist, denn es wirft ein schlechtes Licht auf alle deutschen Ausgrabungen.« Solange Mutter nicht hersah, fischte ich nach meinem Taschentuch, nahm das Ei aus dem Eierbecher und wickelte es in das zerknitterte Leinen. »Woher hat er so einen schlechten Ruf?« »Er handelt mit Antiquitäten auf dem Schwarzmarkt und schmuggelt Kunstgegenstände für private Sammlungen außer Landes. Unter anderem. Was sollen die ganzen Fragen?« »Nichts weiter. Ich versuche nur herauszubekommen, wie es da unten so ist.« Sie warf mir einen erstaunten Blick zu, dann schüttelte sie den Kopf. »Ich gehe in den Lieferbereich und katalogisiere die neuen Sachen, falls ihr mich braucht.« »Danke für das Frühstück«, sagte ich und ließ das eingewickelte Ei in meine Tasche gleiten. »Das war sehr nett von dir.« »Es war mir ein Vergnügen, Liebes. Wir sollten das öfter machen.« 167
Henry verdrehte die Augen und ich trat ihn unter dem Tisch. Als Mutter gegangen war, nahm ich die Zeitung von Vaters Platz. Er hatte sie noch nicht angesehen, daher versuchte ich, sie nicht allzu sehr zu zerknittern. Ich wollte nur wissen, ob etwas über unser Abenteuer auf dem Platz vor St. Pauls darin stand. Als ich die Zeitung durchblätterte, stach mir eine Überschrift in die Augen: »Getreidekrankheiten im Norden aufgetreten. Ernteausfälle erwartet« Lord Wigmeres Worte klangen in meinen Ohren: Seuchen, Pest, Hungersnot. Beim Wort »Hungersnot« musste ich an die trüben, hungrigen Gesichter von gestern denken. Ich konnte mir gut vorstellen, wie Hunger wohl aussah. Ich widmete mich wieder der Zeitung und las die Berichte über die Überschwemmungen und die kalten Temperaturen im Norden. Henry kam um den Tisch herum und las über meine Schulter mit. »Was ist eine Pustel?«, fragte er. »Etwas Ekliges«, antwortete ich. »Nein wirklich, was ist das?« »Wo hast du es denn gelesen?«, fragte ich. Er zeigte auf eine kleine Notiz in der linken unteren Ecke. Ich beugte mich darüber und las die Überschrift: »Bösartige Krankheit befällt Dutzende in Hampsford« »Mistkram. Jetzt brauchen wir nur noch Heuschrecken.« »Was sind Heuschrecken?« »Das sind große Grashüpfer. Sie fressen Getreide«, erklärte ich. Mein Gehirn arbeitete fieberhaft. »Meinst du so was wie das da?«, fragte Henry und zeigte auf einen Grashüpfer, der im strömenden Regen an der Fensterscheibe klebte. »Na Klasse.« 168
»Was ist?« »Nichts.« Ich fragte mich, wie schwierig es wohl sein würde, mit Lord Wigmere in Kontakt zu treten. Mutter hatte gerade das Ende der Zivilisation eingeläutet.
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Auf der Jagd nach Verbündeten
JETZT MUSSTE ICH ETWAS UNTERNEHMEN. ES gab schlichtweg keine andere Wahl. Nicht, wenn das Herz Ägyptens hier in Großbritannien seine Macht zu entfalten begann. Ich warf einen weiteren Blick auf die Zeitung und wollte den Artikel noch einmal lesen, in der Hoffnung, mich geirrt zu haben. Stattdessen fiel mein Blick auf ein Foto auf der rechten Seite des Titelblattes. »Das ist er!«, rief ich, womit ich Henry so erschreckte, dass er sein letztes Stück Toast fallen ließ. Natürlich mit der Butterseite nach unten. »Das ist einer der Deutschen, denen wir gestern gefolgt sind. Der, der Stokes niedergestochen hat.« Henry machte große Augen. »Echt!« Er schubste mich beiseite, um besser sehen zu können. Der Artikel war furchtbar langweilig. Es ging nur um Politik und die Verhandlungen zwischen Großbritannien und Deutschland. Kern der Sache war, dass Großbritannien keinen unvorteilhaften Vertrag mit Deutschland schließen musste, solange wir auf Inlandsebene stark blieben. Für den Augenblick gab die deutsche Delegation auf und kehrte nach Hause zurück. Der Verfasser des Artikels machte deutlich, dass Großbritannien seine 170
Interessen nur vertreten konnte, solange die Wirtschaft stark war. Weitere Gespräche waren für den Frühling anberaumt. Aber natürlich! Wenn Großbritannien durch Seuchen, Pest und Hunger schwach wurde, dann würden wir unsere Handelsmacht verlieren. Ein geschwächtes Großbritannien konnte nicht mehr seine Interessen vertreten, denn dann wäre es von anderen Ländern abhängig. Wigmere hatte recht. Wie bösartig gerissen! Deutschland nutzte die Macht der alten Ägypter, um seine Gegner zu Fall zu bringen. So wie es Thutmosis III. und Amenemhab getan hatten. Schnell las ich den Rest des Artikels. Von Braggenschnott wurde nicht namentlich erwähnt, aber es hieß, dass die Delegation ihr Quartier in Carlton Terrace Gardens verlassen würde und morgen mit der Kaiser Wilhelm der Große nach Deutschland zurückkehren würde. Das war es: Will hatte gesagt, er sei dem Mann, der mich verfolgt hatte, bis Carlton Terrace gefolgt. Sie mussten damit in Verbindung stehen. Es wäre am einfachsten gewesen, alles Wigmere und seiner Bruderschaft zu überlassen. Doch der hatte gestern nicht sehr zuversichtlich gewirkt. Außerdem war es Mutter gewesen, die das grässliche Ding mitgebracht hatte – mir schien, jemand aus unserer Familie sollte die Verantwortung dafür übernehmen. Die schiere Größe der Aufgabe ließ mich schwanken, doch dann zwang ich mich, die guten Seiten zu sehen: Großbritannien zu retten, würde Vater und Mutter sicher beeindrucken. Ich meine, das würden sie doch merken, oder? Nach stundenlangem Nachdenken hatte ich schließlich einen möglichen Plan. Unglücklicherweise konnte ich das auf keinen Fall alleine machen. Ich würde Hilfe 171
brauchen. Ich hasse es, Leute um Hilfe zu bitten. Zum einen sagten sie selten Ja. Und selbst wenn sie das taten, konnte man sich kaum darauf verlassen, dass sie das taten, was man wollte. Wigmere hatte darauf bestanden, dass ich es meinen Eltern nicht sagte, wodurch nur noch Henry und Will übrig blieben. Henry war der Einzige außer mir, der von Wigmeres Organisation wusste, auch wenn er nur die Hälfte davon gesehen hatte. Aber vielleicht konnte ich Henry und Will dazu bringen, mitzumachen, ohne ihnen mehr zu erzählen, als sie schon wussten. Dann würde ich mein Versprechen Wigmere gegenüber nicht brechen. Will würde bei meinem Plan eine Schlüsselrolle spielen. Wenn er mitmachte. Seine Aufgabe war ziemlich gefährlich, was mir Sorgen machte, aber das taten Seuchen, Pest und Hunger auch. Das schwächste Glied in der Kette war Henry, aber darüber wollte ich jetzt noch nicht nachdenken. Ich sah aus dem Fenster, gegen jede Vernunft hoffend, dass es aufgehört hatte zu regnen. Doch so viel Glück hatte ich nicht. Das bedeutete, dass ich den Weg zum Bahnhof Charing Cross im eisigen Regen laufen musste. Es war der einzige Ort, an dem ich Will finden konnte, und die Zeit drängte. Ich musste ihn heute noch sehen, damit wir unseren Plan in die Tat umsetzen konnten. Das Schwierigste daran war, aus dem Museum zu kommen, ohne Henrys Aufmerksamkeit zu erregen. Ich wollte nicht riskieren, dass er mir wieder folgte. Das letzte Mal, als ich ihn gesehen hatte, hatte er irgendetwas davon gemurmelt, dass er den ganzen ägyptischen Kram satthatte, und war Richtung Waffenausstellung verschwunden. 172
Ich nahm meinen wärmsten Mantel und einen Schirm und stellte mich dem Regen. Der Wind hatte aufgefrischt und blies die Regenschauer quer über die Straßen. Kleine Rinnsale flossen in die Gosse und der Verkehr war ein einziges Chaos. Jetzt da ich von dem Fluch wusste, kam mir der Regen wesentlich düsterer vor, so als ob sich mit den Tropfen eine dünne Schicht Chaos über das Land legte. Mit einem letzten sehnsüchtigen Blick auf einen Omnibus begann ich meinen Marsch nach Charing Cross. Ich wünschte, ich hätte genug Geld für einen Omnibus heute und eine Kutsche morgen. Aber das hatte ich nicht. Und morgen würden wir die Fahrt dringender brauchen. Als ich am Bahnhof Charing Cross ankam, stellte ich fest, dass das Herkommen der einfachere Teil der Aufgabe gewesen war. Ringsumher ragte eine wahre Wand aus Körpern empor. Der Geruch nach nasser Wolle und Rauch füllte die feuchte Luft. Ich trat aus der Menge und versuchte zu raten, wo ich mich aufhielte, wenn ich ein Taschendieb wäre. Nun, das war offensichtlich. Mitten unter den möglichen Opfern. Als Taschendieb wollte man möglichst viele dicht gedrängte Menschen um sich herum haben, damit die eigenen Bewegungen unbemerkt blieben. Und man wollte sich in der Nähe der vielversprechendsten Taschen aufhalten. Ich trat noch ein paar Schritte weiter zurück und entdeckte eine Bank, auf die ich mich stellen konnte. Als ich über die Menge blickte, sah ich einen Mann mit einem Elfenbeinstock in einem sehr elegant geschnittenen Anzug, an dessen Weste eine goldene Uhrkette baumelte. Der sah mir wie ein gutes Ziel aus. Nicht, dass ich ihn 173
bestehlen wollte. Ich wollte nur denjenigen finden, der das vielleicht vorhatte. Ich schubste und drängelte mich zu ihm durch. Gerade als ich ihn erreichte, sah ich eine kleine schmutzige Hand in die Tasche des Mannes greifen. Also wirklich! Wieso bemerkt niemand so etwas? »Hab dich!«, sagte ich leise. Sticky Will erschrak so heftig, dass er die Brieftasche des Mannes wieder in seine Tasche fallen ließ. »Mensch, Miss! Ich hab mir vor Schreck fast in die Hosen gemacht!« »Tut mir leid«, meinte ich. »Ich muss mit dir sprechen. Sofort.« Als ich ihn aus der Menge zog, nörgelte er etwas davon, dass ich ihn gerade eine Stange Geld kostete. Ich suchte uns einen regengeschützten Platz unter einem Vordach, wo wir nicht zu Tode getrampelt wurden, bevor ich ihm erklärte, was ich von ihm wollte. »Was ist los?«, wollte Sticky Will wissen. »Sag mir zuerst mal, was dir gestern passiert ist. Konntest du dem Kerl folgen?« »Jawohl, Miss. Ging auch nach Carlton House Terrace. Hab versucht, an ihn ranzukommen, um dein Dings zu kriegen, war aber zu gut bewacht.« »Hat er dich gesehen?« »Nee. Da bin ich sicher. Bist du deswegen hergekommen?« Jetzt, wo ich meinen Plan endlich darlegen konnte, fehlten mir die Worte. Vielleicht dachte er ja, dass ich verrückt war, wie alle anderen? Will wusste ja nicht, was vor sich ging, und ich musste ihn zur Mitarbeit überreden, ohne Wigmeres Geheimnis zu verraten. Ich würde an seine Abenteuerlust und seinen Nationalstolz appellieren müssen. 174
Hoffentlich fand er nie heraus, dass ich ihm nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte. »Nein. Es hat etwas mit dem Kunstwerk zu tun, hinter dem wir gestern her waren.« Will nickte. »Weiter.« »Es ist lebenswichtig, dass wir es wiederbekommen. Diese Deutschen, die es gestohlen haben, führen nichts Gutes im Schilde. Dieses Kunstwerk hat, nun ja, besondere Eigenschaften, die es äußerst gefährlich machen.« Will machte große Augen und er neigte sich vor. »Was’n für Eigenschaften?«, fragte er. »Ist es verflucht?« Ich erschrak. »Verflucht? Was weißt du denn über Flüche?« Will fuhr zurück und rümpfte die Nase. »Bin ich nich gut genug, um was über Flüche zu wissen?« Oh nein, nicht schon wieder! »Natürlich, du Dummkopf. Es gibt nur so wenige Leute, die daran glauben, dass ich es bei dir nicht erwartet hätte.« »Ach, man muss nur mal so’n Groschenheft lesen, dann weiß man, dass es wohl Flüche gibt.« Ich wollte ihn schon daran erinnern, dass Groschenhefte nur erfundene Geschichten sind, aber dann wurde mir klar, dass es im Grunde egal war, warum er mir glaubte. »Ja, du hast recht. Es ist verflucht. Ein schrecklicher, hässlicher Fluch.« »Verdammt«, sagte er mit Augen so groß wie Untertassen. »Genau. Und damit nichts Schlimmes passiert, müssen wir das Ding von den Deutschen wiederbekommen. Und da kommst du ins Spiel.« »Ich?«, quiekte er. »Du.« Ich nickte. »Nur jemand mit deinen Fähigkeiten und deiner Erfahrung kann tun, was notwendig ist.« »Und was ist notwendig?« 175
»Also, das ist mein Plan: Heute Morgen habe ich in der Zeitung gelesen, dass die Deutschen morgen mit dem Schiff abreisen. Du, Henry und ich werden ihnen zu den Docks folgen. Wir lassen Henry für Ablenkung sorgen und solange er die Aufmerksamkeit auf sich zieht, gehst du los und nimmst das Kunstwerk geradewegs aus der Tasche eines der Deutschen.« Ich lehnte mich zurück. »Was meinst du? Schaffst du das?« »Das wär der Klau meines Lebens! Man könnte glatt ein Buch drüber schreiben.« »Genau! Und du bist der Einzige, den ich kenne, der das kann. Du bist klein, du bist schnell und dank meiner Hilfe weißt du, wer es hat. Aber du wirst es nicht behalten dürfen. Es muss zurück … es muss ordentlich versorgt werden.« Bei diesen Worten blickte er ein wenig enttäuscht drein, aber was sollte denn ein kleiner Taschendieb wie er auch mit dem Herz Ägyptens? »Damit kannst du dir sowieso keine Würstchen oder einen neuen Mantel kaufen«, erklärte ich ihm so sanft wie möglich. Will plusterte sich auf wie ein Igel, der die Stacheln hochstellt. »Was is denn nich in Ordnung mit dem Mantel, he?« »Nichts, wirklich nichts. Ich meine nur, das Kunstwerk ist so einzigartig und wiedererkennbar, dass du es nicht verkaufen kannst oder so, ohne geschnappt zu werden.« »Du meinst verhökern?« »Ja, genau das.« »Na, ein Freund von mir kann alles verhökern, aber ich versteh schon, was du meinst.« »Wirst du es tun?«, fragte ich. 176
Seine Augen blitzten. »Ja, Miss. Werd ich!« Wunderbar. Ein Problem weniger. Jetzt musste ich nur noch die zwei Dutzend anderer Hindernisse auf ‚unserem Weg ausräumen, dann war alles klar.
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Ein Schlammbad
KEINE ZEHN MINUTEN NACH MEINER RÜCKKEHR vom Bahnhof Charing Cross ertönte ein markerschütterndes Fauchen irgendwo aus dem dritten Stockwerk. »Theodosia Elizabeth Throckmorton!«, schrie Vater. »Komm und hol deine verdammte Katze hier weg! Sofort!« »Oh-oh.« Ich rannte die Treppe hinauf. Im Arbeitszimmer hatte sich Isis wie eine dämonische Klette an Vaters Rücken gekrallt. Er drehte sich immerzu im Kreis herum und versuchte, sie mit seinem Stock zu vertreiben. Meist traf er dabei nur sich selbst. Was ihm ganz recht geschah, dafür, dass er auch nur auf die Idee kam, meine Katze mit einem Stock zu schlagen! »Theodosia? Nimm diese Katze hier weg, sonst werde ich sie mit Freuden Henry für seine Mumifizierexperimente übergeben.« Nein, das würde er nicht tun, er scherzte bloß, oder? »Ich hab sie. Halt mal einen Moment still, ja?« Vater hörte auf zu kreiseln und ich schnappte mir Isis. Ich versuchte, sie von seinem Rücken zu ziehen, aber sie hing an ihm fest, als ob ihre Krallen in seiner Haut steckten. Endlich, nach vielen fruchtlosen Versuchen und verärgerten Flüchen von Vater, konnte ich meine arme Katze 178
befreien. Sie wand sich und strampelte in meinen Armen. »Es tut mir leid«, übertönte ich ihr Geschrei. Vater starrte mich an. Ich konnte es nicht länger hinauszögern. Isis musste ein Schlammbad nehmen.
Unglücklicherweise hatte ich keinen Schlamm aus dem Nil. Schlamm von dem kleinen Platz an der Straße gegenüber würde genügen müssen. Immerhin bestand er aus Regenwasser, vielleicht war dessen Reinheit ausreichend. Man sollte die Hoffnung nicht aufgeben. Mit einem kleinen Eimer voll nassem Matsch kehrte ich ins Museum in meine Kammer zurück, in der ich Isis eingesperrt hatte. Ich konnte ihr leises Grollen hören. Ich stellte den Eimer so dicht vor die Tür, dass er eine Art Barrikade bildete, wenn ich sie öffnete. Die linke Hand griffbereit öffnete ich mit der rechten Hand die Tür. Sobald der Spalt breit genug war, dass ihre Schnurrbarthaare hindurchpassten, sprang Isis über den Eimer in den Gang – und genau in meine wartende Hand. Ich hatte mich richtig hingestellt und konnte eine Handvoll von ihrem Fell hinter dem Nacken schnappen. Schnell griff ich mit der anderen Hand zu, nahm sie auf den Arm und hielt sie fest. Es war ziemlich anstrengend, sie zu beruhigen, ihren spitzen Krallen auszuweichen und gleichzeitig mit dem Fuß den Eimer durch die Tür zu bugsieren. Es wäre natürlich viel praktischer gewesen, wenn ich das im großen Waschraum des Museums hätte machen können, aber ich konnte nicht riskieren, dass im falschen Moment einer der Museumsbesucher hereinkam. Wie 179
sollte ich erklären, dass ich meine Katze im Schlamm badete? Selbst ich konnte mich da kaum herausreden. Ich erspare euch die Einzelheiten des Bades. Es reicht, wenn ich sage, ich kann es nicht empfehlen. Nicht, wenn es irgendwie anders geht. Was Isis nicht verstand, war, dass ihr eine Wachsbehandlung bevorstand, wenn das Schlammbad nicht wirkte – wie bei dem Mann auf Ebene sechs. Aber der Gedanke an eine haarlose Katze war ziemlich scheußlich. Ich öffnete die Tür einen Spalt, um zu sehen, ob die Luft rein war, aber Isis hatte da keinerlei Bedenken, schoss durch die Tür und wirbelte durch den Gang. Gut war, dass sie mich nicht mit ihren Krallen attackierte und auch nicht so furchterregend fauchte. Schlecht war … »Theodosia?«, rief Mum. »War das deine Katze? Was ist mit diesem Tier nur los?« … die Luft war nicht rein. »Ich glaube, sie ist nur verspielt.« »Na, das ist allerdings reichlich verspielt. Hast du da Matsch auf dem Kleid?« Entsetzt sah ich an mir herunter. Es sah aus, als hätte sich jemand auf meinem Kleid in primitiver Höhlenmalerei versucht. Mutter wedelte mit der Hand. »Na, egal. Wir gehen jetzt nach Hause. Zieh aber deinen Mantel darüber, damit Vater das nicht sieht.« Ich rannte los und holte meinen Mantel, den ich fest zuknöpfte, um meine Sünden zu verbergen. Ich stülpte mir sogar einen der grässlichen Hüte auf den Kopf, nur um Vater glücklich zu machen.
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An diesem Abend, als ich sicher war, dass sich meine Eltern in die Bibliothek zurückgezogen hatten, schlich ich mich aus meinem Schlafzimmer durch den Gang zu Henrys Zimmer. Ich hatte ihm noch nichts von meinen Plänen für morgen gesagt. Bei Henry ist es besser, nichts zu verraten, bis man seine Schäfchen im Trockenen hat. Leise kratzte ich an seiner Tür. »Henry«, flüsterte ich. »Kann ich reinkommen?« Er öffnete mir im Schlafanzug die Tür und rieb sich die Augen. »Was willst du denn?« »Henry, hast du es ernst gemeint, als du neulich gesagt hast, du willst mir helfen?« Er sah mich misstrauisch an. »Schon möglich.« Das schien schwieriger zu werden, als ich gedacht hatte. Ich verschränkte die Hände. »Hier ist die Gelegenheit. Ich habe einen Plan, das Herz Ägyptens wiederzubekommen, aber dazu brauche ich deine Hilfe.« In seinen Augen leuchtete Interesse auf. »Lässt du mich rein, damit ich dir davon erzählen kann?« »Oh, na klar. Aber wozu brauchst du meine Hilfe? Immer sagst du mir, ich solle mich um meinen eigenen Kram kümmern.« Wenn er verschlafen ist, ist Henry immer unausstehlich. Ich folgte ihm zu seinem Bett, wo er sich unter die Decke verzog, während ich mich am Fußende niederließ. »Henry, es ist wichtig. Und es geht um mehr als nur um dich und mich. Es geht um Wigmere und Stokes und alle anderen.« Ich sagte mir, dass ich Henry nichts verraten durfte, was er nicht schon wusste. Zumindest nicht viel. Und auf jeden Fall keine Einzelheiten. 181
Henry horchte auf. Seit gestern hatte er nun schon nur noch von seinen Helden vom Somerset House geredet. »Ich weiß, wo das Herz Ägyptens ist, und ich habe einen Plan, es zurückzubekommen. Du, ich und Sticky Will, wir werden zusammenarbeiten müssen, aber wenn wir das tun, dann haben wir eine Chance. Was sagst du dazu?« »Du bist verrückt! Was können denn drei Kinder gegen einen Haufen Mörder ausrichten?« »Aber Henry, genau das ist es doch! Weil wir Kinder sind, wird keiner auf uns achten, und genau das ist unsere Chance. Verstehst du nicht? Aber jetzt kommt die eigentliche Schwierigkeit. Wir dürfen es Mum und Dad nicht sagen. Wigmere sagt, dass das Herz Ägyptens ins Tal der Könige zurückmuss. Wir können es nicht im Museum behalten.« Ich wand mich und hoffte, dass ich nicht zu viel von Wigmeres Geheimnis verriet, aber Henry wusste ja schon, dass das Herz Ägyptens verschwunden war, und er brauchte eine plausible Erklärung. Henry legte nachdenklich den Kopf schief, und ich sah, dass er mir zuhörte. »Also«, fuhr ich fort, »das ist mein Plan: Wir gehen morgen früh als Erstes zum Carlton House Terrace, damit wir von Braggenschnott und seiner Bande folgen können, wenn sie zu den Docks gehen. Seit gestern wissen wir, wie sie aussehen, und dank der Zeitung von heute Morgen wissen wir, wann sie nach Deutschland zurückkehren: morgen mit der Kaiser Wilhelm der Große um ein Uhr.« Jetzt hatte ich seine volle Aufmerksamkeit. »Warum warten wir nicht einfach am Hafen auf sie? Dann würden wir weniger Gefahr laufen, entdeckt zu werden.« »Wir müssen sicher sein, dass sie das Herz Ägyptens 182
mitnehmen und es nicht unterwegs irgendwo abgeben. Wir werden vor Carlton House Terrace auf sie warten, bis sie fortgehen. Ich habe genug Geld, dass wir ihnen in einer Droschke bis zum Hafen folgen können. Während sie darauf warten, an Bord zu gehen, kann Sticky Will sich anschleichen und es von Braggenschnott aus der Tasche nehmen. Ist das nicht brillant!« Aber nur wenn es klappt, dachte ich (das sagte ich allerdings nicht laut). Wenn es nicht klappte, konnte es in eine Katastrophe ausarten und wir hätten alle möglichen Schwierigkeiten. »Sofern es dir nichts ausmacht, dass Sticky Will aufgespießt wird wie ein Käfer. Was sollte diesen brackigen Schnott davon abhalten, ihn genauso abzustechen wie Stokes?« Verflixt. Den Haken hatte er gefunden, nicht wahr? »Zunächst einmal werden eine Menge Menschen da sein, es ist unwahrscheinlich, dass er ein Messer zieht, wenn er weiß, dass er geschnappt werden kann.« Henry runzelte die Stirn. »Glaubst du nicht, dass er sagen wird, dass Will versucht hat, ihn zu bestehlen, und er nur sein Eigentum beschützt hat?« Henrys unvermutete Logik ließ mich die Stirn in Falten legen. »Will sagt, dass er viel zu gut ist, um geschnappt zu werden. Wir können nur hoffen, dass er recht hat. Außerdem kommst an dieser Stelle du ins Spiel. Du musst für Ablenkung sorgen, sodass die Deutschen ihre Aufmerksamkeit auf irgendetwas anderes richten.« Das Stirnrunzeln verschwand. »Und was?« »Ach, keine Ahnung. So was wie die Explosion, die du letzte Weihnachten verursacht hast. Oder die Kreiselgeschosse, die du letzten Sommer losgelassen hast, vor denen alle geflüchtet sind. Irgendetwas in der Art.« 183
Henrys Gesicht begann zu strahlen. »Das war echt klasse, stimmt’s?« »Einfach genial. Und jetzt kannst du es wieder tun und wirst dadurch zu einem Helden!« »Und was machst du die ganze Zeit?« »Oh Henry! Ich werde alles überwachen und eintakten und dafür sorgen, dass alles nach Plan verläuft.« Mit einem selbstgefälligen Grinsen zog sich Henry die Decke unters Kinn. »Mit anderen Worten, du spielst den Boss.«
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Auf zum Hafen
ICH SCHLIEF SCHLECHT. In meinem Kopf summte es wie in einem elektrischen Draht, während ich alle Pläne und Ausweichpläne durchdachte, die wir brauchten. Als ich schließlich doch einschlief, träumte ich von Tausenden von Uschebti, die sich erhoben und an ihre Kisten hämmerten, um hinauszugelangen. Schließlich weckte mich das Klopfen unseres Hausmädchens, Betsy. Ich stieg aus dem Bett und ging ans Fenster. Es war immer noch grau, doch der strömende Regen hatte sich in sanftes Nieseln verwandelt. Na, das war wenigstens eine gute Nachricht. Mutter und Vater trödelten unten mit dem Frühstück und der Zeitung herum und ließen sich Zeit. »Also wirklich, Theodosia!«, ermahnte mich Vater. »Musst du denn so zappeln? Du tust ja so, als ob du auf einem Ameisenhügel sitzen würdest.« Henry kicherte und ich sah ihn so strafend wie möglich an. Heute war ein ernster Tag. »Tut mir leid, Vater. Ich will bloß schnell ins Museum und … äh, nach Isis sehen.« »Erwähne bloß diese Katze nicht! Ich bin ihr immer noch böse wegen ihres Angriffs auf mich!« 185
»Ich bin sicher, dass sie das nie wieder tut, Vater. Ich habe ihr ein Mittel … einen Trank gegeben, der sie beruhigt.« Er blickte von seiner Zeitung auf und sah mich über den Rand hinweg an. »Was für einen Trank?«, fragte er. Ich zuckte mit den Schultern. »Ach, du weißt schon. Eine Mischung aus Sardinensaft, Sahne, etwas Pastete, zerriebener Katzenminze und einem rohen Ei.« Vater verzog amüsiert das Gesicht, legte die Zeitung weg und schob sein halbgegessenes Frühstück von sich. »Geh und hol deinen Mantel.« Schwer seufzend stand er auf und ging hinaus. Als ich aufstand, um ihm zu folgen, warf ich einen Blick auf die Zeitung, die er zurückgelassen hatte. Beim Anblick der Schlagzeile wurde mir das Herz schwer. »Hunderte mit schwerer Influenza im Krankenhaus« Wir mussten uns wirklich beeilen.
