Ernst Bloch
Das Prinzip Hoffnung
Erster Band
[Klappentext] Ernst Bloch wurde am 8. Juli 1885 in Ludwigshafen geboren,...
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Ernst Bloch
Das Prinzip Hoffnung
Erster Band
[Klappentext] Ernst Bloch wurde am 8. Juli 1885 in Ludwigshafen geboren, studierte Philosophie und Physik und lebte zunächst als freier Schriftsteller in München, Bern und Berlin. 1933 emigrierte er in die Tschechoslowakei und 1938 in die USA. Von 1949 bis 1957 war er Ordinarius für Philosophie an der Universität Leipzig und seit 1961 an der Universität Tübingen. 1967 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Werke. Geist der Utopie, Thomas Münzer als Theologe der Revolution, Spuren, Erbschaft dieser Zeit, Subjekt-Objekt, Das Prinzip Hoffnung, Naturrecht und menschliche Würde, Verfremdungen, Tübinger Einleitung in die Philosophie. Als Ernst Blochs «Prinzip Hoffnung« 1959 im Suhrkamp Verlag erschien, war es schon, obwohl bis dahin noch nicht vollständig publiziert, ein berühmtes Werk. Heute ist die Wirkung vielleicht nicht mehr die eines Lauffeuers, aber sie reichttiefer: Das Antizipieren der Zukunft, das »Träumen nach vorwärts«, das in diesem Werk philosophisch demonstriert wird, hat nicht nur das wissenschaftliche Denken ungemein angeregt, sondern ist tief in das Lebensgefühl der heutigen Generation eingedrungen. / Geschrieben 1938-1947 in den USA durchgesehen 1953 und 1959 Suhrkamp taschenbuch wissenschaft 3 Dritte Auflage 26-35 Tausend 1976 / Meinem Sohn Jan Robert Bloch /
INHALT Vorwort 21 ERSTER TEIL (BERICHT) KLEINE TAGTRÄUME 1. Wir fangen leer an
21
2. Vieles schmeckt nach mehr
21
3.Täglich ins Blaue hinein
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4.Versteck und schöne Fremde Unter sich 22 - Daheim schon unterwegs 23
22
5. Flucht und die Rückkehr des Siegers Ab zu Schiff 25 - Die funkelnde Schale 26
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6.Reifere Wünsche und ihre Bilder 30 Die lahmen Gäule 31 - Nacht der langen Messer 32 - Kurz vor Torschluß 33 Erfindung eines neuen Vergnügens 35 - Gelegenheit, freundlich zu sein 36 7. Was im Alter zu wünschen übrigbleibt 37 Wein und Beutel 38 - Heraufbeschworene Jugend; Gegenwunsch: Ernte 38 - Abend und Haus 41 8. Das Zeichen, das wendet
44
ZWEITER TEIL (GRUNDLEGUNG) DAS ANTIZIPIERENDE BEWUSSTSEIN 9. Was als Drängen vor sich geht
49
10. Nacktes Streben und Wünschen, nicht gesättigt.
49
11. Der Mensch als ziemlich umfängliches Triebwesen 52 Der einzelne Leib 52 - Kein Trieb ohne Leib dahinter 52 - Die wechselnde Leidenschaft 54 12. Verschiedene Auffassungen vom menschlichen Grundtrieb 55 Der geschlechtliche Trieb 55 - Ichtrieb und Verdrängung 56 Verdrängung, Komplex, Unbewußtes und die Sublimierung 59 Machttrieb, Rauschtrieb, Kollektiv-Unbewußtes 63 - »Eros« und die Archetypen 67 13.Die geschichtliche Begrenztheit aller Grundtriebe; verschiedene Lagen des Selbstinteresses; gefüllte und Erwartungs-Affekte 71 Der dringende Bedarf 71 - Verläßlichster Grundtrieb: Selbsterhaltung 72 Geschichtlicher Wandel der Triebe, auch des Selbsterhaltungstriebs 74 Gemütsbewegung und Selbstzustand, Appetitus der Erwartungsaffekte, vorzüglich
der Hoffnung 77 - Selbsterweiterungstrieb nach vorwärts, tätige Erwartung 84 14 Grundsätzliche Unterscheidung der Tagträume von den Nachtträumen. Versteckte und alte Wunscherfüllung im Nachttraum, ausfabelnde und antizipierende in den Tagphantasien 86 Neigung zum Traum 86 - Träume als Wunscherfüllung 87 - Angsttraum und Wunscherfüllung 91 - Eine Hauptsache: Der Tagtraum ist keine Vorstufe des nächtlichen Traums 96 - Erster und zweiter Charakter des Tagtraums: freie Fahrt, erhaltenes Ego 98 - Dritter Charakter des Tagtraums: Weltverbesserung 102 Vierter Charakter des Tagtraums: Fahrt ans Ende 107 - Ineinander nächtlicher und täglicher Traumspiele, seine Auflösung 111 - Nochmals Neigung zum Traum: die «Stimmung« als Medium von Tagträumen 116 - Nochmals die Erwartungsaffekte (Angst, Furcht, Schreck, Verzweiflung, Hoffnung, Zuversicht) und der Wachtraum 121 15. Entdeckung des Noch-Nicht-Bewußten oder der Dämmerung nach Vorwärts. Noch-Nicht-Bewußtes als neue Bewußtseinsklasse und als Bewußtseinsklasse des Neuen: Jugend, Zeitwende, Produktivität. Begriff der utopischen Funktion, ihre Begegnung mit Interesse, Ideologie, Archetypen, Idealen, Allegorien-Symbolen 129 Die zweiRänder 129 - Doppelte Bedeutung des Vorbewußten 130 Noch-Nicht-Bewußtes in Jugend, Zeitwende, Produktivität 132 Weiteres zur Produktivität: ihre drei Stadien 138 - Unterschiede des Widerstands, den das Vergessene und das Noch-Nicht-Bewußte der Erhellung entgegensetzen 144 Epilog über die Sperre, die den Begriff des Noch-Nicht-Bewußten so lange verhindert hat 149 - Die bewußte und die gewußte Tätigkeit im Noch-NichtBewußten, utopische Funktion 161 - Weiter utopische Funktion: das Subjekt in ihr und der Gegenzug gegen das schlecht Vorhandene 167 - Berührung der utopischen Funktion mit Interesse 171 - Begegnung der utopischen Funktion mit Ideologie 174 Begegnung der utopischen Funktion mit Archetypen 181 - Begegnung der utopischen Funktion mit Idealen 189 - Begegnung der utopischen Funktion mit Allegorien-Symbolen 199 16. Utopischer Bildrest in der Verwirklichung; ägyptische und trojanische Helena204 Träume wollen ziehen 204 - Nicht-Genügen und was darin stecken kann 205 - Erster Grund der Enttäuschung: Dort, wo du nicht bist, dort ist das Glück; zweiter Grund: Verselbständigter Traum und die Sage der doppelten Helena 206 - Einwand gegen den ersten und zweiten Grund: Odyssee des Stilliegens 113 - Dritter Grund der utopischen Reisebilder: die Aporien der Verwirklichung 217 17. Die Welt, worin utopische Phantasie ein Korrelat hat; reale Möglichkeit, die Kategorien Front, Novum, Ultimum und der Horizont 224 Der Mensch ist nicht dicht 224 - Vieles in der Welt ist noch ungeschlossen 225 Militanter Optimismus, die Kategorien Front, Novum, Ultimum 227 - Das «nach Möglichkeit« und das «in Möglichkeit Seiende«:, Kälte- und Wärmestrom im Marxismus 235 - Künstlerischer Schein als sichtbarer Vor-Schein 242 - Falsche Autarkie; Vor-Schein als reales Fragment 250 - Es geht um den Realismus, alles Wirkliche hat einen Horizont 256
18. Die Schichten der Kategorie Möglichkeit 258 Das formal Mögliche 258 - Das sachlich-objektiv-Mögliche 259 Das sachhaftobjektgemäß Mögliche 264 - Das objektiv-real Mögliche 271 - Erinnerung: Logisch-statischer Kampf gegen das Mögliche 278 - Möglichkeit verwirklichen 284 19. Weltveränderung oder die Elf Thesen von Marx über Feuerbach288 Zeit der Abfassung 289 - Frage der Gruppierung 293 - Erkenntnistheoretische Gruppe: Die Anschauung und Tätigkeit (Thesen 5, 1, 3) 295 Anthropologisch-historische Gruppe: Die Selbstentfremdung und der wahre Materialismus (Thesen 4, 6, 7, 9, 10)304 - Theorie-Praxis-Gruppe: Beweis und Bewährung (Thesen 2,8) 310 - Das Losungswort und sein Sinn (These 11) 319 Der archimedische Punkt; Wissen nicht nur auf Vergangenes, sondern wesentlich auf Heraufkommendes bezogen 328 20. Zusammenfassung / Antizipatorische Beschaffenheit und ihre Pole: Dunkler Augenblick - Offene Adäquatheit 334 Puls und gelebtes Dunkel 334 - Platz für möglichen Vormarsch 335 - Quell und Mündung: das Staunen als absolute Frage 336 - Nochmals: Dunkel des gelebten Augenblicks: Carpe diem 338 - Dunkel des gelebten Augenblicks, Fortsetzung: Vordergrund, schädlicher Raum, Melancholie der Erfüllung, Selbstvermittlung 343-NochmaIs Staunen als absolute Frage, in Angst- wie Glücksgestalt; der schlechthin utopische Archetyp: höchstes Gut 350 - Das Nicht im Ursprung, das Noch-Nicht in der Geschichte, das Nichts oder aber das Alles am Ende 356 - Utopie kein dauernder Zustand; also doch: Carpe diem, aber als echtes an echter Gegenwart 364 21. Tagtraum in entzückender Gestalt: Pamina oder das Bild als erotisches Versprechen 368 Der zärtliche Morgen 368 - Wirkung durchs Porträt 369 - Nimbus um Begegnung, Verlobung 373 - Zuviel Bild, Rettung davor, Nimbus um die Ehe 375 - Hohes Paar, Corpus Christi oder kosmisch und christförmig gewesene Utopie der Ehe 381 Nach-Bild der Liebe 385 22. Tagtraum in symbolischer Gestalt: Lade der Pandora; das gebliebene Gut
387
DRITTER TEIL (ÜBERGANG) WUNSCHBILDER IM SPIEGEL (AUSLAGE, MÄRCHEN, REISE, FILM, SCHAUBÜHNE) 23. Sich schöner machen, als man ist
395
24. Was einem heute der Spiegel erzählt Schlank sein 396 - Stark im Ducken 396
396
25. Das neue Kleid, die beleuchtete Auslage Gut aufgebaut 398 - Licht der Reklame 400
397
26. Schöne Maske, Kukluxklan, die bunten Magazine
401
Die krummen Wege 402 - Erfolg durch Schrecken 403 - Erfolgsbücher, Geschichten aus Syrup 406 27. Bessere Luftschlösser in Jahrmarkt und Zirkus, in Märchen und Kolportage
409
Mut des Klugen 411 - Tischleindeckdich, Geist der Lampe 412 Auf Flügeln des Gesanges, Herzliebchen, trag ich dich fort« 415 - »Fort nach den Fluren des Ganges, dort weiß ich den schönsten Ort« 418 - Südsee in Jahrmarkt und Zirkus 421 - Das wilde Märchen: als Kolportage 426 28. Reiz der Reise, Antiquität, Glück des Schauerromans 429 Schöne Fremde 430 - Fernwunsch und historisierendes Zimmer im neunzehnten Jahrhundert 435 - Aura antiker Möbel, Ruinenzauber, Museum 442 - Schloßgarten und die Bauten Arkadiens 449 - Tolles Wetter, Apollo bei Nacht 453 29. Wunschbild im Tanz, die Pantomime und das Filmland 456 Neuer Tanz und alter 457 - Neuer Tanz als ehemals expressionistischer, Exotik 460 - Kulttanz, Derwische, seliger Reigen 462 - Die taubstumme und die bedeutende Pantomime 467 - Neuer Mimus durch die Kamera 471 - Traumfabrik im verrotteten und im transparenten Sinn 474 30. Die Schaubühne, als paradigmatische Anstalt betrachtet, und die Entscheidung in ihr 478 Der Vorhang geht auf 478 - Die Probe aufs Exempel 479 - Weiteres zur Probe aufs zu suchende Exempel 483 - Lektüre, Sprachmimik und Szene 485 - Illusion, aufrichtiger Schein, moralische Anstalt 490 - Falsche und echte Aktualisierung 494 Weitere echte Aktualisierung: Nicht Furcht und Mitleid, sondern Trotz und Hoffnung 497 31. Verspottete und geballte Wunschbilder, freiwillig humoristische500 Das Wörtchen Wenn 500 - «Die neumodischen Dinge taugen alle nichts 501 - Le Néant; Un autre monde 502 - Die «Vögel« des Aristophanes und das Wolkenkuckucksheim 505 - Fröhliche Überbietung: Lukians «Vera historia« 507 Freiwillig-humoristische Wunschbilder 509 32. Happy-end, durchschaut und trotzdem verteidigt.
512
[Band 2] VIERTER TEIL (KONSTRUKTION) GRUNDRISSE EINER BESSEREN WELT (HEILKUNST, GESELLSCHAFTSSYSTEME, TECHNIK, ARCHITEKTUR, GEOGRAPHIE, PERSPEKTIVE IN KUNST UND WEISHEIT) 33. Ein Träumer will immer noch mehr
523
34. Übung des Leibs, tout va bien
523
35. Kampf um Gesundheit, die ärztlichen Utopien 526 Ein warmes Bett 526 - Irre und Märchen 527 - Arznei und Planung 529 - Zögerung und Ziel im wirklichen leiblichen Umbau 536 - Malthus, Geburtenziffer, Nahrung 542 - Die Sorge des Arztes -545 36. Freiheit und Ordnung, Abriß der Sozialutopien 547 I. Einführung / Ein schlichtes Mahl 547 - Die gebratenen Tauben 548 - Irrsinn und Kolportage auch hier 548 - New Moral Worlds am Horizont 551 - Utopien haben ihren Fahrplan 555 II. Soziale Wunschbilder der Vergangenheit / Solon und die bescheidene Mitte 558 Diogenes und die musterhaften Bettler 559 - Aristipp und die musterhaften Schmarotzer 560 - Platons Traum vom dorischen Staat 562 - Hellenistische Staatsmärchen, Sonneninsel des Jambulos 566 - Stoa und internationaler Weltstaat 569 - Bibel und Reich der Nächstenliebe 575 - Augustins Gottesstaat aus Wiedergeburt 582 - Joachim di Fiore, drittes Evangelium und sein Reich 590 -Thomas Morus oder die Utopie der sozialen Freiheit 598 - Gegenstück zu Morus: Campanellas Sonnenstaat oder die Utopie der sozialen Ordnung 607 - Sokratische Frage nach Freiheit und Ordnung, unter Berücksichtigung von »Utopia« und »Civitas solis« 614 - Fortgang: Sozialutopien und klassisches Naturrecht 621 - Aufgeklärtes Naturrecht an Stelle von Sozialutopien 629 - Fichtes geschlossener Handelsstaat oder Produktion und Tausch nach Vernunftrecht 637 - Föderative Utopien im neunzehnten Jahrhundert: Owen, Fourier 647 - Zentralistische Utopien im neunzehnten Jahrhundert: Cabet, Samt-Simon 654 - Individuelle Utopisten und die Anarchie: Stirner, Proudhon, Bakunin 662 -Proletarisches Luftschloß aus dem Vormärz: Weitling 670 - Ein Fazit: Schwäche und Rang der rationalen Utopien 674 III. Projekte und Fortschritt zur Wissenschaft / Aktueller Rest: bürgerliche Gruppenutopien 680 - Anfang, Programm der Jugendbewegung 683 - Kampf ums neue Weib, Programm der Frauenbewegung 687 - Altneuland, Programm des Zionismus 698 - Zukunftsromane und Gesamtutopien nach Marx: Bellamy, William Morris, Carlyle, Henry George 714 - Marxismus und konkrete Antizipation 723 37. Wille und Natur, die technischen Utopien 729 I.Magische Vergangenheit / Ins Elend gestürzt 730 - Feuer und neue Rüstung 731 Irrsinn und Aladins Märchen 731 - »Professor Mystos« und die Erfindung 734 Andreäs »Chymische Hochzeit Christiani Rosenkreutz anno 1459« 740 - Nochmals Alchymie: mutatio specierum (Umwandlung der anorganischen Arten) und ihr Brutofen 746 - Ungeregelte Erfindungen und »Propositiones« im Barock 754 -
Bacons Ars inveniendi; Fortleben der Lullischen Kunst 758 - Nova Atlantis, das utopische Laboratorium 763, II. Nicht-euklidische Gegenwart und Zukunft, technisches Anschlußproblem / Auch Pläne müssen angetrieben werden 767 - Spätbürgerliche Drosselung der Technik, abgesehen von der militärischen 768 - Entorganisierung der Maschine, Atomenergie, nicht-euklidische Technik 771 - Subjekt, Rohstoffe, Gesetze und Anschluß in der Entorganisierung 778 - Elektron des menschlichen Subjekts, der Willenstechnik 788 - Mitproduktivität eines möglichen Natursubjekts oder konkrete Allianztechnik 802 Technik ohne Vergewaltigung; ökonomische Krise und technischer Unfall 807 -, Gefesselter Riese, verschleierte Sphinx, technische Freiheit 813 38. Bauten, die eine bessere Welt abbilden, architektoni[ni]sche Utopien819 I. Figuren der alten Baukunst / Blick durchs Fenster 819 -Träume an der pompejanischen Wand 820 - Festschmuck und barocke Bühnenbauten 821 Wunscharchitektur im Märchen 827 - Wunscharchitektur in der Malerei 830 - Die Bauhütten oder architektonische Utopie bei der Ausführung 835 - Ägypten oder die Utopie Todeskristall, Gotik oder die Utopie Lehensbaum 844 - Weitere und einzelne Exempel von Leitraum in der alten Baukunst 850, II. Die Bebauung des Hohlraums / Neue Häuser und wirkliche Klarheit 858 Stadtpläne, Idealstädte und nochmals wirkliche Klarheit: Durchdringung des Kristalls mit Fülle 863 39. Eldorado und Eden, die geographischen Utopien. 873 Die ersten Lichter 873 - Erfinden und Entdecken; Eigenart der geographischen Hoffnung 874 - Wiederum Märchen, Goldenes Vlies und Gral 880 - Phäakeninsel, der schlimme Atlantik, Lage des irdischen Paradieses 884 - Meerfahrt St. Brendans, Reich des Priesterkönigs Johannes; amerikanisches, asiatisches Paradies 892 Kolumbus am Orinoko-Delta; Kuppel der Erde 904 - Südland und die Utopie Thule 909 - Bessere Wohnstätten auf anderen Sternen; hic Rhodos 915 - Die Kopernikanische Beziehung, Baaders »Zentralerde« 918 - Geographische Verlängerungslinie in Nüchternheit; der Fundus der Erde, mit Arbeit vermittelt 924 40. Dargestellte Wunschlandschaft in Malerei, Oper, Dichtung 929 Die bewegte Hand 930 - Blume und Teppich 930 - Stilleben aus Menschen 931 Einschiffung nach Cythera 932 - Perspektive und großer Horizont bei van Eyck, Leonardo, Rembrandt 935 Stilleben, Cythera und weite Perspektive in der Dichtung: Heinse, Roman der Rose, Jean Paul 939 - Die Wunschlandschaft Perspektive in der Ästhetik; Rang der Kunststoffe nach Maßgabe ihrer Tiefen- und Hoffnungsdimension 945 - Maler des gebliebenen Sonntags, bei Seurat, Cézanne, Gauguin; Giottos Legendenland 952 - Legendenland in der Dichtung: als himmlische Rose in Dantes Paradiso, als transzendentes Hochgebirge im Faust-Himmel 961 - Prunk, Elysium in Oper und Oratorium 969 - Berührung des Interieurs und des Unbegrenzten im Geist der Musik: Kleists Ideallandschaft; Sixtinische Madonna 977 41. Wunschlandschaft und Weisheit sub specie aeternitatis und des Prozesses982 Die Suche nach dem Maß 982 - Das »Eigentliche« in Urstoff und Gesetz 984 - Kant und intelligibles Reich; Platon, Eros und die Wertpyramide 987 - Bruno und das unendliche Kunstwerk; Spinoza und die Welt als Kristall 993 - Augustin und Zielgeschichte; Leibniz und die Welt als Erhellungsprozeß 1000 -Der wachtbabende
Begriff oder das «Eigentliche« als Aufgabe 1011 - Zwei Wunschsätze: Die lehrbare Tugend, der kategorische Imperativ 1016 - Der Satz des Anaximander oder Welt, die sich ins Gleiche stellt 1026 - Leichtheit in der Tiefe, Freudigkeit des Lichtwesens 1031 42. Achtstundentag, Welt im Frieden, Freizeit und Muße 1039 Die Peitsche des Hungers 1040 - Aus den Kasematten der Bourgeoisie 1040 Allerhand Milderung durch Wohltat 1045 - Bürgerlicher Pazifismus und Friede 1048 Technische Reife, Staatskapitalismus und Staatssozialismus; Oktoberrevolution 1053 - Täuschungen der Freizeit: Ertüchtigung zum Betrieb 1062 - Gebliebene ältere Formen der Freizeit, verdorben, doch nicht hoffnungslos: Steckenpferd, Volksfest, Amphitheater 1065 - Die Umgebung der Freizeit: Utopisches Buen Retiro und Pastorale 1073 - Muße als unerläßliches, erst halb erforschtes Ziel 1080 [Band 3] FÜNFTER TEIL (IDENTITÄT) WUNSCHBILDER DES ERFÜLLTEN AUGENBLICKS (MORAL, MUSIK, TODESBILDER, RELIGION, MORGENLAND NATUR, HÖCHSTES GUT) 43. Nicht im reinen mit sich
1089
44. Haus und Schule leiten an
1090
45. Leitbilder selber, um menschenähnlich zu werden
1093
46. Leittafeln des gefährlichen und des glücklichen Lebens 1097 So manches offen 1097 - Zu warm gekleidet 1097 - Wilde, verwegene Jagd 1098 Französisches Glück und Freude 1100 Abenteuer des Glücks 1101 47. Leittafeln der Willenstempi und der Betrachtung, der Einsamkeit und der Freundschaft, des Individuums und der Gemeinschaft 1103 Ein anständiger Mensch 1103 - Fabios oder der zaudernde Täter 1104 - Sorel, Machiavelli oder Tatkraft und Glücksrad 1106 - Bruchproblem, Herkules am Scheideweg, Dionysos-ApolIo 1113 Vita aetiva, Vita contemplativa oder die Welt des erwählten guten Teils 1119 - Doppellicht Einsamkeit und Freundschaft 1125 Doppellicht Individuum und Kollektiv 1134 - Rettung des Individuums durch Gemeinsamkeit 1139 48. Der junge Goethe, Nicht-Entsagung, Ariel 1143 Der Wunsch zu zerschlagen 1143 - Glück und Leid des Wertherschen 1144 - Die Forderung, Prometheus, Ur-Tasso 1146 - Intention der Erhabenheit, Faust-Gotik und Metamorphose 1152 - Ariel und die dichterische Phantasie 1158 -Das Dämonische und die sich sagende allegorisch-symbolische Verschlossenheit 1162 - Nur wer die Sehnsucht kennt: Mignon 1167 - Wünsche als Vorgefühle unserer Fähigkeiten 1172 49. Leitfiguren der Grenzüberschreitung; Faust und die Wette um den erfüllten Augenblick 1175 Kein nasses Stroh 1175 - Die Laute schlagen und die Gläser leeren 1176 - Don Giovanni, alle Frauen und die Hochzeit 1180 - Faust, Makrokosmos,Verweile doch,
du bist so schön 1188 - Faust, Hegels Phänomenologie und das Ereignis 1194 Odysseus starb nicht in Ithaka, er fuhr zur unbewohnten Welt 1201 - Hamlet, verschlossener Wille; Prospero, grundlose Freude 1206 50.Leittafeln abstrakter und vermittelter Grenzüberschreitung, angezeigt an Don Quichotte und Faust 1214 Der gärende Wille 1214 - Don Quichottes traurige Gestalt und goldene Illusion 1216 - Verwandtes: Unrecht und Recht Tassos gegen Antonio 1235 - Das LuziferischPrometheische und die Klangschicht 1238 51. Überschreitung und intensitätsreichste Menschwelt in der Musik 1243 Glück der Blinden 1243 - Die Nymphe Syrinx 1244 - Bizarrer Held und Nymphe: Symphonie fantastique 1246 - Menschlicher Ausdruck als unabtrennbar von Musik 1248 - Musik als Kanon und Gesetzwelt; Sphärenharmonie, humanere Leitsterne 1258 - Tonmalerei, nochmals Naturwerk, die Intensität und Moralität Musik 1270 Der Hohlraum; Subjekt der Sonate und Fuge 1280 - Trauermarsch, Requiem, Kondukt hinter den Tod 1289 - Marseillaise und Augenblick in Fidelio 1295 52. Selbst und Grablampe oder Hoffnungsbilder gegen die Macht der stärksten Nicht-Utopie: den Tod 1297 I. Einführung / Vom Sterben nicht reden 1298 - Utopien der Nacht, die auf dieser Welt keinen Morgen mehr hat 1299 II. Religiöse Kontrapunkte aus Tod und Sieg / Vom Toten nur Gutes 1304 - Schatten und griechische Dämmerung 1306 - Bejahung der Wiederkehr; orphisches Rad 2308 - Elixiere der Seele und gnostische Himmelsreise 1312 - Der ägyptische Himmel im Grab 1319 - Biblische Auferstehung und Apokalypse 1323 Mohammedanischer Himmel, Stärke des Fleischs, Zaubergarten 1333 - Lauter Ruhe sucht auch noch Befreiung vom Himmel, Wunschbild Nirwana 1336 III. Aufgeklärte und romantische Euthanasien / Der Freigeist als Starkgeist 1343 Jüngling mit der umgekehrten Fackel und mit der neu entzündeten 1344 - Auflösung ins All, letale Rückkehr zur Natur 1350 - Gletscher, Erdmutter und Weltgeist 1355 IV. Weitere säkularisierte Gegenzüge, Nihilismus, Haus der Menschheit / Immer noch Färbendes des Nichts 1360 - Vier Zeichen eines beliehenen Glaubens 1361-Die metaphorische Unsterblichkeit: im Werk 1366 - Der Tod als Meißel in der Tragödie 1372 - Verschwinden des letalen Nichts im sozialistischenBewußtsein 1378 V. Lebenslust und Fragment in allen Dingen / Forschende Reise in den Tod 1384 Der Augenblick als Nicht-Da-Sein; Exterritorialität zum Tod 1385 53. Wachsender Menscheinsatz ins religiöse Geheimnis, in Astralmythos, Exodus, Reich; Atheismus und die Utopie des Reichs 1392 1. Einführung / In guter Hand 1392 - Wiederum Irre, okkulter Pfad 1393 - Häuptling und Zauberer; jede Religion hat Stifter 1399 - Ein Numinoses, auch im religiösen Humanum 1405 II. Stifter, Frohbotschaften und Cur Deus homo / Der fremde Lehrer: Kadmos 1417 Sänger des rauschhaften Heils: Orpheus 1418 - Dichter apollinischer Götter und ihres Beistands: Homer und Hesi0d; römische Staatsgötter 1419 - Der unaufgeblühte Glaube an Prometheus und die tragische Liturgie: Äschylos 1427 Fischmensch und Mondschreiber des Astralmythos: Oannes, Hermes Trismegistos-Thot 1432 - Frohbotschaft des irdisch-himmlischen Gleichgewichts und
des unscheinbaren Welttakts (Tao): Konfuzius, Lautse 1438 - Stifter, der zur Frohbotschaft bereits selber gehört: Moses. sein Gott des Exodus 1450 - Moses oder das Bewußtsein der Utopie in der Religion, der Religion in der Utopie 1456 Kriegerischer Selbsteinsatz, gemengt mit Astrallicht: Zorosster, Mani 1464 Erlösender Selbsteinsatz, begrenzt auf Akosmos, bezogen auf Nirwana: Buddha 1474 - Stifter aus dem Geist Mosis und des Exodus, völlig zusammenfallend mit seiner Frohbotschaft: Jesus, Apokalypse, Reich 1482 - Jesus und der Vater; Paradiesschlange als Heiland; die drei Wunsch-Mysterien: Auferstehung, Himmelfahrt, Wiederkehr 1493 - Fanatismus und Ergebung in Allahs Willen: Mohammed 1504 III. Der Kern der Erde als wirkliche Exterritorialität / Die Straße des uns vorhandenen Wozu 1509 - Unabwendbares und wendbares Schicksal oder Kassandra und Jesajas 1511 - Gott als utopisch hypostasiertes Ideal des unbekannten Menschen; Feuerbach, Cur Deus homo nochmals 1515 - Rekurs auf Atheismus; Problem des Raums, in den der Gott hinein imaginiert und utopisiert wurde 1524 - Verweile-doch in religiöser Schicht: Die Einheit des Nu in der Mystik 1534 - Wunder und Wunderbares: Augenblick als Fußpunkt der Nike 1540 54. Der letzte Wunschinhalt und das höchste Gut 1551 Trieb und Speise 1551 - Drei Wünsche und der beste 1552 -Wertbilder als Abwandlungen des höchsten Guts; Cicero und die Philosophen 1555 Verweile-doch und höchstes Gut, Problem eines Leitbildes im Weltprozeß 1562 Nochmals Trieb und Speise oder Subjektivität, Objektivität der Güter, der Werte und des höchsten Guts 1566 - Schwebung und Strenge im Bezug aufs höchste Gut (Abendwind, Buddha-Statue, Reichsfigur) 1577 Zahl und Chiffer der Qualitäten; Natursinn des höchsten Guts 1593 55 Karl Marx und die Menschlichkeit: Stoff der Hoffnung 1602 Der rechte Schmied 1602 - Alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist 1604 Säkularisierung und die Kraft, auf die Füße zu stellen 1609 - Traum nach vorwärts, Nüchternheit, Enthusiasmus und ihre Einheit 1616 - Gewißheit, unfertige Welt, Heimat 1622
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VORWORT
Wer sind wir? Wo kommen wir her? Wohin gehen wir? Was erwarten wir? Was erwartet uns? Viele fühlen sich nur als verwirrt. Der Boden wankt, sie wissen nicht warum und von was. Dieser ihr Zustand ist Angst, wird er bestimmter, so ist er Furcht. Einmal zog einer weit hinaus, das Fürchten zu lernen. Das gelang in der eben vergangenen Zeit leichter und näher, diese Kunst ward entsetzlich beherrscht. Doch nun wird, die Urheber der Furcht abgerechnet, ein uns gemäßeres Gefühl fällig. Es kommt darauf an, das Hoffen zu lernen. Seine Arbeit entsagt nicht, sie ist ins Gelingen verliebt statt ins Scheitern. Hoffen, über dem Fürchten gelegen, ist weder passiv wie dieses, noch gar in ein Nichts gesperrt. Der Affekt des Hoffens geht aus sich heraus, macht die Menschen weit, statt sie zu verengen, kann gar nicht genug von dem wissen, was sie inwendig gezielt macht, was ihnen auswendig verbündet sein mag. Die Arbeit dieses Affekts verlangt Menschen, die sich ins Werdende tätig hineinwerfen, zu dem sie selber gehören. Sie erträgt kein Hundeleben, das sich ins Seiende nur passiv geworfen fühlt, in undurchschautes, gar jämmerlich anerkanntes. Die Arbeit gegen die Lebensangst und die Umtriebe der Furcht ist die gegen ihre Urheber, ihre großenteils sehr aufzeigbaren, und sie sucht in der Welt selber, was der Welt hilft; es ist findbar. Wie reich wurde allzeit davon geträumt, vom besseren Leben geträumt, das möglich wäre. Das Leben aller Menschen ist von Tagträumen durchzogen, darin ist ein Teil lediglich schale, auch entnervende Flucht, auch Beute für Betrüger, aber ein anderer Teil reizt auf, läßt mit dem schlecht Vorhandenen sich nicht abfinden, läßt eben nicht entsagen. Dieser andere Teil hat das Hoffen im Kern, und er ist lehrbar. Er kann aus dem ungeregelten Tagtraum wie aus dessen schlauem Mißbrauch herausgeholt werden, ist ohne Dunst aktivierbar. Kein Mensch lebte je ohne Tageräume, es kommt aber darauf an, sie immer weiter zu kennen und dadurch unbetrüglich, hilfreich, aufs Rechte gezielt zu halten. Möchten die Tagträume noch voller werden, denn das bedeutet, daß sie sich genau um den nüchternen Blick bereichern; nicht im Sinn der /(2) Verstockung, sondern des Hellwerdens. Nicht im Sinn des bloß betrachtendenVerstands, der die Dinge nimmt, wie sie gerade sind und stehen, sondern des beteiligten, der sie nimmt, wie sie gehen, also auch besser gehen können. Möchten die Tagträume also wirklich voller werden, das ist, heller, unbeliebiger, bekannter, begriffener und mit dem Lauf der Dinge vermittelter. Damit der Weizen, der reifen will, befördert und abgeholt werden kann. Denken heißt Überschreiten. So jedoch, daß Vorhandenes nicht unterschlagen, nicht überschlagen wird. Weder in seiner Not, noch gar in der Bewegung aus ihr heraus. Weder in den Ursachen der Not, noch gar im Ansatz der Wende, der darin heranreift. Deshalb geht wirkliches Überschreiten auch nie ins bloß Luftleere eines Vor-uns, bloß schwärmend, bloß abstrakt ausmalend. Sondern es begreift das Neue als eines, das im bewegt Vorhandenen vermittelt ist, ob es gleich, um freigelegt zu werden, aufs Äußerste den Willen zu ihm verlangt. Wirkliches Überschreiten kennt und aktiviert die in der Geschichte angelegte, dialektisch verlaufende Tendenz. Primär lebt jeder Mensch, indem er strebt, zukünftig, Vergangenes kommt erst später, und echte Gegenwart ist fast überhaupt noch nicht da. Das Zukünftige enthält das Gefürchtete oder das Erhoffte; der menschlichen Intention nach, also ohne Vereitlung, enthält es nur das Erhoffte. Funktion und Inhalt der Hoffnung werden unaufhörlich erlebt, und sie wurden in
Zeiten aufsteigender Gesellschaft unaufhörlich betätigt und ausgebreitet. Einzig in Zeiten einer niedergehenden alten Gesellschaft, wie der heutigen im Westen, läuft eine gewisse partielle und vergängliche Intention nur abwärts. Dann stellt sich bei denen, die aus dem Niedergang nicht herausfinden, Furcht vor die Hoffnung und gegen sie. Dann gibt sich Furcht als subjektivistische, Nihilismus als objektivistische Maske des Krisenphänomens: des erduldeten, aber nicht durchschauten, des beweinten, aber nicht gewendeten. Die Wendung ist auf dem bürgerlichen Boden, gar in seinem gekommenen und bezogenen Abgrund, ohnehin unmöglich, selbst dann, wenn sie, was keineswegs der Fall, gewollt wäre. Ja das bürgerliche Interesse möchte gerade jedes andere, ihm entgegengesetzte, in das eigene Scheitern hineinziehen; so macht es, um das neue Leben zu ermatten, die eigene Agonie scheinbar grundsätzlich, scheinbar ontologisch. Die Ausweglosigkeit des bürgerlichen Seins wird als die der menschlichen Situation überhaupt, des Seins schlechthin ausgedehnt. Auf die Dauer freilich vergebens: das bürgerlich Leergewordene ist so /(3) ephemer wie die Klasse, die sich darin einzig noch ausspricht, und so haltungslos wie das Scheinsein der eigenen schlechten Unmittelbarkeit, dem sie verschworen ist. Die Hoffnungslosigkeit ist selber, im zeitlichen wie sachlichen Sinn, das Unaushaltbarste, das ganz und gar den menschlichen Bedürfnissen Unerträgliche. Weshalb sogar der Betrug, damit er wirkt, mit schmeichelhaft und verdorben erregter Hoffnung arbeiten muß. Weshalb gerade wieder die Hoffnung, doch mit Einsperrung auf bloße Inwendigkeit oder mit Vertröstung aufs Jenseits, von allen Kanzeln gepredigt wird. Weshalb selbst die letzten Miseren der westlichen Philosophie ihre Philosophie der Misere nicht mehr ohne Lombardierung eines Übersteigens, Überschreitens vorzubringen imstande sind. Das heißt, nicht mehr anders, als daß der Mensch wesenhaft von der Zukunft her bestimmt, jedoch mit dem zynisch-interessierten Bedeuten, dem aus der eigenen Klassenlage hypostasierten, daß die Zukunft das Ladenschild der Nacht-Bar zur Zukunftslosigkeit sei und die Bestimmung der Menschen das Nichts. Nun: mögen die Toten ihre Toten begraben; der beginnende Tag hört noch in der Verzögerung, die ihm die überständige Nacht zuzieht, auf anderes als auf das verwesend schwüle, wesenlos nihelistische Grabgeläute. Solange der Mensch im Argen liegt, sind privates wie öffentliches Dasein von Tagträumen durchzogen; von Träumen eines besseren Lebens als des ihm bisher gewordenen. Im Unechten, wieviel mehr erst im Echten, ist jede menschliche Intention auf diesen Grund aufgetragen. Und noch wo der Grund, wie so oft bisher, bald voller Sandbänke, bald voller Chimären täuschen mag, kann er nur durch objektive Tendenz-, subjektive Intentionsforschung in einem denunziert und gegebenenfalls bereinigt werden. Corruptio optimi pessima: die schwindelhafte Hoffnung ist einer der größten Übeltäter, auch Entnerver des Menschengeschlechts, die konkret echte sein ernstester Wohltäter. Wissendkonkrete Hoffnung also bricht subjektiv am stärksten in die Furcht ein, leitet objektiv am tüchtigsten auf die ursächliche Abstellung der Furcht-Inhalte hin. Mit der kundigen Unzufriedenheit zusammen, die zur Hoffnung gehört, weil sie beide aus dem Nein zum Mangel entspringen. Denken heißt Überschreiten. Freilich, das Überschreiten fand bisher nicht allzu scharf sein Denken. Oder wenn es gefunden war, so waren zu viel schlechte Augen da, die die Sache nicht sahen. Fauler Ersatz, gängig-kopierende Stellvertretung, die Schweinsblase eines reaktionären, aber auch schematisierenden Zeitgeistes, sie verdrängten das /(4) Entdeckte. Im Bewußtwerden des konkreten Überschreitens bezeichnet Marx die Wende. Aber um sie her haften zäh eingelebte Denkgewohnheiten an eine Welt ohne Front. Hier liegt nicht nur der Mensch, hier
liegt auch die Einsicht in seine Hoffnung im Argen. Das Intendieren ist nicht in seinem allemal antizipierenden Klang gehört, die objektive Tendenz nicht in ihrer allemal antizipatorischen Mächtigkeit erkannt. Das Desiderium, die einzig ehrliche Eigenschaft aller Menschen, ist unerforscht. Das Noch-Nicht-Bewußte, Noch-Nicht-Gewordene, obwohl es den Sinn aller Menschen und den Horizont alles Seins erfüllt, ist nicht einmal als Wort, geschweige als Begriff durchgedrungen. Dies blühende Fragengebiet liegt in der bisherigen Philosophie fast sprachlos da. Träumen nach vorwärts, wie Lenin sagt, wurde nicht reflektiert, wurde nur mehr sporadisch gestreift, kam nicht zu dem ihm angemessenen Begriff. Erwarten und Erwartetes, im Subjekt hier, im Objekt dort, das Heraufziehende insgesamt hat bis zu Marx keinen Weltaspekt erregt, worin es Platz findet, gar zentralen. Das ungeheure utopische Vorkommen in der Welt ist explizite fast unerhellt. Von allen Seltsamkeiten des Nichtwissens ist diese eine der auffälligsten. M. Terentins Varro soll in seinem ersten Versuch einer lateinischen Grammatik das Futurum vergessen haben; philosophisch ist es bis heute noch nicht ganz adäquat bemerkt. Das macht ein überwiegend statisches Denken nannte, ja verstand diese Beschaffenheit nicht, und immer wieder schließt es das ihm Gewordene fertig ab. Ist als betrachtendes Wissen per definitionem einzig eines von Betrachtbarem, nämlich der Vergangenheit, und über dem Ungewordenen wölbt es abgeschlossene Forminhalte aus der Gewordenheit. Folgerichtig ist diese Welt, auch wo sie geschichtlich erfaßt wird, eine Welt der Wiederholung oder des großen Immer-Wieder; sie ist ein Palast der Verhängnisse, wie Leibniz das nannte, ohne es zu durchbrechen. Geschehen wird Geschichte, Erkenntnis Wiedererinnerung, Festlichkeit das Begehen eines Gewesenen. So hielten es alle bisherigen Philosophen, mit ihrer als fertig-seiend gesetzten Form, Idee oder Substanz, auch beim postulierenden Kant, selbst beim dialektischen Hegel. Das physische wie metaphysische Bedürfnis hat sich dadurch den Appetit verdorben, besonders wurden ihm die Wege nach der ausstehenden, gewiß nicht nur buchmäßigen Sättigung verlegt. Die Hoffnung, mit ihrem positiven Korrelat: der noch unabgeschlossenen Daseinsbestimmtheit, über jeder res finita, kommt derart in der Geschichte der Wissenschaften nicht vor, weder als psychisches noch als /(5) kosmisches Wesen und am wenigsten als Funktionär des nie Gewesenen, des möglich Neuen. Darum: besonders ausgedehnt ist in diesem Buch der Versuch gemacht, an die Hoffnung, als eine Weltstelle, die bewohnt ist wie das beste Kulturland und unerforscht wie die Antarktis, Philosophie zu bringen. Im Zusammenhang, dem kritischen, weiter durchgeführten, mit dem Inhalt der bisher erschienenen Bücher des Autors, den »Spuren», besonders dem »Geist der Utopie«, dem »Thomas Münzer», der »Erbschaft dieser Zeit», dem »Subjekt-Objekt«. Sehnsucht, Erwartung, Hoffnung also brauchen ihre Hermeneutik die Dämmerung des Vor-uns verlangt ihren spezifischen Begriff, das Novum verlangt seinen Frontbegriff. Und all das im Dienst des Zwecks, daß durch das vermittelte Reich der Möglichkeit endlich die Heerstralle zum notwendig Gemeinten kritisch gelegt werde, unabgebrochen orientiert bleibe. Docta spes, begriffene Hoffnung, erhellt so den Begriff eines Prinzips in der Welt, der diese nicht mehr verläßt. Schon deshalb nicht, weil dieses Prinzip seit je in ihrem Prozeß darin war, philosophisch so lange ausgekreist. Indem es überhaupt keine bewußte Herstellung der Geschichte gibt, auf deren tendenzkundigem Weg das Ziel nicht ebenso alles wäre, ist der im guten Sinn des Worts: utopisch-prinzipielle Begriff, als der der Hoffnung und ihrer menschenwürdigen Inhalte, hier ein schlechthin zentraler. Ja, das damit Bezeichnete liegt dem adäquat werdenden Bewußtsein jeder Sache im Horizont, im aufgegangenen, weiter aufgehenden. Erwartung, Hoffnung, Intention auf noch
ungewordene Möglichkeit: das ist nicht nur ein Grundzug des menschlichen Bewußtseins, sondern, konkret berichtigt und erfaßt, eine Grundbestimmung innerhalb der objektiven Wirklichkeit insgesamt. Es gibt seit Marx keine überhaupt mögliche Wahrheitsforschung und keinen Realismus der Entscheidung mehr, der die subjektiven und objektiven Hoffnungs-Inhalte der Welt wird umgehen können; es sei denn bei Strafe der Trivialität oder der Sackgasse. Philosophie ,wird Gewissen des Morgen, Parteilichkeit fur die Zukunft, Wissen der Hoffnung haben, oder sie ,wird kein Wissen mehr haben. Und die neue Philosophie, wie sie durch Marx eröffnet wurde, ist dasselbe wie die Philosophie des Neuen, dieses uns alle erwartenden, vernichtenden oder erfüllenden Wesens. Ihr Bewußtsein ist das Offene der Gefahr und des in seinen Bedingungen herbeizuführenden Siegs. ihr Raum ist die objektiv-reale Möglichkeit innerhalb des Prozesses, in der Bahn des Gegenstands selbst, worin das von den Menschen radikal Intendierte /(6) noch nirgends besorgt, aber auch noch nirgends vereitelt ist. Ihr mit allen Kräften zu betreibendes Anliegen bleibt das wahrhaft Hoffende im Subjekt, wahrhaft Erhoffbare im Objekt: Funktion und Inhalt dieses zentralen Dings für uns gilt es zu erforschen. Das gute Neue ist niemals so ganz neu. Es wirkt weit über die Tagträume hinaus, von denen das Leben durchzogen, die gestaltende Kunst erfüllt ist. Utopisch Gewolltes leitet sämtliche Freiheitsbewegungen, und auch alle Christen kennen es in ihrer Art, mit schlafendem Gewissen oder mit Betroffenheit, aus den Exodus- und messianischen Partien der Bibel. Auch hat das Ineinander von Haben und Nicht-Haben, wie es die Sehnsucht, die Hoffnung ausmacht und den Trieb, nach Hause zu gelangen, in großer Philosophie immerhin gewühlt. Nicht nur im Platonischen Eros, auch in dem weittragenden Begriff der Aristotelischen Materie als der Möglichkeit zum Wesen, und im Leibnizschen Begriff der Tendenz. Unvermittelt wirkt Hoffnung in den Kantischen Postulaten des moralischen Bewußtseins, welthaft vermittelt wirkt sie in der historischen Dialektik Hegels. Jedoch trotz all dieser Aufklärungs-Patrouillen und selbst Expeditionen in terram utopicam ist an ihnen allen ein Abgebrochenes, eben ein durch Betrachtung Abgebrochenes. Fast am stärksten bei Hegel, der am weitesten ausgefahren war: das Gewesene überwältigt das Heraufkommende, die Sammlung der Gewordenheiten hindert völlig die Kategorien Zukunft, Front, Novum. Also konnte das utopische Prinzip nicht zum Durchbruch gelangen, weder in der archaisch-mythischen Welt, trotz Exodus aus ihr, noch in der urban-rationalistischen, trotz explosiver Dialektik. Der Grund hierzu bleibt allemal der, daß sowohl die archaisch-mythische wie die urban-rationalistische Geistesart betrachtend-idealistisch ist, folglich als nur passiv-betrachtende eine gewordene Welt, eine abgeschlossene, voraussetzt, einschließlich der hinüberprojizierten Überwelt, in der sich Gewordenes widerspiegelt. Die Vollkommenheitsgötter hier, die Ideen oder Ideale dort sind in ihrem illusionären Sein genau so res finitae wie die sogenannten Tatsachen des Diesseits in ihrem empirischen Sein. Zukunft der echten, prozeßhaft offenen Art ist also jeder bloßen Betrachtung verschlossen und fremd. Nur ein auf Verändern der Welt gerichtetes, das Verändern wollen informierendes Denken betrifft die Zukunft (den unabgeschlossenen Entstehungsraum vor uns) nicht als Verlegenheit und die Vergangenheit nicht als Bann. Entscheidend ist daher: nur Wissen als bewußte Theorie-Praxis betrifft Werdendes und darin Entscheid- /(7) bares, betrachtendes Wissen dagegen kann sich per definitionem nur auf Gewordenes beziehen. Der unmittelbare Ausdruck dieses Zugs zum Gewesenen, Bezugs zum Gewordenen ist im Mythos das Sichversenken, ist der Drang zum Unvordenklichen, auch das beständige Übergewicht des eigentlich Heidnischen, nämlich des Astralmythischen,
als der festen Umwölbung alles Geschehens. Der methodische Ausdruck der gleichen Vergangenheitsbindung, Zukunftsfremdheit ist im Rationalismus die Platonische Anamnesis oder die Lehre, daß alles Wissen lediglich Wiedererinnerung sei. Wiedererinnerung an die vor der Geburt geschauten Ideen, an rundum Urvergangenes oder geschichtslos Ewiges. Wonach Wesenheit schlechthin mit Ge-wesenheit zusammenfällt und die Eule der Minerva allemal erst nach einbrechender Dämmerung, wenn eine Gestalt des Lebens alt geworden, ihren Flug beginnt. Auch Hegels Dialektik, in ihrem letzthinnigen »Kreis aus Kreisen«, ist derart vom Phantom Anamnesis gehemmt und ins Antiquarium gebannt. Erst Marx setzte Statt dessen das Pathos des Veränderns, als den Beginn einer Theorie, die sich nicht auf Schauung und Auslegung resigniert. Die starren Scheidungen zwischen Zukunft und Vergangenheit stürzen so selber ein, ungewordene Zukunft wird in der Vergangenheit sichtbar, gerächte und beerbte, vermittelte und erfüllte Vergangenheit in der Zukunft. Isoliert gefaßte und so festgehaltene Vergangenheit ist eine bloße Warenkategorie, das ist ein verdinglichtes Factum ohne Bewußtsein seines Fieri und seines fortlaufenden Prozesses. Wahre Handlung in der Gegenwart selber geschieht aber einzig in der Totalität dieses rückwärts wie vorwärts unabgeschlossenen Prozesses, materialistische Dialektik wird das Instrument zur Beherrschung dieses Prozesses, zum vermittelt-beherrschten Novum. Dafür ist die Ratio des noch fortschrittlich gewesenen bürgerlichen Zeitalters das nächste Erbe (minus der standortgebundenen Ideologie und der wachsenden Entleerung von Inhalten). Aber diese Ratio ist nicht das einzige Erbe, vielmehr, auch die vorhergehenden Gesellschaften und selbst mancher Mythos in ihnen (wieder minus bloßer Ideologie und erst recht minus vorwissenschaftlich erhaltenem Aberglauben) geben einer Philosophie, die die bürgerliche Erkenntnisschranke überwunden hat, gegebenenfalls fortschrittliches Erbmaterial ab, wenn auch, wie sich von selbst versteht, besonders aufzuklärendes, kritisch anzueignendes, umzufunktionierendes. Man denke etwa an die Rolle des Zwecks (Wohin, Wozu) in vorkapitalistischen Weltbildern oder auch an die Bedeutung der Qualität in ihrem /(8) nicht-mechanischen Naturbegriff. Man denke an den Mvthos des Prometheus, den Marx den vornehmsten Heiligen im philosophischen Kalender nennt. Man denke an den Mythos vom Goldenen Zeitalter und an dessen Zukunfts-Verlegung im messianischen Bewußtsein so vieler unterdrückter Klassen und Völker. Die marxistische Philosophie als diejenige, welche sich endlich adäquat zum Werden und zum Heraufkommenden verhält, kennt auch die ganze Vergangenheit in schöpferischer Breite, weil sie überhaupt keine Vergangenheit außer der noch lebendigen, noch nicht abgegoltenen kennt. Marxistische Philosophie ist die der Zukunft, also auch der Zukunft in der Vergangenheit: so ist sie, in diesem versammelten Frontbewußtsein, lebendige, dem Geschehen vertraute, dem Novum verschworene Theorie-Praxis der begriffenen Tendenz. Und entscheidend bleibt: das Licht, in dessen Schein das prozeßhaft-unabgeschlossene Totum abgebildet und befördert wird, heißt docta spes, dialektisch- materialistisch begriffene Hoffnung. Das Grundthema der Philosophie, die bleibt und ist, indem sie wird, ist die noch ungewordene, noch ungelungene Heimat, wie sie im dialektisch-materialistischen Kampf des Neuen mit dem Alten sich herausbildet, heraufbildet. Dem wird hier weiter ein Zeichen gesetzt. Ein Zeichen nach vorwärts, das überholen, nicht nachtraben läßt. Seine Bedeutung heißt Noch-Nicht, und es gilt, sich auf sie zu verstehen. Dem gemäß, was Lenin in einer allmählich viel gelobten, doch nicht ebenso fleißig beherzigten Stelle bedeutet hat: »>Wovon wir träumen müssen?< ich habe diese Worte niedergeschrieben
und bin erschrocken. Ich stellte mir vor, ich sitze auf einer >Vereinigungskonferenznahe< sie dem >Konkreten< stünden, und das sind die Vertreter der legalen Kritik und der nicht legalen NachtragpolitikAusschachtung« auf die geologischen /(91) Urmeere, in denen das Leben entstand. Mythengeschichtlich geht hierzu noch eine ganz anders erhaltene Sage auf, die vom Storch, der aus einem Teich die Kinder bringt; aber auch das Wasser der Tiefe erscheint, worüber der Geist Gottes brütet, selber gleich einer Henne. Der Brunnen ist ein altes Mutterbild, der Schilfteich sogar ein noch älteres, hetärisch-archaisches; Bachofen hat es ausgegraben. Wie dem auch sei, kaum ein Traum wird von Erwachsenen unverwickelt, uneingewickelt geträumt. Freud bemerkt hierzu mit schlagendem Paradox: der Träumer weiß nicht, was er weiß. Für Freud ist der manifeste Trauminhalt schlechthin nur verkleidet oder Maskenball; die Deutung wird der Aschermittwoch. Die Ichzensur ließ die Wahrheit, welche Libido und ihre Wunscherfüllung ist, nur in Narrenlarve oder scheinheilig durch die Nacht passieren; immerhin intendiert die Freudsche Traumdeutung wieder den nackten Text. Geht über die Symbole, ohne sich in sie zu verlieren, zur mehr oder minder eingesehenen Wunscherfüllung über, die so bunt verklausuliert sich äußert. Darin ist eine Erkenntnis, auch wenn sie durch den Eng- und Mißbegriff bloßer Libido nur verzerrt auftritt. Ein Nachgeholtes wirkt jedenfalls im nächtlichen Traum, ein Gutmachen und bilderreich Gesättigtes; gleich noch, ob diese Sättigung nur mittels dieser Bilder oder in ihnen geschieht. Angsttraum und Wunscherfüllung Aber werden dem, der nächtlich träumt, wirkllich immer Wünsche erfüllt? Es läuft doch genug gleichgültiges Zeug mit unter, das verfliegt und keinerlei Lücke auszufüllen scheint. Auch unter den starken Träumen sind die glücklichen, also wunscherfüllenden, durchaus nicht in der Mehrzahl. Neben ihnen gibt es die Angstträume, von den üblichen Prüfungsträumen bis zu ganz und gar entsetzlichen; aus diesen erwacht der Schläfer mit einem Schrei. Er war auf der Flucht vor Fratzen, die nur die Nacht kennt, aber sein Auto verwandelt sich zum Schneckenhaus, er springt ab und rennt um sein Leben, aber die Füße kleben im Grund, bald wurzeln sie fest. Freud hat selbstverständlich Schwierigkeit, auch die Nachtfurie als schenkende Fee zu deuten, dennoch ordnet er die Angstträume auf dreifache Weise in die /(92) Erfüllungstheorie ein. Erstens kann ein Traum abbrechen, dann besteht der peinliche Reiz weiter, der ihn verursacht hat, die Wunscherfüllung ist mißlungen. Zweitens kann ein Traum gerade deshalb zum Angsttraum werden, weil die Wunscherfüllung in ihm zustande kam; diese Absurdität erscheint vor allem bei unentstellten, unzensurierten Träumen. In dieser Art Angstträume wird ein dem Traum-Ich nicht genehmer, ein besonders verworfener Wunsch auf besonders unverhüllte Art befriedigt; die Angst ist dann keine der Kreatur, sondern eine des Traum-Ichs, und die Angstentwicklung vertritt die Stelle der Zensur. Auch Neurosen
dieser Art, zum Beispiel die dauernde Angst, seine Eltern zu verlieren, können mit dem Wunsch danach verbunden sein. Die Phobie ist dann lediglich das sogenannte moralische dicke Ende oder der sich zur Schau stellende Katzenjammer. Drittens aber kommt Freud der Schwierigkeit geradezu ungewollt dialektisch bei, dadurch nämlich, daß er Angst und Wunsch nicht nur als harte Gegensätze faßt. Letzter Ursprung der Angst soll hiernach der Geburtsakt sein; er brachte »jene Gruppierung von Unlustempfindungen, Abfuhrerregungen und Körpersensationen, die das Vorbild für die Wirkung einer Lebensgefahr geworden sind und seitdem als Angstzustand von uns wiederholt werden«. Schon der Name Angst (angustia = Enge) betone die Beengung im Atmen, die damals als Folge der unterbrochenen inneren Atmung eingetreten ist. Am allerwichtigsten aber sei, daß jener erste Angstzustand aus der Trennung von der Mutter hervorgegangen ist, also Verlassenheit signalisiert, Schutzlosigkeit, Preisgegebenheit. Dem ersten Angstzustand schließt sich bei Freud die sogenannte Kastrationsangst an, und diese hat ihre das ganze Leben durchziehenden moralischen Weiterungen: «Vom höheren Wesen, welches zum Ichideal wurde, drohte einst die Kastration, und die Kastrationsangst ist wahrscheinlich der Kern, um den sich die spätere Gewissensangst ablagert, sie ist es, die sich als Gewissensangst fortsetzt.« Einleuchtender freilich ist die Erklärung der Angst aus der allerersten Verlassenheit, die sämtliche späteren psychisch präformiert, aus der Losreißung von der Mutter durch die Geburt; von daher auch die wirkliche Kinderangst, der pavor nocturnus ohne sogenannten Kastrationskomplex, die Angst /(93) vor fremden Gesichtern, Dunkelheit und dergleichen. Die Sehnsucht und Liebe des Kindes zur Mutter wird von fremden Gesichtern enttäuscht, seine «Libido« ist unverwendbar geworden, sie findet ihr Objekt nicht. So schlägt sie um und wird auch in der Erwachsenenzeit als Angst abgeführt; die Konsequenz ist danach: alle verdrängten Wunschaffekte wandeln sich in diesem Unbewußten zu Phobien. Ein ähnlicher Umschlag unbesetzter, objektlos gewordener Libidoaffekte findet nach Freuds Vermutung bei der Todesangst statt (entgegen dem Todestrieb), besonders bei der neurotischen, melancholischen: «Die Todesangst der Melancholie läßt nur die eine Erklärung zu, daß das Ich sich aufgibt, weil es sich vom Über-Ich gehaßt und verfolgt anstatt geliebt fühlt... Das Über-Ich vertritt dieselbe schützende und rettende Funktion wie früher der Vater, später die Vorsehung oder das Schicksal.« Und auch im gesunden Zustand wird die Angst vor einer übergroßen realen Gefahr um die Todesangst der Verlassenheit vermehrt; das Ich gibt sich auf, weil es die Gefahr aus eigener Kraft nicht überwinden zu können glaubt. «Es ist übrigens«, fügt Freud erinnernd hinzu, »immer noch dieselbe Situation, die dem ersten großen Angstzustand der Geburt und der infantilen Sehnsuchtsangst zugrunde lag, die der Trennung von der schützenden Mutter« (Das Ich und das Es, 1923, S.76). Und es ist der gleiche Umschlag der Libido in ihr dialektisches Gegenteil, der schon bei der Kinderangst zu bemerken war, wenn der Libidoaffekt verdrängt werden mußte, weil sein Objekt, die geliebte Mutter, fehlte. Nur daß bei der Todesangst das Libidoobjekt das eigene Ich, genauer: das vom Über-Ich geliebte Ich geworden ist; eben diese (narzistische) Besetzung hat nun aufgehört. »Der Mechanismus der Todesangst könnte nur sein, daß das Ich seine narzistische Libidobesetzung in reichlichem Ausmaß entläßt, also sich selbst aufgibt, wie sonst im Angstfalle ein anderes Objekt«; dadurch aber wird, im Umschlag, nur ungeheures Grauen frei. Libido freilich wieder, nichts als Libido die ganze Zeit (und damit das Freudsche das nicht bleibt, es läßt sich schon sagen: nicht blieb); und mit der Libido lauter Psychologismus wieder, ohne soziale Umwelt. Reicht denn sexuelle Libido zu dieser Angsterzeugung aus, ja ist sie überhaupt zu ihr notwendig? Kommt denn die
/(94) negative Wunscherfüllung oder Angst ausschließlich von dem Subjekt her, ausschließlich vom »objektlos gewordenen Libidoaffekt«? Und gibt es nicht auch Gegenstände, Zustände, die objekthaft bedrohend genug sind, von Libido unbesetzt, dafür aber mit anderem besetzt genug? Der spätere Freud drückte das selber dahin aus, daß nicht die Verdrängung die Angst mache, sondern die Angst die Verdrängung; sie ist dann also vor der gestauten Libido und bildet die Stauung. Der letzte Freud statuiert gar, weit über das biologische Innen- und Anfangserlebnis des Geburtsakts hinaus, »daß eine gefürchtete Triebsituation im Grunde auf eine äußere Gefahrensituation zurückgeht« (Neue Folge der Vorlesungen, 1933, S.123). Das Gefühl der Preisgegebenheit hätte ja gar keinen Inhalt, wären die fremden Gesichter, die Dunkelheit und dergleichen lediglich - Nicht-Mutter und sonst neutral. Statt dessen gibt es auch hier Hunger, Nahrungssorge, ökonomische Verzweiflung, Lebensangst, positiv und objektiv genug. Die bürgerliche Gesellschaft war bis vor kurzem tatsächlich und ist heute noch ihrer Anlage nach auf freie Konkurrenz gegründet, folglich auf ein antagonistisches Verhältnis, auch in der gleichen Klasse und Schicht. Die derart gesetzte, ja geforderte feindliche Spannung zwischen Individuen produziert unaufhörliche Angst; und diese braucht nicht erst Libido und Geburtsakt, um sich daran anzusetzen. Sie ist mit dieser Art Außenwelt genügend gesetzt, zuletzt noch mit zwei Weltkriegen in ihr. Und mit einer Angsterzeugung durch den Faschismus dazu, die kaum erst infantiles Trauma brauchte, um entbunden zu werden. Also mag zwar mancher ausgeruhte Nachttraum nach rückwärts orientiert sein, vielleicht auch mancher pavor nocturnus behüteter Kinder. Mag aus verdrängter Libido, aus objekthaft unbesetzten Triebeswünschen bestehen und so aus Angst. Aber selbst im Traum liefert, was Angst angeht, der Tag. ja die objektive Sorge des Kommenden Anlaß und Ursprung genug. Einen Ursprung, der sich auf nackte Selbsterhaltung und ihre zerfleischten, nicht bloß unbesetzten Wünsche bezieht. Besonders aber läuft wache Angst, zuhöchst Todesangst nicht erst nach rückwärts, um dort, im verschwindenden Libidoobjekt des eigenen Ichs, als der transponierten Mutter, ihre Erklärung zu finden. Gerade sie erklärt sich nicht, in der Hauptsache nicht, /(95) narzistisch-regressiv, sondern aus dem Beil, das das Leben zukünftig endet, aus dem Schmerz und Grauen objektiv erwarteter Nacht. Entließe nur das Ich sich selbst in der Todesangst und entließe es nur seine narzistische Libidobesetzung, dann würden weder Tiere ohne Ich noch sehr sachlich hingegebene, in ihr Ich unverliebte Menschen Todesangst kennen. Sind derart die Freudschen Libido-Subjektivismen der Angst unhaltbar, so bleibt doch die von ihm statuierte Zuordnung der Phobien zu verdrängten Wunschaffekten wichtig und wahr; sie ist ja auch nicht an Narzißmen, sondern am objektiven Inhalt der Wunschaffekte orientiert. Die Angst und ihre Träume mögen im Geburtsvorgang ihren ersten Erreger haben, so wie am Tod ihren letzten biologischen Inhalt. Wo Angst aber als nicht nur biologische, sondern in einer nur bei Menschen vorfindlichenWeise, vorzüglich gerade als Angsttraum, auftritt: dort hat sie wesentlich gesellschaftliche Blockierungen des Selbsterhaltungstriebs zur Grundlage. In der Tat ist es einzig der vernichtende, ja der in rein Gegenteil gewandelte Inhalt des Wunsches, der Angst, zuletzt Verzweiflung macht. Und wie hält das der wache Träumer, wenn er recht gesprenkelt wünscht? Wenn er Salz und Pfeffer zum Wünschen braucht, auch einen Schuß Chok, nicht bloß Honig? Freud verweist selber auf ein Ineinander entgegengesetzter Triebgefühle, nicht bloß auf ihren Übergang. Er verweist auf gleichzeitigen »Gegensinn der Urworte«, dergestalt, daß »Angst und Wunsch im Unbewußten zusammenfallen«. Sie fallen aber zweifellos auch im Bewußtsein weithin zusammen,
so beim Hypochonder, auch beim allgemeinen Schwarzseher, die beide darauf hoffen, ihre Nicht-Hoffnung erfüllt zu sehen. Und war nicht die Empfindsamkeit aus dem gleichen achtzehnten Jahrhundert, worin der Hypochonder blühte, auf dieses Mischgefühl aufgetragen, mitTrauerweiden und Tränenkrügen, mit schmerzlicher Lust am Vergehen? Erst recht entdeckte der Schauerroman, welcher zur gleichen Zeit entstand, das rätselhaft Heimliche im Unheimlichen; er lebte von einem Wunschzuhause unter Schatten, von Heimat auf Kreuzwegen, im Nachtgrauen. Dergleichen bereits zeigt Wunscherfüllungsphantasien der Angst, zeigt einen Gesichtertausch zwischen Wunsch und jener Qualität von Angst, die durch die auf sie gerichtete Hoffnung, ja die als vertrackter, sogar positiver /(96)Hoffnungsinhalt selber überschauernd geworden ist. Es ist diese unglatte, nicht ganz geheure Wunscherfüllung, welche auch in höheren Regionen bloßes Rosenrot verhindert, mindestens erschwert. Ein Stück Schwärze kommt hinzu, vertieft die Farben, macht in allzu übersichtliches, also fades Glück Dissonanz, markiert eine Wunschhöhe als ebenso abgründige. Viele zu Ende getriebene Gefühlsaussagen verstanden sich auf dieses Ineinander der Betroffenheit, bis hin zum sogenannten süßen Grauen in Wagners Ring des Nibelungen, in der Exhibition dieses neurasthenisch-kolossalen Kunstwerks. Und so gilt selbst für den Nachtmahr wie erst für die Wiese unter dem Brunnen und ihre Symbole: jeder Traum ist Wunscherfüllung. Eine Hauptsache: Der Tagtraum ist keine Vorstufe des nächtlichen Traums Doch eben, die Menschen träumen nicht nur nachts, durchaus nicht. Auch der Tag hat dämmernde Ränder, auch dort sättigen sich Wünsche. Anders als der nächtliche Traum zeichnet der des Tages frei wählbare und wiederholbare Gestalten in die Luft, er kann schwärmen und faseln, aber auch sinnen und planen. Er hängt auf müßige Weise (sie kann jedoch der Muse und der Minerva nahe verwandt werden) Gedanken nach, politischen, künstlerischen, wissenschaftlichen. Der Tagtraum kann Einfälle liefern, die nicht nach Deutung, sondern nach Verarbeitung verlangen, er baut Luftschlösser auch als Planbilder und nicht immer nur fiktive. Sogar noch in der Karikatur hat der Träumerische ein anderes Gesicht als der Träumende: er ist dann Hans-guck-in-die-Luft, also keineswegs der Nachtschläfer mit geschlossenen Augen. Einsame Spaziergänge oder schwärmerisches Jugendgespräch mit einem Freund oder die sogenannte blaue Stunde zwischen Tag und Dunkel sind für die Wachträumerei besonders geeignet. Der Bericht über kleine Tagträume, mit dem dieses Buch begann, gab ja von leichteren, auch bloß erst inwendigen Bildern dieser Art einen kurzen Überblick; nun gilt es, die Struktur der Sache, wie ihre Weiterungen, zu erforschen, damit gerade ihre, wie man sehen wird, gewaltigen Weiterungen: die der Hoffnung überhaupt im subjektiven Faktor, verstanden werden. /(97) Wurde doch, erstaunlicherweise, die Tagphantasie bisher kaum als originärer Zustand psychologisch ausgezeichnet, auch nicht als eigene Art Wunscherfüllung, mit viel bloßem wishful thinking, doch nicht ausgeschlossener Schärfe, ja Verantwortlichkeit gerade des thinking. Psychoanalyse aber wertet die Tagträume den Nachtträumen völlig gleich, sieht in ihnen lediglich anfangende Nachtträume. Freud bemerkt hierzu: »Wir wissen, solche Tagträume sind Kern und Vorbilder der nächtlichen Träume. Der Nachttraum ist im Grund nichts anderes als ein durch die nächtliche Freiheit der Triebregungen verwendbar gewordener, durch die nächtliche Form der seelischen Tätigkeit entstellter Tagtraum« (Vorlesungen, 1935, S. 417). Und vorher, an gleicher Stelle: »Die bekanntesten Produktionen der Phantasie sind
die so genannten Tagträume, vorgestellte Befriedigungen ehrgeiziger, großsüchtiger, erotischer Wünsche, die um so üppiger gedeihen, je mehr die Wirklichkeit zur Bescheidung oder zur Geduldung mahnt. Das Wesen des Phantasieglücks, die Wiederherstellung der Unabhängigkeit der Lustgewinnung von der Zustimmung der Realität, zeigt sich in ihnen unverkennbar.« Psychoanalyse freilich, die alle Träume nur als Wege zu Verdrängtem achtet, Realität nur als die der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer vorhandenen Welt kennt, mag die Tagträume konsequent als bloße Vorstufe zu nächtlichen bezeichnen. Der mit Tagträumen versehene Dichter ist dem Bourgeois ohnehin nur der Hase, der mit offenen Augen schläft, und das in einem bürgerlichen Alltag, der sich als Maß alles Wirklichen vorkommt und anwendet. Wird aber dieses Maß sogar für die Bewußtseinswelt bestritten, wird sogar der nächtliche Wunschtraum nur als verschobener und nicht ganz homogener Teil auf dem riesigen Feld einer noch offenen Welt und ihres Bewußtseins geachtet, dann ist der Tagtraum keine Vorstufe zum Nachttraum und durch diesen nicht erledigt. Nicht einmal in Ansehung seines klinischen Inhalts, geschweige seines künstlerischen, seines vorscheinenden, fronthaft antizipierenden. Denn Nachtträume speisen sich allermeist aus zurückliegendem Triebleben, aus vergangenem, wo nicht archaischem Bildermaterial, und es geschieht nichts Neues unter ihrem bloßen Mond. Also wäre es absurd, Tagträume: als jene Vorgriffe der Einbildungskraft, die man seit /(98) alters zwar gleichfalls Träume, doch ebenso Vorauseilungen, Antizipationen nennt, unter den Nachttraum zu subsumieren oder ihm gar nachzusetzen. Das Luftschloß ist keine Vorstufe zum nächtlichen Labyrinth, eher liegen noch die nächtliche Labyrinthe als Keller unter dem täglichen Luftschloß. Und die angebliche Gleichheit des Phantasieglücks hier wie dort, als »Wiederherstellung der Unabhängigkeit der Lustgewinnung von der Zustimmung der Realität«? Schon mehr als ein Tagtraum hat, bei genügender Tatkraft und Erfahrung, die Realität zu dieser Zustimmung umgearbeitet; wogegen Morpheus nur die Arme hat, worin man ruht. Also verlangt der Tagtraum spezifische Auswertung, denn er geht in ein ganz anderes Gebiet und öffnet es. Er reicht vom Wachtraum bequemer, läppischer, roher, fluchthafter, abwegiger und lähmender Art bis zum verantwortlichen, scharf-tätig in die Sache eingesetzten und zum gestalteten der Kunst. Vor allem zeigt sich: die »Traumerei« kann zum Unterschied vom nächtlich üblichen »Traum« gegebenenfalls Mark enthalten und statt des Müßiggangs, ja der Selbstentnervung, die es gewiß hier gibt, einen unermüdlichen Antrieb, damit das Vorgemalte auch erreicht werde. Erster und zweiter Charakter des Tagtraums: freie Fahrt, erhaltenes Ego Erstens hat es der wache Traum an sich, nicht drückend zu sein. Er steht in unserer Macht, das Ich startet eine Fahrt ins Blaue, stellt sie ein, wann es will. So entspannt der Träumer hier auch sein mag, er wird von seinen Bildern nicht verschleppt und überwältigt, sie sind dazu nicht selbständig genug. Die wirklichen Dinge erscheinen zwar gedämpft, sie werden oft entstellt, doch sie verschwinden vor den erwünschten, selbst noch so subjektiven Bildern nie ganz. Und die Tagtraum-Bilder sind normalerweise nicht halluziniert; so kommen sie von der weitesten Ausschweifung auf einen Wink wieder zurück. Kein Bann ist in diesem Zustand, mindestens keiner, den der Tagträumer nicht sich freiwillig aufgelegt hat und den er widerrufen könnte. Auch wird das wache Traumhaus mit lauter selbstgewählten Verstellungen eingerichtet, während der Einschlafende nie weiß, was /(99) hinter der Schwelle zum
Unterbewußtsein erwartet. Zweitens ist das Ego im Tagtraum lange nicht so geschwächt wie im Nachttraum, trotz der Entspannung, die auch hier statthat. Selbst in der passivsten Form, wo das Ich seinen Träumereien lediglich nachhängt oder nachsieht, sieht es ihnen recht intakt nach, bleibt im Zusammenhang seines Lebens und seiner Wachwelt. Das Nachttraum-Ich dagegen ist spaltbar, oft gar wie Brei; es spürt keinen Schmerz, es stirbt nicht, wenn es den Tod erleidet. Ja die Verschiedenheit des Ich-Seins im Nacht- und im Tagtraum ist so groß, daß gerade die Entspannung, an der auch das Tagtraum-Ich teilnimmt, ihm subjektiv zum Gefühl einer, wie immer fragwürdigen, Erhöhung ausschlagen kann. Denn das Ich wird sich dann sich selber zu einer Wunschvorstellung, zu einer von Zensur befreiten, es nimmt selber am Grünlicht der Lockerung teil, die für alle anderen Wunschvorstellungen aufgegangen zu sein scheint. Die Entspannung des Ichs im Nachttraum ist nur Versinken, die im Tagtraum dagegen Aufsteigen mit dem allgemeinen Schwarm-Aufstieg. Derart sind sogar die Drogen verschieden, die künstlich die beiden Genera Traum hervorrufen: das heißt, selbst pharmakologisch, innerhalb der künstlich erregenden Phantastica, differiert noch die Phantasie des schlafenden Großhirns, mit seiner Ichverdunklung, von der des Tags. Und zwar so: das Opium erscheint dem Nachttraum zugeordnet. das Haschisch dem in Freiheit schweifenden, schwärmenden Tagtraum. Auch im Haschischrausch wird das Ego wenig alteriert, weder das individuelle Naturell noch sein Verstand werden hier eingezogen. Die Außenwelt ist zwar ziemlich abgeriegelt, doch keineswegs wie im Schlaf, gar Opiumschlaf ganz, sondern nur insoweit, als sie zu den erscheinenden Bildern nicht paßt, als ihre Dreinrede nur dumm erscheint, mitleiderregend dumm. Wogegen umgekehrt eine Außenwelt, die in die Phantasie greift und dem Niveau des Parnasses oder auch Narrenparadieses zu entsprechen scheint, wie Gärten, Schlösser, alt-schöne Straßen, zur Belebung des Haschischtraums sogar besonders geeignet ist. Die schiitische Sekte der Haschaschin oder Assasinen, diese religiöse Mördersekte des arabischen Mittelalters, mit dem Scheich vom Berge an der Spitze, führte die Jünglinge, die zu einerBluttat ausgewählt waren, durchaus offenen Auges, trotz dem /(100) Haschischrausch, in die glänzenden Gärten des Scheichs, in einen Überfluß sinnlichenVergnügens. Und die Haschischbilder schlossen sich genau an diese Außenwelt an, als eine dem Wachtraum gemäße, übersteigerten sie freilich so über jedes irdische Maß, daß die Jünglinge mit dem Utopiegift im Leib, einen Vorgeschmack des Paradieses zu empfinden glaubten; daß sie bereit waren, ihr Leben für den Scheich einzusetzen, um das wirkliche Paradies zu gewinnen. Haschischträume modernerer Versuchspersonen werden angegeben als von bezaubernder Leichtigkeit, eine Art Elfengeisterweise fehlt ihnen nicht, der Asphalt der Straße verwandelt sich in ausgespannte blaue Seide, beliebige Passanten lassen sich zu Dante und Petrarca umbilden, anachronistisch in Gespräch vertieft, kurz, die Welt wird dem begabten Haschischträumer ein Wunschkonzert. Auch noch andere Art von Leichtigkeit fehlt dem Haschischrausch nicht: »Verworrene Pläne, deren Klärung bisher unmöglich schien, glaubt das Individuum entworren vor sich und der Verwirklichung entgegengehen zu sehen« (Lewin, Phantastica, 1927,S. 159ff.). Auch Größenwahn stellt sich vorübergehend ein, vorweggenommene Leistung, fast wie in Paranoia. Ganz anders nun der Opiumrausch, der gänzliche Schlaf von Ego und Außenwelt; hier ist nichts als Nachttraum, bis auf den Boden. Statt imaginierter Erhöhung des Ichs, utopistisch dirigierter Erleichterung der Umwelt ist im Opiumrausch alles versunken. So öffnet sich einzig ein Raum aus verhängtem, besonders unentwirrtem Unterbewußtsein: Weib, Wollust, Höhle, Fackel, Mitternacht drängen durcheinander, meist in schwerer, gepolsterter Luft. Primär wirkt
