L. Annaeus Seneca
De clementia Über die Güte Lateinisch I Deutsch
Übersetzt und herausgegeben von Karl Büchner
Phili...
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L. Annaeus Seneca
De clementia Über die Güte Lateinisch I Deutsch
Übersetzt und herausgegeben von Karl Büchner
Philipp Reclam jun. Stuttgart
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RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 8385
©
Alle Rechte vorbehalten 1970 Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart
Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen. Printed in Germany 2007 RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken
der Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart ISBN 978-3-15-008385-7
www.reclam.de
FürTim
L. Annaei Senecae ad N eronem Caesarem de clementia
Liber I
1 ( 1 ) Scribere de clementia, Nero Caesar, inst1tu1, ut quodam modo speculi vice fungerer et te tibi ostende rem perventurum ad voluptatem maximam omnium. Quamvis enim recte factarum verus fructus sit fecisse nec ullum virtutum pretium dignum illis extra ipsas sit, iuvat inspicere et circumire bonam conscientiam, turn inmittere oculos in hanc inmensam multitudinem discordem, seditiosam, inpotentem, in perniciem alie nam suamque pariter exultaturam, si hoc iugum frege rit, <et) ·ita loqui secum: (2) >Egone ex omnibus mortalibus placui electusque sum, qui in terris deorum vice fungerer? Ego vitae necisque gentibus arbiter? Qualern quisque sortem sta tumque habeat, in mea manu positum est ; quid cuique mortalium fortuna datum velit, meo ore pronuntiat ; ex nostro responso laetitiae causas populi urbesque concipiunt ; nulla pars usquam nisi valente propitioque me floret; haec tot milia gladiorum, quae pax mea con primit, ad nutum meum stringentur ; quas nationes fun ditus excidi, quas transportari, quibus libertatem dari,
L. Annaeus Seneca An Kaiser Nero Ober die Güte
Erstes
Buch
1 (1 ) Ich habe mir vorgenommen, Caesar Nero, über die Güte zu schreiben, um sozusagen die Rolle eines Spiegels zu spielen und dir zu zeigen, daß du zu der höchsten aller Freuden gelangen wirst. Mag noch so sehr nämlich der wahre Genuß rechten Handeins darin bestehen, es getan zu haben, mag es keinen der Tugen den würdigen Lohn außerhalb ihrer selbst geben, so ist es doch erfreulich, einen Blick in das gute Gewissen zu tun und es zu mustern, danach aber die Augen zu rich ten auf diese unermeßliche Menge, die da uneins, zwie trächtig, unbeherrscht ist und bereit, sich zu fremdem und eigenem Verderben aufzubäumen, wenn sie dieses Joch zerbricht, und also bei sich zu sprechen : (2) >Ich von allen Sterblichen gefiel und wurde er wählt, auf Erden die Rolle der Götter zu spielen? Ich bin für die Völker Herr über Leben und Tod? Welches Los und welchen Zustand jeder hat, ist in meine Hand gelegt? Was einem jeden der Sterblichen die Schicksals göttin verliehen haben will, verkündet sie durch mei nen Mund? Aus unserem Bescheid empfangen Völker und Städte den Grund zur Freude? Kein Teil steht irgendwo in Blüte, außer wenn ich es will und geneigt bin? Diese so viel tausend Schwerter, die mein Friede bändigt, werden auf meinen Wink gezückt werden? Welche Völkerschaften von Grund aus ausgetilgt, wel che umgesiedelt, welchen die Freiheit gegeben, welchen
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Liber I
quibus eripi, quos reges mancipia fieri quorumque ca piti regium circumdari decus oporteat, quae ruant ur bes, quae oriantur, mea iuris dictio est. (3) In hac tanta facultate rerum non ira me ad iniqua supplicia con pulit, non iuvenilis inpetus, non temeritas hominum et contumacia, quae saepe tranquillissimis quoque pecto ribus patientiam extorsit, non ipsa ostentandae per ter rores potentiae dira, sed frequens magnis inperiis glo ria. Conditum, immo constrictum apud me ferrum est, summa parsimonia etiam vilissimi sanguinis ; nemo non, cui alia desunt, hominis nomine apud me gratio sus est. ( 4) Severitatem abditam, at clementiam in pro cinctu habeo ; sie me custodio, tamquam legibus, quas ex situ ac tenebris in lucem evocavi, rationem redditu rus sim. Alterius aetate prima motus sum, alterius ultima; alium dignitati donavi, alium humilitati ; quo tiens nullam inveneram misericordiae causam, mihi peperci. Hodie dis inmortalibus, si a me rationem repe tant, adnumerare genus humanum paratus sum.< (5) Potes hoc, Caesar, audacter praedicare omnia, quae in fidem tutelam(que tuam venerunt, tuta ha)beri, nihil per te neque vi neque clam ( damni par )ari rei publicae. Rarissimam laudem et nulli adhuc principum conces sam concupisti, innocentiam. Non perdit operam nec bonitas ista tua singularis ingratos aut malignos aesti matores nancta est. Refertur tibi gratia ; nemo unus