Ich hatte Sticky Will gesagt, dass wir uns um halb elf mit ihm an der Duke-of-York-Säule treffen wollten. Da das Schiff erst um ein Uhr ablegte, konnte ich mir nicht vorstellen, dass die Deutschen sich noch früher auf den Weg zum Hafen machen würden. Doch unser später Start hatte mich unruhig gemacht. Sobald wir im Museum angekommen waren, verdrückten Henry und ich uns. Zehn Minuten später schlüpften wir aus dem Seiteneingang und machten uns schleunigst auf den Weg zur Pall Mall. Als wir die Duke-of-York-Säule erreichten, waren wir beide trotz des grauen, nassen Wetters durchgeschwitzt. 186
Will trat hinter der Säule hervor. »Was habt ihr so lange gebraucht?« »Elterlicher Unsinn«, keuchte ich und versuchte, nach unserem Sprint durch die Stadt wieder zu Atem zu kommen. »Scheint mir, dass es nur Stress macht, Eltern zu haben«, meinte Sticky Will überheblich. Ich wusste es doch! Er war ein Waisenkind! »Nun, dann kommt mal«, fuhr er fort. »Wie finden wir die Kerle?« »Die Botschaft ist in Nummer neun. Wir bleiben in der Nähe und warten, bis sie abreisen.« Henry starrte mich mit offenem Mund an. »Das ist es? Das ist dein Plan? Na, sieh mal an, darauf hätte ich auch kommen können.« Ich rümpfte die Nase. »Bist du aber nicht. Jetzt kommt.« Wir machten uns auf den Weg zu Carlton House Terrace Nummer neun. Es war ein elegantes Gebäude mit vielen Fenstern, wie Hunderte von starren Augen, die uns beobachteten. Vielleicht fühlt sich das aber auch nur so an, wenn man irgendwo herumschleicht. Wir verteilten und platzierten uns so, dass wir alle Türen beobachten konnten, und warteten ab. Man sollte meinen, dass es das Einfachste von der Welt sei, irgendwo herumzulungern, aber nach etwa dreißig Minuten kommt man sich äußerst verdächtig vor. Nach einer Stunde ist man zu Tode gelangweilt. Daher hatte ich gerade einen Zappelanfall, als eine Uhr in der Nähe Mittag schlug. Wie knapp sollte das eigentlich noch werden? Ich ging zu Will hinüber. Nach einer kurzen Unterhaltung beschlossen wir, einen Blick in die unteren Fenster zu werfen, um zu sehen, ob da drinnen etwas passierte. 187
Natürlich ging genau in dem Augenblick, als wir unser Versteck verlassen hatten, eine der Türen auf. Eine Gruppe schnell und laut auf Deutsch miteinander sprechender Männer verließ das Haus. Ein Automobil wurde vorgefahren, sie stiegen ein, dann knatterte es die Straße entlang. Überrascht liefen wir durcheinander. »Wir müssen eine Droschke finden! Schnell!« Ich sah die Straße auf und ab, in der Hoffnung, eine Kutsche zu erblicken, aber natürlich war keine in Sicht. Dann zerriss ein ohrenbetäubender Pfiff die Luft, der mich fast taub machte. Ich wandte mich zu Sticky Will um, der zwei Finger in den Mund gesteckt hatte. Er holte tief Luft, um erneut zu pfeifen. »Nicht! Hör auf! Was soll denn das?«, fragte ich. Er sah mich an, als ob ich den Verstand verloren hätte. »Ich besorge uns eine Droschke, was sonst?« »Ja, aber du erregst auch die Aufmerksamkeit jedes Deutschen im Umkreis von einer Meile. Ganz abgesehen von den Schäden an meinem Trommelfell.« Will trat von einem Bein aufs andere. »Willst du jetzt eine Droschke oder nicht?« Ich nickte und hielt mir die Ohren zu, als ein weiterer gellender Pfiff die Luft durchschnitt. Aber, Wunder über Wunder, es erschien eine Droschke. »Hab ich doch gesagt, Miss. Du musst pfeifen, wenn du ’ne Droschke willst.« »Du hast recht. Henry! Wir gehen!« Henry stand auf. Er hatte mit dem langen Stock, den er bei sich trug, Blätterschiffchen in den Rinnstein geschoben. Er kam gleichzeitig mit der Droschke bei uns an. Der Fahrer sah unwillig aus der Kutsche. »Wer hat hier nach einer Droschke gepfiffen?« »Das war er«, meinte ich mit einem Kopfnicken in Wills Richtung. 188
»Ich sollte runtersteigen und dir eins hinter die Ohren geben. Was fällt dir ein, meine Zeit zu verschwenden!« »Aber wir brauchen wirklich eine Droschke.« Der Fahrer sah uns misstrauisch an. »Habt ihr auch Kohle?« »Ja, ja, natürlich.« Ich grub das Geld aus meiner Manteltasche und zeigte es ihm. Er grunzte. »Na gut, dann rein mit euch.« Wir kletterten in die Kutsche. Noch bevor wir richtig saßen, knallte der Fahrer mit der Peitsche, und das Pferd zog an, sodass wir alle auf die Sitze purzelten. »Wo soll es denn hingehen, Miss?«, fragte der Kutscher. »Queen Victoria Docks, bitte.« »Sehr wohl.« Der Einspänner war viel langsamer als das schicke Automobil der Deutschen, deshalb fürchtete ich, dass von Braggenschnott und seine Männer schon an Bord des Schiffes waren, wenn wir ankamen. Der Fahrer lenkte das Pferd zum Hafen hinunter, einem brummenden Bienenstock von Hafenbüros, Warenhäusern und Kais, die sich über Meilen hinzogen. Über allen Piers und Ladearealen ragten Kräne und Flaschenzüge auf. Es war wie eine kleine Stadt – eine laute, überfüllte Stadt, die nach Fisch und Salz und dem einzigartigen Gestank der Themse roch. Sobald wir angehalten hatten, sprangen Henry und Will aus der Droschke. Ich gab dem Kutscher das Fahrgeld. Er brauchte ewig für das Wechselgeld. Wahrscheinlich hoffte er, ich würde sagen, dass er es behalten könne. Endlich kam ich los und eilte Henry und Will zum Schiff hinterher. Mein Herz schien in der Kehle zu schlagen und mein Magen wirbelte fast so schnell herum wie einer von Henrys Kreiseln. Die Kaiser Wilhelm der Große war riesig. Sie überragte die Docks, als 189
ob jemand drei große Häuserblocks der Stadt genommen und am Fluss fallen gelassen hätte. Schnell machten wir das Automobil der Deutschen aus. Sie hatten auf den hölzernen Pier direkt neben dem Schiff geparkt. Will, Henry und ich kamen schlitternd zum Stehen, als wir bemerkten, dass sie eben erst ausgestiegen waren. Wir waren noch nicht zu spät. Das war ein Problem weniger. Wir mischten uns unter die Menschenmenge und bahnten uns unseren Weg zum Einstieg, zu dem auch die Deutschen gingen. Will beherrschte diesen Schlendergang perfekt. Selbst Henry schaffte es ziemlich gut, unauffällig zu wirken. Nur ich hatte das Gefühl, als ob man nur einen Blick auf mein Gesicht werfen musste, um zu wissen, dass ich etwas ausheckte. Schlechtes Gewissen, würde mein Vater sagen. Wenn ich daran dachte, dass er das hier herausfand, wurden mir die Knie weich. Als wir den Einstieg erreichten, waren meine Nerven so angespannt, dass ich fürchtete, sie würden reißen. Ich versuchte, mich auf die Umgebung zu konzentrieren, und suchte mir eine geeignete Position. Will gab ich ein Signal und er begab sich in die Mitte der Menge. Er würde es schaffen. Ich wusste, dass er es schaffen würde. Er musste es schaffen. Energisch schob ich die Zweifel beiseite und wandte mich zu Henry um. Nach kurzer Besprechung entschieden wir, dass der beste Platz für ihn hinter einer großen Barriere von Frachtcontainern war. Während er dorthin ging, lief ich eine kleine Rampe empor, die zu einem Balkon vor dem ersten Stockwerk eines Hafenbüros führte. Von dort aus konnte ich alle sehen und die Signale geben. Als ich meine Position erreicht hatte, sah ich nach unten und erkannte entsetzt, dass die Deutschen der Gangway schon ziemlich nahe waren. 190
Fast als ob er es gespürt hätte, blickte Will in meine Richtung. Ich wies mit dem Kopf auf die Deutschen und er veränderte seine Richtung auf sie zu. Es war erstaunlich, wie sehr er mit der Menge verschmolz. Er bewegte sich wie ein Korken auf dem Ozean zwischen den Leuten und ließ sich von ihrer Bewegung mittragen. Ich sah zu Henry hinüber. Selbst aus dieser Entfernung konnte ich seine Aufregung spüren. Für ihn war das alles ein spannendes Spiel. Ich beließ es dabei. Wenn man anfing, darüber nachzudenken, was wir riskierten, was passieren konnte, wenn die Deutschen uns entdeckten … Ich schluckte und zwang mich, mich darauf zu konzentrieren, was dort unten geschah, und meine Fantasie im Zaum zu halten. Endlich brachte die Menge Will in Reichweite der deutschen Delegation. Ohne mich anzusehen, rückte er seine Mütze zurecht, das Zeichen, dass er bereit war. Ganz ruhig, sagte ich mir, doch mein Herz klopfte so laut wie eine große Kesselpauke. Ich bekam Blickkontakt zu Henry und warf mir das Haar über die Schulter, das war sein Signal. Henry nickte und hob dann den langen, biegsamen Stock, den er den ganzen Morgen mit sich herumgetragen hatte. Er lud die kleine Ledertasche an der Spitze mit feinen Schrotkügelchen und verschwand dann außer Sichtweite. Sorgfältig zielte er und ließ dann die zurückgebogene Stabspitze los, sodass der Schrot über der Menschenmenge herabregnete. Sogleich begannen die Leute sich auf Hals und Gesicht zu schlagen, als wären sie von Insekten gestochen worden. Leises Murmeln erhob sich, denn sie unterbrachen ihre Gespräche und begannen sich umzusehen. 191
Will nutzte die Gelegenheit, sich direkt hinter von Braggenschnott zu schleichen. Die Deutschen hatten die brennenden Geschosse alle ignoriert, sahen mit wachsamem Blick zum Himmel und versuchten, die Quelle des Angriffs auszumachen. Sie taten das nicht so einfach ab. Während sie zu dem Kistenstapel hinübersahen, hinter dem Henry versteckt war, hob Will die Rockschöße an von Braggenschnotts Gehrock an. Ich hielt den Atem an. Will ließ die Finger in die Tasche des Deutschen gleiten – und nahm sie leer wieder heraus. Ich fiel fast in Ohnmacht, als mir der Gedanke kam: Was war, wenn er das Herz Ägyptens gar nicht bei sich trug? Was, wenn er es irgendwo im Gepäck versteckt hatte? Was dann? Es war eine schreckliche Vorstellung. War das richtig? Setzten wir Will nicht einer viel zu großen Gefahr aus? Will zog sich von von Braggenschnott zurück und wartete auf die nächste Ablenkung. Ich wandte mich zu Henry, der an einer Kiste lehnte, außer Sichtweite der Menge. Er sah zu mir und wartete auf weitere Signale. Ganz vorsichtig neigte ich mich vor und gab ihm das nächste Zeichen: Ich band meinen linken Schuh neu. Als ich mich wieder aufrichtete, nickte er. Zeit für die Donnerkeile. Ein paar Sekunden später schwirrten kleine kreiselnde Objekte über die Köpfe der Menschen. Ich wusste, das es nur in Papier gewickelte Kiesel waren, aber die Leute waren wirklich überrascht. Erschrocken und verwirrt schrien sie auf und gingen in Deckung. Will ging auf von Braggenschnott zu. Doch ach! Anstatt sich von dem Ungemach abzuwenden wie alle anderen, wandte sich der Mann direkt dem Unruheherd 192
zu und stieß frontal gegen Will, der sich an seinem Mantel festhielt, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Der widerwärtige Mann rief etwas und schlug dann Will mit dem Handrücken ins Gesicht. Will stolperte zurück und von Braggenschnotts Männer zogen Pistolen – wirkliche, echte Pistolen – und begannen, auf die albernen Donnerkeile zu schießen. Massenpanik und Tumult brachen aus, als sich alle zu Boden warfen, um nicht erschossen zu werden. Henry sprang auf, um Will zu Hilfe zu kommen. Hektisch bedeutete ich ihm, in seinem Versteck zu bleiben. Wer weiß, was sie taten, wenn sie herausbekamen, dass Henry hinter dem ganzen Aufruhr steckte. Wahrscheinlich würden sie ihn erschießen. Von Braggenschnott winkte zweien seiner Männer und ging in die Richtung, aus der die Donnerkeile gekommen waren. Ich winkte Henry wie verrückt und versuchte, seine Aufmerksamkeit zu erringen. Endlich sah er zu mir und verstand. Er huschte in einem Zickzackkurs zwischen den Frachtkisten davon und verschwand außer Sichtweite. Das lief ganz und gar nicht nach Plan. Wer hätte denn auch gedacht, dass von Braggenschnott und seine Männer sich so über ein paar kleine Donnerkeile aufregen würden? Ich sah, wie Will mit blutender Nase aufstand. Er wischte sich mit der Hand über das Gesicht und bemerkte das Blut, woraufhin er wütend dreinsah und das Bein hob, als ob er von Braggenschnott treten wollte. Aber wenn er das tat, würde ihn von Braggenschnott Stück für Stück auseinandernehmen. Scheinbar kam Will der gleiche Gedanke, denn er trat einen Schritt zurück und schlenderte dann davon. Er schlenderte tatsächlich! An seiner Stelle wäre ich gerannt, als ob alle Furien hinter mir her seien! 193
Henry kam zuerst bei mir an. »Hat er es?« »Ich weiß es nicht. Ich konnte es nicht sehen.« »Hast du gesehen, dass dieser brackige Schnott ihn geschlagen hat?« »Ja, habe ich. Und seine Nase blutet wie wild.« »Mistkerle!« Von rechts erklang ein schlurfendes Geräusch. Will erschien mit blutverschmiertem Gesicht und sein Auge begann bereits zuzuschwellen, aber er grinste von einem Ohr zum anderen. »Menschenskinder! Habt ihr gesehen, wie mir der Kerl eine gelangt hat?« Er schien zwar entrüstet, aber zugleich auch äußerst stolz darauf zu sein. »Allerdings. So ein Schwein!« Ich stellte fest, dass ich es nicht fertigbrachte, ihn nach dem Herz Ägyptens zu fragen. Wenn er es nicht geschafft hatte, dann wollte ich das jetzt im Moment noch gar nicht wissen. Die Tatsache, dass er lächelte, war vielversprechend, doch immerhin war er ein Junge. Er lächelte wahrscheinlich, weil das alles ein großes Abenteuer war. Henry hatte allerdings keine solchen Bedenken. »Und? Hast du es?« Will grinste so breit, dass ich fürchtete, sein Gesicht würde wie ein überreifer Kürbis in zwei Hälften zerfallen. Er klopfte sich auf die Hosentasche. »Allerdings.« Mir wurden vor Erleichterung die Knie weich. Ich schloss die Augen und ließ mich gegen die Wand hinter mir fallen. »Oh, gut gemacht, Will. Ganz toll!« Seine Wangen röteten sich und er scharrte mit den Füßen auf dem Boden. »Ach, das war doch nichts, Miss. Echt.« »Unsinn! Dieser schreckliche Mensch hat dich geschlagen. Du hättest …« »Hör auf«, murmelte er. Er wollte offensichtlich nicht darüber sprechen. 194
»Das war verdammt noch mal brillant!«, fiel Henry ein. Wills Kopf schoss nach oben und er und Henry grinsten sich teuflisch an. »Kann ich es jetzt haben?«, bat ich, das Thema wechselnd. »Klar.« Will griff in die Tasche und zog einen Samtbeutel heraus, den er mir in die Hand legte. Ich erschauderte, als mich die Kraft des Fluchs traf. »Alles klar, Miss?«, fragte Will besorgt. »Ja, schon gut. Lasst uns nach Hause gehen, ja?« Auf dem Heimweg überkam mich ein Gefühl des Stolzes. Wir hatten es geschafft.
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Ein Triumph wird schal
DEN REST DES TAGES sonnten Henry und ich uns im Glanz unseres durchschlagenden Erfolges. Es war ein berauschendes Gefühl. Immer wenn Henry mich ansah, musste er grinsen. Ich hätte ihn ausschimpfen sollen, weil er sich so auffällig verhielt, aber ich war viel zu sehr damit beschäftigt zurückzugrinsen. Einen unangenehmen Augenblick gab es, als ich ihm erklärte, dass er nicht mit mir kommen konnte, um das Herz Ägyptens Wigmere zu geben. Aber als ich ihm sagte, dass er dafür sorgen musste, dass unsere Eltern nicht herausfanden, dass ich weg war, war er etwas kooperativer. Außerdem hatte ich ein furchtbar schlechtes Gewissen, dass ich das Herz Ägyptens direkt vor der Nase meiner Eltern versteckte und es ihnen nicht sagen durfte. Wie wütend würden sie sein, wenn sie das erfuhren! Wahrscheinlich würden sie mich für die nächsten fünf Jahre in irgendeine grässliche Schule abschieben. (Ich versuchte, mir einzureden, dass ich ihnen nur den Schmerz ersparte, es zwei Mal zu verlieren, aber das half auch nicht viel.) Am nächsten Tag machte ich mich früh auf den Weg zum Somerset House und der Antikengesellschaft. Es 196
goss wie aus Eimern, und der Wind heulte, als ob sich alle ruhelosen Geister der Erde darin vereint hätten. Es war gespenstisch, aber zuversichtlich klopfte ich mir auf die Tasche des alten Regenmantels, den ich angezogen hatte. Ich hatte das Mittel, unsere ganze Nation zu retten, sicher in meiner Tasche verwahrt. Wegen des schlechten Wetters waren nur wenige Leute unterwegs. Der Weg war lang, aber die Genugtuung, das Herz Ägyptens wiedererlangt zu haben, verlieh mir jede Menge aufmunternder Energie. Im Somerset House marschierte ich zuversichtlich die Treppen zum dritten Stock hoch. Der Türsteher musste meine Entschlossenheit bemerkt haben, denn er warf mir nur einen kurzen Blick zu und versuchte nicht einmal, mich aufzuhalten. Vielleicht hatte er mich erkannt. Nach meiner Erfahrung beim letzten Besuch versuchte ich Boythorpe auf jeden Fall aus dem Weg zu gehen. Ich ging leise direkt an seiner Tür vorbei und hoffte, er würde seinen lästigen kleinen Kopf nicht aus der Tür stecken, um nachzusehen, was vor sich ging. Als ich sicher an seinem Büro vorbei war, ging ich auf das von Wigmere zu, sechs Türen weiter. Ich sah mich um, um sicherzugehen, dass sonst niemand auf dem Flur war, doch der schien ziemlich verlassen zu sein. Ich klopfte. Keine Antwort. Ich klopfte noch einmal. Immer noch nichts. Na, was für ein Unsinn. Wie sollte ich denn dieses eklige Objekt zurückgeben, wenn Wigmere nicht den Anstand besaß, da zu sein? Einen Augenblick blieb ich völlig konsterniert stehen, doch dann erinnerte ich mich: der Aufzug! Ich ging den Gang entlang bis zur letzten Tür auf der rechten Seite, die kleine, die so aussah, als gehöre sie zu einem Wandschrank. Ich ging hinein und schloss die Tür hinter mir. 197
Der Aufzugführer war erstaunt, mich zu sehen. »Was machst du denn hier, junge Dame? So ganz allein?« »Ich muss Lord Wigmere sehen und er ist nicht in seinem Büro. Ist er auf Ebene sechs?« Der Mann zögerte und sah mich misstrauisch an. »Es ist schon gut. Ich darf da hinein. Sie haben mich vor drei Tagen doch selbst gesehen. Außerdem muss ich Wigmere sehr dringend sehen.« »Na gut, aber wenn es Ärger gibt, dann für dich.« Ich nickte. »Klingt fair.« Dieses Mal war ich ein wenig besser darauf vorbereitet, dass mein Magen versuchte, aus meinem Kopf herauszuschießen. Aber nicht viel. Als der Aufzug anhielt, öffnete der Aufzugführer die Tür. Bevor er auf die Idee kommen konnte, mich zu begleiten, trat ich hinaus, winkte ihm zu und betrat schnell die Ebene sechs. Nur um festzustellen, dass sie leer war. Alle Schreibtische waren abgeräumt, alle Büros leer, Papierstapel lagen in wilden Haufen herum. Wo waren sie nur alle? Unsicher ging ich zur Krankenstation, wo Stokes gewesen war. Er war doch sicher zu krank, um verlegt zu werden, oder? Als ich mich dem kleinen Raum näherte, hörte ich Stimmen. Zu meiner Erleichterung erkannte ich darunter die von Wigmere. Auf mein Klopfen hin verstummten die Stimmen abrupt, dann stand Wigmere in der Tür. Er wirkte groß und aufgeplustert wie eine Katze, wenn sie versucht, jemandem Angst einzujagen. Als er erkannte, dass es nur ich war, entspannte er sich. »Theodosia?« Sein Blick glitt hinter mir über den Boden bis zum Aufzug. 198
Als ich seinem Blick folgte, sah ich, dass mein tropfender Regenmantel eine nasse Spur hinter mir hergezogen hatte. »Tut mir leid. Ich mache es später sauber, wenn Sie möchten.« »Nicht notwendig«, sagte er. »Komm herein und zieh die nassen Sachen aus. Dann kannst du mir erklären, was du hier machst.« Er schien nicht besonders erfreut, mich zu sehen. Wigmere trat zurück und winkte mir hereinzukommen. Stokes saß im Bett, und neben ihm stand ein Tisch, auf dem eine große Karte mit vielen kleinen Nadeln lag. Ich brauchte ein paar Augenblicke, bis ich mich aus meinem nassen Regenmantel geschält hatte und Wigmere ihn irgendwo aufgehängt hatte. »So«, meinte er schließlich. »Nur etwas sehr Wichtiges kann dich dazu gebracht haben, bei diesem Wetter hierherzukommen. Ich nehme an, es ist etwas geschehen?« »Nein«, begann ich. Enttäuschung machte sich auf seinem Gesicht breit. »Es ist sogar noch besser«, fuhr ich fort, bevor er zu entmutigt war. Wigmere horchte auf, und ich genoss es sehr, dass ich so einen Ausdruck auf dieses lange Gesicht zaubern konnte. Ich griff in meine Tasche und zog das sorgfältig eingewickelte Päckchen hervor. »Hier.« Er sah von dem Päckchen zu mir und wieder zum Päckchen. »Was ist das?« »Öffnen Sie es, dann werden Sie sehen.« Ich hüpfte fast vor Erwartung. Er würde sich ja so freuen! Wigmere nahm das Bündel und packte es aus. Als er die letzte Hülle fortnahm, stülpte er den Samtbeutel um. »Bei meiner Seele!«, stieß er hervor. Das Herz Ägyptens lag in seiner Hand, strahlend, blinkend und glitzernd 199
in seinem ganzen bösartigen Glanz. »Wie um Himmels willen bist du daran gekommen?« »Sind Sie sicher, dass Sie das wissen wollen?« Sein Schnurrbart zuckte. »Ich denke, ich kann es ertragen. Komm, setz dich und erzähl uns deine Geschichte.« Ich ließ mich gemütlich in einem der Sessel nieder und berichtete von unserem Abenteuer. Es war sehr befriedigend, dass Wigmere und Stokes mir so aufmerksam zuhörten und häufig: »Tatsächlich!« und »Große Güte!« sagten. Die ganze Zeit über drehte Wigmere das Herz Ägyptens in den Händen. Als ich fertig war, sah mich Wigmere auffällig unbeteiligt an. »Und wie viel davon hast du deinem Bruder und seinem Freund erzählt?« »Nichts!«, beeilte ich mich zu versichern. »Bedenken Sie doch, sie wussten sowieso schon einiges davon, noch bevor wir Sie getroffen haben. Das habe ich nur ausgebaut.« Er entspannte sich. »Du siehst doch hoffentlich ein, wie gefährlich es war, diese Männer allein anzugreifen, nicht wahr? Du oder einer deiner Freunde hätte verletzt werden können, oder sogar getötet. Oder schlimmer.« Ich sah ihn überrascht an. »Was könnte denn noch schlimmer sein, als getötet zu werden?« Wigmere tauschte einen Blick mit Stokes. »Gefoltert zu werden«, meinte Stokes leise. »Damit du Geheimnisse verrätst, deine Freunde oder diese Organisation. Etwas in der Art.« Ich musste unwillkürlich an die eiserne Jungfrau und die Folterbank denken, die wir in der Inquisitionsabteilung unseres Museums hatten, und schluckte heftig. »Genau«, sagte Wigmere. 200
Er gab Stokes das Herz Ägyptens, der es seinerseits bewunderte. Dann tauschten die beiden Männer einen dieser langen, bedeutungsvollen Blicke. Wigmere nahm das Objekt zurück und strich mit dem Finger noch einmal darüber, bevor er mich ansah. »Wissen deine Eltern, dass du es gefunden hast?« Ich schüttelte den Kopf. »Das schien mir sinnlos, da sie es ja doch nur wieder hergeben müssen. Außerdem hätte ich dann von Ihnen erzählen müssen und das wollten Sie doch nicht.« »Ausgezeichnet. Also nur ihr drei Kinder wisst davon?« Ich nickte. »Ich fürchte, Theodosia, dass ich dich bitten muss, noch etwas für unser Land zu tun«, sagte Wigmere ernst. Zuversichtlich entgegnete ich: »Sehr gerne.« Schließlich hatte ich eben erst das wichtigste Kunstwerk, das Großbritannien je gefunden hatte, wiederbekommen. Sicher konnten wir alle Aufgaben erfüllen, die Wigmere uns stellen würde. Zu meinem Entsetzen reichte er mir das Herz Ägyptens zurück. »Du musst dies für uns an seinen rechtmäßigen Platz zurückbringen.« »Wie bitte?« »Du musst es für uns nach Ägypten zurückbringen. Hier ist niemand, der das tun kann. Wir haben alle unsere Agenten den Deutschen nachgeschickt, um von Braggenschnott zu verfolgen. Wir dachten, er hätte das Herz Ägyptens. Es wird Wochen dauern, bis wir ihnen die Nachricht übermitteln können, ohne dass ihre Tarnung auffliegt.« Nun, das erklärte zumindest mal die verlassenen 201
Büros. Aber trotzdem. »Wie wäre es mit einem von Ihnen?«, fragte ich, zwischen Stokes und Wigmere hin und her sehend. Einen Moment lang herrschte Stille, dann meinte Wigmere: »Nun, mein liebes Kind, du kannst nicht erwarten, dass Stokes geht. Nicht mit einer zwanzig Zentimeter breiten Wunde in den Rippen. Er kann ja kaum länger als eine Stunde aufrecht sitzen.« »Na gut. Und was ist mit Ihnen?« Sobald ich die Worte ausgesprochen hatte, hätte ich sie am liebsten zurückgenommen. Ein schmerzlicher Ausdruck überflog Wigmeres Gesicht und er lachte auf, ein Lachen, das nicht im mindesten lustig klang. »Wenn ich das nur könnte, meine Liebe!« Er zeigte auf sein Bein. »Glaubst du, ich würde nicht gerne nach Ägypten reisen? Die Ehre zu haben, derjenige zu sein, der eines der wertvollsten Kunstobjekte des alten Ägyptens wieder an seinen angestammten Platz bringt?« Er schnaufte laut und richtete sich gerade auf. »Aber ich kann kaum hier herunterkommen ohne einen Aufzug, und so etwas haben sie im Grab von Thutmosis nicht, so viel ist sicher. So sehr es mich schmerzt, es zuzugeben, ich schaffe die Reise einfach nicht.« Unruhig rutschte ich bei seinen Worten hin und her. »Und wie soll ich dorthin kommen?«, fragte ich. »Mit Schiff und Zug«, erwiderte Stokes. »So wie jeder andere auch.« »Ja, aber ich kann doch nicht einfach auf einem Schiff antanzen und sagen, hey, nehmt mich, ein elfjähriges Mädchen, mit nach Ägypten!« »Nein, natürlich nicht. Du wirst deine Eltern überzeugen müssen, dass sie dich mitnehmen.« »Aber Mum ist doch gerade erst zurückgekommen.« 202
Lord Wigmere zog seinen Stuhl dichter zu mir heran, sodass er mir in die Augen blickte. »Ich weiß, dass das viel verlangt ist. Aber du bist wirklich außergewöhnlich, Theodosia. Du hast großes persönliches Potenzial. Du musst es tun. Für Großbritannien.« Mir war immer noch schwindlig von dem, was er gesagt hatte. »Aber ich bin mir nicht sicher, dass sie es hergeben werden. Nicht wenn sie wissen, dass ich es gefunden habe.« »Nun, da liegt der Haken. Du darfst ihnen immer noch nicht sagen, dass du es gefunden hast.« »Was? Sie erwarten von mir, dass ich meine Eltern dazu überrede, nach Ägypten zurückzugehen – und mich mitzunehmen –, ohne ihnen zu erklären, warum?« »Und uns darfst du auch nicht erwähnen«, fügte Stokes hinzu. »Habt ihr nicht alle Tassen im Schrank?«, fragte ich und sprang auf. »Natürlich muss ich ihnen von Ihnen erzählen. Wieso sollten sie sonst gehen?« »Du musst dir einen anderen Grund einfallen lassen«, meinte Wigmere und tauschte wieder einen dieser bedeutungsvollen Blicke mit Stokes. Ich machte einen Schritt auf sie zu. »Warum sehen Sie sich immer so an?« Wigmere räusperte sich. »Es ist wichtiger denn je, dass du deiner Mutter nichts davon sagst, dass das Herz Ägyptens zurückgegeben werden muss«, meinte er schließlich. Ich verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. »Warum? Warum ist es so wichtig, das vor ihr geheim zu halten?« Wigmere rutschte ein wenig auf seinem Stuhl hin und her. »Nun, das ist schwer zu erklären …« Er hielt inne, 203
als ob er nicht die Absicht habe, etwas so Schwieriges zu erläutern. »Versuchen Sie es«, drängte ich ihn. »Manchmal, wenn Leute mit … gefährlichen Dingen arbeiten … manchmal geht dann die Wirkung … auf sie über.« Ich kann euch gar nicht sagen, wie unangenehm sich das für mich anhörte. »Ägyptische Bestattungsmagie und schwarze Magie sind sehr … ansteckend. Sie können an der guten Seite eines Menschen nagen, bis nicht mehr viel davon übrig ist.« Ich blieb wie angewurzelt stehen und ballte die Fäuste. »Und was genau versuchen Sie damit zu sagen?« Er sah wieder zu Stokes hinüber. »Versuchen Sie ja nicht wieder, Stokes so anzusehen! Sehen Sie mich an und sagen Sie mir, was los ist! Auf der Stelle!« Ich atmete schwer und mein Gesicht brannte. Es fühlte sich an, als ob meine ganze Welt zusammenbrechen würde, wenn ich es wagte, von Wigmere wegzusehen. Wigmeres Stimme klang sanft, als er weiter sprach. »Wir haben eine Untersuchung durchgeführt, Theodosia. Wir glauben, dass der Diebstahl des Herzens Ägyptens von innen heraus organisiert wurde. Wir fürchten, dass deine Mutter etwas damit zu tun haben könnte.« Eine riesige, gähnende Stille breitete sich schwarz und verhängnisvoll im Raum aus. Ich hatte Angst, sie würde mich auf einmal verschlingen. Wigmere beeilte sich fortzufahren. »Es ist natürlich nicht ihre Schuld. Es ist die schwarze Magie, der sie so lange Zeit in ihrem Erwachsenenleben ausgesetzt war. Denk doch mal nach, Theodosia. Sie war monatelang in den Pyramiden, lange Zeit den Kunstwerken in ihrem 204
reinsten, ungestörten Zustand ausgesetzt. Sie kann nichts dafür, dass sie infiziert worden ist. Das ist, als ob man einen Pudding in den Regen stellt. Irgendwann löst der Regen ihn auf und er bekommt Löcher und Risse. Wir glauben, dass deiner Mutter genau das passiert ist.« Ich schüttelte heftig den Kopf, schien gar nicht mehr damit aufhören zu können. »Nein«, sagte ich zurückweichend. »Nein, nein, nein! Das verstehen Sie ganz falsch! Wie ist das mit Ihnen? Sie sind auf Kunstwerke spezialisiert, die mit schwarzer Magie behaftet sind. Vielleicht sind Sie ja alle schlecht und versuchen, mich hereinzulegen.« Und schon wieder tauschten sie so einen Blick. »Lassen Sie das!« Jetzt ergriff Stokes das Wort, mit sanfter Stimme, als ob er versuchte, ein Pferd zu beruhigen. »Wir schützen uns. Immer. Der Schutz ist uns sozusagen in Fleisch und Blut übergegangen. Und wir treffen … Vorsichtsmaßnahmen. Mehrmals im Monat.« »Dann lassen Sie mich diesen Fleisch-und-Blut-Schutz doch mal sehen«, verlangte ich. Mir erschien die Geschichte lächerlich. »Darf ich, Sir?« Wigmere nickte. »Ja. Natürlich. Zeigen Sie es ihr.« Vorsichtig, als ob seine Wunde schmerzte, öffnete er die beiden ersten Knöpfe seines Hemdes. Ich schnappte nach Luft. Direkt unterhalb seines Kehlkopfes saß ein Horusauge. Ich betrachtete es eingehend. »Womit haben Sie das gezeichnet?« »Das ist nicht gezeichnet. Es ist eine Tätowierung. Sie geht nie wieder ab.« Ich untersuchte das Symbol. Mir erschien es sinnvoll. Der Halsansatz reagiert sehr empfindlich auf schwarze 205
Magie. Deshalb trugen die alten Ägypter ihre Amulette auch um den Hals. Als Stokes seinen Kragen wieder zuknöpfte, neigte sich Wigmere vor, als sei ihm gerade ein Gedanke gekommen. »Schützt sich deine Mutter, Theodosia? Oder vielleicht dein Vater?« »Nein«, erwiderte ich unglücklich. »Ich habe es immer wieder versucht, sie dazu zu bringen. Ich habe ihnen sogar Amulette gemacht, in der Hoffnung, dass sie sie mir zuliebe tragen würden, aber das tun sie nicht.« Ich richtete mich auf. »Aber das heißt noch lange nicht, dass sie böse geworden sind!« Wie konnte sich der einzige Erwachsene, dem ich trauen konnte, nur so furchtbar täuschen? »Vielleicht«, gab Wigmere zu. Überzeugt wirkte er nicht. »Aber das ist ein Risiko, das wir nicht eingehen können. Das kannst du doch sicher verstehen?« »Ich verstehe gar nichts«, sprühte ich. Ich starrte in den verlassenen Raum mit den leeren Tischen und den chaotischen Papierstapeln. Wie konnte er es wagen, so etwas über Mutter zu sagen? Mir war egal, ob er die Aufgabe hatte, über ganz Großbritannien zu wachen, es gab keinen Grund, Mutters Ruf so zu beschmutzen. Wie konnte ich ihn nur überzeugen? Wie konnte ich ihnen nur klarmachen, wie falsch sie lagen? Aber natürlich – Fagenbush! Wenn jemand im Haus an dem Komplott beteiligt war, dann musste er es sein! Seit diese Bastet-Statue angekommen war, hatte er sich merkwürdig verhalten, war mitten in der Nacht herumgeschlichen und hatte mir hinterherspioniert, als er glaubte, ich hätte sie. Er musste der Insider sein! Ich hielt mich für sehr schlau, als ich mich zu Wigmere umwandte. »Sie liegen ganz falsch. Ja, es gibt einen Maulwurf, aber das ist nicht meine Mutter. Es ist 206
der zweite stellvertretende Kurator, Clive Fagenbush«, verkündete ich triumphierend. Wigmere schüttelte traurig den Kopf. »Nein, Fagenbush ist es nicht. Wir haben ihn gründlich überprüft. Er ist es nicht.« »Wie können Sie da so sicher sein?« »Wir haben Mittel und Wege«, meinte Stokes geheimnisvoll. »Nun, dann haben Ihre Wege Sie in die Irre geführt. Fagenbush führt irgendetwas im Schilde. Das weiß ich seit Wochen.« »Schon möglich«, gab Wigmere zu. »Aber mit dem Herz Ägyptens hat er nichts zu tun.« Ich verschränkte die Arme vor der Brust und starrte ihn böse an. »Na gut. Angenommen, meine Mutter weiß von der ganzen Sache. Warum zum Teufel sollte sie mich dann mit nach Ägypten nehmen? Sie würde doch sicherlich davon ausgehen, dass irgendetwas nicht stimmt? Wenn sie von allem weiß und so.« »Nun, ehrlich gesagt, habe ich keine große Hoffnung, dass deine Eltern dich mitnehmen werden. Aber es ist unsere einzige Möglichkeit. Wenn Sie dich nicht dorthin bringen, dann werde ich gehen müssen und kann nur hoffen, dass ich es nicht vermassle.« »Also, wenn meine Mutter mich nach Ägypten mitnimmt, dann beweist das doch ihre Unschuld, oder? Dann sehen Sie, was für eine blöde, idiotische Theorie Sie sich da ausgedacht haben, ja?« Wigmere strich sich über den Schnurrbart. »Es spräche zumindest sehr für sie, das muss ich sagen«, gab er schließlich zu. »Na gut. Wir reisen nach Ägypten. Innerhalb von zwei Wochen, spätestens. Und Sie können Ihr Horusauge drauf 207
wetten, dass meine Mutter nichts, aber auch gar nichts mit der ganzen Sache zu tun hatte.« Mein ganzer Körper zitterte vor Wut. Wigmere trat auf mich zu und legte besorgt das Gesicht in Falten. »Es tut mir leid, dass ich dich so aufgeregt habe. Aber das ist genau das, was wir hier tun. Dafür gibt es die Bruderschaft – um solche Dinge herauszufinden.« »Ich weiß nicht, Sir«, meinte Stokes. »Vielleicht ist es zu viel verlangt.« Wigmere sah mich an. »Ist das zu viel verlangt, Theodosia? Wir könnten es gut verstehen, wenn dir die Last zu schwer ist.« Ich war viel zu angewidert, um zu antworten, schnappte mir das Herz Ägyptens vom Tisch, den Regenmantel von der Stuhllehne und rannte zur Tür hinaus. Auf dem Heimweg war ich so wütend, dass ich fast das Pflaster unter meinen Füßen zertrat. Ich ignorierte den kalten Regen, der in kleinen Tropfen fiel, die bei der Berührung mit mir praktisch verdampften. Doch als mein Gehirn zu arbeiten begann, wurde ich langsamer. Mutter kannte von Braggenschnott. Sie hatte sogar gesagt, er hätte ihr geholfen, das Herz Ägyptens außer Landes zu bringen. Doch das bewies gar nichts! Nur, dass er einen britischen Staatsbürger brauchte, der den Fluch in unser Land brachte. Aber Mutter war nicht sonderlich beunruhigt gewesen, als ich ihr den Mann zeigte, der ihr am Bahnhof gefolgt war. Das war ja nichts Neues, Erwachsene hörten nie auf das, was ich sage. Die Erinnerung an ihren Gesichtsausdruck, als sie feststellte, dass das Herz Ägyptens weg war, sollte eigentlich alle Zweifel beseitigen. 208
Allerdings war sie schon immer eine hervorragende Schauspielerin gewesen. So konnte sie Vater gut manipulieren … Entsetzt stellte ich fest, dass Wigmere mich angesteckt hatte. Selbst ich begann meine Mutter zu verdächtigen!