Vergessenheit im Opium, nicht Licht; die Nacht ist es, die dem Morpheus, auf antiken Gemmen, den Mohn des Opiums austeilt. Mohnsamen lag in den Händen chthonischer Priesterinnen, zur Betäubung des Schmerzes, in den Mysterien der Ceres wurde Lethe gereicht, als dieses Opiumwasser der Vergessenheit, Isis-Ceres selber wird von der Spätantike dargestellt mit Mohnköpfen in der Hand. Wenn Baudelaire die Rauschgegenden des Opium und Haschisch gleichmäßig «paradis artificiels« nennt, so ist und bleibt unter diesen verruchten Entzückungen die durch Haschisch doch die einzige dem Wachtraum pathologisch zugeordnete. So viel zur Illustrierung eines Unterschieds selbst noch /(101)von den Entnervungen her, von denen des Morpheus hier, des Phantasus dort. Also findet sich das Ich im wachen Traum recht lebhaft, auch strebend vor. Es ist besonders eng und grundfalsch, wenn Freud über die Tagträume bemerkt, sie seien alle solche von Kindern, sie seien nur mit einem unerwachsenen Ich versehen. Wohl wirken in ihnen Erinnerungen an ein mißhandeltes Kinder-Ich gegebenenfalls mit, auch infantile Minderwertigkeitskomplexe, aber sie machen nicht den Kern aus. Der Träger der Tagträume ist erfüllt von dem bewußten, bewußt bleibenden, wenn auch verschiedengradigen Willen zum besseren Leben, und Held der Tagträume ist immer die eigene erwachsene Person. Als Cäsar in Gades vor der Bildsäule Alexanders stand und, gänzlich voll Tagtraum, ausrief: «Vierzig Jahre, und noch nichts für die Unsterblichkeit getan!«, war das Ego, das so reagierte, nicht das des kindlichen, sondern des gewordenen, ja künftigen Cäsar. So wenig regredierte damals das Ich, daß sich sagen läßt: in diesem Unsterblichkeitstraum wurde der uns bekannte Cäsar überhaupt erst geboren. Das Ego ist hier allemal in erwachsener Kraft, als erwachsene Einheitserfahrung bewußter seelischer Vorgänge erhalten; mehr noch: es ist das Leitbild dessen da, was ein Mensch utopisch sein und werden möchte. Gerade in diesem Punkt ist es vom Nachttraum-Ich, erst recht vom völlig alterierten, abgesetzten des Opiumtraums verschieden. Bleibt doch, wie erinnerlich, das Nachttraum-Ich bei Freud nur noch so weit vorhanden, daß es die halluzinierten Wunscherfüllungen zwingt, sich vor seinem Blick zu verkleiden; es übt derart moralische Zensur aus, wenn auch lückenhafte. Das Ich des Wachtraums dagegen ist weder abgesetzt, noch übt es Zensur gegen seine oft unkonventionellen Wunschinhalte. Konträr: Die Zensur ist hier nicht bloß geschwächt und lückenhaft wie im Nachttraum, sondern sie hört, trotz völliger Ungeschwächtheit des Tagtraum-Ichs und eben wegen ihrer, völlig auf, hört eben wegen der Wunschvorstellung auf, die das Tagtraum-Ich selber ergreift und es gerade stärkt, mindestens aufdonnert. Tagträume also haben überhaupt keine Zensur durch ein moralisches Ego, wie der Nachttraum; vielmehr: ihr utopistisch übersteigertes Ego baut sich und das Seine als Luftschloß in ein oft verblüffend unbeschwertes Blau. Das /(102) zeigt sich bei privat-rohen Träumereien gerade besonders deutlich und jedenfalls viel sichtbarer als bei denen des überlegten Plans, gar Zukunft-Weges. Der kleine Mann, der seine Rachewünsche stillt oder der seiner sonst leidlich geliebten Frau den Tod insofern wünscht, als er mit einer jüngeren im Wunschtraum unverhohlen Hochzeitsreise macht, spürt keine Gewissensbisse. Er büßt keine Lust, er entwickelt auch, bei der imaginierten Erfüllung solch verworfener Wünsche, keine Angst, als Ersatz der Zensur. Erst recht läßt ein ehrgeiziger Träumer seinen Wünschen freien Lauf, er fliegt mit ausgebreiteten Flügeln zum Tempel des Nachruhms empor, ob er nun ein Cäsar ist oder, wie meist doch, ein Spiegelberg. Auch er spürt keine Zensur, vom Hindernis der äußeren Verhältnisse abgesehen, nicht einmal die Zensur der Komik, geschweige die einer Ikarus- oder Prometheus-Angst. Hemmungslos wohnen im noch so durchschnittlichen
Wachtraum Circe, die die Menschen in Schweine, König Midas, der die Welt in Gold verwandelt-stets mit auffallendem Dispens von Verhaltensregeln, mit desto auffallenderem, als der Bezug zur Außenwelt hierbei keineswegs, wie beim Nachttraum, abgeblendet ist. All dies Überholende ist aber nur möglich wegen des unalterierten Wachtraum-Ego und genauer wegen der bemerkten utopisierenden Stärkung, die das Tagtraum-Ich sich selbst und dem ihm Gemäßen hinzubringt. Eben auch hinzubringen muß, wo immer der Tagtraum sich nicht mit Chimären wie Circe und Midas, gar mit privaten Exzessen ausgibt. sondern zur gemeinsamen verbindlichen Steigerung kommt: eine bessere Welt zu malen. Wie erst, wenn ein solcher Tagtraum zum Ernst übergeht, der ihm zugeordnet ist, zum klug-erfahrenen Plan. Hierzu ist am wenigsten alteriertes Ego zuständig. wie im Nachtrausch, sondern eines mit gespannten Muskeln und konkretem Kopf. Mit Erweiterungswillen im Kopf, als einem obengehaltenen, der sich auf Umsicht versteht. Dritter Charakter des Tagtraumes: Weltverbesserung Das Ich des wachen Traums mag so weit werden, daß es andere mit vertritt. Damit ist der dritte Punkt erreicht, der Tag- und Nachtträume unterscheidet: menschliche Breite unterscheidet /(103) sie. Der Schläfer ist mit seinen Schätzen allein, das Ego des Schwärmers kann sich auf andere beziehen. Ist das Ich dergestalt nicht mehr introvertiert oder nicht nur auf seine nächste Umgebung bezogen, so will sein Tagtraum öffentlich verbessern. Selbst noch privat verwurzelte Träume dieser Art wenden sich aufs Inwendig nur an, indem sie es in Gemeinschaft mit anderen Egos verbessern wollen; indem sie vor allem den Stoff dazu aus einem ins Vollkommene geträumten Außen nehmen. So lehrreich bei Rousseau, im vierten Buch seiner Konfessionen: »Ich erfüllte die Natur mit Wesen nach meinem Herzen; ich schuf mir ein goldenes Zeitalter nach meinem Geschmack, indem ich mir die Erlebnisse früherer Tage, an welche sich süße Erinnerungen knüpften, ins Gedächtnis zurück rief und mit lebendigen Farben die Bilder des Glücks ausmalte, nach denen ich mich sehnen konnte. Ich stellte mir Liebe und Freundschaft, die beiden Ideale meines Herzens, in den entzückendsten Gestalten vor und schmückte sie mit allen Anziehungen des Weibs. « So treten selbst aus dem schwimmenden Nebel des Phantasma Gestalten hervor, die das Ego in ihren Kreis ziehen als in einen besseren äußeren, in einen, worin Millionen umschlungen werden. Weltverbesserungsträume insgesamt suchen Auswendigkeit ihrer Innerlichkeit, sie ziehen als extravertierter Regenbogen oder überwölbend auf. An dieser Stelle wiederholt sich zugleich die unterschiedene Zuordnung von Nacht- und Tagtraum, die oben an Opium und Haschisch erschienen war; und zwar wiederholt sie sich in Psychosen. Das Mohnhafte des Nachttraums zeigt sich entsprechend in der Schizophrenie, als einer Regression, das Haschischhafte in der Paranoia, als einem Projektenwahn. Zwar sind diese beiden so benannten Erkrankungen nicht scharf getrennt zu halten, ihre Eigenschaften fließen zuweilen ineinander. Beide sind extreme Abkehrungen von der gegenwärtigen oder zurhandenen Wirklichkeit, die Schizophrenie allerdings ist förmliche Abspaltung von ihr, mit verschüttetem Rückweg. Der Schizophrene läßt die Welt los, geht auf den autistisch-archaischen Zustand der Kindheit wieder zurück; der Paranoiker aber bezieht aus diesem Zustand immerhin viele seiner durchaus nicht weltabgewandten, sondern weltverbessernden Wahnbilder. Oft endet freilich Paranoia in Schizophrenie; trotzdem: zwischen beiden Erkrankungen /(104) besteht ein unverwechselbarer, ein
durchs Utopische bezeichenbar gewordener Unterschied der Richtung. Ist Psvchose insgesamt ein unfreiwilliges Nachgeben des Bewußtseins gegenüber einem Einbruch des Unbewußten, so zeigt das paranoisch Unbewußte, zum Unterschied vom schizophrenen, jedenfalls utopistische Ränder. Der Schizophrene unterliegt wehrlos überkommenen Mächten, ist durchaus gebannt, steht mit den Regredierungen seines Wahns in archaischer Urzeit und malt, reimt, stottert aus ihrem verschollenen Traum ; der Paranoiker dagegen reagiert auf die überkommenen Mächte mit Querulantenturn und Verfolgungswahn, er bricht sie zugleich durch abenteuerliche Erfindungen, Sozialrezepte, Himmelsstraßen und dergleichen mehr. Verwandte Unterschiede des Abwärts oder Aufwärts, der Verdunklung oder Überhellung scheinen auch dort zu wirken, wo das Abwärts oder Aufwärts des neurotischen Bewußtseins ins Rasende übergehen. Wo also das Regredieren zum Außersichsein der Ekstase aufkocht, das Projektieren zum Übersichsein der Entzückung. Jamblichos, der syrische Neuplatoniker, der sich im falschen Bewußtsein der Besessenen auskannte, bekundet in seiner Schrift über die Mysterien von dieser Art Abwärts und Aufwärts folgendes: «Ganz mit Unrecht hat man angenommen, daß auch die Entzückung durch Einwirkung der Dämonen erreicht werden kann. Letztere bringen nur Ekstasen zustande, die Entzückung (Enthusiasmus) aber ist das Werk der Götter. Daher ist sie durchaus nicht Ekstase, vielmehr, Entzückung ist eine Wendung zum Guten, während Ekstase ein Fallen nach dem Bösen hin ist« (De mysterus II, 3). Das sind wüste und mythologische Deutungen, doch das, was ihnen zugrunde liegt, wiederholt gerade auch im religiös-parapsychischen Feld die verschiedene Bedeutungsrichtung von Schizophrenie und Paranoia. Kurz, bezeichnet Schizophrenie die Erkrankung (abgeblendete Übersteigerung) der archaisch regredierenden Akte, so leistet Paranoia das gleiche an den utopisch progredierenden, besonders aber an der Tendenz des Wachtraums zur Weltverbesserung. Weshalb es so viele dieser Irren unter Projektemachern gegeben hat und immerhin einige unter den großen Utopisten. Ja fast jede Utopie, ob medizinische, soziale oder technische, hat paranoische Karikaturen; auf jeden wirklichen /(205) Bahnbrecher kommen Hunderte von phantastischen, unwirklichen, irren. Könnte man die Wahnideen abfischen, die in der Aura der Irrenanstalten schwimmen, so fände man neben der durch GG. Jung allzu berühmt gewordenen Archaik der Schizophrenie die erstaunlichsten Vorgestalten aus Paranoia. Und unter ihnen finden sich keinerlei brütende Nachtsymbole, von der Art wie ein Herz im Weiher, ein Kreuzigungsbrunnen und andere gemalte oder gedichtete Altertümer aus der Schizophrenie, sondern neue Zusammenfügungen, Weltveränderungen, Projektemachereien nach vorwärts, kurz, feurige Eulen einer verrückten, doch voll Morgenrot glimmenwollenden Minerva. Selbst in so großer Erkrankung also zeigt sich noch, was es mit dem Wachtraum, in seiner spezifischen Weltverbesserung, auf sich hat. Als Verrücktheit macht er feurige Eulen, als Märchen malt er arabische Feenpaläste in die Welt, aus Gold und Jaspis. Dem wachen Traum als weitem ist es ferner wichtig, sich nach außen hin mitzuteilen. Er ist dazu fähig, wogegen der Nachttraum, wie jedes allzu private Erlebnis, nur schwer erzählt werden kann, so erzählt, daß auch der Hörer den besonderen Gefühlston der Sache mitgeteilt erhält. Dagegen sind die Tagträume wegen ihrer Offenheit verständlich, wegen ihrer allgemein interessierenden Wunschbilder kommunizierbar. Die Wunschbilder setzen hier sogleich äußere Gestalt, in einer besser geplanten Welt oder auch in einer ästhetisch gesteigerten, in einer ohne Enttäuschung. Freud selber gibt an diesem Punkt den Tagträumen einen
eigenen Akzent, sie werden, wider die Abrede, neben der Vorstufe des Nachttraums nun doch auch zu einer der Kunst: «Sie sind das Rohmaterial der poetischen Produktion; denn aus seinen Tagträumen macht der Dichter durch gewisse Umformungen, Verkleidungen und Verzichte die Situationen, die er in seine Novellen, Romane, Theaterstücke einsetzt (Vorlesungen, 1922 ,S. 102). Freud hat an dieser Stelle die Wahrheit des Utopisch-Kreativen, des ins gute Neue gerichteten Bewußtseins, gestreift; doch der bloße, bei Freud sogleich folgende Verdünnungsbegriff «Sublimierung« machte die Psychologie des Neuen wieder unkenntlich. Der Tagtraum in seiner Gemeinsamkeit erstreckt sich aber wie in die breite, so in die tiefe Weite, in die nicht sublimierte, sondern konzentrierte, in die der utopischen /(106) Dimensionen. Und diese setzt die bessere Welt ohne weiteres auch als die schönere, im Sinne vollendeter Bilder, wie die Erde sie noch nicht trägt. Planend oder gestaltend werden in Not, Härte, Roheit, Banalität Fenster geschlagen, weithinblickende, lichtvolle. Der Tagtraum als Vorstufe der Kunst intendiert so besonders sinnfällig Weltverbesserung, hat diese als kerngesund-reellen Charakter: »Voran, gesenkten Blicks, das Leid der Erde, / Verschlungen mit der Freude Traumgestalt«: so kennzeichnet Gottfried Keller im Poetentod« die Gefährten des Dichters samt Phantasie und ihrem Witz. Kunst enthält vom Tagtraum her dieses utopisierende Wesen, nicht als leichtsinnig vergoldetes, sondern als eines, das ebenso Entbehrung in sich hat und das, wenn diese von Kunst allein gewiß nicht überwunden, so in ihr auch nicht vergessen, sondern umschlungen wird von der Freude als kommender Gestalt. Der Tagtraum geht in die Musik und hallt in ihrem unsichtbaren, doch zur Welterweiterung gehörigen Haus, nun ist er in ihr, als dynamischer wie als ausdrucksvoller. Er setzt sämtliche Figuren des Überschreitens, vom edlen Räuber bis zu Faust, sämtliche Wunschsituationen und Wunschlandschaften, von Aurora in Öl bis zu den symbolhaften Zirkeln des Paradiso. Menschen, Situationen werden kraft des zu Ende reitenden Tagtraums in großer Kunst selber bis an ihr Ende getrieben: das Konsequente, ja objektiv Mögliche wird sichtbar. Bei realistischen Dichtern werden solche objektiven Möglichkeiten in der von ihnen dargestellten Welt ganz deutlich. Das, indem die Natur nicht etwa phantastisch gemacht wird, wohl aber, indem durch Phantasie, als einer konkret bezogenen und vorauseilenden, jener Traum von einer Sache in Natur und Geschichte kenntlich gemacht wird, den die Sache von sich selber hat und der zu ihrer Tendenz wie zum Austrag ihres Totum und Wesens gehört. Wo extravertierte Phantasie gänzlich fehlt, wie bei Naturalisten und denen, die Engels »Induktionsesel« nannte, da erscheinen freilich nur matters of fact und Oberflächenzusammenhänge. So ist überall Wachtraum mit Welterweiterung, als tunlichst exaktes Phantasieexperiment der Vollkommenheit dem ausgeführten Kunstwerk vorausgesetzt; ja nicht nur dem Kunstwerk. Zuletzt kommt auch die Wissenschaft über den Oberflächenzusammenhang nur durch eine Antizipation hinaus, /(107)durch eine - wie sich von selbst versteht - spezifischer Art. Diese kann lediglich aus den sogenannten heuristischen »Annahmen« bestehen, die sich ein Bild der ganzen Sache, noch außerhalb der Details, in reinem Umriß vor Augen stellen. Doch kann auch ein vollkommener Wachtraum von harmonischem Naturzusammenhang voranstehen: Kepler intendierte solche Weltvollkommenheit, und er entdeckte die planetarischen Bewegungsgesetze. Die Wirklichkeit dieser Gesetze entsprach dem sphärenharmonischen Vollkommenheitstraum zwar gewiß nicht; immerhin: der Traum ging voraus, war der Überschlag einer harmonisch völlig geordneten Welt. Dergleichen ist der Regression des Nachttraums, so fern wie möglich denn dieser zeigt, in seiner Versenkung und Archaik, einzig prälogische
Bilder, als Kategorien einer längst verflossenen Gesellschaft, keine eines rationalen Kosmos. Vorwegnahme und Steigerungen, die sich auf Menschen beziehen, sozialutopische und solche der Schönheit, gar Verklärung sind erst recht nur im Tagtraum zu hause. Vorab erst das revolutionäre Interesse, mit der Kenntnis, wie schlecht die Welt ist, mit der Erkenntnis, wie gut sie als eine andere sein könnte, braucht den Wachtraum der Weltverbesserung, ja es hält ihn ganz und gar unheuristisch. ganz und gar sachgemäß, in seiner Theorie und Praxis fest. Vierter Charakter des Tagtraums: Fahrt ans Ende Viertens versteht es der wache, also offen Traum, nicht entsagend zu sein. Er lehnt es ab, fiktiv satt zu werden oder auch nur Wünsche zu vergeistigen. Die Tagphantasie startet wie der Nachttraum mit Wünschen, aber führt sie radikal zu Ende. will an den Erfüllungsort. Zwei typische Tagträume von Dichtern gehören hierher; denn sie setzen, aller Schwäche und Flucht ungeachtet, diesen Ort recht prototypisch. Die zwei Tagräume, übrigens von stillen Dichtern ,gehören desto eher hierher, als sie eine Ankunft intendieren, nicht nur eine weltverbessernde Schweifung. Der eine stammt aus der Kindheit Clemens Brentanos, der andere aus der Jugend Mörikes und enthält bereits alle Keime einer poetischen Ideallandschaft. Nachdem Brentano mit seiner Schwester Bettina und anderen Kindern sich auf dem /(108) Frankfurter Dachboden ein Königreich errichtet hatte mit Namen Vaduz, war es, wie Brentano sagt, eine Vertreibung aus dem Paradies, als er später erfuhr, daß ein Vaduz wirklich existiere und daß es die Hauptstadt des Fürstentums Liechtenstein sei. Da tröstete aber Goethes alte Mutter: «Laß dich nicht irre machen, glaub du mir, dein Vaduz ist dein und liegt auf keiner Landkarte, und alle Frankfurter Stadtsoldaten und selbst die Geleitsreiter mit dem Antichrist an der Spitze können es dir nicht wegnehmen... Dein Reich ist in den Wolken und nicht von dieser Erde, sind so oft es sich mit derselben berührt, wird's Tränen regnen, ich wünsche einen gesegneten Regenbogen.« Der Bericht Mörikes, den unmittelbaren Übergang von Tagphantasie in Dichtung betreffend, findet sich in seinem Roman «Maler Nolten« und lautet, als transponierte Autobiographie, folgendermaßen: »Ich hatte in der Zeit, da ich noch auf der Schule studierte, einen Freund, dessen Denkart und ästhetisches Bestreben mit dem meinigen Hand in Hand ging: wir trieben in den Freistunden unser Wesen miteinander, wir bildeten uns bald eine eigene Sphäre von Poesie . . Lebendig, ernst und wahrhaft stehen sie noch alle vor meinem Geiste, die Gestalten unserer Einbildung, und wem ich nur einen einzigen Strahl der dichterischen Sonne, die uns damals erwärmte, so recht golden, wie sie war, in die Seele spielen könnte, der würde mir wenigstens ein heiteres Wohlgefallen nicht versagen, er würde selbst dem reiferen Manne es verzeihen, wenn er noch einen müßigen Spaziergang in die duftige Landschaft dieser Poesie machte und sogar ein Stückchen alten Gesteins von der geliebten Ruine mitbrächte. Wir erfanden für unsere Dichtung einen außerhalb der bekannten Welt gelegenen Boden, eine abgeschlossene Insel, worauf ein kräftiges Heldenvolk gewohnt haben soll. Die Insel hieß Orplid, und ihre Lage dachte man sich im Stillen Ozean zwischen Neuseeland und Südamerika.« Soweit hier Brentanos auf dem Kinder-Dachboden gegründetes Vaduz, Mörikes weithin vertragenes Orplid. Die bloße Zuordnung des Tagtraums zu Nachtgespinst oder auch zur Kunst als einer Spielerei wird solchen oder ähnlichen Phantasielandungen am wenigsten gerecht. Denn sie sieht nur Sublimierungen in ihnen oder auch archaische Rückkehr, statt versuchter Artikulierung eines
utopischen Hoffnungsinhalts. Auch /(109) entspricht diesen Inhalten bei einem Freud gar nichts in der Außenwelt (die der Spätbourgeoisie in der Tat als bleierne Nüchternheit und Nichtigkeit erscheinen muß); Kunst insgesamt ist Schein, Religion insgesamt Illusion. Was dem Tagtraum, besonders in der Fahrt ans Ende, wesentlich ist: Ernst eines Vor-Scheins von möglich Wirklichem, das wird ihm hier fast bestimmter als dem immerhin symptomhaften Nachttraum versperrt. Die bürgerlich übliche schlechthinnige Illusionstheorie des Tagtraums läßt in ihm wie um ihn nur den Spielraum für Infantilismen und Archaismen schöner Spielerei: «In der Phantasietätigkeit genießt also der Mensch die Freiheit vom äußeren Zwang weiter, auf die er in Wirklichkeit längst verzichtet hat... Die Schöpfung des seelischen Reiches der Phantasie findet ihr volles Gegenstück in der Einrichtung von Schonungen, Naturschutzparks dort, wo die Anforderungen des Ackerbaus, des Verkehrs und der Industrie das ursprüngliche Gesicht der Erde rasch bis zur Unkenntlichkeit zu verändern drohen. Der Naturschutzpark erhält diesen alten Zustand, welchen man sonst überall mit Bedauern der Notwendigkeit geopfert hat. Alles darf darin wuchern und wachsen, wie es will, auch das Nutzlose, das Schädliche. Eine solche dem Realitätsprinzip entzogene Schonung ist auch das seelische Reich der Phantasie« (Freud, Vorlesungen, 1922, S.416). Wäre Kunst überall und allezeit dasselbe wie bloße formale oder unverpflichtende Betrachterei vom Fauteuil her, also wie schonender Kunstgenuß, dann wäre die Lehre vom Naturschutzpark vielleicht in Ordnung; und eine Art Narrenfreiheit, zum Zweck der Lusterzeugung, käme - vom Nachtklub bis zur Nationalgalerie - hinzu. Aber auch das Bürgertum war nicht immer nur dem kontemplativen Parkett verschworen, es hatte einmal von ästhetischer Erziehung des Menschen geträumt, mithin von Kunst, die ergreift, ja angreift, und von einem Morgentor des Schönen. Wie wenig hat erst der sozialistische Realismus mit philisterhaftem Kunstgenuß gemein, gar mit einer «dem Realitätsprinzip entzogenen Schonung«. Bei Freud erscheint die Realität allemal als unveränderliche, und sie erscheint als die mechanische, im Einklang mit dem Weltbild des vergangenen Jahrhunderts. Dadurch eben wird dann utopischer Tagtraum, besonders als Fahrt ans Ende, reflexiv gemacht oder, /(110) psychologisch gesprochen, rein introvertiert, wie der Nachttraum auch. Bei C. G. Jung mußte dies Introvertierte nur noch senkrecht hinab ausgeschachtet werden, um Orplid in Archaik zu verlegen; aus dem Naturschutzpark ins Tertiär. Dadurch wurde Phantasielandung nur als archetypische möglich, das ist, bei Jung, nur im längst versunkenen Land des Mythos. Entscheidend aber steht gegen all das fest: Vaduz und Orplid, das mit diesen Radikalismen Gemeinte hat seinen Erfüllungsort nie anders als in der Zukunft gesucht. Auch die Verlegung solcher Märchenbilder in ein Es-war-einmal läßt das Einst als Kommendes in dem Einst als Vergangenes allemal durchschimmern. Auch die Verlegung in abgeschlossene Täler oder Südseeinseln, wie das bei älteren Staatsromanen der Fall, involviert in der Entlegenheit Zukunft, in der Entfernung utopisches Fahrtziel. Auch der wirklich archaische Erinnerungsgrund, auf den sich so viele Hoffnungsbilder zurückbeziehen: der Archetyp Goldenes Zeitalter, Paradies steht ebenso, als erwarteter - im Dereinst der Zeit. Mit Hunderten von kleinen und großen Perlen hängt so das Orplidische am wenig erforschten roten Faden Traumutopie und wird dadurch immer wieder zusammengehalten. Durch die Intention auf ein Vollkommenes wird es zusammengehalten, wie immer die Inhalte dieses Vollkommenen je nach den bisherigen Klassen und Gesellschaften variabel ausgemalt worden sind. Fahrtwillen ans gut gewordene Ende durchzieht derart allemal utopisches Bewußtsein, durchtönt dies Bewußtsein mit nie vergessenem Märchenwesen, arbeitet in den Träumen vom besseren Leben, aber auch, was
endlich begriffen werden muß, suo modo in Kunstwerken. Die weltverbessernde Phantasie landet in ihnen nicht bloß dergestalt, daß alle Menschen und Dinge an die Grenzen ihrer Möglichkeit getrieben werden, all ihre Situationen ausgeschöpft und durchgestaltet. Vielmehr ist jedes große Kunstwerk, außer seinem manifesten Wesen, auch noch auf eine Latenz der kommenden Seite aufgetragen, soll heißen: auf die Inhalte einer Zukunft, die zu seiner Zeit noch nicht erschienen waren, ja letzthin auf die Inhalte eines noch unbekannten Endzustands. Nur aus diesem Grund haben die großen Werke jeder Zeit etwas zu sagen, und zwar Neues, das die vorige Zeit an ihnen noch nicht bemerkt hatte; nur aus diesem Grund hat die märchenhafte /(111) Zauberflöte, aber auch die historisch streng fixierte Göttliche Komödie ihre »ewige Jugend«. Wichtig ist das, wie Goethe sagte, »Weitstrahlsinnige « dieser großen Phantasiegebilde, wo nach sie in der gegebenen Realität mindestens noch den Ausweg halten, gegebenenfalls den Durchblick auf ein Überhaupt. Wobei die großen, also realistischen Kunstwerke durch die Notierung der Latenz, ja durch den - wie immer ausgesparten - Raum des Überhaupt nicht weniger realistisch werden, sondern mehr; denn alles Wirkliche verläuft mit Noch-Nicht in ihm. Bedeutende Tagtraumphantasiegebilde machen keine Seifenblasen, sie schlagen Fenster auf, und dahinter ist die Tagtraumwelt einer immerhin gestaltbaren Möglichkeit. Unterschiede zwischen den beiden Traumarten bestehen also auch an diesem Ende genug; Weise wie Inhalt der Wunscherfüllung gehen in ihnen ununterschlagbar auseinander. Das macht immer wieder: der Nachttraum lebt in Regression, er wird in seine Bilder wahllos hineingezogen, der Tagtraum projiziert seine Bilder in Künftiges, durchaus nicht wahllos, sondern noch bei ungestümster Einbildungskraft dirigierbar, mit objektiv Möglichem vermittelbar. Der Inhalt des Nachttraums ist versteckt und verstellt, der Inhalt der Tagphantasie ist offen, aus fabelnd, antizipierend, und sein Latentes liegt vorn. Er kommt selber aus Selbst- und Welterweiterung nach vorwärts her, ist Besserhabenwollen, oft Besserwissenwollen durchaus. Sehnsucht ist beiden Traumarten gemeinsam, denn sie ist, wie bemerkt, die einzige ehrliche Eigenschaft aller Menschen; doch das Desiderium des Tags kann zum Unterschied von dem der Nacht auch Subjekt, nicht nur Objekt seiner Wissenschaft sein. Der Tages-Wunschtraum bedarf keiner Ausgrabung und Deutung, sondern der Berichtigung und, sofern er dazu fähig ist, der Konkretion. Kurz, er hat zwar sowenig wie der Nachttraum von Haus aus ein Maß, doch er hat, zum Unterschied vom Nachtspuk, ein Ziel und macht sich zu ihm nach vorwärts heraus. Ineinander nächtlicher und täglicher Traumspiele, seine Auflösung Von einander verschieden sein, das heißt freilich nicht, ohne Bezug sein. Zwischen der Schicht des Träumers und der des Träu- /(112)merischen gibt es zuweilen einen Tausch. Es gibt Farbenspiel in der Nacht, das auch untertags bestehen kann, nach etwas Seltenem aussieht und zweifellos so dargestellt werden kann. Bemerkenswerte Sammlungen dieser Art liegen vor, so gab Friedrich Huch hundert Aufzeichnungen »Träume« heraus, so stammt eine besonders verstrickte Seltsamkeit: der Roman »Die andere Seite «(von dem Zeichner Alfred Kubin) überwiegend aus Mond und Schlaf. Umgekehrt nehmen auch Tagdichtungen durchaus Träume auf, am auffallendsten und schönsten sogar bei dem Realisten Keller. Sie werden berichtet wie andere Geschehnisse auch, sie verschmelzen aber auch mühelos mit dem märchenhaft soliden Überfluß, worin bei Keller jede
Anschauung liegt. Der grüne Heinrich verfällt, kurz vor seiner traurigen Rückkehr in die Heimat, einer wahren Orgie von Träumen, sie alle sind vorwurfsvolle Wunscherfüllungen. Dahin gehört der Blick auf die Vaterstadt, die verklärte, veränderte, ein tolles Luftbild auf dem Boden, in das man nicht hineingelangen kann. Täler und Ströme treten auf, mit unerhörten, doch wohlbekannten Namen, Rosengärten wandern in die Ferne, am Horizont eine Röte ausbreitend: - «das Alpenglühen rückt aus und geht um das Vaterland herum«. Es ist eine andere als die Morgenröte, die wache von damals, als der grüne Heinrich von der Vaterstadt auszog und sich aufs Gebirge zurückwandte: »nur noch über dem letzten Eisaltar glimmte der Morgenstern«; das Licht kommt jetzt aus dem Hades ,gibt sich als diese einzig gebliebene Hoffnung. Das Haus der Mutter erscheint, eigentlich die nach außen gekehrte Dämmerstube, unvergeßlich, nur der Nachttraum gibt dazu Rohstoff und Bild: »Auf den Gesimsen und Galerien standen altertümliche silberne Kannen und Becher, Porzellangefäße und kleine Marmorbilder aufgereiht. Fensterscheiben von Kristallglas funkelten mit geheimnisvollem Glanze vor einem dunklen Hintergrunde zwischen gemaserten Zimmer-und Schranktüren, in denen blanke Stahlschlüssel steckten. Über dieser seltsamen Fassade wölbte sich der Himmel dunkelblau, und eine halb nächtliche Sonne spiegelte sich in der dunklen Pracht des Nußbaumholzes, im Silber der Krüge und in den Fensterscheiben.« Dergleichen zeigt allerdings Wechselverkehr zwischen den Antipoden Nacht und Taglicht, sie scheinen gänzlich ineinander- /(113) getaucht, unheimlich und sonderbar ahnungsvoll. Wie wahlverwandt konnte gar die Romantik dies Mischlicht verwenden, als Traumspiel und nicht nur als Spiel. Jeder Traum war für Novalis «ein bedeutsamer Riß in dem geheimnisvollen Vorhang, der mit tausend Falten in unser Inneres hereinfällt«. Es war vor allem auch die Metamorphose der Traumbilder, welche der romantischen Antistatik und ihrem Wachtraum sich empfahl, fast gelehrt empfahl. Nachttraum als verwilderter Roman wird von der romantischen Naturphilosophie entdeckt: «Diese Gestaltungen denn sind nicht ohne Stimme und Sprache; Töne und Worte, wie aus allen verschiedenen Richtungen kommend, verständlich und unverständlich, begegnen und verdrängen sich wechselseitig, und so scheint jener inneren Natur, im Vergleich mit der äußeren, nichts abzugehen als die Stetigkeit und Ruhe, welche diese hat. Denn solche inneren Gebilde, wie aus flüchtigem Gewölk geschaffen, kommen und zerrinnen; es schützt da nicht das Hochgebirge seine Größe oder den Baum die Kraft der Wurzeln vor der schnellen Hinwegbewegung, und wo in demselben Augenblick noch Fels und Wald gewesen, da erscheint Ebene oder ein von Wänden umschlossenes Zimmer« (G. H. Schubert, Die Geschichte der Seele, 1830, S.549). So entstand gar der Schein, als unterhielten Nacht- und Tagtraum außer dem Tausch sogar ein Ineinander ihrer Bilder, auf gleichem Boden, romantisch-gegenständlich geeint. Der pure Romantiker will gar nicht mehr wissen, ob in seiner Poesie unterbewußtes Chaos oder bewußt gestaltende, umgestaltende Phantasie vorherrscht. Ihm ist der Nachttraum ohnehin von allen Zeit-Raumbegriffen der jetzigen Nüchternheit entfernt, von allen Kausalund Identitätsformen der grauen oder Zivilisationsrinde; er ist prälogisch beschaffen und also ein archaisches Element gegen die Weite, den Morgen, die Zukunft des Tags. Das ist eine Erbschaft, welche die Romantik aus der Nacht- in die Tagschicht brachte, doch freilich arbeitete auch immer wieder ein Stück neuer Verbindung zwischen beiden Schichten. Sinngemäß kam die Überschneidung der schwarzen und der blauen Stunde wieder, so oft beide stolz darauf waren, nicht Tag im Sinn von Oberflächenklarheit, bloßem Oberflächenzusammenhang zu sein. Der Sprung in bisheriger Oberfläche riß dann Höhle und Fernblau zugleich /(114) auf; zuletzt noch
im Expressionismus, besonders im Surrealismus. Allerdings nun mit dem wichtigen Unterschied von der Romantik, daß Utopisches sich nicht so sehr dem Vergangenen, als Vergangenes sich einem Utopischen zukehren mochte. So sehr es auch im expressionistischen Gedicht lunarisch hergeht: »bleiche Abendbäume, Weiden, die dem mondholden Weiher entleuchten, Mondflocken, durchs Fenster silbernd«, und dergleichen Däubler-Worte mehr: so bemüht wurden Nachtlinien in utopische eingearbeitet. Auch stammelnder Un-Sinn der Nacht in dem Versuch, auf Grund solcher Auflösungen des bisherigen Tagzusammenhangs nach einem neuen Land zu fahren, an bessere Küsten, gar an vernünftig geordnete. Ein ganzes Studienobjekt dieser Übergänge lieferte James Joyce im »Ulysses«; höchst nachromantisch, höchst unromantisch. Der Keller des Unbewußten entlädt sich bei Jovce in ein transitorisches Jetzt, liefert ineinander prähistorisches Gestammel, Schweinerei und Kirchenmusik; der Autor fällt dem Absud, der sich über die eingeebnete Bewußtseinsschwelle wälzt, achtzig Seiten lang mit keinem Komma in die Rede. Aber mitten im Affengeschwätz (aus einem Tag und tausend Unterbewußtheiten der Menschheit streng durcheinander) erscheint Übersehenes, angewandte Montage zeigt ganz rationale Querverbindungen oder analogiae entis; Lots Weib und die Old Ireland Taverne dicht am Salzwasser bei den Docks feiern quer durch Zeit und Raum hindurch ihre Begegnung, ihren Alltag jenseits von Raum und Zeit. »So daß«, sagt Stephan Dädalus, »so daß Geste, nicht Musik, nicht Duft eine allgemeine Sprache wurde, die nicht den lauschen Sinn, sondern die erste Entelechie, den strukturalen Rhythmus sichtbar macht« (Ulysses II, 1930, S.86). Urhöhlen, mit Gelalle und mit Zungenreden darin, werden derart in Tagphantasien heraufbeschworen und diese wieder abgesenkt; ein ständiges Ineinander aus Nachtfratzen und Grundrissen entsteht. Wobei im Surrealismus, also der Zeit des Einsturzes selber entsprechend, zu der der Surrealismus gehört, wie immer bei plötzlicher Vereinung des Unvereinbaren, der Witz nicht fehlt; ein schnöder Witz zuweilen, einer, der dann die bloß epatisierende Konstruktion entlarvt, oder selbst einer des kleinen Arrangements, und im Traumhaus zu den doppelten Seltsamkeiten wird es ganz /(115) gemütlich. Aber wesentlicher am Surrealismus bleibt die grundsätzliche Verkoppelung von Hekate und Minerva, bleibt das Visionsgesicht, aus lauter Fetzen und Einstürzen montiert. Das eben ist ein Unterschied zur Romantik als der Zeit der Restauration; dort war der Tagtraum grundsätzlich in Nachtlinien eingearbeitet, ohne zu phosphoreszieren. Immerhin, es ist eine lange Mischwelt zwischen Unterbewußtsein und Morgenrot, eine Kontaktwelt, in der die Regressio sich die Endfahrt oder die Endfahrt sich die Regressio zunutze macht. Das Labyrinth des Nachttraums ist auch ästhetisch keine Vorstufe zum Luftschloß, doch eben: soweit es dessen Souterrain bildet, kann Archaisches mit Wachphantasie kommunizieren. Und vor allem: am Beispiel des Gottfried Kellerschen Traumhauses, dieses styxhaft blinkenden, dieses Nachtstücks von Mutter- und Jugendhaus, erhellt auch, warum umgekehrt der Wachtraum nicht minder mit Archaischem zu kommunizieren vermag. Er vermag es, weil nicht nur psychologisch, auch objektiv noch Zukunft in der Vergangenheit lebt, weil auch manches Nachtstück nicht abgegolten oder fertig ist und deshalb Tagtraum, Vorwärts-Intention verlangt. Diese Nacht hat noch etwas zu sagen, nicht als brütend Urgewesenes, sondern als Ungewordenes, noch nirgends recht Lautgewordenes, das darin streckenweise eingekapselt ist. Doch sie kann nur etwas sagen, sofern sie von Wachphantasie belichtet wird, von einer, die aufs Werdende gerichtet ist; an sich selber ist das Archaische stumm. Lediglich als ein unabgegolten, unentwickelt, kurz, utopisch Brütendes hat es die Kraft, in dem Tagtraum aufzugehen, erlangt es
die Macht, sich vor ihm nicht verschlossen zu halten; als solches aber, wenn auch nur als solches, kann es umgehen in freier Fahrt, erhaltenbewahrtem Ego, Weltverbesserung, Fahrt ans Ende. Die Einsicht also, daß archaisches Brüten in Wahrheit ein utopisches sein kann, erklärt schließlich die Möglichkeit des Ineinander von Nacht- und Tagtraum, gibt einem streckenweise möglichen Ineinander der Traumspiele seine Erklärung wie Auflösung. Und eben mit beständigem Primat der Wachphantasie: nicht das Utopische kapituliert hier vor der Archaik, sondern die Archaik kapituliert, wegen ihrer unabgegoltenen Bestandstücke, gegebenenfalls vor dem Utopischen; jedes andere Ineinander und jede andere Erklärung seiner ist /(116) Schein. Die Ausarbeitung ist ohnehin Tagesgeschäft; der verdächtige Gott, der es den Seinen im Schlaf schenkt, braucht Apollo zur Aussage, jenen Apollo, der zwar auch Dämpfe und Orakel kennen mag, aber sie als besiegt und dienend in seinem Tempel hat. Sonst käme die Phantasie, im Sinne der Jung und Klages, gänzlich auf Prähistorie zurück, auf eine romantisiert-gefälschte dazu. Item, erst das Taglicht schließt das wunderlich-betreffende Material der Nachtträume auf, des Archaischen überhaupt, und es Ist nur deshalb dieses Material, weil und sofern es selber noch utopisch ist, versetzt utopisch. Regredieren also geschieht künstlerisch erst dann mit Gewinn, wenn auch im Archetyp noch ein Ungewordenes, ein künftig Mögliches eingekapselt ist. Anderenfalls werden die Schätze, die aus dem Nachtboden entgegenblicken, Spreu und welke Tannenzapfen, wie Rübezahls Geschenke am Tag. Aber der Tagtraum, und was er ergreift, enthält menschliche Angelegenheiten statt der Medusen im Labyrinth. Tagträume haben das bessere Teil erwählt; so ziehen sie allesamt, obzwar mit so viel wechselnder Fähigkeit und Qualität, aufs Feld des antizipierenden Bewußtseins.
Nochmals Neigung zum Traum: die »Stimmung« als Medium von Tagträumen Schlafend ist der Leib verdunkelt, nur wach spürt man ihn. Er spürt sich zuerst im Gefühl des Befindens; darin werden lediglich körperliche Zustände ihrer gewahr. Und auch sie werden dann nur verwischt, diffus gewahr, noch nicht auf eine besondere Stelle des Leibes oder auf eine besondere Art von körperlichem Schmerz oder Genuß bezogen. Es gibt laues, krankes und gesundes Befinden, Wohlbefinden und Übelbefinden, doch allemal nur als ganz allgemeines; ein klarer Magenschmerz, eine spezifische Lustempfindung, auf die Zunge oder auf erogene Zonen lokalisiert, fällt sogleich daraus heraus. Und: das Befinden ist nicht etwa so oder so »gelaunt«, wie die Stimmung; denn es ist nicht wie diese aus eigentlichen Triebgefühlen oder Affekten zusammengemischt. Es hat eben nur das Kochen der Leibvorgänge in sich, besonders Eingeweideempfindungen und mehr oder minder unterbewußte des Blutkreislaufs, doch noch keine /(117) Affektgefühle, mit einem Ich dahinter. Das unterscheidet das mehr organische Zustandsgefühl des »Befindens« von dem weit mehr ichhaften der »Stimmung«; so gibt es das Diffuse hier, das Organgefühle meldet, und das Diffuse dort, das Affektgefühle wiedergibt, in welche ein Mensch sich allemal erst, launenhaftgelaunt, hineinkniet. Das Befinden gleicht einem Rauschen, das, wie jedes Geräusch, aus einem Durcheinander vieler, naturhaft gegebener, unregelmäßig sich folgender Töne entsteht. Die Stimmung gleicht dem Klangdurcheinander eines Orchesters, das vor Beginn eines Musikstücks einzelne Passagen abgebrochen und gleichzeitig spielt, keine Naturtöne, sondern solche, die ein musizierendes, komponierendes Ich hinter sich haben. Die Stimmung hat auch
nicht einen solch dumpfen, unterirdischen »Grundton« wie das Befinden, sondern ihr «Grundton« ist wogend, wetterhaft, atmosphärisch, er kann sich in Extremen bewegen (wie »himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt«), die das Befinden in solcher Nachbarschaft gar nicht kennt. Und ferner weist jede Stimmung eine eigentümliche, an die Ausbreitung von Duftstoffen erinnernde Weite auf. Th. Lipps betonte gerade dieses, dem Körperbefinden fremde Weite; er notiert, im Fall »Heiterkeit» beispielsweise, »das fühlbare Sichausbreiten der Lust an einem Erlebnis in eine mehr oder minder weite, das psychische Gesamterleben erfassende Stimmung« (Leitfaden der Psychologie, 1903, S.271). Oder in einer neueren Darstellung (die immerhin nicht mit dem gekommenen existenzialistischen Stimmungsdrang à la Bollnow krebst): »Die seelische Stimmung ist der verhältnismäßig beharrende atmosphärische Grund unseres Lebensgefühls, auf dem sich die wechselnden Wahrnehmungen mit besonderer Färbung abheben, von dem aber auch unsere Vorstellungen und unser Verhalten durchtränktwerden« (Lersch, Der Aufbau des Charakters, 1948, S.41). Wegen dieses atmosphärisch-weiten und zugleich diffusen Gesamtwesens dehnt sich das Stimmungsgefühl sogar über das Ich hinaus, an dem es primär haftet. Ein Zimmer, eine Landschaft scheinen eine »Stimmung» zu haben, und auch hier desto entschiedener, je unentschiedener, das heißt diffuser der übertragene Affektzustand dreinsieht. So ist der helle Mittag dafür wenig geeignet, mehr der Vormittag, am bequemsten der Abend; bekannt ist die /(118) Gewitterstimmung (die der erste Blitz vertreibt). Schlechter dafür geeignet sind einfache große Gegenstände wie das Meer, besser die unübersichtlicheren wie der Wald. Dabei darf jedoch nie vergessen werden, daß die Stimmungsbreite, die sich dermaßen selber nach außen zieht, auch als extravertiertes Naturgefühl nie gegliedert auftritt, sondern im Wogen einer Allgemeinheit bleibt. Der Stimmung ist es wesentlich, nur als diffuse total zu scheinen; sie besteht nirgends aus einem herrschend-überwältigenden Affekt, sondern aus einer selber weiten Mischung vieler, noch nicht zum Austrag gelangter Affektgefühle. Das eben macht sie zu einem so leicht irisierenden Wesen, das läßt sie zugleich - noch jenseits des Klangdurcheinanders vor Beginn eines Musikstucks, auch ganz ohne intensive Dichte - so leicht als bloß impressionistische Erlebniswirklichkeit (Debussy, Jacobsen) ausgeben und entformen. Aus diesem impressionistischen Ungefähr kommt auch noch Heidegger her, sofern er es beschreibt und ihm zugleich erliegt. Dabei hat Heidegger innerhalb dieses Dumpfen den sozusagen tautologischen Vorzug, beachtet zu haben, »daß das Dasein je schon immer gestimmt ist«, im Sinn eines ursprünglichen Aufschlusses, wie einem ist und wird. Das Ursprüngliche ist danach nicht ein wahrnehmendes Sichvorfinden, wohl aber ein gestimmtes Sichbefinden: »Was wir ontologisch mit dem Titel Befindlichkeit anzeigen, ist ontisch das Bekannteste und Alltäglichste: die Stimmung, das Gestimmtsein« (Sein und Zeit, 1927, S.134). Doch ist Heidegger eben über das Dumpfe, deprimiert Stockende, zugleich Flache dieser seiner Aufdeckung nicht hinausgekommen. Es bleiben Befinden und Stimmung hier ungetrennt; so hindert die Flachheit in diesem ungeschieden animalischen Gewoge jede Ahnung vom Dunkel des wirklich unmittelbaren Existere, das auch in der Stimmung sein Sein (Dunkel des gelebten Augenblicks, wovon später) noch keineswegs als Da vor sich selbst bringt. So hält das interessiert Deprimierende von aller Erhellungstendenz der Stimmung ab, um statt dessen einzig das Gedrückte wiederzugeben: »Die oft anhaltende, ebenmäßige und fahle Ungestimmtheit, die nicht mit Verstimmung verwechselt werden darf, ist so wenig nichts, daß gerade in ihr das Dasein ihm selbst überdrüssig wird. Das Sein ist als Last offenbar geworden... Und wiederum
kann /(119) die gehobene Stimmung der offenbaren Last des Daseins entheben; auch die Stimmungsmöglichkeit erschließt, wenngleich enthebend, den Lastcharakter des Daseins» (1. c., S. 134). Und nicht der ganzen Menschheit Jammer, sondern einzig der des unerhellt-hoffnungslosen Kleinbürgertums faßt einen an, kommt es bei Heidegger, was die »Abgründe« solcher Befindlichkeit angeht, zu diesem Satz: »Die tiefe Langeweile, in den Abgründen des Daseins wie ein schweigender Nebel hin und her ziehend, rückt alle Dinge, Menschen und einen selbst mit ihnen in eine merkwürdige Gleichgültigkeit zusammen. Diese Langeweile offenbart das Seiende im Ganzen« (Was ist Metaphysik? 1929, S. 16). Hier also fällt aus der Stimmung, indem sie einzig als eine von erlöschendem Leben, das ist hier: von niedergehender Klasse sich kundgibt, völlig der Wunschcharakter aus, ohne den doch auch diese Diffusheit von Affekten, als eine von Affekten, nicht bestehen kann; es sei denn, wie Heidegger selber sagen muß, als »Ungestimmtheit». Gerade das Farbmittel für Wachträume fällt aus, mit dem die Stimmung ihre blaue Stunde ausmalt, ohne daß sie allerdings existentiell-ontisch uninteressant wird und existential-ontologisch zum Nihilismus absinkt. Nicht jeder mögliche Alltag, nicht einmal jeder, der geschichtlich bereits aufgetreten, ist mit »fahler Ungestimmtheit« versehen, gar mit der Langeweile, die angeblich das »Seiende im Ganzen« offenbar macht; solche Alltagsstimmung ist vielmehr wesentlich, wo nicht einzig, dem mechanisiert-kapitalistischen Betrieb zugeordnet. Und selbst innerhalb dieses Betriebs besteht, außer der Ungestimmtheit, auch neben der fraglosen Last eines so beschaffenen Daseins jenes Klangdurcheinander lebender Triebgefühle, das eigentlich erst »Stimmung« ausmalt und worin die Neigung zum Traum, als eine zum Wachtraum, nun erst ihr Medium findet. Indem dem Schlafenden der Leib verdunkelt ist, fällt auch sein Befinden aus. Wie sehr erst die das Ich voraussetzende Stimmung, sie gehört zu der blauen Stunde, nicht zu der schwarzen. Sie verlangt gleichfalls Entspannung, gewiß, doch eine, die nicht den Schlummer, sondern ein Ausreisen sucht. Dieser besonders der Bläue zugeneigte Zustand Stimmung wurde im Verhältnis zum Tagtraum bisher nicht beachtet; das ist nun nach- /(120) zuholen. Die fahle Ungestimmtheit selber mag noch nicht träumensch sein, auch die gedrückte Stimmung, das Durcheinander von unlustigen Affekten, ist als Medium nicht leicht genug, um ohne weiteres Tagträume sich entwickeln zu lassen. Desto eher aber ist der beständige Hang zum Besseren im Grundton von allen Erwartungsaffekten dazu geneigt, sich gerade die gedrückte Stimmung zu erleichtern, in gehobene zu fliehen. Und genau an dieser Übergangsstelle, zwischen Trübe und Heiterkeit, wohnt das Medium, worin Wachtraumbilder an bequemsten sich entwickeln. Flucht und Zuwendung, Abwehrund Hingebungsaffekte sind in dieser helldunklen Stimmung gleichzeitig gemischt und bilden so die Aura, worin die jeweilige Einschiffung nach Cythera stattfindet. Ob sie eine kleine oder großartige, eine fahrige oder überlegt fahrende ist, ob Cythera aus einer bloßen Situationsverbesserung oder aus bislang Unerhörtem besteht, ob es um ein Butterbrot feil ist oder nicht um die ganze Welt: das freilich hängt nicht von der Stimmung ab, sondern von der Stärke und dem Inhalt der Zuwendungsaffekte, die aus ihr sich erheben, vom Rang und der Konkretheit der Phantasie, die diesen Affekten ihre Intentionserfüllung vormalt. Doch hell-dunkle Stimmung bleibt in jedem Blaulicht, Fernlicht dieser Art hängt dem Wachtraum lange an, reicht also auch in die eigentlich gestalteten Wachträume noch weit herein, negativ wie positiv. Sonst gäbe es in ihnen das Wetterhafte nicht, das ja nicht nur auf den Impressionismus beschränkt ist, auf dies Stimmungswesen relativ bequemster, nämlich schwach gestalteter und schwach verpflichtender Art. Es gäbe sonst den Lyrismus nicht, der
auch streng gestaltete Tagtraumbilder begleitet, wo immer sie noch situationshaft sind. Helldunkle Stimmung ist darum, an Tagtraumwerken, nicht nur auf Weichheit à la Debussy oder Jacobsen beschränkt. Sie füllt auch so gehaltene und gehämmerte Affektbildmusik wie die bei Brahms (vierte Symphonie, vorzüglich letzter Satz), sie macht hier, statt der Weichheit, gerade das Rauhe und die Herbheit aus. Erst bei entschiedener Situation und einer Darstellung, die sich demgemäß atmosphärefrei geben kann, läßt Stimmung nach. Nicht bloß die impressionistische und die ältere sentimentalische läßt dann nach, diejenige, deren Irisierung nie über ein Gemisch abgebrochener /(121) Affekte und verschwommener Umrisse hinauskommt, sondern auch noch die Atmosphäre der Herbheit, mitsamt der ganzen Romantik dieses Mediums klärt sich auf, gibt den Blick auf Entschiedenes, nicht mehr so Situationshaftes frei. Das überall dort, wo eine im künstlerischen Wachtraum zur Vollendung getriebene Situation, mindestens eine durch Haltung zum Anhalten gebrachte, das Situationshafte selber von sich abweist. Dies ist täuschend wetterlos auch in aller erstrebten Kunst ohne Unruhe der Fall, ohne Bewegungs- und Zeitpathos, also in der hartkristallisch seinwollenden. Um ein Cythera, das ägyptisches Relief, byzantinisches Mosaik oder auch nur Alfieris Klassizismus heißt, ist nicht mehr so viel Stimmung wie um Gotik, Barock oder auch nur um Byrons Sturmwelt. Trotzdem liegt auch hier noch Stimmung als Pathos zugrunde; auch die ägyptische Kunst hat die Unruhe in sich, indem sie sie stillt, ja indem sie, qua ihres Wunschtraums, ein einziges steinernes Requiem sein will. Selbst der intendierten Antistimmung eines Kunstwerks liegt so immer noch, wegen des Atmosphärischen der Phantasie, Stimmung zu Füßen. Dieses Tagtraumwasser gehört zu jedem Tagtraum, Phantasietraum, auch wenn er es, in letzthin errungener Trockenheit, verläßt. Derart bestätigt es sich: die helldunkle Stimmung gibt das Medium, worin alle Tagträume, auch die mit Härte, wie sehr erst die mit dem erregenden Blau (Azur), beginnen. Nochmals die Erwartungsaffekte (Angst, Furcht, Schreck, Verzweiflung, Hoffnung, Zuversicht) und der Wachtraum Die Triebgefühle selber sind freilich nicht mehr so stimmungshaft, bleiben es nicht. Sie heben sich aus diesem allgemeinen Zumutesein bald deutlich heraus als »blanker« Neid, »offener« Haß, »rückhaltloses« Vertrauen. Heiterkeit etwa, dieses unbeschwert-allgemeine Lebensgefühl, ist eine Stimmung; die scharfglänzende Freude aber ist ein Affekt. Und nicht nur aus dem Diffusen treten derart die Affekte aus, auch aus dem verhältnismäßig Unbezogenen. Mithin, auch wenn das stimmungshafte Medium abzieht, tönt der Wachtraum fort: dann aber als einer, der vor allem doch im Medium aus Erwartungseffekten trieb. Diese, ein ganz besonderer Schlag von Affekten, haben ohnehin /(122) den Wachtraum im Stimmungs-Medium befördert; so erscheinen sie hier aufs neue, als die von den gefüllten Affekten durch ihre stark antizipierende Intentionsrichtung verschiedenen (vgl. S.82). Die Intention in allen Erwartungsaffekten ist eine vorausweisende, die Zeitumgebung ihres Inhalts ist Zukunft. Je näher diese bevorsteht, desto stärker, »brennender« ist die Erwartungsintention als solche; je umfassender der Inhalt einer Erwartungsintention das intendierende Selbst betrifft, desto totaler wirft sich der Mensch hinein, desto »tiefer« wird sie zur Leidenschaft. Auch Erwartungsintentionen mit einem zur Selbsterhaltung negativen Inhalt, wie Angst und Furcht, können so zur Leidenschaft werden, nicht weniger als Hoffnung. Sie wirken dann auf den Unbeteiligten
«übertrieben« und sind es auch in pathologischen Fällen; zuweilen freilich läßt sie auch nur die Kenntnislosigkeit der Realsituation als «übertrieben« erscheinen, als ihr Objekt «vergrößernd«. Aber auch dann reicht der Erwartungsaffekt über seinen «fundierenden « Vorstellungsinhalt hinaus; der Erwartungsinhalt zeigt eine größere «Tiefe« als der jeweils gegebene Vorstellungsinhalt. Jede Furcht impliziert, als Erfüllungskorrelat, totale Vernichtung, die so noch nicht da war, hereinbrechende Hölle; jede Hoffnung impliziert das höchste Gut, hereinbrechende Seligkeit, die so noch nicht da war. Das unterscheidet zuletzt Erwartungsaffekte von den gefüllten (wie Neid, Habsucht, Verehrung), die allemal nur durch Bekanntes «fundiert« sind und äußerstenfalls eine «unechte« Zukunft ihres Gegenstands intendieren, das heißt, eine genau vorstellbare, objektiv nichts Neues enthaltende. Die Intentionsinhalte der gefüllten Affekte liegen, wie Husserl fälschlich von allen Affekten sagt, in einem «gesetzten Horizont«, als dem Horizont der Erinnerungsvorstellung, zum Unterschied von dem der Hoffnungsvorstellung, der vorausgreifenden, also echten Phantasie und der möglichen «echten« Zukunft ihres Gegenstands. Zwar ist überall, auch in der erinnernden Vorstellung, qua Intention, zugleich ein Erwarten wirksam, und Husserl bestimmt selber, recht unerwartet: »Jeder ursprünglich konstituierende Prozeß ist beseelt von Protentionen, die das Kommende als solches leer konstituieren und auffangen« (Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, 1928, S.40). Jedoch /(123) diese »Protentionen« haben in der Erinnerung und den von ihr »fundierten« Affekten das Ihre bereits empfangen, sie haben nur einen »auf die Zukunft des Wiedererinnerten gerichteten Horizont«, der, mit seiner unechten Zukunft, eben »gesetzter Horizont« ist. Wogegen die Erwartungsaffekte und die echte Phantasievorstellung, welche ihnen ihren Gegenstand im Raum aufweist, diesen Raum zugleich als entschiedenen Zeitraum besitzen, das heißt, mit dem ungeschwächt Zeithaften in der Zeit, das echte Zukunft heißt. Wonach jeder Erwartungsaffekt, auch wenn er im Vordergrund selber nur unechte Zukunft intendieren sollte, eines Rapports mit objektiv Neuem fähig wird. Das ist das Leben, das der Erwartungsaffekt den dadurch antizipierenden Wachträumen implicite mitteilt. Jedes nicht nur stimmungshafte Triebgefühl ist auf ein ihm äußeres Etwas bezogen. Doch wird freilich das innere Gewoge hierbei verschieden rasch oder stark verlassen. Der erste und grundlegende negative Erwartungsaffekt, die Angst, beginnt noch als der am meisten stimmungshaft-unbestimmte. Der Angstvolle sieht niemals das Etwas bestimmt vor sich oder um sich, aus dem es ihn anweht; dieses Gefühl ist nicht nur in seinem leiblichen Ausdruck, sondern auch in seinem Gegenstand schlotternd. Freud hat die Angst, wie angegeben, primär auf den Geburtsakt, auf die erste Beengung (angustia) im Atmen, auf die erste Trennung von der Mutter zurückgeführt. Jedes spätere Angstgefühl macht danach dies Urerlebnis von Beklemmung und von Preisgegebenheit rezent; das Reagieren auf alle Gefahrsituationen, selbst die Todesangst, soll also lediglich subjektiv und darin regressiv sein. Aber mit den vorhandenen sozialen Zuständen, die Lebens- wie Todesangst reichlich aus Eigenem beleben, wo nicht erzeugen dürften, ist der negative Bezugsinhalt überhaupt hier ausgelassen, das heißt, das objektiv Angsterregende, ohne das sich Angst gar nicht konstituieren könnte. Heidegger andererseits regrediert zwar seine Angst nicht, aber er prozessiert auch nicht über sie zu ebenso originären positiven Erwartungsaffekten hinaus, ohne die die Angst gleichfalls nicht da sein könnte, so wenig wie ein Talabgrund ohne Berg. Heidegger macht statt dessen aus der Angst das schlechthinige, das unterschiedslose «Sosein« in allem, die existentielle «Grund- /(124) befindlichkeit«, und zwar auf eine
den Menschen erst recht subjektiv vereinzelnde, ihn auf sich als solus ipse zurückführende Weise. Angst erschließt danach dem Menschen »sein eigenstes In-der-Welt-Sein«; das Wovor aber, »wovor die Angst sich ängstigt, ist das In-der-Welt-Sein selbst« (Sein und Zeit, 1927, S.187). Und dieses Wovor ist im Grunde das gleiche, worin die Angst sich auflöst, nämlich das Nichts, das »Es war nichts«; Sein selber »hängt über in das Nichts«. So stellt hier die Angst ganz unmittelbar und par excellence vor das Nichts, als den GrundFundus des Unheimlich-Seins, Tod-Verfallenseins alles In-der-Welt-Seins. Die »Grundbefindlichkeit« der Angst erschließt nach Heidegger genau diesen Abgrund; von daher noch »das ständige, obzwar meist verborgene Erzittern alles Existierenden« als solchen. Heidegger, mit viel absichtlicher Erlebnis-Unmittelbarkeit (Erlebnisserei),aber auch mit, man kann sagen: viel Affekthascherei, dazu mit einem Unmaß bloßer Wortbedeutungsinterpretation, deren die Philosophie vor der Philologie sich schämt und selber nichts dabei gewinnt, außer metaphysischem Dilettantismus - Heidegger also reflektiert und verabsolutiert mit seiner Angstontologie ersichtlich nur die «Grundbefindlichkeit« einer untergehenden Gesellschaft. Er reflektiert vom Kleinbürgertum her die Gesellschaft des Monopolkapitals, mit Dauerkrise als normalem Zustand; einzige Alternative zur Dauerkrise sind Krieg und Kriegsproduktion. Was für den Primitiven noch das «Unzuhause « in der unübersichtlichen Natur war, das ist für die ahnungslosen Opfer des Monopolkapitals ihre Gesellschaft geworden, der gigantisch entfremdete Betrieb, in den sie gestellt sind. Heidegger aber - mit einer soziologischen Unwissenheit, die dem metaphysischen Dilettantismus die Waage hält - macht diese Angst zur Grundbefindlichkeit des Menschen überhaupt einschließlich des Nichts, in das er angeblich immer und überall und unabstellbar geworfen ist. Das einzige, was von Heideggers Angst- «Hermeneutik« übrigbleibt, ist bestenfalls eine Art kleinbürgerlich geschärfte Vertrautheit mit Angst als Ahnungslosigkeit. «Daß das Bedrohende nirgends ist, charakterisiert das Wovor der Angst« (1. c., S. 186); in der Tat ist sie von Haus aus Erwartung eines negativ Unbestimmten. Indem das die Angst Veranlassende wie Begründende von /(125) allen Seiten kommen kann, waren ihre offenbarendsten Erscheinungen die Gespensterangst und das nächtliche Grauen. Wobei beide eben durch die heutigen, im Fleisch wandelnden, doch im Dunkel wirkenden Monster und Nachtmahre ersetzt sind. So ist die Angst allerdings noch nicht deutlich auf ihr äußeres Etwas bezogen, zum Unterschied nun von dem zweiten negativen Erwartungsaffekt, der Furcht: mit ihrem jäh-konzentrierten Modus, dem Schreck, und ihrem gesteigert-konzentrierten, dem Entsetzen. Die Bedrohung kommt hier mindestens aus einem Wetterwinkel, der durch bisherige Erfahrung bekannt ist; oder gar: das Furchterregende ist räumlich so sichtbar, daß man sich der Art seines Schlags versehen kann, wenn auch nicht seines Eintritts. Tritt das Wovor der Furcht völlig und überdies plötzlich hervor, entsteht also das Entsetzen, mit den schwächeren Graden des Schrecks, dann darf das Plötzliche dieser Affekte nicht darüber hinwegtäuschen, daß auch sie solche der Erwartung sind, obzwar gegebenenfalls (keineswegs immer) einer in statu nascendi ihres Gegenstands selbst erst geborenen. Ohne Erwartung könnte nichts Entsetzen einjagen, nichts durch Schreck betäuben; gleich einer Kugel aus dem Hinterhalt erregt ein völlig zu den Erwartungsintentionen disparates Ereignis überhaupt keinen Affekt. Es bewirkt zwar Betäubung, Blendung (sofern das Ereignis überlebt wird), also Körperempfindungen, die dem Schreck, als einem Schock, ebenfalls eignen, doch es bewirkt nicht die eigentliche Gemütsbewegung Entsetzen oder Schreck, welche allemal Erwartungsintention des Eingetretenen voraussetzt. Schließt doch diese
Erwartung selbst das Überraschende ihres Gegenstands so wenig aus, daß der Gefühlscharakter des Überraschenden, sowohl des negativ wie des positiv Überraschenden (»Wunderbaren«), ohne Bereitschaft einer Erwartung überhaupt nicht eintritt. Die aktivierte Erwartung des Entsetzlichen ist allerdings kurz; dehnt sie sich, gleich der Furcht, aus, doch mit völliger Bestimmtheit (zeitlicher Unausweichlichkeit, inhaltlicher Bekanntheit) des Gegenstands, dann tritt der äußerste, härteste Grenzmodus der Furcht, der absolut negative Erwartungsaffekt auf: die Verzweiflung. Und sie erst, nicht die Angst, ist wirklich bezogen auf das Nichts; die Angst ist noch Fragend-schwebend, noch von Stimmung und vom /(126) Unbestimmten, auch Unausgemachten ihres Gegenstands bestimmt, wogegen eben Verzweiflung in ihrem Gemütszustand ein Definitives, in ihrem Gegenstand, außer dem Definitiven, ein schlechthin Definiertes an sich hat. Sie ist Erwartung als aufgehobene, also Erwartung eines Negativen, an dem keinerlei Zweifel mehr statthat; mit ihr schließt daher die Reihe der negativen Erwartungsaffekte. Ihre sämtlichen Wachträume (nur das Entsetzen hat keine Zeit dazu, einen zu bilden) kreisen letzthin um ein negativ Unbedingtes: das Höllenhafte. Gänzlich im Gegensatz dazu erscheinen nun in wie hinter all diesem die positiven Erwartungsaffekte. Ihre Zahl ist freilich viel geringer, es gab bisher nicht so viel Anlaß für sie. Ihrer sind nur zwei: die Hoffnung, welche die Furcht zuschanden macht, und die Zuversicht, welche der Verzweiflung korrespondiert. Die Hoffnung hat als aufziehende mit der Angst noch ein Stimmungshaftes gemein: nicht als das Unbehauste des Nächtlichen, wohl aber als das Dämmernd-Ausgegossene des Aurorahaften. Dieses ist im Widerhall oder Widerschein aus der Landschaft besonders treffend bezeichnet in Thomas Manns »Der Tod in Venedig«, als das unsäglich holde Blühen der Morgenröte mit all ihrem fernherscheinenden Arpeggio ante lucem. Doch steht die Hoffnung ebenso als einer der exaktesten Affekte über jeder Stimmung; denn sie ist wenig wandelbar, sehr charakteristisch in ihrer Intention und vor allem, was weder der Stimmung noch auch den negativen Erwartungsaffekten zukommt, fähig zu logisch-konkreter Berichtigung und Schärfung. Infolgedessen ist Hoffnung nicht nur ein Gegenbegriff zur Angst, sondern auch, unbeschadet ihres Affektcharakters, zur Erinnerung; das ist ein Bezug zu einem rein kognitiven Vorgang und Vorstellungswesen, der sonst keinem Affekt zukommt. Und zur Angst, gar zum Nichts der Verzweiflung verhält sie sich mit derart bestimmter Macht, daß sich sagen läßt: die Hoffnung ersäuft die Angst. Keine »Existentialanalyse« der Hoffnung wird diese jemals als eine »vorlaufende Entschlossenheit zum Tod« erschließen können, wenn anders die Analyse wirklich eine des Existere und nicht des Corrumpere ist. Hoffnung hat sich statt dessen gerade an der Todesstelle als eine auf Licht und Leben hin entworfen, als eine, die dem Scheitern nicht das letzte /(127) Wort gibt; so hat sie durchaus den Intentionsinhalt: es gibt noch Rettung - im Horizont. »Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch», dieser Hölderlinvers gibt schlechthin das positiv-dialektische Wendemoment an, dem die Furcht der Todesstelle verschwunden ist. So zwar, daß Ungewißheit des Ausgangs bleibt, genau wie bei der Furcht, jedoch eine, die nicht wie die Furcht an die passive Sorge grenzt, an das Sorge-Tragen, an die Nacht, in der das Nichts ist, sondern an den Tag, der des Menschen Freund ist. Gefahr und Glaube sind die Wahrheit der Hoffnung, dergestalt, daß beide in ihr versammelt sind und die Gefahr keine Furcht, der Glaube keinen trägen Quietismus in sich hat. Die Hoffnung ist derart zuletzt ein praktischer, ein militanter Affekt, sie wirft Panier auf. Tritt aus der Hoffnung gar Zuversicht vor, dann ist der absolut positiv gewordene Erwartungsaffekt da oder so gut wie da, der Gegenpol zur Verzweiflung. Wie diese
ist auch Zuversicht noch Erwartung, nämlich als aufgehobene, als Erwartung eines Ausgangs, an dem kein Zweifel mehr statthat. Aber während die Erwartungsintention im Verzweiflungsaffekt nur als Leiche vorkommt, gibt und ergibt sie sich in der Zuversicht als kluge Jungfrau, die, in die Kammer des Bräutigams eingehend, darin ihre Intention so darbringt wie aufgibt. Die Verzweiflung berührt fast völlig jenes Nichts, dem alle negativen Erwartungsaffekte sich annähern; die Zuversicht dagegen hat im Horizont fast das Alles, auf das sich bereits die schwächste, sogar die mit unechter Zukunft versetzte Hoffnung wesentlich bezieht. Die Verzweiflung transzendiert, indem ihr Nichts die Intention in Untergangsgewißheit niederschlägt, die Zuversicht, indem ihr Alles die Intention in Heilsgewißheit eingehen läßt. Während also die negativen Erwartungseffekte und ihre utopischen Bilder letzthin das Höllenhafte als ihr Unbedingtes intendieren, haben die positiven Erwartungsaffekte ebenso unausweichlich das Paradiesische im Unbedingten ihres letzthinigen Intentionsgegenstands. Item: wenn die Stimmung das allgemeine Medium des Tagträumens ist, so geben die Erwartungsaffekte (samt dem Anbau, den sie an die gefüllten, etwa an Neid oder an Hochachtung, setzen können) die Direktion des Tagträumens. Sie geben die Linie, auf der sich die Phantasie der antizipierenden Vorstellungen bewegt und auf der diese Phantasie dann ihre Wunschstraße baut oder auch (bei negativen Erwartungsaffekten) ihre Unwunschstraße. Die Wunschstraße mit der Landschaft, wohin sie zielt, ist als Hoffnungsstraße nicht reicher, aber evidentermaßen beliebter und belebter als die Unwunsch- oder Furchtstraße; das wenigstens bei Geschlechtern, die vom Dunkeln ins Helle streben. Beide zukunftshafte Intentionen, die der Erwartungsaffekte wie der Erwartungsvorstellungen, reichen sinngemäß in ein Noch-Nicht-Bewußtes hinein, das heißt in eine Bewußtseinsklasse, die selber nicht als gefüllte, sondern als antizipatorische zu bezeichnen ist. Die Wachträume ziehen, sofern sie echte Zukunft enthalten, allesamt in dieses Noch-Nicht-Bewußte, ins ungeworden-ungefüllte oder utopische Feld. Seine, zunächst psychische, Beschaffenheit muß nun untersucht werden; durchaus cum ira et studio, mit Parteilichkeit für die begriffene Phantasie nach vorwärts, für das objekthaft Mögliche in psychischer Annäherung daran. Denn nur in der Entdeckung des Noch-Nicht-Bewußten gewinnt die Erwartung, vor allem die positive, ihren Rang: den Rang einer utopischen Funktion, sowohl im Affekt wie in der Vorstellung und im Gedanken.