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sie entrissen, welche Könige Sklaven werden und wel cher Männer Haupt die Krone aufgesetzt werden muß, welche Städte einstürzen, welche entstehen sollen, ist mein Rechtsspruch. (3) In dieser so großen Verfü gungsgewalt hat mich nicht zornige Leidenschaft zu ungerechten Strafen getrieben, nicht jugendliches Un gestüm, nicht die Unbedachtheit und der Starrsinn der Menschen, die oft auch den ruhigsten Gemütern die Geduld entwinden, selbst nicht die grauenhafte, aber bei großen Befehlsgewalten häufig zu findende Ruhm sucht, die Macht durch Schrecken zur Schau zu tragen. Eingesteckt, nein gefesselt ist bei mir das Schwert, höchste Sparsamkeit herrscht auch gegenüber dem wertlosesten Blut. Jeder, auch wenn ihm anderes fehlt, ist bei mir doch im Namen des Menschseins in meiner Gunst. ( 4) Strenge halte ich verborgen, Güte hingegen bereit. Ich achte so auf mich, als ob ich den Gesetzen, die ich aus Moder und Finsternis ins Licht gerufen habe, Rechenschaft ablegen müßte. Durch des einen frühes Alter ließ ich mich bewegen, durch des anderen zu Ende gehendes. Einen machte ich seiner hohen Stel lung zum Geschenk, einen andern seiner niedrigen. So oft ich keinen Grund für Mitleid fand, schonte ich mich selber. Heute noch bin ich bereit, den unsterblichen Göttern, wenn sie von mir Rechenschaft fordern soll ten, das Menschengeschlecht herzuzählen ! < ( 5 ) D u kannst dies, Caesar, kühn rühmen, daß alles, was unter deinen Schutz und in deine Obhut (kam, sorgfältig behütet) wird, daß in keiner Weise durch dich weder durch Gewalt noch versteckt dem Gemein wesen (ein Verlust zugefügt) wird. Das seltenste Lob, eines, das bis jetzt noch keinem der Kaiser zugestanden worden ist, hast du begehrt, die Unschuld. Deine Mühe ist nicht vergebens, und diese deine einzigartige Güte hat nicht undankbare oder böswillige Kritiker gefun den. Erstattet wird dir Dank : kein einzelner Mensch
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Liber I
homo uni homini tarn carus umquam fuit, quam tu populo Romano, magnum longumque eius bonum. (6) Sed ingens tibi onus inposuisti; nemo iam divum Augustum nec Ti. Caesaris prima tempora loquitur nec, quod te imitari velit, exemplar extra te quaerit : principatus tuus ad gust(at)um exigitur. Difficile hoc fuisset, si non naturalis tibi ista bonitas esset, sed ad tempus sumpta. Nemo enim potest personam diu ferre, ficta cito in naturam suam recidunt ; quibus veritas subest quaeque, ut ita dicam, ex solido enascuntur, tempore ipso in maius meliusque procedunt. (7) Ma gnam adibat aleam populus Romanus, euro incertum esset, quo se ista tua nobilis indoles daret ; iam vota publica in tuto sunt; nec enim periculum est, ne te su bita tui capiat oblivio. Facit quidem avidos nimia feli citas, nec tarn temperatae cupiditates sunt umquam, ut in eo, quod contingit, desinant ; gradus a magnis ad maiora fit, et spes inprobissimas conplectuntur inspe rata adsecuti ; omnibus tarnen nunc civibus tuis et haec confessio exprimitur esse felices et illa nihil iam his accedere bonis posse, (nisi) ut perpetua sint. (8) Multa illos cogunt ad hanc confessionem, qua nulla in homine tardior est : securitas alta, adfluens, ius supra omnem iniuriam positum ; obversatur oculis laetissima forma rei publicae, cui ad summam libertatem nihil deest nisi pereundi licentia. (9) Praecipue tarnen aequalis ad
Erstes Buch
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war einem einzelnen Menschen je so lieb wie du dem römischen Volke, sein bedeutendes und langwährendes Gut. (6) Aber du hast dir eine ungeheure Last aufer legt: niemand spricht schon mehr vom vergöttlichten Augustus und von den ersten Zeiten des Kaisers Tibe rius. Niemand sucht das Vorbild, das er dich nach ahmen sehen möchte, außerhalb deiner : deine Regie rung als Princeps wird nach dem Vorbild der eben ge kosteten gefordert. Das wäre schwierig gewesen, wenn dein Gutsein dir nicht angeboren wäre, sondern nach den Umständen angenommen. Niemand nämlich kann lange eine Maske tragen. Vorgespiegeltes sinkt schnell in seine wahre Natur zurück. Was von wahrem Wesen gestützt wird und was, wenn ich so sagen darf, aus festem Boden entsteht, entwickelt sich gerade mit der Zeit zum Größeren und Besseren hin. (7) Ein großes Glücksspiel begann für das römische Volk, als noch unbestimmt war, in welche Richtung deine edle Anlage gehen würde : jetzt sind die Wünsche des Volkes in Sicherheit. Denn es besteht keine Gefahr, daß dich plötzliches Vergessen deiner selbst befiele. Gewiß macht allzu großes Glück gierig, und nie sind die Begierden so gemäßigt, daß sie bei dem, was zufällt, aufhören. Der Schritt geht vom Großen zum Größeren, und bö seste Hoffnungen hegen die, welche Unverhofftes er langten : doch allen deinen Bürgern wird jetzt erstens das Geständnis entwunden, daß sie glücklich sind, zum andern jenes, daß nicht mehr zum jetzigen Guten hin zukommen kann, ( außer) daß es dauernd ist. {8) Vie les zwingt sie zu diesem Geständnis, das zögerndste, das es im Menschen gibt : die Sicherheit in ihrer Tiefe, in ihrem überfluß, das Recht, das über allem Unrecht steht. Entgegen tritt den Augen die glanzvollste Ge stalt eines Gemeinwesens, dem zur höchsten Freiheit nichts fehlt als die Erlaubnis, zugrunde zu gehen. (9) Vorzüglich aber dringt in gleicher Weise zu den
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Liber I