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Wir müssen nach Ägypten
BEI MEINER RÜCKKEHR INS MUSEUM suchte ich als Allererstes nach Fagenbush. Es war höchste Zeit für eine Unterhaltung mit ihm. Ich marschierte schnurstracks zum Lieferbereich, da ich sicher war, dass er um die neuesten Kunstgegenstände herumschleichen würde. Nigel und Stilton hielten in ihrer Arbeit inne und sahen mich überrascht an. »Ist irgendetwas nicht in Ordnung, Theodosia?«, fragte Nigel nach einer peinlichen Pause. Ich warf meine Haare über die Schulter zurück und versuchte, gleichgültig dreinzusehen. »Ich suche nur Fagenbush. Haben Sie ihn gesehen?« »G-grade war er noch hier«, sagte Stilton, dessen linkes Auge die ganze Zeit zwinkerte. »Ich glaube, er ist in den Lesesaal gegangen.« »Danke, dann suche ich ihn mal da.« Bevor einer von ihnen noch etwas sagen konnte, rannte ich die Treppe hinauf. Und direkt in Fagenbush hinein. Das Wiesel hatte oben an der Treppe gelauert! Er trat aus dem Schatten, als ich die oberste Stufe erreichte, und erschreckte mich so, dass ich fast das Gleichgewicht 210
verloren hätte. Hätte er mich nicht an der Schulter festgehalten, wäre ich die Treppe wohl wieder heruntergefallen. Er beugte sich zu mir herunter. »Was hast du damit gemacht?«, fragte er. Der Geruch nach Silberzwiebeln ließ meine Nasenlöcher beben, als ob sie zu flüchten versuchten. Ich wand mich aus seinem Griff frei. »Womit?« Ich sollte eigentlich ihn ausquetschen, nicht er mich. »Was hast du mit der Bastet-Statue gemacht?« »Was meinen Sie?« »Ich meine, du hast sie ruiniert. Du hast irgendetwas damit gemacht und jetzt ist sie … nicht mehr dieselbe.« Er wusste also von dem Fluch! Und hatte ihn für seine eigenen schmutzigen Pläne nutzen wollen. Ich hatte recht gehabt. Es gab einen Maulwurf im Museum, und das war nicht Mutter! Angriff ist die beste Verteidigung, sagt Vater immer, wenn er sich auf eine Sitzung mit dem Stiftungsrat des Museums vorbereitet. Also spannte ich die Schultern an. »Und was haben Sie mit dem Herz Ägyptens gemacht?«, fragte ich. Verwunderung zeichnete sich auf seinem hässlichen Gesicht ab. »Wovon redest du?« Plötzlich stellte ich fest, dass ich gar nicht wusste, ob Mutter und Vater den anderen Kuratoren erzählt hatten, dass das Herz Ägyptens verschwunden war. Vielleicht war das ja noch ein Geheimnis. Nun, jetzt war die Gelegenheit für einen Bluff. »Sie wissen ganz genau, wovon ich rede.« Er schob sein Gesicht ganz dicht vor meines. »Und was glaubst du, was ich damit getan habe?« Wir standen Nase an Nase, mit geballten Fäusten, keiner von uns bereit, auch nur einen Millimeter nachzugeben. 211
Eine Stimme unten an der Treppe ließ uns beide zusammenfahren. »He, ihr zwei! Was ist denn nun schon wieder los?« Nigel kam die Treppe herauf und sah uns an, als seien wir geradewegs einem Zoo entsprungen. Fagenbushs Blick glitt zu Nigel und dann wieder zu mir. »Theodosia und ich haben gerade über ein paar der neuesten Funde diskutiert, das ist alles.« »Wirklich? Und warum seht ihr dann aus, als ob ihr aufeinander losgehen wolltet?«, fragte Nigel. Fagenbush blinzelte und begann zu stottern. Also wirklich. Er würde uns beiden Ärger einhandeln. »Wir waren uns über die Herkunft nicht einig«, erklärte ich. Fagenbushs Kopf fuhr zu mir herum. »Ihr streitet euch darüber, wo die Artefakte herkommen?«, fragte Nigel ungläubig. Er sah Fagenbush von oben herab an. »Ich glaube nicht, dass das Museum Sie dafür bezahlt, sich Wortgefechte mit kleinen Mädchen zu liefern, Clive. Jetzt gehen Sie!« Fagenbush murmelte irgendetwas, bevor er sich schnell zurückzog. Von jetzt an musste ich auf der Hut sein. Jetzt, da ich den Verräter kannte, konnte ich es nicht zulassen, dass er noch mehr Unheil anrichtete. Kaum war Nigel wieder hinuntergegangen (nicht ohne mich vorher noch mit hochgezogener Augenbraue anzusehen), als Henry auf der Bildfläche erschien. »Hast du es ihnen gegeben?«, fragte er. »Was haben sie gesagt?« Ich nahm ihn am Arm und zog ihn in eine dunkle Ecke des Foyers. »Au!«, rief er. »Das tut weh!« »Tut mir leid, aber du redest zu laut. Du wirst uns beide in Schwierigkeiten bringen.« Ich zögerte. Was sollte ich 212
ihm sagen? Dass Wigmere mir aufgetragen hatte, das Herz Ägyptens zurückzubringen? Aber dann würde Henry einen Aufstand machen und jammern und heulen, um mit uns nach Kairo zu kommen und damit wahrscheinlich alle Chancen zunichtemachen. »Ja, ich habe es ihm gegeben«, sagte ich schließlich, was ja genau genommen auch gar keine Lüge war. Henrys Gesicht hellte sich auf. »War er beeindruckt? Hat er uns gratuliert? Hast du ihm erzählt, welche Rolle ich dabei gespielt habe?« Er sah so erwartungsvoll drein, dass es mir das Herz brach, dass Wigmere so gar nichts Nettes gesagt hatte. »Ja! Sehr beeindruckt. Ich habe ihm gesagt, was ihr beide getan habt, und er sagte, deine Ablenkung sei einfach genial gewesen.« Henry kreuzte die Arme vor der Brust und wippte auf den Fersen. »Das meine ich allerdings auch.« Da ich nun Henry beruhigt hatte, machte ich mich auf den Weg in meine Kammer, um mir einen Plan auszudenken, Mutter dazu zu bringen, schnell wieder nach Ägypten zu reisen. Das würde nicht leicht werden. Und sollte Henry je herausfinden, dass ich ihn angeschwindelt hatte, würde er mir nie wieder vertrauen. Ich hob das Kinn. Das war schon in Ordnung. Er hatte ja gerade erst damit angefangen, mir zu vertrauen. Es hieß also nur, dass wieder alles beim Alten war. Wenn ich mich doch nur nicht so schlecht dabei gefühlt hätte …
Beim Abendessen musste ich Mum die ganze Zeit ansehen und versuchte herauszufinden, ob ich irgendeine 213
Spur von Ansteckung an ihr entdecken konnte. Das Dumme war nur, dass sie so lange fort gewesen war und sich natürlich verändert hatte, aber ich wusste nicht, ob das irgendetwas damit zu tun hatte, dass sie eine Verräterin geworden war oder nicht. »Theodosia! Warum starrst du deine Mutter so an?«, schalt Dad. Erschrocken ließ ich meine Gabel auf den Teller fallen, sodass sich eine kleine Ladung Erbsen auf das weiße Tischtuch entlud. Seit wir das Herz Ägyptens verloren hatten, war Vater übelster Laune gewesen. Das machte die ganzen Geheimnisse nur noch schmerzlicher. Aber die Wahrheit würde ihn auch nicht glücklicher machen. Vater ging so heftig auf sein Essen los, dass er fast den Teller zerbrochen hätte. »Ist alles in Ordnung, Theodosia, Liebes? Du siehst ein wenig blass aus«, meinte Mutter. Wenn sie die gleiche Last tragen müsste wie ich, dann würde sie auch blass aussehen! Blass! Das war es! Sie hatte mir gerade mein erstes Stichwort gegeben! »Ja, ich fühle mich wirklich auch etwas blass«, sagte ich. »Ich glaube, ich sollte mich mal an einem warmen, trockenen Ort ausruhen.« So. Ich hatte meine erste Andeutung fallen gelassen. »Ich werde dir einen Kamillentee machen, bevor du ins Bett gehst«, bot mir Mutter an. »Das lässt dich ruhig schlafen.« Ich hasse Kamillentee. Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder dem Hammelbraten zu, den ich in kleine Stücke schnitt, in der Hoffnung, dass Mutter dann glaubte, ich hätte etwas davon gegessen. Meine Sorgen verdarben mir den ganzen Appetit. Obwohl ich herausgefunden hatte, dass Clive 214
Fagenbush der Maulwurf war, musste ich mich ständig fragen, wie ich Wigmere von Mutters Unschuld überzeugen konnte. Was für Beweise brauchte er? Und wenn ich es nicht konnte? Würde Mum ins Gefängnis müssen? Würde man sie des Hochverrats für schuldig befinden? Würde es irgendjemanden interessieren, dass sie es nicht war, sondern die ansteckende Macht der schwarzen Magie, mit der sie jeden Tag in Berührung kam? Allerdings, sagte ich mir, war sie es nicht. Wigmere hatte sich geirrt. Nach einer Ewigkeit erst schob Vater schließlich seinen Teller von sich und seufzte zufrieden auf. Jetzt war es Zeit, den nächsten Vorstoß zu wagen. »Mum, wann fährst du wieder nach Ägypten?« »Um Himmels willen, Theodosia!«, rief Vater. »Sie ist doch gerade erst zurückgekommen!« Ich zuckte mit den Schultern. »Ich bin ja nur neugierig. Ich versuche, das Jahr zu planen, und so.« »Das Jahr zu planen? Gute Güte!« Vater schien nicht der Ansicht zu sein, dass ich einen Jahresplan brauchte. Henry sah mich nur verwundert an. »In nächster Zeit sicher nicht«, sagte Mutter beruhigend. »Aber willst du denn nicht gerne zurück? Um zu sehen, was sonst noch in Amenemhabs Grab ist? Ich meine, wer weiß, was für tolle Funde da sonst noch verborgen sind? Geht dir das nicht unter die Haut? Juckt es dich nicht, dorthin zurückzugehen?« Vater starrte mich mit offenem Mund an und Mutter runzelte leicht die Stirn. »Ich bin mir nicht sicher, wie du das meinst, Theodosia. Natürlich ist jede wissenschaftliche Entdeckung aufregend, aber bei dir klingt es ja fast wie eine … Besessenheit oder so etwas.« Vielleicht hatte ich etwas dick aufgetragen, aber ich 215
versuchte herauszubekommen, ob sich irgendeine Spur des verräterischen Benehmens bei ihr zeigte, von dem Wigmere geredet hatte. »Aber sind die Wintermonate nicht die beste Zeit, nach Ägypten zu reisen? Ist das Wetter dann nicht milder?«, fragte ich. Meine Eltern sahen sich an. »Ja«, antwortete Mum. »Jetzt ist wahrscheinlich die beste Zeit, dorthin zu gehen. Aber es ist auch die Zeit, in der Henry schulfrei hat und der Museumsrat sein jährliches Treffen abhält. Wir haben zurzeit in London sehr viele Verpflichtungen.« Sie zu überzeugen, würde schwerer werden, als ich gedacht hatte.
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Uschebti auf dem Vormarsch
Ich fühlte mich schrecklich, als ich am nächsten Morgen aufwachte. Nicht genug, dass ich meine Eltern dazu überredete, nach Ägypten zurückzukehren, ich hatte auch wieder von diesen ekelhaften kleinen Uschebti geträumt. Nur dass dieses Mal einer von ihnen an meinem Knöchel genagt hatte. Und zu meinem Entsetzen hörte das Gefühl nicht auf, als ich die Augen öffnete. Waren die Uschebti zum Leben erwacht? Kerzengerade setzte ich mich auf, nur um festzustellen, dass es Isis war. Und sie knabberte auch nicht an mir, sondern lag zusammengerollt zu meinen Füßen und bearbeitete den Knöchel mit den Pfoten. Und zwar sanft. Was bedeutete … der Dämon von Isis war verschwunden! Ich beugte mich zu ihr, um sie am Bauch zu streicheln, und kraulte sie zwischen den Ohren. Dann hörte ich das schönste Geräusch der Welt. Isis schnurrte. Und schnurrte und schnurrte. Wie ein Motor, den man nicht abstellen konnte. Das Schlammbad hatte gewirkt! Am liebsten wäre ich den ganzen Tag lang hiergeblieben und hätte mit meiner Katze gekuschelt, aber ich hatte viel zu viel zu tun. Angefangen mit den dreckigen Uschebti! Ich strich Isis ein letztes Mal über das Bäuchlein, während sie mir noch einen liebevollen Tatzenhieb versetzte. 217
Bevor ich mich um die Uschebti kümmerte, musste ich für den geeigneten Schutz sorgen. Als Erstes stand die Herstellung neuer Amulette auf meiner Liste. Eines hatte ich Stokes gegeben und eines Danver. Es wurde langsam knapp. Ich hatte natürlich nicht damit gerechnet, dass die beiden ihre eigenen angewachsenen Schutzmechanismen hatten. Wenn man es allerdings recht bedachte, hatte es Stokes nicht gerade viel genutzt. Und Danver auch nicht. Eine Tätowierung kann man nicht als Verband benutzen. In meinem Arbeitszimmer holte ich die alte Tasche aus dem Schrank, zog Eggbert Archimedes’ Buch Die Macht der Amulette: Eine vergessene Kunst aus dem Regal und machte mich an die Arbeit. Das Schwierige bei der Herstellung von Amuletten ist, herauszufinden, welche Zutaten für den Schutz gegen einen Fluch benötigt werden. Vorausgesetzt, man weiß, um was für einen Fluch es sich handelt. Wenn man das nicht weiß, muss man einen allgemeinen Schutzzauber wählen, der jedoch nicht ganz so mächtig ist. Sieben Amulette zu tragen scheint vielleicht übertrieben zu sein, ist es aber nicht. Man muss sich nur an Danver und seine unangenehme Erfahrung erinnern, um das zu verstehen. Ich entschloss mich, das Herzamulett zu erneuern, das ich bei Stokes benutzt hatte. Es wirkte sehr gut bei Verletzungen, und so, wie die Dinge liefen, hatte ich das ungute Gefühl, dass es davon noch mehr geben könnte. Sorgfältig kratzte ich alle alten Wachs- und Leinenreste von dem herzförmigen Kiesel und spülte ihn dann unter klarem Wasser ab. Dann schnitt ich mir ein neues Stück Leinen zurecht und malte mit einer Spezialtinte, die ich aus Myrrhe hergestellt hatte, ein Horusauge, umgeben von einer Schlange, in die Mitte. Die Bösartigkeit der Schlange 218
sollte Gefahr abwenden, während das Horusauge Wohlbefinden und Gesundheit heraufbeschwor. Ich durchsuchte meine Ausrüstung, bis ich einen kleinen Splitter Malachit fand, einen grünen Halbedelstein, mit dem die alten Ägypter Regenerierung und Gesundheit beschworen. (Es ist überraschend, wie viele Kunstwerke trotz all unserer Bemühungen unter unseren Händen zerbrechen und zerbröseln. Wenn das passiert, dann sammle ich die kleinen Teilchen und Splitter, die sonst niemand haben will. Bei solchen Gelegenheiten sind sie dann sehr nützlich.) Ich legte den Malachitsplitter in die Mitte des Horusauges und faltete das Leinen sorgfältig darüber zusammen, bis es nur noch ein kleiner Klumpen war. Dann zündete ich eine Kerze an und ließ das Wachs auf das Leinen tropfen, um es zu versiegeln. Solange es noch warm war, presste ich es auf den Kiesel. Während das Amulett abkühlte, nahm ich aus der Tasche ein Stück goldfarbenen Draht – um die Kräfte des Sonnengottes anzurufen – und drehte es zu einem AnkhZeichen zusammen. Ankhs sind die ägyptischen Symbole für das Leben, und es gilt als lebensverlängernd, eines um den Hals zu tragen. Ich zog eine dünne Kordel durch die obere Schlaufe und hängte es mir um. Als letzte Schutzmaßnahme nahm ich noch vier weiße Fäden (für Reinheit), vier grüne (für Leben und Erneuerung), vier gelbe (für die ewige und unvergängliche Sonne) und vier rote (für die feurige Macht des Auges von Ra) und flocht sie zusammen. Am Ende machte ich erst einen Knoten und dann noch sechs weitere (als Barriere, die feindliche Kräfte nicht überwinden können). Es war ein hübsches Armband. Vielleicht konnte ich sogar Mutter dazu überreden, es zu tragen. 219
So geschützt räumte ich meine Vorräte weg und eilte durch das Übergangslager zum Lieferbereich. Schon als ich eintrat, hatte ich das Gefühl, dass etwas anders war. Es lag in der Luft, als hätte etwas die Elementarteilchen gestört. Es fühlte sich an, als ob die unsichtbaren Fäden, die sich durch die Atmosphäre ziehen, durcheinandergeraten wären. Irgendetwas hatte all diese Fäden zu einem wirren Knäuel verknotet. Den gewohnten Übelkeitsanfall ignorierend, ging ich zur nächsten Uschebti-Kiste. Sie hatten sich weiter verändert. Es waren jetzt sehr detailliert bearbeitete kleine Statuen, die völlig durcheinander in ihren Kisten lagen, nicht so ordentlich, wie wir sie hineingelegt hatten. Mistkram. Waren die Uschebti von allein aufgestanden und herumgelaufen? Wie in meinem Traum? Bei dem Gedanken schlug mein Magen einen Salto. Es wäre durchaus denkbar, dass Amenemhab die kleinen Tonfiguren in seinen Fluch mit eingeschlossen hatte. Er hatte ja auch so ziemlich alles andere mit eingeschlossen, warum also nicht auch sie? Vielleicht sollten sie sich erheben und den Untergang der Feinde von Thutmosis und Amenemhab von innen heraus bewirken. So eine Art Trojanisches Pferd auf Ägyptisch. Auf schwarzmagische, rachsüchtige Art und Weise schien es logisch. Ich ging weiter zur nächsten Kiste, um die ein Dutzend Uschebti auf dem Boden verteilt lagen. War das die Kiste, mit der Henry gespielt hatte? Hatte er sie achtlos draußen liegen lassen? Nein, einer der Kuratoren hätte sie sicher aufgeräumt. Wahrscheinlich war Fagenbush hier gewesen, um herumzuschnüffeln. 220
Allerdings behandelte selbst Fagenbush die Objekte mit äußerster Sorgfalt. Das nervöse Kribbeln in meinem Magen verstärkte sich. Auf der Suche nach Antworten trat ich zum Arbeitstisch, auf dem der größte Teil der Stelen ausgelegt war. Eine Weile betrachtete ich die schaurigen Bilder. Die Armee des Pharaos stand mit grimmigen Gesichtern in langen Reihen aufgereiht, bewaffnet mit Speeren, Schwertern und Dolchen. Geköpfte Feinde lagen zu Füßen des Pharaos, sicher das Werk der Soldaten. War das Teil des Plans? Sollten sich diese Uschebti erheben, nicht im Jenseits wie die meisten Uschebti, sondern wenn jemand das Grab zu stören wagte? Worte aus Amenemhabs Kriegskunst kamen mir in den Sinn. Doch bedenket, ihn zu fürchten, auch nach seinem Tod. Bedenket, wie er seine Feinde zerschlug, ihre Schädel spaltete, als sie euer Land zu besetzen suchten. Bedenket, dass seine Rache schnell und schrecklich war, wie sie es in alle Ewigkeit sein wird. Etwas berührte meine Schulter. Ich erschrak so, dass ich die Stele beinahe fallen gelassen hätte. »Theo?«, übertönte Mutters Stimme mein laut pochendes Herz. »Was ist denn los? Du siehst ja aus, als hättest du einen Geist gesehen.« »Nichts, Mutter«, antwortete ich und griff mir ans Herz, um zu spüren, ob es noch da war. »Ich habe dich nur nicht hereinkommen gehört.« Zweifelnd sah sie mich an. Darauf bedacht, ihre Aufmerksamkeit von mir abzulenken, wies ich auf die Stele, die ich betrachtet hatte. »Sieh dir das mal an, Mum. Du hast fast alles mitgebracht, was auf der Stele dargestellt ist.« 221
»Hm. Ja, tatsächlich, das habe ich, nicht wahr? Wie klug von dir, das herauszufinden.« »Aber das hier fehlt noch«, meinte ich und wies auf das Szepter, das der Pharao in der Hand hielt. »Das WasSzepter, wie in dem Abrieb steht, den du mir geschenkt hast. Amenemhab sagt eine ganze Menge darüber.« Er hatte gesagt, dass, wer das Was-Szepter besaß, Reichtum und Wohlstand über sein Land brächte. Ich dachte mir, dass das arme Großbritannien im Moment gut etwas davon brauchen konnte. Außerdem, wenn ich es reizvoll genug klingen ließ, fand Mutter vielleicht, dass es sich lohnte, so bald wie möglich nach Ägypten zurückzukehren. »Wirklich? Ich habe so etwas bei unseren Ausgrabungen nicht gesehen, sonst hätte ich es sicher mitgebracht. Ich werde das nächste Mal danach suchen, ja?« »Wann wird das denn sein?« »Liebling, das hatten wir doch erst gestern Abend. So bald noch nicht.« Fast hätte ich vor Verzweiflung aufgeschrien. Wigmere hatte keine Ahnung, was er von mir verlangte. Kurz dachte ich daran, ihr zu sagen, dass das Wohlergehen von ganz Großbritannien von ihrer Entscheidung abhinge. Dass ihre Taten eine Reihe von Ereignissen ausgelöst hätten, die das Königreich zu Fall bringen konnten. Ich überlegte, ihr von dem Fluch und seinen Auswirkungen zu erzählen. Aber schließlich stolperte ich über die einzige Sache, die sie zum Handeln zwingen würde. »Als Henry und ich letztens im British Museum waren«, sagte ich und sah sie aus den Augenwinkeln an, um zu sehen, ob sie mir auch zuhörte, »da haben wir Snowthorpe mit einem seiner Lakaien reden hören. Er versucht, eine Expedition aufzustellen, um genau dieses 222
Was-Szepter zu finden. Er schien zu glauben, dass es fast genauso wertvoll ist wie das Herz Ägyptens.« Mutter richtete sich entrüstet auf. »Aber das ist unsere Ausgrabung! Sie können da nicht einfach eindringen, weil sie etwas haben wollen!« Ich spielte meine Trumpfkarte aus. »Hat sie das früher denn jemals davon abgehalten?« Als sie mich anstarrte, konnte ich geradezu sehen, wie die Rädchen in ihrem Kopf zu arbeiten begannen. Sie sah zur Treppe. »Nun, ich bin nur heruntergekommen, um zu sehen, wie es dir geht, Liebes«, meinte sie fröhlich. »Jetzt muss ich aber wirklich wieder hinauf.« In Vaters Arbeitszimmer, hoffte ich. Wo sie ihn mit etwas Glück bald dazu überreden würde, kurz nach Kairo zu fahren.