/(129) 15
ENTDECKUNG DES NOCH-NICHT-BEWUSSTEN ODER DER DÄMMERUNG NACH VORWÄRTS
NOCH-NICHT-BEWUSSTES ALS NEUE BEWUSSTSEINSKLASSE UND ALS BEWUSSTSEINSKLASSE DES NEUEN: JUGEND, ZEITWENDE, PRODUKTIVITÄT BEGRIFF DER UTOPISCHEN FUNKTION, IHRE BEGEGNUNG MIT INTERESSE, IDEOLOGIE, ARCHETYPEN, IDEALEN, ALLEGORIEN-SYMBOLEN The cistern contains, the fountain overflows. William Blake Der Seele ist das Gemeinsame eigen, das sich mehrt. Heraklit
Die zwei Ränder Nirgends macht der innere Blick gleichmäßig hell. Er spart Licht, leuchtet immer nur wenige Stücke in uns an. Was von dem aufmerkenden Strahl überhaupt nicht getroffen wird, ist uns nicht bewußt. Was nur schräg getroffen wird, ist halb bewußt, auf abnehmende oder zunehmende Weise, je nach dem Grad des Aufmerkens. Das bewußte Feld ist derart eng, und ringsum verläuft es in dunklere Ränder, löst sich darin auf. Auch bevor, ja ohne daß ein Seelisches vergessen wird, ist vieles darin nicht bewußt. So kann ein Schmerz ungefühlt bleiben, ein äußerer Eindruck unempfunden, obwohl er psychisch durchaus vorhanden ist. Er liegt unter der Schwelle, sei es, daß der Reiz zu schwach ist, um eben merklich zu sein, sei es, daß das Aufmerken mit anderem beschäftigt, also abgelenkt ist, sei es, daß die Wiederholung selbst starke Reize abstumpft. Es gibt also auch im bewußten Feld, ganz ohne Vergessen, bereits mancherlei dunklere, nicht oder nur schwach bewußte Stellen. Die eigentlichen Ränder des Bewußtseins liegen freilich nicht im gegenwärtigen Erleben, im bloß abgeschwächten. Sie finden sich vielmehr dort, wo Bewußtes verklingt, im Vergessen und /(130) Vergessenen, wo Erlebtes unter den Rand, die Schwelle sinkt. Und nun: sie finden sich auf andere Weise auch auf der dem Vergessen entgegengesetzten Seite, wo ein bisher nicht Bewußtes aufdämmert. Auch dort ist im Bewußtsein ein Rand, eine Schwelle, diesesfalls eine obere, mehr oder minder weit vorgeschobene, hinter der es psychisch nicht ganz hell hergeht. Unter der Schwelle des Verklingens, jedoch auch über der Schwelle des Aufdämmerns ist relativ Unbewußtes, der aufmerkende Blick muß sich erst gewaltsam, oft mit Mühe darauf richten. Es ist allerdings fähig, vorbewußt zu sein, sowohl im Unten des nicht mehr merklichen wie erst recht dort, wo Neues aufzieht, das noch niemand in den Sinn kam. Beides kann hinter seinen Rändern hervorgeholt, mehr oder minder erhellt werden. Doppelte Bedeutung des Vorbewußten Seelisches Leben ist allemal abendlich und morgendlich zugleich eingefaßt. Der Nachttraum bewegt sich im Vergessenen, Verdrängten, der Tagtraum in dem, was überhaupt noch nie als gegenwärtig erfahren worden ist. Was außer dem bewußten Feld liegt, nennt man seit etwa zweihundert Jahren allgemein das Unbewußte. Es war eine große Entdeckung, daß seelisches Leben mit Bewußtsein nicht zusammenfällt. Unbewußtes freilich gilt, wo immer es als bewußtseinsfähig gedacht wird, nicht als seiner schlechthin unbewußt, wie etwa ein Stein, sondern als vorbewußt. Aber auch so wurde und wird bis heute das psychisch Unbewußte lediglich als eines verstanden, das unterhalb des Bewußtseins liegt und aus diesem herabgesunken ist. Das Unbewußte liegt - nach dieser Auffassung - im Bodensatz; es beginnt rückwärts von dem immer weiter verminderten Bewußtsein. Das Unbewußte ist hier also ausschließlich Nicht-Mehr-Bewußtes; als solches bevölkertes einzig die Mondscheinlandschaft des zerebralen Verlusts. Demgemäß ist es auch dann, wenn die Psychoanalyse es ein Vorbewußtes nennt, kein neu heraufdämmerndes Bewußtsein von inhaltlich Neuem, sondern ein altes mit alten Inhalten, das lediglich unter die Schwelle gesunken ist und sie durch mehr oder minder glattes Erinnertwerden wieder übertreten kann. Dergestalt ist das Unbewußte /(131) bei Freud einzig das Vergessene (bei ihm das eigentlich Vorbewußte, das normalerweise ohne weiteres wieder Bewußtseinsfähige) oder das Verdrängte (bei
ihm das eigentlich Unbewußte, das »nicht nur deskriptiv, sondern auch dynamisch Unbewußte«, das nicht ohne weiteres wieder Bewußtseinsfähige). Zwar betont der spätere Freud, daß es außer dem vergessenen und verdrängten Unbewußten noch eine dritte Art gebe, nämlich ein Unbewußtes »im Ich selbst«. «Auch ein Teil des Ichs, ein Gott weiß wie wichtiger Teil des Ichs kann unbewußt sein, ist sicher unbewußt«; indes fährt Freud gleich danach fort: «Wenn wir uns so vor der Nötigung sehen, ein drittes, nicht verdrängtes Unbewußtes aufzustellen, so müssen wir zugestehen, daß der Charakter des Unbewußtseins für uns an Bedeutung verliert« (Das Ich und das Es, 1923, S.17). An Bedeutung deshalb, weil dies dritte Unbewußte (Freud gibt als seine Erscheinungen überraschenderweise sogar die bedeutende geistige Produktion an) dem Schema der Verdrängung sich nicht fügt. Es ist damit aber jenes Vorbewußte gestreift, das überhaupt nicht in Freuds Konzept paßt, das Vorbewußte in der anderen Bedeutung, nach der anderen Seite, in dem kein Verdrängtes, sondern ein Heraufkommendes zu klären ist. Der Nachttraum mag sich aufs Nicht-Mehr-Bewußte beziehen, er regrediert darauf hin. Aber der Tagtraum ist auf ein mindestens dem Träumer Neues, wohl gar auf ein an sich selber, in seinem objektiven Inhalt Neues aufgetragen. Im Tagtraum eröffnet sich so die wichtige Bestimmung eines Noch-Nicht-Bewußten, als die Klasse, wozu er gehört. Eine letzte psychologische Bestimmtheit des Tagtraums geht damit auf, es gilt, sie zu erläutern. Sie ist bis jetzt gänzlich außer Begriff geblieben, es gibt noch keine Psychologie des Unbewußten der anderen Seite, der Dämmerung nach vorwärts. Dies Unbewußte blieb unnotiert, obwohl es den eigentlichen Raum der Bereitschaft zum Neuen und der Produktion des Neuen darstellt. Das Noch-Nicht-Bewußte ist zwar ebenso Vorbewußtes wie das Unbewußte der Verdrängtheit und Vergessenheit, es ist sogar in seiner Art ein ebenso schwieriges und Widerstand leistendes Unbewußtes wie das der Verdrängtheit. Aber ihm ist keinesfalls das heutige, manifeste Bewußtsein übergeordnet, sondern ein künftiges, erst heraufkommendes. /(132) Das Noch-Nicht-Bewußte ist so einzig das Vorbewußte des Kommenden, der psychische Geburtsort des Neuen. Und es hält sich vor allem deshalb vorbewußt, weil eben in ihm selber ein noch nicht ganz manifest gewordener, ein aus der Zukunft erst heraufdämmernder Bewußtseinsinhalt vorliegt. Gegebenenfalls sogar ein erst objektiv in der Welt entstehender; so in allen produktiven Zuständen, die mit nie Dagewesenem in Geburt stehen. Dazu ist der Traum nach vorwärts disponiert, damit ist Noch-Nicht-Bewußtes als Bewußtseinsweise eines Anrückenden geladen; das Subjekt wittert hier keinen Kellergeruch, sondern Morgenluft. Noch-Nicht- Bewußtes in Jugend, Zeitwende, Produktivität Alle frische Kraft hat dies Neue notwendig in sich, bewegt sich darauf hin. Seine besten Orte sind: die Jugend, die Zeiten, die im Begriff sind, sich zu wenden, die schöpferische Hervorbringung. Bereits ein junger Mensch, der etwas in sich stecken fühlt, weiß, was das bedeutet, das Dämmernde, Erwartete, die Stimme von morgen. Er fühlt sich zu etwas berufen, das in ihm umgeht, in seiner eigenen Frische sich bewegt und das bisher Gewordene, die Welt des Erwachsenen überholt. Gute Jugend glaubt, daß sie Flügel habe und daß alles Rechte auf ihre herbrausende Ankunft warte, ja erst durch sie gebildet, mindestens durch sie befreit werde. Mit der Pubertät beginnt das Geheimnis der Frauen, das Geheimnis des Lebens, das Geheimnis der Wissenschaft; wie viele unerforschte Regale sieht die lesende
Jugend vor sich glänzen. Die grüne Zeit ist mit Dämmern nach vorwärts überfüllt, sie besteht über die Hälfte aus noch nicht bewußten Zuständen. Diese sind bei jungen Menschen gewiß bedroht, im Alter zwischen fünfundzwanzig bis dreißig Jahren. Was sich aber bis dahin an Jugend erhielt, wird sich bei Menschen, die nicht von der Fäulnis des Gestrigen angesteckt und ihm verschworen sind, immer erhalten - als ein Warmes, Helles, mindestens Trostreiches vor dem Blick. Die Stimme des Andersseins, Besserseins, Schönerseins ist in diesen Jahren so laut wie unabgenützt, das Leben heißt «Morgen«, die Welt «Platz für uns«. Gute Jugend geht allemal den Melodien aus ihren /(133) Träumen und Büchern nach, hofft, sie zu finden, kennt das heiße dunkle Irren durch Feld und Stadt, wartet auf die Freiheit, die vor ihr liegt. Sie ist ein Heraussehnen, Heraussehen aus dem Gefängnis des äußeren, muffig gewordenen oder muffig erscheinenden Zwangs, aber auch der eigenen Unreife. Die Sehnsucht nach dem Leben als Erwachsener treibt an, doch so, daß dieses Leben gänzlich umgeändert werden sollte. Fällt Jugend gar in revolutionäre Zeiten, also in Zeitwende, und steht ihr nicht, wie heute im Westen so oft, der Kopf, durch Betrug, im Nacken, so weiß sie erst recht, was es mit dem Traum nach vorwärts auf sich hat. Er geht dann vom vagen, vor allem privaten Ahnen zum mehr oder minder sozial geschärften, sozial beauftragten über. Das breiteste Exempel gaben ehemals die russischen Narodniki, die ins russische Volk gingen, um mit ihm für den Sturz des Zarismus zu kämpfen, mit sentimentaler oder zorniger Morgenröte. Hier utopisierten die Gespräche junger Kursistinnen und Studenten auf dem staubigen Boulevard der russischen Kleinstadt. Und später, bei wachsender, sozialistischer Klarheit, in den Großstädten, mit den Arbeitern vereinigt, wuchs die Morgenröte solid heran, die im Bewußtsein und über der Zeit lag. Länger als ein halbes Jahrhundert vor der Oktoberrevolution stellte selbst der russische Unterhaltungsroman Jugend mit Zeitwende im Sinn immer wieder dar. Deutschland hatte seine revolutionären Studenten im Sturm und Drang, im Vormärz, und hat sie heute, mit dem Ziel vor Augen, in der neuen Republik; Jugend und Bewegung nach vorwärts sind darin Synonyme. Während dieser Zeiten und so oft sie aktuell sind, ist also nicht bloß physiologisches Frühlingsgefühl in der Luft, sondern mehr noch: Wendezeiten sind schwül, es scheint eine Donnerwolke in ihnen eingesperrt. Wetter oder Geburtskategorien wurden daher von je auf sie angewandt: als Ruhe vor dem Sturm oder als März in der Geschichte oder am stärksten, konkretesten: als Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht. Zeiten wie die unsere verstehen den Wendezustand gut; selbst seine Feinde, die Faschisten in Italien und Deutschland, konnten nur noch betrügen, indem sie sich revolutionär verkleideten, ein Marasmus als Frühlingssonne. Die Zeitwenden sind selber die Jugendzeiten in der Geschichte, das beißt, sie /(134) stehen objektiv so vor den Toren einer neu heraufkommenden Gesellschaft, wie die Jugend sich subjektiv vor der Schwelle eines bisher unaufgeschlagenen Lebenstags stehen fühlt. Das überblickbarste Exemplar solcher Wende ist bis jetzt die Renaissance, besonders auch nach der ideologisch-kulturellen Seite. So deutlich wie kaum irgendwo gibt es hier, beim ersten Umschlag der feudalen Gesellschaft zur bürgerlich-modernen, Aufbruch und Erwartung, Noch-Nicht-Bewußtheit als bewußte Ahnung. Incipit vita nova, das bezeichnete damals auch psychisch die Aurora-Qualität der Zeit: der noch progressive Unternehmer stand auf, mit ihm das Gefühl der Individualität; das Bewußtsein der Nation tauchte über den Horizont; Individuation und Perspektive traten ins Naturgefühl und Landschaftsbild; die ferne Erde ging selber auf und öffnete neue Kontinente; die Himmelsdecke sprang und gab den Blick auf Unendlichkeit frei. Alle Zeugnisse aus der Wende des fünfzehnten und sechzehnten
Jahrhunderts bekunden davon ein ganz mächtig Vorbewußtes, ein raumschlagendes, das über die bisher gesetzten Säulen des Herkules hinauszog. Es begann totale Erneuerung der Kunst, des Lebens, der Wissenschaft, oder schien zu beginnen; dies Dreiviertelstund-vor-Tag erscheint noch spät genug in Bacons »Novum Organon«, doch ebenso artikuliert genug: »Ich weiß, daß geschäftsfreie Menschen in gemeinsamer Arbeit auf meiner Bahn Großes erreichen werden. Und wäre ich dessen nicht so sicher, wehte der Wind von den Küsten einer neuen Welt nicht so stark und unverkennbar herüber, wir müßten dennoch den Versuch machen, aus der Stockung unseres elenden Naturwissens herauszukommen.« Die Luft solcher historischen Frühlinge schwirrt von Planungen, die ihre Ausführung suchen, von Gedanken in der Inkubation. Nie sind die prospektiven Akte häufiger und gemeinsamer als hier, nie das Antizipatorische in ihnen inhaltsvoller, nie die Fühlung mit dem Anrückenden unwiderstehlicher. Alle Wendezeiten sind derart von NochNicht-Bewußtem gefüllt, auch überfüllt; und eine aufsteigende Klasse trägt es. Der die Renaissance nacherfahrende Ausdruck dieses Zustands ist der Monolog in Goethes Faust; auch hier sind Überdruß, Wachtraum, Morgenrot die Ingredienzien des Voran. Und ebenso schaffen solche Zeiten an Problemen, die in /(135) der vorhandenen Wirklichkeit noch kaum keimhaft hervorgetreten sind. So gräbt die Renaissance wie noch nachher das Deutschland der Genieperiode die Entwicklungstendenzen der Epoche hervor, stellt sie ins Frühlicht, neue Taglicht. Der Mensch fühlt sich in solchen Zeiten deutlich als nicht festgestelltes Wesen, als eines, das zusammen mit seiner Umwelt eine Aufgabe ist und ein riesiger Behälter voll Zukunft. Wie sehr erst geht dem Schaffen selber ein Aufdämmern vorauf, wie eigentümlich steht es darin. Geistige Produktivität, Schöpfung zeigt sich besonders von Noch-Nicht-Bewußtem erfüllt, das ist, von Jugend, die sich im Schaffen potenziert; auch hier ist sie vorausgesetzt und dauernd tätig. Jugend hat als begabte ihren leicht verlorengehenden Anfang wie bei Lenau im raunenden Schilf: Und ich mein', ich höre wehen leise deiner Stimme Klang und im Weiher untergehen deinen lieblichen Gesang. Jugend hat im Fortgang die Dankbarkeit des Werdens und dessen gebärend wundersames Bild, wie bei Goethe im Vorspiel auf dem Theater, das zu bilden ist: So gib mir auch die Zeiten wieder, da ich noch selbst im Werden war, da sich ein Quell gedrängter Lieder ununterbrochen neu gebar, da Nebel mir die Welt verhüllten, die Knospe Wunder noch versprach, da ich die tausend Blumen brach, die alle Täler reichlich füllten. Jugend bleibt in der Produktion, auch nach ihrer Beendigung, auf dem gleichen Fleck, spürt auch nach beendetem Werk die ungarantierte Kühnheit oder kühne Antizipation; so bei Klopstock in der Ode »An Freund und Feind«, noch dreiunddreißig Jahre später, nachdem der »Messias« begonnen war:
/(136) Voll Durstes war die heiße Seele des Jünglings nach der Unsterblichkeit. Ich wacht', und ich träumte von der kühnen Fahrt auf der Zukunft Ozean. Dank dir noch einmal, mein früher Geleiter, daß du mir, wie furchtbar es dort sei, mein Genius, zeigtest. Wie wies dein goldner Stab! Hochmast'ge, vollbesegelte Dichterwerke und dennoch gesunkene schreckten mich! Bis zu der Schwermut wurd' ich ernst, vertiefte mich in den Zweck, in des Helden Würd', in den Grundton, den Verhalt, den Gang, strebte, geführt von der Seelenkunde, zu ergründen, was des Gedichts Schönheit sei, flog und schwebt' umher unter des Vaterlands Denkmalen, suchte den Helden, fand ihn nicht: bis ich zuletzt müd' hinsank, dann, wie aus Schlummer geweckt, auf einmal rings um mich her wie mit Donnerflammen es strahlen sah. Und Jugendlicht, produzierendes, das auch im uralt Geschehenden, als wäre es gar kein Uraltes, sondern Verkündigung, sich zu begegnen versteht, hält bei Hölderlin den Morgen in der Welt noch unter Verfinsterungen wach, mit der großen Hymne auf Ex oriente lux, auf den neuen und sprechenden Tag:
/(137)
Denn, wie wenn von der herrlich gestimmten, der Orgel, Im heiligen Saal, Reinquillend aus den unerschöpflichen Röhren, Das Vorspiel, weckend, des Morgens beginnt, Und weit umher, von Halle zu Halle, Der erfrischende, der melodische Strom rinnt, Bis in den kalten Schatten das Haus Von Begeisterungen erfüllt, Nun aber erwacht ist, nun, aufsteigend ihr, Der Sonne des Fests antwortet Der Chor der Gemeinde, so kam Das Wort aus Osten zu uns, Und an Parnasses Felsen und am Kithäron hör ich, O Asia, das Echo von dir, und es bricht sich Am Kapitol, und jählings herab von den Alpen Kommt, eine Fremdlingin, sie Zu uns, die Erweckerin, Die menschenbildende Stimme.
Produktivität läßt nicht nach, sich dergestalt zu wecken, wie sie vom Stachel des Sagenmüssens erweckt wird. Das Sagenmüssen zwingt erst recht, wenn das Vorschwebende, das zu gestalten wäre, sich verbirgt, wenn es mit seinem Rückzug gar zu kokettieren scheint. Wenn die Arbeit vor dem Durchbruch eines neuen Ansturms ihren Täter fliehen mag, indem sie besonders dringend nach ihm verlangt; wenn das Arbeitsthema sich verdinglicht zu einem schwankenden, flüsternden,
selber zaudernden Wesen und scheint dem Sagenmüssen seine Saumseligkeit vorzuwerfen. Doch wer an einen Stern gebunden ist, sagt Lionardo, kehrt nicht um, und die Moral der Produktivität bewährt sich daran, alles Angefachte zu vollenden, die Kontur des vorschwebenden Inhalts rein und gefaßt an den Tag zu bringen. Wie erst, wenn Jugend, Zeitwende und Produktivität zugleich in glücklich angetretenen Begabungen zusammenfallen. Wie das im jungen Goethe gelang, im Prometheus-Fragment, in der riesigen Intentions-Dimension des «Faust« und bereits des Urfaust, aber auch von daher noch - in dem vertrauensvollsten aller Sätze (aus «Wilhelm Meisters Lehrjahre«): »Wünsche sind Vorgefühle der Fähigkeiten, die in uns liegen, Vorboten desjenigen, was wir zu leisten imstande sein werden.« Dann arbeiten und gelingen die prospektiven Akte aus dem mächtigen Erwarten, das seiner mächtig geworden ist; aus Affinität zum Stern, der sich noch unter dem Horizont befindet; aus der Kraft zum Unbetretenen, die Dante sagen läßt: «L'acqua che io prendo giammai non si corse« (das Wasser, das ich fasse, hat man noch nie befahren). Letztere Sentenz ist schließlich diejenige, welche Jugend, Zeitwende, Produktivität am besten in einem einzigen Griff vereinigt; nicht mit Hochmut, sondern mit Beschreibung dessen, was bei Schöpfungen der Fall ist, der Fall zu sein hat. /(138)
Weiteres zur Produktivität: ihre drei Stadien
Soviel zur großen Unruhe, wenn sie sich mit Traum nach vorwärts überzieht. Als eine tätige, mit dem neuen Ursprung gegen die Starre, der sieh ahnungsvoll bildet. Diese Ahnung ist auch in ihrem gewöhnlichen Vorkommen der Sinn für das sich Anbahnende. Wird sie schöpferisch, so verbindet sie sich mit der Phantasie, vorzüglich mit der des objektiv Möglichen. Die arbeitsfähige Ahnung ist geistige Produktivität, nun als werkbildend betrachtet. Des näheren setzt sich Produktivität als dreifache, dreifach wachsende Erstreckung ins Ungekommene: als Inkubation; als sogenannte Inspiration, als Explikation. Alle drei gehören zum Vermögen, über die bisherigen Ränder des Bewußtseins nach vorwärts hinauszufahren. In der Inkubation ist ein heftiges Meinen, es zielt auf das Gesuchte, das im dämmernden Anzug ist. Nebel sind auch psychisch die beste Zeit zum Säen, es darf nur nicht bei ihnen bleiben; sogar ein Stadium von Dunkelheit besteht, doch eben mit der intensiven Anlage, sich zu lichten. Der Zustand der Anlage ist an sich bereits ein Widerspruch, der sich auflösen will; sie ist der unhaltbare, der so angstvolle wie glückliche Zustand, nicht zu sein, was unsere Natur ihrem reellsten Streben nach ist, und eben so zu sein, was sie noch nicht ist. In diesem Widerspruch befindet sich auch noch die entwickeltere Anlage oder die Gärung, worin sich die bereits konturvollere Aussage und Gestalt vor- und zubereitet. Immer jedenfalls ist hier Erwartung präsent, ganz gleich noch, mit welch größerer oder geringerer Ladung das Dreiviertelstund-vor-Tag erscheint. Dieser Inkubation nun folgt weiter meist jähe Klärung, blitzhafte; sie kommt wie von außen oder, in der falschen Auslegung, wie von oben herab. Deshalb kam der Ausdruck Inspiration dafür in Gebrauch; er macht das Jähe kenntlich, das erhellend und begeisternd Einschlagende, den plötzlichen Durchblick. Die Inkubation, welches ein Sprachloses an sich hatte, ja zuweilen aus Überfülle eine Art Bewußtseinsleere hervorrufen kann, diese Verschlossenheit löst sich nun. Die Lösung kann in leichteren Fällen durch einen Überfall von Einfällen geschehen, als solchen, die den Hauptgedanken nur umgeben oder ihn ankündigen; zuweilen folgen sie ihm auch, /(139) nach geschehener Erscheinung des Hauptgedankens, nach. Dessen Erscheinung selber kommt übermächtig und anscheinend so sehr als Lösung des Problems, als habe es während der Inkubation
und ihrer Grübelei gar keines gegeben. Auch die äußerste Konzentration löst sich, welche die Verschlossenheit des letzten Stadiums ausgezeichnet hatte und welche in Dürers Blatt «Melancolia « als Steinkugel im Zimmer liegt, das ist: als rings zusammengezogenes Denksymbol des Grübelnden. Die Lösung taucht mit einem Sprungprozeß auf, scheinbar so unvermittelt, das heißt ohne Bewußtsein der lange gärenden Inkubationszeit, daß die Inspiration, neben dem Glücksgefühl der Befreiung, leicht eben das Wundergefühl eines magischen Geschenks mit sich führt, vielmehr mit sich geführt hat. Die mit ihr gegebene Vision ist aber in jedem Fall mit Glücksrausch verbunden, mit höchster Leichtigkeit dazu, obzwar davon sowohl die magisch-archaischen wie die transzendenten Auslegungen gestrichen werden müssen, als all dies muffig Geweihte. Der Produktive ist kein Schamane, auch kein psychologisches Stück Urzeit; er ist weder ein Rußfeuer aus diesem Abgrund noch aber auch, wie das noch Nietzsche kokett erinnern möchte, ein Mundstück höherer Gewalten. Diese transzendente Mythisierung der Inspiration, als ob sie von oben herabfahre, ist erst recht gegenstandslos; sie ist der magisch-archaischen nur insofern überlegen, als sie wenigstens dem Transcendere, soll heißen: dem übersteigend Erweiternden der geistigen Schöpfung gerecht werden will und diese nicht zu einem Absinken, einer Nachtsprache verfälscht. Daß hier im Akt der Produktivität keine archaische Regression vor sich geht, zeigt eben die beständige Lichterfahrung, die mit der Inspiration verbunden ist. Auch sie ist in den meisten Fällen ganz hell, auf der Höhe des Bewußtseins notierbar, so am berühmtesten bei Descartes, als er das Prinzip des Cogito ergo sum gefunden hatte: «Am 10. November 1619, wo mir das Licht einer wunderbaren Entdeckung tagte.« Und was ist nun die Zündungsgegend dieses Tagens, nachdem weder Schamanisches von unten her noch Enthusiastisches von oben herab mehr als abergläubische Auslegungen geliefert haben? Die Zündungsgegend der Inspiration liegt in der Zusammenkunft einer spezifischen genialen, das heißt schöpferischen Anlage mit /(140) der Anlage einer Zeit, den spezifischen Inhalt zu liefern, der für die Aussage, Formung, Durchführung spruchreif geworden ist. Nicht nur die subjektiven, auch die objektiven Bedingungen zur Aussage eines Novum müssen also bereit sein, müssen reif sein, damit dieses Novum aus bloßer Inkubation zum Durchbruch und plötzlichen Durchblick seiner gelangen kann. Und diese Bedingungen sind allemal ökonomisch-soziale progressiver Art: ohne kapitalistischen Auftrag hätte der subjektive Auftrag zum Cogito ergo sum nie seine Inspiration gefunden; ohne beginnend proletarischen Auftrag wäre die Erkenntnis der materialistischen Dialektik unfindbar gewesen oder ein bloßes brütendes Apercu geblieben und auch nicht als Blitz in den nicht mehr naiven Volksboden eingeschlagen. Item, der Durchbruch, der oft plötzliche gewaltige Lichtschlag im genialen Individuum gewinnt sowohl das Material, an dem er sich entzündet, wie das Material, das er beleuchtet, einzig aus dem zum Gedanken drängenden Novum des Zeitinhalts selbst. Das ist, wohlverstanden, noch dann der Fall, wenn, wie so oft, die Rezeptivität einer Zeit nicht selber auf der Höhe dieser Zeit, gar ihrer Weiterungen, ihrer fortwirkenden Tendenzen und Latenzen steht. Auch dann kommt die Inspiration aus dem Auftrag der Zeit, der im genialen Individuum sich vernimmt und im Einklang mit dessen Anlage sich auslegt, mit dessen Potenz sich potenziert. Das Geheimnis der Welt, das als unsere Aufgabe in der Zeit vorrückt und der großen Begabung vorgerückt wird, ist zwar mächtig genug, um die zu seiner Artikulierung Berufenen mit Inkubation geladen zu halten, aber noch nicht mächtig genug, um den Schuß der jeweils möglichen, gesellschaftlich bevorstehenden Erhellungsweise zu lösen. Mit
dem Weltgeheimnis noch allein im Blick, ohne konkretes Verhältnis zur Zeit, kommt selbst bei größten Begabungen nur jener Engpaß von Inkubation zustande, den Hegel, auf eine Flaute in seinen Anfängen rückblickend, einmal so beschreibt: «Ich kenne aus eigener Erfahrung diese Stimmung des Gemüts oder vielmehr der Vernunft, wenn sie sich einmal mit Interesse und mit ihren Ahndungen in ein Chaos der Erscheinungen hineingemacht hat und... des Ziels innerlich gewiß noch nicht zur Klarheit und Detaillierung des Ganzen gekommen ist ... Jeder Mensch hat wohl überhaupt einen solchen /(141) Wendungspunkt in seinem Leben, den nächtlichen Punkt der Konzentration seines Wesens« (Briefe von und an Hegel I, 1887, S.264). Und was die nötige Übereinstimmung mit dem historischen Kairos als konstituierende Eigenschaft des Geniehaften überhaupt angeht, so bemerkte hierzu, seinen Meister im Kopf, der Hegelianer Rosenkranz höchst sachgemäß: «Das Genie ist nicht, wie das Talent, durch formelle Vielseitigkeit, obwohl es dieselbe besitzen kann, sondern dadurch groß, daß es das objektiv in einer Sphäre Notwendige als sein individuelles Schicksal vollbringt. Eben darum hat es nur in der geschichtlichen Entwicklung sein Maß, denn es muß über alles Gegebene unmittelbar hinaus sein und das, was nach dem objektiven Gang der Sache gerade an der Zeit ist, als eine private Befriedigung erarbeiten. Innerhalb dieser Aufgabe herrscht es mit dämonischer Gewalt, außerhalb derselben ist es machtlos und kann sich wohl mannigfaltig bilden, aber nicht das Neue schaffen« (Psychologie, 1843, S. 54f.). Und wie vortrefflich hätte diese Bestimmung damals, 1843, auf Marx zugetroffen, als auf ein junges Genie, das wie wenig andere das objektiv in einer Sphäre Notwendige als sein individuelles Schicksal zu vollbringen begann und das den damals geschehenden Inspirationsdurchbruch seines Werks wie kein anderer in völlig begriffener Übereinstimmung mit der gesellschaftlich-historischen Tendenz seiner Zeit erfuhr. Die Inspiration insgesamt kommt derart, wann immer sie eine werkbildende ist, aus der Zusammenkunft von Subjekt und Objekt, aus der Zusammenkunft ihrer Tendenz mit der objektiven Tendenz der Zeit, und ist der Blitz, womit diese Konkordanz anhebt. Dann geschieht die Zündung, die durchaus immanente; Inspiration ist so der Lichtausbruch im jeweiligen Tendenz-Latenz-Sein selbst, hervorgerufen durch dessen jeweils stärkstes Bewußtsein. Herauf kommt nun im Autor die klare Idee des Werks und als eine, die wie vorher in der lnkubation, so jetzt in der Inspiration sich noch keineswegs Genüge tut, die vielmehr weitertreibt und die aus dem Blitz, der die neue Landschaft zeigte, in die Topographie dieser Landschaft zu gelangen hat. Darin schließlich wird ausgeführt, was von der Unruhe und ihrer Ahnung gezeigt war. Das geschieht im letzten Akt der Produktivität, im qualvollen, arbeitsseligen der Explikation. Genie ist Fleiß, doch einer, der gerade die Ausarbeitung nirgends altern, nirgends ohne fortdauernde Besessenheit lassen will. Es darf kein Bruch eintreten, weder zwischen Vision und Werk noch zwischen Werk und Vision: »Das erste Licht«, sagt van Gogh, »worin der zündende Eindruck lag, muß schon selber begonnen haben mitzumalen.« Genie ist derart spezifischer Fleiß des fortgeführten Lichtblicks zu seiner Aussage hin, so daß das Gemeisterte dem Geplanten nicht nur Stärke, sondern auch Tiefe hinzugibt. Gemäß der wahren Beobachtung in Schopenhauers Satz: »Das Talent gleicht einem Schützen, der ein Ziel trifft, welches die übrigen nicht erreichen können; das Genie dem, der eines trifft, bis zu welchem sie nicht einmal zu sehen vermögen.« Genau diese Wahrheit hebt auch Sehopenhauers sonstige grundfalsche Geniedefinition auf, wonach Genie reines statisches Weltauge sei, also keinesfalls vorauseilend sein könne. Gerade aber indem Genialität über den jeweils vorhandenen Horizont hinaussieht,
hinaustrifft, ist sie nicht kontemplativ-statisches Weltauge, sondern Pionier an den Grenzen einer vorrückenden Welt, ja selber ein wichtigster Teil der Welt, die sich erst bildet. Psychologisch ist Genialität die Erscheinung eines besonders hohen Grades von Noch-Nicht-Bewußtem und der Bewußtseinsfähigkeit, letzthin also Explizierungskraft dieses Noch-Nicht-Bewußten im Subjekt, in der Welt. Nach der Fülle seines Noch-Nicht-Bewußten, das heißt seines vermittelten Hinausseins über das bisher bewußt Gegebene, bisher in der Welt Explizierte und Ausgestaltete ist der Grad der genialen Begabung bestimmt. Künstlerisches und wissenschaftliches Genie hier zu unterscheiden, ist an diesem Punkt noch nicht notwendig; denn die Sentenz des Danteschen »L'acqua che io prendo giammai non si corse« gilt psychologisch sowohl für künstlerische wie wissenschaftliche Werke von Rang. Gestaltung des bisher noch nicht Gestalteten, dies Werkkriterium des Genialen, ist in Kunst (der bildhaften Abbildung eines realen Vorscheins) und in Wissenschaft (der begrifflichen Abbildung der Tendenz-, Latenz-Struktur des Realen) das gleiche. Die Explikationen in Kunst und Wissenschaft haben freilich auch noch in dieser verschiedenen Objektivitätsschicht dasjenige miteinander gemeinsam, daß sie jeweils im Prozeß der Objektivität selber sich befinden und, soweit sie /(143) genügend Genie enthalten, an dessen Front stehen. Genie als fortgeschrittenstes Bewußtsein und Lehrer dieses Bewußtseins ist eben deshalb auch höchste Empfindlichkeit für die Umschlagspunkte in der Zeit und ihrem materiellen Prozeß. Ist Kraft und Fähigkeit, auf der Höhe dieser Zeit zu stehen und sie über Landschaft wie Horizont dieser Prozeßepoche mitwissend zu informieren. Deshalb ist es nicht ganz uneben, wenn Carlyle das Geniewort geradezu als Lösungswort der Zeitahnung feiert: »Was der geistige Vorkämpfer sagt, waren alle Menschen schon nicht weit entfernt zu sagen, sehnten sich danach, es auszusprechen. Die Gedanken aller fahren wie aus einen schmerzlichen Zauberschlaf bei seinem Gedanken auf und erwidern ihm mit Zustimmung.« Kommt diese Zustimmung oft auch erst bei der nächsten Generation oder noch später, so lag doch das Pulver zum Schuß schon vorher bereit, und die Publizität der Zeit hat den Schuß nur nicht gehört, eben weil er an ihr im Horizont geschah. Ja an der Explikation eines bisher Noch-Nicht-Bewußten zeigt sich am stärksten: Das Noch- Nicht-Bewußte insgesamt ist die psychische Repräsentierung des Noch-Nicht- Gewordenen in einer Zeit und ihrer Welt, an der Front der Welt. Das Bewußtmachen des Noch-Nicht-Bewußten, das Gestalten des Noch-Nicht-Gewordenen ist nur in diesem Raum, als einem der konkreten Antizipation, nur in ihm steht der Vulkan der Produktivität und wirft sein Feuer. Nur als Phänomen des Novum ist auch die Meisterschaft im Geniewerk verständlich, die der gewohnten Gewordenheit fremd ist. Jedes große Kunstwerk bleibt daher, außer seinem manifesten Wesen, noch auf die Latenz der anderen Seite aufgetragen, das ist, auf die Inhalte einer Zukunft, die zu seiner Zeit noch nicht erschienen war, wo nicht auf die Inhalte eines noch unbekannten Endzustands. Nur aus diesem Grund haben die großen Werke allen Zeiten. Etwas zu sagen, und zwar ein weiterdeutendes Novum, das die vorige Zeit an ihnen noch nicht bemerkt hatte;. nur aus diesem Grund hat eine Märchenoper wie die Zauberflöte, aber auch ein historisch lokalisiertes Epos wie die Ilias sogenannte ewige Jugend. Das macht: zum Geniewerk gewordene Explikationen haben nicht nur ihren eigenen Tag vollkommen ausgesprochen, es geht in ihnen auch die dauernde Implikation des Plus ultra um. Sein Platz, der Platz /(144) des Noch-Nicht-Bewußten, ist hier am wenigsten im Boden des Unterbewußtseins, als dem Ort, wohin bereits bewußt Gewesenes, bereits Erlebt-Erschienenes lediglich untergesunken ist. Sein Platz ist an der Front, wo die Genesis weitergeht, ja wo sie, als die des Rechten, immer noch erst im
Begriff ist, mit dem Anfang zu beginnen. Die Wasser der Vergessenheit fließen in der Unterwelt, aber der kastalische Quell der Produktivität entspringt auf dem Parnaß als einem Berge. So arbeitet Produktivität, obwohl sie aus der Tiefe kommt, gerade erst am Licht und setzt immer wieder neuen Ursprung, nämlich einen auf der Höhe des Bewußtseins. Es gehört zu dieser Höhe, daß über ihr Blau ist, als die Gegenfarbe zum Orkus, als der dunkle und doch transparente Nimbus um alle wirkliche Explikation. Dieses Blau, als Fernfarbe, bezeichnet ebenso anschaulichsymbolisch das Zukunftshaltige, Noch-Nicht-Gewordene in der Wirklichkeit, worauf bedeutende Aussagen, eben als vorrückende, letzthin bezogen sind. Das Dunkle nach vorwärts, als ein sich lichtendes, ist auch in seiner Aussage jenem hellsten Bewußtsein zugeordnet, an dem der Tag die Morgenröte nicht aufgegeben hat, sondern gerade ihre wachsende ist. Unterschiede des Widerstands, den das Vergessene und das Noch-Nicht- Bewußte der Erhellung entgegensetzen Stets macht es verschiedene Mühe, ins rückwärts oder ins vorwärts gelegene Dunkel einzudringen. Gewiß, beim Erinnern wie beim arbeitsfähigen Ahnen wird die Schwelle des Bewußtseins verlegt. Aber beim einen gilt es, sie nach unten zu senken, damit Vergessenes oder Verdrängtes darübertrete, beim andern wird eine Grenze nach der Höhe verrückt. Gewiß auch, in beiden Fällen sperrt sich etwas gegen das Bewußtwerden, macht sich ein Widerstand gegen die Verschiebung der Schwelle geltend. Aber dieser Widerstand ist nicht minder ein charakteristisch anderer, je nachdem, ob Verdrängtes erinnert oder Geahntes gestaltet werden soll. Die Psychoanalyse hat in ihrem unterbewußten Gebiet solchen Widerstand längst kenntlich zu machen versucht: als einen des Unwillens, Verdrängtes wieder auszupacken. Das /(145) Verdrängte selbst soll hier ja dadurch entstanden sein, daß sich ein Sträuben gegen das Bewußtwerden des ihm zugrunde liegenden seelischen Vorgangs oder Ereignisses erhoben hatte. So blieb oder wurde der Vorgang unbewußt, schickte nur noch ein neurotisches Symptom seiner ins Bewußtsein; dies Symptom aber gilt allemal als Anzeichen, das ein Vorgang nicht zu Ende gelebt, daß er abgebrochen wurde, daß der Patient mit etwas in sich nicht fertig geworden ist. Und das gleiche Sträuben, das einen Menschen krank gemacht hat, widersetzt sich während der analytischen Kur von neuem dem Bemühen, Verdrängt-Unterbewußtes ins Bewußtsein zu heben; dies eben ist der Widerstand des Nicht-Mehr-Bewußten gegen sein Bewußtwerden. Kurz, ein deutlich vorhandener Wille fundiert hier den Widerstand; wird dieser Wille gebrochen, dann taucht das Vergessene angeblich ohne weiteres auf. Und dieser Wille gilt als rein negierender, weshalb auch Freud sagt: »Verdrängung ist die infantile Vorstufe der Verurteilung.« Die gleichen Motive, die das alte Trauma sich verfestigen ließen, legen sich seinem Bewußtmachen in den Weg. Und vor allem: kommt das Verdrängte trotzdem an den Tag, so ist es verjährtes altes Zeug, das nun erst recht vergessen, nämlich überwunden wird. Durchaus anders jedoch ist das Nichtwollen dort beschaffen, wo die Fahrt ins Dunkel nach vorwärts geht. Der Widerstand gegen das Bewußtwerden im Gebiet des Noch-Nicht-Bewußten zeigt selten oder nie neurotische Züge. Er zeigt sie nur dann, wenn im Produzieren wollen ein Mißverhältnis zwischen Kraft und Wille auftritt; dieses Mißverhältnis erzeugt allerdings, wie bekannt, eines der herbsten Leiden. Durchaus jedoch fehlt auch dann ein Sichsperren im Erhellungswillen selbst, von der Art also, wie es im Subjekt bei der bloßen Hebung eines Verdrängten, also beim Marsch ins Nicht-Mehr-Bewußte, eintritt. Ein Widerstand im Subjekt des
Produktionswillens gegen diesen Willen und seine Inhalte, gar gegen das Gelingen der Fahrt ins Noch-Nicht-Bewußte und gegen dessen Schätze: ein Nichtwollen dieser Art kommt beim Produzierenden überhaupt nicht vor. Er überläßt das vielmehr den Empfängern des Werks, der, wie so oft, sich sperrenden Rezeptivität, dem also, was man früher den Widerstand der stumpfen Welt genannt hat. Die Psychologie des /(146) Produzierens selber aber weist keinerlei inneren Widerstand gegen die hier vorliegenden Erhellungsakte auf; vielmehr ist der zur Produktion gehörige und in ihr einheimische Widerstand überhaupt keiner im menschlichen Subjekt. Er steckt vielmehr in der vom Subjekt bearbeiteten Sache und wird von den spezifischen Mühen der Explikation nur gespiegelt. Er steckt im schwierigen Fahrwasser des Novum, in dem noch Ungestalten, jeder Gewohnheit Baren des neuen Materials. Ja sogar der bloße Rezeptivitäts-Widerstand, wenn er sich gegen Geniewerke sperrt, sie über die Maßen nicht versteht oder nur Ärgernis an ihnen nimmt, leitet sich, trotz des eingemischten, der Psychoanalyse zugehörigen Ressentiments, am Ende von einer Unlust zu der Schwierigkeit des sachlich Neuen her; womit selbst hier der der Erhellung des Noch-Nicht-Bewußten eigene Widerstand letzthin kenntlich gemacht wird als der des noch ungebahnten Materials. Aller Anfang ist in diesem Gebiet schwer, desto schwerer, weil eben das Neue, in das die produktive Pionierschaft geht, wesentlich auch eines der heraufkommenden Sache an und für sich ist. Nur deshalb also treten die neuen Wahrheiten als die des objektiv Neuen in ihrer Artikulierung so zögernd vor und immer nur als astra per aspera. Leicht beieinander wohnen die Gedanken lediglich als Plan oder als Skizze, aber ein Schritt weiter, und die konkrete Schwierigkeit des Werks beginnt. Bewirkt sie doch auch bei ausreichendem Können, und gerade bei ihm, die vielen zurückgeworfenen Expeditionen im Atelier, im Laboratorium, in der Studierstube, die zahllosen Schlachtfelder ohne Sieg oder mit hinausgeschobenem. Item, gar nichts Verdrängtes, sondern Schwierigkeit des Wegs ist im Noch-Nicht-Bewußten, NochNicht-Gewordenen dasjenige, was der Produktivität zu schaffen macht. Die Gründe hierfür liegen ausschließlich auf dem Terrain der Sache, als einem noch nicht abgeschlossenen, gar glatt arrondierten; kurz, es gibt eigene Hüter der oberen Schwelle, und sie liegen im Material. Die derart wirksame Sperre tritt zunächst und überall als eine geschichtliche auf. Genauer als eine gesellschaftliche; das auch dann, wenn das Auszusagende oder zu Erkennende an und für sich selber keinesfalls neu ist. Wenn also nur eine neue Erkenntnis und mit ihr nicht auch eine Erkenntnis von sachlich Neuem, /(147) das ist: jetzt erst sachlich Heraufkommendem gewonnen werden soll. Es gibt dieser Art in der Geschichte eine ökonomisch-soziale Blickschranke, sie ist auch dem kühnsten Geist unüberspringbar. Vorwegnahmen, Vorblicke traten viele ins vorhandene Bewußtsein und wurden von ihm selber im Noch-Nicht-Bewußten pointiert, erhellt; jedoch die gesellschaftliche Schranke hemmte die Ausführung. So haben Forscher ersten Ranges wegen ihres gesellschaftlich-geschichtlichen Standorts und von ihm her oft nicht einmal die halbe Minerva an sich gebracht (wie die Alten selber dies Widerständige nannten). Kein griechischer Mathematiker hätte die Differentialrechnung verstanden, auch Zenon nicht, so nahe er ihr gekommen war. Das Unendlichkleine, die variable Größe lagen total unter dem Horizont der griechischen Gesellschaft; erst der Kapitalismus ließ das bisher Feste und Endliche so in Fluß geraten, daß Ruhe als unendlich kleine Bewegung, daß unstatische Größenbegriffe gedacht werden konnten. Hierher gehört auch, daß der griechischen Sklavenhaltergesellschaft der Begriff der Arbeit fremd war, auch erkenntnistheoretisch und gerade hier. Sie hat das Erkennen stets nur als ein
empfangendes Schauen, nirgends als eine Tätigkeit pointiert; so nahe das etwa der Stoa und dem »subjektiven Faktor« in ihr hätte liegen können. Nicht alle Einsichten und Werke sind zu allen Zeiten möglich, die Geschichte hat ihren Fahrplan, oft sind die ihrer Zeit transzendierenden Werke nicht einmal intendierbar, geschweige ausführbar. Das pointierte Marx mit dem Satz, daß die Menschheit sich immer nur Aufgaben stellt, die sie lösen kann. Die ihre Zeit transzendierenden Aufgaben sind selbst dort, wo sie ausnahmsweise abstrakt stellbar sein mögen, konkret unlösbar. Auch diese Schranke aber ist letzthin einzig im historischen Zustand des Materials fundiert, vor allem in seinem eigenen prozessualunabgeschlossenen Zustand, wie er selber in Mühe, Front und Fragmenten steht. Das auch dort, wo nur neue Erkenntnis und noch keine Erkenntnis eines sachlich Neuen fragmentiert; wie sehr erst dort, wo, wie beim Arbeitsbegriff, die ganze Sache -als bürgerliche Gesellschaft - noch unter dem Horizont liegt. Das den Produktivitäts-Widerstand letzthin Bestimmende bleibt auch hier das schwierige Fahrwasser der Sache, bleibt die nur rationiert sich lichtende Verschlossenheit des Novum im Gesamt- /(148) prozeß überhaupt, der als Welt vor sich geht. Der keinesfalls grundsätzliche, wohl aber historisch-temporäre Widerstand darin wird selbst dort noch notiert, wo er als überwunden ausgegeben wird, nämlich durch Mut. So in dem herrlich antiagnozistischen Prospekt Hegels: «Das verschlossene Wesen des Universums hat keine Kraft in sich, welche dem Mute des Erkennens Widerstand leisten könnte, es muß sich vor ihm auftun und seinen Reichtum und seine Tiefen ihm vor Augen legen und zum Genusse bringen« (Werke VI, 1840, S. XL). Man sieht, auch hier fehlt das Wort Widerstand nicht, obwohl es sich am allerwenigsten um Gegenstände eines Unterbewußtseins handelt. Vielmehr ist die Verschlossenheit eines ganzen Universums zitiert, und diese gerade im Verhältnis zum hemmungslosen Mut eines Erkennens. Wieviel größer erst der Widerstand der Objekthaftigkeit zur Subjekt-Objekt-Beziehung der Erkenntnis, wo ein Universum nicht, wie bei Hegel, panlogisch und darin zugleich geschlossen vorliegt. Wo ein unabgeschlossener Prozeß anhängig ist, der überdies mit keinem so vertrauten, jedem idealistischen Professor verwandten Namen signiert ist wie Geist. Recht im Gegenteil dazu heißt der Träger des Prozesses Materie und ist ein Wesen, das keineswegs an sich schon, gleich der sogenannten Weltidee, das Subjekt mit dem Objekt zusammenschließt, es sei denn im Gefolge harter, eben durch Mühe des Widerstands geschärfter Arbeit. Das noch verschlossene Wesen des Universums, das gerade als Materie noch in einem unabgeschlossenen Prozeß seiner Objektivierungen liegt, läßt sich am wenigsten als bereits Fertiges, gar überschwenglich Sonnenklares abspiegeln oder deklarieren. Das noch Ungewordene, noch Ungelungene ist eine eigene Wildnis, an Gefahren der unbetretenen vergleichbar, an ungekommenen Möglichkeiten ihr überlegen. Dieses Noch-Nicht-Gewordene, ja Noch-Nicht-Gelungene im Objekt fundiert also den letzten Widerstand, er ist ersichtlich erst recht ein anderer als der der Verdrängtheit oder versteckten Vorhandenheit. Das Weltgeheimnis selber liegt nicht in einer Art kosmoanalytischer Abfallsgrube, sondern im Horizont der zu gewinnenden Zukunft, und der Widerstand, den es seiner Eröffnung entgegensetzt, ist nicht der eines verschlossenen Kastens, wie in dämonischen Schatzmythen, mit boshaft blickenden Hunden zur /(149) Seite, die ihn bewachen, sondern der Widerstand ist hier der einer in sich selbst noch im Prozeß befindlichen, noch nicht manifesten Fülle. Das macht bezeichnenderweise, daß der objektive Idealismus, gar Spiritualismus das ihm Wesenhafte hinter der Erscheinung kraft der falschen Gleichung: Denken = Sein meist zu bestimmen unternahm, als wäre es nur geographisch an einem anderen Ort, während Marx, der doch gewiß nicht des »Agnostizismus« Verdächtige, bereits
vom »Reich der Freiheit« fast nur privativ spricht, nämlich als bloßem Nichtdasein der Merkmale der Klassengesellschaft, oder äußerstenfalls in der ferntiefen, durchaus noch schwebenden Bedeutung einer «Naturalisierung des Menschen, Humanisierung der Natur«. Das sogenannte Wesen des Universums also ist noch an und für sich verschlossen im Sinne von: Noch-Nicht-Erscheinung seiner selbst; diese seine eigene Aufgabe- Natur macht es schwierig. Das Schwierige aufzuheben, dazu ist nicht nur Erkenntnis nötig im Sinn einer Ausgrabung dessen, was war, sondern Erkenntnis im Sinn einer Planbestimmung dessen, was wird; Erkenntnis mithin ist nötig, die zu diesem Werden, als einem gut verändernden, selber entscheidend beiträgt. Revolution und Genie geben Vertrauen darauf, daß dies schwierige heliotropische Geschäft nicht umsonst war oder umsonst gewesen sein wird; trotz des Widerstands in ihm selbst und im Sauerteig Welt. Epilog über die Sperre, die den Begriff des Noch- Nicht-Bewußten so lange verhindert hat Sonderbar schwer macht der innere Blick gar sich selber hell. Hier ist ein eigener Widerstand im allgemein sachlichen; seelisches Leben wirkt flüchtig, schattenhaft. Wie lange dauerte es, bis man überhaupt nur merkte, daß dieses Leben sieh selber bemerkt, also ein bewußtes ist. Und unterbewußte seelische Vorgänge werden als solche erst seit wenig mehr als zweihundert Jahren bei Namen genannt. Dem mag allenfalls zugute gehalten werden, daß die unterbewußten Vorgänge nicht ohne weiteres bemerkbar gegeben sind, daß sie erst aus Zeichen erschlossen werden, daß sie inhaltlich Vergessenes enthalten. Doch schwerer verständlich wirkt es, nach der immerhin geschehenen Notierung /(150) des Bewußten, gar Unterbewußten, daß das Noch-Nicht-Bewußte solange unbeachtet geblieben ist. Denn es wird nicht durch den Akt des Erinnerns erst ausgegraben, sondern ist sich gerade als eigener Akt unmittelbar gegeben, nämlich im Ahnen, außer diesem, was inhaltlich darin vorgeht. Trotzdem wurde das Schwebende, Offene, Ausmalende dieser Vorgänge so dargestellt, als ob es, wie gesehen ward, gleichfalls nur unterbewußt wäre; und eben: in diesem Dunkel lag es bis heute versteckt. Wie bekannt, wurde Unbewußtes überhaupt erst von Leibniz psychologisch kenntlich gemacht, auf weitem Umweg. Nicht nur Beobachtung, auch Theorie bewirkte die Entdeckung; Beobachtetes kam zum Teil nachträglich als ein Beispiel dazu, das die Theorie illustrierte. Eines der Leibnizschen Grundgesetze war das vom lückenlosen Weltzusammenhang; diese lex continui duldet keine Unterbrechung, keine Leerstelle, nirgendwo. Scheint sie sich dennoch zu finden, so ist sie in Wahrheit mit unmerklich kleinstem Etwas besetzt, mit anfangendem und wachsendem; die Differentialrechnung drückt dies Unendlich-Kleine als Bewegungsmoment mathematisch aus. Wie es aber nun kleinste Impulse der Bewegung gibt, so auch solche der Vorstellungsintensität des nach Klarheit und Deutlichkeit graduierten Bewußtseins: das sind die »petites perceptions insensibles«. Und als ihre Beispiele führt Leibniz kleinste Wahrnehmungen an, die wegen ihrer Schwäche unmerklich oder unbewußt bleiben, doch bei hinreichender Summierung, etwa als Wogengeräusch oder Stimmengewirr, durchaus bewußt werden. Also müssen sie auch vorher in der Seele vorhanden gewesen sein, desgleichen vergessene Vorstellungen, die durch genügende Verstärkung ins Bewußtsein treten. Die petites perceptions werden von Leibniz in der Vorrede zu den »Nouveaux Essais« sogleich als große Entdeckung ausgezeichnet: »Die unmerklichen Wahrnehmungen sind mit einem Wort in der