maximos imosque pervenit clementiae tuae admiratio ; cetera enim bona pro portione fortunae suae quisque sentit aut expectat maiora minoraque, ex clementia omnes idem sperant ; nec est quisquam, cui tarn valde innocentia sua placeat, ut non stare in conspectu cle mentiam paratarn humanis erroribus gaudeat. 2 ( 1 ) Esse autem aliquos scio, qui clementia pessi mum quemque putent sustineri, quoniam nisi post cri men supervacua est et sola haec virtus inter innocentes cessat. Sed primum omnium, sicut medicinae apud aegros usus, etiam apud sanos honor est, ita clemen tiam, quamvis poena digni invocent, etiam innocentes colunt. Deinde habet haec in persona quoque innocen tium locum, quia interim fortuna pro culpa est ; nec innocentiae tantum clementia succurrit, sed saepe vir tuti, quoniam quidem condicione temporum incidunt quaedam, quae possint laudata puniri. Adice, quod magna pars hominum est, quae reverti ad innocentiam possit. (2) Sed non tarnen volgo ignoscere decet; nam ubi discrimen inter malos bonosque sublatum est, con fusio sequitur et vitiorum eruptio ; itaque adhibenda moderatio est, quae sanabilia ingenia distinguere a deploratis sciat. Nec promiscuam habere ac volgarem clementiam oportet nec abscisam ; nam tarn omnibus ignoscere crudelitas quam nulli. Modum tenere debe mus ; sed quia difficile est temperamentum, quidquid aequo plus futurum est, in partem humaniorem prae ponderet. 3 ( 1 ) Sed haec suo melius loco dicentur. Nunc in tres partes omnem hanc materiam dividam. Prima erit Vellem litteras nescirem ! < (3) 0 dignam vocem, quam audirent omnes gentes, quae Romanum inperium incolunt quaeque iuxta iacent dubiae libertatis quaeque se contra viribus aut animis adtollunt ! 0 vocem in contionem omnium mortalium mittendam, in cuius verba principes reges que iurarent ! 0 vocem publica generis humani inno centia dignam, cui redderetur antiquum illud saecu lum ! (4) Nunc profecto consentire decebat ad aequum bonumque expulsa alieni cupidine, ex qua omne animi malum oritur, pietatem integritatemque cum fide ac modestia resurgere et vitia diuturno abusa regno dare tandem felici ac puro saeculo locum. 2 ( 1 ) Futurum hoc, Caesar, ex magna parte sperare
Zweites Buch
1 ( 1 ) über die Güte zu schreiben, Caesar Nero, hat mich ein Wort von dir ganz besonders bestimmt, das ich, wie ich mich erinnere, nicht ohne Bewunderung, als es gesprochen wurde, gehört und darauf anderen erzählt habe, ein edles Wort, von großem Sinn, von großer Sanftheit, das, nicht berechnet und für fremde Ohren bestimmt, plötzlich erklang und deine gute Art im Streit mit deiner Stellung vorführte. (2) Als dein Präfekt Burrus, ein hervorragender Mann und wie ge boren für dich als Princeps, gegen zwei Straßenräuber vorgehen wollte, verlangte er von dir, du möchtest schreiben, gegen wen und aus welchem Grunde du stra fend vorzugehen hießest. Dies, oft verschoben, drängte doch, daß es einmal geschähe. Als er widerwillig einem Widerwilligen das Papier brachte und überreichte, riefst du aus : > I ch möchte, ich könnte nicht schreiben ! < ( 3 ) Ein Wort, wert, daß e s alle Völker hörten, die das römische Reich bewohnen, ebenso wie die, welche in zweifelhafter Freiheit daran grenzen und welche sich mit ihrer Macht und ihrer Gesinnung dagegen erheben ! Ein Wort, das man in einer Versammlung aller Men schen verbreiten müßte, damit auf seinen Wortlaut alle Fürsten und Könige schwüren. Ein Wort, würdig der allgemeinen Unschuld des Menschengeschlechtes : daß ihm jenes ehrwürdige Zeitalter wiedergegeben werde ! (4) Jetzt ziemte es sich in der Tat, im Rechten und Guten einig zu sein, nach der Vertreibung der Gier nach fremdem Gut, aus der alles übel der Seele ent steht, daß Frömmigkeit und Unbescholtenheit mit Treue und Bescheidenheit wieder erstünden und die Laster nach dem Mißbrauch einer langen Herrschaft endlich einem glücklichen und reinen Zeitalter Platz machten. 2 ( 1 ) Daß dies zu einem großen Teil geschehen wird,
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Liber Il
et confidere libet. Tradetur ista animi tui mansuetudo diffundeturque paulatim per omne inperii corpus, et cuncta in similitudinem tuam formabuntur. A capite bona valetudo (exit : omnia) vegeta sunt atque erecta aut languore demissa, prout animus eorum vivit aut marcet. Erunt cives, erunt socii digni hac bonitate, et in totum orbem recti mores revertentur; parcetur ubi que manibus tuis. (2) Diutius me morari hic patere, non ut blandum auribus tuis. Nec enim hic mihi mos est ; maluerim veris offendere quam placere adulando. Quid ergo est? praeter id, quod bene factis dictisque tuis quam familiarissimum esse te cupio, ut, quod nunc natura et inpetus est, fiat iudicium, illud mecum con sidero multas voces magnas, sed detestabiles, in vitam humanam pervenisse celebresque volgo ferri, ut illam : >oderint, dum metuantMögen sie mich hassen, wenn sie mich nur fürchten ! < , ein Wort, dem der griechische Vers jenes Mannes ähnlich ist, der nach seinem Tode Erde sich mit Feuer vermischen heißt, und anderes die ser Art. (3) Und irgendwie haben unmenschliche und verhaßte Naturen in einem fügsameren Stoff mitrei ßende und schwungvolle Gedanken zum Ausdruck ge bracht. Aus dem Munde eines Guten und Sanften habe ich bis zu diesem Tage nie ein Wort von elementarer Leidenschaft gehört. Wie steht es also nun? Selten, ungern und mit gro ßem Zögern mußt du doch einmal das schreiben, was dir die Buchstaben so verhaßt gemacht hat, aber, wie du es tust, mit langem Zögern, mit vielen Aufschüben. 3 ( 1 ) Und damit uns nicht vielleicht einmal der schön