Den restlichen Nachmittag verbrachte ich damit, die Stelen auf dem Tisch zu untersuchen. Sie erzählten genau die gleiche Geschichte wie die Kriegskunst, nur in Bildern. In drastischen Einzelheiten. Wir beschwören Euch, oh Götter, dass, wer auch immer unserem Land dieses Herz wegnimmt, den Schmerz von tausend Toden über sich bringt. Mögen ihre Taten Pest über ihr Land bringen und ihren Reichtum vertilgen, wie ihre Taten den Ruhm unseres Landes getilgt haben. Möge der Hunger sie in die Knie zwingen, ihre Bäuche aushöhlen und ihre Körper schwächen. Möge die Macht des Nils vom Himmel fallen und ihr Land überfluten, bis alles im Meer der Vernichtung und des Todes versinkt. 223
Die Stelen zeigten Bilder von ausgemergelten Menschen, die mich eigentümlich an die ausgezehrten Gesichter erinnerten, die ich in Seven Dials gesehen hatte. Auf einer Stele wanden sich Menschen mit schrecklichen Geschwüren im Gesicht auf dem Boden. Dann, Ihr Götter, mögen Seuchen die Menschen dahinraffen, mögen Blasen und Geschwüre an ihren Körpern auftreten und sie so für alle als die Vernichter von Ägypten kenntlich machen. Möge Eure Rache an den Feinden von Thutmosis schnell und schrecklich sein, möge Sachmet ihre Herzen verschlingen und Ammit sich an ihren Köpfen laben. Möge sich ihr Land rot färben mit ihrem Blut, bis sie das Herz Ägyptens an seinen rechtmäßigen Platz zurückbringen und es dir wieder zu Füßen legen, damit der Ruhm von Thutmosis erneut erstrahlt. Ich war so in die Aufgabe versunken, so viel wie möglich von diesen Stelen zu erfahren, dass ich gar nicht bemerkte, wie spät es geworden war. Es dämmerte bereits und im Raum wurde es dunkel. Gerade als ich mich entschloss, die Gaslampe anzuzünden, hörte ich ein Knarren auf der Treppe. Ich erstarrte. Es war so ein leises, langsames Knarren, bei dem man weiß, dass die Person draußen nicht gehört werden will. Panisch sah ich mich nach einer Art Waffe um. Mein Blick fiel auf den Zeremonialdolch, den Mum mitgebracht hatte. Ich hob ihn auf und schlich auf Zehenspitzen zur Wand neben der Treppe. Während ich wartete, versuchte ich flach zu atmen, damit man mich nicht hören konnte. Ich richtete meinen Blick auf die unteren Treppenstufen, wo der Eindringling auftauchen würde. An der Wand der Treppe stieg groß 224
und schwarz ein bedrohlicher Schatten auf. Mein Herz schlug im Galopp. Ich hob den Dolch. Der Schatten trat von der Treppe in den Raum. »Was machen Sie denn hier?«, fragte ich und versteckte den Dolch hinter meinem Rücken. Lord Wigmere sah erst ein wenig überrascht aus, dann verlegen. »Ich suche natürlich dich.« »Und warum haben Sie sich angeschlichen?« Jetzt wirkte er beleidigt. »Ich habe mich nicht angeschlichen. Ich bin nur leise gegangen.« Ich rümpfte die Nase, wandte mich dann wieder zu den Stelen um und legte den Dolch auf den Arbeitstisch. Ich tappte mit dem Fuß auf den Boden und wartete darauf, dass Wigmere verschwand. Ich hatte ihm seinen Verdacht gegen Mutter noch nicht verziehen. Wigmere humpelte weiter in den Raum. »Du bist mir immer noch böse, stimmt’s?« »Ich fürchte, ich habe Ihnen nichts zu sagen«, sagte ich und ging dann zu den Uschebti-Kisten. »Theodosia, versuch es doch mal so zu sehen: Ich überwache Hunderte von Museen in Großbritannien, Dutzende allein in London. Ich kann es mir nicht leisten, jemanden zu bevorzugen und mir einzureden, dass Mr oder Mrs Soundso sicher zu nett ist, irgendetwas Schlechtes zu tun – das hieße, meine Pflicht zu vernachlässigen. Es wäre so, als ob du dich weigertest zu glauben, dass ein Kunstwerk mit einem Fluch behaftet ist, nur weil es so hübsch ist.« Nun, diese kleine Bastet-Statue war tatsächlich sehr hübsch gewesen. »Ja, aber Sie können von mir nicht erwarten, dass ich so etwas von meiner Mutter denke.« Wigmere sah mich einen Augenblick an und zwirbelte seinen Schnurrbart. »Na gut. Frieden. Ich bestehe nicht 225
darauf, dass du deine Mutter in diesem Licht siehst, wenn du mir zugestehst, dass ich eine moralische Verpflichtung habe, es zu tun. Ganz egal, wie außerordentlich sie oder ihre Tochter auch sein mögen.« Er hielt mir die Hand hin. Einen Augenblick lang sah ich sie nur an. Schließlich hatte er mir ein Friedensangebot gemacht. Und ich schätze, er tat nur seinen Job. Und da ich die Absicht hatte, ihm zu beweisen, dass er unrecht hatte, konnte ich es mir leisten, großzügig zu sein. Obwohl ich mich frage, wie diese Großzügigkeit Spaß machen sollte, denn wenn man mich fragt, ist es ziemlich langweilig. »Na gut«, sagte ich und nahm seine Hand. Er hatte mich immerhin als außerordentlich bezeichnet. Auf seinem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. »Übrigens«, fuhr ich fort, »ich muss Ihnen etwas erzählen. Der Maulwurf ist …« »Dein Vater?«, fragte Wigmere. »Nein!« Noch bevor ich mich aufregen konnte, sah ich, wie sein Schnurrbart zuckte. »Ha, ha! Sehr witzig!« Ich warf meine Haare über die Schulter zurück. Wigmere runzelte die Stirn. »Hattest du Glück bei deinen Eltern?« »Nein, aber das schaffe ich schon. Ich habe gerade erst angefangen. Sie werden innerhalb weniger Wochen nach Kairo aufbrechen. Warten Sie nur ab«, sagte ich in der Hoffnung, dass es wahr war. Er fingerte in seiner Tasche herum und zog dann einen kleinen Samtbeutel hervor, den er mir gab. »Für mich?« Er nickte. Ich öffnete ihn und zog ein winziges Horusauge an einer dünnen Goldkette hervor. »Oh mein Gott«, stieß ich hervor und starrte das Gold an, das sich in meiner Hand drehte. Es war schwer mit 226
guter Magie und Schutzzaubern beladen. Ich hatte noch nie ein Amulett gesehen, das so viel beschützende Kraft ausstrahlte wie dieses. »Trage es, Theodosia. Immer. Verstecke es unter deinem Kleid, wenn es sein muss, aber nimm es nicht ab. Nie. Es ist alt, sehr alt. Man sagt, dass der Gott Horus es selbst gemacht hat und dem allerersten ägyptischen König als Zeichen seiner Gnade geschenkt hat.« Ich blickte von dem Schmuckstück zu Wigmere. »Aber die Götter sind doch nur Mythen, oder nicht?« Wigmere schob die Hände in die Hosentaschen und wandte sich um, um aus dem Fenster zu sehen. »Das sagt zumindest die konventionelle Archäologie. Und die Bruderschaft dachte das früher auch. Aber heute, nach mehreren Jahrzehnten der Forschung und der Entdeckung der Magie und der Macht, die in manche der Kunstwerke eingewirkt sind, sind wir uns nicht mehr so sicher.« »Nein«, erwiderte ich kopfschüttelnd. »Nein, das kann nicht sein. Das geht einfach nicht.« Wigmere wandte sich vom Fenster ab und sah mich an. Er schien zu merken, was für eine Wirkung seine Worte hatten, denn er zuckte mit den Schultern. »Wie ich sage, man weiß es nicht genau. Das ist im Laufe der Zeit verlorengegangen.« Wieder sah er aus dem Fenster. »Dabei fällt mir ein: Ich hoffe, es freut dich, dass wir diesen langfingrigen kleinen Freund von dir gefunden haben. Ich habe mich entschlossen, ihn als Laufburschen für die Gesellschaft zu beschäftigen.« »Sie meinen Will?« »Ja. Da bekommt er keinen Ärger, und man weiß nie, wann wir nicht einmal wieder seine, äm, besonderen Talente benötigen.« 227
Was für ein ausgezeichneter Ort für ihn! »Ich werde mich viel wohler fühlen, wenn ich weiß, dass er für Sie arbeitet.« »Nun meine Liebe«, meinte Wigmere, seinen Stock schwenkend, »ich muss gehen. Pass auf dich auf. Ich bin sehr zuversichtlich, dass du es schaffen wirst.« Er hielt mir die Hand hin, aber zu unser beider Überraschung breitete ich die Arme aus und umarmte ihn kräftig. Überrascht stand er einen Moment lang unbeholfen da, dann tätschelte er mir den Kopf. »Schon gut, mein liebes Kind. Alles wird gut, du wirst schon sehen.« Ich trat zurück. »Vielen Dank, dass Sie gekommen sind. Und vielen Dank hierfür«, sagte ich und hielt das Horusauge hoch. »Ich bin sicher, ich werde es gut brauchen können.« »Das bezweifle ich keine Sekunde«, murmelte er leise.
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Sieg! Endlich!
HURRA! SIEG! Heute Morgen beim Frühstück haben Vater und Mutter verkündet, dass sie am übernächsten Tag an Bord der Rosetta Maru nach Kairo abreisen würden – alle beide! Vater ist wütend, dass das British Museum auch nur daran denkt, ihm wieder einen Fund vor der Nase wegzuschnappen. Er betrachtet das als persönlichen Angriff und gedenkt, sich dagegen zu wehren. Er hat den Stiftungsrat des Museums für Legenden und Antiquitäten um eine Sondergenehmigung gebeten, Mutter nach Kairo begleiten zu dürfen. Und sie haben sie ihm gewährt! Offensichtlich sind sie auch nicht allzu scharf darauf, dass das British Museum ihnen eins auswischt. Doch trotz meiner Bemühungen, sie davon zu überzeugen, mich mitzunehmen, haben meine Eltern die Stirn zu sagen, ich könne nicht mit. Ich sei zu jung. Archäologische Ausgrabungen in Ägypten seien kein Platz für elfjährige Mädchen. Blödsinn! Aber ein riesiges altes Museum ist es? Des Weiteren hatten sie den Nerv zu behaupten, ich müsse für sie hier auf das Museum aufpassen. Aber das sagten sie in so einem Tonfall, der einem bedeutet, dass sie einem nur das Gefühl geben wollen, man sei nützlich. 229
Und dann kam der Coup de Grâce (das ist französisch und heißt so viel wie »Todesstoß«). Sie verkündeten, dass ich bei Großmutter Throckmorton bleiben solle, solange sie fort waren. Nicht wenn ich es verhindern kann! Außerdem möchte ich gerne wissen, wie ich auf das Museum aufpassen soll, wenn ich bei Großmutter Throckmorton festhänge. Nun, jetzt bleibt mir keine andere Wahl. Ich muss als blinder Passagier nach Kairo. Ich brauche nur einen Plan. Natürlich wird es die Dinge sehr komplizieren, wenn Vater mit dabei ist, aber das bekomme ich schon hin. Und ist Rosetta Maru nicht ein wunderschöner Name? Hört sich das nicht an, als ob auf einem Schiff mit diesem Namen alle möglichen Abenteuer und mysteriösen Begebenheiten stattfinden könnten? Ein köstlicher Schauer der Vorfreude lief mir den Rücken hinunter, wenn ich daran dachte, dass ich mittendrin sein würde. (Vielleicht war es aber auch Angst. Es war schwer zu sagen, da ich in letzter Zeit ständig zwischen beidem schwankte.)
Ich kann euch gar nicht sagen, wie schwer es ist, für eine Reise zu packen, die man eigentlich gar nicht antreten soll. Mutter durchsuchte meinen Kleiderschrank und warf alle meine Winterkleider und Mäntel in einen Koffer, der zu Großmutters Haus geschafft werden sollte. Ich schlich mich auf den Dachboden und suchte eine Reisetasche, die ich nach Kairo mitnehmen konnte. Ich kann euch sagen, ich musste ganz andere Dinge mitnehmen 230
als das, was Mutter einpackte. Ganz zu schweigen davon, dass ich in Ägypten nicht an die Dinge herankommen konnte, die ich wirklich brauchte: leichte Kleider, einen Sonnenschirm, Baumwoll- anstelle von Wollstrümpfen. Wieder suchte ich den Dachboden auf und grub einige alte Sachen von Mutter aus, einschließlich ihres alten Tropenhelms. Begeistert probierte ich ihn vor einem der zersprungenen Spiegel auf. Ich muss schon sagen, ich sah sehr elegant und abenteuerlustig aus. Außerdem klaute ich mir ein paar alte Wollsocken mit Mottenlöchern. Schließlich musste ich einen Weg finden, um aus Großmutter Throckmortons Haus zu flüchten. Dabei könnten sie mir behilflich sein. Ein paar alte Winterkleider und einen Lieblingsmantel ließ ich auf dem Bett liegen, falls Mum oder Henry hereinkamen, während ich packte. Dann müsste ich sie nur oben auf mein Bündel werfen und niemand würde etwas merken. Henry war besonders betrübt, denn er wurde in die Schule zurückgeschickt. Er hat sich schließlich doch noch dazu durchgerungen, das Museum zu mögen, obwohl ich ihm hundert Mal versichert habe, dass solche Abenteuer, wie wir sie erlebt haben, sonst nie passieren. Doch das Wissen, dass ich zu Großmutter Throckmorton verfrachtet wurde, schien ihn einigermaßen zu besänftigen. Wenn ich nicht wüsste, dass ich in Wahrheit mit meinen Eltern nach Kairo reise, dann würde ich vor Verzweiflung umkommen.
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Großmutter Throckmorton
AM BAHNHOF CHARING CROSS verabschiedeten wir uns von Henry und warteten am Bahnsteig, bis sein Zug abfuhr. Ich stellte fest, dass ich das kleine Monster vermissen würde. Entweder war es das oder mir war ein bisschen Kohlenstaub ins Auge geflogen. Dann klatschte Vater in die Hände und sagte: »Nun, Theodosia. Lass uns deiner Großmutter einen Besuch abstatten.« Er versucht, es immer wie ein freudiges Ereignis klingen zu lassen, obwohl wir beide wissen, dass es schrecklich wird. Großmutter lebt in einem sehr vornehmen Haus am St. James’ Park. Es ist so ein Haus, in dem alle Stühle und Sofas Rüschendecken haben, und sie hat Hunderte von blumigen, zerbrechlichen Dingen auf jeder nur vorstellbaren Fläche. Das ganze Haus ist grauenhaft ungemütlich und man darf nichts anfassen. Als wir vor dem Haus vorfuhren, kam ein Diener an die Kutsche, um mein Gepäck zu tragen. Er nahm die Koffer und führte uns die Stufen zur Vordertür hinauf, wo Großmutters Butler, Beadles, auf uns wartete. Beadles wirkte immer, als hätte er gerade einen grässlich stinkenden Fisch gerochen und versuche, seine Nase so weit wie möglich davon fernzuhalten. Was ziemlich schrecklich war, denn wenn man zufällig aufsah, blickte man 232
geradewegs in seine Nasenlöcher und konnte praktisch die Haare darin zählen. Hatte er denn keine Angst zu schielen, wenn er so an seiner Nase vorbei sah? Bei mir passierte das immer, wenn ich es versuchte. »Master Throckmorton, Mrs Throckmorton, ich werde Madam sagen, dass Sie hier sind.« Mich ignorierte er völlig, aber das macht er immer so. Er ging und ließ uns im Flur warten, als wäre das ein geschäftlicher Besuch. Warum lässt sich Vater das gefallen, und wieso glaubt er, dass ich mir das gefallen lasse? Erst erklang das Rascheln von steifer Seide über vielen noch steiferen Unterröcken, dann war Großmutter Throckmorton bei uns. »Hallo, Alistair.« Sie begrüßte ihn zuerst und hielt ihm ihre alte, runzlige Wange zum Kuss hin. »Hallo, Mutter. Wie geht es dir?«, fragte Vater, nachdem er ihr einen kleinen Kuss gegeben hatte. Sie rümpfte die Nase. »So gut man es erwarten kann.« Diese Frau ist ziemlich schlau. Sie sagte es so, als sei das irgendwie Vaters Schuld. Ich weiß nicht, wie sie das macht, aber es wäre eine Fähigkeit, die sich zu lernen lohnte. »Henrietta.« Sie nickte Mutter zu, bot ihr aber keinen Kuss an. Glück gehabt, Mum, dachte ich. Dann wandte sie ihren stählernen Blick und den verkniffenen Mund mir zu. »Und wen haben wir da? Ah, ja, Theodosia. Meine Enkeltochter.« Wieder rümpfte sie die Nase. »Bekommst du eine Erkältung, Großmutter?«, erkundigte ich mich. Sie fuhr zurück, als hätte ich gefragt, welche Farbe ihre Strumpfbänder haben, dann hob sie ihr Monokel an der Kette um ihren Hals und sah mich von oben herab an. 233
Zweifellos versuchte sie herauszufinden, ob ich unverschämt war, aber ich habe viele Stunden damit verbracht, meinen Unschuldsblick zu trainieren. »Hm«, meinte sie. »Es ist wohl ganz gut und schön, dass ich dich in den nächsten Wochen ein wenig formen kann.« Ihr strenger Blick sagte mir, dass mir nichts Gutes bevorstand. Nur dass das nicht stimmte! Dieses aufmunternde Geheimnis lag in meinem Herzen wie das schönste aller Geschenke. Doch ich tat so, als ob sie gewonnen hätte, und blickte verschämt zu Boden. »Nun«, meinte Vater und scharrte wie ein Schuljunge mit den Füßen, »wir müssen wirklich weiter. Wir müssen noch so viel packen und vorbereiten.« Der Feigling! Mutter und Vater küssten mich flüchtig und flohen aus der Vordertür. Großmutter Throckmorton und ich blieben im Flur und sahen uns an. Ich konnte Vater pfeifen hören – pfeifen, sage ich euch –, als er die Treppe hinunterging.
Erst lange nach der Teezeit konnte ich Großmutter Throckmorton entfliehen. Sie ging sofort auf mich los, sobald Vater und Mutter gegangen waren. Sie zwang mich, mich ans Klavier zu setzen, um zu hören, wie sich meine Tonleitern anhörten. Nicht gut, fand sie schnell heraus. Nachdem sie während meines Vortrags die ganze Zeit schmerzlich das Gesicht verzogen hatte, entschied sie, dass ich, solange meine Eltern fort waren, jeden Tag Musikunterricht brauchte. Kurz darauf erschien eine Näherin und vermaß mich komplett, während Großmutter Throckmorton mehrere 234
neue spitzen- und rüschenbesetzte Kleider auswählte, die sie für mich machen lassen wollte. Weiß sie denn nicht, wie sehr Spitze juckt? Sie ließ sich über Tanzstunden und Haltung aus (ich weiß schon, wie ich mich halten sollte, vielen Dank auch!) und – grauenvolle Vorstellung! – die viele Mühe, die es machen würde, eine neue breigesichtige Gouvernante für mich zu finden. Dann mussten wir in ihrem muffigen alten Salon Tee trinken, den ich ihr einschenken musste. Natürlich goss ich nicht nur ein, ich goss auch daneben. Wie könnte es anders sein, wenn sie danebensaß, mich anstarrte und nur darauf wartete, dass ich etwas verschüttete? Es war nicht meine Schuld. Es waren diese hocheleganten Stühle, die so steif und glitschig sind. Meine Füße reichen nicht bis auf den Boden. Das ist, als ob man Tee einschenken wollte, wenn man auf einer Rutsche sitzt. Auf jeden Fall fand Großmutter, dass ich wegen meiner schlechten Vorstellung beim Tee mein Essen in meinem Zimmer einnehmen sollte, bis ich in der Lage wäre, zu ihrer Zufriedenheit mit Tee umzugehen. Was für eine Erleichterung. Nur noch zweiundzwanzig Stunden bis zu meiner Flucht. Da ich die meisten davon verschlafen werde, werde ich es wohl schaffen.
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Flucht!
ICH FRAGE MICH, ob Beadles überhaupt jemals schläft. Außerdem hege ich langsam den Verdacht, dass er Augen im Hinterkopf hat. In Großmutter Throckmortons Haus konnte ich nirgendwo hingehen, ohne dass er ein paar Sekunden später auftauchte. Nur das Wissen, dass ich bald weglaufen würde, ließ mich nicht verzweifeln. Wenn ich jetzt nur noch das Mittagessen überstand … Großmutter Throckmorton wartete im Esszimmer auf mich. Wie ein Habicht beobachtete sie mich, als ich mich setzte (sie achtete auf meine Haltung, wie sie sagte). Die Suppe wurde serviert, und ich war sicher, dass das ein Test war, daher aß ich so sorgfältig wie möglich, ohne zu schlürfen. Nur einen einzigen winzigen Tropfen verschüttete ich, doch sie sah mich so böse an, als hätte ich die Suppenschüssel umgedreht und mir auf den Kopf gesetzt. Es war Zeit, dem Ganzen ein Ende zu bereiten. »Großmutter, ich fühle mich nicht sehr wohl.« Sie rümpfte die Nase. »Höchstwahrscheinlich wegen deines schwachen Charakters. Ich muss sagen, das überrascht mich gar nicht. Nun, dann geh ins Bett. Ich schicke jemanden mit einer Spezialmedizin zu dir hinauf. Du wirst sie ganz austrinken. Und ein Schläfchen könnte dir 236
auch nicht schaden. Für ein Kind gehst du furchtbar spät ins Bett.« Es fiel mir schwer, nicht zu grinsen, weil sie so leicht auf meinen Plan hereingefallen war. Ich verließ den Raum (sehr demütig, sollte ich hinzufügen) und ging in mein Zimmer. Und wer stand auf dem Treppenabsatz vor meinem Zimmer? Beadles. »Miss fühlt sich nicht wohl?« Er klang zwar höflich, aber man konnte deutlich hören, wie er insgeheim kicherte. »Nein, Beadles. Ich glaube, ich habe etwas von dem vergammelten Fisch gegessen, den Sie immer zu riechen scheinen.« Er runzelte verwundert die Stirn, und ich nutzte die Gelegenheit, ohne weitere Befragung in mein Zimmer zu schlüpfen. Als ich ihn nach unten gehen hörte, schloss ich leise die Tür ab. Mein Fluchtgepäck hatte ich am Abend zuvor schon gepackt. Ich nahm es, ging zum Fenster und sah hinunter. Es war niemand zu sehen. Ich öffnete das Fenster und ließ die Tasche fallen, die mit erstaunlich lautem Plumps auf dem Boden landete. Erstarrt lauschte ich, ob der Lärm jemanden angelockt hatte, aber es kam niemand nachsehen. Ich ging zum Bett und nahm die ganzen löchrigen Socken, die ich gemopst hatte. Gestern Abend, als ich eigentlich hätte schlafen sollen, hatte ich sie alle zusammengeknotet, sodass sie ein langes Seil ergaben. Hoffentlich reichte es auch bis ganz nach unten. Ich ging zum Fenster und ließ das Seil vorsichtig hinunter. Es reichte bis etwa 2 Meter über den Boden. Nun, das würde reichen müssen. Dann band ich das eine Ende des Wollstrumpfseils am Bein des Schrankes fest und zog daran, um sicherzugehen, 237
dass der Knoten auch fest saß. Ich warf noch einen Blick auf den Toilettentisch, an dessen Spiegel ich eine Nachricht für Großmutter Throckmorton gelehnt hatte. Hoffentlich kamen sie nicht allzu bald nach mir sehen, damit ich genügend Vorsprung hatte. Jetzt musste ich mich nur noch so schnell wie möglich abseilen und hoffen, dass mich niemand sah. Wie ich so auf dem Fensterbrett saß, fand ich es einigermaßen schwierig, tatsächlich loszulassen. Ich sagte mir, dass die Strümpfe fest miteinander verknotet waren und es eigentlich nicht so tief war. Bevor ich völlig den Mut verlor, nahm ich das Seil in beide Hände und ließ mich vom Fensterbrett gleiten. Gefährlich schwankend stieß ich mich mit den Füßen vom Haus ab, damit ich nicht gegen etwas krachte. Langsam, konzentriert und ein paar hastige Gebete ausstoßend, ließ ich mich hinunter. Als ich das Seilende erreichte, schien der Boden noch viel weiter entfernt zu sein, als es von oben ausgesehen hatte. Meine Arme zitterten von der Anstrengung, mein Gewicht so lange halten zu müssen, aber es gab keine Möglichkeit, mich wieder nach oben zu ziehen. Ich musste loslassen. Eine lange Sekunde lang raste der Boden auf mich zu, dann schlug ich mit einem knochenbrecherischen Bums auf, der mir die Zähne zusammenschlagen ließ. Einen Moment saß ich wie betäubt da, bis ich aufstand. Ich hob die Hand an die Brust und fühlte, ob das Herz Ägyptens noch sicher an meinem Hals hing. Es war da. Was bedeutete … Ich hatte es geschafft – ich war frei!
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TEIL II
Die ›Rosetta Maru‹
DIE ROSETTA MARU WAR RIESIG, fast so groß wie die Kaiser Wilhelm der Große. Vor dem Schiff blieb ich stehen und sah zu den Rettungsbooten auf dem obersten Deck. Das war mein Ziel. Es war gar nicht so schwierig, sich an Bord zu schleichen, wie man vielleicht denkt. Zunächst herrschte auf dem Pier das absolute Chaos, in dem jeder aufpassen musste, sich nicht selbst zu verlieren, gar nicht zu reden von jemand anderem. Ich hatte Glück, denn mehrere Familien reisten mit. An die größte und lauteste von ihnen hängte ich mich an. Es waren wohl sieben Kinder, vielleicht auch nur sechs. Das war schwer zu sagen. Ich blieb hinter ihnen, als sie ihren Eltern die Gangway hinauf folgten. Sobald wir aus dem Einstiegsbereich fort waren, machte ich mich auf, ein geeignetes Rettungsboot zu finden. Im Schiff gab es Aufzüge – richtige Aufzüge! Das war ja wohl ziemlich vornehm. An einem davon drückte ich auf den Knopf. Der Liftboy schien ziemlich überrascht, aber ich setzte mein Lady-Throckmorton-Gesicht auf und es wirkte. Er 241
fuhr mich zum Oberdeck. Ich wartete, bis sich die Aufzugtür wieder geschlossen hatte, und ging dann zur Reling vor. Vor mir breitete sich ganz London wie auf einer riesigen Karte aus. Ich betrachtete die durcheinanderlaufenden Menschen, so winzig wie Ameisen. Dann nahm der nach Salz schmeckende Wind zu und schlug mir einen Regenschauer mitten ins Gesicht. Am Himmel konnte ich Wolken sehen, die sich zu großen blauen Flecken zusammenballten. Ich musste einen Unterschlupf finden. Und zwar schnell. Schnell rannte ich zu den Rettungsbooten. Ein leiser Aufschrei des Entsetzens entrang sich mir, als ich feststellte, dass sie sehr hoch hingen und wie Wiegen über der Reling schwebten. Wie um Himmels willen sollte ich da hinaufkommen? Wie ein Affe, stellte ich fest. Aber niemals würde ich mein Gepäck dort hinaufschaffen können. Ich musste einen Platz hier unten auf Deck finden, wo es niemand entdecken würde.