Geisteslehre von ebenso großer Bedeutung, wie es die unmerklichen Körper in der Physik sind; und es ist gleich unvernünftig, die einen wie die anderen unter dem Vorwand, daß sie außerhalb des Bereichs unserer Sinne fallen, zu verwerfen.« So wird der Begriff des Unbewußten aus der lex continui geboren, ja es läßt sich cum grano salis sagen: aus der Differentialrechnung, als deren Pendant in der Seele. Zugleich /(151) jedoch wird der so gewonnene Begriff des Unbewußten gänzlich unter den des vorhandenen Bewußtseins gebeugt. Unbewußtes ist von seiner ersten Notierung ab als Unterbewußtes abgestempelt. Die petites perceptions werden durch das im Menschen bereits erreichte Bewußtsein allemal überboten, auch aufgelöst; so kommen sie nach einer erlangten Klärung, und jenseits ihrer nicht abermals etwa gebärend, als Schöpfungselemente vor. Trotzdem war durch den Heros der Aufklärung selber noch ein anderes als vorhandenes Bewußtsein in der Seele aufgezeigt worden, wenn auch nur als Mondlicht im Ahnensaal des Bewußtseins. Schieres Bewußtsein galt nun nicht mehr als das Wesensmerkmal des menschlichen Geistes, der bis dahin so paradoxe Begriff einer unbewußten seelischen Tätigkeit begann. Und eben, auch das besondere Versteck des Noch-Nicht-Bewußten in diesem Dunkel begann, die Beugung des Noch-Nicht-Bewußten unter eine vergangen brütende Mondscheinwelt: diese Maske des Noch-Nicht-Bewußten trat nun auf. Mit eigentümlichen, jetzt erst durchschaubaren Pseudomorphosen, zuerst im Sturm und Drang, dann in der Romantik. Fünfzig Jahre nach dem Tod von Leibniz, mit dem Erscheinen seiner posthumen »Nouveaux Essais« schallte das Stichwort der petites perceptions in die Vorwehen jener bürgerlichen Revolution, die dann in Deutschland nicht kam. Das Unbewußte blieb dem Sturm und Drang zwar durchaus ein Unteres, lag im bloßen Anfang der Geistesgeschichte, aber es schien darin quellend und wallend. So blieb auch das Unbewußte nicht mehr infinitesimal wie die kleinsten Impulse, nicht mehr schmal wie die petites perceptions, vielmehr, aller Nebel des Nordens und der Vorzeit wogte darin, die Fingalshöhle wie Macbeth' Heide, der Geist der hebräischen Poesie wie das Straßburger Münster schienen darin Platz zu finden. Das Unbewußte hatte bei all seinem dumpfen Schwalm die Urstimme, die Glut, die Jugend, den wildschaffenden, hinwerfenden Genius. So erschien freilich das Dämmernde im Sturm und Drang, der ja weithin zur Aufklärung gehört, zum ersten Mal auch mit Zukunft versehen und sich dessen, mitten im Nachtwind der Vorzeit, auch bewußt zu sein: »Wer will«, ruft Hamann, als Magus dieser raunenden Aufklärung, »wer will vom Gegenwärtigen richtige Begriffe nehmen, ohne das Zukünftige /(152) zu wissen? Das Zukünftige bestimmt das Gegenwärtige und dieses das Vergangene, wie die Absicht Beschaffenheit und den Gebrauch der Mittel.« Und weiter sagt Hamann, mit Bezug auf Ezechiel 37, 1-6: »Das Feld der Geschichte ist mir daher immer wie jenes weite Feld vorgekommen, das voller Beine lag, und siehe! sie waren sehr verdorret. Niemand als ein Prophet kann von diesen Beinen weissagen, daß Adern und Fleisch darauf wachsen und Haut sie überziehe.« Auch an der Regel, diesem Stolz des rationalistischen Bewußtseins, wurde vor allem doch das Erloschene abgelehnt, das Geworden-Tote, im Gegensatz zur Entspringung oder Natur, die allemal als Quell-Natur andrang. Trotzdem jedoch blieb selbst dieses, auf betäubende Weise, noch mit Regressio gemischt, mit dem Mondschein Ossians, mit moosbedeckten Malen und Heldengräbern. Die Unreife Deutschlands zur bürgerlichen Revolution, die dadurch bedingten unklaren Durchkreuzungen der progressiven revolutionären Vernunft haben so das Originalgenie zuletzt doch mehr zu einem Boten aus der Urzeit als der Zukunft gemacht. Dergleichen steigerte sich in den erst recht merkwürdigen Verwicklungen der Romantik. Das Quellen war hier
gewiß lebhaft, und Unerhörtes schien darin in Gang zu kommen, aber das Gefühl eines verlorenen Gestern schlug mit einer Kraft dagegen an, die der Sturm und Drang nicht kennen wollte noch konnte. Diese Kraft wurde von dem reaktionären, gegen die bürgerliche Revolution gerichteten Auftrag geliefert, wie er wachsend die deutsche Romantik bestimmte und trotzdem vorhandene unleugbar progressive Züge durchkreuzte. Auf kaum mehr nacherfahrbare Weise war der Romantiker Vergangenem verfallen, und das mit einer lex continui, die - dem reaktionären Auftrag gemäß - in der mondbeglänzten Zaubernacht vorzugsweise nur Ritterburgen ragen ließ. Das Geschichtliche verband sich noch wachsend mit Archaischem und dieses mit Chthonischem, so daß das Geschichts-Innere bald wie Erd-Inneres selber dreinsah. Dies Truhengefühl, dies Inzestwesen des Eingehenwollens in den Mutterschoß Nacht und Vergangenheit kulminiert spät bei Bachofen, dem Lehrer des Mutterrechts, doch mit Grabliebe für die chthonische Demeter schlechthin. Der Nachtsicht gemäß kommt auch psychologisch jegliches Gute, Ahnungsvolle an den Nachtpol des Bewußtseins: /(153) Schöpfung geht mit Trieb und Instinkt, mit atavistischem Hellsehen und Raunen des Abgrunds heimatlich zusammen; auf der Tagseite, sogar auf der Gestalt- und Erfüllungsseite wohnte dem Romantiker nichts halb so Vertrautes. Jede Produktivität, ja gerade der Erwartungscharakter, an dem die Romantik so paradox reich ist, meditierte sich hier in antiquarische Bilder ein, in Vergangenheit, in Unvordenkliches, in Mythos, als Halt gegen die Zukunft, welche immer mehr nur als Spreu, Leere, Wind gilt. Nicht überraschend also, wenn hier Jugend und Produktivität jedes Bewußtseins ihres Noch-Nicht-Bewußten bis zum Ahnenkult redressierten: die andere Sprengkraft, außer der Produktivität: die erfaßte Zeitwende fehlte. Nicht überraschend auch, wenn die trotzdem stark-vage Erwartungsstimmung in der Restaurationswelt Romantik sich immer nur zu einem Advent erhob, in dem Vinetaglocken läuten, die Glocken einer versunkenen Stadt. Görres, der Renegat der phrygischen Mütze, hat dieses Pathos Vergangenheit am leidenschaftlichsten formuliert: »So reich war jene vergangene Welt, sie ist versunken, die Fluten sind darüber hingegangen, da und dort ragen die Trümmer noch hervor, und wenn sich die Trübe der Zeitentiefe klärt, sehen wir am Grunde ihre Schätze liegen. Wir sehen aus großer Ferne in den wunderbaren Abgrund nieder, wo alle Geheimnisse der Welt und des Lebens verborgen ruhen, aber ist es uns gelungen zu ergründen die Wurzel der Dinge, die in Gott verborgen ruht? Es zielt hinab der Blick in die Tiefe, es locken die Rätsel aus der Ferne, aber nach aufwärts drängt die Strömung und wirft den Taucher aus in die Gegenwart« (Mythengeschichte, 1810, Seite 599f). Bezeichnend führt hier das Aufwärts nur mit Trauer in die Gegenwart, und die Zukunft ist überhaupt nicht im Blick; es gibt zwar Rätsel der Ferne, sie sind dem Romantiker die allerdringlichsten, doch sie liegen fast einzig im Abgrund, die Ferne ist und bleibt Urgewesenheit. Zweifellos hatte die deutsche Romantik - was gegenüber einer veralteten abstrakten Unterschätzung ihrer nicht oft genug betont werden kann - auch progressiven Charakter; eben der Sinn fürs Quellen, Werden, Wachsen gehört hierher, der berühmte »historische Sinn«, der ganze Wissenschaften, wie Rechtsgeschichte, Germanistik, erst schuf; gar das Vaterländische ist nicht zu vergessen und ihm gemäß das /(154) Organ für alles große Nationalwerk in der Weltliteratur. Es gibt durchaus, wie allein schon das Wartburgfest 1817 zeigt, auch Revolutionär-Romantisches in der deutschen Romantik: indes selbst das leidenschaftlichst utopisierte Morgenrot ist hier immer wieder mit den angegebenen Nachtgedanken eines Antiquaritums durchsetzt, mit der Projektion überfeierter Vergangenheit auch noch in die Neuheit Zukunft. Und fast nur außerhalb Deutschlands, in der englischen, der russischen Romantik, die beide
nicht unter einem so reaktionären Stern standen, sondern unter dem wild erinnerten der Französischen Revolution, bei Byron, bei Shelley, bei Puschkin, wird das den Menschen angemessene, wahrhaft Heimatliche explosiv und Zukunft haltend, nicht versinkend gesucht. Doch das war in Deutschland Anomalie; gegen die romantische Reaktion kam eine revolutionäre Romantik damals noch nicht unverwechselbar auf. Selbst Jean Paul, der ohnehin nur uneigentlich zur Romantik gehört, der blühendste und ungehemmteste Wachtraum-Dichter, dessen Liberalismus sicher war und dessen Morgenrotsprache, wenn sie in Nacht steht, so in Johannisnacht, hat die Hoffnung, die bei ihm freilich unablässige, unter die Erinnerung gebeugt oder dort letzthin angesiedelt. Selbst Jean Paul also, der Dichter der schönsten vorschwebenden Wunschlandschaften, hat das Licht, sobald er es nicht dichtete, sondern darüber reflektierte, am Ende doch nur in der Vergangenheit, nicht in der Zukunft gesucht. »Aus eben diesem Grunde glänzt jedes erinnerte Leben in seiner Ferne wie eine Erde am Himmel, nämlich die Phantasie drängt die Teile zu einem abgeschlossenen heiteren Ganzen zusammen. Sie könnte zwar ebensowohl ein trübes Ganzes bauen; aber spanische Luftschlösser voll Marterkammern stellt sie nur in die Zukunft und nur Belvederes in die Vergangenheit. Ungleich dem Orpheus gewinnen wir unsere Euridice durch Rückwärts- und verlieren sie durch Vorwärtsschauen« (Vorschule der Ästhetik, § 7). Derart verführte Romantik, mit dem Brunnenland in den petites perceptions, das Noch-Nicht-Bewußte doch immer wieder. Der Blick auf den utopischen Zustand, die Ausbeute seines Inhalts fanden so, bei aller Erwartung, die durchs romantische Gefühl ging, an der Anamnesis, als einer geradezu beschwörenden Wiedererinnerung, die stärkste Sperre. /(155) Und sie blieb nicht die einzige, wie noch Freud mit seinem nur unterbewußten Traum zeigte. Wohl wenig Zeiten haben so unvermeidlich den Übergang zu einem Anderswerden, einem Heraufkommenden gespürt wie die jetzige. Aber desto betretener und blinder verhält sich das Bürgertum hierzu, ist am Widerschein des Morgen gar nicht oder nur feindlich interessiert. Kommende Ereignisse werfen diesem Bürgertum lediglich ihren Schatten voraus, nichts anderes als Schatten; die kapitalistische Gesellschaft spürt sich von der Zukunft verneint. Mehr als je fehlt zu einer Trennung des Noch-Nicht-Bewußten vom Nicht-Mehr-Bewußten im Bürgertum der materielle Anlaß. Jede Psychoanalyse, mit Verdrängung als Hauptbegriff, Sublimierung als bloßem Nebenbegriff (für Ersatz, für Hoffnungs-Illusionen), ist darum notwendig retrospektiv. Sie entstand zwar in einer früheren Zeit als der heutigen, sie nahm, um die Jahrhundertwende, an einem sogenannten Kampf gegen die konventionellen Lügen der Kulturmenschheit teil. Trotzdem ist Psychoanalyse in einer schon damals überalterten Klasse entstanden, in einer Gesellschaft ohne Zukunft. So überdimensionierte Freud die Libido der Parasiten und kannte keinen anderen Antrieb, gar Auftrieb. Keine anderen Träume als diejenigen, die der Herr, der jetzt Eros heißt, den Seinen im Schlaf gibt. Und je länger, je lieber verstärkte sich das durchaus interessierte Mißtrauen gegen die Zukunft durch den neuen Angst-, den alten Resignationsvorrat der Bourgeoisie. Und dieses eben bezeichnet die Schranke, die sich, wie gesehen, auch Freud vor dem Begriff eines NochNicht-Bewußten, vor der Dämmerung nach vorwärts auftut. Von daher der schlechthin unvermeidliche, schlechthin regredierende Satz: »Das Verdrängte ist uns das Vorbild des Unbewußten« (Das Ich und das Es, 1923, S. 12). Die Schranke wurde schließlich in der sogenannten Tiefenpsychologie absolut; dort also, wo die psychoanalytische Regression für den Blut-Boden-Zauber ideologisch brauchbar wurde. Das Unbewußte C. G. Jungs begab sieh desto gänzlicher in den Keller des Bewußtseins, als nur in ihm das Opium geraucht werden kann, womit der
Faschismus Utopie betäubt. Jung interpretiert auch Heraufdämmerndes ganz und gar archaisch-okkult, nach Analogie des prophetischen Tempelschlafs. Auch das »inconscient superieur«, /(156) auch die noch so geschwollen ausgedrückte »prospektive Tendenz subliminaler Kombinationen« wird derart, wie begriffen wurde, gänzlich unter Regression gebeugt. Die Stelle bei Jung, worin »ein das Zukünftige vorahnender Gedanke« dermaßen archaisiert wird und bleibt, ist gerade für die Geschichte der verhinderten Novum-Psychologie aufschlußreich genug, um in extenso zu erscheinen: »Die Psychoanalyse arbeitet rückwärts wie die Geschichtswissenschaft. So wie ein großer Teil der Vergangenheit dermaßen entrückt ist, daß ihn die Kenntnis der Historie nicht mehr erreicht, so ist auch ein großer Teil der unbewußten Determination unerreichbar. Die Historie weiß aber zweierlei Dinge nicht, nämlich das in der Vergangenheit Verborgene und das in der Zukunft Verborgene. Beides wäre vielleicht mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu erreichen, ersteres als Postulat, letzteres als historische Prognose. Insofern im Heute schon das Morgen enthalten ist und alle Fäden des Zukünftigen schon gelegt sind, könnte also eine vertiefte Kenntnis der Gegenwart eine mehr oder minder weit reichende und sichere Prognose des Zukünftigen ermöglichen. Übertragen wir dieses Räsonnement. auf das Psychologische, so muß sich notwendig dasselbe ergeben: so wie nämlich dem Unbewußten nachweisbar längst unterschwellig gewordene Erinnerungsspuren noch zugänglich sind, so auch sehr feine subliminale Kombinationen nach vorwärts, welche für das zukünftige Geschehen, insofern solches durch unsere Psychologie bedingt ist, von allergrößter Bedeutung sind. So wenig aber die Geschichtswissenschaft sich um die Zukunftskombinationen bekümmert, welche vielmehr das Objekt der Politik sind, so wenig sind auch die psychologischen Zukunftskombinationen Gegenstand der Analyse, sondern wären vielmehr Objekte einer unendlich verfeinerten psychologischen Synthetik, welche den natürlichen Strömungswegen der Libido zu folgen verstünde. Das können wir nicht, wohl aber das Unbewußte, denn dort geschieht es, und es scheint, als ob von Zeit zu Zeit in gewissen Fällen bedeutsame Fragmente dieser Arbeit wenigstens in Träumen zutage träten, woher dann die vom Aberglauben längst geforderte prophetische Bedeutung der Träume käme. Die Abneigung der Exakten von heutzutage gegen derlei wohl kaum als phantastisch zu bezeichnende Gedankengänge ist /(157) bloß eine Überkompensation der Jahrtausende alten, aber allzu großen Neigung der Menschen, an die Wahrsagerei zu glauben« (Wandlungen und Symbole der Libido, 1925, S. 54f.). Das ist alles, was Jung gerade bei Gelegenheit der psychischen Repräsentation des Heraufkommenden zu sagen weiß: Das utopische Bewußtsein erscheint als ägyptisches Traumbuch. Nur das archaisch Unbewußte, im tiefsten Dunkel, vollzieht hier die sogenannten Zukunftskombinationen; tritt ein Geringes von diesem Dunkel aber ins Licht, so an jenes, das letzthin Regressio zeigt. Gerade im geschichtlichen Zusammenhang mit den petites perceptions wird so die nochmals erinnerte Archaisierung des Unbewußten nochmals warnend: die Schranke vor dem Novum bei dem großen progressiven Leibniz wird zum Fallbeil fürs Novum in der letzten bürgerlichen Psychologie des Unbewußten. Haben doch, wie nun völlig deutlich wird, selbst die aufsteigenden Zeiten der bürgerlichen Psychologie die Bewußtseinsklasse des Neuen nicht oder mindestens nicht unverwechselbar notiert. Leibniz legte den Akzent auf den Aufstieg des Bewußtseins, doch eben die petites perceptions, in welchen der Keim ist, lagen ausnahmslos unterhalb des bereits gewonnenen Bewußtseins, zeigen also genau jene historische Topik, die dem Vorbewußten bis Freud geblieben ist. Auch die Konstruktion der Wunschträume, die die Neuzeit
entwickelt hat: die sozialen Utopien und die einer technisch beherrschten Welt, selbst diese Vorwegnahmen haben in der philosophischen Beachtung, die sie von Morus, Campanella, Bacon bis Fichte und fortan fanden, weder eine Psychologie ihrer erweiternden Tagträume noch eine Erkenntnistheorie ihres möglich-realen Orts in der Welt ausbilden lassen. Der Grund hierfür liegt diesesfalls nicht in einem interessierten Mißtrauen gegen die Zukunft, gewiß nicht, wohl aber in einem sozusagen uninteressierten, nämlich im nachwirkenden Bann des statischen Lebens und Denkens. Auch das Bewußtsein des aufsteigenden Bürgertums war noch zu wenig aus dem Begriff einer vorgeordneten, letzthin fertigen Welt (ordo sempiternus rerum) ausgetreten; nachwirkende feudale Statik hemmte den Begriff Neuheit. Sie hemmte ihn bei Leibniz, sie hemmte und depravierte ihn sogar in der entschiedensten aller bisherigen Werdens Eröffnungen, Prozeßphilosophien wie der Hegels. So abgeriegelt /(158) muß selbst der berühmte Prozeß-Satz aus der »Phänomenologie des Geistes« gelesen werden: »Aber wie beim Kinde nach langer stiller Ernährung der erste Atemzug jene Allmählichkeit des nur vermehrenden Fortganges abbricht - ein qualitativer Sprung - und jetzt das Kind geboren ist, so reift der sich bildende Geist langsam und still der neuen Gestalt entgegen, löst ein Teilchen des Baues seiner vorhergehenden Welt nach dem andern auf, ihr Wanken wird nur durch einzelne Symptome angedeutet; der Leichtsinn wie die Langeweile, die im Bestehenden einreißen, die unbestimmte Ahnung eines Unbekannten sind Vorboten, daß etwas anderes im Anzug ist. Dies allmähliche Zerbröckeln, das die Physiognomie des Ganzen nicht veränderte, wird durch den Aufgang unterbrochen, der, ein Blitz, in einem Male das Gebilde der neuen Welt hinstellt« (Werke II, 1832,S.10). Der Reflex der Französischen Revolution ist hier wie im gesamten Sprungcharakter der Hegelsehen Dialektik unverkennbar; dennoch ist das Ganze ebenso gedacht als fertiges Zugleichsein, als - Erinnerung. Der Blitz des neuen Anfangs ist auch hier nur Aufgang mit längst entschiedener Abgeschlossenheit des Aufgehenden und darum im Kreis geschehend, ohne Hoffnung zu einem noch Ungekommenen. Ewig ist das ungeheure Unternehmen schon in Pension gegangen, in die Ruhe fertiger Gelungenheit: »Die Erscheinung ist das Entstehen und Vergehen, das selbst nicht entsteht und vergeht, sondern an sich ist und die Wirklichkeit und Bewegung des Lebens der Wahrheit ausmacht... In dem Ganzen der Bewegung, es als Ruhe aufgefaßt, ist dasjenige, was sich in ihr unterscheidet und besonderes Dasein gibt, als ein solches, das sich erinnert, aufbewahrt, dessen Dasein das Wissen von sich selbst ist« (1. c. S. 36f.). Die utopische Verborgenheit, welche im Keim oder An-sich gewiß besteht und auf jeder Stufe des Hegelsehen Prozesses wieder hervorbricht, ist danach ebenso durchs Ganze der begriffenen Manifestationen von je enthüllt. Die Lehre Platons, wonach alles Wissen lediglich Anamnesis, Wiedererinnerung an ein einstmals Geschautes sei, diese einzig auf Ge-wesenheit ausgerichtete Erkenntnis wurde derart immer wieder reproduziert; das allerletzt ideologisierte die Sperre vor dem Sein sui generis eines Noch-Nicht-Seins. Eben die nachwirkende Statik des reaktionär Ruhebedürftigen, /(159) diese fertig abgemachte, abgeschlossene Anamnesis-Welt leistete hier, was in der Niedergangszeit der Horror vor dem Unbekannten leistet, das im Anzug ist. Von dieser Sperre ist kein noch so scheinender Neutöner der alten Art befreit. Auch dort nicht, wo, wie bei Bergson, ausschließlich, allzu ausschließlich gerade die Neuheit auszuzeichnen versucht wird. Bergson sagt einmal, in seiner »Einführung in die Metaphysik«, die großen Erkenntnisse seien bisher betrachtet worden, als erleuchteten sie Punkt für Punkt eine in den Dingen längst vorgeformte Logik, »so wie man an einem Festabend nach und nach den Gasflammenkranz anzündet,
welcher schon die Konturen eines Ornaments zeichnete«. Aber was sich bei Bergson nun als Novum gibt: Anti-Wiederholung, Anti-Geometrie, Elan vital und mit dem Lebensstrom fließende Intuition - all diese Lebendigkeit ist impressionistisch, auch liberalanarchistisch, nicht antizipatorisch. Der Elan vital Bergsons ist eine »immer von neuem, wie etwa in einer Kurve, einsetzende Richtungsänderung«; die sogenannte Intuition setzt sich in dies bewegend Überraschende hinein, ohne jedoch vor lauter schlechter Unendlichkeit und unablässiger Veränderlichkeit das Novum je als ein wirkliches anzutreffen; - wo alles immer wieder neu sein soll, bleibt ebenso alles beim alten. Darum ist auch an Bergsons Überraschungsstrom in Wahrheit alles verabredet und zur Formel erstarrt, zu jenem selber toten Gegensatz zur Wiederholung, der das Neue zu bloß ewigem, inhaltslosem Zickzack herabsetzt, zu jenem absolut gemachten Zufall, an dem weder Geburt noch Sprengung noch eine inhaltlich fruchtbare Überschreitung des bisher Gewordenen statthat. Bergson wendet sich gegen einen Prozeßgedanken mit Ziel, aber er wendet sich nicht dagegen, weil das Ziel bereits vereinbart wäre, so daß der genannte Prozeß - auf höchstem Niveau - fast wie Schiebung aussieht, sondern er eliminiert alles und jedes Voran, Wohin und offen betreibbare Ziel überhaupt. Wonach das angebliche Novum auch nicht anders dreinsieht als in der Anamnesis, nämlich immer gewesen, immer Phönix, immer gebannte Rückkehr in das Unveränderliche, das hier Veränderlichkeit heißt. Im Ganzen also bleibt fast überall das Erstaunliche, daß die Aufdämmerung im Fixum steckenbleibt, letzthin unnotiert oder mit Gewesenem /(160) zugestellt. Ein riesiges psychisches Reich des Noch-Nicht-Bewußten, ein dauernd befahrenes, blieb bis jetzt unentdeckt, oder seine Entdeckungen blieben unbemerkt. Desgleichen: ein riesiges physisches Reich des Noch-Nicht-Gewordenen, wie es dem Noch-Nicht-Bewußten sein Korrelat bildet, blieb stabil, und die eng zusammengehörigen Realkategorien: Front, Novum, objektive Möglichkeit, die der Anamnesis unzugänglichen, blieben in der Welt vor Marx ohne Kategorienlehre. Der Epigone befindet sich stets nur auf den gangbaren Straßen, welche Produktivität vor ihm gebaut und geschmückt hat, in der Notierung des Neuen verhielt sich aber auch die bisherige Produktivität so, als kenne sie nur Epigonentum. Der Niedergang der bürgerlichen Klasse hat weit über die reaktionär gewesene Romantik hinaus diese Unlust am Begriff Aurora besiegelt. Und - wie jetzt spruchreif - erst Erfahrung der heutigen Zeit, als positive, soll heißen: als Bejahung ihres heraufziehenden Inhalts, läßt einen Bewußtseinszustand bezeichnen, der die Jugend, die Zeitwenden, die kulturelle Produktion ebenso erfüllt, wie er stets verdeckt war. Erst unsere Gegenwart besitzt die ökonomisch-sozialen Voraussetzungen zu einer Theorie des Noch-Nicht-Bewußten und was damit im Noch-Nicht-Gewordenen der Welt zusammenhängt. Erst der Marxismus vor allem hat einen Begriff des Wissens in die Welt gebracht, der nicht mehr wesentlich auf Gewordenheit bezogen ist, sondern auf die Tendenz des Heraufkommenden; so bringt er erstmalig Zukunft in den theoretisch-praktischen Griff. Solche Tendenzkenntnis ist notwendig, um sogar noch das Nicht-Mehr-Bewußte und das Gewordene nach seiner möglichen Fortbedeutung, das heißt, Unabgegoltenheit, zu erinnern, zu interpretieren, aufzuschließen. Der Marxismus hat derart ebenso den rationellen Kern der Utopie herübergerettet und ins Konkrete gebracht wie den der noch idealistischen Tendenz-Dialektik. Die Romantik versteht nicht Utopie, nicht einmal ihre eigene, aber konkret gewordene Utopie versteht Romantik und dringt dahin ein, sofern und soweit Archaisches und Historisches, in seinen Archetypen und Werken, ein noch nicht Lautgewordenes, ein Unabgegoltenes enthalten. Das fortgeschrittenste Bewußtsein arbeitet derart auch in der Erinnerung und
Vergessenheit nicht als in einem abgesunkenen und so geschlos- /(161) senen Raum, sondern in einem offenen, im Raum des Prozesses und seiner Front. Dieser Raum aber ist ausschließlich mit Dämmerung nach vorwärts erfüllt, auch noch in seinen Exempeln aus fortbedeutender Vergangenheit; er ist mit bewußtseinsfähiger, gewußtseinsfähiger Lebendigkeit eines Noch-Nicht-Seins gefüllt. Wo die Romantik als archaisch-historische ins lediglich antiquarische Quellen, als in eine falsche Tiefe, hinabgezogen wurde, dort legt das utopische Bewußtsein auch noch das Heraufkommende im alten frei, wie sehr erst im Bevorstehenden selbst. Es entdeckt die wirkliche Tiefe - in der Höhe, nämlich in der des hellsten Bewußtseins, wo noch helleres dämmert. Die bewußte und die gewußte Tätigkeit im Noch- Nicht-Bewußten, utopische Funktion Der hier gemeinte Blick nach vorwärts ist wählerisch, nicht trüb. Er vorab verlangt, daß das Ahnen ein gesundes sei und auch kein dumpfes, das selber wie im Keller steckt. Das gar nicht darauf angelegt ist, sich in seinem Dämmer, obwohl es gegen Morgen gerichtet sein mag, bewußt zu machen. Auch haben sich, da die Wissenschaft fehlte, hier Hysterisches und Abergläubisches angesiedelt. Man hat Nervenzustände wie Hellsehen, zweites Gesicht und dergleichen als Ahnung bezeichnet, eben als dumpfe. Aber das ist ein Ausgeartetes, in welches echtes Ahnen, wie sich von selbst versteht, weder herabreichen kann noch will. Gesetzt den Fall, daß sogenanntes zweites Gesicht noch vorkommt, so haftet ihm ein Winkelwesen an, auch eine Nachbarschaft zu Krämpfen und anderen nicht eben hoffnungsvollen Gaben. Dergleichen gehört zu jenem kränklichen Feinsinn (dem Feinsinn einer Wunde), der in den legitimen Fällen nur einen Wetterumschlag vorherfühlt, hier aber angeblich Feuersbrünste oder Todesfälle. Wobei es zum selber Unterbewußten, Abgesunkenen, Atavistischen, Ausgelebten dieser Art Ahnung paßt, daß sie sich immer nur auf tausendfach bereits Geschehenes bezieht, das morgen oder übermorgen immer wieder geschieht. Somnambules Vorgefühl überhaupt mag bestenfalls ein verkommener Rest des tierischen Instinkts sein, aber der Instinkt ist erst recht stereotyp; seine Handlungen, wiewohl bis ins einzelnste /(162) zweckgemäß, werden sofort widersinnig, sobald das Tier, in eine neue Situation geratend, noch nie Dagewesenes vorauszuwittern hätte. Eiablage, Nestbau, Wanderung werden durch den Instinkt vollzogen, als bestünde genaues »Wissen« der Zukunft, doch eben diese ist eine, worin nur die jahrmillionenalten Schicksale der Art geschehen. Sie ist eine inhaltlich alte, automatische Zukunft, folglich, da in ihr nichts Neues geschieht, die erwähnte unechte. Vieles am Körperinstinkt wirkt noch dunkel, die Forschung der Signalsysteme ist noch nicht beendet, das Triebbilderleben im Instinkt, wenn es eines gibt, ist unenträtselt, mitsamt der Peilung, die es den Trieben angedeihen läßt. Auch wird eine noch so große Schwellensenkung menschlicher Ahnung schwerlich die Tätigkeit nacherfahren können, die im tierischen Instinkt der Vor-Sorge Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft noch völlig zusammengezogen zu besitzen scheint und nach Maßgabe des Artgeschäfts relativ beherrscht. Gleichwohl ist nichts gewisser, als daß die Zukunft hier, wie noch in der Weissagerei, von der die Folklore erzählt, eben eine völlig unechte ist, eine Wiederholung, ein vorgeordnetes Stück in immer gleichem Kreis. Instinkt-Zukunft und die ihr verwandte der atavistischen Ahnung fängt, wenn sie beginnt, immer wieder auf gleicher Stufe das Gleiche an und auf.
Produktive Ahnung, selbst in Gestalt sogenannter Intuition, ist daher ein ganz anderes als seiner bewußt gewordener Instinkt. Sie bleibt nicht dumpf und winkelhaft, gar qualmig, sie steht von Anfang an in Stärke und Gesundheit. Ist sich ihrer offen bewußt, eben als eines Noch-Nicht-Bewußten, zeigt in ihrer Wachheit die Lust zu lernen, zeigt die Fähigkeit, im Vorhersehen sich umzusehen, Umsieht, ja Vorsieht in ihrer Vor-Sicht zu haben. Indem echte Ahnung mit Jugend, Zeitwende, Produktion beginnt, ist sie ohne weiteres in menschlichen Zuständen aufrechtester Art zu Hause, nicht in animalischen, gar parapsychischen. Die deutschen Bauern von 1525, die Massen der Französischen, der Russischen Revolution hatten neben den Parolen gewiß auch eine Art Triebbilder der Revolution; im »Ca ira« lag Peilung. Doch die Triebbilder waren angezogen und erhellt von einem wirklich zukünftigen Ort: vom Reich der Freiheit. Das sogenannte Vermögen, Todesfälle vorherzusehen oder auch gewinnende Lotterienummern, /(163) ist ersichtlich von weniger produktivem Rang. Eine der stärksten Somnambulen, die Seherin von Prevost, sagt in der Mitteilungen, die Justinus Kerner seinerzeit von ihr herausgab, (Reclam, S.274): »Mir ist die Welt ein Kreis, ich konnte in diesem Kreise vor- wie rückwärts und sehen, was war und was kam.« Die Romantik, auch Hegel, kannte und ehrte Ahnung einzig in diesem atavistischen, abergläubischen, heute gänzlich trivial gewordenen Sinn. Es ist nur Witterung da für eine alte Welt, worin das einzig Neue der Hahnenschrei ist, jener, der auf den Friedhof dringt und selber zum Spuk gehört. Bei keinem dieser kranken Zwerchfell-Propheten, von der Sibylle bis Nostra damus, steht begreiflicherweise, wenn sie «Zukunft« aussagen, ein Wort, das über die vorhandenen Bekanntheiten hinausginge und sie nicht etwa bloß umstellte. Wogegen etwa Bacon, kein Weissager, sondern ein überlegter Utopist, in seiner «Nova Atlantis« verblüffend echte Zukunft sah. Das allein auf Grund seiner sich durchaus bewußt machenden Witterung für die objektive Tendenz, objektiv-reale Möglichkeit seiner Zeit. Wird doch der Blick nach vorwärts gerade stärker, je heller er sich bewußt macht Der Traum in diesem Blick will durchaus klar, die Ahnung, als rechte, deutlich sein. Erst wenn Vernunft zu sprechen beginnt, fängt die Hoffnung, an der kein Falsch ist, wieder an zu blühen. Das Noch-Nicht-Bewußte selber muß seinem Akt nach bewußt, seinem Inhalt nach gewußt werden, als Aufdämmern hier, als Aufdämmerndes dort. Und der Punkt ist damit erreicht, wo gerade die Hoffnung, dieser eigentliche Erwartungsaffekt im Traum nach vorwärts, nicht mehr nur, wie im 3. Kapitel dargestellt, als bloße selbstzuständliche Gemütsbewegung auftritt, sondern bewußt-gewußt als utopische Funktion. Deren Inhalte repräsentieren sich zunächst in Vorstellungen, und zwar wesentlich in denen der Phantasie. In Phantasievorstellungen zum Unterschied von jenen erinnerten, die lediglich gewesene Wahrnehmungen reproduzieren und sich hierbei mehr und mehr ins Vergangene abschatten. Und auch die Phantasievorstellungen sind hier nicht solche, die sich aus Vorhandenem lediglich zusammensetzen, auf beliebige Weise (steinernes Meer, goldener Berg und dergleichen), sondern die Vorhandenes in die zukünftigen Möglichkeiten seines Anders- /(164) Seins, Besserseins antizipierend fortsetzen. Wonach sich die so bestimmte Phantasie der utopischen Funktion von bloßer Phantasterei eben dadurch unterscheidet, daß nur erstere ein NochNicht-Sein erwartbarer Art für sich hat, das heißt, nicht in einem Leer-Möglichen herumspielt und abirrt, sondern ein Real-Mögliches psychisch vorausnimmt. Zugleich gewinnt der so oft betonte Unterschied zwischen dem Wachtraum als reell möglicher Vorwegnahme dadurch neue Klarheit: die utopische Funktion ist im bloßen wishful thinking überhaupt nicht anwesend oder sie zuckt nur auf. Ibsen hat
in der Gestalt des Ulrich Brendel, in »Rosmersholm«, einen bloßen, also fruchtlosen Plänemacher ergreifend gezeichnet. Auf sehr viel tieferer Stufe, ganz und gar nicht ergreifend, gehört der Spiegelberg der »Räuber« zum utopisch-bramarbasierenden Gewerbe, auf unvergleichlich viel höherer Stufe gehört Marquis Posa dazu, auf Grund allzu großer, lediglich abstrakt-postulativer Reinheit. Pures wishful thinking diskreditierte seit alters die Utopien, sowohl politisch-praktisch wie in der ganzen übrigen Anmeldung von Wünschbarkeiten; gleich als wäre jede Utopie eine abstrakte. Und ohne Zweifel ist die utopische Funktion im abstrakten Utopisieren erst unreif vorhanden, das heißt, noch überwiegend ohne solides Subjekt dahinter und ohne Bezug aufs Real-Mögliche. Folglich ist sie leicht Abwegen verfallen, ohne Kontakt mit der wirklichen Tendenz nach vorwärts, ins Bessere. Doch mindestens ebenso verdächtig wie die Unreife (Schwärmerei) der unentwickelten utopischen Funktion ist die weit verbreitete und freilich ausgereifte Platitüde des Vorhandenheits-Philisters, des Empiristen mit den Brettern vorm Kopf, die nicht die Welt bedeuten, kurz, ist die Bundesgenossenschaft, worin der dicke Bourgeois wie der flache Praktizist das Antizipierende allemal, in Bausch und Bogen nicht nur verworfen, sondern verachtet haben. Ja die Bundesgenossenschaft - aus Abneigung gegen jeden Modus von Wünschbarkeiten, vorab gegen die vorwärtstreibenden - hat sich zuletzt sogar, konsequenterweise, um den - Nihilismus vermehrt. Wonach gerade dieser Anti-Utopisches von sich zu geben vermochte gleich folgendem: »Im Wunsch entwirft das Dasein sein Sein auf Möglichkeiten, die im Besorgen nicht nur unergriffen bleiben, sondern deren Erfüllung nicht /(165) einmal bedacht und erwartet wird (!). Im Gegenteil: die Vorherrschaft des Sich-vorweg-Seins im Modus des bloßen Wünschens bringt ein Unverständnis der faktischen Möglichkeiten mit sich... Das Wünschen ist eine existenziale Modifikation des verstehenden Sichentwerfens, das, der Geworfenheit verfallen, den Möglichkeiten lediglich noch nachhängt« (Heidegger, Sein und Zeit, 1927, S. 195). Dergleichen klingt, auf unreifes Antizipieren schlechthin angewandt, zweifellos so, als ob ein Eunuche dem kindlichen Herkules Impotenz vorwürfe. Es braucht nicht betont zu werden, daß der echte Kampf gegen das Unreife und Abstrakte, soweit es der utopischen Funktion anhing oder potentialiter noch anhängt, mit dem Bourgeois-»Realismus« nichts gemein hat und auch vor dem Praktizismus sich hütet. Sondern wichtig ist: der mit Hoffnung geladene, der phantasievolle Blick der utopischen Funktion wird nicht von der Froschperspektive her berichtigt, sondern einzig vom Reellen in der Antizipation selbst. Also von jenem einzig reellen Realismus her, der nur einer ist, weil er sich auf die Tendenz des Wirklichen versteht, auf die objektiv-reale Möglichkeit, der die Tendenz zugeordnet ist, mithin auf die selber utopischen, nämlich zukunfthaltigen Eigenschaften der Wirklichkeit. Und die so bezeichnete Reife der utopischen Funktion - von allen Abwegen unverführt - bezeichnet nicht zuletzt den Tendenzsinn des philosophischen Sozialismus, zum Unterschied vom schlechten »Tatsachensinn« des empiristisch abgeglittenen. Der Berührungspunkt zwischen Traum und Leben, ohne den der Traum nur abstrakte Utopie, das Leben aber nur Trivialität abgibt, ist gegeben in der auf die Füße gestellten utopischen Kapazität, die mit dem Real-Möglichen verbunden ist. Ja, die nicht nur in unserer Natur, sondern in der der gesamten äußeren Prozeßwelt das jeweils Vorhandene tendenzhaft übersteigt. Hier mithin wäre der nur scheinbar paradoxe Begriff eines Konkret-Utopischen am Platz, das heißt also, eines antizipatorischen, das keinesfalls mit abstrakt-utopischer Träumerei zusammenfällt, auch nicht durch die Unreife des bloß abstrakt-utopischen Sozialismus gerichtet ist. Es bezeichnet gerade die Macht und Wahrheit des Marxismus, daß er die Wolke in den Träumen
nach vorwärts vertrieben, aber die Feuersäule in ihnen nicht ausgelöscht, sondern durch Konkret- /(166) heit verstärkt hat. Solcherart mithin hat sich das BewußtseinGewußtsein der Erwartungsintention als Intelligenz der Hoffnung zu bewähren mitten im immanent aufsteigenden, materiell-dialektisch übersteigenden Licht. So auch ist die utopische Funktion die einzig transzendierende, die geblieben ist, und die einzige, die wert ist zu bleiben: eine transzendierende ohne Transzendenz. Ihr Halt und Korrelat ist der Prozeß, der seinen immanentesten Was-Inhalt noch nicht herausgegeben hat, der aber immer noch im Gang steht. Der folglich selber in Hoffnung steht und in objekthafter Ahnung des Noch-Nicht-Gewordenen als einem Noch-Nicht-Gutgewordenen. Bewußtsein der Front gibt dafür das beste Licht, utopische Funktion als begriffene Tätigkeit des Erwartungsaffekts, der Hoffnungs-Ahnung hält die Allianz mit allem noch Morgendlichen in der Welt. Utopische Funktion versteht so das Sprengende, weil sie es selber in sehr verdichteter Weise ist: ihre Ratio ist die ungeschwächte eines militanten Optimismus. Item: der Akt-Inhalt der Hoffnung ist als bewußt erhellter, gewußt erläuterter die positive utopische Funktion; der Geschichts-Inhalt der Hoffnung, in Vorstellungen zuerst repräsentiert, in Realurteilen enzyklopädisch erforscht, ist die menschliche Kultur bezogen auf ihren konkret-utopischen Horizont. An dieser Erkenntnis arbeitet, als Erwartungsaffekt in der Ratio, als Ratio im Erwartungsaffekt, das Kombinat Docta spes. Und in ihm überwiegt nicht mehr die Betrachtung, die seit alters nur auf Gewordenes bezogene, sondern die mitbeteiligte, mitarbeitende Prozeß-Haltung, der deshalb, seit Marx, das offene Werden methodisch nicht mehr verschlossen ist und das Novum nicht mehr materialfremd. Das Thema der Philosophie steht seitdem einzig auf dem Topos eines unabgeschlossenen gesetzmäßigen Werde-Felds im abbildend-eingreifenden Bewußtsein und in der Welt des Gewußtseins. Dieser Topos ist erst vom Marxismus mit Wissenschaft entdeckt worden - eben mit der Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft. /(167) Weiter utopische Funktion: das Subjekt in ihr und der Gegenzug gegen das schlecht Vorhandene Doch ohne Kraft eines Ich und Wir dahinter wird selbst das Hoffen fade. An der bewußt-gewußten Hoffnung ist nie Weiches, sondern ein Wille setzt in ihr: es soll so sein, es muß so werden. Energisch bricht darin der Wunsch- und Willenszug hervor, das Intensive im Überschreiten, in den Überholungen. Aufrechter Gang ist vorausgesetzt, ein Wille, der sich von keinem Gewordensein überstimmen läßt; er hat in diesem Aufrechten sein Reservat. Dieser eigentümliche Punkt, worauf das Subjekt stehen kann und von dem her es reagiert, ist abstrakt im stoischen Selbstbewußtsein so bezeichnet: wenn die Welt einstürzt, werden die Trümmer einen Unerschrockenen treffen. Der Punkt ist anders abstrakt, von nicht mehr tugendstolzen, sondern verstandesstolzen Voraussetzungen her, im transzendentalen Ego des deutschen Idealismus bezeichnet. Das Selbstbewußtsein ist darin zum Akt eines erkennenden Erzeugens übergegangen; ja bereits bei Descartes erscheint Erkenntnis streckenweise als Manufaktur, nämlich ihres Gegenstands. Die verstandesstolzen Voraussetzungen waren freilich heillos aufgebläht, mit dem Schein ihres absoluten Machens; der Verstand schreibt der Natur durchaus nicht ihre Gesetze vor. Auch ist die Welt dieses
erkenntnistheoretischen Idealismus keineswegs eine utopische; konträr: der Ehrgeiz des transzendentalen Ego war überwiegend der, gerade die vorhandene Gesetzeswelt, die Welt der mathematisch-naturwissenschaftlichen Erfahrung zu erzeugen. Trotzdem verstand das transzendentale Ego Kants und Fichtes über eine schlechte Vorhandenheit moralisch hinaus zu postulieren, wenn auch, der deutschen Misere entsprechend, nur auf inhaltlos-abstrakte Weise. Kant, der fast an keinem Punkt mit Neukantianismus verwechselt werden darf, baute wenigstens postulativ eine schönere Welt auf, nach Goethes Wort, eine der Willens-Spontaneität, die in der mechanistischen Vorhandenheits-Erfahrung nicht satt wurde, nicht unterging. So zeigt sich - durch Abstraktheit freilich durch und durch beschädigt - im stoischen Selbstbewußtsein und viel näher eben im deutschen Idealismus die Anzeigung des eigentümlichen Punkts, von dem /(168) her das Subjekt die Freiheit eines widersprechenden Gegenzugs gegen das schlecht Vorhandene sich vorbehält. Trotz der noch abstraktformalen Anzeigung eines solch subjektiven Faktors wurde dieser doch kenntlich gemacht; er stand damals philosophisch für den Citoyen. Derart hängt jede bürgerlich-revolutionäre Forderung in Deutschland, vom Sturm und Drang bis zum sogenannten Völkerfrühling von 1848, noch mit dem Ego des Idealismus zusammen. Indes real, nicht bloß im Kopf, auch völlig frei von heillos idealistischer Aufgeblähtheit, wurde ein subjektiver Faktor erst sozialistisch erfaßt, nämlich als proletarisches Klassenbewußtsein. Das Proletariat erfaßte sich als der selber aktiv widersprechende Widerspruch im Kapitalismus, als derjenige mithin, der dem schlecht Gewordenen am meisten zu schaffen macht. Ebenso real hat sich der subjektive Faktor - gegen alle Abstraktheit und die ihr entsprechende uferlose Spontaneität des Bewußtseins - mit dem objektiven Faktor der gesellschaftlichen Tendenz, des Real-Möglichen vermittelt. So wurde die Tätigkeit des Besserwissens zu jenem Mehr, das den begonnenen Weg der Welt, ihren »Traum von der Sache«, wie Marx sagt, mit Bewußtsein fortsetzt, lenkt und humanisiert. Dazu reicht der objektive Faktor allein nicht aus, vielmehr rufen die objektiven Widersprüche die Wechselwirkung mit dem subjektiven Widerspruch dauernd auf. Sonst entsteht die letzthin defaitistische Irrlehre eines objektivistischen Automatismus, wonach die objektiven Widersprüche allein ausreichen, um die von ihnen durchsetzte Welt zu revolutionieren. Beide Faktoren, der subjektive wie der objektive, müssen vielmehr in ihrer beständigen dialektischen Wechselwirkung begriffen werden, in einer unteilbaren, unisolierbaren. Wobei gewiß auch der menschliche Aktionsteil vor Isolierung bewahrt sein muß, vor dem üblen putschistischen Aktivismus an sich, der los saust und dessen zu subjektiver Faktor die objektiv-ökonomische Gesetzmäßigkeit überschlagen zu können glaubt. Doch nicht minder schädlich ist der sozialdemokratische Automatismus an sich, als Aberglaube an eine Welt, die von selber gut wird. Es ist also unmöglich, ohne subjektiven Faktor auszukommen, und es ist ebenso unmöglich, die Tiefendimension dieses Faktors zu unterschlagen, eben die des Gegenzugs gegen das schlecht Vorhandene, als Mobilisie- /(169) rung der im schlecht Vorhandenen selber auftretenden Widersprüche zu dessen völliger Unterhöhlung, zu dessen Einsturz. Die Tiefendimension des subjektiven Faktors ist aber ebendeshalb in seinem Gegenzug, weil dieser nicht nur negativ ist, sondern genauso das Andrängen einer antizipierbaren Gelungenheit in sich enthält und dieses Andrängen in der utopischen Funktion vertritt. Die Frage ist nun, ob und wieweit sieh der vorwegnehmende Gegenzug mit einem bloß verschönernden berührt. Besonders dann, wenn das bloß Verschönernde, obwohl es durchaus überleuchtet, über die Hälfte gar keinen
Gegenzug, sondern ein bloßes bedenkliches Polieren des Vorhandenen in sich hat. Und das mit keineswegs revolutionärem Auftrag dahinter, sondern mit apologetischem, mit einem also, der das Subjekt mit dem Vorhandenen versöhnen soll. Diese Absicht erfüllt vor allem die Ideologie in den nicht mehr revolutionären, obzwar noch aufsteigenden, weil die Entwicklung der Produktivkräfte noch fördernden Zeiten einer Klassengesellschaft. Das Überleuchten des Vorhandenen geschieht dann als täuschende, bestenfalls verfrühte Harmonisierung, und es ist umgeben von lauter Rauch oder Weihrauch des falschen Bewußtseins. (Die faule Ideologie in den absinkenden Zeiten einer Klassengesellschaft, besonders also die des Spätbürgertums von heute, gehört freilich überhaupt nicht hierher; denn sie ist bereits gewußtes falsches Bewußtsein, mithin Betrug.) Weiterhin aber gibt es in der Ideologie gewisse Verdichtungs-, Vervollkommnungs- und Bedeutungsfiguren des Vorhandenen, die, wenn überwiegend auf Verdichtung bezogen, als Archetypen, wenn überwiegend auf Vervollkommnung bezogen, als Ideale, wenn überwiegend auf Bedeutung bezogen, als Allegorien und Symbole bekannt sind. Die in alledem, auf so verschiedene Weise, intendierte Verschönerung des Vorhandenen ist immerhin keine des Schlecht-Vorhandenen, und sie will von letzterem nicht bewußt, also betrügerisch ablenken. Vielmehr wird hier das Vorhandene ergänzt, zwar auf weitgehend idealistisch-abstrakte Weise und allemal auf keine dialektisch sprengende und reale, jedoch so, daß eine eigentümliche, eine uneigentliche Antizipation des Besseren nicht fehlt: eine Antizipation gleichsam im Raum, nicht oder nur uneigentlich /(170) in Zukunft und Zeit. Und nun ist die Frage konkreter geworden: ob und wieweit sich der vorwegnehmende Gegenzug mit einem bloß verschönernden berührt. Denn in Ideologie, anders in Archetypen, anders in Idealen, anders in Allegorien und Symbolen liegt zwar kein Gegenzug vor, wohl aber ein Übersteigen des Vorhandenen durch seine verschönernde, verdichtende, vervollkommnende oder bedeutungshafte Übersteigerung. Und diese wiederum ist nicht möglich ohne eine verzerrte oder versetzte utopische Funktion, genauso, wie sie ohne einen ungeregelt gesehenen »Traum von einer Sache« am vorderen Rand des Vorhandenen nicht möglich ist. Dann muß aber auch die originale und konkret gehaltene utopische Funktion in diesen uneigentlichen Verbesserungen wenigstens streckenweise entdeckbar sein, müssen die nicht gänzlich heillosen Verzerrungen und Abstraktheiten konfrontierbar sein. Die jeweiligen Produktionsverhältnisse erklären, wieso es zu den jeweiligen Ideologien und anderen uneigentlichen Verbesserungen gekommen ist, aber die jeweiligen Verwirrungen am Humanum der jeweiligen Produktionsverhältnisse machten eine Anleihe bei der utopischen Funktion notwendig, um die angegebenen Ergänzungen mit ihrem kulturellen Überschuß überhaupt bilden zu können. Die Ideologien als die herrschenden Gedanken einer Zeit sind, nach dem schlagenden Marxsatz, die Gedanken der herrschenden Klasse; da aber auch diese eine selbstentfremdete ist, kam auch in die Ideologien außer dem Interesse, das eigene Klassenwohl als das der Menschheit überhaupt hinzustellen, jenes Vermissungs- und Überholungsbild einer Welt ohne Entfremdung, das vor allem im Bürgertum Kultur heißt und das die utopische Funktion zum Teil auch in jener Klasse am Werk zeigte, die sonst in ihrer Entfremdung sich wohlfühlte. Es ist selbstverständlich, daß diese Funktion erst recht, ja fast ganz die noch revolutionären Ideologien solcher Klassen belebt hat. Ohne die utopische Funktion ist überhaupt kein geistiger Überschuß übers jeweils Erreichte und so Vorhandene erklärbar, sei dieser Überschuß auch noch so voll von Schein statt von Vor-Schein. Darum weist sich vor der utopischen Funktion jedes Antizipieren aus, und sie beschlagnahmt in dessen Überschuß jeden möglichen
Gehalt. Auch denjenigen, wie zu zeigen sein wird, im fort- /(171) schrittlich gewesenen Interesse, in Ideologien, die mit ihrer Gesellschaft nicht ganz vergangen sind, in Archetypen, die noch verkapselt, in Idealen, die noch abstrakt, in Allegorien und Symbolen, die noch statisch sind. Berührung der utopischen Funktion mit Interesse Ein kühler Blick bewährt sich nicht darin, daß er untertreibt. Sondern er will richtigstellen und kann es, will nicht selber das Maß verlieren. Er löst die trügenden Gefühle und Worte auf, will Ich, Streben, Antrieb nackt sehen, aber freilich nicht zerschnitten und halbiert. Gewiß, zum rein Niederträchtigen ist der wirtschaftliche Antrieb im heutigen Geschäftsleben gelangt, im durchwegs vergaunerten, und ganz daran ist nur die schonungslose Gemeinheit. Die Gier nach Profit überschattet hier sämtliche menschlichen Regungen, hat sie doch nicht einmal, wie die Mordlust, Pausen. Und ebenso steht fest: auch in früheren, vergleichsweise ehrlicheren Zeiten des Kapitals setzte sich das Profitinteresse nicht eben aus den edelsten menschlichen Antrieben zusammen. Bei Strafe des Untergangs war stets mächtige Selbstsucht im Wirtschaftskampf tätig. Hätte diese Triebfeder nachgelassen, wären altruistische Motive an ihre Stelle getreten, so hätte, wie Mandevilles Bienenfabel so zynisch-wahrhaft zeigte, das ganze kapitalistische Getriebe stillgestanden. Und doch: wäre es nicht häufig wenigstens gebremst gewesen, bei einer ziemlichen Mehrzahl der damaligen Unternehmer, wenn sich der egoistische Antrieb als dermaßen nackt gegeben hätte? Wenn er nicht auch sich selber, rein inwendig also und verschieden von bewußter Roheit, ein Edleres, Gemeinsameres vorgemacht, ja subjektiv nicht ganz unecht vorgeträumt hätte? Darum kann über den künstlichen Bienen der Zustand der wirklichen Egoisten von damals nicht übersehen werden, als ein Zustand, der sich auch altruistisehe Ausreden und Einreden machen mußte, um auf honorige, scheinend menschenfreundliche Weise den sogenannten redlichen Profit zu machen. Derart kamen bei Adam Smith in das selfish system deutlich Züge eines auch inwendig falschen Bewußtseins; und sie waren nicht, wie calvinistisch so oft, gerissen und zerrissen, sondern subjektiv ehrlich /(172) und geglättet. Es waren Züge der Überzeugung, des guten Gewissens, des ehrbaren Kaufmanns und Unternehmers, wie er tatsächlich an redlichen Gewinn glaubte, wie er vor allem, im Spiel von Angebot und Nachfrage, sich als eine Art Wohltäter der Konsumenten fühlte. Der zahlungskräftigen, wie sich von selbst versteht, jener also, an denen der von den Arbeitern erpreßte Mehrwert durch Verkauf des Arbeitsprodukts zu Geld gemacht werden kann. Jedoch das gute Gewissen machte sich dadurch stark, daß sich das kapitalistische Interesse dauernd auf das des Verbrauchers, auf dessen Befriedigung beziehen sollte. Das gute Gewissen des wechselseitigen Vorteils wurde noch dadurch geschönt, daß alle Menschen als wachsend austauschkräftige Freihändler angesehen waren, deren wohlverstandener Eigennutz sich in dem dergestalt hergestellten Gesamtnutzen ausglich. Mit alldem erschien die kapitalistische Wirtschaft als die endlich entdeckte einzig natürliche, der Smith seinen vollkommenen Beifall so umständlich wie - utopisch aussprach. Das Interesse selbst also wurde utopisch beeinflußt, vielmehr das falsche Bewußtsein von ihm, das aber ein durchaus aktives war. Ohne dieses Verschönern wäre die Ausbeutung bei den großen Bestien, den bürgerlich-sittlich ganz unbeschwerten, zweifellos ebenso vorangegangen, die Herren der Ostindischen Gesellschaft führten keinen Anteil einer utopischen Funktion in ihrem Geschäft, er hätte nur geschadet.