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Liber II
nomen aliquando et in contrarium abducat, videamus, quid sit clementia qualisque sit et quos fines habeat. Clementia est temperantia animi in potestate ulci scendi vel lenitas superioris adversus inferiorem in con stituendis poenis. Plura proponere tutius est, ne una finitio parum rem conprehendat et, ut ita dicam, for mula excidat ; itaque dici potest et inclinatio animi ad lenitatem in poena exigenda. (2) Illa finitio contradic tiones inveniet, quamvis maxime ad verum accedat, si dixerimus clementiam esse moderationem aliquid ex merita ac debita poena remittentem : reclamabitur nullam virtutem cuiquam minus debito facere. Atqui hoc omnes intellegunt clementiam esse, quae se flectit citra id, quod merito constitui posset. 4 ( 1 ) Huic contrariam inperiti putant severitatem ; sed nulla virtus virtuti contraria est. Quid ergo oppo nitur clementiae? Crudelitas, quae nihil aliud est quam atrocitas animi in exigendis poenis. >Sed quidam non exigunt poenas, crudeles tarnen sunt, tamquam qui ignotos hornirres et obvios non in conpendium, sed occi dendi causa occidunt nec interficere contenti saeviunt, ut Busiris ille et Procrustes et piratae, qui captos ver berant et in ignem vivos inponunt.< (2) Haec crudelitas quidem ; sed quia nec ultionem sequitur - non enim laesa est - nec peccato alicui irascitur - nullum enim antecessit crimen -, extra finitionem nostram cadit ; finitio enim continebat in poenis exigendis intempe-
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klingende Begriff Güte täuscht und in sein Gegenteil abirren läßt, wollen wir prüfen, was Güte ist, wie be schaffen sie ist und welche Grenzen sie hat. Güte ist MäP.. igung der Leidenschaft in der Macht, sich zu rächen, oder die Sanftheit des überlegenen gegen den Niederen in der Bestimmung der Buße. Mehreres vorzuschlagen ist sicherer, damit nicht eine Begrenzung die Sache zu wenig umfaßt und sozusagen, weil nicht die Prozeßformel erfüllend, verworfen wird : daher kann man sie auch eine Neigung der Seele zur Sanftheit im Fordern von Buße nennen. (2) Jene Bestimmung wird Widerspruch finden, mag sie der Wahrheit noch so nahe kommen : wenn wir sagen, Güte ist Mäßigung, die etwas von verdienter und geschulde ter Strafe nachläßt, wird entgegnet werden, daß keine Tugend einem etwas weniger als das Schuldige erweist. Jedoch dies verstehen alle darunter, daß Güte etwas ist, das sich diesseits dessen beugt, was mit Recht fest gesetzt werden könnte. 4 ( 1 ) Für ihr entgegengesetzt halten die Unerfahre nen die Strenge. Aber keine Tugend ist einer Tugend entgegengesetzt. Was also stellt man der Güte ent gegen ? Grausamkeit, die nichts anderes ist als Roheit der Seele im Fordern der Bußen. >Aber manche fordern zwar keine Bußen, sind aber doch grausam, so wie die, welche unbekannte, ihnen begegnende Menschen nicht zum Gewinn, sondern des Tötens wegen töten. Und nicht damit zufrieden zu töten, wüten sie, wie der be rüchtigte Busiris, Procrustes und die Seeräuber, die ihre Gefangenen peitschen und lebend ins Feuer werfen.< (2) Das ist zwar Grausamkeit ; aber weil sie keiner Rache nachgeht - denn sie ist nicht verletzt - und kei nem Vergehen zürnt - denn es ist kein Verbrechen vorausgegangen -, fällt sie aus unserer Bestimmung heraus. Denn die Bestimmung umfaßte Unbeherrscht heit der Leidenschaft beim Fordern der Bußen. Wir
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Liber II
rantiam animi. Possumus dicere non esse hanc crudeli tatem, sed feritatem, cui voluptati saevitia est ; possu mus insaniam vocare : nam varia sunt genera eius et nullum certius, quam quod in caedes hominum et la niationes pervenit. (3) Illos ergo crudeles vocabo, qui puniendi causam habent, modum non habent, sicut in Phalari, quem aiunt non quidem in homines innocen tes, sed super humanum ac prohabilem modum sae visse. Possumus effugere cavillationem et ita finire, ut sit crudelitas inclinatio animi ad asperiora. Hanc cle mentia repellit longe iussam stare a se; cum severitate illi convenit. ( 4) Ad rem pertinet quaerere hoc loco, quid sit mise ricordia ; plerique enim ut virtutem eam laudant et bonum hominem vocant misericordem. Et haec vitium animi est. Utraque circa severitatem circaque clemen tiam posita sunt, quae vitare debemus ; (per speciem enim severitatis in crudelitatem incidimus, ) per speciem clementiae in misericordiam. In hoc leviore periculo erratur, sed par error est a vero recedentium. 5 ( 1 ) Ergo quemadmodum religio deos colit, superstitio violat, ita clementiam mansuetudinemque omnes boni viri prae stabunt, misericordiam autem vitabunt ; est enim vi ti um pusilli animi ad speciem alienorum ( malorum) suc cidentis. Itaque pessimo cuique familiarissima est ; anus et mulierculae sunt, quae lacrimis nocentissimorum moventur, quae, si liceret, carcerem effringerent. Mise ricordia non causam, sed fortunam spectat ; clementia rationi accedit. (2) Scio male audire apud inperitos sectarn Stoicorum tamquam duram nimis et minime