Es war eine ziemliche Herausforderung, in das Rettungsboot zu kommen, ohne ein unfreiwilliges Bad zu nehmen, aber ich schaffte es glücklicherweise. Es war etwas kälter, als ich erwartet hatte, aber ich beschloss, die Kälte zu ignorieren, und tat so, als sei es sehr gemütlich. Es half mir etwas, es als eine kleine Höhle zu betrachten, wie ich sie mir früher oft mit Henry gebaut hatte, als wir noch klein waren. Der Gedanke an Henry rief in mir ein Gefühl der Einsamkeit hervor, daher schob ich den Gedanken beiseite. (Das scheine ich in letzter Zeit häufig zu tun.) 242
Blinder Passagier
ICH MUSS SCHON SAGEN, es ist eine scheußliche Erfahrung, in einem Rettungsboot zu schlafen. Sie sind überraschend viel unkomfortabler als Sarkophage. Eigentlich merkwürdig, man sollte meinen, Holz sei weicher als Stein. Außerdem reichte eine Decke kaum aus, um mich warm zu halten. Eigentlich hatte ich vorgehabt, meinen Mantel zu einem Kissen zusammenzurollen, aber ich musste ihn anlassen, damit ich in der Nacht nicht erfror. Mit zwei Mänteln übereinander kann man sich schlecht bewegen. Und dazu noch mit einem ägyptischen Amulett (das kratzt!). Wusstet ihr übrigens, dass die Motoren von Ozeanriesen sehr laut sind? Und vibrieren tut es auch. Abgesehen von der Kälte und dem Hunger und der bohrenden Langeweile hatte ich viel zu viel Zeit zum Nachdenken. Ich hatte mit dem Gedanken an die schwierige Aufgabe, die vor mir lag (oder besser gesagt, die Wigmere mir vorgelegt hatte, ich kann mich nicht mehr so recht erinnern, ob er oder ich mich freiwillig gemeldet hatte), gespielt wie eine Katze mit einer Maus. Ehrlich, je länger ich darüber nachdenke, desto mehr denke ich, dass 243
es ein bisschen viel verlangt ist, von mir zu erwarten, die Nation zu retten. Es war sehr schwer, den ganzen Tag im Rettungsboot versteckt zu bleiben. Mir war kalt, ich saß verkrampft und fühlte mich schmutzig, aber ich konnte die Passagiere auf dem Deck herumlaufen hören, sie lachten und unterhielten sich blendend. Oh, diese Gespräche! Diese reizvollen Gesprächsfetzen von »Hast du gesehen, was diese Frau gestern beim Abendessen getan hat?« oder »Besitzt dieser Mann denn kein bisschen Schamgefühl?«. Immer wenn meine Neugier gereizt war, entfernten sie sich außer Hörweite und ich konnte kein Wort mehr verstehen. Warum zum Teufel hatte ich nicht noch etwas anderes außer Marmeladebroten mitgenommen? Ich war sie schnell leid und musste mich fragen, ob jemand daran sterben kann, wenn er zu viel davon isst. Das heißt, falls er nicht vorher erfriert. Ich weiß nicht, wie ich diese blinder-PassagierGeschichte jemals für eine gute Idee halten konnte. Ich litt – und das meine ich wörtlich – unter Kälte und Hunger und Schlafmangel. Und wenn ich das überstanden hatte, was erwartete mich dann? Ich musste es mit von Braggenschnott und seiner Bande aufnehmen, während ich versuchte, ein antikes Kunstwerk dahin zurückzubringen, wo es niemand je wieder finden konnte. Ganz zu schweigen davon, dass ich Amenemhab überlisten musste, einen der brillantesten Köpfe des Neuen Reiches in Ägypten. Ehrlich. Welcher Idiot würde das versuchen?
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Nicht einen Moment länger konnte ich es aushalten. Ich musste hier raus oder ich würde verrückt werden. Nicht nur das, ich musste auch dringend auf die Toilette. Ich wartete, bis es dunkel und kalt geworden war und sich die Passagiere zum Essen nach drinnen begeben hatten. Dann krabbelte ich heraus und suchte hektisch nach einer Toilette (Gott, was für eine Erleichterung!). Nachdem das erledigt war, erlaubte ich mir einen kurzen Spaziergang über das Deck, um meine verkrampften Glieder zu lockern. Gerade als ich wieder in mein Rettungsboot klettern wollte und wie ein junger Affe am Gerüst hing, hörte ich eine Stimme »Hallo!« sagen. Beinahe wäre ich ohnmächtig geworden. Ich hörte auf zu klettern und wandte mich der Stimme zu. »Hallo«, antwortete ich. Krächzte ich eher, da meine Stimme vom Salz und dem langen Schweigen etwas rostig klang. Ich erblickte einen Mann im Dinner-Jackett, der etwas ziemlich elegant Aussehendes aus einem merkwürdigen Glas trank. Er wandte sich zum Meer und sah mich dann wieder an. »Also so was«, sagte er und betrachtete mich ziemlich kritisch, »seh ich jetzt schon weiße Mäuse?« Ich ließ mich aufs Deck fallen. Weiße Mäuse? Was war denn das für ein Unsinn? Eigentlich hätte ich furchtbar beleidigt sein müssen, aber er schien weiße Mäuse ziemlich gern zu haben. Er beschloss, mich auf meinem Spaziergang zu begleiten. Ein paar Minuten lang redeten wir über das Wetter (kalter grauer Nieselregen) und wohin er reiste (zur Krokodiljagd auf dem Nil) und was unser Lieblingsessen war (seines Gin und Tonic, meines Zitronentorte). Er fragte mich nicht, was ich hier machte und ob ich ein blinder 245
Passagier sei oder so. Und er versprach mir, mir etwas Dessert mitzubringen, wenn er morgen für seinen Abendspaziergang heraufkam. Solche Erwachsenen liebe ich! Nachdem ich ein wenig Bewegung gehabt hatte, fiel es mir viel leichter einzuschlafen. Ich träumte von dem Nachtisch, den mir Mr Wappingthorne (so hieß er) morgen bringen würde.
Am nächsten Tag brachte mir Mr Wappingthorne zwei noch warme Butterbrötchen und ein kleines Himbeertörtchen vom Dessert-Tablett. Außerdem organisierte er mir ein kleines Kännchen Tee – welch ein Luxus! Ich genoss den Tee und seine wohltuende Wärme. Halb war ich versucht, einen Teil davon zum Waschen zu benutzen. Man glaubt gar nicht, wie salzig und klebrig man in der Seeluft wird. Eine dicke Schicht Salz klebte mir am Gesicht und an den Händen. Nur noch zwei Tage, dann hatten wir die Hälfte der Reise hinter uns. Denn wenn es zu spät zum Umkehren war, würde ich mich meinen Eltern zeigen.
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Aufgeflogen
ALS MR WAPPINGTHORNE am nächsten Abend zu Besuch kam, brachte er seine Verlobte mit, eine Miss Pennington. Er wollte ihr beweisen, dass ich echt war. Da begann es wirklich kritisch zu werden, sage ich euch. »Das ist ja ein blinder Passagier!«, sagte Miss Pennington mit einem verschmitzten Gesichtsausdruck, der mich stark beunruhigte. Ich hoffte, dass alles gut gehen würde, weil Mr Wappingthorne sie beruhigte und sie versprechen ließ, nichts zu verraten. Dennoch konnte ich mich erst entspannen, als sie gegangen waren. Mit einem erleichterten Seufzer machte ich es mir in meinem kleinen Nest so gemütlich wie möglich. Doch kaum wurde mir wieder warm, da hörte ich Schritte auf dem Deck. War Mr Wappingthorne zurückgekehrt? Oder die lästige Miss Pennington? Es knirschte noch einmal und dann begann mein Rettungsboot zu schwanken. Jemand kletterte herauf! Bevor ich mir noch überlegen konnte, was ich tun sollte, wurde das Segeltuch vom Boot gerissen und ich blinzelte in den Schein einer Öllampe. 247
»So, so, was haben wir denn hier?«, fragte eine sehr selbstzufriedene Stimme. Mistkram. Ich war aufgeflogen. Vater würde toben. Ich kletterte aus dem Rettungsboot (ziemlich unbeholfen, jetzt, wo jemand zusah). Sobald meine Füße den Boden berührten, stand bedrohlich ein Fähnrich oder so etwas über mir – ich war mir nicht sicher, welchen Rang er hatte, aber an seinen Schultern hingen ein paar schicke Sachen und er sah sehr streng drein. Er wollte mich an den Ohren ziehen, aber Mr Wappingthorne rief: »Das ist doch wohl wirklich nicht notwendig, oder?« Stattdessen griff mich der Mann am Ellbogen, was mir wesentlich lieber war als am Ohr, obwohl er ihn in einem schmerzhaften Winkel hielt, und bugsierte mich vorwärts. Zum Speisesaal. »Sollten wir nicht auf Ihren Kapitän in seiner Kabine oder auf der Brücke warten?«, schlug ich vor. »Ich bin sicher, er will wegen so etwas nicht sein Abendessen unterbrechen.« Der Mann sah auf mich herunter. »Er wird sofort mit dir sprechen wollen. Glaub ja nicht, dass wir dein Vergehen verheimlichen wollen. Das ist Schiffspolitik.« Da hat er mich doch glatt durchschaut. Mein Magen revoltierte bei dem Gedanken, so öffentlich bloßgestellt zu werden. »Sie tun mir weh, könnten Sie bitte meinen Arm nicht so verdrehen?«, bat ich. Er warf mir nur einen Blick zu, öffnete eine Tür und stieß mich in den Salon, wobei er meinen Arm fast aus dem Gelenk riss. Als ich in den Raum stolperte, verstummten auf einmal alle Gespräche. Die Leute hatten fertig gegessen und 248
saßen noch bei einem Getränk und einer Unterhaltung zusammen. Ich wollte mich am liebsten klein machen und hinter dem grässlichen Fähnrich verstecken, aber diese Genugtuung konnte ich ihm nicht geben. Also richtete ich mich so stolz auf, als sei ich ein Erster-KlasseGast und kein schmutziger, kleiner, blinder Passagier. (Wenn Großmutter Throckmorton über den Teil mit dem blinden Passagier hätte hinwegsehen können, wäre sie sicher sehr stolz auf mich gewesen.) Der Mann brachte mich geradewegs zum Kapitän. »Sehen Sie mal, was ich in einem der Rettungsboote gefunden habe, Kapitän. Einen blinden Passagier.« Der Kapitän wandte sich von seinen Gesprächspartnern ab und sah erst den Fähnrich an, bevor er mir seine Aufmerksamkeit schenkte. Er hatte ein Gesicht wie eine lederne Landkarte, mit vielen Linien und Tälern und Gräben, die die tiefbraune Haut zerfurchten. Sein eisengrauer Schnurrbart hatte die gleiche Farbe wie sein Haar und erinnerte mich an ein Walross. Mein Arm schmerzte höllisch in der unnatürlichen Haltung und ließ meine Augen tränen. Ich hielt sie so weit wie möglich offen, damit es nicht so aussah, als ob ich weinte, aber ich war mir nicht sicher, wie lange ich das noch durchhalten konnte. »Könnte ich jetzt bitte meinen Arm wiederhaben, Sir? Ich werde wirklich nicht weglaufen. Ich gebe Ihnen mein Wort.« »Das Wort eines diebischen blinden Passagiers!«, sagte der Fähnrich. »Was soll das denn wert sein? Wahrscheinlich genauso viel, wie du für dein Ticket bezahlt hast!« »Darf ich um die Erlaubnis bitten, zu sprechen?«, wandte ich mich direkt an den Kapitän, den diese Förmlichkeit sichtlich überraschte. 249
Er zwinkerte. »Ja.« »Zuerst einmal, ich habe mein Ticket bezahlt. Ich habe das Geld in einen Umschlag getan, und wenn Sie jemanden zum Rettungsboot schicken, dann werden Sie sehen, dass es da ist.« (Es waren übrigens meine gesamten Ersparnisse.) Der Kapitän zog eine Augenbraue hoch. »Tatsächlich?« Er nickte dem Fähnrich zu, der meinen Arm losließ und sich auf die Suche nach dem Umschlag machte. »Und warum hast du nicht vorher für dein Ticket bezahlt, wie die anderen Passagiere?«, wollte der Kapitän wissen. In diesem Moment hörte ich das vertraute, dröhnende »Theodosia Elizabeth Throckmorton!«, dem schnell ein leises »Verdammt noch mal!« folgte. Mistkram. Ich zog die Nase kraus. »Nun, deswegen, Sir«, sagte ich und wies mit dem Kopf auf meine Eltern, die zu uns herüberkamen. »Meine Eltern wollten nicht, dass ich mitfahre, aber ich muss mit. Wirklich.« Mutter kam zuerst bei mir an und legte mir die Hände auf die Schultern. »Theodosia, Liebes, ist alles in Ordnung?« Sie kniete sich hin, um mir in die Augen sehen zu können. »Ja, Mum. Es geht mir bestens. Ich bin nur etwas schmutzig, das ist alles. Und hungrig«, fügte ich hinzu, nur für den Fall, dass noch nicht alle Teller abgeräumt waren. Ich riskierte einen Blick auf Vater, der mich böse ansah. »Also wirklich, Theodosia, dieses Mal bist du zu weit gegangen.« Er wandte sich an Mum. »Ich habe dir doch gesagt, dass etwas nicht stimmt, als wir ihre Sachen in deinem Koffer gefunden haben.« Für jemanden, der immer so geistesabwesend ist, kann Vater ganz schön scharfsinnig sein, wenn er will. 250
Er sprach mit dem Kapitän, während meine Mutter sich um mich kümmerte. Ehrlich gesagt war ich ganz froh, dass sich jemand um mich kümmerte. Bis zu diesem Moment hatte ich gar nicht gemerkt, wie erschöpft ich war. Das Schlafen im Rettungsboot, die knappen Rationen der letzten Tage und die ständige Angst, entdeckt zu werden, hatten mich ziemlich schachmatt gesetzt. Gerade als Mutter meinte, sie würde mir etwas zu essen besorgen, kam der Fähnrich zurück und unterbrach sie in diesem schönen Gedankengang. »Hier ist der Umschlag, Sir.« Er warf mir einen selbstgefälligen Blick zu. »Aber für eine ganze Passage ist nicht einmal annähernd genug drin.« Der Schnurrbart des Kapitäns zuckte, als er den Umschlag nahm und öffnete. »Sie vergessen, dass sie nur den Kinderpreis zahlen muss.« Er sah erst das Geld an und dann mich. »Nun, Miss Throckmorton, es scheint, dass du doch kein blinder Passagier bist. Zumindest nicht für uns.« Listig sah er meine Eltern an. »Ich denke, den Rest können Sie unter sich ausmachen.« Er ging seinen anderen Gästen nach, nicht ohne mir zu meiner Überraschung zuzuzwinkern. »Komm mit, Liebes«, forderte mich Mutter auf. »Wir besorgen dir etwas zu essen und warme, trockene Sachen.« »Und ein Bad«, fügte ich hinzu. Mum lächelte. »Und ein Bad.« »Oh wirklich, Henrietta«, unterbrach Vater. »Jetzt verhätschel sie nicht auch noch! Sie hat sich einfach an Bord geschlichen!« Er wandte sich an mich. »Was ist denn so furchtbar wichtig, dass du geglaubt hast, du müsstest diese Reise als blinder Passagier mitmachen?« 251
Sein wütender Blick ließ all meine guten Ausreden aus meinem Kopf verschwinden. »Ich wollte unbedingt Ägypten sehen. Und ich dachte, ihr könnt vielleicht meine Hilfe brauchen, um das British Museum abzulenken, während ihr das Was-Szepter sucht.« Glücklicherweise brachte Mutter Vater an diesem Punkt zum Schweigen und hinderte ihn daran, mich weiter zu befragen. Bald war ich warm und gemütlich in ihrer Kabine untergebracht, trank heiße Schokolade und erzählte Mutter von meinen Heldentaten. (Vater sprach immer noch nicht mit mir.) Doch bald begann ich in meine Tasse zu gähnen, sodass Mutter sie mir wegnahm und mich ins Bett steckte. Als wir gerade alle einschliefen, setzte Vater sich kerzengerade im Bett auf. »Verdammt noch mal, Theodosia! Weißt du eigentlich, wie gefährlich das war?« Ich zuckte zusammen. »Es tut mir leid, Vater«, sagte ich kleinlaut. Er grunzte nur und legte sich wieder hin. Ich ging davon aus, dass dies wohl nicht der geeignete Zeitpunkt war, ihn zu fragen, was eine weiße Maus war.
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Ein Willkommensgeschenk
EIN PAAR TAGE SPÄTER stand ich morgens an Deck, als die Rosetta Maru Alexandria anlief. Scharf zeichneten sich die Türme, Minaretts und Flaggen der Stadt in der Ferne gegen das klare Blau des Himmels ab. Oh, die Sonne! Wie schön es doch war, ihre Strahlen mal wieder im Gesicht und ihre Wärme auf meinen Schultern zu spüren! Seit einer Ewigkeit hatte ich keinen einzigen Sonnenstrahl mehr gesehen. Endlich konnte ich mein Gesicht lange genug von der Sonne abwenden, um über das tiefblaue Wasser des Hafens von Alexandria zu sehen. Alexandria. Schon der Name beschwor die Geheimnisse der Antike herauf. Es war das Land von Antonius und Kleopatra. Hier hatte hundert Jahre lang der Leuchtturm von Pharos gestanden, eines der sieben Weltwunder der Antike. Ich musste an die schöne alte Bibliothek von Alexandria denken, die vor vielen Jahrhunderten schon niedergebrannt war. Wie sehr wünschte ich mir, dass sie noch stünde! Ich wette, dort hatte es viele faszinierende Schriftrollen und Texte über die alte ägyptische Magie und ihre Flüche gegeben. Die Rosetta Maru bahnte sich ihren Weg durch den Hafen, in dem mehr Schiffe lagen, als ich mir hatte vorstellen können. Und die Kaianlagen – sie waren eine Riesenenttäuschung. Ich hatte mir etwas Fremdländisches, 253
Exotisches vorgestellt. Stattdessen sahen sie genauso aus wie zu Hause. Nur dass die Gesichter der Menschen etwas dunkler waren. Und dieser Lärm! Das Gewirr fremder Laute drang an mein Ohr wie der Schlag einer exotischen Trommel. Einer von Mutters Kontaktmännern, ein Dragomane, wie sie ihn nannte, erwartete uns. Ich fand es ziemlich beruhigend, jemanden zu haben, der einen durch dieses turbulente Durcheinander führte. Unser Führer brachte uns zu einer Kutsche, mit der wir so schnell wie möglich zum Bahnhof fuhren, wo wir den Zug nach Kairo nehmen konnten. Es war eine haarsträubende Fahrt. Die engen Straßen von Alexandria waren voller kleiner, überfüllter Geschäfte und überall wimmelte es von unglücklichen Bettlern. In gewisser Weise erinnerte es mich ein wenig an Seven Dials zu Hause. Das traurige Betteln um ein Bakschisch war herzergreifend. Als die Kutsche den großen Bahnhof erreichte, war ich erleichtert. Wieder scheuchte uns unser Dragomane vorwärts (ich glaube, in der Nebensaison arbeitete er als Schafhirte), diesmal zu unserem Zug. Mit etwas Glück würden wir zum Abendessen in Kairo sein. Als der Zug abfuhr, schwor ich mir, eines Tages nach Alexandria zurückzukommen und mir Zeit für die Sehenswürdigkeiten zu nehmen. Doch für heute ließ ich mich vorwärtstreiben. Schließlich hatte ich eine Mission zu erfüllen.
Es war eine holprige Zugfahrt, als ob die Gleise direkt auf den Sand gelegt worden waren, ohne durch Schwellen 254
verankert zu sein. Als ich Vater darauf aufmerksam machte, meinte er nur: »Nun, du wolltest eine romantische Reise unternehmen, also beschwer dich jetzt nicht darüber.« Komisch, ich hatte mir Romantik nie so staubig und holperig vorgestellt. Endlich erreichten wir das Hotel Shepheards, das ziemlich vornehm aussah. Es erhob sich vier Stockwerke über die Straße und nahm fast einen ganzen Häuserblock ein. Riesige Topfpalmen standen auf der vorderen Terrasse. Auf den Stufen lungerten Männer mit Turban herum. An der Schulter eines der Männer hing ein kleiner brauner Affe. Der Portier (ich weiß nicht, wie so jemand auf Ägyptisch heißt) begrüßte Mutter herzlich und sah Vater ziemlich missbilligend an. Ob das daran lag, dass Vater so unausstehlich war (ich glaube, sein Bein tat ihm weh), oder aus einem anderen Grund, konnte ich nicht feststellen. Mittlerweile waren wir alle ziemlich müde, und uns blieb nur wenig Zeit, uns zum Abendessen umzuziehen. Vater schaffte es, sein Temperament so lange im Zaum zu halten, bis uns einer der Hotelangestellten unser Zimmer gezeigt hatte. Zwei Träger schleppten sich mit unserem Gepäck ab. Sobald die Tür aufgeschlossen wurde, rannte ich hinein, geradewegs zum Fenster. Ein erwartungsvoller Schauer lief mir über den Rücken. Wie aufregend es doch war, endlich in Kairo zu sein! Das Fenster ging auf einen kleinen Garten mit einem Teich und noch mehr großen Palmen hinaus, die ihre Wipfel anmutig im rötlichen Dämmerlicht neigten. Ein oder zwei Sterne erschienen am Himmel. Tief atmete ich den Geruch von Staub, Datteln und Sand ein, froh, endlich zumindest ein bisschen Romantik und Atmosphäre gefunden zu haben. Als die Männer das Gepäck hereinbrachten, 255
hörte ich ein leises, trockenes Rascheln. Ich legte den Kopf schief, um zu lauschen, aber die Männer machten zu viel Lärm. Ich sah sie böse an, aber sie waren viel zu sehr damit beschäftigt, die Koffer abzustellen, ohne sie zu beschädigen oder sich den Rücken zu verrenken. Vater trat zu mir ans Fenster. Lächelnd sah ich ihn an. Er lächelte zurück und mir fiel die Mischung aus Spannung und Sehnsucht in seinem Gesicht auf. Dann erklang wieder das Kratzgeräusch und ruinierte die Stimmung. Tief seufzte er auf. »Musst du so ein Geräusch machen, Theodosia?« »Aber ich bin das nicht, Vater. Ich habe es auch bemerkt.« Wir standen ganz still und lauschten einen Augenblick, dann nahm Vaters Gesicht einen entschuldigenden Ausdruck an. »Nun, wahrscheinlich ist es nichts. Warum ziehst du dir nicht etwas anderes an zum Abend …« Ein kleiner dunkler Schatten huschte unter dem Vorhang hervor und schnell zog ich Vater vom Fenster fort. »Also so was!«, stieß er hervor. Mir fielen fast die Augen aus dem Kopf, als ich auf den Teppich zeigte. Gleich da, wo er eben noch gestanden hatte, krabbelte ein großer Skorpion über den Fußboden. Ich trat zwei große Schritte zurück und zog mit ausgestrecktem Arm vorsichtig den Vorhang von der Wand. Darunter verbarg sich ein ganzes Nest von Skorpionen. Daher war das Rascheln gekommen. Vater zerrte mich von der Wand fort und begann, die Träger anzuschreien, dass sie uns in ein Zimmer voller Skorpione einquartiert hätten, was diese in Panik versetzte, da sie keine Ahnung gehabt hatten, dass ihr schönes Zimmer von Ungeziefer befallen war, und dann auch noch von so giftigem. 256
Es brach völliges Chaos aus. Die Träger verneigten sich und baten tausend Mal um Entschuldigung. Der Portier kam selbst angelaufen und verbrachte die nächste halbe Stunde damit, uns zu versichern, dass so etwas in seinem berühmten Hotel noch nie vorgekommen sei, und bat noch weitere tausend Mal um Entschuldigung. Während sie damit beschäftigt waren, untersuchte ich kurz den Raum (wobei ich mich wohlweislich von den Skorpionen fernhielt, die sich allerdings nicht sonderlich viel bewegten). Auf der Kommode sah ich eine kleine Figur, die ich an mich nahm, gerade als Vater mich anbrüllte herauszukommen. Auf dem Gang sah ich mich um und öffnete dann langsam die Hand. In meiner Handfläche lag eine etwa daumengroße Figur von Selket, der altägyptischen Skorpiongöttin. Diese Skorpione hatten sich nicht zufällig dort ihr Nest gebaut, sie waren von jemandem dorthin gerufen worden, der sich damit auskannte. Doch wer hätte so etwas tun sollen? Und warum? Die einzige Erklärung, die mir einfiel, war, dass es etwas mit dem Herz Ägyptens zu tun hatte. Aber nur Wigmere und Stokes wussten, dass es hier war, daher machte das wenig Sinn. Es sei denn, von Braggenschnott und seine Bande hatten es irgendwie herausgefunden oder erraten. Aber wie? War es möglich, dass von Braggenschnott entdeckt hatte, dass das Herz Ägyptens weg war, bevor er an Bord gegangen war? Konnte er herausgefunden haben, dass Will es gestohlen hatte, als er mit ihm zusammengestoßen war? War er dann in London geblieben und nicht mit den anderen nach Deutschland zurückgekehrt? Aber das erklärte immer noch nicht, wie er wissen konnte, dass es hier in Kairo war. Es sei denn, dass er 257
Mum überwachen ließ, weil er davon ausging, dass sie es irgendwie wiederbekommen hatte. Es sei denn, dass Mum … Oh nein! So etwas wollte ich nicht einmal denken! Vielleicht gehörte das zu Amenemhabs ursprünglichem Fluch dazu. Wie dem auch sei, was hieß das nun für meine Chancen? Endlich hatten wir alles geregelt und zogen in ein anderes Zimmer. Meine Eltern verbrachten eine Menge Zeit damit, unter den Betten, hinter den Vorhängen und überall sonst nachzusehen, wo sich ein kleiner Skorpion hätte verstecken können. Ich machte nicht mit. Ich wusste, dass sie nichts finden würden. Unsere Feinde wussten nicht, dass wir uns in diesem Zimmer aufhielten. Ich war überzeugt, dass wir hier sicher waren. Zumindest für heute Nacht. Bis wir endlich essen gingen, hatte ich Kopfschmerzen und in meinem Bauch nagte bohrender Hunger. Wir hatten keine Zeit mehr, uns umzuziehen, was ziemlich unangenehm war, da uns die anderen Gäste sofort ansahen, als wir den Speisesaal betraten. Mum versicherte mir, dass das hier häufig passierte, weil die Gäste zu den unterschiedlichsten Zeiten im Hotel ankamen und nicht immer ihre Dinnergarderobe dabeihatten. Doch ich hätte an meinem ersten Abend in Ägypten gerne einen etwas vornehmeren Eindruck gemacht.