Aber der durchschnittliche Geschäftsmann der Manufaktur, auch der beginnenden industriellen Umwälzung, brauchte und pflegte noch einen Glauben ans größtmögliche Glück der größten Zahl, er brauchte ihn als Verbindung zwischen seinen egoistischen Antrieben und den vorgemachten, vorgeträumten, bei Smith eigens notierten wohlwollenden. Das desto mehr, als die zynische Selbstsucht dem Adel zugeschrieben wurde, vorab den Wüstlingen unter ihm (vergleiche die gleichzeitigen Romane Richardsons). Wogegen der aufsteigende Bürger die »Tugend« brauchte, um desto eifriger an anderen so zu verdienen, als verdiente er für diese anderen. Und als es gar zum letzten Kampf gegen die feudalen Hemmnisse ging, mußte der Bourgeois, eine wenig heroische Klasse, sich besonders stark utopisch aufpulvern. Er hätte sonst nicht selber gekämpft, was doch zum Teil der Fall war, sondern aus- /(174) schließlich die Männer aus der Vorstadt für sich kämpfen lassen. Er hätte sonst nicht gutgläubig die Gracchen und den Brutus sich verwandt gefühlt, was doch wieder zum Teil der Fall war, während der Brautzeit der bürgerlichen Freiheit von 1789. Die aufsteigende, ökonomisch fällige Klasse benötigte also auch inwendig eine weitausgreifende Leidenschaft im damaligen Gewirre der Gefühle, um, wie Marx sagt, »den bürgerlich beschränkten Inhalt ihrer Kämpfe sich selbst zu verbergen«. Hier war Selbsttäuschung durchaus, der privatwirtschaftliche Mensch der Menschenrechte, die Abstraktheit des Citoyen als moralischer Person wurden nicht durchschaut, konnten damals noch nicht durchschaut werden. Dennoch zeigte diese Art Selbsttäuschung eben auch ein Vorwegnehmendes, sie zeigte sogar besonders humane Züge, obzwar abstrakt ausgedrückte, abstrakt-utopisch eingesetzte. Und sogar: an deren Interesse war nicht alles Täuschung; sonst könnte man sich sozialistisch nicht auf den doch nicht nur privatwirtschaftlich abgezielten Menschen der Menschenrechte, gar auf den Citoyen beziehen. Was der Citoyen versprach, dieses Versprechen läßt sich gewiß erst sozialistisch halten. Immerhin, es läßt sich halten, also war damals ein utopisch beigesteuerter Überschuß im bürgerlichen Streben selber. Die gesellschaftliche Gesinnung, die sich im Citoyen moralisch abstrahiert, das heißt, von den wirklichen individuellen Menschen weggehoben hatte, muß mit deren eigenen Kräften, als nicht mehr bürgerlich-individualistischen, erst vereinigt werden. Immerhin, diese Gesinnung, damals »Tugend« genannt, war doch vorhanden, sie war dieses Falles als eine nicht nur aufpulvernde, sondern auch überschußhafte vorhanden; wie ließe sich sonst, von den echten Jakobinern abgesehen, noch ein Jefferson ehren? Also konnte bereits im Antrieb, wenn er ein zu seiner Zeit fortschrittlicher war, ein anderer, haltbarer Zug wirken, ein über den unmittelbar zu befördernden Fortschritt hinausgehender. Er ist moralisch beerbbar, in gleicher Weise, wie der gestaltete, der zu Werken gewordene Überschuß im eigentlich ideologischen Bewußtsein kulturell beerbhar ist. Gutes, ja das Beste war schon mehrmals in der Vergangenheit gewollt und blieb nur überwiegend dabei. Gerade aber weil dieses Wollen ein nicht anlangendes war, zieht es in dem, worin es mit dem /(174) fällig Erreichbaren, hier also mit der kapitalistischen Gesellschaft, nicht zusammenfällt, weiter mit im Gang der Befreiung. Utopische Funktion entreißt diesen Teil der Täuschung; sie bewirkt derart, daß alles je Menschenfreundliche sich wachsend miteinander verwandt fühlt. Begegnung der utopischen Funktion mit Ideologie Ein scharfer Blick bewährt sich nicht bloß darin, daß er durchschaut. Sondern ebenso in der Weise, daß er nicht jedes als so klar wie Wasser sieht. Indem eben
nicht alles so fertig klar ist, sondern zuweilen ein Gären, Sich-Bilden vorliegt, dem gerade der scharfe Blick gerecht wird. Am breitesten wie gemischtesten erscheint dieses Unabgeschlossene in der Ideologie, sofern sie mit der bloßen Bindung an ihre Zeit nicht erschöpft ist. Und auch nicht mit dem bloßen falschen Bewußtsein über ihre Zeit, das alle bisherigen Kulturen begleitet hat. Gewiß, die Ideologie selber stammt aus der Arbeitsteilung, aus der nach der Urkommune eingetretenen Trennung zwischen materieller und geistiger Arbeit. Erst von da ab konnte eine Gruppe, die die Muße zu Vorstellungen hatte, mittels dieser sich und vorab andere täuschen. Da also Ideologien von Haus aus immer solche der herrschenden Klasse sind, so rechtfertigen sie den bestehenden gesellschaftlichen Zustand, indem sie dessen ökonomische Wurzel verleugnen, die Ausbeutung verschleiern. Das ist das Bild in allen Klassengesellschaften, am deutlichsten in der des Bürgertums. Hierbei gibt es allerdings in der ideologischen Bildung dieser Gesellschaften drei Phasen mit sehr verschiedenem Wertrang, mit verschiedenem Auftrag an den geistig allzu geistigen Überbau: die vorbereitende, die siegreiche, die absteigende. Die vorbereitende Phase einer Ideologie hilft dem eigenen, noch nicht gefestigten Unterbau, indem sie dem morschen Überbau der bisher herrschenden Klasse ihren frisch fortschrittlichen entgegensetzt. Die selber dann zur Herrschaft gelangte Klasse setzt die zweite ideologische Phase, indem sie - unter Weglassung, streckenweise auch mehr oder minder klassischer »Equilibrierung« vorhergegangener revolutionärer Antriebe - den eigenen, unterdes zur Existenz gekommenen Unterbau sichert, politisch- /(175) juristisch fixiert, politisch-juristisch-kulturell überschönt. Sicherung wie Verschönerung werden unterstützt durch eine erlangte, obzwar nur temporäre Harmonie zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen. Die absteigende Klasse setzt danach die dritte ideologische Phase, indem sie - bei fast völlig verschwindender Gutgläubigkeit des falschen Bewußtseins, also mit fast gänzlich bewußtem Betrug - die Fäulnis des Unterbaus parfümiert, auch die Nacht zum Tag, den Tag zur Nacht phosphoreszierend umtauft. Gewiß also wird in der Klassengesellschaft der ökonomische Unterbau vom Nebel eines interessiert falschen Bewußtseins zugedeckt, gleichviel noch, ob dessen Illusion als feurig, klassisch oder dekadent, als Aufstieg, Blüte oder geschminkte Verwendung sich inhaltlich gliedert. Kurz, da keine Ausbeutung sich nackt darf sehen lassen, so ist Ideologie nach dieser Seite die Summe der Vorstellungen, worin sich eine Gesellschaft mit Hilfe des falschen Bewußtseins jeweils gerechtfertigt und verklärt hat. Nun aber: wann immer Kultur gedacht wird, erscheint dann nicht - bereits in der moralisch und inhaltlich so verschiedenen Beschaffenheit der drei Phasen erkennbar noch eine andere Seite der Ideologie? Es ist eben die mit bloß falschem Bewußtsein und mit der Apologetik einer bloßen, historisch abgetanen Klassengesellschaft nicht im ganzen Umfang zusammenfallende. Nach der kritischen Seite sagt Marx in der »Heiligen Familie« schlagend: »Die >Idee< blamierte sich immer, soweit sie von dem >Interesse< verschieden war», und knüpft mit diesem Satz an die begonnene Selbstdurchschauung der bürgerlichen Gesellschaft im französischen Materialismus an, die bei Labruyèe, Larochefoucauld, besonders bei Helvétins erst erkennen ließ, das wohlverstandene persönliche Interesse sei die Grundlage all dieser Moral. Aber Marx fährt ebenso an gleicher Stelle fort: »Andererseits ist es leicht zu begreifen, daß jedes massenhafte, geschichtlich sich durchsetzende >InteresseIdee< oder >Vorstellung< weit über seine wirklichen Gedanken hinausgeht und sich mit dem menschlichen Interesse schlechthin verwechselt.« Dadurch entsteht Illusion oder das, »was Fourier den Ton jeder Geschichtsepoche nennt»; indem jedoch die so beschaffene Illusion, außer
den enthusiastischen Blumen, womit eine Gesellschaft ihre /(176) Wiege bekränzte, gegebenenfalls auch jene Kunstgebilde enthält, die, wie Marx in der »Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie« an den Griechen erinnert, »in gewisser Beziehung als Norm und unerreichbare Muster gelten«, ist eben das Ideologieproblem nach Seite des kulturellen Erbproblems betreten, des Problems, wieso Werke des Überbaus auch nach Wegfall ihrer gesellschaftlichen Grundlagen im Kulturbewußtsein sich fortschreitend reproduzieren. Gerade der inhaltliche Unterschied der drei Phasen ist hier nicht unterschlagbar, auch dann nicht, wenn das fortwirkende Tua res agitur keinesfalls auf die aufsteigende, die revolutionäre Epoche einer der bisherigen Klassengesellschaften beschränkt wird. Ja gerade dann wird das eigentliche, hier gemeinte, auf der anderen Seite wohnende Phänomen: kultureller Überschuß erst recht sichtbar. Denn dieses Phänomen, als das der ausgebildeten und ebenso zukunftweisenden Kunst, Wissenschaft, Philosophie, tritt uns in der klassischen Epoche einer Gesellschaft viel reicher entgegen als in ihrer revolutionären, wo freilich der unmittelbar-utopische Impetus gegen das Vorhandene, über das Vorhandene hinaus stärker ist. Und die Blüten der Kunst, Wissenschaft, Philosophie bezeichnen allemal noch mehr als das falsche Bewußtsein, das eine Gesellschaft jeweils über sich selber hatte und zu ihrer Verschönerung standortgebunden verwandte. Vielmehr lassen sich diese Blüten durchaus von ihrem ersten gesellschaftlichhistorischen Boden wegheben, indem sie selber, ihrer Essenz nach, an ihn nicht gebunden sind. Die Akropolis gehört zwar zur Sklavenhaltergesellschaft, das Straßburger Münster zur Feudalgesellschaft, dennoch sind sie mit dieser ihrer Basis bekanntlich nicht vergangen und führen, anders als die Basis, anders als die damaligen, wenn auch noch so progressiv gewesenen Produktionsverhältnisse, nichts Beklagenswertes mit sich. Die großen philosophischenWerke enthalten zwar, infolge der jeweiligen gesellschaftlichen Schranke des Erkennens, mehr Zeitgebundenes und so Vergängliches, jedoch zeigen auch sie, gerade sie wegen der Höhe des Bewußtseins, das sie auszeichnet und das weit in Künftiges, Wesentliches hineinblicken läßt, jene echte Klassik, die nicht aus Abrundung besteht, sondern aus ewiger Jugend, mit immer neuen Perspektiven in ihr. Nur die Schein- /(177) probleme und die Ideologie an Ort und Stelle sind beim Symposion, der Ethica, gar der Phänomenologie des Geistes niedergesunken und abgetan, dagegen der Eros, die Substanz, die Substanz als Subjekt stehen mitten in allen Veränderungen als Variationen des Ziels. Kurz, die großen Werke sind nicht mangelhaft wie zur Zeit ihres ersten Tags und auch nicht herrlich wie am ersten Tag: sie streifen vielmehr ihren Mangel wie ihre erste Herrlichkeit ab, indem sie einer späteren, ja einer intendierbar letzten fähig sind. Das Klassische in jeder Klassik steht vor jeder Zeit genauso als revolutionäre Romantik da, nämlich als vorwärts weisende Aufgabe und als Lösung, die aus der Zukunft, nicht aus der Vergangenheit entgegenkommt und selber noch voll Zukunft spricht, anspricht, weiterruft. Das aber, samt Bescheidenerem, ist nur deshalb der Fall, weil Ideologien nach dieser Seite mit dem falschen Bewußtsein ihrer Basis und auch mit der aktiven Arbeit für ihre jeweilige Basis nicht erschöpft sind. Keine Suche nach dem Überschuß ist möglich im falschen Bewußtsein selbst, wie es die Ideologie der Klassengesellschaften getragen hat, und keine ist notwendig in der Ideologie der sozialistischen Revolution, an der überhaupt kein falsches Bewußtsein teilnimmt. Der Sozialismus als Ideologie des revolutionären Proletariats ist überhaupt nur wahres Bewußtsein, bezogen auf die begriffene Bewegung und die ergriffene Tendenz der Wirklichkeit. Wohl aber gilt für das Verhältnis dieser wahren Ideologie zum Vorwegnehmenden im falschen, darin nicht nur falschen Bewußtsein der
früheren dieser Marxsatz (an Ruge, 1843):»Unser Wahlspruch muß also sein: Reform des Bewußtseins nicht durch Dogmen, sondern durch Analysierung des mystischen, sich selbst noch unklaren Bewußtseins. Es wird sich dann zeigen, daß die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewußtsein besitzen muß, um sie wirklich zu besitzen. Es wird sich zeigen, daß es sich nicht um einen großen Gedankenstrich zwischen Vergangenheit und Zukunft handelt, sondern um die Vollziehung der Gedanken der Vergangenheit.« Auch die Klassenideologien, worin die Großwerke der Vergangenheit stehen, führen genau auf jenen Überschuß über das standortgebundene falsche Bewußtsein, der fortwirkende Kultur heißt, also Substrat des antretbaren Kulturerbes /(178) ist. Und es erhellt nun: eben dieser Überschuß wird erzeugt durch nichts anderes als durch die Wirkung der utopischen Funktion in den ideologischen Gebilden der kulturellen Seite. Ja, falsches Bewußtsein allein wäre noch nicht einmal ausreichend, um die ideologische Einhüllung so, wie es geschah, zu vergolden. Es allein wäre außerstande, eines der wichtigsten Merkmale der Ideologie herzustellen, nämlich verfrühte Harmonisierung der gesellschaftlichen Widersprüche. Wie viel weniger erst ist Ideologie als Medium fortwirkenden Kultursubstrats ohne ihre Begegnung mit utopischer Funktion begreifbar. All das überschreitet ersichtlich sowohl das falsche Bewußtsein wie die Kräftigung, gar bloße Apologetik des jeweiligen gesellschaftlichen Unterbaus. Item: ohne utopische Funktion hätten es die Klassenideologien nur zur vergänglichen Täuschung gebracht, nicht zu den Mustern in Kunst, Wissenschaft, Philosophie. Und es ist eben dieser Überschuß, der das Substrat des Kulturerbes bildet und hält, als jener Morgen, der nicht nur in den Frühzeiten, sondern höher auch im vollen Tag einer Gesellschaft enthalten ist, ja streckenweise sogar im Zwielicht ihres Untergangs. Alle bisherige große Kultur ist Vor-Schein eines Gelungenen, sofern er immerhin in Bildern und Gedanken auf der fernsichtreichen Höhe der Zeit, also nicht nur in und für seine Zeit, angebaut werden konnte. Kein Zweifel, der Traum vom besseren Leben wird durch all das sehr breit wahrgenommen. Oder, was dasselbe bedeutet, Utopisches wird außer dem üblichen rein abwertenden Sinn nicht nur in dem angegeben antizipatorischen Sinn gebraucht, sondern - als Funktion - auch in einem umfassenden. So zeigt sich: die Breiten- und Tiefenerstreckung des Utopischen ist zunächst schon in historischem Betracht nicht auf seine populärste Erscheinung: die Staatsutopie beschränkt. Sinngemäß reicht der Traum vom besseren Leben weit über sein sozial-utopisches Stammhaus hinaus, nämlich in jede Art von kultureller Antizipation. Jeder Plan und jedes Gebilde, das an die Grenzen seiner Vollkommenheit getrieben worden ist, hatte Utopie berührt und gab, wie angegeben, gerade den großen, den immer weiter progressiv wirkenden Kulturwerken einen Überschuß über ihre bloße Ideologie an Ort und Stelle, mithin nichts Ge- /(179) ringeres als das Substrat des Kulturerbes. Die Erweiterung einer bisher so beschränkt aufgefaßten Antizipationsmacht wurde in Ernst Blochs »Geist der Utopie«, 1918, begonnen, und zwar an Zeugen, Ornamenten und Figuren, die bisher gänzlich außerhalb eines Noch-Nicht-Gekommenen in der Wirklichkeit behandelt worden waren, obwohl sie diesem doch zugehören und mit seiner Artikulierung beschäftigt sind. Der parasitäre Kulturgenuß erlangt durch die Einsicht in die immer adäquatere Richtung zu unserem Identischwerden und durch die Verpflichtung hierzu ein Ende; Kulturwerke gehen strategisch auf. Die Frage bleibt nun allerdings, ob und wieweit Ausdruck und Angriff Utopie ohne überflüssiges Mißverständnis auch auf Intentionen und Interesse übertragen werden können oder sollen, die keinesfalls solche der Vergangenheit
sind. Sondern die völlig gegenwärtig-neu innerhalb der geschehenen Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft liegen. Zwar kennt die Geschichte der Terminologie mehrere solcher Erweiterungen eines vorigen Wortsinns, unter teilweisem Abzug der negativen Bedeutungen, die an ihm hafteten; das Wort romantisch etwa gehört hierher. Eine noch viel größere Differenzierung wurde zwischen den Bedeutungen des Begriffs Ideologie selber vorgenommen; Lenin hat auf Grund dieser Differenzierung den Sozialismus die Ideologie des revolutionären Proletariats zu nennen vermocht. Und trotzdem ist noch allermeist die Antizipationsmacht, mit ihrem offenen Raum und ihrem zu realisierenden, sich realisierenden Gegenstand nach vorwärts, die oben - zum Unterschied vom Utopistischen und von bloß abstraktem Utopisieren - konkrete Utopie genannt worden ist, ganz außerhalb der terminologischen Berichtigung und Erweiterung geblieben, wie sie etwa das Romantische in der »revolutionären Romantik«, das Ideologische in der »sozialistischen Ideologie« erfahren hat. Obwohl doch vor allem in den Gebieten der technischen, architektonischen oder geographischen Utopien, aber auch aller derer, die zuletzt um das »Überhaupt«, das »Eigentliche« unseres Wollens kreisten und kreisen, sachlich und daher begriffsgerecht die Kategorie: utopische Funktion regierend ist. Wohlverstanden: mit Kenntnis und unter Abzug des erledigt Utopistischen, mit Kenntnis und unter Abzug /(180) der abstrakten Utopie. Was dann aber bleibt: der unerledigte Traum nach vorwärts, die nur vom Bourgeois zu diskreditierende docta spes, - das kann in wohldurchdachtem und wohlangewandtem Unterschied zum Utopismus mit Ernst Utopie heißen; in seiner Kürze und neuen Schärfe bedeutet dieser Ausdruck dann das Gleiche wie: methodisches Organ fürs Neue, objektiver Aggregatzustand des Heraufkommenden. Also haben auch alle großen Kulturwerke implicite, obzwar nicht immer (wie in Goethes Faust) explicite einen dermaßen verstandenen utopischen Hintergrund. Sie sind nun, vom philosophischen Utopiebegriff her, kein Ideologiespaß höherer Art, sondern versuchter Weg und Inhalt gewußter Hoffnung. Nur so holt Utopie das Ihre aus den Ideologien und erklärt das Progressive historisch weiterwirkender Art in den Großwerken der Ideologie selbst. Geist der Utopie ist im letzten Prädikat jeder großen Aussage, im Straßburger Münster und in der Göttlichen Komödie, in der Erwartungsmusik Beethovens und in den Latenzen der h-Moll-Messe. Er ist in der Verzweiflung, die ein Unum necessarium noch als Verlorenes innehat, und im Hymnus an die Freude. Kyrie wie Credo gehen im Begriff der Utopie als dem der begriffenen Hoffnung auf ganz andere Art auf, auch wenn der Reflex bloßer zeitgebundener Ideologie von ihnen weg ist, eben dann. Exakte Phantasie des Noch-Nicht-Bewußten ergänzt derart gerade die kritische Aufklärung, indem sie das Gold sehen läßt, das vom Scheidewasser nicht angegriffen wurde, und den guten Inhalt, der gültigst übrigbleibt, ja aufsteigt, wenn Klassenillusion, Klassenideologie vernichtet worden sind. So hat Kultur hinter dem Ende der Klassenideologien, denen sie bisher bloße Dekoration sein konnte, keinen anderen Verlust als den des Dekorationswesens selbst, der falsch abschließenden Harmonisierung. Utopische Funktion entreißt die Angelegenheiten der menschlichen Kultur solchem Faulbett bloßer Kontemplation. sie öffnet derart, auf wirklich gewonnenen Gipfeln, die ideologisch unverstellte Aussieht auf den menschlichen Hoffnungsinhalt. /(181) Begegnung der utopischen Funktion mit Archetypen Ein tiefer Blick bewährt sich darin, daß er doppelt abgründig wird. Nicht nur nach
unten, was die leichtere, die mehr buchstäbliche Art ist, in den Grund zu gehen. Sondern eben, es gibt auch eine Tiefe nach oben und vorwärts, diese nimmt Abgründiges von unten in sich auf. Zurück und vorwärts sind dann wie in der Bewegung eines Rades, das zugleich eintaucht und schöpft. Wirkliche Tiefe geschieht allemal in doppelsinniger Bewegung: »Versinke denn! Ich könnt' auch sagen steige! ‘s ist einerlei«, ruft Mephisto Faust zu. Er ruft es sogar dort, wo ein Ergötzen an längst nicht mehr Vorhandenem angehen soll, an Helena. Und nicht nur Mephisto ruft das, als Intrigant der gefährliche Herr doppelsinniger Bedeutungen, es ruft durch Mephisto eine doppelte Bedeutung selber: die der ebenso archaischen wie utopischen Bildbeziehungen. So hat utopische Funktion sehr oft doppelten Abgrund, den der Versenkung mitten in dem der Hoffnung. Was aber nur heißen kann: hier ist der Hoffnung in dem archaischen Rahmen streckenweise vorgearbeitet. Genauer: in jenen immer noch Betroffenheit erregenden Archetypen, die aus der Zeit eines mythischen Bewußtseins als Kategorien der Phantasie, folglich mit einem unaufgearbeiteten nichtmythischen Überschuß gegebenenfalls übriggeblieben sind. Die Hoffnung hat folglich außer weiter-bedeutenden Ideologien auch jene Archetypen, in denen noch Unausgearbeitetes umgeht, utopisch zu besorgen. Hat sie derart zur Utopie zu schlagen wie, mutatis mutandis, bedeutendfortschreitende Ideologie zu ihr geschlagen wird. Klar hierbei, daß das nicht nur von unten, vom Versinken, sondern wesentlich von oben, vom Überblick des Steigens, vollziehbar ist. Denn immer wieder steht fest: das ausschließlich nach unten Verdrängte, unterbewußt Findbare ist an sich nur der Boden, aus dem die Nachtträume hervorgehen und zuweilen das Gift, das die neurotischen Symptome erregt: dieses Unten kann weithin ins Bekannte aufgelöst werden, ist nicht aufsteigende Dämmerung nach vorwärts, hat also eine im Grund nur langweilige Latenz. Das Erhofft-Erahnte dagegen enthält den möglichen Schatz, woraus die großen Tagphantasien stammen, die durch lange Zeit unveraltbaren; dieses Vorwärts und Oben /(182) kann nirgends ins bereits Bekannte und Gewordene aufgelöst werden, hat also eine im Grund unerschöpfliche Latenz. Sieht Faust, mit dem Zaubertrank der Jugend, Helena in jedem Weibe, so bewegt sich hier der Schönheits-Archetyp Helena gänzlich aus dem Archaischen hervor; er bewegt sich bereits im Archaischen empor. Aber: er kann nur vom utopischen Standpunkt her berufen werden, und nur vom Überblick des Steigens her, nicht in purer Versenkung, wird wahlverwandt Utopisches an Archetypen gegebenenfalls sichtbar. Was im Orkus des Gewesenen noch Eurydike ist, die selber nicht ausgelebte, das findet nur Orpheus, und nur für ihn ist es Eurydike. Einzig dies Utopische an einigen Archetypen ermöglicht deren fruchtbare Zitierung, vorwärts, nicht rückwärts blickend; wie das bereits beim scheinbaren Ineinander der Traumspiele erschienen ist und bei der Auflösung dieses Scheins. Alle derartigen Rationalismen an den Müttern, als noch gebärenden, zeigen ein von der Utopie her einfallendes Licht, selbst in der Romantik mit der sehnsüchtigen Gräber- und Unterwelt-Lampe. Das eigentümlich Brütende in Archetypen, gerade dieses, zeigt ihre Unfertigkeit; aber die Wärme, die das Reifegeschäft zustande bringt, sitzt nicht in der Regressio. Die Archetypen selbst wurden oben bereits erwähnt, bei Gelegenheit C. G. Jung, aber dieser Erzreaktionär, bei dem überdies das Archaische wie Timbuktu in Zürich auftrat, hat das ganze Wesen nur fälschlich, rein als Finsternis berufen. Der Ausdruck Archetypos selber findet sich zuerst bei Augustin, noch als erklärende Umschreibung des Platonischen Eidos, also jeder Gattungsgestalt, doch eben erst die Romantik bezog den antiken Ausdruck auf einen an bestimmten, gleichsam gedrungenen Vorkommnissen durchschlagenden und aufleuchtenden
Kategorialbestand bildhaft-objektiver Art. So werden Romeo und Julia bei Novalis zum Archetyp der jungen Liebe, Antonius und Kleopatra zu dem der reiferen, interessanteren; Philemon und Baucis, mitsamt ihrer Hütte, werden als Ensemblebild uralter, entronnener Ehe visiert. Entscheidend ist nach Novalis die außerordentliche Zusammenstimmung aller Elemente in diesen Archetypen, sie reicht bei Philemon und Baucis »bis auf den Schinken, der geschwärzt im Rauchfang hängt«. Aber weit entscheidender wirkte der /(183) eigentümliche Nimbus, der zur Übereinstimmung der Elemente hinzukam, ein Nimbus wie um Landschaften, mit gelungener Architektur der Situation und ihrer Bedeutung. Die beginnende Achtung auf Ähnlichkeit in den Märchenstoffen, in Konflikttypen, Rettungstypen, in wiederkehrenden »Motiven« tat viel, um auf Archetypen hinzuweisen; vergleichende Literaturgeschichte eröffnete eine Fülle solcher Elemente. So ist es etwa das äußerst eindrucksvolle Motiv des Wiedererkennens (Anagnorisis), das so weit entfernte Stoffe wie Joseph und seine Brüder in der Bibel, die Begegnung Elektras und Orests in der Sophokleischen Tragödie archetypisch eint. Vor allem schien die Mythologie sämtliche Ursituationen und ihr Ensemble zu enthalten; das ist zwar heillose Übertreibung, ganz dem Reaktionären am romantischen Archaismus entsprechend, jedoch enthalten die mythengeschichtlichen Darstellungen von Karl Philipp Moritz, gar Friedrich Creuzer, kraft versuchter Kategorisierung der «Motive«,in der Tat eine Fülle von Archetypen. Sie erscheinen hier als Symbole; vorzüglich Creuzer setzt deren Archetypik unverkennbar bereits in vier Momente: in »das Momentane, das Totale, das Unergründliche ihres Ursprungs, das Notwendige«. Und er erläutert das Momentane, auch Bildhaft-Lakonische vorher selber durch eine Archetype: »Jenes Erweckliche und zugleich Erschütternde hängt mit einer anderen Eigenschaft zusammen, mit der Kürze. Es ist wie ein plötzlich erscheinender Geist oder wie ein Blitzstrahl, der auf einmal die dunkle Nacht erleuchtet, ein Moment, der unser ganzes Wesen in Anspruch nimmt« (Creuzer, Symbolik und Mythologie der alten Völker 1, 1819, Seite 118, 59). Creuzer nannte solche Lakonismen Symbole im Sinn der Romantik, als Erscheinungen einer Idee; es hätte nur weniger Hypostase einer bereits ewig durchscheinenden Idee dazu gehört, um die Archetypen auch in Form der Allegorie zu sehen, nicht nur in der des Symbols. Sind doch die Allegorien, in ihrer echten Gestalt, also vor dem Klassizismus des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts, keineswegs versinnlichte Begriffe, mithin dasjenige, was man so gern frostig nennt und abstrakt. Sie enthalten vielmehr - im Barock, anders im Mittelalter - ebenfalls Archetypen, sogar deren Mehrzahl, nämlich die der Vergänglichkeit und ihrer Vielheit. Gerade /(183) in der Allegorie geht erst die Fülle der poetisch arbeitenden Archetypen auf, der noch in der Alteritas des Weltlebens gelegenen, während das Symbol durchgehends der Unitas eines Sinnes zugeordnet ist, deshalb auch wesentlich die religiösen Archetypen formiert oder aber die Archetypen religiös formiert. Ganz als in Religion befindlich hat daher ein größerer Creuzer und vollendeter Mythologe, Bachofen, das Archetypenwesen der alten Völker sowohl entdeckt wie erstmals zu ordnen versucht. Es erschien in hetärischer, mutterrechtlicher, vaterrechtlicher Reihe: in den hetärischen Ornamenten von Schilf und Sumpf, in den mutterrechtlichen von Ähre und Erdhöhle, in den vaterrechtlichen von Lorbeer und Sonnenkreis; eine ebenso sozialgeschichtliche wie naturmythische Ordnung sollte derart in die Archetypen insgesamt geraten. Sie wurden dadurch freilich - von dem Hypothetischen der drei Reihen abgesehen - nicht auch umfassender katalogisiert, weder in ihrer allegorischen Form und Beziehung noch in ihrer religiös-symbolischen. Immerhin erhellte, gerade aus der Arbeit der Romantik, dies
utopisch Entscheidende: Archetypen haben trotz ihres ursprünglich Augustinischen Gleichklangs mit Urbildern im Sinn Platonischer Ideen mit diesen und ihrem puren, letzthin gar transzendenten Idealismus wenig oder nichts gemein. Sie sind, wie schon aus den angegebenen Beispielen hervorgeht, wesentlich situationshafte Verdichtungskategorien, vorzüglich im Bereich poetisch-abbildlicher Phantasie, und nicht, gleich den Platonischen Ideen gattungshaft hypostasierte. Die Archetypen der Romantik oder vielmehr: wie sie von der Romantik aufgefaßt wurden, waren mit den Platonischen Ideen einzig durch die sogenannte Wiedererinnerung verbunden, wenn auch das in einer Weise, die gleichfalls die Unterschiede von unabänderlichen Ideen kenntlich macht. Wiedererinnerung, Anamnesis, war bei Platon eine an den vorweltlichen Zustand, wo die Seele sich im urbildlichen Himmel befand; Wiedererinnerung in der Romantik dagegen bewegt sich historisch, geht in Urzeiten innerhalb der Zeit selbst zurück, wird archaische Regression. Daß diese allerdings möglich war, zeigt, wenn auch keinerlei Nähe zum Platonismus der himmlischen Ideen, doch eine von der Romantik besonders benutzte - Mißverstehbarkeit der /(185) Archetypen in ihrem Verhältnis zur utopischen Funktion. Bloß in der Regression gehaltene verwandeln die Utopie zu einer rückwärts gewandten, reaktionären, schließlich gar diluvialen. Sie sind dann gefährlicher als das übliche Vernebelungsgebilde Ideologie; denn während dieses nur von der Erkenntnis der Gegenwart und ihrer realen Triebkraft ablenkt, verhindert die nach rückwärts bannende und im rückwärtigen Bann gehaltene Archetype überdies noch die Aufgeschlossenheit zur Zukunft. Sind doch keineswegs alle Archetypen utopischer Behandlung fähig, selbst wenn diese echt ist und nicht reaktionärer Utopismus wie oft in der Romantik. Durch das Pathos bloßer Archaik wird die ganze Sphäre verfehlt, die in Poesie, auch Philosophie oft so lebhaft und, im großen Stil, lichtvoll kräftige. Wie bemerkt, sind einzig jene Archetypen utopischer Behandlung fähig, in denen noch ein Unausgearbeitetes, relativ Unabgelaufenes, Unabgegoltenes umgeht. Bezeichnenderweise waren gerade feudal-abgelaufene Archetypen die beliebtesten in der Regression, die der politischen Reaktion entsprach, gleich als ob der Archetyp, das Wahrzeichen, woran sich, wie die Romantik sagte, alle Poetischen in dem älter gewordenen Lehen immer wiedererkennen, lediglich Auslieferung an die Vergangenheit wäre und nicht auch (wie die Erstürmung der Bastille) Emblem der Zukunft, in echter utopischer Funktion. Hier beginnt deshalb wieder ein Scheiden, damit die echten Freunde sich erkennen und beieinander bleiben. Nur der utopische Blick kann dies ihm Wahlverwandte finden, daran hat er, statt des kahlen kapitalistischen Ornamentmords auch im Denken, ein wichtiges Amt. Die verrotteten Archetypen müssen von den utopisch wirklich unabgegoltenen erst gesondert werden, nämlich durch ihre Zuordnung zu schlechthin verjährtem Gewesenen. Ersichtlich aber sind die vorhandenen Archetypen der Freiheitssituation oder des Lichtglücks nicht ans derart Vergangene gebunden, sie sind ihm entronnen, mindestens zu ihm exterritorial. Es ist hier nicht der Ort, die Archetypen zu mustern, sie gehören, wie später darzustellen sein wird, in einen neuen Teil der Logik, in die Kategorientafel der Phantasie. Sie finden sich, wie gesehen, in allen großen Dichtungen, Mythen, Religionen, und eben: sie gehören nur mit ihrem unabgegoltenen /(186) Teil einer Wahrheit zu, einer hüllenhaften Abbildung utopischer Tendenzinhalte im Wirklichen. Ein Archetypus mit unabgegoltener Tendenz-Latenz unter der phantastischen Hülle ist das Schlaraffenland, ist der Kampf mit dem Drachen (St. Georg, Apollo, Siegfried, Michael), ist der Winterdämon, der die junge Sonne töten will (Fenriswolf, Pharao, Herodes, Geßler). Ein verwandter Archetypus ist die Befreiung der Jungfrau (der
Unschuld insgesamt), die der Drache gefangenhält (Perseus und Andromeda), ist die Drachenzeit, das Drachenland selbst, wenn es als notwendiger Vorraum zum letzten Triumph erscheint (Ägypten, Kanaan, Reich des Antichrist vor Beginn des Neuen Jerusalem). Ein Archetypus höchsten utopischen Ranges ist das Trompetensignal im letzten Akt des »Fidelio«, konzentriert in der Leonoren-Ouvertüre, das die Rettung verkündet: die Ankunft des Ministers (er steht für den Messias) verkörpert den Archetypus der rächend-erlösenden Apokalypse, den alten Gewittersturm- und Regenbogen-Archetypus. Ja, ein Archetypus uralter, hier aber völlig konkret bezogener Art ist noch in dem Marxsatz: »Wenn alle inneren Bedingungen erfüllt sind, wird der deutsche Auferstehungstag verkündet werden durch das Schmettern des gallischen Hahns.« Man bemerkt an diesen Beispielen rein immanent: das Utopische an Archetypen ist zuletzt überhaupt nicht in Archaik fixierbar, es wandert vielmehr höchst tauglich durch die Geschichte. Vor allem auch: es sind nicht alle Archetypen archaischen Ursprungs, manche tauchten ab origine erst im Verlauf der Geschichte auf, so der Tanz auf den Trümmern der Bastille - ein neu ergreifendes Urbild, von den archaischen Reigen der Seligen durch ganz neue Inhalte abgetrennt. Seine Musik ist Beethovens Siebente Symphonie, keine mithin, die zu Asphodelos wiesen, auch keine, die zu orgiastischen Frühlings- und Dionysosfesten gestimmt hätte. Selbst Archetypen deutlich archaischen Ursprungs haben an historischen Umbildungen sich immer wieder erfrischt, variiert: auch das Trompetensignal im »Fidelio« hätte kaum seine durchdringend echte Wirkung ohne den Bastillesturm, der die Vorlage und den unablässigen Hintergrund der Fidelio-Musik bildet. Durch ihn erst erfuhr der Gewittersturm- und RegenbogenArchetyp, auf den das Signal und die Rettung bezogen sind, /(187) einen ganz neuen Ursprung: er trat aus dem Astralmythos in die Revolutionsgeschichte; er wirkt nun, obzwar Archetyp, ohne eine Spur von Archaik. So sind zu guter Letzt nicht alle Archetypen nur Bildverdichtungen archaischer Erfahrung; immer wieder ist von ihnen ein Reis entsprungen, das den vorhandenen Inhalt der Archetypen mehrt. Wie erst, wenn in die uralten wie in die historisch frischen der utopische Einbruch geschieht, die Umfunktionierung, welche sich auf Befreiuung der archetypisch eingekapselten Hoffnung versteht. Wäre Archetypisches völlig regressiv, gäbe es keine Archetypen, die selber nach der Utopie greifen, während die Utopie auf sie zurückgreift, dann gäbe es keine vorschreitende, dem Licht verpflichtete Dichtung mit alten Symbolen; Phantasie wäre ausschließlich Regressio. Sie müßte sich als progressiv bestimmte vor allen Bildern, auch Allegorien, Symbolen hüten, die aus dem alten mythischen Phantasiegrund stammen, sie hätte jeweils nur Realschul-Intellekt für sich, mithin, da dieser traumlos ist, gegen sich. Aber die Zauberflöte - um ein Phantasiestück zu nehmen, das fraglos humanisiert - gebraucht fast lauter archaische Allegorien und Symbole: den Führer und Priesterkönig, das Reich der Nacht, das Reich des Lichts, die Wasser- und Feuerprobe, die Magie der Flöte, die Verwandlung in eine Sonne. Demungeachtet haben sich alle diese Allegorien und Symbole, darunter solche, in deren heiligen Hallen ehemals keine Menschenliebe gesungen wurde, dem Dienst der Aufklärung als verwendbar gezeigt, ja sie kamen in der Mozartschen Märchenmusik, als undämonischem Tempel, wahrhaft nach Hause. So zieht produktiv-utopische Funktion auch Bilder aus dem unverjährt Gewesenen, soweit sie, trotz allem Bann in ihnen, doppelsinnig zukunftsfähig sind, und macht sie zum Ausdruck für das immer noch nicht Gewesene tauglich, für Sonnenaufgang. Derart entdeckt die utopische Funktion nicht nur den kulturellen Überschuß als zu sich gehörig, sie holt auch aus der doppelsinnigen Archetypen-Tiefe ein Element ihrer selbst zu sich zurück, eine archaisch gelagerte Antizipation noch von
Noch-Nicht-Bewußtem, Noch-Nicht-Gelungenem. Um mit einem dialektischen Archetyp selber zu reden: der Anker, der hier in den Grund sinkt, ist zugleich der Anker der Hoffnung; das Versinkende enthält das Auffahrende, /(188) kann es enthalten. Ja das gleiche mit all dem bezeichnete Doppelwesen, das zur Utopie fähige, zeigt und bewährt sich schließlich, wenn Archetypen deutlich zu den objekthaften Chiffern übergehen, die sie ohnehin nach der Natur abgebildet haben. So in zahlreichen verdichteten Gleichnissen (stille Wasser sind tief, alle Höhe ist einsam), so im Gewittersturm-Regenbogen-Archetyp, so eben im Licht- und Sonnenbild der Zauberflöte. Archetypen dieser Art sind überhaupt nicht bloß aus menschlichem Material gebildet, weder aus Archaik noch aus späterer Geschichte; sie zeigen vielmehr ein Stück Doppelschrift der Natur selbst, eine Art Realchiffer oder Realsymbol. Realsymbol ist eines, dessen Bedeutungsgegenstand sich selber, im realen Objekt, noch verhüllt ist und nicht etwa nur für die menschliche Erfassung seiner. Es ist mithin ein Ausdruck für das im Objekt selber noch nicht manifest Gewordene, wohl aber im Objekt und durchs Objekt Bedeutete; das menschliche Symbolbild ist hierfür nur stellvertretend-abbildlich. Bewegungslinien (Feuer, Blitz, Klangfigur und so fort), Gestalten ausgezeichneter Objekte (Palmform, Katzenform, menschliches Gesicht, ägyptischer Kristallstil, gotischer Waldstil und so fort) machen diese Realchiffer kenntlich. Ein scharf geprägter Teil der Welt erscheint derart als Symbolgruppe objekthafter Art, deren Mathematik und Philosophie noch gleichmäßig ausstehen. Die sogenannte Gestaltlehre ist davon nur abstrakte Karikatur; denn Realchiffern sind nicht statisch, sie sind Spannungsfiguren, sind tendenziöse Prozeßgestalten und vor allem eben, auf diesem Weg, symbolische. Dergleichen grenzt an das Problem einer objekthaft-utopischen Figurenlehre, also letzthin an das vergessene (pythagoräische) Problem einer qualitativen Mathematik, einer erneut qualitativen Naturphilosophie. Hier jedoch zeigt sich bereits: auch objekthafte Archetypen, zu Realchiffern übergegangen, wie sie im riesigen Antiquarium Natur, näher im gestalteten Menschenwerk sich finden, werden nur durch utopische Funktion erhellt. Ihre nächste Existenz haben Archetypen freilich allemal in menschlicher Geschichte; soweit nämlich Archetypen sind, was sie sein können: konzise Ornamente eines utopischen Gehalts. Utopische Funktion entreißt diesen Teil der Vergangenheit, der Reaktion, auch dem Mythos; jede dermaßen /(189) geschehende Umfunktionierung zeigt das Unabgegoltene an Archetypen bis zur Kenntlichkeit verändert. Begegnung der utopischen Funktion mit Idealen Ein aufgeschlossener Blick bewährt sich darin, daß er sich zuwendet. Ihm schwebt ein Ziel vor, das seit der Jugend selten aus den Augen verloren wird. Indem es nicht zuhanden ist, aber fordert oder leuchtet, wirkt es als Aufgabe oder als Richtpunkt. Scheint das Ziel nicht nur Wünschens- oder Erstrebenswertes, sondern Vollkommenes schlechthin zu enthalten, so wird es Ideal genannt. Jedes Ziel, ob erreichbar oder nicht erreichbar, ob Sparren oder objektiv sinnvoll, muß erst im Kopf vorgestellt werden. Aber die Zielvorstellung Ideal unterscheidet sich von der gewöhnlichen eben durch den Akzent Vollkommenheit; von ihm kann nichts heruntergehandelt werden. Aktives Streben und Wollen werden sonst aufgegeben, oder sie werden empirisch-klug abgelenkt, wenn die Vorstellung empirisch zwingender Gegengründe in die Zielvorstellung eindringt. Dagegen die Zielvorstellung Ideal wirkt als solche unnachlaßlich, ein auf sie gerichteter
Willensentscheid ist unaufhebbar. Er ist es selbst dann, wenn er nicht vollzogen wird; denn der Nichtvollzug wird gerade wegen der sachlichen Unaufhebbarkeit von schlechtem Gewissen, mindestens vom Gefühl einer Entsagung begleitet. Der Gegenstand der Idealvorstellung, der ideale Gegenstand, wirkt so als fordernder, scheinbar als hätte er ein eigenes Wollen, das als Sollen an den Menschen ergeht. Die gewöhnliche Zielvorstellung wie die des Ideals zeigen den Charakter eines Werts, und bloße Wertillusion findet sich hier wie dort. Aber während diese Illusion bei gewöhnlichen Zielvorstellungen empirisch korrigierbar ist, hält das bei Idealen bedeutend schwerer, eben wegen ihrer verdinglichten Forderung. Erscheint ein Gegenstand als idealer, so gibt es von seinem fordernden, gegebenenfalls berückend fordernden Bann nur durch Katastrophen eine Heilung; und auch dann nicht immer. Es gibt das Unglück einer Idolatrie der Liebe, die selbst ans durchschaute Objekt noch weiter bannt; es wirken illusionäre politische Ideale auch nach empirischer Katastrophe zuweilen weiter, als seien sie - echte. /(190) Eine eigene Macht zieht so von der Idealbildung her, eine, die die gleichsam helle und mündige Überzeugung vom Ideal als einer Vollkommenheit mit sehr viel dunkleren Antrieben durchsetzt. So daß Idealbildung, nach ihrer unfreien und illusionären Seite, eminent viel falsches Bewußtsein, archaisches Unterbewußtsein zu enthalten vermag. Dergleichen erschien bereits bei Gelegenheit der Verdrängung im Freudschen Sinn, anders bei Gelegenheit der Adlerschen Machtpsychologie, - die überkompensierende Bildung des Leitideals betreffend. Bei Freud ist das Über-Ich der Quell der Idealbildung, und das Über-Ich selbst, mit all der Drohung, dem Sollen, das von ihm ausgeht, soll der nachwirkende Vater sein. Das Ich steht zum Über-Ich im Verhältnis eines Kindes zu den Eltern; deren Gebote sind im Ideal-Ich, in jedem Ideal-Gebot überhaupt wirksam geblieben, üben jetzt als Gewissen die moralische Zensur aus. Diese Idealtheorie führte also ausschließlich nach rückwärts zum Vater und, bei genügender Ausbohrung, in die patriarchalisch-despotische Zeit insgesamt. Demgemäß sind bei Freud alle nichtdrohenden, alle leuchtenden Züge des Ideals ausgelassen, auch ist dieses gänzlich aufs Moralische eingeengt. Die eigentlich leuchtenden Züge sucht Adlers Überkompensierungstheorie zu erklären, zugleich ist sie nur hinsichtlich dessen, was das Leitideal überwinden mag, auf Vergangenheit gerichtet, auf die ehemalige »Däumlings-Situation«. Das Leit- oder persönliche Charakterideal soll hier kein erinnert-eingepreßtes Ziel, sondern ein relativ frei gewähltes sein: die Menschen finalisieren sich in der Charaktermaske zur Idealmaske um, um das Gefühl der Überwertigkeit zu erreichen. Freilich wieder sind nach dieser Theorie alle Idealbilder auf moralische, ja letzthin auf persönlich eitle beschränkt; objektivere Ideale, etwa künstlerische, fehlen durchaus. Sogar Alternativ-Ideale der richtigen Lebensführung, wie sie aus vorkapitalistischer Zeit herüberreichen, als Einsamkeit oder Freundschaft, als vita activa oder vita contemplativa, haben in dieser puren Konkurrenz-Psychologie keinen Platz. Ebenso bleiben Idealsituationen, Ideallandschaften bei Beschränkung auf rein persönliche Leitbilder unbegriffen-heimatlos. So machten Freud und Adler doch nur den drückenden Bann kenntlich, der der Idealbildung zugrunde liegen kann: hier den Vater-Bann, dort min- /(191) destens den Bann der Minderwertigkeit. Auch die Marschroute ist nicht offen, die von hier aus sowohl zu den Surplus-Eigenschaften wie zu den Surplus-Bildern hinführt. Alles bleibt beim Sollen, das vorgestellte Zielbild des Werdenwollens wird über die Hälfte mehr ertragen als erhofft. Doch ist damit der Wille, der auf Türme sieht, sie auch besteigt, noch nirgends erschöpft. Die Idealbildung ist keinesfalls auf Sollen und Bann begrenzt, sie hat ihre freiere, hellere Seite außerdem. Zeigt diese hellere Seite auch gleichfalls
starke Negativitäten: die des Ersatzes, der Verblasenheit, Abstraktheit, wozu im neunzehnten Jahrhundert noch die Verlogenheit des Ideals kam: so hängen diese doch nicht mit den finsteren oder sinistren Momenten der Idealbildung zusammen. Nicht mit Sollen von oben herab, mit Bann, Druck des Über-Ichs, Wendung gegen Kreatur schlechthin; was hier verführt, ist vielmehr die hochschwebende Vollkommenheit selber. Die freien Charaktere des Tagtraums prägen sich auf dieser helleren Seite aus, besonders die Fahrt ans Ende, wo es recht unendlich hergeht. Wird selbst wirkliche Fahrt zum Ideal gar nicht unternommen oder bleibt sie nur in seinem Bilde, als Einschiffung nach Cythera, einem überdies rein erotischen Ideal: so ist doch immer Ende intendiert, und dieses als Perfektum. Vollkommenheit nun ist nicht bloß leichter zu fühlen, sie ist auch einladender zu denken als mittlere Kulturkategorien. Daher wurde denn das Ideal viel deutlicher zu Begriff gebracht als die Ideologien (was sich wegen des interessierten Verhüllungscharakters der Ideologie von selbst versteht), aber auch deutlicher als die Archetypen. Es gibt bis jetzt keine Bestimmung und Tafel der Archetypen, dagegen mehrere des Ideals; und sie reichen herunter bis zu Termini wie: idealeHausfrau, idealer Bach-Bariton und dergleichen, sie reichen hinauf bis zum Ideal des höchsten Guts. Es gibt Leitideale des rechten Lebens, scharf kontrastierende, es gibt eine von den Sophisten und Sokrates bis zu Epikur und der Stoa reich nuancierte Wertwägungslehre, eine Kriterienlehre des Ideals. Nach allen Seiten gar, nach denen des Drucks wie der finalen Richtungseinheit wie der Hoffnung, erscheint das Ideal bei Kant, der den Philosophen selber einen Lehrer des Ideals, die Philosophie eine Unterweisung im Ideal nennt. Wieder als Druck, ja Angriff erscheint dieses /(192)im kategorischen Imperativ des Sittengesetzes: die Würde des Menschen, die in diesem Gesetz Achtung fordert, steht zu allen natürlichen Antrieben im Gegensatz. Dann aber erscheint das Ideal bei Kant als finale Richtungskraft, dergestalt, daß diese nicht selber fordert, sondern umgekehrt gefordert wird, und zwar in der postulierenden Dreieinigkeit des Unbedingten: Freiheit, Unsterblichkeit, Gott. Ebenso erscheint das Ideal als Hoffnung, nämlich als das wahrhaft höchste Gut der praktischen Vernunft; dieses soll dann die Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit sein, die (freilich immer nur approximative) Verwirklichung eines Reichs Gottes auf Erden. Dann wieder erscheint das Ideal in der Kantischen Ästhetik: als das einer naturgemäßen Vollkommenheit, also ohne höchstes Gut, hierbei mit lehrreichstem Gegensatz zu dem moralischen Druck-Ideal. Kant wendet von diesem in der Kunst sich ab, so wie überhaupt Gesolltsein in der Kunst allemal läppisch gerät: es gibt eine donnernde Ethik, aber ihr entsprechend - nur eine schulmeisterliche Ästhetik. Kant will sie nicht, das künstlerische Genie ist bei ihm nicht mit seiner natürlichen Triebfeder entzweit wie der sittliche Mensch. Konträr: Genie gibt gerade »als Natur die Regel«,Genie ist eine «Intelligenz, welche wirkt wie die Natur«. Und alle Verschönerungen gemäß dem ästhetischen Ideal werden definiert als «vollkommene Verkörperung einer Idee in einer einzelnen Erscheinung«. So vielfältig also, nach seinen verschiedenen Gesichten, denen des Banns und denen des Sternlichts vor allem, als einer Hoffnung der Zukunft, schlägt sich gerade bei Kant, dem formalen, doch dadurch besonders abstrakt-radikalen Lehrer des Ideals, die Vollkommenheit auseinander. Seine ästhetische Fassung, die «vollkommene Verkörperung einer Idee in einer einzelnen Erscheinung«, geht überdies aus einem formalen bereits in einen objektiven Idealismus über. So berührt sich dieser Idealbegriff letzthin mit der Idee, wie sie durch Aristoteles aus Platons Gattungsform oberhalb der Erscheinung in die Zielform oder Entelechie innerhalb der Erscheinung gebracht worden ist. Die Entelechie, welche wegen hemmender Nebenursachen in den Einzeldingen sich
nicht vollkommen ausprägt, wird bei Aristoteles von der Bildhauerei, auch von der Dichtung sichtbar gemacht. Ästhetische Idealdarstellung wird derart eine solche, /(193) welche zugleich nachahmend trifft und der Entelechie gemäß verschönert, das heißt, welche zeigt, was der Natur der Sache nach geschehen müßte; daher der berühmte Aristotelische Satz: das Drama sei philosophischer als die Geschichtsschreibung. Es ist zuletzt noch dieser ans Ende treibende Vollkommenheitscharakter des ästhetisch Idealen, der bei Schopenhauer wie Hegel an Kants «vollkommener Verkörperung einer Idee in einer Einzelerscheinung« sich anschließen läßt. Mit viel Aristoteles bei Schopenhauer: «Je nachdem nun dem Organismus die Überwältigung jener tieferen Stufen der Objektivität des Willens ausdrückenden Naturkräfte mehr oder weniger gelingt, wird er zum vollkommeneren oder unvollkommeneren Ausdruck seiner Idee, das heißt, steht näher oder ferner dem Ideal, welchem in seiner Gattung die Schönheit zukommt.« Und weiter, mit deutlicher Streifung einer utopischen Funktion (im statischen Grenzwesen der Gattung): «Nur so konnte der geniale Grieche den Urtypus der menschlichen Gestalt finden und ihn als Kanon der Schule, als Skulptur aufstellen; und auch allein vermöge einer solchen Antizipation ist es uns allen möglich, das Schöne da, wo es der Natur im einzelnen wirklich gelungen ist, darzustellen. Diese Antizipation ist das Ideal; es ist die Idee, sofern sie, wenigstens zur Hälfte, a priori erkannt ist und, indem sie als solche dem a posteriori durch die Natur Gegebenen ergänzend entgegenkommt, für die Kunst praktisch wird« (Werke, Grisebach, I, S.207, 297). Hegel läßt die Ideale überhaupt nur in der Kunst vorkommen und nicht in der sonstigen Wirklichkeit, am wenigsten in der politisch-sozialen; hier sind sie für Hegel, soweit er Restaurationsphilosoph ist, einzig Chimären einer eingebildeten Vollkommenheit. Dagegen hat ihm die Kunst, als Kontemplationsgebilde, schlechterdings nichts als Ideale zum Substrat, orientalisch-symbolische, griechisch-klassische, abendländisch-romantische (Ehre, Liebe, Treue, Abenteuer, Glauben). Und ihre ästhetische Manifestation zeigt erst recht Erinnerung des Aristoteles in sich, der Entelechie: »Die Wahrheit der Kunst darf also keine bloße Richtigkeit sein, worauf sich die bloße Nachahmung der Natur beschränkt, sondern das Äußere muß mit einem Inneren zusammenstimmen, das in sich selbst zusammenstimmt und eben dadurch sich als sich selbst im Äußeren offen- /(194) baren kann. Indem die Kunst nun das in dem sonstigen Dasein von der Zufälligkeit und Äußerlichkeit Befleckte zu dieser Harmonie mit seinem wahren Begriffe zurückführt, wirft sie alles, was in der Erscheinung demselben nicht entspricht, beiseite und bringt erst durch diese Reinigung das Ideal hervor« (Werke, XI, S. 199f.). Ersichtlich wird hier erst recht nicht das Ideal als gleichgültig gegen Wirkliches überhaupt betrachtet, auch nicht als fade Schönfärberei (wie sie den Schwindelgegensatz von Poesie und Prosa, schließlich Kultur und Zivilisation behaupten ließ). Sondern ein stärkerer Wirklichkeitsgrad selber ist gemeint, einer der im Erscheinungsprozeß realiter intendierten jeweiligen Vollkommenheit, auch wenn diese Schichtung bei Hegel nirgends als die eines realiter Noch-Nicht-Gewordenen zugelassen wird. Trotzdem zeigt das Ideal überall dort, wo nicht Über-Ich, wo nicht rückwärtiger Vater-Bann oder auch fixe Bilder einer bloß nachahmenden Überkompensierung ihr Wesen treiben, noch viel genuinere Antizipation in sich als die meisten Archetypen. Und die utopische Funktion am Ideal wird so weniger seine Aufsprengung als seine Berichtigung: kraft einer Vermittlung mit konkreten Vollkommenheitsbewegungen in der Welt, mit materieller Idealtendenz. Außerhalb dieser freilich bleiben inwendig wie erst recht auswendig nur große
Worte übrig. Sollen, Forderung, Druck gehören zum Ideal als Bann, aber wie bemerkt: Verblasenheit, unverpflichtend Abstraktes, ungeschichtliche Statik bedrohen es in seiner Freiheit und intendierten Vollkommenheit. Wozu eben gar noch die Lüge kam, die das neunzehnte Jahrhundert hinzubrachte: das Wahre, Gute, Schöne als bourgeoise Phrasen. Fontane hat an der Kommerzienrätin Jenny Treibel, geborenen Bürstenbinder, eine Bourgeoise mit Idealen dargestellt, die sich für alle ihresgleichen sehen lassen kann. Auch für ihre ganze Umgebung: «Sie liberalisieren und sentimentalisieren beständig, aber das alles ist Farce; wenn es gilt, Farbe zu bekennen, dann heißt es: Gold ist Trumpf - und weiter nichts.« Ibsen hat in seinen meisten Dramen die Leidenschaft, zu zeigen, wie die verkündeten bürgerlichen Ideale und die bürgerliche Praxis überhaupt nichts mehr miteinander gemein haben. «Das Puppenheim«, «Gespenster«, «Die Wildente« sind lauter Abwandlungen des /(195) Themas Ideal-Phrase; und es hätte nur wenig dazu gehört, um diese tiefernsten, fast tragischen Stücke als Komödien herauszuarbeiten. Gregers Werle in der «Wildente« ist genau der Don Quixote der bürgerlichen Ideale, mitten in einer verkommenen Bourgeoisiewelt, und der Zynismus Rellings, wenn er diese Ideale nicht bloß Lügen, sondern dem Durchschnittsmenschen notwendige Lebenslügen nennt, ist gar nicht nur zynisch, er nennt den Sonntags-Schwindel des spätbürgerlichen Ideals nur bei Namen. Mit der Grenze, daß Ibsen selber noch an die bürgerlichen Ideale glaubt, glauben will und sie in den Dramen nach der «Wildente« so darzustellen versucht, daß sie der Kritik Rellings nicht verfallen. Neue Welt war weder bei Fontane noch bei Ibsen, dafür wurde die alte immanent denunziert, mit ihrem Mißverhältnis zwischen Theorie und Praxis, mit ihrer tief eingefressenen Heuchelei. Das zu durchschauen, dazu genügt ein kritischer Realismus, es ist keine Ideologieforschung noch gar utopische Funktion notwendig. Wohl aber ist diese, mit ergriffener materieller Tendenz, notwendig, damit das Ideal mit seiner verblasenen, bourgeoisen Existenz nicht einig gesehen wird. Damit es erst recht aus seiner gesamten bisherigen Existenzweise: aus Abstraktheit, Statik möglicherweise hervorgeholt werden kann. Zunächst aus der Abstraktheit, als der abgehobenen, schlecht allgemeinen, kraftlos schwebenden. Sie ist wesentlich formell, der Inhalt hat sich aus dem wirklichen Leben herausgestohlen oder steht ihm unvermittelt in den leeren großen Worten gegenüber. Indem die Ideale sich derart mit keiner Tendenz vermittelten, kam zur Abstraktheit die undialektische Statik. Beides vermehrt die Wertillusion; sie wird nun durch eine Haltung unterstützt, die die Ideale in den Silberschrank stellt, zur ewig gleichen Erbauung. Abstraktheit und Statik zusammen machen dann die sogenannten idealen Prinzipien aus, als Richtpunkte für Worte, nicht für Handlungen. Derart Formales blüht vor allem in England und, zur Religion aus toten Schlagworten übergehend, in Nordamerika. Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung, dann die amerikanische Verfassung enthielten ihre Rights of life, liberty and the pursuit of happiness, ihre Principles of liberty, justice, morality und law noch von der Citoyen Seite her (das Principle of property, das weniger bengalisch /(196) beleuchtete, als basic principle freilich nicht zu vergessen). Doch nun steht das alles in starrer Luft, und das einzig wirkliche, das ökonomische basic principle erlaubt wegen der formalen Abstrakt-Statik der anderen Prinzipien jeden Opportunismus des Inhalts, vor allem in der Liberty. Das so beschaffene Ideal kann und will sich gegen diesen bis zur völligen Umkehrung gehenden Opportunismus seines Inhalts theoretisch nicht absetzen; es kann nicht wegen seiner formal irreführenden Allgemeinheit, es will nicht wegen seiner energielosen Starre. Wie groß ist diese Kraftlosigkeit erst in Deutschland gewesen, im Luther-Deutschland der doppelten Buchführung oder des Dualismus von Werk
und Glauben. In den kalvinistischen Ländern blieb das Ideal wenigstens ein verbaler, ja formaldemokratischer Richtpunkt für bald aufgegebene Handlungsweisen; Heuchelei bildet sich aus als Tribut des Lasters an die Tugend. In Deutschland dagegen stand das Ideale so hoch über der Welt, daß es in gar keinen Kontakt zu dieser kam, außer in den des ewigen Abstands. Aus diesem Richtpunkt wurden Sterne, die zu weit waren, um erreichbar zu sein, also Sterne der Velleität, nicht der Tat. Daraus entstand das Phantom bloßer unendlicher Annäherung ans Ideal oder, was dasselbe heißt, seiner Verlegung ins ewige Streben nach ihm hin. Die Welt blieb so im argen, die sittlichen Ideale hingen in himmlischer Ferne, die ästhetischen Ideale begehrte man nicht einmal, sondern freute sich nur ihrer Pracht. So leicht ist der Sprung von unendlichem Wollen zu bloßer Kontemplation; denn auch das ewig Approximative ist Kontemplation, nur gestört durch beständigen Handlungsschein, durch Handeln um des Handelns willen, ut aliquid fieri videatur. Kam selbst ein konkreter Idealsinn in Deutschland herauf, so war er im Punkt der Verwirklichung durchaus nur die Kehrseite der unendlichen Nicht-Verwirklichung, nämlich totaler Friede in der Welt; so bei Hegel. Hier verschwindet zwar das Unendliche der Annäherung ans Ideal, aber damit auch jede Annäherung durch Menschenwerk ans Ideal überhaupt. Der Weltprozeß als solcher wird Selbstrealisierung der in ihm gesetzten idealen Zwecke, und der Mensch ist bloßes Hilfsmittel, zuletzt gar, als philsophischer, bloßer Zuschauer von Idealen, die angeblich ohnehin verwirklicht sind. Das alles mithin hält das Ideal ohnmächtig, gleichviel ob in /(197) unendlicher Annäherung oder in allzu viel Deckung mit der Welt, als einer angeblichen Idealwelt. In beiden herrscht Statik des Ideals mit einer in sich bereits fertigen Vollkommenheit; und eben gegen diese Fertigkeit hat utopische Funktion sich hier zu bewähren. Das aber ist eine andere Bewährung als an Archetypen, eine dem Stoff viel verwandtere, freilich auch eine mit viel mehr Bruderstreit. Die gemeinte Vollkommenheit eben, ihre ganz eingestandene Antizipation, ist es, welche das Ideal utopischer Behandlung zugänglich macht. Die Archetypen haben das Antizipierende eingekapselt, und es muß herausgesprengt werden; die Ideale dagegen zeigen es abstrakt oder statisch, und es muß nur berichtigt werden. Die Archetypen zeigen die Hoffnung sehr oft im Abgrund und diesen im Archaischen, sie sind dann wie die versunkenen Schätze im Mythos selber, welche an einem Johannistag sich heben und sonnen; die Ideale dagegen zeigen ihre Hoffnung von vornherein am Tag, auf seiner nach aufwärts sich dehnenden Wölbung. Die Erneuerung der meisten Archetypen hat den stillen Orplidvers Mörikes für sich: «Uralte Wasser steigen verjüngt um deine Hüften, Kind!«; der Auftritt eines Ideals dagegen hat den entschiedenen Tagruf für sich, aus Brownings »Pippa«: »Dein Stundenstrom, lang, blau, klar, festlich fließend, der stark, ich fühl's, die Erde schützt und segnet, alles wird mein.« Es gibt gewiß auch Archetypen, die nicht im Abgrund hausen, der Tanz auf den Trümmern der Bastille gab davon das stärkste Exempel, und umgekehrt ist ein Archetyp wie das Mutterbild in Isis-Maria zugleich ein tief verwurzeltes Ideal. Doch im Ganzen lebt das Ideal rein an der Front, so sehr, daß sein Vollendungsbild eher zu fern als zu versunken erschien. Nicht grundlos sind die abstrakten Utopien als abstrakte, doch eben auch als Utopien wesentlich mit Idealen gefüllt und bedeutend weniger mit Archetypen, auch nicht mit denen des ohne weiteres revolutionären Sinns. Die einsame Insel, worauf Utopia liegen soll, mag ein Archetyp sein, doch stärker wirken in ihr die Idealgestalten erstrebter Vollkommenheit, als freie oder geordnete Entfaltung des Lebensinhalts. Utopische Funktion also hat sich am Ideal wesentlich in der gleichen Linie zu bewähren wie an Utopien selber: in der Linie konkreter Vermittlung mit materieller Ideal-Tendenz in der Welt, wie bemerkt. Keinesfalls kann /(198)
Idealisches durch bloße Tatsachen belehrt und berichtigt werden; konträr: es gehört zu seinem Wesen, daß es zur bloßen faktischen Gewordenheit in gespanntem Verhältnis steht. Wohl aber hat Idealisches, wenn es etwas taugt, Anschluß an den Prozeß der Welt, wovon die sogenannten Tatsachen verdinglicht-fixierte Abstraktionen sind. Es hat in seinen Antizipationen, wenn sie konkrete sind, ein Korrelat in den objektiven Hoffnungsinhalten der Tendenz-Latenz; diesKorrelat ermöglicht ethische Ideale als Vorbilder, ästhetische als Vor- Scheine, die auf ein möglicherweise Realwerdendes deuten. Solche durch utopische Funktion berichtigte und ausgerichtete Ideale sind dann allesamt solche eines menschlich-adäquat entfalteten Selbst- und Weltinhalts; deshalb sind sie - was hier zu guter Letzt das ganze Idealwesen so zusammenfassen wie vereinfachen mag - sämtlich Abwandlungen des Grundinhalts: höchstes Gut. Ideale verhalten sich zu diesem obersten Hoffnungsinhalt, möglichen Weltinhalt als Mittel zum Zweck; daher gibt es eine Hierarchie der Ideale, und ein unteres kann dem oberen geopfert werden, indem es ohnehin in der Realisierung des oberen wieder aufersteht. Zum Exempel: die oberste Abwandlung des höchsten Guts in der politisch-sozialen Sphäre ist die klassenlose Gesellschaft; folglich stehen Ideale wie Freiheit, auch Gleichheit zu diesem Zweck im Mittelverhältnis und erlangen ihren Wertinhalt (ihren im Fall Freiheit besonders vieldeutig gewesenen) vom politisch-sozialen höchsten Gut her. Dergestalt, daß es nicht bloß die Mittelideale inhaltlich bestimmt, sondern je nach Erfordernis des obersten Zweckinhalts auch variiert, gegebenenfalls die Abweichungen temporär rechtfertigt. Ebenso: die oberste Abwandlung des höchsten Guts in der ästhetischen Sphäre ist immanenter Vor-Schein einer humanvollkommenen Welt: folglich stehen alle ästhetischen Kategorien zu diesem Ziel in Relation und sind seine Abwandlungen - als l’art pour l'espoir. Und vernehmlicher als bei Archetypen tönt im Ideal die Antwort des Subjekts auf schlechte Gewordenheit, die tendenzhafte Antwort gegen das Unzulängliche, für das human Angemessene. Sagt daher Marx, die Arbeiterklasse habe keine Ideale zu verwirklichen, so trifft dieses Anathema gewiß nicht die Verwirklichung von tendenzhaft-konkreten Zielen, sondern nur die von abstrakt-heran- /(199) gebrachten, von Idealen ohne Geschichts- und Prozeßkontakt. Der Sozialismus ist durch Marx, Lenin selber in seinem jeweils nächst zu betreibenden Stadium ein konkretes Ideal geworden, eines, das durch seine planmäßig vermittelte Solidität nicht weniger, sondern mehr als das abstrakt gewesene anfeuert. Und gerade das politisch höchste Ideal: das Reich der Freiheit, als politisches Summum bonum, ist der bewußt hergestellten Geschichte so wenig fremd, daß es, als konkretes, ihre Finalität ausmacht oder das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt. Denn ein Anti-Summum-bonum oder Umsonst, die ebenso mögliche Alternative, wäre nicht das letzte Kapitel dieser Geschichte, sondern ihre Streichung, und nicht Finalität, sondern Ausgang zum Chaos. Entweder ist im Prozeß, trotz menschlicher Arbeit, Tod ohne Hinterland, oder es ist, kraft menschlicher Arbeit, Realismus des Ideals in seinem Gang - tertium non datur. Die Freiheit der utopischen Funktion hat aber ihre Tätigkeit und ihr eigenes Ideal darin, das noch nicht gewordene «Sein wie Ideal« (höchstes Gut), das in den Dämmerungen, an der Front der Prozeßwelt sich mit realer Möglichkeit entwickelt, gegenständlich zu bedeuten und in Freiheit zu setzen. Begegnung der utopischen Funktion mit Allegorien-Symbolen Bleibt noch der betroffene Blick, der sich auch am noch nicht Klaren klar bewährt.
Letzteres ist hier jenes noch nicht Klare, das nicht nur seine eigene Sache, sondern darin zugleich noch eine andere bedeutet. Tritt das in dichterischer Sprache auf, so können deren Worte zwar durchaus sinnlich und gegenwärtig sein, jedoch sie hallen wie in einem großen Saal. Schon das Sprichwort gibt sich als mehrschichtig und bedeutsam, sofern es gleichnishaft zu werden versteht, ja es mit Vorliebe ist. «Stille Wässer sind tief«, das ist derart bereits eine allegorische Aussage, und sie steigert sich im großen dichterischen Gleichnis. «Gedichte sind gemalte Fensterscheiben«, dieser große Goethische Gleichnissatz gibt das Dunkel-Helle des Bedeutens seiner eigenen Sache und darin zugleich einer andern aufs beste wieder. Solch ein Satz ist eine perfekte Allegorie, freilich als diese selber wieder mit dem noch nicht Klaren ihrer selbst behaftet, weshalb /(200) wieder keine Allegorie perfekt sein kann. Denn sie ist per definitionem mehrdeutig, das heißt, der Gegenstand, von dem sie ihr erhellendes Gleichnis nimmt (hier: die gemalten Fensterscheiben), ist selber keinesfalls eindeutig. Er enthält mehrere Bedeutungen in sich, auch solche, die sich nicht vergleichsweise auf Gedichte beziehen, und deutet vor allem, auch im GedichtBezug, im Transparenzbezug, zwischen Dunkel und Licht, weiter über sich fort. So ist keine Allegorie perfekt; wäre sie es, wäre ihr Fortbezug nicht einer, der kreuz und quer, aber auch in der gleichen Linie immer wieder zu anderem schickt, dann wäre diese Art Aussage nicht allegorisch, sondern symbolisch. Sie wäre es, obwohl das dann erreichte Perfekte immer noch eines des sachlich noch nicht Klaren bleibt, nämlich eines des Verhüllten im Offenbaren, des Offenbaren als eines immer noch Verhüllten. Die Allegorie besitzt dieses Sinns dem Symbolischen gegenüber eine Art Reichtum aus Ungenauigkeit; so eben steht ihre Gleichnisart hinter der unschwankenden, obzwar gleichfalls noch schwebenden des Symbols und des Einheitspunkts seiner Beziehung zurück. Das freilich darf nicht mit dem anderen Wertunterschied verwechselt werden, den man seit wenig mehr als hundert Jahren zwischen dem Allegorischen und Symbolischen auf grundfalsche Weise vorgenommen hat. Wonach das Allegorische bloß aus versinnlichten oder sinnlich dekorierten Begriffen bestünde, während das Symbolische - nun, allemal auf der sogenannten Unmittelbarkeit beruhte. Oder wie Gundolf das nachher, an dem von ihm georgisierten Goethe, so töricht ausdrückte: der junge Goethe hätte seine »Urerlehnisse« symbolisch ausgesagt, indes der ältere seine sogenannten bloßen »Bildungserlebnisse« nur noch allegorisch wiederzugeben vermocht hätte. Diese Wertunterscheidung ist nicht nur an Goethe sinnlos, sie folgt auch insgesamt der konventionellen Falschmeinung nach, die man sich seit der Romantik über Allegorien gemacht hat. An Hand der verständig entspannten Halballegorien, ja bloßen Abstraktionsillustrierungen, die im Rokoko und Louis seize (als Figuren der Tugend, der Wahrheit, der Freundschaft und so fort) vom Phänomen Allegorik allein noch im Bewußtsein waren. Der darauf bezüglichen romantischen Abwertung der Allegorien fehlte die erfahrene /(201) Kenntnis wirklicher Allegorik: der des Barock, mit seiner Orgie von Emblemen, der des Mittelalters, der der frühchristlichen Patristik. Die Allegorie war in ihrer Blütezeit keineswegs Versinnlichung von Begriffen, Dekorierung von Abstraktionen, sondern eben versuchte Wiedergabe einer Dingbedeutung mittels anderer Dingbedeutungen, und zwar auf Grund des Gegenteils von Abstraktionen: nämlich auf Grund von Archetypen, welche die jeweiligen Gleichnis-Glieder in ihrem Bedeutungsgehalt einen. Und ebenso sind es Archetypen, welche den Bedeutungs-Durchklang, den freilich verbindlichen und zentralen, im Symbol-Gleichnis fundieren: dieses nicht als Archetypen des Unterwegs und der Vergänglichkeit, sondern eines strengen Überhaupt oder End-Sinns. Ersichtlich kann also der letzt angegebene Wertunterschied zwischen
Allegorie und Symbol, als der einzig legitime, nicht mit dem zwischen dekorierten Abstraktionen, gar fixester Art, und leibhaften Theophanien konfundiert werden; die Rangverschiedenheit ist vielmehr eine innerhalb des gleichen Archetyp-Felds selbst. Oben (vgl. S.183) wurde bereits der Unterschied so bestimmt, daß die Allegorie die Archetypen der Vergänglichkeit enthält, weshalb ihre Bedeutung allemal auf Alteritas geht, während das Symbol durchgehends der Unitas eines Sinns zugeordnet bleibt. Und für das jetzt fällige Problem einer Begegnung utopischer Funktion mit Allegorie und Symbol muß in beiden die Kategorie der Chiffer betont werden, als der geformten, ja auch realiter in den Objekten vorkommenden Bedeutung des im Archetyp verbundenen Allegorischen oder Symbolischen. Danach gibt die Allegorie an jeweiliger Einzelheit eine Chiffer auf einen gleichfalls noch in Einzelheit (Vielheit, Alteritas) ausgebreiteten, in Vergänglichkeit, ja Zerbrochenheit befindlichen Sinn. Das Symbol dagegen gibt an jeweiliger Einzelheit eine Chiffer auf eine in der Einzelheit (Vielheit, Alteritas) transparent erscheinende Einheit des Sinnes; es ist so auf das Unum necessarium einer Ankunft (Landung, Versammlung) gerichtet, nicht mehr auf hin und her geschickte Vorläufigkeit, Mehrdeutigkeit. Diese Intention auf eine Ankunft macht daher das Symbol verbindlich, zum Unterschied von den blühend sich verschiebenden, der währenden Unentschiedenheit des Wegs hingegebenen Allegorien. Was schließ- /(202) lich macht, daß die Allegorie wesentlich in der figurenreichen Kunst zu Hause ist und in polytheistischen Religionen, während das Symbol wesentlich der großen Einfachheit in der Kunst sowie heno- und monotheistischen Religionen zugehört. Vorwegnahme nun hat in beiden etwas zu melden, denn in beiden meldet sie sich selbst. Das ist gleichzeitig ein Verschlossenes, das sich offenbart, und ein Offenbarendes, Eröffnendes, das sich noch verschließt, weil - gerade auch im Symbol - die Zeit noch nicht reif, der Prozeß noch nicht gewonnen, die in ihm anhängige Sache (der Sinn) noch nicht herausproduziert und entschieden ist. Also gibt es eine im Stoff selber fundierte Begegnung der utopischen Funktionen mit Allegorie wie Symbol; es ist das objektive Bedeuten selber, worin die utopische Funktion sich hier begegnet. Wir wiederholen: jedes Gleichnis, das in der Vielheit, Alteritas bleibt, stellt eine Allegorie dar, so in dieser Weise: »Schon stand im Nebelkleid die Eiche, / ein aufgetürmter Riese, da, / wo Finsternis aus dem Gesträuche / mit hundert schwarzen Augen sah.« Spricht das Gleichnis jedoch Einheit, Zentrales überhaupt, konvergiert es dazu bin mit beginnend erscheinender, wenn auch immer noch in Hülle befindlicher Fraglosigkeit, dann wird eindeutig Symbolik getroffen, so in dieser Weise: «Über allen Gipfeln ist Ruh.« Und die Form beider ist jene dialektische, die Goethe, mit einem selber dialektisch gespannten Ausdruck, «öffentlich Geheimnis« nannte, eben als noch währendes Ineinander von Eröffnetem und Verhülltem, noch nicht aus der Hülle Herausgebrachtem. Dergestalt aber, daß - in allen echten, das ist, auch objektiv stimmenden Allegorien, gar Symbolen - das «öffentlich Geheimnis« nicht nur für die auffassenden Menschen eines ist, etwa auf Grund seiner unzureichenden Fassungskraft, sondern ebenso in der vom Menschen unabhängigen Außenwelt Realqualitäten der Bedeutung ausmacht; so die Tendenzgestalten des in seinen jeweiligen Erscheinungen sich bedeutenden charakteristisch Typischen, so das gesamte dialektische Daseinsformen- (Figuren-) Experiment der Welt auf ihre noch latente zentrale Figur. Es ist lehrreich, auch dieses wirklich Öffentliche eines Geheimnisses mit Goethes so realistischerWelt-Eröffnung zu vergleichen: die in der Welt sich lebend entwickelnden Entelechien sind allesamt ebenso viele /(203) lebende, objekthaft vorhandene Allegorien und Symbole. Es gibt derart diese Chiffer auch in der
Realität, nicht bloß in allegorischen und symbolischen Bezeichnungen dieser Realität; und es gibt eben deshalb solche Real-Chiffern, ,weil der Weltprozeß selber eine utopische Funktion ist, mit der Materie des objektiv Möglichen als Substanz. Die utopische Funktion der menschlich bewußten Planung und Veränderung stellt hierbei nur den vorgeschobensten, aktivsten Posten der in der Welt umgehenden Aurora-Funktion dar: des nächtlichen Tags, worin alle Real-Chiffern, das heißt Prozeßgestalten noch geschehen und sich befinden. Allegorische Figurenbildung, symbolische Zielbildung zeigen darum in der Tat alles Vergängliche als ein Gleichnis, doch als ein solches, das ein eigener realer Weg der Bedeutung ist. Jedes treffende Gleichnis ist darum zugleich ein Wirklichkeit abbildendes, im selben Maß, wie es in seiner Bedeutungsrichtung voll objektiver utopischer Funktion und in seiner Bedeutungsgestalt voll Real-Chiffer ist. Und das Symbol, zum letzten Unterschied von der Allegorie, bewährt sich von hier aus als versuchter Übergang vom Gleichnis zur Gleichung, das heißt zur versuchten Identität von Inwendigkeit und Auswendigkeit. Wobei es eben zur Ehrlichkeit der Aussage selber gehört, daß das Unum necessarium (höchstes Gut) eines solchen Identitäts-Inhalts immer erst in der Stimme eines Chorus mysticus erschienen ist und noch nicht mit jener adäquaten Prädizierung, objekthaften Gelungenheit, die das Grenzziel und die letzte Aufgabe der Weltaufklärung ist. Sehnsucht, Vorwegnahme, Abstand, noch währende Verhülltheit, das sind Bestimmungen im Subjekt wie im Objekt des Allegorisch-Symbolischen. Es sind Bestimmungen von keinerlei bleibender Art, sondern Aufgaben zur wachsenden Erhellung des darin noch Unbestimmten, kurz, zur wachsenden Auflösung des Symbolischen. Doch gerade die realistische Tendenz-Erkenntnis, mit dem Gewissen der Latenz in ihr, hat dem als öffentlich Geheimnis Bezeichneten gerecht zu werden.