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können sagen, daß dies nicht Grausamkeit ist, sondern tierische Wildheit, der das Wüten Genuß bereitet. Wir können es auch Wahnsinn nennen ; denn seine Spiel arten sind mannigfaltig und keine von größerer Be stimmtheit als die, welche zu Morden an Menschen und Blutrünstigkeiten gelangt. (3) Die werde ich also grau sam nennen, die Grund zum Strafen haben, aber kein Maß kennen, wie bei Phalaris, von dem man sagt, er habe zwar nicht gegen unschuldige Menschen, aber über menschliches und erträgliches Maß gewütet. Wir kön nen Haarspaltereien entgehen und so bestimmen, daß Grausamkeit eine Neigung der Seele zum Roheren ist. Diese stößt die Güte zurück und heißt sie weitab von ihr stehen ; denn mit der Strenge einigt sie sich. ( 4) Es gehört zur Sache, hier zu untersuchen, was Mitleid ist ; sehr viele nämlich loben es wie eine Tugend und nennen einen guten Menschen mitleidig. Auch das ist ein Mangel der Seele : beide nämlich liegen am Rande der Strenge und der Güte. Wir müssen sie vermei den ; im Blick auf die Strenge geraten wir nämlich in die Grausamkeit, im Blick auf die Güte ins Mitleid. Hierin irrt man mit geringerer Gefahr, aber gleich ist das Irren der von der Wahrheit Abkommenden. 5 ( 1 ) Wie nun die Religion die Götter verehrt, der Aberglaube sie verletzt, so werden alle guten Männer Güte und Sanftheit zeigen, Mitleid aber vermeiden ; es ist nämlich der Mangel eines kleinen Geistes, der beim Anblick fremder Leiden zusammenbricht. So ist es gerade den Schlechtesten am vertrautesten : alte Frauen und Weiblein sind es, die sich von den Tränen der Schuldigsten rühren lassen, die, wäre es erlaubt, den Kerker aufbrechen würden. Mitleid sieht nicht den Sachzusammenhang, sondern das Los an : die Güte schließt sich an die Vernunft an. (2) Ich weiß, daß bei den Unkundigen die Schule der Stoiker verschrien ist als allzu hart und keineswegs in der Lage, Fürsten und
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principibus regibusque bonum daturam consilium ; ob icitur illi, quod sapientem negat misereri, negat igno scere. Haec, si per se ponantur, invisa sunt ; videntur enim nullam relinquere spem humanis erroribus, sed omnia delicta ad poenam deducere. (3) Quod si est, quidnam haec scientia, quae dediscere humanitatem iubet portumque adversus fortunam certissimum mu tuo auxilio cludit? Sed nulla secta benignior leniorque est, nulla amantior hominum et communis boni adten tior, ut propositum sit usui esse, ut auxilio nec sibi tan tum, sed universis singulisque consulere. (4) Misericor dia est aegritudo animi ob alienarum miseriarum speciem aut tristitia ex alienis malis contracta, quae accidere inmerentibus credit ; aegritudo autem in sa pientem virum non cadit ; serena eius mens est, nec quicquam incidere potest, quod illam obducat. Nihil que aeque hominem quam magnus animus decet ; non potest autem magnus esse idem ac maestus. (5) Maeror contundit mentes, abicit, contrahit ; hoc sapienti ne in suis quidem accidet calamitatibus, sed omnem fortunae iram reverberabit et ante se franget; eandem semper faciem servabit, placidam, inconcussam, quod facere non posset, si tristitiam reciperet. 6 ( 1 ) Adice, quod sapiens et providet et in expedito consilium habet ; numquam autem liquidum sincerum que ex turbido venit. Tristitia inhabilis est ad dispi ciendas res, utilia excogitanda, periculosa vitanda, aequa aestimanda ; ergo non miseretur, quia id sine miseria animi non fit. (2) Cetera omnia, quae, qui
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Königen guten Rat z u erteilen. E s wird ihr nämlich vorgeworfen, daß sie bestreitet, der Weise erbarme sich und verzeihe. Wenn dies für sich aufgestellt würde, ist es abscheulich : scheint es doch keine Hoffnung zu las sen für menschliches Irren, sondern alle Vergehen der Strafe zuzuführen. (3) Wenn das so ist, wie sollte diese Wissenschaft dann nicht verhaßt sein, die befiehlt, die Menschlichkeit zu verlernen, und den zuverlässigsten Hafen gegen das Geschick, nämlich gegenseitige Hilfe, verschließt? Aber keine Schule ist gütiger und milder, keine menschenfreundlicher und wacher für das allge meine Wohl, so daß es Ziel ist, nützlich und hilfreich zu sein, und nicht nur für sich, sondern für die Gesamt heit und ihre einzelnen Glieder zu sorgen. ( 4) Mitleid ist ein Kummer der Seele beim Anblick fremden Elends oder Betrübnis aufgrund fremden Unglücks. Sie glaubt, es sei ihnen zugestoßen, ohne daß sie es verdiepten : Kummer aber trifft einen weisen Mann nicht. Seiri Sinn ist heiter, und es kann nichts geschehen, was ihn um wölkt. Und nichts ziemt einem Menschen in gleicher Weise wie ein hoher Sinn : er kann aber nicht zugleich hoch und traurig sein. (5) Trauer zerbricht den Sinn, wirft ihn nieder, zieht ihn zusammen. Das wird dem Weisen nicht einmal bei eigenen Unglücksfällen zu stoßen, sondern er wird allen Zorn des Geschickes zu rückschlagen und vor sich brechen. Denselben Ausdruck wird er immer bewahren, friedlich, unerschütterlich. Er könnte es nicht, wenn er der Betrübnis Eingang ge währte. 6 ( 1 ) Füge hinzu, daß der Weise vorausschaut und seine Geisteskraft bereithält. Niemals aber kommt Klares und Reines aus Trübem. Betrübnis ist unge schickt, die Dinge zu durchschauen, Nützliches auszu denken, Gefährliches zu vermeiden, Billiges abzuschät zen. Also erbarmt sich der Weise nicht, weil das ohne Elend des Geistes nicht geschieht. (2) Alles übrige, was