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Der Basar
MEINE ELTERN WAREN SCHON FRÜH AM MORGEN auf dem Weg zum Antikendienst oder so, um mit den richtigen Beamten zu sprechen, die ihnen Zugang zu Mums Grabung gewähren konnten. Glücklicherweise ließ mir Mum ihren Dragomanen Nabir da. Sie erwarteten, dass wir beim Hotel blieben und den Garten erkundeten und so etwas, doch ich hatte natürlich andere Pläne. Morgen würden wir nach Theben aufbrechen, was bedeutete, dass mir nur ein Tag blieb, um ganz Kairo zu sehen. Den wollte ich nicht in einem langweiligen Hotel verbringen. Nicht, wenn es Moscheen und Paläste und Basare und Märkte und alles mögliche andere zu sehen gab. Ich brauchte eine ganze Weile, um Nabir dazu zu überreden. Er schüttelte immer nur den Kopf und tat so, als ob er mich nicht verstehen könnte. Schließlich gab ich es auf, mit ihm zu diskutieren, knallte mir einen hässlichen Strohhut auf den Kopf, um zu verhindern, dass mich die heiße ägyptische Sonne verbrannte, und marschierte zur Tür. Was blieb dem armen Kerl schon übrig, als mir zu folgen? Als er sah, dass ich entschlossen war, mit oder ohne 259
ihn zu gehen, murmelte er etwas von »Allahs Wille geschehe!« und schüttelte den Kopf. Ich war überrascht, wie anders sich die Luft in Kairo im hellen gelben Licht des Morgens anfühlte. Irgendwie war sie nicht nur einfach heißer, heller und trockener, sondern auch älter. Das schiere Alter der Stadt schmiegte sich an meine Haut, zog mich in die uralten Geheimnisse Kairos und forderte mich auf, sie zu erforschen. Als Nabir damit fertig war, Allah um Hilfe zu bitten, wurde er selbst wesentlich hilfsbereiter und begleitete mich zum Basar. Ich wollte zu gerne die türkischen Teppiche und die außergewöhnlichen Waren des Orients sehen. Außerdem brauchte ich etwas, was mich davon abhielt, mir darum Sorgen zu machen, wer uns die Skorpionfalle gestellt hatte. Ich war nicht sonderlich scharf darauf, im Hotel zu warten, bis sie vielleicht wiederkamen. Wer weiß, womit sie es das nächste Mal versuchten. Kobras? Nattern? Ich hatte das Gefühl, die Skorpione waren nur der Anfang. In den Straßen von Kairo herrschte rege Betriebsamkeit. Überall waren dunkelhäutige Männer, manche mit lustigen kleinen Filzhüten und andere in viele Schichten weißen Stoffs gekleidet. Esel und Kamele teilten sich die Straße mit Karren, die von halb nackten Eingeborenen gezogen wurden. Menschentrauben bevölkerten die engen Gassen und unterhielten sich in mehr Sprachen, als man sich vorstellen kann. Es schien fast, als wäre der Turm zu Babel real geworden. Ich war froh, dass Nabir bei mir war. In dem Sprachgewirr, das an mein Ohr klang, horchte ich immer wieder nach deutschen Wörtern. Ich hätte wetten können, dass die Deutschen gestern die Falle gestellt 260
hatten, obwohl ich nicht die leiseste Ahnung hatte, wie sie davon erfahren haben konnten, dass ich in Kairo war. Nabir führte mich durch das Labyrinth der Straßen. Hohe, enge Gebäude erhoben sich zu beiden Seiten, vor deren Fenstern meist eine Art hölzernes Spalier hing. Am Horizont ragten Dutzende von Minaretten auf, die zu den vielen über die ganze Stadt verteilten Moscheen gehörten. Zufrieden seufzte ich auf, denn es war alles so schön fremd und abenteuerlich. Verschleierte Frauen trugen Krüge auf dem Kopf und in Hauseingängen arbeiteten Ladenbesitzer. Ich versuchte, die Bettler, die neben den Kutschen herliefen und um Bakschisch bettelten oder auf den Treppenstufen in der Nähe schliefen, nicht anzustarren. Ich hätte erwartet, dass die Straßen staubig waren, aber ganz im Gegenteil: Sie waren matschig. Nabir erklärte mir, dass die Straßen zur Bekämpfung des Staubes bewässert wurden. Ich fragte mich, warum um alles in der Welt sie Staub für schlimmer hielten als Matsch. Ich für meinen Teil hätte wohl den Staub bevorzugt. Als wir schließlich den Basar erreichten, sperrte ich vor Verwunderung den Mund auf. Die Buden waren klein und so dicht gedrängt, dass sie fast wie Schränke aussahen oder kleine Kabinette. Es gab Pfeifenköpfe und Messingtöpfe, Sättel und bunte marokkanische Pantoffeln, die an einer Stange hingen. Ein Paar roter, bestickter Schuhe mit lustig hochgebogener Spitze hatte es mir angetan, und ich wünschte mir, ich hätte nicht mein ganzes Geld für die Schiffspassage auf der Rosetta Maru ausgegeben. Der alte Händler bemerkte meinen begehrlichen Blick und lächelte mich zahnlos an. Er nahm einen davon von der Stange, warf ihn mir zu und sagte etwas, das ich nicht verstand. 261
»Er sagen, kleine Miss ihn anprobieren«, übersetzte Nabir. »Schöne Schuhe deine sonnenhelle Person zieren.« Ich lächelte den Händler an. Ehrlich gesagt hielt ich mich selber wirklich für eine Spitzpantoffelperson und freute mich, dass er es merkte. Aber ich musste den Kopf schütteln. »Ich habe kein Geld, Nabir«, erklärte ich. »Aber sag ihm, seine Pantoffeln seien so schön wie …«, ich suchte nach einem passenden fabelhaften Kompliment, »… wie tausend Lotusblüten.« Anstatt böse dreinzuschauen und mich wegzuscheuchen, wie es die Ladenbesitzer in London getan hätten, grinste mich der freundliche Mann nur noch einmal an und hängte den Schuh wieder an die Stange. Er schob die Hände in die langen schwarzen Ärmel und ließ mich in Ruhe stöbern. Später kamen wir an Süßwaren vorbei, an Tabak, an Gold- und Silberschmuck sowie Seide in allen nur denkbaren Farben, zu großen Ballen aufgerollt oder in bunten Drapierungen. Hinter der nächsten Ecke mussten wir rasch zurückspringen, um einer großen Dame in lila Seide auf einem pummeligen kleinen Esel auszuweichen. Ihre dunklen Augen betrachteten mich aus ihrem Schleier und ich grüßte sie mit einem Kopfnicken. Sie verschwand mit klirrenden Goldarmbändern und klingelnden Silberglöckchen, während wir weiter die Straße entlanggingen. Überall wo man hinsah, schien es nur Teppiche zu geben. Viele Stapel türmten sich höher als meine Schulter, manche hingen wie Vorhänge von den Mauern, andere waren auf Tischen ausgebreitet. Und diese Farben! Jede nur vorstellbare Schattierung konnte man in dieser Straße finden. Die Händler saßen im Schneidersitz zwischen ihren Waren, unterhielten sich und hielten nach Kunden Ausschau. 262
Als wir an die nächste Straßenecke kamen, griff Nabir nach meinem Ellbogen und versuchte, mich schnell vorbeizuschleusen. Ich hielt an und blickte in das Ladengewirr in der engen Straße. »Was ist da, Nabir?« »Nicht gut. Missy nicht dahin gehen«, erklärte Nabir entschlossen. »Warum denn nicht?« Ich sah ihn an und schob das Kinn vor. Wenn es dort etwas Interessantes gab, dann wollte ich es sehen. Nabir trat näher und sagte leise: »Kunst zu verkaufen. Schwarzmarkt. Missy Mutter nicht hingehen. Missy soll auch nicht.« Ein echter Schwarzmarkt! Natürlich musste ich das sehen! Ich klopfte ihm auf den Arm. »Das ist schon in Ordnung, Nabir, du wirst schon sehen.« Ich lief die Straße entlang, in dem Wissen, dass dem Dragomanen meiner Mutter nichts anderes übrig blieb, als mir zu folgen. Das tat er dann auch, die ganze Zeit erbost auf Arabisch fluchend. Wie alle anderen Straßen war auch diese überfüllt, aber hier waren viel mehr Europäer. Wahrscheinlich Touristen, entschlossen, Ägypten nicht ohne irgendein geheimnisvolles Kunstobjekt als Souvenir zu verlassen. Diese Straße schlenderte ich wesentlich langsamer entlang als die anderen. Zum einen wollte ich bei den vielen Europäern aufpassen, ob ich Deutsche hören konnte. Man sollte meinen, dass sie sich äußerlich nicht viel von den Briten unterschieden. Doch das stimmte nicht. Es war mir zuerst in Seven Dials aufgefallen, als wir sie Stokes hatten folgen sehen. Sie hielten sich irgendwie aufrechter, als ob sie in einer Militärparade marschierten. In den einzelnen Läden ließ ich mir Zeit und betrachtete die Keramikstücke und Stelenfragmente. Daran gab 263
es einen schier unerschöpflichen Vorrat, und jedes einzelne davon erhob den Anspruch, ein lange verloren geglaubtes Stück von großer Bedeutung zu sein. Auch eine riesige Anzahl von Amuletten gab es. Meine Hände zuckten förmlich, sie in die Finger zu bekommen. Ich sah eine entzückende kleine Statuette von Hathor und ein paar von Isis, die sehr beliebt war. Osiris und Anubis erkannte ich, Thot und Bastet. Ein Mann verkaufte einen mumifizierten Finger, der angeblich Ramses III. gehört hatte. Während ich mir den Finger genauer ansah, winkte der Händler einem großen, dicken Franzosen neben mir zu. Er kam näher und der Händler flüsterte ihm etwas ins Ohr. Mein Französisch ist schrecklich, da ich es zugunsten der Hieroglyphen stark vernachlässigt habe, aber ich war mir ganz sicher, dass er etwas von Mumien sagte. Natürlich! Ich hatte davon gehört, dass man auf dem Schwarzmarkt Mumien bekommen konnte. Ich kam ein bisschen näher, um zu lauschen. Der Händler winkte dem Kunden, ihm hinter eine verhangene Tür zu folgen. Ich zögerte, begierig darauf, zu folgen. Natürlich hatte ich schon viele Mumien gesehen, aber noch nie eine vom Schwarzmarkt (zumindest, soweit ich weiß). Als ich gerade eintreten wollte, fühlte ich mich am Schürzenband gezogen. »Missy nicht gehen«, sagte Nabir. »Nicht sicher.« »Was meinst du damit?«, fragte ich. Er wollte es nicht weiter erklären, ließ mich aber auch keinen Schritt weiter gehen und schob mich zum nächsten Laden, in dem es haufenweise bunte Skarabäen gab. Ich betrachtete sie eine Weile und ging dann zum nächsten Laden, wobei wir an einem steinernen Bogengang 264
vorbeikamen. Ich erschrak, als ich eine Mumie entdeckte, die ganz offen in der Tür lehnte. Ich beugte mich nach vorne, um sie genauer zu betrachten. Es war schwer zu sagen, wie alt sie war – es war eine Sie. Das konnte ich an dem Schleier erkennen, der ihre untere Gesichtshälfte bedeckte. Schneller als eine angreifende Kobra schoss ihre lange, knochige Hand vor, ergriff mich am Handgelenk und zog mich näher. Ich unterdrückte einen Aufschrei und versuchte, mich loszumachen, aber für eine Mumie, äh, eine alte Frau, war sie erstaunlich kräftig. Ihre blitzenden schwarzen Augen musterten mich intensiv, und sie sagte etwas, das ich nicht verstand. Während sie meine Hand festhielt, blickte ich über die Schulter zu Nabir. »Was sagt sie?« »Sie anbieten, Missy Zukunft zu sagen«, erklärte er. »Frag sie, ob sie erst mal meine Hand loslassen kann.« Nabir übersetzte und mit einem Kichern gab die Frau meine Hand frei. Die Bewegung ließ ihre Silberarmbänder klirren. »Na ja, ich hätte nichts dagegen, mir meine Zukunft voraussagen zu lassen, aber sag ihr, dass ich kein Geld habe, sie zu bezahlen«, bat ich Nabir. Wieder übersetzte er, und sie erwiderte etwas, was ihn die Stirn runzeln ließ. »Was?«, fragte ich. »Was ist?« »Sie sagen, sie Missy Zukunft umsonst sagen, weil Missy von Göttern gezeichnet.« Ein Schauer durchlief mich bei diesen Worten, aber ich konnte nicht sagen, ob es Furcht oder Faszination war. Die Wahrsagerin nahm einen kleinen schwarzen Beutel hervor und schüttete seinen Inhalt auf den Boden, der 265
aus Muscheln, Holzstückchen und etwas, das aussah wie Knochen, bestand. Sie wiegte sich hin und her und studierte leise vor sich hin murmelnd die Dinge vor ihr. Sie stupste einen Knochen an, beobachtete, wie er herumrollte, dann verschleierte sich ihr Blick, und sie stieß einen schnellen Wortschwall auf Englisch aus, wenn auch mit einem starken Akzent. »Chaos umgibt dich. Hängt an deinen Fersen wie ein Schakal. Aber das Mal der Isis glüht auf deiner Stirn. Isis schützt dich. Such Hilfe bei den Alten. Sie sind dir wohlgesonnen.« Sie öffnete die Augen und sah Nabir an. »Sie kommen«, flüsterte sie. Bei diesen Worten stieg mir kalte Furcht ins Herz. Meine Sinne waren den ganzen Morgen über geschärft gewesen, doch ich hatte angenommen, dass es daran lag, dass ich mich im Land der Antike selbst befand. Ich hatte zwar gelegentlich das Gefühl gehabt, beobachtet zu werden, aber wenn ich mich umsah, konnte ich nie jemanden entdecken. Ich hatte geglaubt, es seien die Händler, die mich genauso neugierig ansahen wie ich sie. Ich dankte ihr leise und trat von der Tür zurück. Die Straße entlang sehend, fürchtete ich schon fast, riesige Schlangen auf mich zuschlängeln zu sehen. Stattdessen sah ich drei Männer in weiten schwarzen Gewändern mit Turbanen und Tüchern vor der unteren Gesichtshälfte, die auf uns zu kamen. Sie hielten nicht bei den Läden an, sondern schritten unaufhaltsam voran. Und noch etwas stimmte nicht. Es war die Art, wie sie liefen. Es war kein fließender, weicher Gang wie bei den anderen Einheimischen, sondern eher steif. Und dann bemerkte ich ihre Hautfarbe. 266
Sie waren weiß. »Nabir …«, sagte ich und wich zurück. »Sie macht keine Witze.« Ich wandte mich um und rannte los, die Straße entlang, mich zwischen den Ständen und den vielen Menschen hindurchwindend. Nabir folgte mir dicht auf den Fersen. Ich wich einem schwer beladenen Esel aus und konnte gerade noch verhindern, über einen aufgerollten Teppich zu stolpern, der aus einem Laden ragte. Ich vermisste Will furchtbar. Er hätte genau gewusst, was man in so einer Situation macht. »Nabir!«, rief ich. »Wo sind wir sicher?« »Eine Moschee!«, rief er zurück. Nur zu deutlich stand mir das Bild von Stokes vor Augen, der versuchte, sich in St. Pauls in Sicherheit zu bringen. Diese Leute kümmerten sich nicht um Zufluchtsorte. »Wir brauchen etwas anderes!«, rief ich. Ich bog in die nächste Straße und erblickte eine Straßenbahnhaltestelle. Eine Menschentraube wartete darauf einzusteigen. »Da lang!« Mit voller Geschwindigkeit rannte ich in die Menschenmenge, die sich ziemlich aufregte, aber ich hielt nicht eher an, bis ich mich in der Mitte befand und hoffentlich vor den Blicken unserer Verfolger verborgen war. Die Leute drängten mich vor, und ich erkannte, dass sie in die elektrische Straßenbahn einsteigen wollten. Panisch sah ich mich nach Nabir um, der am Rand der Menge stand. Meine Verfolger erreichten die Haltestelle und sahen sich verwirrt um. Einer von ihnen bellte einen Befehl, woraufhin sie ausschwärmten. In diesem Moment wurde ich von der Menge mitgerissen und fand mich in der Straßenbahn wieder. Wieder versuchte ich, mich in der Mitte der Menschen zu halten, und atmete erleichtert auf, als ich sah, wie Nabir an Bord kletterte. 267
Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt, während ich darauf wartete, dass die Straßenbahn abfuhr und mich aus der Gefahrenzone brachte. Ich wollte weg, bevor sie herausfanden, wo ich war. Endlich fuhr die Bahn mit einem Ruck an. Ich war in Sicherheit. Sie hatten mich nicht gesehen.
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Ein unerwarteter Ausflug
SCHNELL FAND ICH HERAUS, dass uns die Straßenbahn nach Gizeh brachte, wo die Großen Pyramiden stehen. Das war ausgezeichnet, da ich sie während meines Aufenthalts in Kairo sowieso sehen wollte. Da ich im Moment in Sicherheit war, überließ ich mich dem wundervollen Gefühl, in Ägypten zu sein, und beobachtete, wie die drei Dreiecke am Horizont immer größer und größer wurden, je näher wir kamen. Als Nabir und ich ausstiegen, zögerte ich fast weiterzugehen. Es machte mich demütig, vor so alten, zeitlosen Werken zu stehen. Fasziniert ging ich bis zum Rand der Wüste. Ich stieg einen steilen sandigen Abhang hinauf und starrte die majestätischen Pyramiden über mir an. In gigantischen, rauen und unebenen Stufen stieg der rotgoldene Sandstein von der Basis aus an. Ich musste ihn berühren, musste meine Hand auf denselben Stein legen, den einst die alten Ägypter mit eigener Hand bearbeitet hatten. Die raue Oberfläche fühlte sich warm an, fast lebendig, als ob sie atmen würde. Aber das tat sie natürlich nicht. Dennoch kribbelte meine Handfläche leicht, als ich sie wieder fortzog. Ich wollte ganz nach oben, auf der Spitze sitzen und ganz Ägypten überblicken. Irgendwie erschien es wie ein Sakrileg, aber andere Touristen taten es auch. Nabir wollte 269
am Fuß der Pyramide auf mich warten, also begann ich den Aufstieg. Es war eine lange, anstrengende Kletterei, muss ich sagen. Manche Stufen waren fast so hoch wie ich! Oben auf der Pyramide hatte ich das merkwürdige Gefühl, dass ich nicht allein war. Es war, als sei dort jemand bei mir. Jemand mit einer königlichen Aura, der sein riesiges Land überschaute, wie er es seit Tausenden von Jahren getan hatte. Als ob der große Pharao Cheops selbst neben mir stünde und voller Stolz und Liebe sein Land betrachtete. In diesem Moment fragte ich mich unwillkürlich, ob die Archäologen nicht vielleicht alle falschlagen. Cheops hatte die Pyramide vielleicht nicht als Grab gebaut, sondern damit sein Ka einen Ort nahe dem Himmel hatte, von wo aus er sein Land bewachen konnte. Allerdings bin ich sicher, dass er nicht im Traum daran gedacht hatte, einmal ein Automobil über den Sand fahren zu sehen, das eine riesige Staubwolke hinter sich her zog. Ich hätte nicht einmal gedacht, dass es in Ägypten überhaupt Automobile gab … In mir flackerte ein Warnsignal auf. Ich kniff die Augen zusammen, um erkennen zu können, wie viele Leute im Auto saßen, aber es war zu weit weg. Plötzlich fühlte ich mich da oben ausgesetzt und verletzlich und machte mich auf den Weg nach unten, wo man mich nicht so deutlich sehen konnte. Auf der unteren Galerie gab es zwei Gänge. Einer führte nach oben, der andere nach unten. Die anderen Touristen waren alle nach oben gegangen, daher entschied ich mich für den Weg nach unten. Der war zwar mit einem Seil abgesperrt, aber ich war sicher, dass es nur deswegen war, weil der Gang so niedrig war, dass ein 270
Erwachsener nur schwer hindurchgehen konnte. Selbst ich musste den Kopf einziehen. Es war ein wenig eng und sehr, sehr steil. Ich wäre am liebsten hinuntergerutscht, aber das erschien mir zu respektlos, also tat ich es nicht, auch wenn ich wusste, dass Cheops gar nicht hier begraben war, sondern in der oberen Kammer. (Während der Bauphase hatte der launische Pharao drei Mal seine Meinung geändert. Kann man sich das vorstellen? Die armen Arbeiter müssen verrückt geworden sein.) Schließlich endete der Gang in einer großen, unfertigen Kammer, die in den roten Sandstein gehauen war. Es fiel mir schwer, nicht an die vielen Tonnen von Stein zu denken, die sich über meinem Kopf auftürmten. Auch das Atmen machte hier unten Mühe, als ob nicht genügend Luft in die Kammer kam. In der Felswand entdeckte ich eine nette kleine Spalte, in die ich hineinkroch. Es war ganz leicht, die Augen zu schließen und sich die Arbeiter vorzustellen, die vor über dreitausend Jahren die Wände bearbeitet hatten und die Kammer mit ihren einfachen Werkzeugen leer geräumt hatten. Wenn ich es ganz fest versuchte, konnte ich fast das Kratzen dieser Werkzeuge auf der Felswand hören. Moment mal. Ich öffnete die Augen. Das Kratzen konnte ich immer noch hören. Es kam aus dem Gang. Aber wer außer mir würde sich in einen abgesperrten Gang wagen? Ich hatte mich gerade damit beruhigt, dass es nur ein anderer neugieriger Tourist war, als ich die ersten Schritte in der Kammer hörte. Jemand flüsterte. Auf Deutsch. Ich sah mich um und suchte nach Fluchtmöglichkeiten. Es gab keine. Die Kammer war eine Sackgasse ohne gutes Versteck. 271
Eine andere Stimme flüsterte etwas zurück. Diese Stimme kam mir bekannt vor. Ich hatte sie schon einmal gehört, aber wo? Ich spürte, wie die Männer weiter in die Kammer traten. So weit wie möglich drückte ich mich gegen die Wand und sah nach unten, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Die drei Schattengestalten gingen an mir vorbei. Die Männer vom Basar schlichen vorwärts, zu einer kleinen höhlenartigen Nische am Ende der Kammer. Ich machte mich bereit. Sobald sie so weit wie möglich in der Kammer verschwunden waren, musste ich handeln. Oh, wie sehr wünschte ich mir, dass ich eines von Henrys Ablenkungsmanövern zur Hand gehabt hätte! Langsam, um kein Geräusch zu machen, richtete ich mich auf. Leise raschelte mein Rock. Ich erstarrte. »Was war das?«, fragte eine Stimme auf Deutsch. Da sie nichts weiter hörten, gingen sie weiter. Als sie die Nische erreichten, kniete sich einer von ihnen nieder, während die beiden anderen über seine Schulter blickten. Jetzt. So leise wie möglich rannte ich zum Gang. »Dort ist sie! Ihr nach!« Mein Herz setzte vor Entsetzen fast aus, und ich musste mich zwingen, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Ich erreichte den Gang und zog den Kopf ein, als ich den steilen Weg hinaufrannte. Meine Verfolger mussten sich tief bücken, um hindurchzukommen, was ihr Tempo sicher so weit verringern würde, dass ich eine Chance hatte. Bald brannten meine Beine von dem steilen Anstieg, meine Schenkel glühten und zuckten grimmig. Von der unbequemen Kopfhaltung bekam ich einen steifen Hals. 272
Ich konnte sie hinter mir hören, laut hallten ihre Schritte im Gang. Sie atmeten schwer und fast konnte ich ihren heißen Atem in meinem Genick spüren. Endlich. Licht vor mir. Fast geschafft. Ich riskierte einen Blick nach hinten und stellte befriedigt fest, dass sie einigen Abstand hatten. Schließlich schoss ich aus dem Schacht und überraschte damit ein Dutzend Touristen, die sich auf der unteren Galerie herumtrieben. Ich hielt mir den Hut fest und sauste die Treppenstufen zu dem erstaunten Nabir hinunter. »Komm!«, rief ich. »Sie haben uns gefunden!« Das musste ich ihm nicht zweimal sagen. Im Galopp rannten wir beide zur Straßenbahnhaltestelle. Mit einem zornigen Ausruf traten meine Verfolger aus der Pyramide und erblickten uns. Wir waren fast an der Haltestelle, als ich entsetzt eine der elektrischen Bahnen nach Kairo abfahren sah. Die nächste würde erst in ein paar Stunden kommen. Das bedeutete, dass wir in der Falle saßen. »Wir müssen diese Bahn erreichen!«, schrie ich Nabir zu. Er nickte und lief voraus. Glücklicherweise sind die elektrischen Straßenbahnen nicht sehr schnell, besonders nicht, wenn sie gerade anfahren. Nabir sprang auf, wobei er eine Menge Leute anrempelte, drehte sich um und hielt mir die Hand hin. Ich nahm sie, kletterte hinauf und entschuldigte mich wortreich bei allen Umstehenden. Beim Abfahren konnte ich meine Verfolger sehen. Sofort erkannte ich von Braggenschnott. Selbst wenn ich sein Gesicht nicht in der Zeitung gesehen hätte, hätte ich doch die kalten, grausamen Augen vom Kirchhof von St. Pauls erkannt. Das Gesicht des zweiten Mannes war immer noch von seinem Tuch verdeckt, aber das 273
des dritten Mannes konnte ich deutlich erkennen. Hohe, blasse Wangenknochen, eine lange, dünne, am Ende leicht gebogene Nase und auffallend wenig Kinn. Es war Tetley aus dem British Museum!
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Ein Wettrennen nach Theben
MEINE ELTERN ERFUHREN NIE ETWAS von der gefährlichen Begegnung an den Pyramiden. Nabir ist fast so gut darin, Geheimnisse zu bewahren wie ich. Früh am nächsten Morgen waren wir schon wieder unterwegs, um noch so einen scheußlichen Zug zu nehmen. Man stelle sich vor, zwanzig Stunden in einem heißen, staubigen Ofen zu verbringen, der wie ein Gummiball auf und ab hüpft, dann weiß man ungefähr, wie das ist.
Mitten in der Nacht kamen wir in Theben an. Dennoch wurden wir sofort von einem der einheimischen Beamten begrüßt. Zuerst hielt ich das für ein Zeichen des Respekts vor der Stellung meiner Eltern. Doch als diese bei dem schnellen arabischen Wortschwall zusehends betrübter dreinsahen, erkannte ich, dass etwas nicht in Ordnung war. Vater konnte es nicht länger aushalten. »Verdammt noch mal!«, schrie er. »Wann ist das passiert?« Da mein Vater angefangen hatte, wechselte auch der Beamte zu Englisch. »Vor zwei Tagen, mein sehr verehrter Herr.« 275
Ich kam näher, um zuzuhören. Vater fuhr sich mit den Händen durchs Haar. »Das ist dieser verdammte Snowthorpe, ich weiß es!« Mum streckte die Hand aus, um ihn zu beruhigen. »Alistair, ich bezweifle wirklich, dass er so weit gegangen wäre, unsere Unterkunft niederzubrennen. Es könnte auch ein Unfall gewesen sein. In diesem Teil des Landes sind Brände nicht ungewöhnlich.« Aber Vater hatte natürlich recht. Fast. Ich hatte keinen Zweifel, dass es kein Unfall gewesen war. Aber es waren von Braggenschnott und dieser Verräter Tetley gewesen, nicht das British Museum. Ich hatte gehofft, dass ich sie an der Großen Pyramide losgeworden war. Obwohl dieser Gedanke eigentlich dumm war, wenn ich genauer darüber nachdachte. Wenn sie wussten, wo das Herz Ägyptens hergekommen war, und das wussten sie, dann würden sie auch wissen, wohin wir wollten. Es gab eine Menge Erklärungen (von den Beamten), eine Menge Geschimpfe (von Vater) und eine Menge Beschwichtigungen (von Mutter). Schließlich hatten sich alle beruhigt, und wir wurden zu einem Bungalow gebracht, der in aller Eile für uns vorbereitet worden war. Am Morgen könnten wir uns nach einer neuen Unterkunft umsehen. Kurz nachdem die Träger unser Gepäck abgesetzt hatten, klopfte es erneut an der Tür. Also wirklich! Schläft denn hierzulande nie jemand? »Was gibt es denn jetzt schon wieder?«, hörte ich Vater fragen, als Nabir die Tür öffnete. »Ein Telegramm für den allergnädigsten Herrn«, informierte ihn Nabir. Ein Telegramm … das hörte sich nicht gut an. 276
Der Mann vom Telegrafenamt reichte Vater einen dünnen Umschlag, verneigte sich, als Vater ihm dankte, und wartete, während er ihn öffnete. Mum sah Vater über die Schulter und las mit ihm. Sie griff sich mit der Hand an die Kehle und stieß einen leisen Schrei aus. »Oh nein, Alistair!« In ihrer Stimme lag pure Verzweiflung und mein Nacken kribbelte unangenehm. Vater legte Mum den Arm um die Schultern. »Mach dir keine Sorgen, Henrietta. Er ist ein kräftiger Junge. Er wird es überstehen.« Henry! Irgendetwas war mit Henry! »Wir müssen sofort zurück!«, rief Mutter. »Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn …« Ihre Stimme versagte. »Wenn ihm etwas passierte, während wir so weit weg sind. Du weißt, wie schlimm diese Grippe ist. Ich kann den Gedanken nicht ertragen …« Sie brach plötzlich ab und vergrub das Gesicht an Vaters Schulter. Henry hatte die Grippe bekommen! Ich schlang die Arme um mich selbst. Grippe war unangenehm nah mit der Pest verwandt. Sosehr ich auch versuchte, es zu verhindern, ich musste unwillkürlich an Amenemhabs Worte denken. Möge Eure Rache an den Feinden von Thutmosis schnell und schrecklich sein, möge Sachmet ihre Herzen verschlingen und Ammit sich an ihren Köpfen laben. Möge sich ihr Land rot färben mit ihrem Blut, bis sie das Herz Ägyptens an seinen rechtmäßigen Platz zurückbringen und es dir wieder zu Füßen legen, damit der Ruhm von Thutmosis erneut erstrahlt. Und Mum wollte sofort nach Hause zurückkehren! Das wäre das Schlimmste, was passieren konnte, denn ich hatte das Herz Ägyptens noch nicht zurückgebracht. Wenn Mum schon so verzweifelt darüber war, so weit 277
von dem kranken Henry fort zu sein, dann musste sie sich doch noch viel schlechter fühlen, wenn sie erfuhr, dass sie auch dafür verantwortlich war. Mir lief die Zeit weg. Ich musste das Herz Ägyptens so schnell wie möglich zum Grab bringen.
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Das Tal der Könige
ICH WURDE INS BETT GESCHICKT, während Mum und Dad bis spät in die Nacht aufblieben und versuchten, Vorbereitungen zu treffen und sich Gedanken um Henrys Gesundheit zu machen. Sie schliefen immer noch, als ich mich bei Tagesanbruch aus dem Haus schlich. Ich hatte eine Verabredung mit dem Grab von Thutmosis III. Am schwierigsten war es gewesen, Nabir dazu zu überreden, mich allein ins Tal der Könige zu bringen. Glücklicherweise hatte er bereits genug Erfahrung mit meinem Dickkopf. So dauerte unsere Diskussion nicht lange und kurz darauf waren wir unterwegs. Bald schon brannte die Sonne erbarmungslos. Ich hatte das Gefühl, mein Kleid glühte, und das Päckchen, das ich trug, wurde unglaublich schwer. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich wirklich dankbar für meine Kopfbedeckung. Mums alter Tropenhelm verhinderte, dass mein Gehirn wie ein Frühstücksei gekocht wurde. Wir schlängelten uns durch erstaunlich viele Schluchten, bis Nabir mich schließlich zu einem schmalen Spalt am tiefsten Grund des Tals der Könige führte. Ich war unglaublich aufgeregt, die Gräberstadt zum ersten Mal aus der Nähe zu sehen, ganz zu schweigen von den Gräbern 279
der Pharaonen. Mein ganzes Leben lang hatte ich von ihnen erzählen hören, hatte mich täglich mit den historischen Funden beschäftigt und Stunden damit verbracht, ihre Bedeutung herauszufinden. Und jetzt, sie tatsächlich so im Ganzen vor mir zu sehen, so wie sie ursprünglich geplant und gebaut worden war, nicht in kleinen Einzelteilen … Es war, als ob ich vor den perlenbesetzten Himmelstoren stünde. Das Grab von Thutmosis III. war das letzte im Tal. Nur ein einziger Mann hielt Wache. Er erkannte Nabir und sie wechselten ein paar Worte auf Arabisch, dann ließ er uns vorbei. Nabir führte mich zur hintersten Ecke und hielt vor einer kleinen Höhle an. Er schlüpfte hinein und kehrte gleich darauf mit einer langen Leiter zurück. Das sah ja nicht sehr vielversprechend aus. Er brachte die Leiter zu einer Spalte in der Felswand. Als ich nach oben blickte, konnte ich eine kleine Öffnung erkennen, etwa zehn bis fünfzehn Meter über mir. Nabir lehnte die Leiter an die Wand. Sie reichte gerade. Ganz knapp. Offensichtlich sollte sie die Lücke zwischen dem Leiterende und der Graböffnung für einen Erwachsenen schließen, nicht aber für eine Elfjährige. Ich seufzte auf. Nabir winkte mich zur Leiter. »Gib mir ein oder zwei Stunden«, bat ich. »Dann sollte ich fertig sein.« Er nickte. »Zwei Stunden. Nabir hier warten.« »Gut.« Ich holte tief Luft, setzte den Fuß auf die unterste Sprosse der Leiter und begann hinaufzuklettern. Obwohl Nabir das Ding festhielt, war es eine wackelige Angelegenheit, und ich musste mich ermahnen, nicht hinunterzusehen. Auf halber Höhe fiel mir ein, dass Nabir wohl eine 280
ziemlich gute Aussicht auf meine Unterhosen hatte. Heftig errötend sah ich nach unten und stellte erleichtert fest, dass er höflich wegsah. Ein guter Mann, unser Nabir. Schließlich erreichte ich die vorletzte Sprosse und hielt zögernd an. Von dort aus konnte ich mich nur noch am nackten Fels festhalten. Ich betrachtete die Entfernung zwischen der letzten Sprosse und dem schmalen Absatz darüber. Meiner Meinung nach konnte ich ihn erreichen. Hoffentlich. Erneut holte ich tief Luft und setzte einen Fuß auf die oberste Sprosse. Mein Magen machte einen entsetzten Sprung, als die ganze Leiter wackelte, und meine Finger hielten sich krampfhaft am rauen Fels fest. Ich griff nach oben, bis ich den Vorsprung erreichte. Erleichtert atmete ich auf, bis ich an die Skorpione in unserem Zimmer im Shepheard-Hotel denken musste. Diese heiße, trockene Umgebung war noch viel mehr nach ihrem Geschmack. Und auch nach dem von Kobras und Nattern. Man braucht erstaunlich viel Mut, seine Hand an einen Ort zu legen, den man nicht einsehen kann, wenn man an Ungeziefer denken muss. Ich biss die Zähne aufeinander und zog den anderen Arm nach, sodass ich mich auf den Vorsprung ziehen konnte. Mit den Armen zog ich mich hoch und spürte, wie meine Stiefel den Halt auf der Leiter verloren. Ich strampelte mit den Füßen, um irgendwo Unterstützung zu finden. Ich strengte mich sehr an und wünschte mir, ich hätte kräftigere Armmuskeln. (Ich nahm mir vor, mit dem Boxen anzufangen, wenn ich nach London zurückkehrte, oder vielleicht auch Ringen mit Henry.) Mit einem langen, scharfen Ratschen über meinen 281
Bauch konnte ich mich schließlich auf den Vorsprung ziehen. Ich blieb auf dem Bauch liegen, die Füße noch über dem Rand, rang keuchend nach Luft und lockerte meine schwachen, zitternden Arme. »Miss in Ordnung?«, rief Nabir nach oben. Schnell zog ich mich vom Rand fort und drehte mich um, damit er mein Gesicht sehen konnte (anstelle meiner Unterhosen; noch etwas wollte ich mir merken: Hosen wären ganz praktisch). »Ja, Nabir, alles klar. Danke.« Ich hielt zwei Finger hoch. »Zwei Stunden.« Nabir lächelte, trollte sich in den Schatten und machte es sich bequem.