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UTOPISCHER BILDREST IN DER VERWIRKLICHUNG ÄGYPTISCHE UND TROJANISCHE HELENA
Aber kommt, wie der Strahl aus dem Gewölke kommt, Aus dem Gedanken vielleicbt, geistig und reif die Tat? Folgt die Frucht, wie des Haines Dunklem Blatte, der stillen Schrift? Hölderlin Träume wollen ziehen Wie lange weist es in uns immer nur nach vorwärts? Das Wünschen will doch etwas, ist nicht bloß irgendwie, quält nur selten leer. Beeilt es sich aber zu landen, kommt der Trieb, der in ihm arbeitet, an? Der Trieb vielleicht, eine Zeitlang, auch jede Begierde kann, fürs erste, überraschend gestillt werden. Dem Satten ist nichts gleichgültiger als ein Stück Brot, dem Neugierigen nichts veralteter als die eben erst gelesene Zeitung. Dahinter jedoch steht alles wieder auf, es gibt, mit dem Hunger beginnend, nie gekühlte Wünsche. Und die Bilder, die sich auch ein sich stillender Wunsch vorgemalt hat, stehen zuweilen in der Luft, als könnten sie sich nicht
niederschlagen. Der Wunsch und Wille zu ihnen lebt fort, sie selbst leben fort. Auch von erfüllbaren Träumen kommt, wenn sie auf ebenem Boden landen, nicht immer alles an; oft bleibt ein Rest. Er ist luftig, ja windig, ist aber stärker als das Fleisch, ist trotzdem merkbar. Ein Mann erwartet ein Mädchen, das Zimmer ist voll zärtlicher Unruhe; letztes Licht vom Abend ist darin, erhöht die Spannung. Tritt jedoch die Erhoffte über die Schwelle und ist alles gut. alles da, so ist das Hoffen selber nicht mehr da, dieses ist verschwunden. Es hat nichts mehr zu sagen und trug doch noch etwas mit sich, was in der seienden Freude nicht laut wird. Völlige Deckung ist selten, wahrscheinlich noch nie eingetreten. Im Traum von etwas, bevor das Herz sich labt, war's besser oder schien so. /(205)
Nicht-Genügen und was darin stecken kann
Nicht immer gelingt es, selbst ein gekommenes Jetzt zu pflücken. Das Fleisch kann schwach sein, doch auch ein feinerer Grund ist häufig. Desto bedenklicher gar, auch in guter Lage, wenn vorher zu viel Träume hinzukommen, zu viel überholende. Dann hat die Einbildung den Stoff der bevorstehenden Erfahrung für sich verbraucht, in Liebe wie bei jeder Art von Debüt. Stendhals Schrift »De l'amour« gelangt von hier aus zu ihrer berühmten Diagnose des Fiaskos. Nach Stendhal entsteht unmittelbares Glück nur dort, wo ein Mann die Frau ohne Aufschub, das heißt: im Augenblick des Begehrens besitzt. Sicheres Liebesglück ist nur dann verbürgt, »wenn ein Liebhaber noch keine Zeit gehabt hat, sich nach der Frau zu sehnen und sich mit ihr in der Einbildung zu beschäftigen«. Ja, Stendhal braucht nicht einmal die vollen Spiele der Einbildungskraft, um ein Zurückbleiben hinter der Wirklichkeit zu erklären; er wagt den Satz: »Sowie nur ein Körnchen Leidenschaft ins Herz kommt, ist auch ein Körnchen, eine Möglichkeit des Fiaskos da.« Und weiter, mit gefährlicher, entnervender Erzeugung von Lampenfieber: «Je höher die Liebe eines Mannes ist, desto größere Gewalt muß er sich antun, ehe er es wagt, die Geliebte vertraulich zu berühren. Er wähnt, ein Wesen zu erzürnen, das ihm als etwas Göttliches erscheint, das ihm gleichzeitig grenzenlose Liebe und grenzenlose Ehrfurcht einflößt... Nun ist die Seele schamerfüllt und damit beschäftigt, diese Scham zu überwinden; die Wollust ist versperrt.« Man vergleiche damit die Unlust romantischer Dichter, ihre Himmelsbilder der Weiblichkeit in Erfahrung fallen zu lassen, fallen zu sehen, vorab bei E. Th. A. Hoffmann. Aus einem so unersättlich wie verdinglicht werdenden Traumwesen stammt nicht zuletzt der romantische Haß gegen die Ehe: »Der Zauber ist vernichtet«, ruft ein Künstler in Hoffmanns »Fermate«, mit übersexuellem Fiasko im Sinn, »und die innere Melodie, sonst Herrliches verkündend, wird zur Klage über eine zerbrochene Suppenschüssel.» Dieselbe Tragikomödie meint ein Gespräch des Kapellmeisters Kreisler mit der Prinzessin in Hoffmanns «Kater Murr«; Kreisler rühmt die »echten Musikanten«, die nicht lieben wollen wie die guten Leute mit der Traumschändung im Ehebett. Damit /(206) aber die Künstler weder als verstiegen noch gar als liebesunfähig erscheinen, vergleicht sie Kreisler mit Minnesängern, Höfischkeit, Marienkult und fährt, die »echten Musikanten« betreffend, fort: »Diese tragen die erkorene Dame im Herzen und wollen nichts als ihr zu Ehren singen, dichten, malen; kurz, sie sind in der vorzüglichsten Courtoisie den galanten Rittern vergleichbar.« Nun, das Ende aus Verwirklichung haben mehrere Ehemänner erfahren, auch wenn sie keine Kreisler waren; genau in Kreislers Voraussicht traf es aber einen wirklichen Musiker: Hector Berlioz, und einen der romantischsten dazu. Hier war sogar Bühne vorhanden,
worauf das Idol doppelt strahlte: Berlioz verliebte sich in eine junge englische Schauspielerin, die Shakespeares Mädchen und edle Frauen verkörperte. Diese Julia, Ophelia, Desdemona erhöhte ihren Glanz, indem sie alle Annäherungen abwies, wurde für Berlioz dadurch desto vernichtender strahlend. In der Furcht, daß der verzweifelte Liebhaber sich das Leben nehme, haben seine Freunde Chopin und Liszt eine ganze Nacht die Ebene von St. Quentin durchsucht, in deren Richtung man Berlioz, gänzlich von Sinnen, hatte fortstürzen sehen. Als es aber dem berühmt gewordenen Musiker einige Jahre später gelang, die Geliebte zu gewinnen, als das Idol sein Weib wurde, brach die vordem so gewaltige Liebe mit der Verwirklichung (die nicht nur »zerbrochene Suppenschüsseln» mit sich gebracht haben mochte) zusammen. Madame kam gegen das Traumbild, das sie von der Bühne her in einen Jüngling ergossen hatte, nicht auf. Die Erfahrung war nicht nachsichtig gegen die Hoffnung, doch diese auch nicht gegen die Erfahrung; und letztere wurde übertrieben enttäuschend. Erster Grund der Enttäuschung: Dort, wo du nicht bist, dort ist das Glück; zweiter Grund: Verselbständigter Traum und die Sage der doppelten Helena Zunächst liegt hier zugrunde, daß das Jetzt und Da zu dicht vor uns steht. Das Erleben in bar versetzt aus dem ziehenden Traum in einen anderen Zustand: in den der unmittelbaren Nähe. Der gerade gelebte Augenblick trübt als solcher, er hat eine zu dunkle /(207) Wärme, und seine Nähe macht gestaltlos. Dem Jetzt und Hier fehlt der Abstand, der zwar entfremdet, doch deutlich und überblickbar macht. Daher wirkt das Unmittelbare, worin Verwirklichung geschieht, von vornherein dunkler als das Traumbild, ja zuweilen wüst und leer. Selbst wenn uferloses Imaginieren nicht das Erdreich weggeschwemmt hat, auf dem die Verwirklichung steht, wenn das Treffen mit der Wirklichkeit auch stattfindet, selbst dort kann das Paradox statthaben, daß der Traum fester und jedenfalls heller erschien als seine Verwirklichung. Die leuchtendeWolke legt sich beim Näherkommen als grauer Nebel um uns her; das Fernblau der Berge verschwindet an Ort und Stelle ganz. Tamino in der »Zauberflöte», als einer Märchen-Oper, soll zwar die Pamina genauso, wie sie auf dem Bild dreinsieht, in Sarastros Burghof erblicken. Jedoch trotz des glückhaften Ausrufs: »Sie ist es!» taucht die Frage auf, ob sie es wirklich sei, ob das Gefühl, das sich in Taminos Sehnsuchtslied: »Dies Bildnis ist bezaubernd schön» ausgesprochen hatte, ob dies utopische Imaginieren, mit seiner Imago, an einem noch so vollkommenen Original seine Erfüllung gefunden hat und finden konnte. Man vergleiche zu diesem Bild-Blau zwei Erprobungen, die, wie beim Berlioz-Fall, im Leben sich zugetragen, vorgefallen sind, und zwar bei so verschiedenen Personen wie dem zerrissenen Lyriker Lenau hier, dem eitelstrengen Christologen Kierkegaard dort; es war aber dieselbe Katastrophe an der Fata Morgana. Lenau fuhr nach Amerika, nicht ohne den Willen, das Bild seiner Braut durch die Trennung besser präsent zu haben, als wenn er sie neben sich hätte; mit Ungenügen am bloßen Bild, mit verstärktem Willen zum Original kehrte er heim, nun aber entstand folgendes Gedicht, »Wandel der Sehnsucht« überschrieben: Wie doch dünkte mir die Fahrt so lang, o wie sehnt' ich mich zurück so bang
aus der weiten, fremden Meereswüste nach der lieben, fernen Heimatküste.
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Endlich winkte das ersehnte Land, jubelnd sprang ich an den teuren Strand, und als wiedergrüne Jugendträume grüßten mich die heimatlichen Bäume. Hold und süßverwandt, wie nie zuvor, klang das Lied der Vögel an mein Ohr; gerne, nach so schmerzlichem Vermissen, hätt' ich gerne jeden Stein ans Herz gerissen. Doch da fand ich dich, und - todesschwank jede Freude dir zu Füßen sank, und mir ist im Herzen nur geblieben grenzenloses, hoffnungsloses Lieben. O wie sehn' ich mich so bang hinaus wieder in das dumpfe Flutgebraus! Möchte immer auf den wilden Meeren einsam nur mit deinem Bild verkehren!
Soweit Lenau und seine Unfähigkeit zum realen Wiedersehen: Pamina zerfiel hier in der Nähe sogleich. Diese Art Liebe hat die feierliche Eitelkeit, in sich selbst verliebt zu sein; sie ist ein Fest, das keinen Montag erleben kann. Eben aus gleichem Grund blieb auch Kierkegaard, der allzu absolute Liebhaber, auf dem hohen Meer einsam mit dem Bild verkehrend. Kierkegaard löste das Verlöbnis mit seiner Braut Regine Olsen, Regine nahm einen ihrer früheren Verehrer zum Mann, und Kierkegaard schrieb in sein Tagebuch: »Heute sah ich ein schönes Mädchen, das interessiert mich nicht. Kein Ehemann kann seiner Frau treuer sein, als ich ihr bin.« Und weiter, in der angenommenen Maske des Lüstlings und ebenso in der des Asketen: «Gut hat sie die Pointe verstanden, daß sie heiraten muß.« Hier ist die tollste Verschränkung der Platonismen: hier ist das Liebesideal des Troubadours und der Asketenliebe zu Maria, doch hier ist eben auch die Verlegung Paminas an einen Bildhorizont als ihre ideenhafte Heimat. Der Platoniker, gar der homo religiosus Kierkegaard versagt sich nicht überall der Gegenwart, aber er beschränkt sich auf das Absolute, so wie das Absolute sich selber die Gegenwart vorbehält: »Denn dem Absoluten gegenüber gibt es nur /(209) eine Zeit: die Gegenwart; wer mit dem Absoluten nicht gleichzeitig ist, für den ist es gar nicht da.« Infolgedessen ist nach Kierkegaard nicht nur die unbedingte Gegenwart der Liebe schwerst erreichbar, sondern, ganz entsprechend, auch die der christlichen Nachfolge, christlichen Liebe: »Es hat seit den Tagen der Apostel keinen Christen mehr gegeben.« Daß hierbei, sowohl im Verhältnis zum sogenannten Absoluten wie besonders zum Nächsten, nichts mehr erschien als horizontlose Innerlichkeit: dieser tiefe Verlust hebt die Gewalt der Kierkegaardschen Aporie an der Verwirklichung nicht auf. Gegenwart ist hier Bewährung, und zum reaktionären Auftrag in der Romantik paßt es bei Kierkegaard, die Bewährung gerade vor hohen, also der vorhandenen Gesellschaft gegebenenfalls unbequemen Idealen als so schwer wie möglich darzustellen. Kierkegaards Ideale waren im Verhältnis zur damaligen Gesellschaft gewiß nur
paradox und alles andere wie revolutionär: dennoch paßt dieser absolut gemachte Bewährungsskrupel - selber nicht paradoxerweise - sehr gut zu dem reaktionären Defaitismus gegenüber den (aufgegebenen) Idealen des ehemals revolutionären Bürgertums selber. So hat sich der Bourgeois zum Lippendienst gegenüber Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit »resigniert«; so wich aber auch die Sozialdemokratie, indem sie ihren angeblichen Sozialismus aufs höchste »idealisierte«, gerade der Realisierung einer Gesellschaft aus, worin die Menschen - wieder mit absoluter Idealisierung - angeblich Engel werden müßten, vor allem vorher schon wie Engel zu handeln hätten. Und trotzdem steckt im Fortglänzen des großen Bilds vor dem Jetzt und Da seines Inhalts auch echter Ernst; er könnte sonst nicht mißbraucht werden. Was sich sogleich, vollkommen, mit Haut und Haaren, mit Fleisch und Bein verwirklicht, was mitten in unserer Vorgeschichte, unserer doch noch so wenig zum vollen Da-Sein entwickelten Daseinssphäre gar keinen Rest läßt, erscheint auch dem planenden Realisten, den keine absolute Forderung bankerott macht, schwerlich sogleich als das Rechte. Das in der Tat ist der unromantische Rest und Kern in Kierkegaard, selbst in Lenaus so verstiegener, ja defaitischer und impotenter Skrupulosität, - ein Rest, den anderwärts gerade die Vorsicht in der Hoffnung merkt. Daher macht die Hoffnung - mit Recht und /(210) Genauigkeit, ja mit der höchsten Art des Gewissens: dem des Ziels - gegen jede allzu dick sich schon gebende Verwirklichung mißtrauisch; Apotheosen sind auch einem Bewußtsein, das nicht Kierkegaards abstrakte Radikalismen ehrt, allemal flach und dekorativ. Selbst noch eine so vollkommene Musik der Erfüllung, wie die, welche in Beethovens »Fidelio« ertönt, wenn Leonore Florestan die Ketten abnimmt, selbst diese unirdische Glücksmusik mediatisiert die vorige Musik der Hoffnung nicht. »Da leuchtet mir ein Farbenbogen, der hell auf dunkeln Wolken ruht« - dieser frühere Gesang Leonores, obwohl er mitten aus der Nacht kommt, hat eine eigene Art von Glück an sich. »Komm, 0 Hoffnung, laß den letzten Stern der Müden nicht erbleichen, erhell mein Ziel, sei's noch so fern, die Liebe wird's erreichen« - die Musik dieses puren Gebets an die Hoffnung verbleicht nicht ganz vor dem erfüllten Jubel, womit die Oper »Fidelio« schließt und uns entläßt. Die Hoffnungsarie Leonores hat zwar keinesfalls solche Tiefe, wie sie nachher im Augenblick der verwirklichten Hoffnung, im Augenblick der Kettenabnahme erscheint, in der fast stillstehenden Mystik dieses Augenblicks, aber sie behält trotzdem einen ungesenkten Farbenbogen, mit offen scheinendem Raum. Die Nähe also macht schwierig; leichter, selbst füllender als sie erscheint oft noch die Hoffnung, mindestens das Vorgefühl eines baldigen Eintritts des Erhofften. Als zweites macht der allzu weit ziehende und tönende Flug hier schwierig. Er ist das verselbständigt gewordene Leben im Traum, ein sich sehnsüchtig vermehrendes. Dieses Leben wird an der Erfüllung nicht sterben, will von seiner langgewohnten Bühne nicht restlos abtreten. Selbst dann nicht, wenn Trauminhalt und Erfüllung sich menschenmöglich zu decken scheinen; auch dann tritt ein zum Idol Gewordenes nicht ohne weiteres zurück. Ja die Anomalie ist möglich: das Idol setzt sich als einzig real, und gerade die Erfüllung wirkt dann als Phantom. Das Motiv dieser nicht normalen, doch jedem Wunschbild drohenden Verselbständigung ist in der Sage der ägyptischen Helena gedacht. Ein Drama des Euripides befaßt sich mit diesem eigentümlichen, ja wesenhaft fragmentarischen Stoff; er hätte in der Folge einen Shakespeare verdient und hat nicht einmal einen Hebbel gefunden. Zuletzt hat Hofmannsthal ein Opernlibretto daran /(211) gesetzt, das ohne die Straußsche Musik wenig bedeutet, dazu einen Essay. Der Mythos selber ist einer der lebensechtesten, auch bedeutsamsten, die auf der Straße Utopie-Wirklichkeit zu
finden sind. Hofmannsthal berichtet über ihn folgendermaßen: «Wir sind in Ägypten oder auf der zu Ägypten gehörigen Insel Pharos, vor einer Königsburg. Menelaos tritt auf, allein auf der Rückfahrt von Troja. Seit Monaten irrt sein Schiff umher, von Strand zu Strand verschlagen, immer von der Heimkehr abgetrieben. Helena, seine zurückeroberte Frau, hat er mit seinen Kriegern in einer verdeckten Bucht zurückgelassen; er sucht einen Rat, eine Hilfe, ein Orakel, das ihn belehren soll, wie er den Heimweg findet. Da tritt ihm aus dem Säulengang der Burg - Helena entgegen, nicht die schöne, allzu berühmte, die er im Schiff zurückgelassen hat, sondern eine andere und doch die gleiche. Und sie behauptet, seine Frau zu sein die andere dort im Schiff sei niemand und nichts, ein Phantom, ein Trugbild, von Hera (der Beschützerin der Ehe) damals dem Paris in den Arm gelegt, um die Griechen zu narren. Um dieses Phantoms willen sind zehn Jahre Krieg geführt worden, sind Zehntausende der besten Männer gefallen, ist die blühendste Stadt Asiens in Asche gesunken. Sie aber, Helena, die einzig wirkliche, habe indessen von Hermes übers Meer getragen - hier in dieser Königsburg gelebt.« Rein also, entrückt, treu hat sie gelebt, die schönste Frau, doch eine, die vom Paris nichts weiß, die Helena ohne trojanischen Krieg, nicht die ungeheuerliche Kokotte, nicht das Idol, das bei allen Kämpfen gegenwärtig war, nicht der Siegespreis. Der Wechsel ist zu jäh, der Idol-Entzug zu umfangreich, als daß Menelaos ohne weiteres daran glauben kann, ja eben: glauben will. Zehn Jahre Fixierung an die trojanische Helena stehen der ägyptischen im Wege; auch Euripides läßt derart den Menelaos sagen: «Der Wucht erlittener Leiden trau ich mehr als dir!« Menelaos wendet sich zum Gehen, da kommt vom Schiff ein Bote und meldet, auf dem Schiff habe sich das Wesen, das man für Helena hielt, in feurige Luft aufgelöst. Wonach also an der bloßen Phantom-Existenz der trojanischen Kokotte so wenig ein Zweifel bleibt wie an der Wirklichkeit der ägyptischen Tugendfrau: ein Streif feurige Luft hier (doch noch im Verschwinden, noch im Untergang glühend), ein Leib- /(212) haftiges, einzig Reelles dort. In der Tat muß sich Menelaos bei Euripides zufrieden geben, er fährt mit der ägyptischen, nicht der trojanischen Helena nach Hause, in den Königshof nach Sparta, wo sie auch von Homer, im vierten Gesang der Odyssee, geschildert wird. Nicht viel bewundert, viel gescholten, sondern als ruhig waltende fürstliche Gutsfrau, deren Gemüt kaum noch von einer Erinnerung an Troja bewegt wird. Es sei denn von einer kurzen und lächelnden, von einer weniger leichtfertig als unbeteiligt ausgesprochenen (Od. IV. v. 145): die Frau des Menelaos erwähnt, daß um ihres lockenden Hundeblicks willen die Achäer vor Troja ziehen mußten (die Hündin ist eine alte Allegorie des Hetärischen). Sonst gibt sie an, den Jammer, den sie geschaffen hat, beweint zu haben, und gibt alle Schuld der Aphrodite, die sie entführt hat (v. v. 251-264) - ganz distanziert, ganz als wäre sie stets die ägyptische Helena gewesen. Insoweit scheint nicht nur auf dem Schiff, auch in Sparta alles in Ordnung; um die große Liebesgöttin wurde Menelaos beneidet, zur tugendhaft gebliebenen Ehefrau wird er beglückwünscht. Indes in der wahren Tiefe der Sache trägt sich dieses zu: die trojanische oder Traum-Helena hat vor der ägyptischen voraus, daß sie zehn Jahre lang einen Traum bewohnt, ja den Traum als Traumgestalt erfüllt hat. Eben gegen dieses kommt die spätere reale Erfüllung nur schwer, jedenfalls nicht vollständig auf; es bleibt der leuchtende Rest des Traums, es bleibt ein Streif feurige Luft, es verselbständigt sich Fata Morgana. Denn das Objekt der realen Erfüllung war bei den Abenteuern selber nicht anwesend, zum Unterschied vom Traumobjekt; das Verwirklichte stellt eine sehr späte Bekanntschaft dar. Nur die trojanische, nicht die ägyptische Helena zog mit den Fahnen, hat die Sehnsucht der zehn utopischen Jahre in sich aufgenommen, die Erbitterung und die
Haßliebe des Hahnrei, die vielen Nächte fern von der Heimat, das wilde Feldlager und den Vorgenuß des Sieges. So eben tauschen sich leicht die Gewichte: die Luftsirene in Troja, mit der sich eine Welt von Schuld, Leid, vor allem aber von Hoffnung verbindet, bleibt in dieser merkwürdigen Aporie fast das Reale, die Wirklichkeit wird fast zum Phantom. Vom Kokottenglanz der trojanischen Helena ganz abgesehen hat eben die ägyptische nicht den Utopieglanz /(213) der trojanischen für sich, sie zog nicht mit in der Sehnsucht der Fahrt, den Abenteuern des Kampfs, dem Wunschbild der Erringung; so scheint die ägyptische Wirklichkeit als solche von geringer Dimension. Mindestens schafft der Untergang der Phantasie an der Realisierung (wenn auch an ihrer eigenen, sie erfüllenden) in letzterer Ausfallserscheinungen, die das Bewußtsein der Realisierung selbst vermindern, wo nicht diese selbst relativieren. Die ägyptische Helena kann viele Namen haben - ihr Euripidesproblem, nicht bloß als literarisch, antiquarisch erscheinend, ist folglich stellvertretend. Es droht weithin, als Verdinglichung des Zieltraums, mindestens als dessen wirklichkeitsähnlich gewordenes Fortleben. In jeder Erfüllung, sofern und soweit diese totaliter schon möglich ist, bleibt ein eigentümliches Element Hoffnung, dessen Seinsweise nicht die der vorhandenen oder vorerst vorhandenen Wirklichkeit ist, folglich mitsamt ihrem Inhalt übrigbleibt. Jedoch freilich: sie ist, wenn sie nicht abstrakt ist, sondern in der konkreten Verlängerungslinie des von ihr Überholten läuft, nie ganz außerhalb des objektiv Möglichen in der Wirklichkeit; vielmehr ist dies trojanisch Helenahafte auch in Helena vorgepunktet. Sonst hätte es an ihr gar keinen Raum gefunden und keine Glaubwürdigkeit des Allbegehrten, des Kampfziels. Und weiterhin: die an einem Objekt entzündbare Imago ist auch als eine nach Erreichung fortschwebende nicht in der Luft, sondern gegebenenfalls in der noch weiter deutenden real-utopischen Möglichkeit des Objekts selbst. Dort kann erst die volle Kongruenz von Intentions- und Erreichtheits-Inhalt latent sein, das ist: die Identität des Identischen und des Nicht-Identischen (letzteres hier als Intentions-, als Hoffnungs-Abstand verstanden). Ruhe aber ist der Tag, wo die ägyptische Helena auch den Glanz um die trojanische mitenthält. Einwand gegen den ersten und zweiten Grund: Odyssee des Stilliegens Will doch das Träumen keineswegs dauernd nach vorwärts weisen. Der Trieb dahinter wird von lauter Ausgemaltem durchaus nicht satt. Auch das Träumen selbst geht nicht auf Traum, derart, /(214) daß es sich nur an Bildern freute. Der Mensch im Wachtraum genießt vielmehr die Vorstellung, wie das wäre, wenn etwas wie das Geträumte wäre, gerade also wirklich würde. Daher gibt es bereits subjektiv ein Gegengewicht gegen die Verdinglichung des Traums und gegen das Hoffen, das in der Ankunft nicht selber ankommt, vielmehr, im doppelten Sinn des Worts, zurückbleibt. Das Gegengewicht ist im Daß des Intendierens, im Wunsch und Willen zum Wirklichwerden selber gesetzt. Der Traum als solcher verwirklicht sich nicht, das ist ein Minus, aber Fleisch und Bein kommen hinzu, das ist ein ersetzendes Plus. Auch sind die Fälle bekannt, wo das Gewünschte, wenn es eintritt, nicht bloß durch die Gewalt des Landens, des Stilliegens, der Verwirklichung überraschen mag, sondern sogar durch ein gewisses inhaltliches Surplus, das nicht geträumt war. Ist die Blüte als solche nicht mehr in der Frucht, so war das Fruchthafte als solches auch nicht in der Blüte; und die vorige Traumstraße kann kürzer erscheinen als die nun betretene reale Straße. So wird das Dunkel des Jetzt und Da, wird selbst der
Verlust der Traumfarbe zuweilen überpointiert, als wären sie nicht vorhanden. Als gäbe es präsent erfahrene Erfüllung toto coelo bereits im vorhandenen Aggregatzustand des Wirklichseins. Die Hoffnung scheint es denn gar nicht mehr nötig zu haben, enttäuscht an der Entbehrung zu sein, so wenig wie die Erfahrung unnachsichtig gegen die Hoffnung. Das Gefühl erster Liebe gehört hierher, als alle Knospen sprangen, das Gefühl packender Begegnung, begeistert erfahrener Zeitwende, Zeitgröße. Dauernd merkwürdig, nämlich präsent wirkt hierzu die Bekundung Gottfrieds von Straßburg über Isolde, gerade an Helena erinnernd, als an die schönste Frau: Von diesem Wahn bin ich gekommen, den hat Isolde mir benommen, so daß ich fortan nimmer wähne, die Sonne komme von Mykene. Solch reiner Glanz ertagte in Griechenland nie, er tagt nur hie! Es bleibt unbenommen, dies Bewußtsein Gottfrieds auch auf sein anderes, auf ein werkhaftes Über-Griechenland seiner Zeit zu übertragen, etwa aufs Straßburger Münster: als dessen Inschrift /(215) im Geist des zeitgenössischen Beschauers. Überhaupt ist Werkstolz selber, im Geist des Produzenten, zu großer Präsenz imstande, am Tag der Vollendung, wenn die Sonne, die so oft herangewachte, als Krone aufgeht. Am deutlichsten scheint dieser Augenblick, endlos antizipiert und trotzdem endlich gelingend, bei Klopstock, nach Beendigung des Messias: Ich bin an dem Ziel, an dem Ziel! und fühle, wo ich bin Es in der ganzen Seele leben! So wird es (ich rede menschlich Von göttlichen Dingen) uns einst, ihr Brüder des, Der starb und erstand, bei der Ankunft im Himmel sein! All dergleichen wirkt als historische Geistesgegenwart schlechthin, als Stilliegen, das doch die ganze vorige Odyssee in sich zu haben scheint. Klopstocks Vergleich weist selber auf jenes stärkste Exempel der Landung hin, das in der Unio mystica mythisch bezeichnet war: keine Erwartung bleibt vor ihr zurück, keine Intention hält sich, nicht einmal die des Sursum corda, erst recht kein Abstand. Und doch tritt auch hier ein Rest, ein nie verschwundener, auf die Dauer wieder vor. Denn alle diese Berührungen sind noch keine, selbst der Blick auf sie ist bloß Vorblick, selbst das Gefühl, das sie erregen, bloß Vorgefühl. Wenig Ruhenderes wird damit erreicht, als daß das Dunkel des Jetzt und Da sowie der Verlust der Traumfarbe am Erreichten kurz überpointiert werden. Objektiv berechtigt bleibt, auch bei noch so Klopstockschen Krönungen, doch nur Fausts Vorgefühl eines höchsten Augenblicks. Es bleibt die Odyssee in Fahrt, so gelingt noch nicht eine Odyssee des Stilliegens mit Idendität der Ankunft und des Fahrt-Inhalts. Das Vorgefühl selber, das durchaus doch auf Erreichbarkeit und Ankunft bezogene, ist allerdings höchst wichtig; denn ihm entspricht die auf Realisierung gezielte, Realisierung setzende Daß-Tendenz des Wachtraums und seiner antizipierenden Vollkommenheit. Keinesfalls also schmuggelt sich hier wieder die sogenannte unendliche Annäherung ans Ideal ein, jene Skrupelart, die es mit der Realisierung gar nicht ernst meint. Jedoch das Gegenteil zur unendlichen Annäherung ist eben nicht die schiere Präsenz, nicht die behauptete Total-Gelungenheit der Ankunft /(216) im Ziel, sondern das Gegenteil ist die Endlichkeit des Prozesses und des dadurch immerhin überblickbaren Antizipationsabstands zum Ziel hin. Dieses echte,
nämlich einen erreichbaren Endzustand implizierende Vorgefühl erfüllt zweifellos am weitesten, demokratischsten, humansten die ungeheuren Augenblicke der glücklich begonnenen, dann sieghaft sich feiernden Revolution. Doch wieder nur und gerade hier nur derart, daß sie auf den Lorbeeren des Präsens nicht ausruht, daß sie vielmehr, in der noch so andringenden Geschafftheit von Sieg, diesen Sieg erst recht als Aufgabe erfaßt und so das glückliche Präsens gleichzeitig als Unterpfand der Zukunft erfaßt. Die Revolutionen verwirklichen die ältesten Hoffnungen der Menschheit: eben deshalb implizieren sie, verlangen sie die immer genauere Konkretion des als Reich der Freiheit Gemeinten und der ungeschlossenen Fahrt darauf hin. Nur wenn ein Sein wie Utopie selber (folglich die noch völlig ausstehende Realitätsart: Gelungensein) den Treibens-Inhalt des Jetzt und Da ergriffe, wäre auch die Grundbefindlichkeit dieses Treibens: die Hoffnung total in das Gelungensein der Wirklichkeit einbezogen. Bis zu dieser möglichen Erfüllung ist die Intention Wachtraumwelt in Gang; keine Abschlagszahlung läßt sie vergessen. Keine Verabsolutierung eines bloßen Vorgefühls darf das Eingedenken in dieser Intention vergessen lassen. Denn es ist das Eingedenken des Grundinhalts in unserem Treiben, als überhaupt noch nicht ins Bewußtsein, gar ins Gelungensein eingetretenen, welcher eben deshalb noch in Utopie steht. Die höchste Gewissenhaftigkeit dieses Eingedenkens ist in dem Psalmwort gesetzt: »Meine Rechte soll verdorren, wenn ich dein vergesse, Jerusalem.« Auch ohne religiöse Akzente, auch ohne Kontrastakzente zu einem sogenannten Exil des Daseins wurde noch nie eine Verwirklichung verabsolutiert, ohne daß ein letzter Teil ihres Wachtraums übriggeblieben, also über das Erlangte zu dessen möglichem Nochbessersein weitergezogen wäre. Ein neuer Gipfel erscheint hinter dem bisher erreichten: dies Plus ultra läßt so die Verwirklichung nicht schwächen, sondern macht sie schärfer zum Zweck hin. Ohnedies haben die Dauer, die Nicht-Entsagung des Hoffnungsbilds im Dauerproblem: Verwirklichung und in den Gründen dieses Problems selber ihren Ursprung. (217)
Dritter Grund der utopischen Restbilder: die Aporien der Verwirklichung
Auch im Eintreten von etwas ist noch ein Etwas, das hinter sich zurückbleibt. Täter und Tun des Verwirklichens sind nicht herausgeführt, sie leben weiter an sich. Sie bleiben von der Tat, die sich von ihnen loslöst, weg, wie das Werkzeug vom fertigen Gerät wegbleibt oder der Dichter von seinem Gedicht. Und in jeder Erfüllung, selbst in der, die dem Zielbild sozusagen zum Verwechseln ähnlich scheint, steckt ein Stückwerk des Aktiven, das der Schwäche des Verwirklichens zur Last fällt, der quantitativen wie der qualitativen. Aus der quantitativen Schwäche stammt der rastlose Wille zur Fortarbeit ohne Abschluß; gegen diesen Willen ergeht der römische Rat: manum de tabula. Aus der qualitativen Schwäche stammt der Entschluß, sogar ein fertiggestelltes Werk von Grund auf neu zu beginnen, im Einklang mit einem Vollendungsbild, das während der wachsenden Arbeit selber mitgewachsen ist und so doppelt unverwirklicht scheint. Darin liegt der Ursprung eines Fiaskos und eines ägyptischen Helena-Problems auch in dieser Sphäre. Hoffmanns Phantasiestück «Ritter Gluck« läßt den Komponisten der »Armida« (oder den Irren, der ihn verkörpern will) «etwas Weniges« sogar nach seinem Tod umgehen, um »Armida« neu zu spielen, »gleichsam in höherer Potenz«, so zu spielen, wie sie »aus dem Reich der Träume kam«. Das quantitative wie erst recht
das qualitative Defizit im Akt des Verwirklichens selbst ist bisher kaum noch hinreichend philosophisch durchdacht worden; und das trotz der überwältigenden inneren, äußeren Erfahrung daran. Ein Grund hierfür liegt auch darin, daß die menschliche Tätigkeit als solche erst spät sich ihrer bewußt wurde. Arbeit war Sache der Sklaven und der Handwerker, der Gedanke nahm von deren Vollbringen, Verwirklichen nur kurze Notiz. Schaffen wie Erkennen galten antik als reines Abbilden eines Gegebenen, herrschend ist passive Schau, das Werk zeichnet sie bloß nach. Das auch ethisch: nach Sokrates kann niemand freiwillig Unrecht tun, das Wissen des Guten setzt unweigerlich zugleich dessen Tun. Es gibt hier also weder einen Trotz gegen das sittlich Aufgezeigte noch einen Willen zu ihm; das Verwirklichen ist so passiv und darin schein- /(218) bar so selbstverständlich, daß es nicht einmal genannt, geschweige gedacht wird. Diese geringe Achtung auf den eigenen, aktiven Akt des Verwirklichens änderte sich auch grundlegend nicht, als mit der neueren Zeit der homo faber, der Macher, Unternehmer, Erzeuger philosophisch durchaus reflektiert wurden. Ja indem der Akt der Erzeugung ausschließlich rationalisiert, das heißt, als ein rein logischer Akt gefaßt wurde, lieferte die rationalistische, wo nicht panlogische Ideologie ein weiteres Motiv, die Nicht-Reflexion der Verwirklichung betreffend. Damals, im Rationalismus, war aus der anfänglich rein mathematisch gefaßten Erzeugung, die nur Formalgegenstände setzt und bestimmt, schließlich, nach vielen Umqualifizierungen dieser »Konstruktion«, die Weltbildung selber geworden. Sie ist eine noch überwiegend formale, das heißt an Mathematik orientierte, so bei Kant, worin Vernunft die Erfahrungswelt macht. Dann wurde Erzeugung gar eine inhaltlich versuchte, an der künstlerischen Produktion orientierte; so bei Schelling, indem die Spontaneität hier nicht nur der Natur ihre Gesetze vorschreibt, sondern - als die mit Bewußtsein produktive Natur - die Natur schafft, das ist, sie zu ihrer Freiheit belebt und in ihre eigene Entwicklung versetzt. Und Erzeugung wurde schließlich bei Hegel eine vollendet, inhaltlich versuchte, an der Geschichte und ihrer Genesis orientierte, indem hier aus der »gediegenen fortwaltenden Vernunft« sämtliche Forminhalte der Welt dialektisch entspringen sollten. Das also ist in nuce der klassisch-idealistische Gedanke der Erzeugung, des Ursprungs, der Wirklichkeitsbildung, und er wird ersichtlich dem Problem der Verwirklichung, obwohl es gesehen wurde, nicht viel mehr gerecht als die Antike. Denn die Verwirklichung erscheint auch hier nicht als ein eigener Akt, sie erscheint lediglich als ein sich ohnehin entfaltender Logos. Der Erkenntnisgrund bleibt der gleiche wie der Realgrund; denn der Realgrund ist selber nur ein logisch-panlogischer, einer innerhalb des Weltgedankens, aus dem bei Hegel schließlich die ganze Welt besteht. Und vor allem: die antike Passivität des Verwirklichens ist trotz dem homo faber und seiner Philosophie nicht aufgegeben: der Pan-Logos bindet das Erzeugen immer wieder in ein bloßes Offenbarmachen ein. Das macht: dem kontemplativen Denken insgesamt (und jedes idealistische Denken ist kontem- /(219) plativ) bleibt Verwirklichung bloße »Verleiblichung« einer Zielidee, als einer ohnehin existenten und als einer sozusagen fertigen, wie sie sich durch den Täter oder Bildner lediglich noch mit Fleisch bekleidet. Die Verwirklichung kommt hier aus der logischen Konsequenz der Sache selbst; sie kommt daraus sogar bei dem einzigen Denker, der, obwohl er in der Antike lebte, die Verwirklichung wenigstens zur Kategorie, wenn auch nicht zum Problem machte: bei Aristoteles. Er sah die vielfachen Störungen der Realisation, und trotzdem legte er diese, sogar besonders dicht, ans Herz der zur «Entelechie« gewordenen Idee, als deren eigenste Angelegenheit. Verwirklichung ist nach Aristoteles einzig Selbstverwirklichung der den Dingen innewohnenden Gestalt-Idee oder Entelechie;
die Entelechie ist so selber die Energie (oder der actus) zu ihrer Realisation. Ein nicht so Logisches allerdings zeigt sich bei dem ersten Denker der Verwirklichung gleichfalls: eben ein nicht so Logisches, das den Störungen, wohl gar Aporien der Verwirklichung von ferne gerecht zu werden versucht. Aristoteles legt das vorhandene, hinter der Entelechie zurückbleibende Stückwerk der Verwirklichung der - mechanischen Materie zur Last, sofern diese «störende Nebenursachen« in die entelechetischen Zweckursachen hineinschickt. Auf diese Weise entsteht das nicht Bestimmte, entsteht das Zufällige in der Natur und das launenhafte Geschick auf dem Gebiet des absichtlichen Geschehens, der Geschichte. Ein immerhin dem Problem zugewandter, obzwar idealistischer Gedanke, und wie verwandt ist ihm das Goethesche im Faust: »Dem Herrlichsten, was auch der Geist empfangen, / Drängt immer fremd und fremder Stoff sich an.« Wie verwandt selbst das Hegelsche, bei allerEinschränkung des Nicht-Panlogismus auf die Natur: «Am größten ist diese Zufälligkeit im Reiche der konkreten Gebilde, die aber als Naturdinge nur unmittelbar konkret sind... Es ist die Ohnmacht der Natur, die Begriffsbestimmungen nur abstrakt zu erhalten und die Ausführung des Besonderen äußerer Bestimmbarkeit auszusetzen« (Enzyklopädie § 230). Und doch zeigt sich auch daran das Problem der Verwirklichung nicht an und in ihr selbst gestellt, sondern es wird auf einen Sündenbock abgeschoben: auf die mechanische Materie oder, bei Hegel, aufs Außersichsein der ganzen Natur selbst, als des «unaufgelösten Widerspruchs«. /(220) Drängen sich aber nicht Täter und Tun selber immer fremd und fremder an? Das ist ein Gedanke, der das Verwirklichen an sich in sein noch dunkles Herz treffen möchte. Zuletzt läßt sich darum von den philosophiegeschichtlichen Erinnerungen, Realisierung und ihre Schwäche betreffend, nicht scheiden, ohne noch auf den späteren Schelling hingewiesen zu haben, der als einziger immerhin das Realisierungs-Problem vom totalen Rationalismus losreißen wollte, es dafür freilich heilloser Mythologie überantwortet hat: der Mythologie vom Sündenfall und vom Abfall Luzifers. Nach dem späteren Schelling folgt aus dem Quid oder dem rational erfaßbaren Wesen einer Sache überhaupt nicht ihr Quod oder ihr Daß-Dasein und Eintritts-Ursprung. Vielmehr: Wirklichwerden der Idee ist an seinem unvordenklichen Ursprung partikulärer Wille, als «Abfall von der Idee«, und zwar einer, der bereits in Gott selbst geschieht, im Abgrund oder Ungrund des göttlichen Grundes. Schellings Schrift «Philosophie und Religion« vereint so den Logos als Schöpfer und setzt eine Art Urverbrechen, den finster-bösen Partikularwillen, an die Quelle des Seins: »Mit einem Wort, vom Absoluten zum Wirklichen gibt es keinen stetigen Übergang, der Ursprung der Sinnenwelt ist nur als vollkommenes Abbrechen von der Absolutheit, durch einen Sprung, denkbar« (Werke VI, S.38). Damit hat Schelling die Verwirklichung in der Tat auf ein anderes Blatt gebracht als das von der Idee beschriebene; sie hört auf, eine bloße Manifestierungs-Funktion des objektiv Logischen zu sein. Diese Verweisung vom Logischen auf ein Willenhaftes und Daß-Intensives geschah allerdings um den Preis, daß die Verwirklichung sowohl in Mythologie gebracht wie innerhalb dieser Mythologie schlechthin verteufelt worden ist. Wobei noch hinzukommt: nicht nur der irrationale erste Weltanstoß, auch jede Einzelverwirklichung in der Welt erzeugt nach Schelling, indem sie vom irrationalen Anstoß her weiterläuft, ausschließlich Zwietracht und Regellosigkeit, Mißgeburt, Krankheit und Tod. So weit also hat Schelling Verwirklichendes und Idee auseinandergerissen, so sinnlos-total hat er die Aporien der Verwirklichung selber zur Unlösbarkeit verabsolutiert. Und die überlieferte Bindung des Realisierens an eine fertige, lediglich zu manifestierende Idee hat auch Schelling nicht gelöst. Die Bindung ist nur als eine negative /(221) ausgesprochen worden: der böse
Partikularwille verwirklicht das dem guten Universalwillen Entgegengesetzte. Offener Horizont ist auch hier weder dem Realisierungsfaktor noch seinem Zielbild zugebilligt, so wenig wie bei den Optimisten der Fleischwerdung. Das also sind die Gründe, warum die quantitative wie qualitative Schwäche der Verwirklichung noch recht unbehandelt vorliegt. Ersichtlich sind deren Aporien - vom Stückwerk bis zur noch vorhandenen Nichtdeckung auch der besten Verwirklichung mit dem Zielbild außerhalb des Utopieproblenis überhaupt nicht behandelbar. Desto weniger sind sie das, als ja Utopisches am Verwirklichten so mannigfach übrigbleibt und nach ihm, zu neuen Zielen, wieder hervortritt. Wir sagten, auch im Eintreten von etwas sei noch etwas, das hinter sich zurückbleibt. Es dunkelt etwas an ihm und kommt von diesem Nicht, diesem Nicht-Da mitten in der unmittelbaren Nähe des Geschehens nicht ganz los. Oben wurde das Trübende des gerade gelebten Augenblicks bereits kenntlich gemacht; und eben dieses Trübe erschwert, auf unmittelbarste Weise, ein Eingetretenes ganz als solches zu erfahren. Zugleich aber ist dieses Unmittelbarste an sich nichts anderes als das Treibende, der Daß-Faktor, folglich das Intensive des Verwirklichenden selbst. Und dieses Verwirklichende steht erst recht noch im Nicht-Haben seines Akts wie Inhalts; das Dunkel des gerade gelebten Augenblicks zeigt genau dieses Sich-Nicht-Haben des Verwirklichenden an. Und es ist eben dieses noch Unerlangte im Verwirklichenden, welches primär auch das Jetzt und Da eines Verwirklichten überschattet. Darin also liegt die letzte, die prinzipielle Lösung des Nicht-, Noch-Nicht-Carpe diem, durchaus ohne Romantismen: das Verwirklichte ist prall und leicht verschattet zugleich, weil im Verwirklichenden selber etwas ist, das sich noch nicht verwirklicht hat. Das unverwirklicht Realisierende bringt dieses sein eigentümlichstes Minus ins Plus der Realisierung, sobald eine solche geschieht. Das ist das Primäre, weshalb, wie Goethe sagt, die Nähe schwierig macht; weshalb auch eine hinreichend vollkommen erscheinende Erfüllung rebus sie stantibus noch ebenso eine Melancholie der Erfüllung mit sich führt. Und weshalb das vorhergehende Zielbild, mit seinem utopisch antizipierten Gehalt, in die Erfüllung doch nicht ganz eingehen mag, also /(222) weitertreibend, oft sogar ins Sinnlose weitertreibend, übrigbleibt. Stand doch der Wunsch- oder Ziel-Inhalt selber nicht in der Nähe, die der Erreichung des Ziels eignet; gerade der ferne Zielinhalt war wegen seines Abstands, wegen seines vom Jetzt und Da Abgehaltenseins noch außerhalb des Dunkels des gerade gelebten Augenblicks. Indem das Utopisch-Antizipierte jedoch ins Verwirklichte einrückt, rückt es eben zugleich in den Schatten jener zentralsten Unmittelbarkeit heran, die als die des Verwirklichenden selbst noch nicht gelichtet ist. Aus diesem Primären ergibt sich im Weiteren zugleich das ganze Zwielicht, worin auch der Prozeß der Verwirklichung noch liegt und liegen muß, der Geschichtsprozeß heißt. Da er, infolge seines noch nicht verwirklichten Treibensund Ursprungs-Inhalts, noch ein unentschiedener ist, kann seine Mündung ebensowohl das Nichts wie das Alles, das totale Umsonst wie die totale Gelungenheit sein. Und so beglückend es in dieser so sehr dunkelhell gesprenkelten Welt ein Aufblitzen des möglichen Alles gibt, so bedrohend gehen auch Verfinsterungen des möglichen Nichts vorauf. Weit davon entfernt, daß das Sein im Tod zentriert ist, gibt es doch einen Anhauch und Umgang von Negation ohne allen Spaß, auch ohne automatische Negation der Negation. Jede Lebensgefahr gehört dazu und jeder individuelle Tod, die Millionen gefallener Jugend in den Weltkriegen gehören dazu und der durchdringende Stumpfsinn, der nichts daraus lernt. Das sind die Verzögerungen oder Vereitlungen, welche die Bedingungen positiver Verwirklichung unterbrechen; item, indem das Nicht im Sich-Nicht-Haben des
Verwirklichenden ebenso zur Nicht-Verwirklichung des wesentlichen Tendenz-Inhalts, letzthin Realisierungs-Inhalts führen kann, erzeugt dieser drohende Umgang von Umsonst und Nichts bereits die Störung, anders den Widerstand im Material, anders den riesengroßen Schlaf der Dummheit oder Disparatheit in dem so schweren Fahrwasser unserer Prozeßwelt. Dieser Nichts-Umgang ist das, was Aristoteles fälschlich der mechanischen Materie zur Last legte. Was Schelling gar als den alten Satan aus der Vernunft heraussetzen, in den Urgrund der Welt setzen wollte. Beide suchten einen Sündenbock für das Unvollkommene in ihrer vollendeten, das heißt, statisch bereits zu Ende definierten Welt. Dagegen die Einsicht in den Prozeß als /(223) eine Unentschiedenheit - mit Nichts oder Allem in der realen End-Möglichkeit - braucht keinen Sündenbock, weder in Ansehung des vorhandenen Stückwerks noch des nicht ganz eingelösten Zielbilds in seiner denkbar besten Erfüllung. Vielmehr: noch nicht hervorgetretenes Verwirklichtsein des Verwirklichenden und - damit eng zusammenhängend - noch nicht entdecktes, positiv manifestiertes, verwirklichtes Überhaupt und Wesen, das sind die Elemente in den Aporien der Verwirklichung. Nur wenn ein Sein wie Utopie wäre, wenn folglich die noch völlig ausstehende Realitätsart Gelungensein den Treibens-Inhalt des Jetzt und Da selber radikal präsent gemacht hätte, wäre auch der Grundbestand dieses Treibens: die Hoffnung als solche ganz in die verwirklichte Wirklichkeit einbezogen. Der Inhalt des Verwirklichten wäre dann der Inhalt des Verwirklichenden selber, das Was-Wesen (quidditas) der Lösung wäre genau der aufgeschlagene Daß-Grund (quodditas) der Welt. Das Wesen - die höchstqualifizierte Materie - ist noch nicht erschienen, daher repräsentiert die Vermissung in jeder bisher gelingenden Erscheinung dessen noch nicht manifestiertes Überhaupt. Aber auch zu dieser Vermissung gibt die Welt Platz, an der Front ihres Prozesses ist der Zielinhalt selber in Gärung und realer Möglichkeit. Auf diesen Zustand des Zielinhalts ist das konkret antizipierende Bewußtsein gerichtet, in ihm hat es seine Offenheit und Positivität. /(224) 17 DIE WELT, WORIN UTOPISCHE PHANTASIE EIN KORRELAT HAT REALE MÖGLICHKEIT, DIE KATEGORIEN FRONT, NOVUM, ULTIMUM UND DER HORIZONT Der Kritiker kann also an jede Form des theoretischen und praktischen Bewußtseins anknüpfen und aus den eigenen Formen der existierenden Wirklichkeit die wahre Wirklichkeit als ihr Sollen und ihren Endzweck entwickeln ... Es wird sich dann zeigen, daß die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewußtsein besitzen muß, um sie wirklich zu besitzen. Marx, Brief an Ruge, 1843 Ich halte mich daran, daß der Weltgeist der Zeit das Kommandowort, zu avancieren, gegeben; solchem Kommando wird pariert; dies Wesen schreitet wie eine gepanzerte, festgeschlossene Phalanx unwiderstehlich und mit so unmerklicher Bewegung, als die Sonne schreitet, vorwärts, durch dick und dünn; unzählbare leichte Truppen gegen und für dasselbe flankieren darum herum, die meisten wissen gar von nichts, um was es sich handelt, und kriegen nur Stöße durch
den Kopf, wie von einer unsichtbaren Hand. Die sicherste Partie ist wohl, den Avanceriesen fest im Auge zu behalten. Hegel, Brief an Niethammer, 1816 Der Mensch ist nicht dicht Sich ins Bessere denken, das geht zunächst nur innen vor sich. Es zeigt an, wieviel Jugend im Menschen lebt, wieviel in ihm steckt, das wartet. Dies Warten will nicht schlafen gehen, auch wenn es noch so oft begraben wurde, es starrt selbst beim Verzweifelten nicht ganz ins Nichts. Auch der Selbstmörder flüchtet noch in die Verneinung wie in einen Schoß; er erwartet Ruhe. Auch die enttäuschte Hoffnung irrt quälend umher, ein Gespenst, das den Rückweg zum Friedhof verloren hat, und hängt widerlegten Bildern nach. Sie vergeht nicht an sich selber, sondern nur an einer neuen Gestalt ihrer selbst. Daß man derart in Träume segeln kann, daß Tagträume, oft ganz ungedeckter Art, möglich sind, dies macht den großen Platz des noch offenen, noch ungewissen /(225) Lebens im Menschen kenntlich. Der Mensch fabelt Wünsche aus, ist dazu imstande, findet dazu eine Menge Stoff, wenn auch nicht immer vom besten, haltbarsten, in sich selbst. Dies Gären und Brausen oberhalb des gewordenen Bewußtseins ist das erste Korrelat der Phantasie, das zunächst nur inwendige, ja in ihr selbst befindliche. Auch die dümmsten Träume sind immerhin seiend als Schäume; die Tagträume enthalten sogar einen Schaum, woraus zuweilen eine Venus gestiegen ist. Das Tier kennt nirgends dergleichen; nur der Mensch, obwohl er viel wacher ist, wallt utopisch auf. Sein Dasein ist gleichsam weniger dicht, obwohl er, mit Pflanze und Tier verglichen, viel intensiver da ist. Das menschliche Dasein hat trotzdem mehr gärendes Sein, mehr Dämmerndes an seinem oberen Rand und Saum. Hier ist gleichsam etwas hohl geblieben, ja ein neuer Hohlraum erst entstanden. Darin ziehen Träume, und Mögliches, das vielleicht nie auswendigwerden kann, geht inwendig um. Vieles in der Welt ist noch ungeschlossen Freilich ginge auch inwendig nichts um, wäre das Auswendige völlig dicht. Draußen aber ist das Leben so wenig fertig wie im Ich, das an diesem Draußen arbeitet. Kein Ding ließe sich wunschgemäß umarbeiten, wenn die Welt geschlossen, voll fixer, gar vollendeter Tatsachen wäre. Statt ihrer gibt es lediglich Prozesse, das heißt dynamische Beziehungen, in denen das Gewordene nicht völlig gesiegt hat. Das Wirkliche ist Prozeß; dieser ist die weitverzweigte Vermittlung zwischen Gegenwart, unerledigter Vergangenheit und vor allem: möglicher Zukunft. Ja, alles Wirkliche geht an sein er prozessualen Front über ins Mögliche, und möglich ist alles erst Partial-Bedingte, als das noch nicht vollzählig oder abgeschlossen Determinierte. Hierbei freilich muß zwischen dem bloß erkenntnisgemäß oder objektiv-Möglichen und dem Real-Möglichen, als dem einzigen, worauf es im vorliegenden Zusammenhang ankommt, unterschiedenwerden. Objektiv möglich ist alles, dessen Eintritt auf Grund einer bloßen Partial-Erkenntnis seiner vorhandenen Bedingungen wissenschaftlich erwartbar ist oder wenigstens nicht ausgeschlossen werden kann. Real möglich dagegen ist alles, dessen Bedingungen /(226) in der Sphäre des Objekts selber noch nicht vollzählig versammelt sind; sei es, daß sie erst noch heranreifen, sei es vor allem, daß neue - obzwar mit den vorhandenen vermittelte -
Bedingungen zum Eintritt eines neuen Wirklichen entspringen. Bewegtes, sich veränderndes, veränderbares Sein, wie es als dialektisch-materielles sich darstellt, hat dieses unabgeschlossene Werdenkönnen, Noch-Nicht-Abgeschlossensein in seinem Grund wie an seinem Horizont. So daß von hier ab gesagt werden kann: das real Mögliche zureichend vermittelter, also dialektisch-materialistisch vermittelter Neuheit gibt der utopischen Phantasie ihr zweites, ihr konkretes Korrelat: eines außerhalb eines bloßen Gärens, Brausens im inneren Kreis des Bewußtseins. Und solange die Wirklichkeit noch keine vollständig ausdeterminierte geworden ist, solange sie in neuen Keimen wie neuen Räumen der Ausgestaltung noch unabgeschlossene Möglichkeiten besitzt: solange kann von bloß faktischer Wirklichkeit kein absoluter Einspruch gegen Utopie ergehen. Es kann Einspruch gegen schlechte Utopien ergehen, das heißt gegen abstrakt ausschweifende, schlecht vermittelte, jedoch gerade die konkrete Utopie hat in der Prozeßwirklichkeit ein Korrespondierendes: das des vermittelten Novum. Nur diese Prozeßwirklichkeit und nicht eine aus ihr herausgerissene, verdinglicht-verabsolutierte Tatsachenhaftigkeit kann daher über utopische Träume richten oder sie zu bloßen Illusionen herabsetzen. Gibt man jeder bloßen Tatsächlichkeit in der Außenwelt dieses kritische Recht, so verabsolutiert man das fixiert Vorhandene und Gewordene zur Realität schlechthin. Es wird aber allein schon innerhalb der stark gewandelten Wirklichkeit von heute klar, daß die Begrenzung aufs Faktum eine sehr wenig realistische war; daß die Realität selber unaufgearbeitet ist, daß sie Anrückendes, Hervorbrechendes am Rand hat. Der Mensch dieser Zeit versteht sich durchaus auf Grenzexistenz außerhalb des bisherigen Erwartungszusammenhangs von Gewordenheit. Er sieht sich nicht mehr von scheinbar vollendeten Tatsachen umgeben und hält diese nicht mehr für das einzig Reale; mögliches faschistisches Nichts ist, erschütternd, in diesem Realen aufgegangen und vor allem, endlich betreibbar und fällig, der Sozialismus. Ein anderer Realitätsbegriff als der verengte und erstarrte der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahr- /(227) hunderts ist so fällig, ein anderer als der des prozeßfremden Positivismus und auch noch seines Pendants: der unverbindlichen Idealwelt aus purem Schein. Der erstarrte Realitätsbegriff war zuweilen selbst in den Marxismus eingedrungen und machte ihn dadurch schematisch. Es genügt nicht, vom dialektischen Prozeß zu reden, dann aber die Geschichte als eine Reihe aufeinanderfolgender Fixa oder auch geschlossener »Totalitäten« zu behandeln. Hier droht eine Verschmalerung und Schmälerung der Wirklichkeit, eine Abkehr von »Wirkungskraft und Samen« in ihr; und das ist kein Marxismus. Vielmehr: die konkrete Phantasie und das Bildwerk ihrer vermittelten Antizipationen sind im Prozeß des Wirklichen selber gärend und bilden sich im konkreten Traum nach vorwärts ab; antizipatorische Elemente sind ein Bestandteil der Wirklichkeit selbst. Also ist der Wille zur Utopie mit objekthafter Tendenz durchaus verbindbar, ja in ihr bestätigt und zu Hause. Militanter Optimismus, die Kategorien Front, Novum, Ultimum Es tut not, daß gerade der geschlagene Mann das Draußen wieder versucht. Was heraufkommt, ist noch nicht entschieden, was als Sumpf steht, kann durch Arbeit ausgetrocknet werden. Durch das Doppelte von Mut und Wissen kommt die Zukunft nicht als Geschick über den Menschen, sondern der Mensch kommt über die Zukunft und tritt mit dem Seinen in sie ein. Das Wissen, das der Mut und das vor allem die Entscheidung braucht, kann aber hierbei nicht die häufigste Weise des
bisherigen haben: nämlich eine betrachtende. Denn das nur betrachtende Wissen bezieht sich notwendig auf Abgeschlossenes und so Vergangenes, es ist hilflos gegen Gegenwärtiges und blind für Zukunft. Ja es kommt sich desto mehr als Wissen vor, je weiter zurück seine Gegenstände im Vergangenen und Abgeschlossenen liegen, je wenigeres also dazu beiträgt, daß aus der Geschichteals einer in Tendenz geschehenden - für Gegenwart und Zukunft etwas gelernt werde. Das zur Entscheidung notwendige Wissen hat sinngemäß eine andere Weise: eine nicht nur betrachtende, vielmehr eine mit dem Prozeß gehende, die dem sich durcharbeitend Guten, das ist, Menschenwürdigen des Prozesses aktivparteiisch verschworen /(228) ist. Überflüssig zu sagen, daß diese Weise des Wissens auch die einzig objektive ist, die einzige, die das Reale in der Geschichte wiedergibt: nämlich das von arbeitenden Menschen hergestellte Geschehen samt den reichen Prozeßverfechtungen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Und das Wissen dieser Art ruft eben dadurch, daß es kein nur betrachtendes ist, durchaus die Subjekte der bewußten Herstellung selber auf. Es huldigt, indem es nicht Quietismus ist, auch in der Beziehung auf die entdeckte Tendenz nicht jenem banalen, automatischen Fortschritts-Optimismus an sich, der nur eine Reprise des kontemplativen Quietismus ist. Er ist diese Reprise, weil er auch die Zukunft als Vergangenheit verkleidet, weil er sie wie ein in sich selber längst Beschlossenes und so Abgeschlossenes anblickt. Vor dem Zukunftsstaat, der derart als abgemachte Konsequenz innerhalb der sogenannten eisernen Logik der Geschichte dasteht, kann dann das Subjekt genauso die Hände in den Schoß legen, wie es sie vor Gottes Ratschluß gefaltet hatte. Dergestalt wurde, beispielsweise, der Kapitalismus, dadurch, daß man ihn zu Ende funktionieren läßt, als sein eigenerTotengräber angegeben, und sogar noch seine Dialektik erschien als sich selbst genügsam, als autark. Das alles aber ist grundfalsch, ja so sehr neues Opium fürs Volk, daß cum grano salis selbst ein Schuß Pessimismus dem banalautomatischen Fortschrittsglauben an sich vorziehbar wäre. Denn ein Pessimismus mit realistischem Maß ist immerhin nicht so hilflos überrascht vor Fehlschlägen und Katastrophen, vor den entsetzlichen Möglichkeiten, die gerade im kapitalistischen Fortgang gesteckt haben und weiter stecken. Denken ad pessimum ist jeder Analyse, die es nicht wieder verabsolutiert, ein besserer Mitfahrer als die billige Vertrauensseligkeit; es macht so die kritische Kälte gerade im Marxismus aus. Automatischer Optimismus ist für jede wendende Entscheidung nicht viel weniger Gift als verabsolutierter Pessimismus; denn wenn letzterer ganz offen der unverschämten, der sich bei Namen nennenden Reaktion dient, zum Zweck der Entmutigung, so hilft ersterer der verschämten Reaktion, zum Zweck der augenzwinkernden Duldung und Passivität. Was also statt des falschen Optimismus - zum Zweck des wahren - dem Wissen der Entscheidung, der Entscheidung des erlangten Wissens einzig zugeordnet ist, ist /(229) wiederum das konkret-utopisch begriffene Korrelat in der realen Möglichkeit: begriffen als eines, worin zwar keineswegs bereits aller Tage Abend ist, doch ebensowenig bereits - im Sinn des nicht-utopischen Optimismus - aller Abende Tag. Die Haltung vor diesem Unentschiedenen, jedoch durch Arbeit und konkret vermittelte Aktion Entscheidbaren heißt militanter Optimismus. Mit ihm werden, wie Marx sagt, zwar keine abstrakten Ideale verwirklicht, wohl aber die unterdrückten Elemente der neuen, vermenschlichten Gesellschaft, also des konkreten Ideals, in Freiheit gesetzt. Es ist die revolutionäre Entscheidung des Proletariats, welche heute, im Endkampf der Befreiungen, sich einsetzt, eine Entscheidung des subjektiven Faktors im Bund mit den objektiven Faktoren der ökonomisch-materiellen Tendenz. Und nicht, als
wäre dieser subjektive Faktor, als der der Verwirklichung und Weltveränderung, eine andere als eine materielle Tätigkeit; er ist eine solche, so gewiß er auch, wie Marx in der 1. These über Feuerbach betont, als die tätige Seite (Erzeugung, Produktivität, Spontaneität des Bewußtseins) zuerst vom Idealismus und nicht vom (mechanischen) Materialismus entwickelt worden ist. Und wieder nicht, als ob die Aktivität, die zur Weltveränderung, also zum militanten Optimismus gehört, auch nur einen Augenblick ohne Bündnis mit den real-gegenwärtigen Tendenzen wirklich eingreifend, haltbar umwälzend sein könnte; denn bleibt der subjektive Faktor isoliert, so wird er lediglich ein Faktor des Putschismus, nicht der Revolution, der Spiegelbergereien, nicht des Werks. Sind jedoch die Anschlüsse der Entscheidung eingesehen - und es ist eben das Wissen in der Entscheidung, das diese Einsicht garantiert -, dann kann die Macht des subjektiven Faktors nicht hoch, auch nicht tief genug eingeschätzt werden, gerade als die militante Funktion im militanten Optimismus. Konkrete Entscheidung zum Lichtsieg in der realen Möglichkeit ist das Gleiche wie der Gegenzug gegen das Mißlingen im Prozeß. Ist das Gleiche wie der Gegenzug der Freiheit gegen das vom Prozeß abgehobene, ihn aus Stockung und Verdinglichung konterkarierende sogenannte Schicksal. Ist das Gleiche wie der Gegenzug gegen alle diese Todeserscheinungen aus der Familie des Nichts und gegen den Umgang des Nichts als der anderen Alternative der realen Möglichkeit selber. Ist so letzthin /(230) der Gegenzug gegen das durchdringend Ruinöse purer Negation (Krieg, Einbruch der Barbarei), damit durch Umlenkung dieser Vernichtung auf sich selbst gegebenenfalls auch hier die Negation der Negation Platz erlange und die Dialektik aktiv siege. Konkrete Entscheidung steht dabei allemal im Kampf gegen die Statik, doch indem sie eben nicht Putschismus, sondern als militanter ebenso fundierter Optimismus ist, steht sie im Frieden mit dem Prozeß, der die Todes-Statik selber gegen den Strich bürstet. Mensch und Prozeß, besser: Subjekt wie Objekt im dialektisch-materiellen Prozeß stehen demgemäß gleichermaßen an der Front. Und es gibt für den militanten Optimismus keinen anderen Ort als den, welchen die Kategorie der Front eröffnet. Die Philosophie dieses Optimismus, das ist, der materialistisch begriffenen Hoffnung, ist selber, als das pointierte Wissen der Nicht-Betrachtung, mit dem vordersten Abschnitt der Geschichte beschäftigt, und das auch dann noch, wenn sie sich mit Vergangenheit beschäftigt, nämlich mit der noch unabgegoltenen Zukunft in der Vergangenheit. Philosophie der begriffenen Hoffnung steht darum per definitionem an der Front des Weltprozesses, das ist, an dem so wenig durchdachten vordersten Seinsabschnitt der bewegten, utopisch offenen Materie. Nicht alles, was bekannt ist, ist auch gekannt, am wenigsten, wenn Frische vorliegt. So liegt mit dem Begriff der Front auch der damit so eng verbundene der Neuheit im argen. Das Neue: es geht seelisch in der ersten Liebe um, auch im Gefühl des Frühlings; letzteres hat trotzdem kaum einen Denker gefunden. Es erfüllt, immer wieder vergessen, den Vorabend großer Ereignisse, mitsamt einer höchst bezeichnenden Mischreaktion von Bangen, Gewappnetsein, Zuversicht; es fundiert, bei verheißenem Novum des Glücks, Adventsbewußtsein. Es geht durch die Erwartungen fast sämtlicher Religionen, soweit primitives, auch altorientalisches Zukunftsbewußtsein überhaupt richtig verstanden werden kann; es durchzieht die ganze Bibel, von Jakobs Segen bis zum Menschensohn, der alles neu macht, und dem neuen Himmel, der neuen Erde. Trotzdem ist die Kategorie Novum nicht im entferntesten zulänglich bezeichnet worden, und in keinem vormarxistischen Weltbild fand sie Raum. Oder schien sie ihn zu finden, wie bei Boutroux und vor allem in der Jugend- /(231) oder Sezessionsphilosophie Bergsons, dann wurde das