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miserentur, volo facere, libens et altus ammo faciet ; succurret alienis lacrimis, non accedet ; dabit manum naufrago, exuli hospitium, egenti stipem, non hanc contumeliosam, quam pars maior horum, qui miseri cordes videri volunt, abicit et fastidit, quos adiuvat, contingique ab iis timet, sed ut homo homini ex com muni dabit ; donabit lacrimis maternis filium et catenas solvi iubebit et ludo eximet et cadaver etiam noxium sepeliet, sed faciet ista tranquilla mente, voltu suo. (3) Ergo non miserebitur sapiens, sed succuret, sed proderit, in commune auxilium natus ac bonum publi cum, ex quo dabit cuique partem. Etiam ad calamitosos pro portione inprobandosque et emendandos bonita tem suam permittet; adflictis vero et forte laboranti bus multo libentius subveniet. Quotiens poterit, fortu nae intercedet ; ubi enim opibus potius utetur aut viribus, quam ad restituenda, quae casus inpulit ? Val turn quidem non deiciet nec animum ob crus alicuius aridum aut pannosam maciem et innixam baculo senec tutem ; ceterum omnibus dignis proderit et deorum more calamitosos propitius respiciet. ( 4) Misericordia vicina est miseriae ; habet enim aliquid trahitque ex ea. Inbecillos oculos esse scias, qui ad alienam lippitudi nem et ipsi subfunduntur, tarn mehercules quam mor-
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nach meinem Willen die tun sollen, die sich erbarmen, wird er gern und erhobenen Sinnes tun. Fremden Trä nen wird er zu Hilfe eilen, nicht nahekommen. Er wird dem Schiffbrüchigen die Hand, dem Verbannt.en Obdach, dem Bedürftigen eine Gabe geben, nicht diese verletzende, mit der die Mehrheit derer, die mitleidig erscheinen wollen, wegwerfend und hochmütig die be handelt, denen sie hilft, und fürchtet, von diesen be rührt zu werden, sondern wie ein Mensch wird er einem Menschen aus gemeinsamem Besitz geben. Er wird den mütterlichen Tränen den Sohn geben, wird die Ketten lösen lassen, ihn aus der Kaserne holen und wird auch einen schuldbeladenen Leichnam begraben, aber er wird das tun mit ruhigem Sinn, mit dem ihm eigenen Ausdruck. (3) Also wird der Weise sich nicht erbarmen, sondern wird zu Hilfe eilen, wird nützen, geboren zu gemeinsamer Hilfe und zum öffentlichen Wohl, von dem er jedem einen Teil geben wird. Auch auf die Unglücklichen, die verhältnismäßig zu miß billigen und zu bessern sind, wird er sein Gutsein über gehen lassen. Den Niedergeschlagenen gar und durch das Schicksal Leidenden wird er viel lieber zu Hilfe kommen. Sooft er kann, wird er dem Geschick in die Arme fallen. Wo wird er denn seine Mittel oder Kräfte besser gebrauchen, als um wiederherzustellen, was ein Schicksalsschlag traf? Den Blick wird er nicht sinken lassen ebensowenig wie den Mut wegen irgendeines dürren Schenkels oder lumpiger Magerkeit und seiner auf den Stock gestützten Greisenhaftigkeit. Im übrigen aber wird er allen, die es verdienen, nützen, und nach Götterart wird er die in Not Geratenen gnädig an blicken. ( 4) Erbarmen ist benachbart der Erbärmlich keit; es hat nämlich etwas und zieht etwas aus ihr. Schwach sind die Augen, mußt du wissen, die bei frem der Bindehautentzündung sich selber mit Tränen fül len, ebenso, beim Hercules, wie es eine Krankheit ist,
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bum esse, non hilaritatem, semper adridere ridentibus et ad omnium oscitationem ipsum quoque os diducere ; misericordia vitium est animorum nimis miseria paven tium, quam si quis a sapiente exigit, prope est, ut la mentationem exigat et alienis funeribus gemitus. 7 ( 1 ) [ At quare non ignoscet? vacuum] Constituamus nunc quoque, quid sit venia, et sciemus dari illam a sapiente non debere. Venia est poenae meritae remis sio. Hanc sapiens quare non debeat dare, reddunt ra tionem diutius, quibus hoc propositum est ; ego ut bre viter tamquam in alieno iudicio dicam : >Ei ignoscitur, qui puniri debuit; sapiens autem nihil facit, quod non debet, nihil praetermittit, quod debet ; itaque poenam, quam exigere debet, non donat. (2) Sed illud, quod ex venia consequi vis, honestiore tibi via tribuet ; parcet enim sapiens, consulet et corriget ; idem faciet, quod si ignosceret, nec ignoscet, quoniam, qui ignoscit, fatetur aliquid se, quod fieri debuit, omisisse. Aliquem verbis tantum admonebit, poena non adficiet aetatem eius emendabilem intuens ; aliquem invidia criminis mani feste Iaborantern iubebit incolumem esse, quia deceptus est, quia per vinum lapsus ; hostes dimittet salvos, ali quando etiam laudatos, si honestis causis pro fide, pro foedere, pro libertate in bellum acciti sunt. (3) Haec omnia non veniae, sed clementiae opera sunt. Clemen tia liberum arbitrium habet ; non sub formula, sed ex aequo et bono iudicat ; et absolvere illi licet et, quanti