Als ich im Höhleneingang stand, überkam mich ein seltsames Prickeln, das mir alle Haare zu Berge stehen ließ. Die Luft war so voller Ka und Heka, dass ich schon fürchtete, daran zu ersticken. Es drang kaum Tageslicht in den Schacht, daher hielt ich lange genug, um eine Fackel aus meinem Päckchen zu nehmen und anzuzünden. Eine alte, brüchige Treppe führte nach unten, und ich konnte nur hoffen, dass ich nicht ausrutschte und mir das Genick brach. Auf der ersten Stufe prüfte ich, ob sie mein Gewicht tragen würde. Da sie nicht zusammenbrach, hielt ich meine armselige Fackel hoch und ging vorsichtig weiter. Im flackernden Fackelschein tauchten Relieffiguren auf, aber ich konnte nicht erkennen, was sie darstellten. Ich riss mich los und nahm mir vor, sie genauer zu betrachten, wenn ich das Herz Ägyptens zurückgebracht hatte. 282
Ich erreichte den ersten Gang (dessen Wände mit noch schöneren Reliefs verziert waren), der zu einer zweiten brüchigen Treppe führte, die ebenfalls nach unten ging. Am Ende dieser zweiten Treppe erwartete mich ein tiefer Schacht. Ich starrte in die gähnende Schwärze zu meinen Füßen. Wozu um Himmels willen diente er? Hatte er irgendeinen vernünftigen Grund, wie zum Beispiel im Falle einer Überflutung, Wasser abzuleiten? Oder hatte er einen rituellen, magischen Zweck, wie zum Beispiel fallende Geister aufzufangen? Glücklicherweise hatten Mutters Arbeiter eine Planke über den Abgrund gelegt. Vorsichtig einen Fuß vor den andren setzend, schritt ich über den gähnenden Schlund. Als ich glücklich hinübergelangt war, fand ich mich in einer größeren Kammer wieder. Nach einem weiteren Schritt stolperte ich über einen Stapel langer, dünner Gegenstände. Knochen!, dachte ich sofort. Ich zuckte zusammen bei dem unglaublichen Lärm, den sie machten, und mir kam der Spruch »Laut genug, um Tote aufzuwecken« in den Sinn. Ich ließ den Lichtschein darauf fallen und stellte erleichtert fest, dass es nur ein Haufen Fackeln war. Gut gemacht, Mum! Sie musste ja etwas Licht hier haben. Schnell zündete ich eine weitere Fackel an und stellte fest, dass Mutters Arbeiter Halterungen an den Wänden angebracht hatten. Ich steckte eine der Fackeln hinein und zündete dann genug davon an, um alle Halterungen damit zu füllen. Es ist erstaunlich, was ein bisschen Licht für die Moral tun kann. Der größte Teil der Kammerwände war mit Reliefs verziert. Die Ostwand war mit Hieroglyphen bedeckt. Es sah aus wie der vollständige Text des ägyptischen Totenbuchs. 283
Auf der Wand daneben war Thutmosis III. abgebildet, der von Anubis an der Hand genommen wurde. In der anderen Hand hielt Anubis … das Was-Szepter! Zögernd streckte ich die Hand aus und strich mit der Hand über Anubis. Vor mehr als dreitausend Jahren hatte ein ägyptischer Arbeiter dieses Bild in den Stein gehauen. Genug!, schalt ich mich selbst. In diesem Tempo würde ich das Herz Ägyptens nie an seinen letzten Ruheort bringen und das Schicksal Großbritanniens wenden können. Entschlossen ging ich zur Tür in der hinteren Wand. Die Fackel fest in der Hand und meine aufsteigende Furcht bekämpfend, trat ich über die Schwelle. Ein leises Flüstern empfing mich, als ob tausend uralte Stimmen in längst vergessenen Sprachen an meinen Ohren flatterten, Götter, Flüche und Segnungen beschworen. Die Dichte der Magie und Macht in der Luft verursachte mir Gänsehaut. Auf meinem Weg die Treppe hinunter wurde die alte Magie so stark, dass ich das Gefühl hatte, gegen einen Strom anzuschwimmen. Die tausend Stimmen wurden lauter und stöhnten, ob warnend oder resigniert, konnte ich nicht sagen. Ich flüsterte zurück: »Keine Angst. Ich bin nur hier, um etwas zurückzugeben, das euch gehört.« Das Flüstern wurde etwas leiser und der Widerstand in der Luft schwächer. Faszinierend! Ich straffte die Schultern und trat von der letzten Stufe in eine noch größere Kammer. Die Macht und das Gewicht der Magie im Raum ließ mich nach Luft schnappen. Sie drückte mich geradezu hinunter, so stark, dass ich fürchtete, meine Knie würden nachgeben. Wie konnten Mum und ihr Team das aushalten? Es war, als ob man versuchte, unter Wasser zu atmen. 284
Ich ignorierte das Gefühl so gut wie möglich und hielt die Fackel hoch. Die Grabkammer von Thutmosis III. erglühte gespenstisch um mich herum. Am anderen Ende der Kammer stand ein riesiger roter Sarkophag. Wäre es nicht schön, wenn ich nur das Herz Ägyptens in den Sarkophag legen müsste und mich fröhlich auf den Heimweg machen könnte? Aber das würde natürlich nicht funktionieren. Der Erste, der nach mir hier hereinkam, würde es finden und der verflixte Fluch würde erneut zu wirken beginnen. Ich ging an einem Bild von Osiris vorbei, der geduldig wartete, bis Anubis das Herz von Thutmosis gewogen hatte – der Seelenverschlinger riss seinen Krokodilrachen auf und hoffte wohl auf einen leckeren Imbiss –, und zum östlichen Anbau, der zu Mums neuester Entdeckung führte: dem Grab des Kriegsministers. In diesem Gang war die Luft noch schlechter. Die Magie war hier anders, schwerer, schwärzer, leicht nach Schwefel riechend. Ich ignorierte das Gefühl einer ganzen Armee von Käfern mit Eisfüßen auf meinem Rücken. Glücklicherweise gab es auch in dieser Kammer einen Vorrat an Fackeln, sodass ich ein paar anzünden und in die Wandhalterungen stecken konnte. Ich konnte sehen, dass Mum kaum an der Oberfläche von Amenemhabs verborgenen Schätzen gekratzt hatte. Auf dem Boden lagen ganze Haufen von Funden, die erst sehr provisorisch sortiert worden waren. Auf den ersten Blick sah ich nichts, das dem Was-Szepter auch nur entfernt ähnlich sah. Aber es gab einen Haufen Zeug zu sichten. Das konnte Stunden dauern. Aber ich hatte keine Stunden. Ich hoffte, dass mir die Wandmalereien etwas über das Herz Ägyptens sagen würden und was ich tun musste, 285
um es zurückzugeben. Also wandte ich ihnen wieder meine Aufmerksamkeit zu. Plötzlich trat ich erschrocken zurück. Die Wände hier waren mit grausamen und entsetzlichen Kriegszenarien bedeckt. Thutmosis III. überragte seine Feinde bei Weitem, er zertrat mit den Füßen ihre Köpfe, während er ihnen den Speer in die Brust stieß. Zu seinen Füßen lagen gefallene Krieger und abgeschlagene Köpfe auf einem Haufen daneben. Die Künstler in diesem Grab waren mit der roten Farbe sehr freigiebig umgegangen, sie breitete sich überall auf den Wänden aus, als ob die Künstler tatsächlich auf die blutige Herrschaft von Thutmosis hinweisen wollten. Während ich die Reliefs betrachtete, hörte ich das Geräusch von Füßen auf den Sandsteinstufen. Ich erstarrte. »Nabir? Bist du das?« Ich erhielt keine Antwort. Möglicherweise war es nur das Grab selber, in dem sich der Sand verschob und wieder setzte. Aber warum stellten sich dann alle meine Nackenhaare auf? Wild sah ich mich in der Grabkammer um und suchte nach einem Versteck, das am Ende nicht auch mein eigenes Grab sein würde. Nicht der Altar. In den Schrank darunter passte ich wohl hinein, aber dort würde man wahrscheinlich als Erstes suchen. (Außerdem wurden dort die Kanopen aufbewahrt und ich wollte mich nun wirklich nicht neben Amenemhabs Eingeweiden verstecken. Meine Nerven waren auch so schon gespannt genug.) Ich steckte die Fackeln in eine der Wandhalterungen und quetschte mich in einen engen Spalt zwischen zwei Anubisstatuen. Kaum war ich außer Sichtweite, als der erste Schritt auf dem unebenen Boden der Grabkammer selbst knirschte. 286
Und dann hörte ich etwas, was meine schlimmsten Befürchtungen bestätigte. »Eins, zwei, drei, ich komme, kleines Mädchen!«, erklang eine singende Stimme mit einem starken deutschen Akzent. Von Braggenschnott! Oder einer seiner Henker. Das alte Kinderspiel von dieser Stimme so grausam imitiert zu hören, ließ in mir den Wunsch aufkommen, mir die Finger in die Ohren zu stecken und zu summen. Stattdessen hielt ich mein Amulett fest und sprach so viele Gebete, wie mir einfallen wollten an alle, die eventuell zuhörten. Was um Himmels willen sollte ich tun? Ich bin nur ein elfjähriges Mädchen, kein Geheimagent! Auch wenn ich schlauer bin als die meisten, habe auch ich meine Grenzen. Und an die bin ich offenbar soeben gestoßen.
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Unwillkommene Gesellschaft
ICH HÖRTE WEITERE SCHRITTE in die Kammer kommen, dann noch welche. Sie waren zu dritt! Wie sollte ich an dreien von ihnen vorbeikommen? Und wie waren sie an Nabir vorbeigekommen? Mir kam ein schrecklicher Gedanke. Hatten sie Nabir etwas getan? Fast hätte ich mich vor lauter Schuldbewusstsein übergeben. Ich hatte gebettelt und gebeten, dass er mich hierher brachte. Wenn er verletzt worden war, dann war es meine Schuld. Von Braggenschnott stimmte wieder sein kleines Liedchen an: »Komm heraus, komm heraus, wo immer du auch bist. Du hast etwas, das dir nicht gehört und das ich wiederhaben will.« In der Stille der Kammer dröhnten die Schritte laut, als die anderen begannen, nach mir zu suchen. Etwas Schweres scharrte über den Boden, weil sie die Sachen fortzogen, um in jeden Winkel schauen zu können. Ich drückte mich eng gegen die Wand. Während sich meine feuchten Hände an den rauen Fels hinter mir pressten, fiel mir eine Überlieferung zur Magie ein, die ich in Cyril Profundicus’ Altägpytische magische Weisheiten und 288
Verfahren gelesen hatte. Die alten Ägypter glaubten, dass Staub, den man von den Reliefs in den Gräbern abkratzt, magische Eigenschaften hat. Wenn ich je zusätzliche magische Vorteile gebraucht hatte, dann jetzt. Mit dem Fingernagel begann ich am Sandstein hinter mir zu kratzen, um etwas Staub zu sammeln. Dabei richtete ich meine Aufmerksamkeit auf die Suchenden und ignorierte, dass meine Fingernägel an der Wand zersplitterten. Der Sandstein war mit der Zeit weich geworden und nicht lange darauf hatte ich in jeder Hand ein wenig Staub. Sorgfältig nahm ich ihn in die Rechte und schob ihn dann in meine Tasche. Hoffentlich hatten die alten Ägypter den guten Profundicus nicht nur an der Nase herumgeführt. Von Braggenschnott rief einen Befehl auf Deutsch und erhielt eine leise, grummelnde Antwort. Vielleicht vermuteten sie lediglich, dass ich das Herz Ägyptens hatte. Sie konnten nicht absolut sicher sein. Vielleicht konnte ich bluffen. »Es hat wirklich keinen Sinn, sich zu verstecken, mein Fräulein«, fuhr von Braggenschnott fort. »Wir sind zu dritt und du bist allein. Du kannst nicht entkommen und riskierst nur, uns zornig zu machen.« Bei den letzten Worten klang seine Stimme hart. Ich sah mich hektisch nach etwas anderem um, mit dem ich mich verteidigen konnte. Ich starrte den Altar an, als ob ich dort durch pure Willenskraft etwas erscheinen lassen könnte. Doch dort lagen nur ein paar kleine Wachs- und Tonfiguren. Schon wollte ich mich abwenden, als mir etwas von Nektanebos einfiel. Obwohl es hoffnungslos erschien, nahm ich eine der Figuren. Aus dem Wachs sahen ein paar Haare und ein beschriftetes Stück Papyrus hervor. Ja, es war eine Exekrationsfigur 289
(die ägyptische Version einer Voodoo-Puppe). Mit etwas Glück konnte ich ihren Zauber anzapfen und meine Feinde damit zurückschlagen. Oder zumindest aufhalten. Die Schatten an der Wand ragten bedrohlich auf, als die Männer näher kamen. Sie waren unheimlich leise, während sie sich sorgfältig zu mir vorarbeiteten. Schnell begann ich mit einem meiner abgebrochenen Fingernägel neue Symbole in das Wachs zu ritzen, das Symbol, um Macht anzurufen, und eines, um meine Feinde zu vernichten. Dann hielt ich inne. Jetzt wurde es schwierig, denn ich musste die Namen der Männer erraten, und zwar genau, sonst war der Zauber unwirksam. Ich war mir fast sicher, dass der, der redete, von Braggenschnott war und fast sicher, dass es sich bei einem der anderen um Tetley handelte. Aber ich musste mir ganz sicher sein. »Ich bin dieses Spiel langsam leid«, verkündete von Braggenschnott. »Wenn du nicht kooperierst, lasse ich dich von meinen Männern in einem Sarkophag einsperren, bis du Manieren lernst!« Ich holte tief Luft. »Ha! Ich pfeif auf Ihre Drohungen!«, rief ich. »Ich habe keine Angst vor Sarkophagen. Ich hab schon oft darin geschlafen, da ist nichts dabei!« »Schon möglich«, kicherte von Braggenschnott, ein echt ekliges Geräusch. »Aber ich schätze, in deinem Sarkophag ist keine Mumie; in dem, der mir vorschwebt, schon.« Mein Herz begann rasend schnell zu schlagen und meine Handflächen wurden feucht. In einen Sarkophag mit einer Mumie eingeschlossen werden? Bei dem Gedanken wurden mir die Knie weich. »Sie bluffen! Mum hat hier gar keine Mumien gefunden!« »Ts! Meinst du etwa, das ist die einzige Ausgrabung, 290
um die wir uns kümmern? Nein. Wir haben ein Auge auf alle. Wie auch immer«, meinte er drohend, »wenn du mich wirklich wütend machst, dann ziehen wir dir das Gehirn durch die Nase heraus, wie die alten Ägypter es getan haben. Nur, dass du dabei lebendig sein wirst, um es aus erster Hand mitzuerleben! Wäre das für jemanden, der so neugierig ist wie du, nicht eine interessante Erfahrung?« Ich schluckte. Zu meiner Linken erklang ein Geräusch. Ich sah auf und erblickte einen der Männer, der sich über die Anubisstatue beugte und mich angrinste. Es war Tetley! Immerhin, jetzt hatte ich einen Namen, dessen ich mir sicher war. Um ein oder zwei Augenblicke Zeit zu gewinnen, ging ich gebückt um die Anubisstatue herum zur anderen Seite des Leichenkarrens, der an der Wand lehnte. Während ich Tetleys Namen in das Wachs ritzte, begann ich die rituellen Flüche zu flüstern. Gerade als ich die letzte Hieroglyphe fertig hatte, erschien erneut Tetleys hässliches Gesicht vor mir, so nah, dass ich ihn hätte in die Nase kneifen können. Jetzt blieb mir nur noch ein Fluchtweg. Man würde mich deutlich sehen können, aber zumindest hätte ich genug Platz, um nach beiden Seiten ausweichen zu können, und säße nicht wie eine Maus in der Falle. Ich richtete mich auf und rannte so schnell ich konnte zur hinteren Wand.
Als die drei sich nach mir umwandten, wurde es totenstill in der Grabkammer. Die Grabwand fest im Rücken und die Exekrationsfigur 291
in den Falten meines Rockes verborgen, starrte ich meine Verfolger an. Sogleich erkannte ich von Braggenschnott. Und Tetley. Und – ich stöhnte entsetzt auf. »Sie?« »Ja, ich«, antwortete Nigel Bollingsworth. »Wen hast du denn erwartet, Theo?« Endlich fand ich meine Sprache wieder. »Ich … ich war sicher, dass Clive Fagenbush der Verräter ist!« Eine tiefe Welle der Erleichterung überkam mich. Zumindest war es nicht Mutter! Nigel lachte. »Fagenbush! Ich wusste, dass er nützlich sein würde. Nein, ich fürchte, er ist nicht der Verräter, nur eine willkommene Ablenkung. Deshalb habe ich deinen Vater dazu ermuntert, ihn einzustellen. Er sieht so unglaublich verdächtig aus, dass ich wusste, dass sich alle Augen auf ihn richten würden, sobald irgendwo etwas schiefging.« »Aber warum arbeiten Sie für die Deutschen?«, fragte ich. »Sie sind doch Brite!« Ein leises, schiefes Lächeln erschien auf seinem Gesicht. »Ist dir in deinem schlauen kleinen Köpfchen noch nicht der Gedanke gekommen, dass ich gar nicht für die Deutschen arbeite, sondern für die Chaosschlangen?« »Die Mächte des Chaos haben sich wieder erhoben«, wisperte ich. »Ach«, unterbrach von Braggenschnott, »du weißt also von unserer kleinen Gruppe?« »Ich habe davon gehört. Einmal. Von dem Mann, den Sie auf dem Kirchhof zu ermorden versuchten!« »Das war ungeschickt. Normalerweise machen wir solche Fehler nicht.« »In den letzten Wochen haben Sie offenbar mehrere gemacht«, meinte ich. Von Braggenschnott drohte mir mit dem Finger. »Du 292
bist nicht in der Position, uns zu beleidigen, kleines Fräulein. Dir stünde ein bisschen Unterwürfigkeit besser an.« Ich richtete mich zu meiner vollen Größe auf, hob das Kinn und setzte meinen besten Großmutter-ThrockmortonBlick auf. »Ich werde mich nie unterwerfen!« Von Braggenschnott kniff die Augen zusammen und machte einen Schritt auf mich zu. »Du wirst deine Unverschämtheit noch bereuen!« Ich brauchte unbedingt mehr Zeit, daher fragte ich: »Warum arbeiten die Chaosschlangen denn für Deutschland? Großbritannien könnte Ihnen doch mindestens genauso viel zahlen?« Von Braggenschnott lachte, ein böses, raues Lachen, das mich zusammenzucken ließ. »Siehst du das denn nicht? Wir arbeiten nicht für Deutschland. Wir lassen Deutschland für uns arbeiten. Im Moment passt es uns gut, Kaiser Wilhelm zu unterstützen. Sein gigantisches Ego und die großen Pläne für sein Land lassen sich ausgezeichnet für unsere Zwecke nutzen.« Ich fürchtete mich, die nächste Frage zu stellen, aber noch mehr davor, sie nicht zu stellen: »Und was genau sind Ihre Pläne?« Wieder dieses Lächeln. »Nun, ich hätte gedacht, dass du das verstehst. Absolutes Chaos, kleines Fräulein. Wir wollen, dass Deutschland Großbritannien an die Kehle geht. Wir wollen, dass Großbritannien in der Defensive ist und dumme, hastige Entscheidungen trifft, die es normalerweise nie treffen würde. Dann wird Österreich Deutschland unterstützen. Dadurch wird sich Serbien bedroht fühlen, und zwar mit Recht. Frankreich wird sich natürlich auf die Seite seines alten Freundes Großbritannien stellen, und somit ist Russland gezwungen, ebenfalls Stellung zu beziehen. Italien wird schließlich nichts 293
anderes übrig bleiben, als mitzumachen. Ganz Europa wird sich ankläffen und gegenseitig an die Kehle gehen wie tollwütige Schakale. Und währenddessen kommen wir, unbehelligt, und reißen die schlaffen Zügel der Weltherrschaft an uns.« »Sie sind verrückt«, sagte ich weniger entschieden als beabsichtigt. »Sie reden davon, die ganze Welt miteinander Krieg führen zu lassen. Sie bringen völliges …« »… Chaos. Genau. Und an welchem Ort könnte man es besser finden als im alten Ägypten, wo das Chaos nur einen Fluch weit entfernt ist? Die Plagen von Thutmosis III. und Amenemhab wüten bereits in Großbritannien. Es wird schwächer. In ein paar Tagen wird es gezwungen sein, einen Vertrag zu unterzeichnen, der Deutschlands Ambitionen unterstützt. Und unsere. Ein brillanter Plan, findest du nicht? Alles, was wir dazu tun mussten, war, deine Mutter in ihrem Tun zu unterstützen.« »Nun, nicht ganz. Sie haben ihr das Herz Ägyptens gestohlen, damit sie es nicht zurückbringen konnte.« Er legte den Kopf schief. »Und du glaubst, sie hätte es zurückgebracht?« »Natürlich hätte sie das getan! Wenn sie die ganze Geschichte gekannt hätte!« Er ignorierte mich. »Ägypten ist seit Anbeginn der Zeiten die Heimat magischer Macht, aber nur wenige Menschen hatten bislang den Mut, sich diese Macht zunutze zu machen. Bis wir kamen.« »Sie haben also ägyptische Magie gelernt?«, höhnte ich. »Na, dazu gehört nicht viel. Viele Leute wissen davon.« »So wie du«, sagte von Braggenschnott leise. Er legte den Kopf schief und sah mich an. »Ja, du hast recht interessante Kräfte. Was der einzige Grund ist, dass du 294
überhaupt noch lebst, kleines Fräulein. Wir sind begierig, alles zu erfahren, was du weißt. Und das werden wir auch.« Ich musste ein Schaudern unterdrücken bei dem Gedanken, dass von Braggenschnott und seine Männer mir mein magisches Wissen zu entreißen versuchten. »Es gibt auch noch andere, nicht nur mich.« »Pah!« Von Braggenschnott verwarf diesen Gedanken. »Diese unfähige Bruderschaft macht mir keine Sorgen. Die sind gar nichts. Schwache, dumme Männer, die Angst haben, die Macht an sich zu reißen, die sich genau vor ihrer Nase befindet. Doch jetzt genug davon!«, rief von Braggenschnott. »Tetley! Es ist Zeit, Ihre Fehler wiedergutzumachen!« Tetley kam mit einem sehr unfreundlichen Lächeln hinter dem Leichenkarren hervor direkt auf mich zu. Offenbar war er nicht erfreut, dass ich ihn in solche Schwierigkeiten gebracht hatte. Ich hatte keine anderen Möglichkeiten mehr, also nahm ich die kleine Wachsfigur in die Hand. Ich konnte nur hoffen, dass ich die Magie nicht zu sehr durcheinandergebracht hatte. Ich wartete, bis Tetley noch zwei weitere Schritte gemacht hatte, dann nahm ich das linke Bein der Wachsfigur in die Hand. Die mächtigen alten Sprüche singend, brach ich das Bein der Statue mit einem leisen Knack glatt ab. Tetley schrie auf und griff sich an sein linkes Bein, das unter ihm einknickte. Ohne zu überlegen, wiederholte ich das Ganze am rechten Bein. Tetley heulte noch einmal auf und stürzte dann zu Boden. Bollingsworth kam auf mich zu, aber von Braggenschnott winkte ihn zurück. »Du scheust dich also nicht, 295
die antike Magie für deine eigenen Zwecke einzusetzen, was, kleines Fräulein? Und du hast Tetley schon wieder überrumpelt.« Mit kalter, harter Stimme wandte er sich dem Mann zu, der bewusstlos am Boden lag. »Zwei Mal hat er jetzt schon versagt. Ein drittes Mal wird es nicht geben.« Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder mir zu, und ich kämpfte gegen den Drang an, mich zu ducken. »Bist du sicher, dass du nicht eine von uns bist, kleines Fräulein?«, fragte er mit weicher, verführerischer Stimme. »Ich mache dir sogar ein einzigartiges Angebot. Komm und arbeite für uns. Jemand mit deinen Fähigkeiten könnte es weit bringen.« »Und meine Eltern im Stich lassen? Ich glaube nicht«, erwiderte ich entrüstet. »Wenn deine Eltern dich wirklich lieben würden, würden sie dich dann den Chaosschlangen allein gegenübertreten lassen? Würden sie es erlauben, dass jemand mit deinen ungeheuren natürlichen Begabungen allein in einem abgewrackten alten Museum herumgeistert? Komm mit uns. Wir werden dich so behandeln, wie du es verdienst. Wir schätzen Talente wie deines sehr, deine Fähigkeiten, deine Klugheit. Du siehst ja selbst, dass du keine Angst hast, dir die Magie zunutze zu machen. Im Grunde deines Herzens bist du eine von uns. Wir können dir zeigen, wie du diese Macht vergrößern kannst, bis sich dir niemand mehr in den Weg stellen kann.« Eine von ihnen. Ich würde der vielleicht mächtigsten Gruppierung der Welt angehören. »Eure Organisation möchte ich nicht mal geschenkt haben!«, sprühte ich. »Ach kleines Fräulein! Lass dir diese Gelegenheit nicht aus einem falschen Sinn für Loyalität entgehen. Deine Eltern wissen dich doch gar nicht richtig zu schätzen. 296
Würden sie dich sonst so ignorieren? Dir so wenig Aufmerksamkeit schenken? Und du musst es mit der ägyptischen Magie ganz allein aufnehmen? Sie nehmen dich ja kaum wahr und kümmern sich überhaupt nicht um dich.« »Das ist nicht wahr!«, schrie ich. »Sie sind nur sehr beschäftigt! Sie haben wichtige Dinge zu tun. Ein Museum leiten. Große Entdeckungen machen.« Von Braggenschnott fuhr fort: »Du bist eine Bedrohung für sie. Sie können deine Macht nicht anerkennen, denn dann wärest du bedeutender als sie.« »So sind meine Eltern nicht!«, schrie ich, die Hände zu Fäusten geballt. Meine Eltern liebten mich. Sicher taten sie das. Und doch … alles, was von Braggenschnott sagte, machte auf schreckliche, verdrehte Weise doch Sinn. Rechts von mir erklang ein Geräusch. Noch beim Hinübersehen fasste ich in die rechte Rocktasche und schloss meine Hand um den Staub, gerade als Bollingsworth auf mich losging und wir beide gegen die Wand stießen, knapp an der brennenden Fackel vorbei. Er hielt mich von hinten umschlungen und hielt meine Arme unter seinen fest. Er hielt mich so fest, dass ich nur noch mit Mühe atmen konnte, neigte sich zu mir und flüsterte mir ins Ohr: »Deine Eltern schätzen dich nicht so, wie wir es tun würden, Theo. Denk doch an alles, was wir zusammen erreichen könnten! Denk an die Macht, die wir besitzen könnten!« Er senkte seine Stimme noch mehr, sodass nur noch ich ihn hören konnte. »Wir wären niemandem Rechenschaft schuldig.« Er warf einen Blick auf von Braggenschnott. »Niemandem.« Ich wehrte mich gegen seinen Griff. »Sie sind ja genauso verrückt wie er.« 297
»Spiel jetzt nur nicht die Schüchterne«, meinte er neckend. »Aus guter Quelle weiß ich, dass du sogar geplant hast, mich zu heiraten, wenn du groß bist.« Er lachte leise. Eine heiße Welle der Scham überlief mich, und ich hatte ein so schmerzliches Gefühl, verraten worden zu sein, dass ich glaubte, daran sterben zu müssen. Oh, wie ich mich wand, mein Gesicht brannte vor Scham und Erniedrigung. Dass meine geheimsten Gedanken ausgebreitet und diskutiert wurden, als ob sie ein Witz seien! Dass Vater mein Vertrauen so gering achtete und missbraucht hatte. Vielleicht hatten von Braggenschnott und Bollingsworth doch recht. Vielleicht … Nein. Vielleicht hatte Vater mich verraten, aber sein Land würde er nie verraten. Und ich auch nicht. Mein Wunsch, im Boden zu versinken und vor Scham zu weinen, verwandelte sich rasch in etwas völlig anderes. Wut. Wie konnten sie es wagen? Ich verdrehte mir den Hals, um ihm ins Gesicht zu sehen. Wie konnte ich ihn je gut aussehend gefunden haben? War er denn je wirklich freundlich zu mir gewesen? Jetzt war er jedenfalls nur ein hässlicher Wurm, der unter meinem Stiefel zertreten werden musste. Schnell, damit ich unterwegs nicht den Mut verlor, riss ich mich von ihm los und warf ihm den Sandsteinstaub ins Gesicht. Er tat sofortige und entsetzliche Wirkung. Bollingsworth schrie vor Schmerz auf, ließ mich sofort los und griff sich stolpernd ans Gesicht. Dicht an die Wand gepresst, ging ich ein paar Schritte von ihm fort, falls er mich wieder fassen wollte. Doch er hatte zu große Schmerzen. Viel mehr, als bloßer Sand in den Augen verursachen konnte. 298
Immer noch schreiend, nahm er die Hände vom Gesicht. Entsetzt schnappte ich nach Luft. Der Sandstein hatte sich wie Säure in sein Gesicht gefressen. Kleine Löcher und Risse waren in die Haut gebrannt. Seine Augen waren fest geschlossen, und ich konnte sehen, wie sich die Sandsteinkrümel in die Haut um sein linkes Auge fraßen. Er brüllte auf und rannte blind in meine Richtung. Ich warf mich zur Seite und schlug mit solcher Kraft gegen die Wand, dass sie nachgab. Plötzlich war da nichts mehr hinter mir und ich fiel ins schwarze Nichts. Hals über Kopf fiel ich durch einen langen, engen Schacht. Ich entspannte all meine Muskeln, wie es mir mein Onkel Andrew gezeigt hatte, nachdem ich das erste Mal von seinem Pferd gefallen war. Als ich endlich auf dem Boden aufschlug (und zwar einem ziemlich harten Boden, wenn ich das sagen darf), landete ich wie eine Stoffpuppe. Nur dass sicherlich noch nie eine Stoffpuppe so benommen und desorientiert war. Von oben erklangen überraschte Rufe, was bedeutete, dass ich für ein paar Minuten im Vorteil war. Da Tetley bewegungsunfähig und Bollingsworth blind waren, hatte ich es nun hoffentlich nur noch mit von Braggenschnott zu tun. Ich sprang auf und nahm eine Fackel auf, die nur ein paar Schritt weiter hingefallen war. Ich schien mich in einem engen Gang zu befinden, der etwa drei Meter weiter führte und sich dann zu einem alten, mit Gerümpel vollgestopften Schrank erweiterte. Aber nein, das war es nicht. Ägyptische Gräber hatten keine Schränke. Und schon gar nicht mit Gerümpel vollgestopfte. Was bedeutete … was bedeutete … ich fasste mir mit der Hand an 299
die Kehle, als ich erkannte, was das bedeutete: Ich hatte gerade einen bislang unbekannten Anbau an das Grab von Amenemhab entdeckt! Ich hatte meine erste Entdeckung gemacht! Jetzt musste ich nur noch lange genug leben, um jemandem davon erzählen zu können.