Neue lediglich unter dem Aspekt sinnlos wechselnder Moden betrachtet und so gefeiert; es entstand dadurch nur die andersartige Starre einer immer gleichen Überraschung. Dergleichen wurde bereits bei der Sperre klargestellt, die den Begriff des Noch-Nicht-Bewußten solange verhindert hat; derart, daß die Aufdämmerung, das Incipit vita nova, auch in der sogenannten Lebensphilosophie immer wieder ein Fixum bleibt. So erscheint der Begriff des Neuen bei Bergson lediglich als abstrakter Gegensatz zur Wiederholung, ja oft als bloße Kehrseite mechanischer Gleichförmigkeit; zugleich wurde er jedem Lebensmoment ausnahmslos und deshalb entwertend zugeschrieben. Selbst die Dauer eines Dings, die als fließend vorgestellte durée, wird von :Bergson auf fortwährendes Anderssein gegründet; angeblich, weil bei wirklich unverändertem Verharren, Anfang und Ende dieses Zustands ununterscheidbar wären, objektiv zusammenfielen und so das Ding gerade nicht dauerte. Und das Novum insgesamt wird bei Bergson nicht durch seinen Weg erläutert, seine Sprengungen, seine Dialektik, seine Hoffnungsbilder und genuinen Produkte, sondern eben immer wieder durch den Gegensatz zum Mechanismus, durch die inhaltlose Beteuerung eines ·Elan vital an und für sich. Große Liebe zum Novum ist wirksam, große Inklination zur Offenheit springt in die Augen, doch der Prozeß bleibt leer und produziert immer wieder nichts als den Prozeß. Ja, die ewige metaphysische Vitalitätstheorie erlangt schließlich statt des Novum nur Taumel, eben wegen der beständig verlangten, um ihrer selbst willen verlangten Richtungsänderung; so entsteht mit ihr nicht die von Bergson gepriesene Kurve, sondern ein Zickzack, in dem - vor lauter Entgegensetzung zur Gleichförmigkeit - nur die Figur des Chaos ist. Folgerichtig endet auch das abstrakt gefaßte Futurum in einem l'art pour l'art der Vitalität, das Bergson selbst der Rakete vergleicht oder »einem immensen Feuerwerk, das stets neue Feuergarben aus sich heraussprühen läßt« (L'Evolution créatrice, 1907, p. 270). Wie auch an dieser Stelle zu betonen: es gibt bei Bergson überhaupt kein echtes Novum; seinen Begriff hat er aus lauter Übersteigerung eben nur zur kapitalistischen Moden-Novität hingebracht und so stabilisiert; Elan vital und nichts sonst ist /(232) und bleibt selber ein Kontemplations-Fixum. Der gesellschaftliche Grund für Bergsons Pseudo-Novum liegt im Spätbürgertum, das überhaupt kein inhaltlich Neues mehr in sich hat. Der dem entsprechende ideologische Grund liegt letzthin in der alten, bemüht reproduzierten Ausschaltung zweier der wesentlichsten Beschaffenheiten des Novum überhaupt: der Möglichkeit und der Finalität. In beiden sieht Bergson die gleiche Schematik des tötenden, wechselfeindlichen Verstands, die er Sonst als Verräumlichung, Kausalität, Mechanismus am Werk sieht. Das mächtige Reich der Möglichkeit wird ihm derart ein Schein der Retrospektion: es gibt gar kein Mögliches bei Bergson, es ist ihm eine Projektion, die von dem neu Entstehenden in die Vergangenheit hinein entworfen wird. Im Möglichen wird nach Bergson das soeben entspringende Novum nur als »möglich gewesen seiend« gedacht: »Das Mögliche ist nichts anderes als das Wirkliche plus einem geistigen Akt, der das Bild dieses Wirklichen in die Vergangenheit zurückwirft, sobald das Wirkliche entstanden ist... Das wirkliche Hervorquellen unvorhersehbarer, in keinem Möglichen vorhergezeichneter Neuheit ist aber ein Wirkliches, das sich möglich macht, nicht ein Mögliches, das wirklich wird« (La Pensée et le Mouvant, p. 133). Bergson reproduziert damit bezeichnenderweise fast den Anti-Möglichkeits-Beweis des Megarikers Diodoros Kronos, der gerade den Eleaten, den Lehrern einer absoluten Ruhe, nahestand. Und ebenso verschließt sich Bergson dem Begriff des Novum, indem er die Finalität als ledigliche Statuierung eines starren Endziels ansieht, statt als Zielstrebigkeit des Menschenwillens, der in den offenen Möglichkeiten der
Zukunft gerade sein Wohin und wozu erst sucht. Besser: als Zielstrebigkeit einer Arbeit, vor allem einer Planung, die ihr Wohin und Wozu pointiert hat und die Wege dahin geht. Indem Bergson aber alle Vorhersehbarkeit mit statischer Vorausberechnung zusammenfallen läßt, hat er nicht nur die schöpferische Antizipation verfehlt, diese Morgenröte im Menschenwillen, sondern das echte Novum insgesamt, den Horizont der Utopie. Und die beständig pointierte Wetterwendigkeit, Uferlosigkeit machten Bergsons Neuheits-Universum schwerlich zu dem, als was er es, mit dennoch unvermeidlicher Finalität, phantasmagorierte: zur «Maschine, um Götter zu erzeugen«. In Summa: zum /(233) Novum gehört, damit es wirklich eines sei, nicht nur der abstrakte Gegensatz zur mechanischen Wiederholung, sondern selber eine Art spezifischer Wiederholung: nämlich des noch ungewordenen totalen Zielinhalts selber, der in den progressiven Neuheiten der Geschichte gemeint und tendiert, versucht und herausprozessiert wird. Daher weiterhin: Das dialektische Entspringen dieses totalen Inhalts wird nicht mehr durch die Kategorie Novum, sondern durch die Kategorie Ultimum bezeichnet, und an dieser freilich hört die Wiederholung auf. Doch nur dadurch hört sie auf, daß im gleichen Maß wie das Ultimum die letzte, also höchste Neuheit darstellt, die Wiederholung (die unablässige Repräsentiertheit des Tendenzziels in allem progressiv Neuen) sich zur letzten, höchsten, gründlichsten Wiederholung: der Identität steigert. Wobei die Neuheit im Ultimum kraft des totalen Sprungs aus allem Bisherigen heraus geradezu triumphiert, doch eines Sprungs zur aufhörenden Neuheit oder Identität. Die Kategorie Ultimum liegt nicht so undurchdacht vor wie die des Novum; das Letzte war allemal ein Gegenstand jener Religionen, die auch der Zeit eine Zeit setzten, und so vor allem der jüdisch-christlichen Religionsphilosophie. Jedoch machte es sich gerade in dieser Kategorialbehandlung kenntlich, daß die ihr sachgemäß vorherzugehende des Novum so gut wie nicht vorhanden war. Denn das Ultimum ist in der gesamten jüdisch-christlichen Philosophie, von Philon und Augustin bis Hegel, ausschließlich auf ein Primum und nicht auf ein Novum bezogen; infolgedessen erscheint das Letzte lediglich als erlangte Wiederkehr eines bereits vollendeten, verloren oder entäußert gegangenen Ersten. Die Form dieser Wiederkehr nimmt die vorchristliche des sich verbrennenden und wieder erneuernden Phönix auf, sie nimmt die Heraklitische und stoische Lehre vom Weltbrand auf, nach der das Zeus-Feuer die Welt in sich zurücknimmt und sie ebenso wieder, in periodischem Kreislauf, aus sich entläßt. Und dieses eben: der Kreislauf ist die Figur, welche das Ultimum dermaßen ans Primum heftet, daß es darin logischmetaphysisch verschießt. Gewiß, Hegel sah in dem Fürsichsein der Idee, das sein Ultimum ist und worin der Prozeß wie in einem Amen aushallt, das Primum des Ansichseins der Idee nicht nur reproduziert, sondern erfüllt: die »vermittelte Unmittelbarkeit« /(234) ist im Fürsichsein erreicht, statt der unvermittelten im Anfang des bloßen Ansichseins. Aber dieses Resultat blieb, wie in jeder einzelnen Gestaltepoche des Weltprozesses, so auch in seiner Gesamtheit, hier dennoch ein zyklisches; es ist der vom Novum gänzlich freie Kreislauf der Restitutio in integrum: »Jeder der Teile der Philosophie ist ein philosophisches Ganzes, ein sich in sich selbst schließender Kreis,... das Ganze stellt sich daher als ein Kreis von Kreisen dar« (Enzyklopädie § 15). Item, trotz größerer Durchdachtheit wurde hier überall auch das Ultimum entspannt, dadurch, daß sein Omega ohne Macht des Novum sich wieder ins Alpha zurückschlingt. Auch dort gilt das schließlich, wo das Alpha-Omega mechanisch-materialistisch zum Dunstball säkularisiert worden ist, aus dem die Welt stammt und wohin sie sich wieder auflöst. Das Original und der Archetyp von alldem bleibt das Alpha-Omega im
Umfassungsring eines Urwesens, zu dem der Prozeß fast als verlorener Sohn zurückkehrt und die Substanz seines Novum ungeschehen macht. Das alles eben sind Gefängnisbildungen gegen die reale Möglichkeit oder eine Desavouierung ihrer, die sogar noch das progressivste historische Produkt einzig als Wiedererinnerung oderWiederherstellung eines einst Besessenen, Ur-Verlorenen visieren will. Folglich ist, wie gerade am Ultimum erhellt, bei diesem, aber auch bei allem Novum vorher, einzig Anti-Wiedererinnerung, Anti-Augustin, Anti-Hegel philosophisch am Platz, Anti-Kreis und Verneinung des Ring-Prinzips, des bis Hegel und Eduard von Hartmann, ja bis Nietzsche intendierten. Die Hoffnung aber, die an keinem Ende nur so weit sein will, wie sie am Anfang schon war, hebt den scharfen Zyklus auf. Die Dialektik, die in der Unruhe ihren Motor hat und im unerschienenen Wesen ihren keineswegs ante rem vorhandenen Zielinhalt, hebt den zähen Zyklus auf. Die Spannungsfiguren und Tendenzgestalten, die Real Chiffern in der Welt, auch diese Proben auf ein noch ungelungenes Exempel heben durch ihren besonders hohen Prozentgrad von Utopie den grundsterilen Zyklus auf. Die Humanisierung der Natur hat kein Elternhaus am Anfang, dem sie entlaufen ist, zu dem sie, mit einer Art von Ahnenkult in der Philosophie, wieder zurückkehrt. Entspringen doch im Prozeß selber, noch ohne Problem des Ultimum, eine Unzahl realer Möglichkeiten, die dem /(235) Anfang nicht an der Wiege gesungen worden sind. Und das Ende ist nicht die Wiederbringung, sondern es ist-gerade als Einschlag des Was-Wesens in den Daß-Grund - die Aufsprengung des primum agens materiale. Anders gesagt: das Omega des Wohin erläutert sich nicht an einem urgewesenen, angeblich allerrealsten Alpha des Woher, des Ursprungs, sondern konträr: dieser Ursprung erläutert sich selbst erst am Novum des Endes, ja er tritt als ein an sich noch wesentlich unverwirklichter erst mit diesem Ultimumin-Realität. Der Ursprung ist gewiß das Verwirklichende selbst; doch eben: wie gerade im Verwirklichen noch etwas unreif und noch nicht verwirklicht ist, so fängt die Verwirklichung des Verwirklichens, des Verwirklichenden selbst immer erst noch an, zu beginnen. In der Geschichte ist sie die Selbstergreifung des geschichtlichen Täters, als des arbeitenden Menschen; in der Natur ist sie die Verwirklichung dessen, was man hypothetisch natura naturans oder Subjekt der materiellen Bewegung genannt hat, ein noch kaum berührtes Problem, obwohl es mit der Selbstergreifung des arbeitenden Menschen deutlich zusammenhängt und in der Verlängerungslinie der Marxschen »Humanisierung der Natur« liegt. Der Austragsort für beiderlei Selbstergreifung und ihr Novum, ihr Ultimum befindet sich aber einzig an der Front des Geschichtsprozesses und hat überwiegend erst vermittelt reale Möglichkeit sich gegenüber. Diese bleibt dasjenige, was der exakten Antizipation, der konkreten Utopie als objektiv-reales Korrelat korrespondiert. Im gleichen Sinn, wie das konkret Utopische ein objektiv-realer Realitätsgrad an der Front der geschehenden Welt ist, als Noch-Nicht-Sein der »Naturalisierung des Menschen, Humanisierung der Natur«.Das so bezeichnete Reich der Freiheit bildet sich sinngemäß nicht als Rückkehr, sondern als Exodus - wenn auch ins stets gemeinte, durch den Prozeß gelobte Land. Das »nach Möglichkeit« und das »in Möglichkeit Seiende«, Kälte- und Wärmestrom im Marxismus Auf dem Weg zum Neuen muß meist, wenn auch nicht immer, schrittweise vorgegangen werden. Nicht alles ist jederzeit möglich und ausführbar, fehlende
Bedingungen hemmen nicht nur, /(236) sondern sperren. Rascherer Gang ist zwar dort erlaubt, ja geboten, wo die Strecke keine anderen Gefahren zeigt als überängstlich oder pedantisch ausgedachte. So brauchte Rußland nicht erst vollkapitalistisch zu werden, bevor es mit Er folg das sozialistische Ziel verfolgen konnte. Auch die vollständigen technischen Bedingungen zum sozialistischen Aufbau konnten in der Sowjetunion nachgeholt werden, soweit sie in anderen Ländern bereits entwickelt und von dort übernehmbar waren. Dagegen kann, wie selbstverständlich, ein Weg, der überhaupt noch nicht begangen worden ist, nur mit Mißerfolgen überschlagen und übersprungen werden. Denn möglich ist zwar alles, wozu die Bedingungen zureichend partiell vorliegen, jedoch ebendeshalb ist alles noch faktisch unmöglich, wozu die Bedingungen überhaupt noch nicht vorliegen. Das Zielbild erweist sich dann subjektiv wie objektiv als Illusion; die Bewegung darauf hin geht dann unter; bestenfalls setzt sich, wenn sie vorankommt, infolge der vorhandenen und determinierenden ökonomisch-sozialen Bedingungen ein ganz anderes Ziel durch als das überschlagend-abstrakt intendierte. Gewiß, im bürgerlich-idealen Traum von den Menschenrechten waren von Anfang an schon die Tendenzen tätig, die hernach den reinsten Kapitalismus brachten. Aber selbst hier schwebte überdies eine Stadt der Bruderliebe, ein Philadelphia vor, besonders weit von dem wirklichen Philadelphia gelegen, das auf der Tagesordnung der Wirtschaftsgeschichte stand und so an den Tag kam. Und nicht viel anderes als ein solches Philadelphia dürfte auch die Frucht der reinen, der schlechthin nur chiliastischen Utopien geworden sein, wenn sie nicht untergegangen, sondern nach dem Maß des damals Möglichen ans Ziel gelangt waren. Die ökonomischen Bedingungen, die der radikale Wille zum tausendjährigen Reich von Joachim di Fiore bis zu den englischen Millenariern überschlagen hat und noch überschlagen mußte, hätten sich doch gemeldet, im Erreichten selbst gemeldet: und sie wären, wieder kraft der noch bevorstehenden kapitalistischen Tagesordnung, durchaus keine gewesen, die zum Liebesreich prädestinieren. All das ist völlig begreifbar geworden mittels der marxistischen Entdeckung, wonach konkrete Theorie-Praxis aufs engste zusammenhängt mit dem erforschten Modus objektiv-realer Möglichkeit. Sowohl die kritische Vor- /(237) sicht, die das Tempo des Wegs bestimmt, wie die fundierte Erwartung, die einen militanten Optimismus in Ansehung des Ziels garantiert, werden durch Einsicht in das Korrelat der Möglichkeit bestimmt. Und zwar so, daß dieses Korrelat, wie jetzt spruchreif wird, selber wieder zwei Seiten hat, gleichsam eine Rückseite, auf welche die Maße des jeweils Möglichen geschrieben sind, und eine Vorderseite, worauf das Totum des zu guter Letzt Möglichen sich als immer noch offen kenntlich macht. Eben die erste Seite, die der maßgeblich vorliegenden Bedingungen, lehrt das Verhalten auf dem Weg zum Ziel, während die zweite Seite, die des utopischen Totum, grundsätzlich verhüten läßt, daß Partialerreichungen auf diesem Weg für das ganze Ziel genommen werden und es zudecken. Bei alldem muß festgehalten werden: auch das dergestalt doppelseitige Korrelat: reale Möglichkeit ist nichts anderes als die dialektische Materie. Reale Möglichkeit ist nur der logische Ausdruck für materielle Bedingtheit zureichender Art einerseits, für materielle Offenheit (Unerschöpftheit des Materie-Schoßes) andererseits. Oben, im vorigen Kapitel (vgl. S.219), wurde, bei Gelegenheit der »störenden Nebenursachen» während der Verwirklichung, bereits ein Teil der Aristotelischen Materie- Definitionen herangezogen. Es wurde erwähnt, daß nach Aristoteles die mechanische Materie einen Widerstand darstellt, demgemäß die entelechetische Tendenzgestalt sich nicht rein ausprägen kann. Daraus will Aristoteles die vielen Hemmungen, Zufalls-Durchkreuzungen, auch die zahllosen
Fortschritts-Torsi erklären, deren die Welt voll ist. An der angegebenen Stelle wurde diese Definition der Materie als die eines Sündenbocks bezeichnet, und das ist sie auch, sofern sie verabsolutiert wird, und sofern sie dazu dienen soll, die Materie zur Entlastung der Entelechie insgesamt zu verteufeln. Doch ist freilich von solchem Insgesamt, solcher Verabsolutierung bei Aristoteles keine Rede, vielmehr ist seine Materie keineswegs auf die mechanische beschränkt, und selbst diese, woraus diese stammt, ist eben dem höchst umfassenden Begriff oder objektiv-realen Möglichkeit bei Aristoteles erstmals zugeordnet. Diese Zuordnung eröffnet nun auch dem Begriff der hemmenden Materie einen neuen, nicht durchkreuzenden, sondern determinierenden Sinn: die »mechanische Materie« ergänzt und /(238) erweitert durch das nach Möglichkeit, nach den Maßen der Möglichkeit Seiende. Materie ist also nach dieser Seite der Ort der Bedingungen, nach deren Maßgabe Entelechien sich ausprägen; sie heißt so nicht nur Mechanik, sondern viel weiter: durchgehender Bedingungszusammenhang. Und erst aus diesem Nach-Möglichkeit-Seienden schreibt sich letzthin die Hemmung her, welche die entelechetische Tendenzgestalt auf ihrem Weg erfährt. Es schreibt sich davon auch die Folge her, daß der Bildhauer, unter »günstigeren Bedingungen« arbeitend, schönere Leiber bilden kann als die physischen, die geboren sind, und daß ein Dichter seinen Gestalten die Zufälligkeit und die Enge vom Pfad entfernt, sie, wie Aristoteles in der »Poetik« sagt, aus dem jeweils Einzelnen in die reicheren Möglichkeiten eines Ganzen versetzt. All das wäre aber nicht möglich, wenn Aristoteles - und das ist von zentralster Wichtigkeit - nicht bereits auch die andere Seite, die Vorderseite der Möglichkeits-Materie ausgezeichnet hätte, ja sie als die gänzlich hemmungsfreie erkannt hätte; Materie ist nicht nur nach Möglichkeit, also das nach dem gegebenen Maß des Möglichen jeweils Bedingende, sondern sie ist das In-Möglichkeit- Seiende, also der - bei Aristoteles freilich noch passive - Schoß der Fruchtbarkeit, dem auf unerschöpfte Weise alle Welt gestalten entsteigen. Mit dieser letzteren Bestimmung ist genau die freundliche, wo nicht die Hoffnungs-Seite der objektiv-realen Möglichkeit eröffnet worden, so lange es auch dauerte, bis sie begriffen wurde; das utopische Totum ist impliziert. Wir wiederholen und fassen zusammen: der kritischen Beachtung des jeweils zu Erreichenden ist das Nach- Möglichkeit-Seiende der Materie vorgeordnet, der fundierten Erwartung der Erreichbarkeit selber das InMöglichkeit- Seiende der Materie. Und indem in der pantheistischen Schule der Aristoteliker aus letzterer Bestimmung das Passive gestrichen wurde, indem es nict mehr wie bestimmungsloses Wachs erschien, auf dem die Form-Entelechien sich ausprägen, wurde das Potential Materie schließlich Geburt wie Grab wie neuer Hoffnungs-Ort der Weltgestalten überhaupt. Diese Entwicklung des Aristotelischen Materiebegriffs zieht sich über den peripatetischen /(239) Physiker Straton, über den ersten großen Aristoteles-Kommentator Alexander von Aphrodisias, über die morgenländischen Ariststoteliker Avicenna, Averroes und seine natura naturans, über den neuplatonisierenden Aristoteliker Avicebron, über die christlichen Ketzerphilosophen des dreizehnten Jahrhunderts Amalrich von Bena und David von Dinant bis hin zur weltschafenden Materie Giordano Brunos (vgl. dazu Ernst Bloch, Avicenna und die Aristotelische Linke, 1952, S. 3off.). Ja noch das sich ausgebärende Substrat der Hegelschen Weltidee, diese von Materie sich so bald fortbewegende, enthält trotzdem ein Großteil der Materie-Potentialität, der potenzhaft gewordenen. Lenin merkt im »Philosophischen Nachlaß« (S.62) dazu besonders den Satz aus Hegels Logik an: »Dies, was als Tätigkeit der Form erscheint, ist ferner ebenso die eigene Bewegung der Materie selbst.« Es gibt mehrere ähnliche Sätze Hegels, auch in seiner Pbilosophiegeschichte (Werke XIII,
S.33), den Aristoteles-Begriff der Entwicklung betreffend, wo er mindestens das Ansichsein seiner Idee der Aristotelischen Materie gleichsetzt. Und die Vermutung ist gerechtfertigt, daß ohne dieses Aristotelisch-Brunosche Erbstück Marx mehreres an der Hegelschen Weltidee nicht so natürlich hätte auf die Füße stellen können. Noch wäre die Dialektik des Prozesses vom sogenannten Weltgeist materialistisch herüberzuretten gewesen und an der Materie als Bewegungsgesetz erfaßbar geworden. So aber erschien eine vom mechanischen Klotz recht verschiedene Materie, die Materie des dialektischen Materialismus, als eine, woran Dialektik, Prozeß, Entäußerung der Entäußerung, Humanisierung der Natur keineswegs nur äußerliche Beiworte sind, gar angeheftete. Soviel hier über die Korrelate zur kritischen Beachtung des Erreichbaren, zur fundierten Erwartung der Erreichbarkeit selber innerhalb des umfassenden Korrelats: reale Möglichkeit oder Materie. Kälte wie Wärme konkreter Antizipation sind darin vorgebildet, sind auf diese beiden Seiten des real Möglichen bezogen. Seine unerschöpfte Erwartungsfülle bescheint die revolutionäre Theorie-Praxis als Enthusiasmus, seine strengen unüberschlagbaren Determinierungen fordern kühle Analyse, vorsichtig genaue Strategie; das letztere bezeichnet kaltes, das erstere warmes Rot. Diese zwei Weisen Rotsein gehen gewiß stets zusammen, /(240) dennoch sind sie unterschieden. Sie verhalten sich zueinander wie das Unbetrügbare und das Unenttäuschbare, wie Säure und Glauben, jedes an seinem Ort und jedes zum gleichen Ziel verwendet. Der situationsanalytische Akt des Marxismus ist mit dem begeisternd-prospektiven verschlungen. Die beiden Akte sind in der dialektischen Methode, im Pathos des Ziels, in der Totalität des behandelten Stoffs vereint, dennoch zeigt sich deutlich auch die Blick- und Lagen-Verschiedenheit. Sie wurde als eine zwischen der jeweiligen Bedingungs-Erforschung nach Maßgabe des Möglichen und der Aussichts-Erforschung des In-Möglichkeit-Seienden erkannt. Die bedingungsanalytische Forschung zeigt ebenfalls Aussicht, aber mit dem Horizont als einem begrenzenden, als dem des begrenzt Möglichen. Ohne solche Abkühlung käme Jakobinertum oder gar völlig verstiegene, abstraktest-utopische Schwärmerei heraus. So wird hier dem Überholen, Überschlagen, Überfliegen Blei in die Sohlen gegossen, indem das Wirkliche erfahrungsgemäß selber einen schweren Gang hat und selten aus Flügeln besteht. Aber die Aussichts-Erforschung des In-Möglichkeit-Seienden geht auf den Horizont im Sinn unverstellter, ungemessener Weite, im Sinn des noch unerschöpft und unverwirklicht Möglichen. Das ergibt dann freilich erst Aussicht im eigentlichen Sinne, das ist: Aussicht aufs Eigentliche, auf das Totum des Geschehenden und zu Betreibenden, auf ein nicht nur jeweils vorliegendes, sondern gesamthistorisch-utopisches Totum. Ohne solche Erwärmung der historischen wie erst der aktuell-praktischen Bedingungsanalyse unterliegt letztere der Gefahr des Ökonomismus und des zielvergessenen Opportunismus; dieser vermeidet die Nebel der Schwärmerei nur insofern, als er in den Sumpf des Philistertums gerät, des Kompromisses und schließlich des Verrats. Erst Kälte und Wärme konkreter Antizipation zusammen also bewirken, daß weder Weg an sich noch Ziel an sich undialektisch voneinander abgehalten und so verdinglicht-isoliert werden. Wobei die Bedingungsanalyse auf der ganzen geschichtlichsituationshaften Strecke ebenso als Entlarvung der Ideologien wie als Entzauberung des metaphysischen Scheins auftritt; gerade das gehört zum nützlichsten Kältestrom des Marxismus. Dadurch wird der marxistische Materialismus nicht nur zur Bedingungswissenschaft, sondern im gleichen Zug /(241) zur Kampf- und Oppositionswissenschaft gegen alle ideologischen Hemmungen und Verdeckungen der Bedingungen letzter Instanz, die immer ökonomische sind. Zum Wämestrom des
Marxismus gehören aber die befreiende Intention und materialistisch-humane, human-materialistische Realtendenz, zu deren Ziel all diese Entzauberungen unternommen werden. Von hier der starke Rekurs auf den erniedrigten, geknechteten, verlassenen, verächtlich gemachten Menschen, von hier der Rekurs auf das Proletariat als die Umschlagstelle zur Emanzipation. Das Ziel bleibt die in der sich entwickelnden Materie angelegte Naturalisierung des Menschen, Humanisierung der Natur. Diese letzte Materie oder der Inhalt des Reichs der Freiheit nähert sich im Aufbau des Kommunismus, als seinem einzigen Raum, erst an, hatte noch nirgends Präsenz; das ist ausgemacht. Doch ebenso ist ausgemacht, daß dieser Inhalt im historischen Prozeß steht und daß der Marxismus sein stärkstes Bewußtsein, sein höchst praktisches Eingedenken darstellt. Marxismus als Wärmelehre ist dergestalt einzig auf jenes positive, keiner Entzauberung unterliegende In-Möglichkeit-Sein bezogen, das die wachsende Verwirklichung des Verwirklichenden, zunächst im menschlichen Umkreis, umfaßt. Und das innerhalb dieses Umkreises das utopische Totum bedeutet, eben jene Freiheit, jene Heimat der Identität, worin sich weder der Mensch zur Welt noch aber auch die Welt zum Menschen verhalten als zu einem Fremden. Das ist Wärmelehre im Sinn der Vorderseite, der Front der Materie, also der Materie nach vorwärts. Der Weg eröffnet sich darin als Funktion des Ziels, und das Ziel eröffnet sich als Substanz im Weg, in dem auf seine Bedingungen hin erforschten, auf seine Offenheiten hin visierten. In diesen Offenheiten ist Materie nach Richtung ihrer objektiv-realen Hoffnungsinhalte latent: als Ende der Selbstentfremdung und der mit Fremdem behafteten Objektivität, als Materie der Dinge für uns. Auf dem Weg dazu hin geschieht das objektive Übersteigen des Vorhandenen in Geschichte und Welt: dies transzendenzlose Transzendieren, welches Prozeß heißt und durch die menschliche Arbeit so gewaltig auf der Erde beschleunigt wird. Materialismus nach vorwärts oder Wärmelehre des Marxismus ist derart Theorie-Praxis eines Nachhause-Gelangens oder des Ausgangs aus unangemessener /(242) Objektivierung; die Welt wird dadurch zur Nicht-mehr-Entfremdung ihrer Subjekte-Objekte, also zur Freiheit entwickelt. Das Freiheitsziel selber wird zweifellos erst vom Standort einer klassenlosen Gesellschaft her als bestimmtes In-Möglichkeit-Sein deutlich visierbar. Immerhin ist es jener Selbstbegegnung kaum fern, die unter dem Namen Kultur bildhaft gesucht worden ist; mit so viel Ideologien, doch auch mit so mancherlei Vor-Schein, Antizipationen im Horizont. Das Mittel der ersten Menschwerdung war die Arbeit, der Boden der zweiten ist die klassenlose Gesellschaft, ihr Rahmen ist eine Kultur, deren Horizont von lauter Inhalten fundierter Hoffnung, als dem wichtigsten, dem positiven In-Möglichkeit-Sein, umzogen ist.
Künstlerischer Schein als sichtbarer Vor-Schein Vom Schönen wird gesagt, daß es erfreue, ja sogar genossen werde. Doch hat es seinen Lohn damit noch nicht dahin, Kunst ist keine Speise. Denn sie bleibt auch nach ihrem Genuß, sie hängt selbst in den süßesten Fällen noch in ein »vorgemaltes« Land hinaus. Der Wunschtraum geht hier ins unstreitig Bessere hinaus, dabei ist er, zum Unterschied von den meisten politischen, bereits werkhaft geworden, ein gestaltet Schönes. Allein: lebt in dem so Gestalteten mehr als einiges scheinendes Spiel? Das zwar äußerst kunstvoll sein mag, doch zum Unterschied vom Kindlichen auf nichts Ernstes vorbereitet und es bedeutet. Ist in dem
ästhetischen Klingeln oder auch Klingen irgend bare Münze, irgendeine Aussage, die unterschrieben werden kann? Gemälde reizen weniger zu dieser Frage, denn die Farbe steht nur in sinnlicher Gewißheit, ist sonst aber schwächer mit Wahrheitsanspruch belastet als das Wort. Dient doch das Wort nicht nur der Dichtung, sondern auch der wahrheitsgemäßen Mitteilung; Sprache macht für letztere empfindlicher als Farbe, selbst als Zeichnung. Jede gute Kunst freilich beendet in gestalteter Schöne ihre Stoffe, trägt Dinge, Menschen, Konflikte in schönem Schein aus. Wie steht es aber ehrlich mit diesem Ende, mit einer Reife, in der doch nur Erfundenes reift? Wie verhält es sich mit einem Reichtum, der nur illusionär, im Augenschein, im Ohrenschein sich mitteilt? Wie verhält es sich andererseits mit Schillers /(243) immerhin prophetischem Satz, daß, was als Schönheit hier empfunden, uns als Wahrheit einst entgegengehen werde? Wie verhält es sich mit dem Satz Plotins, dann Hegels, daß Schönheit sinnliche Erscheinung der Idee sei? Nietzsche, in seiner positivistischen Periode, stellt dieser Behauptung die bedeutend massivere entgegen, daß alle Dichter lügen. Oder: die Kunst mache den Anblick des Lebens erträglich dadurch, daß sie den Flor des unreinen Denkens darüberlege. Francis Bacon sieht die goldenen Apfel in silbernen Schalen erst recht nicht weit vom Blendwerk, ja sie gehören zu den überlieferten Idola theatri. Er vergleicht die Wahrheit dem nackten, hellen Tageslicht, worin die Masken, Mummereien und Prunkzüge der Welt nicht halb so schön und stattlich erscheinen wie im Kerzenlicht der Kunst. Hiernach sind Künstler von Anfang bis Ende dem Schein verschworen, sie haben keinen Hang zur Wahrheit, sondern den entgegengesetzten. In der gesamten Aufklärung liegen Prämissen zu dieser Antithese: Kunst-Wahrheit, und sie haben die künstlerische Phantasie vom Tatsachensinn her verdächtig gemacht. Das sind die empirischen Einwände gegen das Einschmeichelnd-Trübe, gegen den goldenen Nebel der Kunst, und sie sind nicht die einzigen, die aus der Aufklärung stammen. Denn neben ihnen stehen die rationalen Einwände, die zwar ursprünglich dem Platonischen Begriffslogos und dessen besonders berühmter, besonders radikaler Kunstfeindschaft zugehören, die aber in der kalkulatorischen Verstandesrichtung der bürgerlichen Neuzeit sich gegen die Kunst aufs neue vornehm machten. Das auch dort, wo sich die von Marx bezeichnete spezifische Kunstfeindschaft des Kapitalismus im neunzehnten Jahrhundert (mit l'art pour l'art als Gegenschlag und der Kriegserklärung der Goncourts ans «Publikum«) noch nicht bemerkbar machen konnte. Allein schon die skurrile Erkundigung jenes französischen Mathematikers gehört hierher, der nach Anhören der Racineschen »Iphigénie« fragt: «Qu'est-ceque cela prouve?« So skurril, auch fachfetischistisch diese Frage dreinsieht, so steht sie doch als rein rationale in einer eigenen und großen Schule von Kunstfremdheit, in einer der empirischen ebenbürtigen. Bedeutsam fällt in allen großen Verstandessystemen der rationalistischen Neuzeit die ästhetische Schicht aus; die darin wohnenden Vorstellungen gelten als wissenschaftlich über- /(244) haupt nicht diskutierbar. Überwiegend nur kunsttechnische Lehren, wenn auch bedeutender Art, vorab die Poetik betreffend, blühten im französisch-klassizistischen Rationalismus, und einzig die mathematische Seite der Musik fand bei Descartes Interesse. Jedoch sonst weiß man weder bei Descartes noch gar bei Spinoza, daß es eine Kunst im Ordnungs-Zusammenhang der Ideen und der Sachen gibt. Selbst der universale Leibniz zog aus ihr höchstens einige Beispiele an, so über die die Harmonie erhöhende Wirkung von Schatten und Dissonanzen, weil ihm dergleichen für viel Wichtigeres: für den Beweis der besten aller möglichen Welten brauchbar war. Das harmonisch Schöne ist bei Leibniz zwar eine Art Andeutung der wissenschaftlich
erkennbaren Weltharmonie, aber es ist eine nur verworrene Andeutung, und die Wahrheit kann ihrer deshalb entraten. Folgerichtig begann die Ästhetik des Rationalismus, als sie endlich sehr spät, von dem Wolffianer Baumgarten, zur philosophischen Disziplin gemacht wurde, recht seltsam; sie begann nämlich mit ausgesprochener Geringschätzung ihres Gegenstands, ja mit Entschuldigungen ihres Daseins. Der ästhetische Gegenstand war einzig das in der sinnlichen Wahrnehmung und ihren Vorstellungen wirksame sogenannte niedere Erkenntnisvermögen. Und wenn Schönheit auch Vollkommenheit in diesem Gebiet darstellte, so war sie an Wert mit der vollständigen Deutlichkeit begrifflicher Erkenntnis doch nicht vergleichbar. Die rationalistische Herabsetzung der Kunst reiht sich nach alldem der empirisch-positivistischen an; und doch ist auch damit die Feindesgruppe noch nicht erschöpft. Ja, Kunsthaß wird erst dort völlig grell, wo er nicht aus der Vernunft, sondern, oft umgekehrt, aus dem Glauben, mindestens aus der Setzung eines spirituell Wahren herstammt. Dann ergeht Bildersturm dieses Falls nicht gegen den goldenen Nebel Kunst, wie das empiristisch und schließlich auch rationalistisch üblich war, sondern gegen das Festland Kunst, das ist, gegen die in ihr überakzentuierte Erscheinung. Die Schönheit, so lautet hier das Verdikt, verführt zur Oberfläche, vergafft sich in die wesenlose Außenseite und lenkt so vom Wesen der Dinge ab. »Was ist Gutes daran, die Schatten der Schatten nachzuahmen?« fragt Platon und macht damit seinen Begriffslogos fast schon geistlich schroff. Andererseits. »Du sollst dir kein /(245) Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder des, das oben im Himmel noch unten auf der Erde noch im Wasser unter der Erde ist«, gebietet in der Bibel das vierte Gebot und gibt das Stichwort zum Bildersturm von der Unsichtbarkeit Jahves, vom Verbot jedes Götzendienstes her. Kunst insgesamt wird so gleißende, letzthin luziferische Vollendung, die der wahren ungleisnerischen im Weg steht, ja, sie verleugnet. Das ist Kunstfeindschaft als religiöse und spirituelle; ihr entspricht in der Moralität nicht grundlos die Abwendung von der allzu großen Sichtbarkeit der »Werke«, die Hinwendung zum Unsichtbar-Echten der «Gesinnung«. Puritanertum in solch umfassendem (bis auf Bernhard von Clairvaux zurückreichendem) Sinn kulminierte zuletzt noch in Tolstois ungeheuerlichem Shakespeare-Haß, gegen das Buhlwerk Schönheit insgesamt. Ein Horror pulchri hat selbst im Katholizismus, unter dem Papst Marcellus, bis zum geplanten Verbot der reichen Kirchenmusik geführt, und dem Protestantismus gab dieser Horror, aufs Sichtbare angewandt, den kahlen Gott, der in moralischem Glauben, im Wort, das die Wahrheit ist, angebetet sein will. So verschiedener Gestalt also, empiristisch-rationalistisch, spirituell-religiös, tritt der Wahrheitsanspruch gegen das Schöne hervor. Und sind diese verschiedenen Wahrheitsansprüche (denn subjektiv ist auch der spirituelle einer gewesen) noch so untereinander entzweit, ja gegen sich selber höchst gegensätzlich aufgetreten, so sind sie trotzdem geeint im Willen zum Ernst gegen das Spiel des Scheins. Der Fall hat auch die Künstler allemal bewegt, gerade indem sie selber ernste waren. Gerade diese fühlten sich, indem sie keine Spieler sein wollten, abgeriegelte oder dekadente, der Wahrheitsfrage verpflichtet. Wie hinreichend will Schönes auch bildhaft wahr sein in den Beschreibungen und Erzählungen großer realistischer Dichter. Das nicht nur in der Schicht sinnlicher Gewißheit, sondern auch in derjenigen breit eröffneter gesellschaftlicher Zusammenhänge, naturhafter Prozesse. Wie legitim ist der Realismus Homers, ein Realismus von solch genauer Fülle, daß sich mit ihm fast die ganze mykenische Kultur vergegenwärtigen läßt. Und vom Buch Hiob, seinem 37. Kapitel, bekundet zwar kein französischer Mathematiker, wohl aber Alexander von Humboldt, als Naturforscher: «Die meteorolo- /(246)
gischen Prozesse, welche in der Wolkendecke vorgehen, die Formbildung und Auflösung der Dünste bei verschiedenerWindrichtung, ihr Farbenspiel, die Erzeugung des Hagels und des rollenden Donners werden mit individueller Anschaulichkeit beschrieben; auch viele Fragen sind vorgelegt, die unsere heutige Physik in wissenschaftlicheren Ausdrücken zu formulieren, aber nicht befriedigend zu lösen vermag« (Kosmos II, Cotta, S.35). Dergleichen Präzision und Wirklichkeit ist jeder großen Dichtung zweifellos eigen und wesentlich, oft auch in entschieden spirituell-religiöser Dichtung, wie im Bildwerk der Psalmen. Und die Forderung des bedeutenden, des jeder Oberfläche, aber auch jeder Verstiegenheit fremden Realismus, diese Ehre Homers, Shakespeares, Goethes, Kellers, Tolstois, wird in der Kunst selber (neuerer Zeit mindestens im Roman) so sehr anerkannt, wo nicht, an Höhepunkten, erfüllt, als hätte es nie ein Mißtrauen aus Wahrheitsliebe gegen den Magister ludi und sein Spielwerk gegeben. Und doch haben die Künstler, auch als noch so konkrete, die ästhetische Wahrheitsfrage nicht erledigt, sie haben sie höchstens auf wünschenswerte und bedeutende Weise ihrerseits vermehrt und präzisiert. Denn gerade am realistischen Kunstwerk zeigt sich: es ist als Kunstwerk doch noch etwas anderes als ein Quell historischer, naturkundlicher Kenntnisse, gar Erkenntnisse. Es eignen ihm kostbare Worte, die das durch sie so treffend Bezeichnete doch ebenso über seinen gegebenen Stand hinaus übertreiben, es eignet ihm vor allem eine Ausfabelung, welche mit einer der Wissenschaft höchst fremden Lizenz zwischen Personen und Ereignissen schaltet und waltet. Als eine Ausfabelung und, im doppelten Sinn des Worts, als eine Kunst-Fertigkeit dazu, mittels derer Erfundenes die Zwischenräume im konkret Beobachteten ausfüllt und die Handlung in wohlgeschwungene Bogen rundet. Ein Schein des Rundens, Überrundens ist jedenfalls auch in noch so realistischen Kunstgebilden, besonders Kunstromangebilden unübersehbar. Und ganz »überbietend« wirkt großer Schein in jenen Kunstwerken, die sich selbst nicht als primär realistisch anbieten, sei es, daß sie neben oder über der Vorhandenheit bewußt romantisieren, sei es, daß sie weit über ein bloßes »Sujet« hinaus - Mythos fruktifizieren, diesen ohnehin ältesten Nährstoff der Kunst. Giottos «Erweckung des Lazarus«, /(247) Dantes »Paradiso«, der Himmel im Schlußteil des Faust: wie verhalten sie sich - jenseits aller Realistik in Einzelheiten - zu der Philosophenfrage nach Wahrheit? Sie sind zweifellos nicht wahr im Sinn aller unserer erworbenen Welterkenntnis, aber was bedeutet dann, in legitimer, auf Welt bezogener Weise, die ungeheure Betroffenheit von dem, doch untrennbaren, Form-Inhalt dieser Werke? So wird nun doch, erstaunlicherweise, obzwar auf ganz anderer Ebene, dis »Qu'est-ce que cela prouve?« jenes französischen Mathematikers unabweisbar, auch ohne Mathematik und ganz ohne Skurrilität. Anders gesagt: die Frage nach der Wahrheit der Kunst wird philosophisch die nach der gegebenenfalls vorhandenen Abbildlichkeit des schönen Scheins, nach seinem Realitätsgrad in der keineswegs einschichtigen Realität der Welt, nach dem Ort seines Objekt-Korrelats. Utopie als Objektbestimmtheit, mit dem Seinsgrad des Realmöglichen, erlangt so an dem schillernden Kunstphänomen ein besonders reiches Problem der Bewährung. Und die Antwort auf die ästhetische Wahrheitsfrage lautet: Künstlerischer Schein ist überall dort nicht nur bloßer Schein, sondern eine in Bilder eingehüllte, nur in Bildern bezeichenbare Bedeutung von Weitergetriebenem, wo die Exaggerierung und Ausfabelung einen im BewegtVorhandenen selber umgehenden und bedeutenden Vor- Schein von Wirklichem darstellen, einen gerade ästhetisch-immanent spezifisch darstellbaren. Hier wird belichtet, was gewohnter oder ungestumpfter Sinn noch kaum sieht, an individuellen Vorgängen wie an gesellschaftlichen, wie an naturhaften. Eben dadurch wird dieser
Vor-Schein erlangbar, daß Kunst ihre Stoffe, in Gestalten, Situationen, Handlungen, Landschaften zu Ende treibt, sie in Leid, Glück wie Bedeutung zum ausgesagten Austrag bringt. Vor-Schein selber ist dies Erlangbare dadurch, daß das Metier des Ans-Ende-Treibens in dem dialektisch offenen Raum geschieht, worin jeder Gegenstand ästhetisch dargestellt werden kann. Ästhetisch dargestellt, das bedeutet: immanent-gelungener, ausgestaltet er, wesenhafter als im unmittelbar-sinnlichen oder unmittelbar-historischen Vorkommen dieses Gegenstands. Diese Ausgestaltung bleibt auch als Vor-Schein Schein, aber sie bleibt nicht Illusion; vielmehr alles im Kunstbild Erscheinende ist zu einer Entschiedenheit hin geschärft oder verdichtet, die /(248) die Erlebniswirklichkeit zwar nur selten zeigt, die aber durchaus in den Sujets angelegt ist. Das macht die Kunst mit fundiertem Schein kenntlich, in der Schaubühne als paradigmatischer Anstalt betrachtet. Sie bleibt virtuell, doch im selben Sinn, wie ein Spiegelbild virtuell ist, das heißt, einen Gegenstand außerhalb seiner, mit aller Tiefendimension, auf der Reflexionsfläche wiedergibt. Und der Vor-Schein bleibt, zum Unterschied vom religiösen, bei allem Transzendieren immanent: er erweitert, wie Schiller gerade den ästhetischen Realismus am Exempel Goethes definierte, er erweitert die »Natur, ohne über sie hinauszugehen«. Schönheit, gar Erhabenheit sind derart stellvertretend für ein noch nicht gewordenes Dasein der Gegenstände, für durchformte Welt ohne äußerlichen Zufall, ohne Unwesentlichkeit, Unausgetragenheit. Dergestalt lautet die Losung des ästhetisch versuchten Vor-Scheins: wie könnte die Welt vollendet werden, ohne daß diese Welt, wie im christlich- religiösen Vor-Schein, gesprengt wird und apokalyptisch verschwindet (vgl. dazu: Ernst Bloch, Geist der Utopie, 1923, S.141). Kunst mit ihren jederzeit einzeln-konkreten Gestaltungen sucht dieseVollendung nur in ihnen, mit dem Totalen als durchdringend angeschautem Besonderen; indes Religion allerdings utopische Vollendung in Totalität sucht und noch das Heil der individuellen Sache gänzlich ins Totum hineinstellt, in das: »Ich mache alles neu«. Der Mensch soll hier wiedergeboren werden, die Gesellschaft zur Civitas dei verwandelt, die Natur ins Himmlische verklärt werden. Kunst dagegen bleibt gerundet, als »klassische« liebt sie Küstenschiffahrt ums Gegebene, selbst als gotische hat sie, bei allem Überschreiten, Ausgeglichenes, Homogeneisiertes in sich. Sprengend, im offenen Raum geschehend, wirkt nur Musik, als welche Kunst deshalb auch stets ein Exzentrisches gegenüber den anderen Künsten an sich trägt, gleich als wäre sie auf die Ebene des Schönen oder Erhabenen nur transponiert. Alle übrigen Künste betreiben die Darstellung des reinen Karats an einzelnen Gestalten, Situationen, Handlungen der Welt, ohne daß diese Welt gesprengt ist; daher die vollkommene Sichtbarkeit dieses Vor-Scheins. So ist Kunst Nicht-Illusion, denn sie wirkt in einer Verlängerungslinie des Gewordenen, in seiner gestaltet-gemäßeren Ausprägung. Das geht so weit, daß ein antiker Schriftsteller, Juvenal, um alle /(249) möglichen Schrecken eines Ungewitters auszudrücken, dasselbe »poetica tempestas« nennt. Das geht so tief, daß Goethe, in seinen Anmerkungen zu Diderots »Versuch über die Malerei«, gegen den bloß reproduzierenden Naturalismus die Konzentration als Realismus setzt: »Und so gibt der Künstler, dankbar gegen die Natur, die auch ihn hervorbrachte, ihr eine zweite Natur, aber eine gefühlte, eine gedachte, eine menschlich vollendete zurück.« Diese humanisierte Natur ist aber zugleich eine in sich selbst vollendetere; nicht zwar in der Weise des sinnlichen Scheinens einer ohnehin fertigen Idee, wie Flegel lehrt, wohl aber in der Richtung auf wachsend entelechetische Ausprägung hin, wie Aristoteles angibt. Ja eben dieses entelechetisch oder wie Aristoteles auch sagt: typisch zum Austrag Bringende ist
kräftig neu erinnert in dem Engelsschen Satz, realistische Kunst sei Darstellung typischer Charaktere in typischen Situationen. Wobei das Typische in der Engelsschen Definition selbstverständlich nicht das Durchschnittliche bedeutet, sondern das bedeutsam Charakteristische, kurz, das an exemplarischen Instanzen entschieden entwickelte Wesensbild der Sache. In dieser Linie liegt also die Lösung der ästhetischen Wahrheitsfrage: Kunst ist ein Laboratorium und ebenso ein Fest ausgeführter Möglichkeiten, mitsamt den durcherfahrenen Alternativen darin, wobei die Ausführung wie das Resultat in der Weise des fundierten Scheins geschehen, nämlich des welthaftvollendeten Vor-Scheins. In großer Kunst sind Übersteigerung wie Ausfabelung am sichtbarsten aufgetragen auf tendenzielle Konsequenz und konkrete Utopie. Ob allerdings der Ruf nach Vollendung - man kann ihn das gottlose Gebet der Poesie nennen - auch nur einigermaßen praktisch wird und nicht bloß im ästhetischen Vor-Schein bleibt, darüber wird nicht in der Poesie entschieden, sondern in der Gesellschaft. Erst beherrschte Geschichte, mit eingreifendem Gegenzug gegen Hemmungen, mit ausführender Beförderung der Tendenz, verhilft dazu, daß Wesenhaftes im Abstand der Kunst auch wachsend Erscheinung im Umgang des Lebens werde. Das ist dann allerdings dasselbe wie richtig gewordener - Bildersturm, nicht als Vernichtung der Kunstbilder, noch als Einbruch in sie - zum Zweck der Fruktifizierung des in ihnen, gegebenenfalls, nicht nur typisch, sondern paradigmatisch, also beispiel-/(250) gebend Enthaltenen. Und überall dort, wo Kunst sich nicht zur Illusion verspielt, ist Schönheit, gar Erhabenheit dasjenige, was eine Ahnung künftiger Freiheit vermittelt. Oft gerundet, nie geschlossen: diese goethische Lebensmaxime ist auch die der Kunst - mit dem Gewissens- und Gehalt-Akzent letzthin auf dem Ungeschlossenen. Falsche Autarkie; Vor- Schein als reales Fragment Oft gerundet: es paßt nicht zu einem schönen Bild, sich als unfertig zu geben. Das Unbeendete ist ihm äußerlich, unzugehörig, und der Künstler, der das Seine nicht fertigmachte, ist darüber unglücklich. Das ist völlig richtig und selbstverständlich, sofern und soweit es sich um die zureichende Formkraft handelt. Der Quell der Kunstfertigkeit ist das Können, das seine Sache versteht und so völlig besorgen will. Aber freilich muß gerade um des nichtisolierten Besorgens willen immer wieder auch die Bedrohung durch jene Kunstfertigkeit notiert sein, die nicht aus dem Können, sondern aus dem Anteil des bloßen Scheins entspringt, den selbst der Vor-Schein hat. Dem bloßen Schein genügt der Reiz der wohlgefälligen Anschauung und ihrer Darstellung, wie imaginär das Dargestellte auch gegebenenfalls sein mag. Ja, das Imaginäre oder imaginär Gewordene kann dem bloßen Schein eine besonders dekorative Gerundetheit verleihen, eine, worin der Ernst der Sache das schön zusammen hängende Spiel am wenigsten stört, gar unterbricht. Gerade indem der bloße Schein die Bilder besonders leicht, besonders irreal beisammen wohnen läßt, garantiert er jenen wohlgefälligen Oberflächenzusammenhang, der keinerlei Interesse und Anwesenheit einer Sache jenseits der glatten Illusion zeigt. Der Unglaube an die dargestellte Sache kann der reibungslosen Illusion sogar eine Hilfe sein, mehr noch als die Skepsis. Das zeigte sich in der Renaissancemalerei, antiken Göttern gegenüber, bei deren Abbildung der Maler nicht zu befürchten brauchte, sich gegen das Heilige nicht umwittert genug verhalten zu haben; das gleiche zeigte sich wenig später in der mythologisch-gerundeten Dichtung. Camöes in den «Lusiaden« läßt seine Göttin Themis ganz ironisch und doch in den blühendsten
Versen sagen, sie selber /(251) wie auch Saturn, Jupiter und alle anderen auftretenden Götter seien »eitle Fabelwesen, die blinderWahn den Sterblichen gebar, nur dazu dienend, dem Liede Reiz zu geben«. Zwar wurden hierbei durch den Gebrauch des schönen Scheins mythologische Gehalte in Erinnerung gehalten, ja eben zu den möglichen Allegorien eines Vor-Scheins eingebracht, doch mit den Mitteln jener fertigen Gefülltheit, zu der der nirgends unterbrochene Schein besonders einladet. Und schließlich, eine weitere Einladung hierzu ergeht von der Seite der Immanenz ohne sprengenden Sprung, wie sie jede Kunst umgibt, nicht nur die antik oder antikisierend-klassische. Gerade das Mittelalter gibt in seiner Kunst manches Beispiel einer abgerundeten Befriedigung ästhetischer Art, trotz des religiös-transzendenten Gewissens. Die Gotik enthält dies Gewissen, doch in ihr selbst gab es ebenso eine merkwürdige, vom griechisch-klassischen Gleichgewicht herstammende Harmonie. Der frühere Lukács hat seinerzeit recht scharf, wenn auch übertreibend festgestellt: »So ward aus der Kirche eine neue Polis . . . , aus dem Sprung die Stufenleiter der irdischen und himmlischen Hierarchien. Und bei Giotto und Dante, bei Wolfram und Pisano, bei Thomas und Franziskus wurde die Welt wieder rund, übersichtlich, der Abgrund verlor die Gefahr der tatsächlichen Tiefe, aber sein ganzes Dunkel ward, ohne an schwarzleuchtender Kraft etwas einzubüßen, zur reinen Oberfläche und fügte sich so in eine abgeschlossene Einheit der Farben zwanglos ein; der Schrei nach Erlösung ward zur Dissonanz im vollendeten rhythmischen System der Welt und machte ein neues, aber nicht minder farbiges und vollendetes Gleichgewicht möglich als das griechische: das der inadäquaten, der heterogenen Intensitäten« (Die Theorie des Romans, 1920,S. 20f. ) Deutsche Sezessionen der Gotik wie die Grünewalds sind von dieser Art Vollendung allerdings nicht betroffen. Desto geschlossener jedoch blickt uns, wenn auch keinesfalls in klassischer Stärke, aus dem mittelmeerisch bestimmt gebliebenen Mittelalter diese Hypostase des Ästhetischen an. Und darin ist eine Ausgewogenheit und eine Fertigkeit des Zusammenhangs, die nicht nur eine idealistische ist, sondern ihrer letzten Herkunft nach aus dem - großen Pan stammt, diesem Urbild aller Rundung. Pan ist das Ein und Alles der Welt, das ebenso als jenes Ganze verehrt worden war, dem /(252) nichts fehlt. Von daher die letzthinnige Verführung zu nichts als Rundung, von daher aber auch das griechische Gleichgewicht als säkularisierte Weise des völlig heidnischen, also sprunglosen Weltbilds: des Astralmythos. In ihm war der Kosmos wirklich »Schmuck«,nämlich ausgeglichen schön; er war ein unaufhörlich in sich Kreisendes und Hen kai pan ein Kreis selber und keine offene Parabel, eine Kugel und kein Prozeßfragment. Nicht grundlos ist daher Kunst in dieser allzu rundendenGestalt sehr oft pantheistisch angelegt, und nicht grundlos wirkt umgekehrt ein fertig gefügtes System auch in außerkünstlerischem Vorkommen als wohlgefällig schön. Die Lust an der sinnlichen Erscheinung, an der Gottheit lebendigem Kleid, trägt gewiß zu diesem pantheistischen Zug das ihre bei, doch stärker verführt zu ihm der harmonischungestörte Zusammenhang, der »Kosmos« auch ohne »Universum«. Das alles mithin sind die verschiedenen Gründe, weshalb im Kunstwerk auch eine veritable Kunst-Fertigkeit, eine Autarkie der scheinhaften Abgeschlossenheit leben kann, die als übersteigert-immanent den Vor-Schein zunächst verdeckt. Doch ebenso, und das eben ist das entscheidend Andere, entscheidend Wahre - zeigt alle große Kunst das Wohlgefällige und Homogene ihres werkhaften Zusammenhangs überall dort gebrochen, aufgebrochen, vom eigenen Bildersturm aufgeblättert, wo die Immanenz nicht bis zur formalinhaltlichen Geschlossenheit getrieben ist, wo sie sich selber als noch fragmenthaft gibt. Dort öffnet sich - ganz unvergleichbar mit bloßer Zufälligkeit
des Fragmentarischen im vermeidbaren Sinn - noch ein Hohlraum sachlicher, höchst sachlicher Art, mit ungerundeter Immanenz. Und gerade darin zeigen die ästhetisch-utopischen Bedeutungen des Schönen, gar Erhabenen ihren Umgang. Nur das Zerbrochene im allzu gestillten, mit Galerieton versetzten Kunstwerk als einem zum bloßen Objet d'art gewordenen oder aber, weit besser: das selber bereits gestaltet Offene im großen Kunstwesen gibt das Material und die Form zu einer Chiffer des Eigentlichen. Nie geschlossen: so schlägt es gerade dem allzu Schönen gut an, wenn der Lack springt. Wenn die Oberfläche bleicht oder nachdunkelt, wie am Abend, wo das Licht schräg fällt und die Gebirge hervortreten. Das Zertrümmern der Oberfläche wie /(253) weiter auch des bloß kulturhaft-ideologischen Zusammenhangs, worin die Werke gestanden haben, legt Tiefe frei, wo immer sie vorhanden ist. Gemeint ist hierbei nicht die sentimentale Ruine und auch nicht jene Art Torso, die, wie öfter bei griechischen Statuen, die Figur enger zusammenhält, größere Blockeinheit und plastische Strenge herstellt. Dergleichen ist zwar gegebenenfalls Formverbesserung, aber nicht unbedingt die Chifferverstärkung, worauf es hier ankommt. Diese geschieht lediglich durch die Risse des Zerfalls, in dem ganz spezifischen Sinn, den Zerfall am Objet d'art und als Verwandlung des Objet d'art besitzt. Es entsteht auf diese Weise statt Ruine oder Torso ein nachträgliches Fragment, und zwar eines, das gerade dem Tiefeninhalt der Kunst besser gerecht werden kann als die Beendetheit, die das Werk an Ort und Stelle aufweisen mochte. Ein nachträgliches Fragment wird dergestalt, im Zerfall zur Verwesentlichung, jede große Kunst, auch eine an sich so völlig geschlossene wie die Ägyptens; denn der utopische Grund geht auf, in den das Kunstwerk eingetragen war. Wenn die Aneignung des Kulturerbes immer kritisch zu sein hat, so enthält diese Aneignung, als besonders wichtiges Moment, die Selbstauflösung des zum musealen Objet d'art Gemachten, aber auch der falschen Abgeschlossenheit, die das Kunstwerk an Ort und Stelle haben mochte und die sich in der musealen Kontemplation noch steigert. Das Inselhafte springt, eine Figuren-Folge voll offener, versucherischer Symbolbildungen geht auf. Wie sehr erst, wenn sich das Phänomen des nachträglichen Fragments mit dem im Kunstwerk selbst geschaffenen verbindet: eben nicht im üblichen, gar platten Sinn des Fragmentarischen als des Ungekonnten oder durch Zufall nicht Beendeten, sondern im konkreten Sinn des bei höchster Meisterschaft Ungeschlossenen, des durch utopischen Druck Transformierten. Das ist der Fall bei der großen Gotik, zuweilen auch im Barock, die bei aller Werkgewalt, ja wegen ihrer, einen Hohlraum hatten und dahinter eine fruchtbare Finsternis. So führt gerade die völlig ausgeführte Gotik, trotz des Pan auch hier, ein Fragment aus zentralem Nicht-Enden-Können aus. Eigentümlich, wenn danach sogar im üblichen Sinn der Abgebrochenheit Fragmente entstehen, jedoch im unüblichen, obzwar einzig legitimen Sinn eines nur angedeutet /(254) erscheinenden Ultimum. So bei Michelangelo, der mehr Fragmente hinterlassen hat als irgendein anderer großer Meister, und zwar nachdenklicherweise in seiner eigensten Angelegenheit, in seiner Plastik, nicht in seiner Malerei. Denn hierin hat er alles Angefangene beendet, wogegen er an Bildsäulen, auch in Architektur ganz unverhältnismäßig viel Halbvollendetes beiseite geschoben, nie wieder vorgenommen, zurückgelassen hat. Vasan gab der Kunstgeschichte das Signal, sich über die geringe Zahl des völlig zu Ende Geführten bei Michelangelo zu wundern und desto mehr zu wundern, als die Übergröße im vorgenommenen Ziel doch so völlig der Kraft und Natur dieses Genius entspreche. Was aber der Kunstrundung, Kunstvollendung hier Widerstand leistete, war gerade das Entsprechende zur Übergröße in Michelangelo selbst, war das
Einverständnis zwischen einer übergewaltigen Natur und dem Übergewaltigen einer Aufgabe, dergestalt, daß nichtsAusgeführtes dieser Adäquation Genüge leisten konnte, ja die Vollendung selber, als eine so tief ins Überhaupt getriebene, ein Fragment wird. Solche Art Fragment ist dann nichts Geringeres als ein Ingrediens des Un-Tempelhaften, des unharmonisiert Kathedralischen, ist das Gewissen: Gotik auch noch Post festum. Die Tiefe der ästhetischen Vollendung bringt selber das Unvollendete in Gang: insofern reicht sogar das im üblichen Sinn Nicht-Fragmentarische bei Michelangelo, die Figuren des Mediceergrabs so gut wie die Petersdomkuppel, in jenes Unmaß, das das Maß des Ultimum in der Kunst ist. Von daher schließlich das legitim, nämlich sachlich Fragment arische an allen Werken dieser ultimativen Art, im Westöstlichen Diwan, in Beethovens letzten Quartetten, im Faust, kurz, überall dort, wo das Nichtendenkönnen im Enden groß macht. Und sucht man den ideologisch durchaus fortwirkenden Grund für solch inneren Bildersturm in der groß vollendeten Kunst und gerade in ihr, so liegt er im Weg- und Prozeßpathos, im eschatologischen Gewissen, das durch die Bibel in die Welt kam. Die Totalität ist in der Religion des Exodus und des Reichs einzig eine total verwandelnde und sprengende, eine utopische; und vor dieser Totalität erscheint dann nicht nur unser Wissen, sondern auch das gesamte bisherige Gewordensein, worauf unser Gewissen sich bezieht, als Stückwerk. Als Stückwerk oder objektives Fragment /(255) gerade auch im produktivsten Sinn, nicht nur in dem der kreatürlichen Begrenztheit, gar der Resignation. Das »Siehe, ich mache alles neu«, im Sinn der apokalyptischen Sprengung, steht darüber und influenziert alle große Kunst mit dem Geist, nach dem Dürer sein gotisches Gebilde Apocalypsis cum figuris benannt hat. Der Mensch ist noch undicht, der Gang der Welt ist noch unbeschlossen, ungeschlossen, und so ist es auch die Tiefe in jeder ästhetischen Information: dieses Utopische ist das Paradox in der ästhetischen Immanenz, das ihr selber am gründlichsten immanente. Ohne solche Potenz zum Fragment hätte die ästhetische Phantasie zwar Anschauung in der Welt genug, mehr als jede andere menschliche Apperzeption, aber sie hätte letzthin kein Korrelat. Denn die Welt selber, wie sie im argen liegt, so liegt sie in Unfertigkeit und im Experiment-Prozeß aus dem Argen heraus. Die Gestalten, die dieser Prozeß aufwirft, die Chiffern, Allegorien und Symbole, an denen er so reich ist, sind allesamt selber noch Fragmente, Realfragmente, durch die der Prozeß ungeschlossen strömt und zu weiteren Fragment formen dialektisch vorangeht. Das Fragmentarische gilt auch fürs Symbol, obwohl das Symbol nicht auf Prozeß, sondern auf das Unum necessarium darin bezogen ist; aber gerade durch diese Beziehung und dadurch, daß sie nur erst eine Beziehung ist und kein Angelangtsein, enthält auch das Symbol Fragment. Das Realsymbol selber ist ja nur eines, weil es, statt bloß für den Betrachter verhüllt und an und für sich klar zu sein, genau an und für sich noch nicht manifest ist. Das also macht die Bedeutung des Fragments aus, von der Kunst und nicht bloß von der Kunst her gesehen; das Fragment steckt in der Sache selber, es gehört, rebus sic imperfectis et fluentibus, noch zur Sache der Welt. Konkrete Utopie als Objektbestimmtheit setzt konkretes Fragment als Objektbestimmtheit voraus und involviert es, wenn auch gewiß als ein letzthin aufhebbares. Und deshalb ist jeder künstlerische, erst recht jeder religiöse Vor-Schein nur aus dem Grund und in dem Maße konkret, als ihm das Fragmentarische in der Welt letzthin die Schicht und das Material dazu stellt, sich als Vor-Schein zu konstituieren. /(256)
Es geht um den Realismus, alles Wirkliche hat einen Horizont
An den Dingen zu kleben, sie zu überfliegen, beides ist falsch. Beides bleibt äußerlich, oberflächlich, abstrakt, kommt, als Unmittelbares, von der Oberfläche nicht los. Das Kleben hält sich an sie ohnehin, das Überfliegen hat sie in seinem eigenen ungeregelten Innen wie in dem anderen, bloß verdunstet Unmittelbaren, wohin es entflieht. Dennoch freilich gehört das Überfliegen einem höheren Menschentyp zu als das Nehmen der Dinge, wie sie sind. Und vor allem: das Kleben an diesen Dingen bleibt auch als überlegtes flach, nämlich empiristisch, während die Schwärmerei als überlegte durchaus aufhören kann, bodenlos zu sein. Der flache Empirist wie der überschwengliche Schwärmer sind von dem Fluß des Wirklichen, den sie beide nicht erfassen, stets überrascht, aber der erstere, als Fetischist der sogenannten Tatsachen, bleibt verstockt, während der Phantast gegebenenfalls belehrbar ist. In der Welt entspricht nur die Verdinglichung, welche einzelne Momente des Prozesses festhält und zu Tatsachen verfestigt, dem Empiristen, und er steht und fällt mit ihr. Das Überfliegen dagegen ist selber mindestens in Bewegung, also in einem Verhalten, das mit der wirklichen Bewegung nicht grundsätzlich unvermittelbar bleiben muß. In der Gestaltung hat das Überfliegen die Kunst für sich, wenn auch mit viel Schein, viel bedenklicher Flucht nach einem geradezu absichtlich unwahren Traum-Schein. Aber die konkrete Berichtigung des Überfliegens eröffnet in der Kunst, und nicht allein in der Kunst, Bilder, Einsichten, Tendenzen, welche im Menschen wie in dem ihm zugeordneten Objekt zugleich geschehen. Gerade dies Konkrete geht nicht vom kriecherischen Empirismus und dem ihm ästhetisch entsprechenden Naturalismus her auf, welcher von der Feststellung dessen, was faktisch ist, niemals zur Erforschung dessen, was wesentlich geschieht, vordringt. Wogegen die Phantasie, sobald sie als konkrete auftritt, nicht nur den sinnlichen Überfluß, sondern ebenso die VermittlungsRelationen in der wie hinter der erlebniswirklichen Unmittelbarkeit zu vergegenwärtigen versteht. Statt des isolierten Fakts und des vom Ganzen gleichfalls isolierten Oberflächenzusammenhangs der abstrakten Unmittelbarkeit geht nun die Bezie- /(257) hung der Erscheinungen zum Ganzen ihrer Epoche auf und zum utopischen Totum, das sich im Prozeß befindet. Die Kunst wird mittels einer so beschaffenen Phantasie Erkenntnis, nämlich durch treffendeEinzelbilder und Gesamtgemälde charakteristisch-typischer Art; sie geht dem »Bedeutenden« der Erscheinungen nach und führt es aus. Die Wissenschaft erfaßt mittels einer so beschaffenen Phantasie das »Bedeutende« der Erscheinungen durch Begriffe, als niemals abstrakt bleibenden, niemals das Phänomen verblassenden oder gar verlierenden. Und das »Bedeutende« ist in Kunst wie Wissenschaft das Besondere des Allgemeinen, die jeweilige Instanz für den dialektisch-offenen Zusammenhang, die jeweilige charakteristisch-typische Figur des Totum. Und das eigentliche Totum, dieses, worin auch das erfaßt epochal Ganze aller epochalen Momente selber wieder ein Moment ist, stellt sich gerade in den breit vermittelten Großwerken nur am Horizont dar, nicht in einer bereits ausgestalteten Realität. Alles Lebendige, sagte Goethe, hat eine Atmosphäre um sich her; alles Wirkliche insgesamt, indem es Leben, Prozeß ist, Korrelat der objektiven Phantasie sein kann, hat einen Horizont. Einen inneren, gleichsam senkrecht sich erstreckenden, im Selbstdunkel, einen äußeren von großer Weite, im Weltlicht; und beide Horizonte sind in ihrem Dahinter mit derselben Utopie gefüllt, folglich im Ultimum identisch. Wo der prospektive Horizont ausgelassen ist, erscheint die Wirklichkeit nur als gewordene, als tote, und es sind die Toten, nämlich Naturalisten und Empiristen, welche hier ihre Toten begraben. Wo der prospektive Horizont durchgehends mit visiert wird, erscheint das Wirkliche als das, was es in concreto ist: als Wegegeflecht von
dialektischen Prozessen, die in einer unfertigen Welt geschehen, in einer Welt, die überhaupt nicht veränderbar wäre ohne die riesige Zukunft: reale Möglichkeit in ihr. Mitsamt jenem Totum, das nicht das isolierte Ganze eines jeweiligen Prozeßabschnitts darstellt, sondern das Ganze der überhaupt im Prozeß anhängigen, also noch tendenzhaft und latent beschaffenen Sache. Das allein ist Realismus, er ist allerdings jenem Schematismus unzugänglich, der schon vorher alles weiß, der seine einförmige, ja selber formalistische Schablone für Realität hält. Die Wirklichkeit ohne reale Möglichkeit ist nicht vollständig, die Welt ohne zukunfttragende /(258) Eigenschaften verdient sowenig wie die des Spießers einen Blick, eine Kunst, eine Wissenschaft. Konkrete Utopie steht am Horizont jeder Realität; reale Möglichkeit umgibt bis zuletzt die offenen dialektischen Tendenzen- Latenzen. Von ihnen ist die unabgeschlossene Bewegung der unabgeschlossenen Materie - und Bewegung ist, nach dem tiefen Aristotelischen Wort, »unvollendete Entelechie« - erzrealistisch durchzogen.