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nicht Heiterkeit, immer Lächelnden zuzulächeln, und bei dem Gähnen aller auch selber den Mund ausein anderzuziehen : Erbarmen ist das Laster der Seelen, die sich allzusehr über Erbärmlichkeit erschrecken. Wenn einer es vom Weisen fordert, kommt es dem nahe, daß er Jammern und Schluchzen bei einem Begräbnis for dert, das ihn nicht betrifft. 7 ( 1 ) [Aber warum wird der Weise nicht verzeihen?] Legen wir jetzt noch fest, was Gnade ist, und wir wer den wissen, daß sie vom Weisen nicht gewährt werden darf. Gnade ist Erlaß verdienter Strafe. Warum diese der Weise nicht gewähren darf, darüber geben die län ger Rechenschaft, deren Aufgabe das ist ; um es von mir aus kurz, gleichwie in einem fremden Prozeß, zu sagen : >Dem wird verziehen, der hätte bestraft wer den müssen. Der Weise tut aber nichts, was er nicht soll, und unterläßt nichts, was er soll. Daher schenkt er nicht die Strafe, die er fordern muß. (2) Aber das, was du aus Gnade erlangen willst, teilt er dir auf sittlich schönere Weise zu. Der Weise schont nämlich, er sorgt und er richtet gerade. Er tut dasselbe, was er tun würde, wenn er verziehe, und verzeiht doch nicht, da, wer verzeiht, gesteht, daß er etwas unterlassen hat, was er hätte tun müssen. Irgendeinen wird er nur mit Worten mahnen, ihn nicht mit Strafe belegen im Blick auf sein besserungsfähiges Alter. Einen anderen, der handgreiflich unter der Verhaßtheit eines Verbrechens leidet, wird er unversehrt zu sein heißen, weil er ge täuscht wurde, weil er durch den Wein strauchelte. Landesfeinde wird er heil entlassen, manchmal sogar mit Lob, wenn sie durch anerkennenswerte Gründe für gegebenes Wort, für ein Bündnis, für die Freiheit zum Kriege aufgerufen waren. (3) Dies alles sind nicht Werke der Gnade, sondern der Güte. Die Güte hat freie Verfügungsgewalt, sie urteilt nicht im Rahmen einer Prozeßformel, sondern aufgrund des Billigen und
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vult, taxare Iitern. Nihil ex his facit, tamquam iusto minus fecerit, sed tamquam id, quod constituit, iustissi mum sit. lgnoscere autem est, quem iudices puniendum, non punire ; venia debitae poenae remissio est. Clemen tia hoc primum praestat, ut, quos dimittit, nihil aliud illos pati debuisse pronuntiet ; plenior est quam venia, honestior est. ( 4) De verbo, ut mea fert opinio, contro versia est, de re quidem convenit. Sapiens multa re mittet, multos parum sani, sed sanabilis ingenii serva bit. Agricolas bonos imitabitur, qui non tantum rectas procerasque arbores colunt; illis quoque, quas aliqua depravavit causa, adminicula, quibus derigantur, ad plicant ; alias circumcidunt, ne proceritatem rami pre mant, quasdam infirmas vitio loci nutriunt, quibusdam aliena umbra Iaborantibus caelum aperiunt. (5) Vide bit, quod ingenium qua ratione tractandum sit, quo modo in rectum prava flectantur . . .
silbernen < Latinität ist. In ihnen ist die gesamte Bildungswelt eingefangen, die auch in der Gedankenführung und der Wahl der Begrifflichkeit gegenwärtig ist, Cicero, Horaz, Vergil, Sallust vor allem. Letztlich aber beruht das alles darauf, daß Seneca die sel tene Fähigkeit hat, eine Lage oder ein Problem in aller Sinn lichkeit zu erfassen und es in seinem menschlichen Sinn, in der Wahrheit für den Menschen zu begreifen und auszu drücken. Daher die Bildlichkeit aus allen Bereichen der Natur, die den Zusammenhang aller Dinge und das Wesen zu fassen sucht, das zum Guten will oder sich von ihm ab wendet. Cicero sagte während der Greuel der Sulla-Zeit, die Grausamkeit der Zeit hätte an so viel Roheit gewöhnt, daß man alles Empfinden für Menschlichkeit verloren habe, omnem sensum humanitatis amisimus. In De clementia sucht Seneca wie in anderen Schriften das Sensorium für eigentliches Menschsein zu bilden und zu schärfen, in einer Zeit, in der es aus vielen anderen Gründen gefährdet war. Er glaubte fest, wenn man das Nützliche und Schöne an der Vernunft zeige, werde sich der Mensch von ihr auch leiten lassen. Kaiser Nero wurde im Dezember 37 n. Chr. geboren, kam am 1 3 . Oktober 5 4 zur Herrschaft und war 18 Jahre alt, als ihm Seneca die Schrift De clementia widmete (nach 1 ,9, 1 : cum hoc aetatis esset, quod tu nunc es, duodevicensimum egressus annum, besteht kein Anlaß, den klaren Wortlaut zu ändern oder ihn nicht auf Nero zu beziehen) . Das war um die Wende der Jahre 55 auf 56 n. Chr. Ein Jahr vorher hatte Nero den Sohn des Claudius, Britannicus, umbringen lassen (Tacitus, Annales 1 3 ; 1 5 ff.) , weil Streit und gefährliche Worte des Britannicus das Bedrohliche des Nebeneinanders zwischen dem Kaiser und dem in der Anwartschaft auf den Rang des Princeps näheren Jüngeren offenbar gemacht hat ten. Hat sein Lehrer Seneca davon gewußt, als er die vor liegende Schrift schrieb? In der Todesstunde jedenfalls