»Schnell«, hörte ich von Braggenschnott rufen. »Bringen Sie Tetley außer Sichtweite, falls jemand kommt. Ich folge dem Mädchen.« Ich sah mich in den staubigen Funden der Kammer um. Nichts war groß genug, um mich darin zu verstecken. Ich prüfte, ob es vielleicht noch eine Tür wie die gab, durch die ich gerade gefallen war. Doch es gab nichts außer den Bildern von Menschen, die an Hunger starben, und noch mehr Bilder von Menschen, die an Krankheiten starben, während noch viele mehr kopflos zu Thutmosis’ Füßen lagen. Bei Thutmosis’ Bild hielt ich an. Es war noch schrecklicher als die bisherigen Bilder. Sein Gesicht war hager und sein Gesichtsausdruck furchtbar. Er sah aus wie die personifizierte Rache. Herzlose Rache, und um das zu beweisen, klaffte in seiner Brust ein großes Loch an der Stelle, wo sein Herz hätte sein sollen. Die Geräusche aus dem Gang wurden lauter. Es würde nicht lange dauern, bis sie hier waren. Ich brauchte einen Plan. Verzweifelt drehte ich mich um und hämmerte an die Wand, in der Hoffnung, dass sie zusammenbrach und mir einen Fluchtweg bot. Doch sie war massiv und ich riss mir an einer scharfen Kante eines Lochs im Relief nur 300
die Hand auf. Als ich die scharf geschnittenen Umrisse des Lochs betrachtete, fiel es mir plötzlich auf. Das Herz Ägyptens passte genau hinein. Plötzlich wusste ich es. Bevor ich noch Zeit hatte, nach dieser Erkenntnis zu handeln, hörte ich dicht hinter mir ein Geräusch. Ich wirbelte herum und sah von Braggenschnott keine drei Meter entfernt, ein leicht irres Leuchten in den blassblauen Augen. Ich sah nach links und rechts, doch es war hoffnungslos. Es gab kein Entrinnen. Von Braggenschnotts kalte blaue Augen wanderten zu meinem Hals. Das Herz Ägyptens war unter meinem Kragen hervorgerutscht, als ich mich gewehrt hatte. Von Braggenschnott trat näher und hakte dann ganz langsam seinen Finger in die Kette. Schnell riss ich mir die Kette ab, wirbelte herum und schob das Herz Ägyptens zur Wand. Von Braggenschnott warf sich auf mich und umklammerte meine Knie, sodass ich zu Boden fiel. Ich wehrte mich und trat um mich, um aufzustehen. Hart traf mein Fuß auf einen Widerstand. Ich hörte ein Knirschen, und ich hoffte, dass es seine Nase war. Von Braggenschnott schrie auf und lockerte seinen Griff. Schnell stand ich auf, warf mich an die Wand und presste das Herz Ägyptens in die Vertiefung. »Neiin!«, schrie von Braggenschnott. Heftig riss er mich am Arm von der Wand weg. Wilder Schmerz durchzuckte meine Schulter und mir wurde schwarz vor Augen. Ich versuchte, meinen Arm zu bewegen, aber neuer Schmerz ließ mich fast ohnmächtig werden. Ich stolperte zurück, meinen nutzlosen Arm haltend. Der Schmerz war so groß, dass ich kaum denken konnte. 301
Ich beobachtete von Braggenschnott mit blutender Nase zum Herz Ägyptens wanken. Er versuchte, es aus der Wand zu lösen. Ich hielt den Atem an und hoffte, dass ich den einen Platz auf der Welt gefunden hatte, von dem niemand mehr das Herz entfernen konnte. Während er sich darum bemühte, nahm ich einen Wirbel in der Luft wahr, die Magie um uns verdichtete sich. Sie sammelte sich in kleinen Wirbeln und der Geruch nach Weihrauch verbreitete sich in der Kammer. Das Herz Ägyptens begann zu glühen, wie von einem warmen, inneren Licht erhellt. Es dauerte nur ganz kurz, dann wurde die Wand wieder so dunkel wie zuvor. Nur dass jetzt das Herz Ägyptens dort saß, wo das Loch geklafft hatte. Und von Braggenschnotts Hand saß darin fest. »Was hast du getan, du dummes Kind?«, schrie er mich an. Ich habe Großbritannien gerettet, dachte ich. Und Henry. Dann begann von Braggenschnott wirklich zu schreien. »Meine Hand! Sie steckt fest! Sie ist mit dem Herz verbunden! Hilf mir, sie zu befreien!« Erschrocken und fasziniert zugleich starrte ich von Braggenschnotts Hand an, die in der Mitte der Wand festzustecken schien. Das war meine Gelegenheit zur Flucht, erkannte ich, wandte mich zum Gang und schrie auf, als ich Bollingsworth in der Tür lehnen sah, dessen eine Gesichtshälfte fast ganz zerfressen war. Ich tastete hinter mir herum, in der Hoffnung, etwas zu finden, mit dem ich mich wehren konnte. Meine rechte Hand schloss sich um einen langen, dicken Prügel. Beim Aufheben staunte ich, wie schwer er war. Perfekt. Je 302
schwerer das Holz, desto größer die Wirkung, wenn ich damit traf. »Lass sie nicht entkommen!«, schrie von Braggenschnott, der immer noch an der Wand festhing. Ich ignorierte ihn, hielt den Stock lose in der Hand und konzentrierte mich auf Bollingsworth. Der Schmerz in der linken Schulter ließ mich mit den Zähnen knirschen. Bollingsworth lachte höhnisch. »Glaubst du, dass du mich damit aufhalten kannst? Ich nicht.« Ein scharfer, hässlicher Dolch erschien in seiner linken Hand, die er ausstreckte, bereit, mich damit zu treffen. Ich schwang den Stock so kräftig wie ich konnte nach oben. Schwer krachte er gegen das Messer, das ihm aus der Hand geschlagen wurde. Ohne innezuhalten, damit ich nicht die Nerven verlor, ließ ich ihn auf dem Weg nach unten auf Bollingsworths Schädel krachen. Es gab einen lauten Knack, als ob eine reife Melone zerplatzt. Mir drehte sich der Magen um, und ich fürchtete, dass ich mich übergeben musste. Bollingsworth fiel um wie ein nasser Sack, während mir schwarz vor Augen wurde und ich nur noch Sterne sah, weil mir eine neue Welle von Schmerz durch die Schulter zuckte. »Du hast ihn umgebracht, du elendes Ding!«, rief von Braggenschnott. Ich lehnte mich an die nächste Wand, weil mir die Knie nachgaben. »Habe ich nicht!« Bitte lass ihn nicht tot sein! Bitte! Ich lehnte den Kopf an den kühlen Stein, schloss die Augen und wartete darauf, dass sich mein flatterndes Herz beruhigte. Als ich feststellte, dass ich immer noch den Stock in der Hand hielt, schleuderte ich ihn fort, so als ob er Bollingsworth angegriffen hätte und nicht ich. 303
Beim Fall zerbrach das Holz und fiel in großen Stücken auseinander. Dazwischen konnte ich Gold glitzern sehen. Mit der Stiefelspitze schob ich den Rest der hölzernen Hülle auseinander und hatte kurz darauf einen langen goldenen Stab freigelegt. Das Was-Szepter. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Ich sah von Bollingsworths leblosem Körper zu von Braggenschnott, der sich immer noch darum bemühte, seine Hand zu befreien. Vielleicht hatte die alte Wahrsagerin ja doch recht gehabt. Vielleicht waren die alten Götter mir wohlgesonnen. Wirklich. Es gab keine andere Erklärung. Ein leises Klicken ertönte. Ich wandte mich um und sah, wie von Braggenschnott mit einer Pistole auf mich zielte. Angst schnürte mir die Kehle zu. »Als du noch das Herz Ägyptens getragen hast, wollte ich die hier nicht benutzen, um es nicht zu zerstören. Aber das ist ja wohl nicht länger ein Problem«, sagte er. Bevor ich noch etwas sagen konnte, hörte ich ganz leise, wie jemand meinen Namen rief. Von Braggenschnott zielte mit der Waffe auf die Tür. »Wenn sie mich hier finden, werde ich sie erschießen, klar? Jeder, der durch diese Tür kommt, ist ein toter Mann, hast du mich verstanden?« Ich schluckte heftig und antwortete: »Ich verstehe.« Ich nahm das Was-Szepter und stürmte in den Gang zum Fuß des Schachtes. »Miss Theo? Sie da unten?« Nabir! Er war unverletzt! »Theo? Theo, Liebes? Wo bist du?«, erklang Mums Stimme aus dem Schacht. Mum! Nabir musste zurückgegangen sein, um Hilfe zu holen. Und wenn Mutter da war, dann hieß das … »Theodosia Elizabeth Throckmorton!«, dröhnte Vater. 304
»Wo zum Teufel steckst du? Nabir, ich sage dir, wenn sie verletzt ist oder ihr sonst irgendetwas geschehen ist …« »Ich bin hier unten!«, rief ich. Plötzlich hatte ich einen Kloß im Hals. »Ich habe noch eine Kammer entdeckt!« Und zwei Männer verwundet und einen möglicherweise getötet, aber das behielt ich für mich. Ich wollte nicht, dass meine Eltern direkt in von Braggenschnotts Falle liefen. »Tatsächlich, Liebes?« Mutters Stimme erklang jetzt näher. Eine Sekunde später sah ich ihren Kopf, ihren wunderschönen vertrauten Kopf am oberen Ende des Schachtes. Auch Vaters Kopf erschien plötzlich neben dem meiner Mutter. Er betrachtete den langen Schlund und runzelte die Stirn. »Also wirklich, Theodosia! Was hast du dir dabei gedacht? Du hättest umkommen können!« Seine Stimme hallte im Schacht und dem ganzen Grab wider. Eine ungewohnte Wärme durchglühte mich. Vater liebte mich. Je zorniger er klang, desto besorgter war er. Von Braggenschnott hatte keine Ahnung. Ich lächelte unwillkürlich. Vaters Zorn war wie Balsam für meine Seele. »Ja, ich weiß!«, rief ich zurück. Der kleine Splitter des Verrats in meinem Herzen begann sich aufzulösen. Es dauerte eine Weile, bis sie herausgefunden hatten, wie sie zu mir herunterkommen und wieder hinaufklettern konnten. Immer wieder blickte ich besorgt über meine Schulter, aber aus der Kammer kam kein Laut. Von Braggenschnott wollte genauso sehr unentdeckt bleiben, wie ich wollte, dass meine Eltern am Leben blieben. Schließlich hatte Nabir die glänzende Idee, die lange Leiter zum Grab zu bringen und in den Schacht hinunterzulassen. Vater bestand darauf, als Erster zu gehen, obwohl ich 305
weiß, dass es für sein Bein nicht gut ist, auf Leitern herumzuklettern. Unten angekommen warf er nicht einmal einen Blick auf das Grab. Er sah mir in die Augen mit einem Ausdruck, als sei ich das kostbarste Fundstück, das ihm je untergekommen war. Ich muss gestehen, dass mich diese intensive Betrachtung nervös machte. Er machte einen Schritt auf mich zu. »Was ist passiert? Bist du in Ordnung?« Es ist schon seltsam, dass einen ein bisschen Mitgefühl so schnell zum Weinen bringt. Ich zwinkerte ein paar Mal und stellte fest, dass ich mich am liebsten meinem Vater in die Arme geworfen und ihm die ganze schreckliche Geschichte erzählt hätte. Wie nahe ich dem Tode gewesen war und dass die ganze Zeit über ein Verräter unter uns gewesen war. Dass selbst jetzt noch von Braggenschnott eine Pistole hatte, mit der er uns, ohne eine Sekunde zu zögern, alle erschießen würde. »Oh Vater! Es geht mir gut, wirklich!« Doch dann versagte mir die Stimme und plötzlich schlang Vater die Arme um mich und drückte mich fest an sich. Schmerz durchzuckte so heftig meine Schulter, dass mir erneut Tränen in die Augen stiegen. Aber das war mir in dem Moment egal, denn hier in Vaters Armen war meine Welt in Ordnung. Die Erwachsenen hatten wieder die Kontrolle in meinem Leben übernommen und ich ließ sie gewähren. Zumindest vorerst. Ich lehnte mich ein wenig zurück und kniff die Augen zusammen. »Vater, hast du Nigel Bollingsworth je erzählt, dass ich ihn heiraten wollte?« »Um Himmels willen, nein! Das wäre uns allen wohl zu peinlich gewesen, glaubst du nicht? Warum fragst du?« 306
Vor Erleichterung wurden mir die Knie weich. Vater hatte mich nicht verraten. Bollingsworth hatte uns wahrscheinlich hinterherspioniert und gelauscht. »Egal. Aber du solltest wissen, dass ich das jetzt nicht mehr will.« »Das denke ich auch«, meinte Vater und klopfte mir auf die Schulter, woraufhin ich vor Schmerz aufschrie. Vater runzelte die Stirn. »Was ist los? Bist du verletzt?« »Ja. Ich glaube. Ein bisschen.« In diesem Moment stieg Mum von der Leiter. »Theo, Liebes!« Sie eilte zu mir, nahm mein Gesicht in beide Hände und küsste mich auf die Wangen. Ich musste aufpassen, dass ich sie nicht aus Versehen mit dem WasSzepter schlug, da ich ganz vergessen hatte, dass ich es noch in der Hand hielt. »Mit was wedelst du denn da herum?«, wunderte sich Vater. »Oh!«, stieß Mum hervor und griff sich an den Hals. »Das ist das Was-Szepter!« Endlich wandte Vater seine Aufmerksamkeit etwas anderem als mir zu und betrachtete das Stück. »Sehr gut gemacht, Theo!«, sagte er. Dann sah er mich wieder an. »Und jetzt sag mir, wo du verletzt bist.« »Mach dir keine Sorgen um meine Schulter«, sagte ich. »Ihr müsst euch das hier ansehen!« Ich reichte Mum das Szepter und nahm mit der gesunden Hand seinen Arm, um ihn zu der Kammer zu ziehen, wo Bollingsworth und von Braggenschnott lagen. »Deine Schulter, Theodosia!« »Du siehst ein wenig blass aus, Liebes«, fand auch Mum. »Lass deinen Vater nachsehen.« Ganz sanft berührte er meine Schulter an zwei Stellen, wobei ich vor Schmerz fast aufschrie. »Sie ist ausgekugelt«, sagte er. »Das lässt sich leicht 307
beheben, ist aber schmerzhaft. Du musst ganz tapfer sein«, warnte er mich. Tapfer! Wenn er nur wüsste … Ich nickte, sicher, dass ich nach allem, was ich durchgemacht hatte, auch das überstehen würde. »Mach dich bereit«, sagte er und drehte und schob meinen Arm, sodass sich betäubender Schmerz in meiner Schulter ausbreitete. Und dann tat ich etwas, was keine tapfere Person unter diesen Umständen je tun würde. Ich wurde ohnmächtig.
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Nach Hause
ICH NAHM MEINE UMGEBUNG erst wieder wahr, als ich mit fest verbundenem linken Arm in einem herrlich weichen Bett erwachte. Durch den Vorhang wehte ein leichter Windhauch und mir tat nichts mehr weh. Herrlich. Tief holte ich Luft und roch Feigen, Staub und die besonderen Düfte Ägyptens. Und einen schwachen Geruch nach Flieder. Ich wandte meinen Kopf und sah Mum auf einem Stuhl neben meinem Bett sitzen. »Wie fühlst du dich, Liebes?« »Viel besser, danke.« Plötzlich durchfuhr mich ein Schrecken, als ich mich erinnerte. Ich versuchte, mich aufzusetzen, und zuckte zusammen, als meine Schulter protestierend aufschrie. »Vorsichtig, Liebes. Du musst dich ausruhen. Vater hat uns eine Passage zurück nach England gebucht, damit wir so schnell wie möglich zu Henry können. Wir wollen versuchen, morgen so früh wie möglich abzureisen. Meinst du, du schaffst das?« Ich musste an die holperige Zugfahrt denken und verzog das Gesicht. »Vater besorgt uns ein Dampfschiff für die Fahrt nach 309
Kairo«, beruhigte mich Mutter schnell. »Für die Zugfahrt bist du nicht gesund genug.« »Sehr gut«, sagte ich. »Aber Henry wird wieder gesund. Das verspreche ich.« Mutter blickte traurig und besorgt drein. »Hoffentlich hast du recht.« »Das habe ich«, meinte ich und sie sah mich fragend an. »Aber Mum, was ist mit den Männern in dem Grab. Was habt ihr mit ihnen gemacht?« Mutter runzelte sichtlich verwundert die Stirn. Mein Herz tat einen Sprung. »Was für Männer, Liebes?« »In Amenemhabs Grab waren drei Männer! Einer von ihnen war Bollingsworth. Er ist ein Spion, er arbeitet für die Chaos … die Deutschen. Sie hatten dir das Herz Ägyptens gestohlen.« Es machte mich traurig, dass ich ihr nicht einmal jetzt die ganze Geschichte erzählen konnte. »Beruhige dich, Liebes. Beruhige dich. Du hast durch deine Verletzung einen ziemlichen Schock erlitten. Außerdem war es für uns das Wichtigste, dich sicher hinauszubringen. Wir haben auf unserem Rückweg niemanden gesehen.« Was bedeutete, dass sie davongekommen waren. Dann erst wurde mir klar, was sie gesagt hatte. »Ihr habt euch nicht die Kammer angesehen, die ich entdeckt habe?« Meine Eltern hatten die Gelegenheit ausgelassen, ein bislang unbekanntes Grab zu erforschen? Meinetwegen? »Nein. Nicht mit einem Blick. Wir mussten dich hinausschaffen und zu einem Arzt bringen. Waren denn noch andere da unten?«, fragte sie. Sie neigte sich vor. »Waren sie vom British Museum?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe es dir doch 310
gesagt. Es waren Deutsche. Äh, sie haben nach Dingen für den Schwarzmarkt gesucht.« Mutter schnalzte verärgert mit der Zunge. Tiefste Erschöpfung überwältigte mich. Da es nichts mehr zu tun gab, beschloss ich, ihr fürs Erste nachzugeben, und überließ mich dem Schlaf.
Henry und Großmutter Throckmorton erwarteten uns am Bahnhof. Henry sah prächtig lebendig und gesund aus, aber er sah mich anklagend an, als ob er sich insgeheim über etwas ärgerte. Großmutter Throckmorton war allerdings über mein Davonlaufen noch so erbost, dass sie kaum mit mir sprach. Mir gefiel dieses Schweigen ganz gut. Als wir zu Großmutters Kutsche gingen, zog ich Henry beiseite. »Schau Henry, es tut mir leid, dass ich dir nicht sagen konnte, dass ich nach Ägypten gehe, aber ich …« »Und ich hatte geglaubt, du vertraust mir«, sagte er. »Wir sollten von jetzt an Partner sein.« Er schob die Hände in die Hosentaschen. »Dachte ich zumindest.« Oh mein Gott. Ich erwog alle möglichen Ausreden, die ich ihm hätte erzählen können, aber nichts davon schien richtig. Schließlich entschied ich mich für die Wahrheit. »Henry, jahrelang hast du dich für nichts interessiert, was mit dem Museum zusammenhängt. Jetzt plötzlich tust du es. Du musst verstehen, dass ich mich daran erst gewöhnen muss. Ich bin es einfach so gewohnt, alles allein zu machen …« Henry zuckte mit den Schultern und trat nach einem Blatt. Seine Wangen röteten sich. »Ist ja nicht so, als ob das Museum plötzlich irgendwie interessant gewesen 311
wäre. Aber du hast auf einmal aufgehört, mich zu behandeln wie einen zerquetschten Käfer, den jemand für dich in den Müll werfen sollte.« »Oh Henry!« Dachte er das? Hatte er sich die ganze Zeit über so sehr meine Aufmerksamkeit gewünscht wie ich mir die von Mutter und Vater? »Es tut mir so leid. Außerdem war es Wigmeres Idee. Ein Befehl sozusagen. Und er hat mich schwören lassen, nichts zu verraten.« Henry blickte mit großen Augen auf. »Echt? Wigmere? Arbeitest du jetzt für ihn, so wie Will?« »Sozusagen. Gelegentlich, nehme ich an.« »Also Theo! Das ist klasse!« Bewunderung leuchtete in seinen Augen und ich entspannte mich ein wenig. Eine Bewegung in der Menge hinter Großmutter Throckmorton erregte meine Aufmerksamkeit, als eine schmutzige kleine Hand nach ihrer Handtasche griff. Ich öffnete schon den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn dann jedoch wieder. Was hatte sie gesagt, als ich aus dem Zug gestiegen war? Dass ich nicht besser sei als ein Straßenkind. Nun, vielleicht sollte sie mal merken, was ein richtiges Straßenkind tat. Will sah auf und blickte mir in die Augen. Bevor er in der Menge verschwand, zwinkerte er mir zu. »Theodosia?«, sagte Vater und drehte sich stirnrunzelnd um. »Was tust du da hinten? Wir haben deinetwegen eine Menge Schwierigkeiten gehabt, und ich möchte nicht, dass du so kurz vor Zuhause verloren gehst.« Er streckte mir die Hand hin. »Komm schon.« Ein honigweiches, warmes Gefühl durchlief mich, als ich meine Hand in seine legte. Dann streckte ich zögernd die andere nach Henry aus. Er sah sie an und verdrehte die Augen. »Mädchen«, murmelte er, aber er nahm sie dennoch. Dann gingen wir alle zusammen nach Hause. 312
Gerettet — vorerst
WIR SIND JETZT SEIT EINER WOCHE wieder zu Hause und heute darf ich zum ersten Mal wieder mit ins Museum. Also wirklich! Die ganze Fürsorge geht mir langsam auf die Nerven. Vater, dieser Engel, hat mir sogar Isis nach Hause gebracht, damit sie mir Gesellschaft leistet (und hat sich für seine Mühe einen ziemlich bösen Kratzer auf der linken Wange eingefangen). Mum und Dad haben beschlossen, dass das WasSzepter einen zentralen Platz in der neuen Ausstellung einnehmen wird, und sie führen mich als diejenige auf, die es gefunden hat. Ist das zu glauben? Ich, ein elfjähriges Mädchen, stehe auf der Beschriftungstafel eines Ausstellungsstücks im Museum. Vor lauter Freude war ich völlig sprachlos (was nicht allzu oft vorkommt). In meinem Arbeitszimmer versuchte ich, eine Zeichnung meines neu entdeckten Grabes anzufertigen, so wie ich es in Erinnerung hatte, als die Dielen vor meiner Tür knarrten. Vielleicht Fagenbush? Auch wenn er kein Spion war, traute ich ihm immer noch nicht. Bevor ich mir ernsthaft Sorgen machen konnte, klopfte es leise. Besucher, die nichts Gutes im Schilde führen, klopfen selten. »Herein«, rief ich. Die Tür öffnete sich einen Spalt und Lord Wigmere trat ein. »Können Sie schon Besuch empfangen, Miss Theodosia?« 313
»Oh ja! Kommen Sie herein! Ich muss Ihnen so viel erzählen!« »Ja«, meinte er, als er die Tür schloss. »Das kann ich mir vorstellen.« Er humpelte zu meinem Schreibtisch und ließ sich auf den zweiten Stuhl fallen. »Wie sind Sie hier hereingekommen?«, fragte ich. Er hob eine seiner buschigen Augenbrauen. »Mein liebes Kind, ich bin der Vorsitzende einer Geheimgesellschaft der bestausgebildeten Agenten in diesem Land. Man sollte meinen, ich könnte es bis in dein …« Er sah sich im Zimmer um. »… Büro schaffen.« Eifrig beugte ich mich vor. »Haben Sie den Zauber angewendet, von dem Mordecai Quirke in Die Schwarze Magie der Pharaonen spricht? Der, mit dem man unbemerkt an jemandem vorbeikommt?« »Nein. Ich habe eurem Pförtner – Flimp heißt er, nicht wahr? – gesagt, ich sei ein Arzt, den deine Eltern konsultiert haben.« Er lächelte ein wenig verschämt. »Nun, dann erzähl mir doch mal von deinem Abenteuer.« Und das tat ich auch. Er hörte mir die ganze Zeit über aufmerksam zu, bis zum Schluss. »Verdammt!«, sagte er und stieß aufgeregt mit seinem Stock auf den Boden. »Das heißt, sie sind alle davongekommen?« »Nun, ich kann mir nicht vorstellen, wie, mit Händen, die in der Wand feststecken, gebrochenen Beinen und so. Aber ja, es scheint so. Es tut mir leid«, sagte ich. Der Geschmack der Niederlage war bitter. »Oh, ich bin sicher, dass sie Hilfe hatten. Wahrscheinlich wartete jemand irgendwo in der Nähe. Aber dennoch musst du dir keine Sorgen machen, mein liebes Mädchen. Du hast deinem Land in einer Zeit großer Not gedient. 314
Du hast uns alle gerettet. Es ist nur schade, das wir nicht wissen, wo sie sind. Das bedeutet, dass wir nach ihnen suchen müssen.« »Ja, aber sehen Sie nicht, dass sie nicht nur den Deutschen helfen? Deutschland ist erst der Anfang. Die Chaosschlangen wollen die ganze Welt ins Chaos stürzen und dann die Herrschaft an sich reißen. Wenn wir nicht aufpassen, wird sich die ganze Welt gegenseitig bekriegen.« Wigmere seufzte tief auf. »Ich wusste, dass sie große Pläne hatten. Ich wusste nur nicht, was es war. Diese Information wird für unsere weitere Arbeit von unschätzbarem Wert sein. Wir sind dir sehr zu Dank verpflichtet, mehr als ich sagen kann. Hier, ich habe etwas für dich.« Er suchte einen Augenblick in seiner Manteltasche herum und zog dann einen kleinen seidenen Beutel heraus, den er mir gab. Außer mir vor Neugier öffnete ich ihn. Ein wunderschöner Ring aus Gold und Lapislazuli rollte heraus. »Das ist ja genau so einer, wie Sie und Stokes ihn tragen!« »Allerdings. Wir alle hatten das Gefühl, dass du dir die Ehre verdient hast, ein ordentliches Mitglied der Bruderschaft der auserwählten Hüter zu werden. Du hast deine Sache sehr gut gemacht.« »Er ist wunderschön.« Ich seufzte befriedigt auf, als ich ihn anprobierte. Er war klein genug, dass er mir perfekt passte. Ich sah Wigmere an. »Wenn ich jetzt ein ordentliches Mitglied der Bruderschaft bin, heißt das, dass ich auch so eine Tätowierung kriege?« »Du? Ein junges Mädchen?« Wigmere sah mich verwundert an und begann zu lachen. »Lieber nicht!« Mistkram. 315
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!
»Für alle Mädchen, die es satthaben, dass ihnen nie jemand zuhört.«
T
heodosia Throckmorton verfügt über eine ganz außergewöhnliche Gabe: Sie kann die Flüche und schwarze Magie auf alten Kultgegenständen sehen und bannen. Eines Tages bringt ihre Mutter von einer Ausgrabung in Ägypten etwas ganz Besonderes mit; ein juwelenbesetztes Amulett in Form eines Skarabäus, das legendenumwobene Herz Ägyptens. Theodosia ist alarmiert – einen derart mächtigen Fluch hat sie noch nie gesehen: Er bedroht nicht nur sie und ihre Eltern, sondern das ganze Land. Zwielichtige Gestalten versuchen, den geheimnisvollen Schatz in ihren Besitz zu bringen. Um das Unheil abzuwenden, muss Theodosia all ihre Fähigkeiten einsetzen und sogar ihr Leben riskieren …