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scheint es ihm bekannt ; denn er sagt nach Tacitus (Annales 1 5 ,62) : »Wem sei die Grausamkeit Neros unbekannt ge wesen? Und es bleibe jetzt nichts übrig, nachdem er Mutter und Bruder getötet habe, als daß er den Mord am Erzieher und Lehrer hinzufüge.« Durch die Schrift geht das Leitmotiv, daß Nero im Ge gensatz zu dem großen Vorbild Augustus zur Herrschaft gelangt sei und sie jetzt führe, ohne einen Tropfen Blut ver gossen zu haben. Soll man die Schrift darum - im Wider spruch zu 1 ,9 - vor den Februar 55 datieren? Soll man an nehmen, daß Seneca nichts von dem Mord gewußt habe? Oder soll man schließlich glauben, Seneca habe die Tat igno riert und ein Bild von Nero entworfen, das diesem die Schrift um so wertvoller machen mußte? Alle Möglichkeiten sind von den Gelehrten vertreten worden. Die Schrift vor den Tod des Britannicus zu datieren wird schwerlich gelin gen : man müßte einen durchaus heilen Text ändern oder annehmen, sie sei in der Zeit der hervortretenden Feind schaft als Warnung konzipiert und später mit korrigiertem Zeitansatz herausgegeben worden. Daß Seneca volle Kennt nis von Neros teuflischem Anschlag gehabt habe, kann man niemanden zwingen zu glauben. Nero wies beim Zusammen brechen auf die Epilepsie hin, an der Britannicus litt (Bri tannicus trank den vergifteten Becher bei einer Abendgesell schaft, die nach seinem Tode fortgesetzt wurde, da Nero erklärt hatte, er werde bald wieder zu sich kommen). Jedoch ist De clementia durchaus nicht die Schrift eines naiven Schriftstellers und ist auch nicht für naive Leser berechnet. Tacitus erzählt (Annales 1 3 , 1 7) , daß es beim Begräbnis auf dem Marsfeld in Strömen regnete, so daß das Volk darin Götterzorn gegen die Untat sah, eine Untat, der - wie er sarkastisch bemerkt - sogar die meisten Menschen verziehen, da sie Bruderzwist und Absolutheitsanspruch des Regie rungsamtes in Rechnung setzten. Wird man einerseits nicht so weit gehen, Seneca zu dieser Mehrheit der Menschen zu rechnen, die statt mit Recht als Menschen empört zu sein,
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diesen Zorn lieber den Göttern überließen, an deren Zeichen die Masse glaubte, so wird man andererseits nicht anneh men, daß er nichtsahnend gewesen sei. Daß er die Tat ver abscheut hätte, wenn sie ihm bewiesen erschienen wäre, daß er sein gutes Gewissen nicht verkauft hätte, um Nero wo möglich bei jeder folgenden Untat mit einer philosophischen Schrift ein moralisches Alibi t.u schaffen, dessen darf man sicher sein. Man muß dabei bedenken, daß Seneca, was in dieser Gesellschaft besonders gefürchtet wurde, sich zugleich mit der oben zitierten Beurteilung von Neros Herrschaft der Lächerlichkeit preisgegeben hätte, falls irgend etwas Sicheres bekannt gewesen wäre. Vor allem aber : Seneca hätte das Ziel der Schrift, Nero mit allen Mitteln der Kunst der Überzeugung auf Recht und Güte zu verpflichten, illusorisch gemacht, wenn er gewußt hätte, daß er sich mit dem Ver such, durch Lob Neros Anlagen zum Guten zu wenden, einem Mörder hörig machte. Diese Erwägungen sollen nicht dazu dienen, Seneca moralisch zu belasten oder von einem machiavellistischen Standpunkte aus zu entlasten. Die Nachwelt und die Menschheit geht letztlich die Schlüssigkeit der Gedanken und die Wirkkraft der Form und des Stils dieser Schrift an, deren Einfluß auf die Jahrhunderte unabsehbar geworden ist. Ihrer Interpretation sollte die Erörterung der Frage die nen, ob Seneca vom Mord an Britannicus gewußt habe. Und unsere Erwägung läßt jedenfalls so viel erkennen, daß sie tiefster Sorge entspringt, daß sie ein Versuch ist, ohne jede Macht, allein mit den Waffen des Geistes und des Wortes den jugendlichen, zur Brutalität neigenden Alleinherrscher über die Welt für das Recht zu gewinnen. Man weiß, wie es ausgegangen ist : nach dem berühmten quinquennium, dem Jahrfünft, in dem Seneca im Zusammenwirken mit dem Prätorianerpräfekten Burrus der Menschheit eine glückliche Zeit bescherte, mußte er immer mehr das Vergebliche seines Bemühens einsehen. Er ging in den Tod, vielleicht nicht ganz untheatralisch, aber mit der Würde des Philosophen, treu
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seinen Überzeugungen. De clementia ist ein Dokument die ser eigenen Tragik. Nichts ist darum grotesker, als in De clementia einen juri stischen Traktat zu sehen, durch den statt strenger Anwen dung der Gesetze die Berücksichtigung mildernder Umstände empfohlen werden soll, statt des ius strictum die Billigkeit. Wahrlich ein ungeeigneter Adressat für juristische Finessen und ein dringendes Problem, wenn es um die Verhinderung von Gewalttaten des Princeps geht ! Mit dem Werk sind zwei im engeren Sinne philologische Fragen verbunden, die voneinander abhängig sind und ohne eine dritte wesentlichere nicht gelöst werden können. Seneca gliedert seine Schrift (1, 3, 1 ) in drei Teile. Seneca nennt sie partes. Da der zweite Teil mit dem Inhalt des zweiten Buches zusammenstimmt, hat man allgemein ange nommen, daß das Werk aus drei Büchern besteht und, da vom zweiten Buch nur der Anfang erhalten ist, unvollstän dig überliefert ist. Leider ist die Inhaltsumgrenzung des ersten Teiles in der Überlieferung verdorben worden : das tradierte und noch von Haase akzeptierte manumissionis ist sicher eine Korrupte!. Bei der Unsicherheit über Senecas Ab sicht im ersten Punkt konnte von Prechac die Behauptung gewagt werden, die Schrift, die mitten im zweiten Buche abzubrechen scheint, sei vollständig erhalten. Der erste Punkt behandle die humane Art Neros, zu lesen sei dem nach >humanissimi NeronisWesen und Beschaffenheit der clementia und ihre Abgrenzung von verwandten Begriffen