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DIE SCHICHTEN DER KATEGORIE MÖGLICHKEIT
Wie oft stellt sich etwas so dar, daß es sein kann. Oder gar, daß es anders sein kann als bisher, weshalb etwas daran getan werden kann. Das wäre aber selber nicht möglich ohne Mögliches in ihm und vor ihm. Hier ist ein weites Feld, es muß mehr als je befragt werden. Bereits daß ein Kannsein gesagt und gedacht werden kann, ist keinesfalls selbstverständlich. Da ist noch etwas offen, kann anders als bisher gemeint werden, kann in Maßen umgestellt, anders verbunden, verändert werden. Wo nichts mehr zu können und möglich ist, steht das Leben still. »Nun muß sich alles, alles wenden«, wie wäre dieser durchaus junge Ausruf sonst selber möglich? Gewiß, es ist viel Vages im bloß Möglichen, auch Schlüpfriges, nicht nur Flüssiges oder dasjenige, was flüssig hält. Aber wie der Mensch vorzugsweise das Geschöpf ist, das sich ins Mögliche hineinbegibt und es vor sich hat, so weiß er auch, daß dieses mit Vagem nicht zusammenfällt, daß gerade sein Offenes durchaus nichts Beliebiges ist. Auch das Kannsein ist gesetzlich, selbst im bloßen Spiel der Worte wie gar im bald eintretenden Ernst. Und der vorliegende Stoff, der so manch Luftiges in sich hat, ist zugleich einer der schwersten und verlangt, streng behandelt zu werden. Anders werden vor allem die verschiedenen Schichten des Kannseins nicht sichtbar. Das formal Mögliche Zunächst freilich kann viel zu viel nur so dahin gesagt werden. Sprechen läßt sich an sich alles, Worte lassen sich sinnlos zusam- /(259) menstellen. Gefüge sind möglich wie: »ein Rundes oder«; »ein Mensch und ist». Außer diesem, daß sie sagbar sind, ist gar kein Mögliches darin; sie sind bedeutungsloser Unsinn. Anders aber liegt bereits der Fall bei den nicht unsinnigen, sondern widersinnigen Aussagen, bei solchen, wo der Hörer sich immerhin an den Kopf greift. Dann nämlich, wenn die Aussage sich unmittelbar widerspricht, wie in dem Begriff »rundes Viereck« oder in dem Urteil: »Er besteigt ein Schiff, das abgefahren war.« Eine solche, sich im Merkmal oder Prädikat unmittelbar widersprechende Bedeutung ist absurd, jedoch durchaus nicht Unsinn, sondern eben Widersinn. Dieser ist zum Unterschied vom
bloß sagbaren Unsinn durchaus ein Denkmögliches, ein formales Kannsein; denn denkmöglich ist alles, was überhaupt als in Beziehung stehend gedacht werden kann. Ja selbst Beziehungen, deren Glieder sich nicht nur absurd, sondern völlig disparat zueinander verhalten, jedoch als disparate immer noch eine formal notierbare Beziehung darstellen, nämlich eben eine disparate, gehören zum Denkmöglichen. So die Aussagen: »jähzorniges Dreieck« oder: »belesene Kettenbrücke« oder: »das Pferd, das Donner ist« und anderes Unverträgliche mehr. Solche Zuspitzung zeigt zugleich, wie uferlos das bloß Denkmögliche sein kann. Hatte doch selbst die Beziehung in der Aussage, daß es zwischen den Dingen überhaupt keine Beziehung gebe, im Denkmöglichen einen unfruchtbaren Platz. Wie es Fülle im Denken aus Ungenauigkeit geben kann, schlechte Fülle also, so gibt es im Denkmöglichen auch schlechte Offenheit. Und diese neben der guten, die vor allem im formalen Kannsein des Sich-Widersprechenden sich eröffnet. Das sachlich-objektiv Mögliche Nicht nur gesagt, auch gedacht werden kann also noch viel zu vieles. Bestimmter sieht darum das nicht nur im Denken, sondern im Erkennen anzutreffende Kannsein drein. Dies Mögliche ist kein uferloses, sondern ein jeweils benennbares und ein nach Maßgabe der bekannten Bedingungen gradweise angebbares. Indem solche Benennungen und Grade zunächst aber nur Grade des Kennens-Erkennens ausdrücken, nicht Grade der inneren /(260) Bedingungsreife des sachhaften Gegenstands selbst, ist das Mögliche hier noch kein streng sachhaftes, sondern ein sachliches, das ist, erkennend-sachgemäßes. So gibt es sich als Aussage der Vorsicht, danach als eine des begründeten Dafürhaltens, der begründeten Vermutung seines Seinkönnens, kurz als sachlich-objektiv begründete Möglichkeit. Die Begründung ist es, die hier für die Bedingung oder den Realgrund steht, dergestalt aber, daß die Begründung, also die erkenntnismäßig vorhandene Bedingung zu einer bejahenden, sachlich gültigen Aussage selber nicht vollständig vorliegt. Denkmöglich ist alles, wobei überhaupt etwas als in Beziehung stehend gedacht werden kann, doch darüber hinaus gilt für alle weiteren Arten des Kannseins: Mögliches ist partiell Bedingtes, und nur als dieses ist es möglich. An der so gegebenen Definition ist von hier ab festzuhalten, denn sie enthält das Kriterium für das Mögliche in allen seinen Abwandlungen. Mit anderen Worten: jedes Mögliche jenseits des bloß Denkmöglichen bedeutet eine Offenheit infolge eines noch nicht vollständig zureichenden, also mehr oder minder unzureichend vorliegenden Bedingungsgrunds. Indem nur einige, jedoch nicht alle Bedingungsgründe vorliegen, läßt sich von dem dergestalt Möglichen noch nicht auf das Wirkliche schließen, daher gilt der alte scholastische Grundsatz: a posse ad esse non valet consequentia. Zurück nun zum sachlich Möglichen selber, um das es hier geht, so ist es ebenfalls partielle Bedingtheit, jedoch des Genaueren einzig sachlich-partielle Kenntnis- Erkenntnis der Bedingtheit. Partiell ist diese Bedingtheit und muß es sein, weil vollzählig versammelte Bedingungen den Eintritt eines Ereignisses nicht mehr bloß vermutbar, mehr oder minder wahrscheinlich, also sachlich möglich, sondern unbedingt gewiß machten. So ist es unfair, nach voller Kenntnis voll vorhandener Bedingungen noch auf den Eintritt eines Ereignisses zu wetten; so ist es feige oder dumm, mit solcher Kenntnis in der Tasche noch den Fabius Cunctator zu spielen. Das sachlich-objektive Mögliche (wie übrigens auch das sachhaft-objekthaft und das real Mögliche, wovon später) wird in einem hypothetischen Urteil ausgesagt oder,
bei noch geringerer Gewißheit, in einem problematischen. Das hypothetische Urteil unterscheidet sich, in dieser Beziehung, vom problematischen dadurch, daß es noch /(261) nicht bestätigte Vordersätze voraussetzt, während das problematische Urteil, das in seiner Form die Vordersätze verschweigt: »es kann heute regnen«, «Leukippos hat vielleicht gelebt«, «möglicherweise kommen die Höhenstrahlen von einer Sterngruppe in der Milchstraße her« - außer den noch nicht bestätigten Vordersätzen noch unbekannte voraussetzt. Das problematische Urteil ist daher das eigentlich entwickelte Urteil der Möglichkeit als einer sachlich modalen Bestimmung: P ist im Modus des Kannseins S zugeordnet. Einen hierher gehörigen Sonderfall stellen noch die uneigentlichen, ja unechten Urteile der Möglichkeit dar; es sind die der nicht forschend, sondern nur aufnehmend unzureichenden Kenntnis. Man hat dieses unechte sachliche Kannsein bisher kaum von dem echten getrennt, und doch springt der Unterschied, der um des Rangs des Möglichen willen so wichtige, in die Augen. Ein unechtes Modalurteil ist etwa dieses: »Wasser kann durch den elektrischen Strom zerlegt werden.« Wirklich aber wird das Wässer stets durch den elektrischen Strom zerlegt (falls keine neuen, gegebenenfalls störenden Bedingungen vorliegen). Ebenso ist die Kenntnis dieses Vorgangs völlig begründet, es liegen alle Bedingungen zu ihr vor; wonach der genannte Urteilsinhalt unbezweifelbar ist. Nicht so unbezweifelbar ist einzig der Wissensstand des den Lehrsatz aufnehmenden Bewußtseins, und nur in diesem psychologisch-pädagogischen, also außerlogischen Betracht ist das angezogene Urteil modal geformt, modal verkleidet. Sachlich ist es ein kategorisches oder assertorisches Urteil durch und durch, kein hypothetisches oder problematisches. Weshalb also nur nicht-pädagogische Aussagen nur Forschungs-Aussagen, bei denen ein non liquet der Kenntnis-Bedingungen zur kategorischen oder assertorischen Form vorliegt, echte sachlich-modale sind. Sachlich-objektive Möglichkeit bezeichnet derart allemal einen Gradzustand der wissenschaftlich-objektiven Begründetheit gemäß der unvollständigen wissenschaftlichen Bekanntheit der sachlich vorliegenden Bedingungen. So wird hier das Urteil in Schwebe gelassen, ist nur mehr oder weniger von der Frage entfernt. Vielmehr das Bejahen und Verneinen des Urteils bleibt in Schwebe, also die bloße Beurteilung oder das qualitative Urteil über ein Urteil. Und nur in diesem /(262) Urteil über ein Urteil wohnt das sachlich Mögliche, hierin allerdings durchaus; es beginnt darin zu wohnen, bevor es weiterhin abbildlich wird. Sachliche Möglichkeit ist dieser Art bereits in der Annahme oder den Vermutungen, die zu einer formulierten Fragestellung an naturwissenschaftliche oder historisch-gesellschaftswissenschaftliche Gegebenheiten führen. Die Vermutung antizipiert in einem problematischen Urteil die hauptsächliche Bedingung oder einen Gruppenzusammenhang der Bedingungen, auf Grund derer der Untersuchungsgegenstand in seinem Realgrund geklärt und demnach in seinem Verlauf verstanden werden kann. Diese methodische Vermutung leitet die Fragestellungen und Bedingungsvariationen des naturwissenschaftlichen Experiments, sie erfüllt aber auch den eigentümlichen Überschlag, dieses also, was man das vorläufige, das arbeitshypothetische Bild von einer Sache genannt hat. Der Ausdruck Arbeitshypothese enthält zwar Bedenkliches in sich selbst, sofern er von den spätbürgerlichen Relativisten strapaziert wurde; daher sei der ältere und solidere Ausdruck gebraucht: heuristisches Prinzip. Ein solches wirkt etwa in der hypothetischen Vereinfachung oder in einer hypothetischen Analogie zu bereits Bekannterem, womit an die Erforschung unübersichtlicher oder verwickeltet Erscheinungen historisch-gesellschaftswissenschaftlicher Art zunächst
herangetreten werden mag. Die Fragestellung dieses sachlich Möglichen im methodischen Gebrauch wird bestätigt oder nicht bestätigt durch Induktionen, welche in Richtung des vermuteten Bedingungszusammenhangs angestellt werden. Wobei freilich auch eine noch so umfassende Induktion ihr Resultat nie anders als wieder in einem Urteil der sachlich-objektiven Möglichkeit aussprechen kann. Denn selbst die vollständigste Induktion vermag keine vollzählige zu sein, das ist, eine Kenntnis sämtlicher Bedingungselemente als gleichartiger in allen Gegenden des Raumes oder gar gleichbleibender in der Zeit. So findet sich auch in der induktiven Bestätigung einer methodischen Vermutung noch jener Rest eines sachlich Möglichen, eines nicht total Gewissen, welcher - in Gradstufen bis hinauf zur »astronomischen Sicherheit« - komparative Wahrscheinlichkeit heißt. Und die Deduktion, die angeblich allemal ausgemachte Großform eines erschöpfend zureichenden, wesen- /(263) haft-allgemeinen Bedingungsgrunds? Es ist wahr, sie läßt nicht nur die Besonderheiten der induktiven Empirie als Momente eines Gesamtzusammenhanges erkennen, von dieser Allgemeinheit des Besonderen her, sie will auch, in einem überliefert-höchsten Anspruch, die Erkenntnis dieser Besonderheiten mit Notwendigkeit ableiten, folglich mit nicht partieller, sondern totaler Bedingtheit. Das ganz deutlich im ersten Modus der ersten Schlußfigur: Cajus ist auf Grund seines Menschseins notwendig sterblich. Der MitteIbegriff Menschsein gibt hier den vollständig ausreichenden «Wesensgrund « des Sterblichseins her; so entsteht das, was Aristoteles einen vollkommenen Schluß nennt, das heißt eben: einen Schluß der Notwendigkeit. »Vollkommen nenne ich einen Schluß, der, damit seine Notwendigkeit einleuchtet, außer den Voraussetzungen keiner weiteren Bestimmung bedarf« (Aristoteles, Erste Analytik, 1. Kapitel): - das sachliche Seinkönnen weicht so dem sachlichen Seinmüssen. Indes, die so behauptete Unmöglichkeit des Anders-Seinkönnens, gar des Gegenteil-Seinkönnens, findet sich nur in künstlich rein gemachten Gebieten höchster Abstraktion, und auch da nur bei Begrenzung auf das aus Axiomen Ableitbare oder auch auf das in Theoremen beherrschend Enthaltene. Die Axiome (mathematische, logische, in kopierter Form sogar die früheren naturrechtlichen) sind zwar nicht willkürlich gesetzt, also bloße Spielregeln, wie das - mit heilloser Beliebigkeit - manche luftidealistische, angeblich tatsachenfreie »Grundlagenforschung« des Mathematischen behauptet. Die Axiome enthalten vielmehr durchaus eine Abbildung außergedanklicher Sachverhalte, wenn auch in abstraktest abgekürzter und allgemeiner Form. Jedoch sie sind auf bestimmte Gebiete ihrer rein konstruktiven Herrschaft begrenzt, und diese Grenzen sind vor allem fließend (man denke nur an den bloßen »Grenzfall« unseres euklidischen Raums und seiner Axiome oder an die Wandlung des Satzes vom Widerspruch in der elementaren, gleichsam euklidischen, und dann in der dialektisch entwickelten Logik). Sodann aber sind alle diese Axiome weit davon entfernt, mit dem von Aristoteles bezeichneten »Wesensgrund« (dem wirkenden Totum der Sache, der »Entelechie«) zusammenzufallen; sie sind dafür viel zu abstrakt gehalten. Und der «Wesensgrund« selber, etwa das angegebene /(264) Menschsein des Cajus als Mittelbegriff im ersten Modus der ersten Schlußfigur: auch der Mittelbegriff dieses Menschseins, worin Aristoteles sowohl den vollkommenen logischen Erkenntnisgrund wie zugleich den unausweichlichen Realgrund des Sterblichseins erblicken wollte, ergibt keine ein für allemal ausgemachte Notwendigkeit, im Sinn des strengen Deduktionsbeweises. Denn auch das Menschsein (wie jeder andere »Wesensgrund«) steht im Prozeß, kann also, im strengenSinn, nicht einmal einer so ausnahmslosen Erscheinung wie der Sterblichkeit logische Notwendigkeit verleihen. Folglich erweist sich sachlich
Notwendiges auch in der Deduktion nur als sachlich Mögliches, obzwar gegebenenfalls als eines kleinsten Grades. Insgesamt: die Bedingungsvordersätze des schließenden Erkennens können, ohne in geschlossen-weltfremden Schematismus zu fallen, nicht vollständiger sein als das unabgeschlossene Sachhafte selber, das das Sachliche auf seine Weise, in Begriff, Urteil, Schluß abzubilden hat. Auch im Sachlich-Objektiven ist das Gebiet des Möglichen, sui generis, sehr groß; es kann hier, contra Faulbett und fixiertes Ableiten, zum Leben der Forschung gehören. Das sachhaft- objektgemäß Mögliche Soviel über offen Bleibendes, das es ist, weil es nicht oder nicht starr ausgemacht ist. Das Kannsein dieser Art gibt derart sachliche Vorsicht in Urteilen wieder, meist in der Weise einer noch mitschwingenden Frage, eines sachlichen Vorbehalts. Anders aber als dies sachlich Mögliche ist das nun auftauchende sachhaft Mögliche beschaffen; insofern nämlich, als es nicht unsere Kenntnis von etwas, sondern dieses Etwas selber, als so oder so werden könnendes, betrifft. Das sachhaft Mögliche lebt nicht von den unzureichend bekannten, sondern von den unzureichend hervorgetretenen Bedingungsgründen. Es bezeichnet mithin nicht eine mehr oder minder ausreichende Kenntnis der Bedingungen, sondern es bezeichnet das mehr oder minder ausreichend Bedingende in den Gegenständen selbst und in ihren Sachverhalten. Sachverhalt, das ist das »Verhalten von Sachen» als Gegenständen der Erkenntnis; zum Sachverhalt gehören einmal die Arten des Habens von gegenständlichen Beschaffenheiten und /(265) Beziehungen, dann des Stehens in gegenständlichen Beziehungen. Modale Sachverhalte, als die Gegenstände der Erkenntnis, fallen mithin nirgends mit modalen Aussagen zusammen, als den bloßen Verfahrensweisen der Erkenntnis, von der Art der Annahmen, der Vermutungen, des antizipierenden Überschlags, der induktivwahrscheinlichen oder auch deduktiven Schlüsse. Sondern eben: es ergibt sich ein noch offen Mögliches auch bei sonst hinreichend abgeschlossener Kenntnis der vorhandenen Bedingungen; mithin: das Mögliche erscheint hier als gegenständlich-strukturelles So-Verhalten selber. Damit ist die Abbild-Schicht der Sachhaftigkeit, der Objektgemäßheit betreten, zum Unterschied von der bloßen Sachlichkeit, der Objektivität. Das bedingt auch einen Unterschied der Disziplin, in der das sachhaft Mögliche zu behandeln ist. Während die Sachlichkeit einzig die Erkenntnis betrifft und darum das Anliegen ihrer Objektivität ein erkenntnistheoretisches ist, betrifft die Sachhaftigkeit den Gegenstand der Erkenntnis, der ja nicht, nach Angabe der Neukantianer, die Erkenntnis selber ist; das reale Anliegen dieser Objektgemäßheit ist demgemäß ein kategorial gegenstandstheoretisches. Der Begriff Gegenstandstheorie trat zuerst deutlich bei Meinong auf, doch war er hier rein apriorisch auf die angeblich daseinsfreie Beschaffenheit eines Soseins bezogen, das unabhängig vom Dasein oder Nicht-Dasein der Gegenstände spuken sollte. Als Muster dieses »daseinsfreien Wissens» galt hier, wie erst recht in der späteren Husserlschen Phänomenologie, die Mathematik, soll freilich heißen: eine von all ihrem abbildlichen Realbezug künstlich entfernte, in ihrer Abstraktheit heillos verdinglichte. Und so erst recht wurde hier die Logik verdinglicht, im Sinn einer rein apriorischen »Beschreibung« ihrer Akte, einer rein apriorischen »Bedeutungsanalyse» ihrer Kategorien - mit »eingeklammertem Dasein«. Real bezogene Gegenstandstheorie dagegen ist eine,
in der das Apriori noch weniger eine Verführung darstellt als in der Erkenntnistheorie. Denn obwohl die Gegenstände und ihre Sachverhalte nicht nur vom Sachlichen des Erkenntnisverfahrens, sondern auch von den eigentlichen Objekten und ihrem Realverhalten noch unterschieden werden müssen, fungieren sie gerade als die tunlichst treuesten Gestalten realistischer Abbildung. Und das hier notierte Vorangelegtsein einer Gegen- /(266) standstheorie vor der Objektstheorie enthält deshalb keinen Idealismus, weil die forschend-materialistische Abbildung selber zu der Gegenstandstheorie gehört, erst im Angesicht des Objekthaft-Realen, nicht in ihm am Werk ist und nicht mit ihm zusammenfällt. Weiter: die Abbildung der strukturellen Sachverhalte gehört nicht mehr zum methodischen ErkenntnisVerfahren, weil sie ein Erkenntnis-Resultat ist, und sie ist ein solches Resultat, indem und sofern sie, als objektgemäßes, genau auf das reale Objekt bezogen ist. Die Form des Erkenntnisresultats ist die Realdefinition, als Angabe nicht bloß von sprachlichen Kennzeichen, begrifflichen Merkmalen, sondern von gegenständlichkonstitutiven Eigenschaften; und genau diese Realdefinition, als bezeichnenderweise »konzise«, nicht ausgebreitete, repäsentiert das Objekt nach seiner strukturellen Gegenstandsseite. Um ein Beispiel zu geben: Die sozialistische Realdefinition der Nation bildet ohne alle fremd hergeholten nationalistischen Schnurrbärte oder auch kosmopolitischen Groß-Chicagos, Hotelsaucen, Einebnungen von heute genau die konzise Gegenstandsseite des Realen ab, das heißt eben: sie macht am Objekt seine konstitutiv-reale Struktur kenntlich. Die Gegenstandslehre ist so der Ort der Kategorien als allgemeinster und sodann als charakteristisch-typischer Daseinsweisen, Daseinsformen. (Wäre sie nicht dieser spezifische Ort und an ihm, so fiele die Kategorienlehre mit der gesamten Realphilosophie zusammen und diese ebenso mit der Kategorienlehre.) Dergestalt nun muß, innerhalb der so beschaffenen Schicht der Sachhaftigkeit, der strukturellen Objektgemäßheit, auch die Möglichkeit in dieser Schicht eigens und als eigen bestimmte ausgezeichnet werden. Wichtig dazu ist die angegebene Unterscheidung zwischen Gegenstand und realem Objekt: die rein strukturelle Möglichkeit der Anlage zu etwas ist noch nicht das gleiche wie diese reale Anlage selber, wie die Disposition in all den reich verflochtenen, auch reich gestörten, gehemmten, wieder siegreichen Metamorphosen der Wirklichkeit. Das sachhaft-objektgemäß Mögliche, gegenstandstheoretisch erfaßt und definiert, macht also durchaus eine eigene Differenzierung in der Kategorie der Möglichkeit aus und ist nicht etwa eine überflüssige Verdopplung des objekthaft-real Möglichen. Das sachhaft Mögliche ist das sachhaft-partiell Bedingte gemäß /(267) dem strukturellen Genus, Typus, Gesellschaftszusammenhang, Gesetzeszusammenhang der Sache. Partiell Bedingtes erscheint hier mithin als eine strikt im Gegenstand fundierte und so erst der hypothetischen oder problematischen Erkenntnis mitgeteilte Offenheit mehr oder minder strukturell-determinierter Art. Es treten dabei überall zweierlei Bedingungen auf, innere und äußere. Sie verflechten sich wechselwirkend, so jedoch, daß beider Eigenart durchaus erhalten bleibt. Aber das sachhaft bloß Mögliche bleibt bestehen, auch wenn eine von den beiden Bedingungen, die innere oder die äußere, fast erfüllt sein sollte. So kann eine Blüte die Frucht mit vollzähliger innerer Bedingtheit sicher in sich heranreifen lassen, fehlt indes die vollzählige äußere Bedingung des guten Wetters, dann ist die Frucht dennoch bloß möglich. Noch herabsetzender als die fehlende äußere wirkt umgekehrt die Schwäche innerer Bedingungen bei gleichzeitiger Fülle äußerer. Die Menschheit stellt sich zwar immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, findet jedoch der große Moment zur Lösung ein kleines Geschlecht, dann ist diese Lösung erst
recht bloß möglich, nämlich nur noch schwach möglich. Die revolutionäre Folgenlosigkeit des 9. November 1918 in Deutschland gibt davon ein Beispiel, oder, in anderer Sphäre, die ungereifte Frucht einer großen deutschen Malerei nach Dürer, obwohl doch die äußeren Bedingungen, auch im noch so kleinstaatlichen Ideologie- und Bestellerkreis, dazu vorhanden waren. Die partielle Bedingtheit darf also in keiner der beiden Bedingungsarten unter einen bestimmten Bruchteil sinken, sonst ist Überkompensierung durch die andere Bedingungsart selber unmöglich. Doch die Verflechtung freilich bleibt, was besonders deutlich wird, wenn die Struktur der inneren wie der äußeren Bedingung schärfer gefaßt wird, das heißt, mit Aufhebung jener Aequivokation, die gerade in der Gegenstandskategorie Möglichkeit seit alters enthalten ist. Möglichkeit bedeutet hier nämlich sowohl inneres, aktives Können wie äußeres, passives Getanwerdenkönnen; mithin: Anders-Seinkönnen zerfällt in Anders-Tunkönnen und Anders-Werdenkönnen. Sobald diese beiden Bedeutungen konkret unterschieden sind, dann tritt die innere partielle Bedingung als aktive Möglichkeit, das ist, als Vermögen, Potenz hervor und die äußere partielle Bedingung als Möglichkeit im passiven Sinn, als Poten- /(268) tialität. Verflochten eben sind beide: es gibt kein tätiges Können des Vermögens und seiner aktiven »Anlage« ohne die Potentialität in einer Zeit, Umgebung, Gesellschaft, ohne die brauchbare Reife dieser äußeren Bedingungen. Die politische Gestalt der aktiven Möglichkeit ist das Vermögen des subjektiven Faktors; und er am wenigsten kann ohne Verflechtung, ohne Wechselwirkung mit den objektiven Faktoren der Möglichkeit wirken das heißt, mit den Potentialitäten dessen, was nach Maßgabe der Reife der äußeren Bedingungen wirklich geschehen oder wenigstens in die Wege geleitet werden kann. Aber nicht, als ob hierbei die äußeren Bedingungen selber aus der Möglichkeit in ihrem bedeutendsten Sinn, nämlich aus der Offenheit fatalisierend herausfielen. Konträr: wenn die Möglichkeit als Vermögen das Anders-Tunkönnen, das nicht Aufhebende, wohl aber Umdeterminierende in allen Determinierungen ist, so ist die Möglichkeit als objektive Potentialität das Anders-Werdenkönnen, das nicht Aufhebbare, wohl aber Lenkbare, Umdeterminierbare in allen Determinierungen. Und dieses stets mit solcher Verflechtung, daß ohne Potentialität des Anders-Werdenkönnens weder das AndersTunkönnen der Potenz Raum hätte, noch ohne das Anders-Tunkönnen der Potenz das Anders-Werdenkönnen der Welt einen mit den Menschen vermittelbaren Sinn hätte. Folglich auch enthüllt sich die Gegenstandskategorie Möglichkeit dominierend als das, was sie nicht durch sich selber, wohl aber durch den fördernden Eingriff der Menschen in das noch Veränderbare ist: als möglicher Heilsbegriff. Sie enthüllte sich zum Teil freilich ebenso als möglicher Unheilsbegriff, und zwar eben wegen des Anders-Tunkönnens, aber auch wegen des Anders-Werdenkönnens in ihm, das nicht minder einer Wendung zum Schlechteren Raum gibt, gemäß dem Prekären, das gerade in der Veränderlichkeit, hier also Unsicherheit einer Lage liegen kann. Dieses Prekäre, als negativer Bestand der sachhaften Möglichkeit, reicht von dem Unfall, der zustoßen kann, bis zu dem faschistischen Höllenausbruch, der als Möglichkeit im letzten Stadium des Kapitalismus steckte und immer noch steckt. Der Unheilscharakter des Möglichen konterkariert so dem angegebenen Heilscharakter, Hoffnungscharakter des Möglichen, als welcher nicht minder in der Veränderlichkeit einer Lage liegt, hier aber nicht in ihrer /(269) Unsicherheit, sondern in ihrer Kassierbarkeit, positiven Aufhebharkeit. Dieses Nicht-Prekäre, sondern Segensreiche, als der so höchst positive andere Bestand sachhafter Möglichkeit, reicht von dem Glücksfall, dem Menschen begegnen können, bis zu dem Reich der Freiheit, das als sozialistische Möglichkeit in der Geschichte sich entwickelt und
endlich wirklich zu werden beginnt. Alles derart Wendungsfähige (fortuna vertit) enthält freilich stets ein Stück Zufall, doch wiederum auf verschiedene Art. Es gibt das bloß Singuläre und Unvermittelte eines Unfalls oder Glücksfalls. Es gibt aber auch ein Anders-Seinkönnen, das nicht so an der Oberfläche geschieht. Hegel hat solcher Art die äußere Zufälligkeit vom dialektisch vermittelten Wandel des Prozesses mit großer Eindringlichkeit unterschieden; und zwar, indem er die äußere Zufälligkeit auf die bloß äußere Notwendigkeit begrenzt, ja sie mit ihr identisch erklärt. Demgemäß wird die Kontingenz von Hegel allein im unmittelbar-, nicht im vermittelt-Konkreten gesehen oder eben nur am Rand des Prozesses: »Das unmittelbar Konkrete nämlich ist eine Menge von Eigenschaften, die außereinander und mehr oder weniger gleichgültig gegeneinander sind, gegen die eben darum die einfache, für sich seiende Subjektivität« (das beginnende Zentrierende des Prozesses) »ebenfalls gleichgültig ist und sie äußerlicher, so mit zufälliger Bestimmung überläßt« (Enzyklopädie§ 250).Das ist die Zufälligkeit im überhaupt nicht vertrauenswürdigen Sinn, diejenige, welche mehr noch in der bisherigen Geschichte als in der Natur die normale und typische Entwicklung äußerlich zerstreut und verstört. Dialektisch-vermittelt- Unabgeschlossenes aber, als die Möglichkeitsstruktur des währenden Prozesses, hat gar nichts gemein mit schlecht-vermittelt-Beliebigem. Freilich wieder nicht, als wäre nun das im Anders-Seinkönnen des Prozesses Umgehende das strikte Gegenteil von jeder Art Zufall und Kontingenz. Das riesige Experiment des vermittelten Anders-Seinkönnens im Prozeß besitzt dieses Gegenteil noch nicht und hat noch weder Beruhigung noch auch einen Rechtstitel dazu, es zu besitzen. Vielmehr arbeitet in diesem Anders-Seinkönnen Möglichkeit gerade wieder dasjenige, was Kontingenz auf höchster Stufe genannt werden kann, mit dem Charakter dauernder, doch eben partieller Vermittlung. Diese Art Kontingenz, im endlich vertrauenswür- /(270) digen Sinn der Sache, heißt schöpferischer, zu Bildungen und Schöpfungen offener Reichtum der Variabilität. Es ist das eine nicht äußerliche, sondern gesetzmäßig-sachhaft vermittelte Variabilität, doch eben eine der unvereitelten Richtungsänderung, vor allem der unerschöpften Neubildung. Hier ist selbst eine sogenannte Zufälligkeit nicht mehr mit bloß äußerer Notwendigkeit zusammenfallend, sondern sie bildet, als eine mit dem gesetzhaft Notwendigen dialektisch vermittelte, gerade das Blühende, Charakteristische, die geordnete Entwicklungsfülle der offenen Welt. Kontingenz dieser Art ist zwar gleichfalls noch situationshaft, jedoch nicht im Sinn des Prekären, sie erfüllt vielmehr den mundus situalis des Neues gebärenden Prozesses. Striktes Gegenteil von jeder Kontingenz wäre erst das abgeschlossen Notwendige, das der Variabilität nicht mehr fähige, jedoch auch nicht bedürftige. Erst diese strukturell abgeschlossene Notwendigkeit wäre das schlechthin Vollbedingte, worin die inneren wie vor allem die äußeren Bedingungen nicht bloß völlig gereift sind, sondern zusammenfallen. Freilich ist noch keine Gegenständlichkeit der Sache in ihr so auf den Grund gegangen, daß die Gegenständlichkeit selber mit ihrer totalen Begründung zusammenfiele; wodurch sie eben strukturell notwendig wäre. Dieser Zusammenfall war bei Spinoza in der Definition der Gott-Natur als der causa sui gedacht und - mit viel größerer Hypostase logischer Identität - bei Anselm von Canterbury in der Selbstbegründung, der »Aseitas« (a se esse) Gottes. Wonach das vollkommenste Wesen notwendig existiere, indem es aus seiner eigenen Wesenhaftigkeit existiere, folglich seine Essenz ebenso notwendig seine Existenz einschließe wie seine Existenz seine Essenz. Es braucht nicht versichert zu werden, daß solche Objekthaftigkeiten jenseits ihrer Definition nicht vorliegen, es sei denn in bloßen mehr oder minder
konkret antizipierbaren Wertidealen des vollkommenen Zusammenfalls von Grund und Manifestierung. Der Rahmen eines solchen Wertideals ist - auch außerhalb und gegen alle Theologie - das »Eine, was nottut«, mithin das seit alters als »höchstes Gut« Bezeichnete. Jedoch da rebus sic imperfectis auch das so Bezeichnete noch keinesfalls wirklich, sondern bestenfalls im Prozeß ist, so steht auch das strukturell Notwendige dieser Art doch wiederum erst in - struktureller Möglichkeit. Letz- /(271) tere allerdings erweist sich nun, mit dem Horizont der causa sui oder der gelungenen Identität von Existenz und Essenz, als entschiedenste Heilskategorie. Denn der ideale Punkt, wo Wesen und Erscheinung zusammenfallen, ist allemal zugleich der absolute Richtpunkt für die Strukturlinie des human-positiv Möglichen. Das objektiv-real Mögliche Das Kannsein würde fast nichts bedeuten, wenn es folgenlos bliebe. Folgen hat das Mögliche aber nur, indem es nicht bloß als formal zulässig oder auch als objektiv vermutbar oder selbst als objektgemäß offen vorkommt, sondern indem es im Wirklichen selber eine zukunfttragende Bestimmtheit ist. Es gibt derart realpartielle Bedingtheit des Objekts, die in diesem selber seine reale Möglichkeit darstellt. So ist Mensch die reale Möglichkeit alles dessen, was in seiner Geschichte aus ihm geworden ist und vor allem mit ungesperrtem Fortschritt noch werden kann. Er ist eine Möglichkeit mithin, die nicht bloß wie eine Eichel in der abgeschlossenen Verwirklichung des Eichbaums erschöpft ist, sondern das Ganze ihrer inneren wie äußeren Bedingungen, Bedingungsdeterminanten noch nicht gereift hat. Und im unerschöpften Ganzen der Welt selber: die Materie ist die reale Möglichkeit zu all den Gestalten, die in ihrem Schoß latent sind und durch den Prozeß aus ihr entbunden werden. In diesem umfassendsten Begriff realer Möglichkeit hat das dynamei on (In-Möglichkeit-Sein) seinen Ort, als das eben Aristoteles die Materie bestimmt hat. Denn wie Heraklit als erster den Widerspruch in den Dingen selber sah, so hat Aristoteles als erster die Möglichkeit realiter, im Weltbestand selber erkannt. Real Mögliches wird von hier ab begreifbar als Substrat: »Alles, was von Natur oder Kunst wird, hat Materie, denn jedes Werdende ist vermögend (dynaton) zu sein und nicht zu sein, das (was sein und nicht sein kann) ist aber in jedem die Materie« (Aristoteles, Metaphysik VII, 7). Und es ist lehrreich, daß das tätig in dieser Potentialität sich Ausprägende: die sich selbst verwirklichende Form (Entelechie), die bei Aristoteles noch dualistisch von der Materie getrennt wird, im gleichen Maße zurücktritt und selber /(272) materiell wird, wie zum Begriff der passiven Potentialität der der aktiven Potenz hinzutritt. Ex contrario beweisend ist hierfür der Kampf arabischer strenger Theisten, der sogenannten Motakhalim (das heißt, Lehrer des Worts, des geoffenbarten Glaubens) gegen die Gleichung: reale Möglichkeit = Materie. Um die Allmacht der höchsten Form (des göttlichen actus purus) absolut zu halten, mußten sie statt des dynamei on das gänzlich nichtige Nichts in einem Primum vor der Welt ausbreiten: Gott hat die Welt aus dem Nichts geschaffen, nicht aus der Materie herausgerufen, aus der realen Möglichkeit. Umgekehrt dagegen wird bei pantheistisch-materialistischen Philosophen des Mittelalters, so bei Avicenna, Averroes, Amalrich von Bena, David von Dinant, die reale Möglichkeit Materie zum gesamten Grund der Welt, und der göttliche Schöpfungswille ist stets ein Moment der Materie; ja, Gott und Materie werden identisch. Entwicklung ist bei Averroes «eductio formarum ex materia«, mit dem «dator formarum «im Weltall selbst. So erscheint die Schöpfung-mit Wegfall jedes Dualismus - einzig als Selbstbewegung, Selbstbefruchtung der Gottmaterie; in ihr ist die Potentialität und
zugleich jene ihr immanente Potenz, welche einen außerweltlichen Beweger überflüssig macht. Und dieser halbe Materialismus realer Möglichkeit mehrt sich renaissancegemäß bei Giordano Bruno, bei ihm wird die Welt völlig zur Realisierung der Möglichkeiten, die in der einheitlichen Materie und als sie enthalten sind. Natura naturans und natura naturata fallen nun unten wie oben zusammen »in der dauernden, ewigen, zeugenden, mütterlichen Materie«. Das Substrat reale Möglichkeit wird dadurch, in kühner Erweiterung des Aristoteles zugleich die Quelle, nicht nur das Gefäß der Formen: «Daher muß die Materie, die . . . immer fruchtbar bleibt, das bedeutsame Vorrecht haben, als einziges substanzielles Prinzip und als das, was ist und bleibt, anerkannt zu werden . .. Darum haben auch einige unter jenen, da sie das Verhältnis der Formen in der Natur wohl erwogen hatten, soweit man es aus Aristoteles und anderen von ähnlicher Richtung erkennen konnte, zuletzt geschlossen, daß die Formen nur Akzidenzien und Bestimmungen an der Materie seien und daß deshalb auch das Vorrecht, als Actus und Entelechie zu gelten, der Materie angehören müsse« (Bruno, Von der Ursache, dem Prinzip und /(273) dem Einen, Meiner,S.60f.).Das also sind die ersten Konsequenzen, wenn die reale Möglichkeit als so real genommen wird, daß sie den Schoß und die Zeugung, das Leben und den Geist, geeint in der Materie, zugleich umgreift. Wobei der Schoß auch weiter fruchtbar bleibt, dieTendenz-Latenz dessen, was realiter werden kann, im materiellen Substrat nicht abgeschlossen ist. Diese Bestimmung des dynamei on ist freilich eine, die im bloß mechanischen, im mechanistischen Materialismus unterging. Materie als Fülle mußte zunächst mit Recht hier schrumpfen, weil die quantitative Naturwissenschaft nichts davon zeigte und weil totale Mechanik die beste Brechstange gegen Jenseiterei war. Aber nicht minder war diese Schrumpfung möglich, weil die christliche Scholastik selber den Aristotelischen Materiebegriff und gar den mannigfach vorsokratischen (auf den sich Bruno ebenfalls bezieht) aus dem keimträchtigen Gebiet der Natura naturans entfernt hatte. Weshalb auch für den mechanischen - allzu mechanischen Materiebegriff, vor allem für seine tote Nachwirkung im vorigen Jahrhundert, das Wort des englischen Naturforschers John Tyndall gelten mag: «Wenn der Stoff als ein Bettler in die Welt tritt, so darum, weil die Jakobe der Theologie ihn seines Erstgeburtsrechts beraubt haben.« Die nur mechanisch gefaßte Materie wurde jedenfalls in der Folge ein geschichtsfremder Klotz, dem seine ganze reale Möglichkeit bereits statische Wirklichkeit geworden ist, im Sinn eines gleichsam von Geburt an erfrorenen Anfangs. Jedoch die fortwirkende Aristotelische Bestimmung, die mutationsfähig gewordene des dynamei on, geht selber mutatis mutandis - ein in den historisch-dialektischen Materialismus. Subjektiver Faktor, Reife der Bedingungen, Umschlag der Quantität in Qualität, gar Veränderbarkeit: alle diese dialektisch-materialistischen Entwicklungsmomente sind in einer Klotz-Materie substratlos. Das Dialektische fällt von ihr, als einem zwar mechanisch bewegten, doch sogleich mechanisierten Quantum, ab oder bleibt an ihr ein Epitheton ornans; Übergang aus dem Reich der Notwendigkeit in das der Freiheit hat nur an unabgeschlossener Prozeßmaterie Land. Genau die bisher entferntest gehaltenen Extreme: Zukunft und Natur, Antizipation und Materie schlagen in der fälligen Gründlichkeit des historisch-dialektischen Materialismus zusammen. Ohne Materie ist kein /(274) Boden der (realen) Antizipation, ohne (reale) Antizipation kein Horizont der Materie erfaßbar. Die reale Möglichkeit wohnt derart in keiner fertig gemachten Ontologie des Seins des bisher Seienden, sondern in der stets neu zu begründenden Ontologie des Seins des Noch-Nicht-Seienden, wie sie Zukunft selbst noch in der Vergangenheit entdeckt und in der ganzen Natur. Im alten Raum pointiert sich so folgenreichster Weise sein neuer Raum: reale
Möglichkeit ist das kategoriale Vor-sich der materiellen Bewegung als eines Prozesses; sie ist der spezifische Gebietscharakter gerade der Wirklichkeit, an der Front ihres Geschehens. Wie anders sonst die zukunfttragenden Eigenschaften der Materie? - es gibt keinen wahren Realismus ohne die wahre Dimension dieser Offenheit. Das wirklich Mögliche beginnt mit dem Keim, worin das Kommende angelegt ist. Das darin Vorgebildete treibt dahin, sich zu entfalten, aber freilich nicht, als wäre es vorher schon, auf engstem Platz eingeschachtelt. Der »Keim« sieht selber noch vielen Sprüngen entgegen, die »Anlage« entfaltet sich in der Entfaltung selber zu immer neuen und präziseren Ansätzen ihrer potentia-possibilitas. Das real Mögliche in Keim und Anlage ist folglich nie ein eingekapselt Fertiges, das als ein erst Klein-Vorhandenes lediglich auszuwachsen hätte. Vielmehr bewährt es seine Offenheit als wirklich entwickelnde Entfaltung, nicht als bloße Ausschüttung oder Ausfaltung. Potentia-possibilitas macht die ursprüngliche Wurzel und Origo prozessual fortdauernder Erscheinung immer wieder auf neuer Stufe originär, mit neu latentem Inhalt. So reicht der arbeitende Mensch, diese Wurzel der Menschwerdung, verwandelt durch seine ganze weitere Geschichte und entwickelt sich in ihr immer genauer. Ja man kann sagen, auch der aufrechte Gang des Menschen, dieses unser Alpha, worin die Anlage zur vollen Ungebeugtheit, also zum Reich der Freiheit liegt, geht selber immer wieder verwandelt und genauer qualifiziert durch die Geschichte der immer konkreteren Revolutionen. Bis zum klassenlosen Menschen, der insgesamt die letzthin intendierte Anlagemöglichkeit der bisherigen Geschichte darstellt. Das real Mögliche hält daher nicht nur, als Anlage zu seinem Wirklichen, diese treibend, sondern verhält sich ebenso, als das immer weiter sich entwickelnde letzthinnige Totum dieser /(275) Anlage, zu der bereits gewordenen Wirklichkeit essentiell. Derart ist das bisher Wirkliche sowohl vom ständigen Plus-ultra essentieller Möglichkeit durchzogen wie an seinem vorderen Rand von ihr umleuchtet. Diese Umleuchtung, ein vor-scheinendes Horizontlicht, das auch in fast allen Sozialutopien, auf mehr oder minder abstrakte Weise, reflektiert war, gibt sich psychisch als Wunschbild nach vorwärts, moralisch als menschliches Ideal, ästhetisch als naturobjekthaftes Symbol. Die Wunschbilder nach vorwärts haben das mehr oder minder erfaßt Mögliche eines besseren Lebens überhaupt zum Inhalt; sie sind deshalb heitervorspielend. Die Ideale haben in der Hauptsache das mehr oder minder realisiert Mögliche eines versucht vollkommenen Menschseins, vollkommener gesellschaftlicher Verhältnisse zum Inhalt; sie sind deshalb, in ihren Leitbildern, Leittafeln, anfeuernd-vorbildlich. Hierher gehören der unverzerrte und unverdinglichte, der schöne Menschentyp, das klassenlose Verhältnis, worin er Platz hat. Die Symbole schließlich haben, erst recht inderHauptsache, das überall nur andeutungsweise realisiert Mögliche eines unentfremdeten Identischseins von Existenz und Essenz in der Natur insgesamt zum Inhalt; Symbole sind daher betroffentiefenhaltig. Sie sind, zum Unterschied von den Idealen, verhüllt, das heißt, sie bedeuten das Ihre mit besonders starkem Pathos der «Bedeutung«, und das deshalb, weil sie nicht wie die Ideale ein mehr oder minder realisiert Mögliches, sondern eben ein in sich selber nur andeutungsweise realisiert Mögliches zum Inhalt haben. Und weiterhin vor allem: dieser Inhalt steht deshalb so sehr in der «Bedeutung« oder, wie sich bei Symbolen spezifischer sagen läßt: in der «Chiffer«, weil er zentraler, folglich vorerst weniger manifestierbar ist als der Inhalt der Ideale. Die jeweiligen Träger, Existenzen einer symbolischenBedeutung sind zwar weit zahlreicher, ja fast beliebiger als die des Ideals, jedoch sie sind dafür allemal weit umfassender in der ganzen Natur auf Essentielles bezogen. Und sie
sind zentral darauf bezogen; was andererseits den Unterschied des Symbols von der Allegorie ausmacht, als dem Gleichnis eines Dings mit wieder lauter anderen Dingen, ohne daß also das Gebiet von lauter Mannigfaltigem verlassen wird. Das Verweisen des Symbols dagegen geht, wie gesehen, gerade auf eine Einheitlichkeit der Bedeutung; weshalb /(276) auch, zum Unterschied von der allemal vieldeutigen Mannigfaltigkeits-Verweisung der Allegorien, die echten Symbole in ihrer Bedeutung schließlich konvergieren, nämlich eben im Zentralen ihrer Bedeutung. Die gesellschaftlich bedingte jeweilige Richtungslinie aufs Zentrale hat - in der- lange Strecken durch Religion führenden - Geschichte des Symbols differiert, nicht differiert aber hat der jeweils immer wieder gemeinte Grundbezug des SymbolGleichnisses auf ein »Unum Verum Bonum« der Essenz. Indem jedoch gerade diese Essenz nur im andeutungsweise realisiert Möglichen liegt und noch nirgends anders liegen kann, ist das Symbolische - was nun entscheidend wichtig - nicht nur in seinem Ausdruck, sondern, bei allen echten Symbolen, ebenso in seinem Inhalt selber noch verhüllt. Denn der echte symbolische Inhalt selber ist noch im Abstand von seiner vollen Erscheinung, er ist darum auch objektiv-real eine Chiffer. Genau vom Licht des real Möglichen her geschieht dieser Art die fällige Notierung eines realen Kerns im Begriff des Symbolischen, eines Begriffs also, der bisher, einige objektiv-idealistische Fassungen in Hegels Ästhetik abgerechnet, fast ausschließlich subjektiv-idealistisch gefaßt worden war. Subjektiv-idealistisch deshalb, weil eben jeder Symbol-Inhalt nur als ein für den beschränkten Menschenverstand verhüllter dargestellt wurde, während der Inhalt als völlig ausgemacht galt - ohne jeden Abstand zu sich, in transzendent vorhandener Statik strahlend. Konträr zudem ist die Wahrheit aber so: das Symbolische teilt sich einzig vom Objektinhalt her seinem Ausdruck mit, differenziert die einzelnen Symbole vom objektiv realen Material her, dessen verschieden situierten Verhülltheits-Inhalt, Sachidentitäts-Inhalt sie als dies Verhüllte und Sachidentische jeweils abbilden. Und es ist einzig diese Abbildlichkeit einer Realchiffer, eines Realsymbols, welche schließlich Symbolen ihre Echtheit mitteilt. Die Echtheit eines Konvergierens der Bedeutung, welche sich mit der Realität dieser Bedeutung in bestimmten besonders latenzhaltigen Objekten der Außenwelt verbindet. Hierher gehören Symbole wie der Turm, der Frühling, gehören die Abendlüfte in Mozarts Figaro, sodann der Schneesturm in Tolstois »Tod des Iwan Iljitsch», der Sternhimmel über dem zu Tod verwundeten Andrej Bolkonskij in Tolstois »Krieg und Frieden«, das Hochgebirge am Schluß des /(277) Faust, überhaupt alle Symbole der Erhabenheit. Die Dichtung hat kraft ihres Bildcharakters die Symbolgegend des real Möglichen deutlicher erfaßt als die bisherige Philosophie, aber die Philosophie nimmt diese Gegend mit der Strenge des Begriffs und dem Ernst der Zusammenhänge auf. Beide aber, realistische Dichtung wie Philosophie, eröffnen: die Welt selber ist voller Realchiffern und Realsymbole, voller » signatura rerum«im Sinn zentral bedeutungshaltiger Dinge. Sie weisen in dieser ihrer Bedeutsamkeit ganz realiter auf ihre Tendenz und Latenz von »Sinn«, von einem den Menschen und seine Angelegenheit möglicherweise einst ganz empfangenden. Die partielle Bedingtheit, also Möglichkeit zur Reifung dieser Anlage geht durch sämtliche Proben aufs humane Sinn-Exempel, an denen die Welt so reich ist. Doch eben mit mehr oder minder großem Abstand vom Exempel, mit mehr oder minder großem Noch-Nicht der vollen Erscheinung, mit jenem Abstand also, der so vielfach erstWunschbilder, Ideale, Symbole statt der Gelungenheit darbietet. Und der das essentielle Totum der Welt im schweren Prozeß seiner Heraufbringung zeigt, noch nirgends als Resultat. Wird der Abstand unterschlagen, so entsteht abstrakt-ruchloser Optimismus; wird der Abstand aber als die vermittelte
Perfektibilität begriffen, die er ist, mit aller Beschaffenheit der Gefahr, so entsteht das Gegenteil der Ruchlosigkeit: militanter Optimismus. So viel hier über das real Mögliche und die Essenz darin im Anlagezustand jenes Perfektibeln, das den Menschen - mit einer Ahnung seiner künftigen Freiheit - empfängt. Die Essenz des Perfektibeln ist nach der allerkonkretesten Marxschen Antizipation »die Naturalisierung des Menschen, die Humanisierung der Natur». Das ist die Abschaffung der Entfremdung in Mensch und Natur, zwischen Mensch und Natur oder der Einklang des unverdinglichten Objekts mit dem manifestierten Subjekt, des unverdinglichten Subjekts mit dem manifestierten Objekt. Solche Perspektive absoluter Wahrheit, das ist hier, völligen Realseins im Wirklichen selbst - und ihre Weite wie Tiefe ist unumgänglich, bei Strafe des mündungslosen Relativismus eröffnet freilich wieder erst real-essentielle Möglichkeit, noch nicht die, in ihr selber erst angelegte real-essentielle Notwendigkeit. Denn diese wäre eine mit völlig zureichenden, also unausweichlichen Bedingungen zur /(278) Existenz der Essenz, zur Essenz der Existenz. Diesseits dieser äußersten Nicht-Kontingenz oder Situationslosigkeit ist auch die real-essentielle Notwendigkeit nur erst-Möglichkeit, ja eine mit realiter kaum erst partiell vorliegenden Bedingungen. Währender Prozeß, tätiges, mit der Tendenz vermitteltes Hoffnungsbild einer besseren Welt, anfeuerndes Ideal, tiefenhaltiges Symbol, das bleiben die selber antizipierenden Realperspektiven der realen Möglichkeit - als der Frontdimensionen katexochen. Erinnerung: Logisch-statischer Kampf gegen das Mögliche Leicht zu sehen, wie noch manches Blatt sich wenden kann. Ein Noch-Nicht lebt überall, sovieles ist in dem Menschen noch nicht bewußt, so vieles in der Welt noch nicht geworden. Beiderlei Noch-Nicht aber wäre nicht, wenn es sich nicht im Möglichen bewegen und dessen Offenheit sich zuwenden könnte. Dennoch ist das Kannsein noch erstaunlich wenig durchdacht, in Griff gebracht. Die Kategorie des Möglichen, obgleich so wohl bekannt und stündlich gebraucht, war logisch eine Crux. Diese Kategorie ist unter den Begriffen, welche philosophisch im Lauf der Jahrhunderte herausgearbeitet und zur Schärfe gebracht worden sind, wohl die bis jetzt unbestimmteste geblieben. Sicher ist sie die am wenigsten ontologisch durchverfolgte; daher kommt sie herkömmlicherweise fast nur in der formalen Logik vor. Auch wenn die Kategorienlehre sich mit dem Möglichen befaßt, wird es überwiegend nur als Erkenntnis-, nicht als Objekt-Bestimmung bezeichnet. Gewiß, Logiker wie Job. v. Kries, kleinere und größere Epigonen des Üblichen, so Verweyen, so zuletzt N. Hartmann, der sich sogar einen Ontologen nennt, haben diverse eigene Bücher über Möglichkeit geschrieben. Aber da bei letzteren Epigonen das Mögliche nur als Begriffsverhältnis anerkannt wird, haben sie so gut wie nichts, das heißt, nichts Reelles darüber geschrieben. Hier überall, doch nicht minder auch bei originalen Philosophen, wovon sogleich, geschieht die auffallende Entleerung des Möglichen zunächst durch Nicht-Unterscheidung von noch partieller Kenntnis der Bedingungen und partiell vorliegenden Bedingungen selbst. So wird immer von neuem das problematisch schwankende Urteil über einen objektiv-entschie- /(279) denen Sachverhalt gleichgesetzt mit dem assertorisch entschiedenen Urteil über einen objektiv schwankenden Sachverhalt, also über die objektiv vorhandene Möglichkeit. Das problematische Urteil: »Es ist möglich, daß Luise zu Hause ist«, überzieht so das assertorische Urteil: »Es steht fest, daß in absehbarer Zeit die Fahrt eines Raketenflugzeugs auf den Mond möglich ist.« Der Unterschied zwischen dem ersten und dem zweiten Urteil weist aber deutlich auf den nicht nur logisch-, gar
psychologischimmanenten, sondern eben auf den Außenwelt-Charakter eines großen Teils der Modalität hin. Wird die Kategorie Möglichkeit ausschließlich auf die bloße Kenntnis-Schicht des Vermutens reduziert, dann allerdings muß objektive Möglichkeit in der Außenwelt subjektiv-idealistisch verdampfen. Das Mögliche wird dann wegdemonstriert, als ob sich noch nie ein Mensch ins Modale einer Gefahr begeben hätte, als ob er ihr nie real entgangen, ausgewichen oder zur Beute gefallen wäre. Das Mögliche wird dann zur bloßen »anthropomorphen Introjektion« gemacht, als ob nicht sämtliche Organismen mit ihrem Reflex- und Reaktionsapparat auf eine objektiv-reale Welt der Möglichkeit eingestellt wären; von der Seeanemone bis zum witternden Wild, bis zur Umsicht des homo sapiens. Das Mögliche wird zur »Fiktion« entwirklicht, als ob der Begriff objektive Möglichkeit nicht das Zivilrecht wie Strafrecht erfüllte (Haftpflicht, impossibilium nulla obligatio, Bedingungsklausel, Fahrlässigkeit und so fort). Trotzdem sieht auch Sigwart, obwohl er bloße Möglichkeit richtig definiert als ein dem Einzelnen Zukommendes, «sofern es den partiellen Grund dessen enthält, was sein wird« (Logik 1, 1904, 5. 274), im Möglichen nur einen Ausdruck subjektiver Unentschiedenheit oder auch der Resignation unseres beschränkten Wissens. Übersteigerung der problematischen Urteilsmodalität, Verkennung der Gegenstands- und Objektsmodalität geben so das erste Motiv für die idealistische Leugnung realer Möglichkeit ab. Hinzu kommt aber noch ein zweites Motiv für die Leugnung der realen Möglichkeit, und es findet sich auch bei großen Denkern, bei solchen zudem, die in keinem Punkt subjektiv-idealistisch sind. Die Sperre ist hier die gleiche wie diejenige, welche auch die Schwesterkategone des Möglichen: das Neue bis jetzt undurchdacht gelassen hat. Die Sperre ist die klas- /(280) senmäßig bedingte Küstenschiffahrt rings ums Gegebene, ja Vergangene, ist die Abneigung des statischen Denkens gegen den Weltbegriff der tätigen Offenheit und Bläue. Diese Abneigung findet sich auch bei so prozessualen Philosophen wie Aristoteles und Hegel, trotz der riesigen Konzeption eines realen dynamei on beim ersten, der realen Dialektik beim zweiten. Die Setzung eines fertigen Ein und Alles, eines Universums, bei dem alles Mögliche wirklich ist ( »Possest«, vollendetes »Könnensein« nennt Nikolaus von Cusa Gott, und selbst Giordano Bruno läßt im Ganzen der Welt nichts unverwirklicht Mögliches übrig): diese statische Setzung hat den Raum des Offen-Möglichen vor allem verstellt. So liegt der Kategorialbegriff Möglichkeit insgesamt in fast lauter jungfräulichem Land; er ist der Benjamin unter den großen Begriffen. Stets scheint es das Frische, Kommende zu sein, dessen hier nicht gedacht werden soll. Selbst die Sophisten, bei denen alles Feste geistig ins Wanken geriet, zogen aus dem Möglichen nichts als Spott. So daß ebenso alles wie nichts möglich sei, da, wie Gorgias sagt, überhaupt nichts sei, weder Nichtsseiendes noch Seiendes noch aber auch etwas dazwischen, das vergehen oder werden könne, also zum einen oder anderen sich als möglich verhielte. Nicht noch radikaler, aber noch zentrierter wurde die Leugnung des Möglichen in der megarischen Schule, wo sie sich auch deutlich mit der eleatischen Lehre des unbewegten Seins verband. Der Megariker Diodoros Kronos erfand, charakteristischerweise im Anschluß an Zenos Demonstration gegen die Bewegung, seinen angeblichen Beweis gegen das Mögliche. Dieser angebliche Beweis blieb (unter dem Namen des Kyrieuon) noch Jahrhunderte hindurch berühmt, sowohl als angebliches dialektisches Meisterstück, wie vor allem eben wegen des Interesses, das das statitische Denken an ihm nahm (vgl. darüber Zeller, Sitzungsberichte der Berliner Akademie, 1882,S. 151 ff.). Diodoros bildete einen Syllogismus: aus Möglichem kann nichts Unmögliches hervorgehen; da aber ein Mögliches das nicht wirklich würde, Unmögliches aus sich
hervorgehen ließe, nämlich ein anderes Ist als das Ist, das ist, so ist dieses Mögliche selber unmöglich und das Wirkliche als das einzig Mögliche gewiesen. So schwach dieser Svllogismus ist, so hat ihn doch noch die römische Stoa übernommen; /(281) er spielt bei Epiktet und bei Marc Aurel eine bedeutende Rolle in der Zufriedenheit mit der möglichkeitsfreien, notwendigkeitsvollen Weltordnung und wurde durch Cicero (De fato 6, 7) dem späteren amor fati übermittelt. Verneinung des Möglichen, Neustoizismus, amor fati reichen sich in großer Verwandtschaft die Hand bei Spinoza: sub specie aeternitatis sehen (Ethik II, Lehrsatz 44, Zusatz 2), heißt per definitionem, alles Mögliche schon als notwendig-wirklich sehen. Denn unter dem Gesichtspunkt der spinozistischen Ewigkeit gibt es, weil sie mit unbedingtem Grund-Folge-Verhältnis zusammenfällt (als dem mathematischen Fatum der Welt), kein partiell Bedingtes, also kein Mögliches mehr. Was für Spinozas Gott die Wahl zwischen den unendlich zahlreichen logischen Möglichkeiten ausschließt, die ein Leibniz vor seinem Gott (als Realisator) allerdings noch ausgebreitet sein ließ. Sogar innerhalb der vorhandenen Welt, als einer von ihrem Schöpfer aus unendlich viel möglichen realisierten, kennt Leibniz noch Möglichkeit als Anlage, obzwar als eine, die ebenfalls nichts realiter Neues, das heißt, in der ganzen bisherigen Welt nicht Enthaltenes entwickeln kann. Und gibt Leibniz, dieser einzige große Denker des Möglichen seit Aristoteles, auch einer unendlichen Zahl möglicher anderer Weltzusammenhänge Raum, so leben auch diese »primae possibilitates« wieder nur im Verstand des Schöpfers und nicht als noch realisierfähige in diese nun einmal realisierte Welt hineinragend. Spinoza jedoch bestimmt, mit aller Grundgewalt des amor fati, auch noch gegen die Möglichkeiten in Gott: » Die Dinge konnten auf keine andere Weise und in keiner anderen Ordnung von Gott hervorgebracht werden, als sie hervorgebracht sind« (Ethik 1, Lehrsatz 33). Das also ist, in Ansehung des Möglichen, Diodoros Kronos großen Stils in der Metaphysik. Und wieder nicht, als wäre damit die Unlust zum Möglichen beendet, als lebte diese Unlust nicht auch in Philosophien, die dem Möglichen ziemlich offen huldigen könnten; so bei Kant, so konkreter bei Hegel. Kant hat das Ideal ausgesteckt, Hegel den Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit; trotzdem pointiert die »Kritik der reinen Vernunft« das Mögliche ebensowenig wie, mutatis mutandis, Hegels Logik und Enzyklopädie. Kant also bringt die Möglichkeit (sowohl die »der Dinge durch Begriffe a priori« wie diejenige, »die /(282) nur aus der Wirklichkeit in der Erfahrung kann abgenommen werden«) auf die Seite der reinen Denkformen. Zwar konstituiren alle reinen Denkformen oder Kategorien, also auch die modalen, hier die Erfahrung, als das durch die Kategorien gegründete «System der Erscheinungen«, doch für die Kategorien der Modalität (Möglichkeit, Wirklichkeit, Notwendigkeit) mahnt Kant gerade im Hinblick auf Erfahrung zu betonter Vorsicht. Daher der Satz: «Die Kategorien der Modalität haben das Besondere an sich, daß sie den Begriff, dem sie als Prädikat beigelegt werden, als Bestimmung des Objekts nicht im mindesten vermehren, sondern nur das Verhältnis zum Erkenntnisvermögen ausdrücken« (Werke, Hartenstein, III, S.193). Objektiv-real Mögliches kennt Kant folglich überhaupt nicht, objektiv-real Wirkliches kommt zu dem modal Wirklichen auch nur durch Anschauung und nicht im mindesten durch Anschluß an ein assertorisches Urteil, also an ein Wirklichkeitsurteil der Modalität hinzu. Trotzdem muß Kant, wenn auch um den Preis des Dualismus, der Möglichkeit Raum geben, nämlich in dem eigentümlichen Denkgebiet über der erkennbaren Erfahrung, welches der moralischen «Vernunft«, nicht dem erkennenden «Verstand« zugehört; welches also vom «Postulat« und vom «Ideal« bewohnt wird. Das von Fichte nachher so stark mobilisierte Postulat: «Du kannst, denn du sollst«, meint Möglichkeit als Vermögen,
als Potenz. Das bei Kant durchgehends herrschende, abstrakt auch der Politik vorgeordnete Ideal: «Ausbreitung der Herrschaft sittlicher Freiheit« - meint andererseits Möglichkeit als Potentialität einer, leider unendlichen, Annäherung an dieses Ideal in der Geschichte. Doch ist die so gefaßte Möglichkeit keine objekthaft-reale; es gibt in der Erfahrungswelt des transzendentalen Idealismus keine Wege zu ihr. Und sie wird auch als Möglichkeit des Sollens, des Postulats, des Ideals durchaus nicht eigens ausgezeichnet; im geschichtslosen Sehfeld eines «Bewußtseins überhaupt« gab es für die Zukunft, für die »Hoffnung der Zukunft«, wie Kant in den «Träumen eines Geistersehers« sagte (Werke II, S.357) wohl Zuneigung, doch keinen konstitutiven Platz. So hat sich nicht nur der »Verstand« der Erfahrungskategorien, sondern auch die »Vernunft« als »Mutter der Ideen« ihren Raum fürs Mögliche beengt. Und wie steht die Möglich- /(283)keit schließlich bei Hegel da, dem betonten Denker der (konkreten) Vernunft statt des (abstrakten) Verstandes? Der sonst so objektiv-idealistische Hegel zitiert überraschenderweise mit Zustimmung die oben angegebene Kantstelle, die die Modalität vom realen Objekt fernhält, eine Zustimmung zu Kant, die bei Hegel ja selten ist. Er fügt dem Kantzitat hinzu: «In der Tat ist die Möglichkeit die leere Abstraktion der Reflexion-in-sich, das, was vorhin das Innere hieß, nur daß es nun als das aufgehobene, nur gesetzte, äußerliche Innere bestimmt, und so allerdings als eine bloße Modalität, als unzureichende Abstraktion, konkreter genommen nur dem subjektiven Denken angehörig, auch gesetzt ist... Insbesondere muß in der Philosophie von dem Aufzeigen, daß etwas möglich oder daß auch noch etwas anderes möglich, und daß etwas, wie man es auch ausdrückt, denkbar sei, nicht die Rede sein« (Enzyklopädie, § 143). Und auch dort, wo Hegel die Möglichkeit nicht nur als leere Abstraktion der Reflexion-in-sich faßt, sondern ebenso als ein An-sich-Moment der Wirklichkeit, wird diese bei ihm so genannte reale Möglichkeit gänzlich vom Kreis der gewordenen Wirklichkeit umschlossen: «Was daher real möglich ist, das kann nicht mehr anders sein; unter diesen Bedingungen und Umständen kann nicht etwas anderes erfolgen« (Logik, Werke IV, S 211). Hegel spricht hier ersichtlich auch als Feind des leeren Meinens, des müßigen Umstellens der Geschichte nach dem, was hätte geschehen können, des abstrakten Ideals, des «Mädchens, wie es sein soll«, des «Staats, wie er sein soll« und so fort. Aber er spricht auch als Nichtdenker der Zukunft, als Kreis-Dialektiker des Vergangenen oder, was aufs Gleiche herauskommt, des ewig Geschehenden, ewig in seine Kreise Zurückkehrenden, kurz, hier spricht jenes Reaktionäre an Hegel, dem die Philosophie, um zu verändern, ohnehin immer zu spät kommt. Dem der Gedanke, laut Vorrede zur Rechtsphilosophie, ohnehin erst in der Zeit erscheint, »nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß vollendet und sich fertig gemacht hat«. Auch noch in diesem Satz ist ein Stück Diodoros Kronos, groß gewordenen Stils, diesesfalls als Feier der Vergangenheit, der angeblich die ganze Welt umfassenden. Genau dieses Pathos der Statik, so erstaunlich am gewaltigen Dialektiker, ließ also Hegel die Möglichkeit hintansetzen oder ins untergeordnet /(284) Abgetane versetzen. Hierher gehört auch folgender, den Prozeß abschließender Lehrsatz Hegels: «Was innerlich ist, ist auch äußerlich vorhanden und umgekehrt; die Erscheinung zeigt nichts, was nicht im Wesen ist, und im Wesen ist nichts, was nicht manifestiert ist« (Enzyklopädie, § 139). Dazu halte man freilich die frühere Bekundung aus der Vorrede zur Phänomenologie: »Es ist... nicht schwer zu sehen, daß unsere Zeit eine Zeit der Geburt und des Übergangs zu einer neuen Periode ist. Der Geist hat mit der bisherigen Welt seines Daseins und Vorstellens gebrochen und steht im Begriffe, es in die Vergangenheit hinab zu versenken, und in der Arbeit seiner Umgestaltung«
(Werke II, S. 10). So wäre denn die Konsequenz aus dieser Bekundung, die Hegel nur nicht gezogen hat, allerdings diese: wo eine Zeit der «Geburt« ist, ist auch der Schoß eines real Möglichen, dem sie entspringt, und wo «Arbeit der Umgestaltung« ist, muß die Potenz des Umgestaltens wie die Potentialität des Umgestaltbaren mehr sein als nur leere Abstraktion der Reflexion-in-sich. Item, die Logik und Ontologie des weiten Reichs des Möglichen ist erdrückt worden von dem statischen Wahn, daß alles Mögliche im Wirklichen bereits ausgestaltet sei. Daß es deshalb so gleichgültig sei wie die Ähre, aus der das Korn heraus ist, oder wie Schachfiguren nach beendetem Spiel. Die Wahrheit ist aber die Marxsche, die von aller bisherigen Philosophie sich abhebende, daß es darauf ankomme, die Welt als richtig interpretierte, das heißt eben als dialektisch-materialistisch prozeßhafte, als unabgeschlossene, zu verändern. Veränderung der veränderbaren Welt ist die Theorie-Praxis des realisierbar real Möglichen an der Front der Welt, des Weltprozesses. Und an diesem Ende ist das real Mögliche, das in jeder kontemplativ-statischen Philosophie heimatlose, das Realproblem der Welt selber: als das noch Unidentische von Erscheinung und wirklichem Wesen, schließlich von Existenz und Essenz in ihr. Möglichkeit verwirklichen Der Mensch ist dasjenige, was noch vieles vor sich hat. Er wird in seiner Arbeit und durch sie immer wieder umgebildet. Er steht immer wieder vorn an Grenzen, die keine mehr sind, indem er /(285) sie wahrnimmt, er überschreitet sie. Das Eigentliche ist im Menschen wie in der Welt ausstehend, wartend, steht in der Furcht, vereitelt zu werden, steht in der Hoffnung, zu gelingen. Denn was möglich ist, kann ebenso zum Nichts werden wie zum Sein: das Mögliche ist als das nicht voll Bedingte das nicht Ausgemachte. Daher eben ist dieser realen Schwebe gegenüber von vornherein, wenn der Mensch nicht eingreift, ebenso Furcht wie Hoffnung angemessen, Furcht in der Hoffnung, Hoffnung in der Furcht. Deshalb haben die Stoiker - weise oder auch allzu passiv weise geraten, der Mensch solle sich nicht in der Nähe von Verhältnissen ansiedeln, über die er keine Macht hat. Doch indem beim Menschen das aktive Vermögen besonders zur Möglichkeit gehört, so macht der Einsatz dieser Aktivität und Tapferkeit, sobald und soweit er stattfindet, ein Übergewicht der Hoffnung. Tapferkeit dieses Sinns ist Gegenzug gegen die negative Möglichkeit des Abwegs ins Nichts. Sie ist aber nur Gegenzug, indem sie, statt der raschen, abstrakten Heldentat, sich der genauesten Vermittlung mit den gegebenen Bedingungen versichert. Das ist: mit der Reife dieser Bedingungen sich vermittelt und mit ihrem auf der gesellschaftlichen Tagesordnung stehenden Inhalt. Nur dieses ist Praxis nach Maßgabe des jeweils Möglichen im Feld des insgesamten Möglichkeit-Seins der unabgeschlossenen Geschichte und Welt. Nur solche Praxis kann die im Geschichtsprozeß anhängige Sache: die Naturalisierung des Menschen, die Humanisierung der Natur aus der realen Möglichkeit zur Wirklichkeit überführen. Ein Zukunftsland, wie alles Totum des Möglichen, aber es ist voll genau verfolgbarer geschichtlichtendenzieller Vermittlung. Wie die Zeit, nach Marx, der Raum der Geschichte ist, so ist der Zukunftsmodus der Zeit der Raum der realen Möglichkeiten der Geschichte, und er liegt allemal am Horizont der jeweiligen Tendenz des Weltgeschehens. Das ist theoretisch-praktisch: an der Front des Weltprozesses, wo die Entscheidungen fallen, neue Horizonte aufgeben. Und der Prozeß in diese Zukunft ist einzig der der Materie, die sich durch den Menschen als ihrer höchsten Blüte zusammenfaßt und zu Ende bildet.
Das Unsere wie auch das noch nicht Unsere hat diesen Weg vor sich, er ist rauh und offen. Menschen und Dinge sind in dieser /(286) Bahn vereint, auf diese Art hängen Mensch und Welt am besten zusammen. Wobei durch die Menschen, vor nicht mehr als einigen tausend Jahren, der entscheidende Stoß gekommen ist, durch den eröffnet wurde, was man in unbescheidener, doch nur vorläufig übertriebener Weise Weltgeschichte nennt. Der Mensch und seine Arbeit ist derart im historischen Weltvorgang ein Entscheidendes geworden; mit der Arbeit als Mittel zur Menschwerdung selber; mit den Revolutionen als Geburtshelfern der künftigen Gesellschaft, womit die gegenwärtige schwanger ist; mit dem Ding für uns, der Welt als vermittelter Heimat, wozu die Natur in kaum erst betretener, gar aufgesprengter Möglichkeit ist. Der subjektive Faktor ist hierbei die unabgeschlossene Potenz, die Dinge zu wenden, der objektive Faktor ist die unabgeschlossene Potentialität der Wendbarkeit, Veränderbarkeit der Welt im Rahmen ihrer Gesetze, ihrer unter neuen Bedingungen sich aber auch gesetzmäßig variierenden Gesetze. Beide Faktoren sind miteinander stets verflochten, in dialektischer Wechselwirkung, und nur die isolierende Überbetonung des einen(wodurch das Subjekt zum letzten Fetisch wird ) oder des anderen (wodurch das Objekt, in scheinbarem Selbstlauf, zum letzten Fatum wird) reißen Subjekt und Objekt entzwei. Die subjektive Potenz fällt zusammen nicht nur mit dem Wendenden, sondern mit dem Realisierenden in der Geschichte, und desto mehr fällt sie damit zusammen, je mehr die Menschen bewußte Hersteller ihrer Geschichte werden. Die objektive Potentialität fällt zusammen nicht nur mit dem Veränderbaren, sondern mit dem Realisierbaren in der Geschichte, und desto mehr fällt sie damit zusammen, je mehr die vom Menschen unabhängige Außenwelt ebenso eine wachsend mit ihm vermittelte ist. Realisierendes ist gewiß auch, mit wilder Wirkungskraft und Samen, auch großer Breite, in der vormenschlichen und außermenschlichen Welt. Ist hier, obzwar mit keinem oder schwachem Bewußtsein, von der gleichen intensiven Wurzel, aus der dann auch die menschlich subjektive Potenz entsprungen ist. Doch noch gewisser faßt der Mensch als Realisierendes - vor allem sofern und nachdem es nicht mehr mit falschem Bewußtsein versehen ist - die zentrale Potenz in der Potenz-Potentialität der prozessualen Materie zusammen. Diese zentrale Potenz steht derart wachsend in der Möglichkeit, das /(287) treibende Kern-Interesse alles Geschehens, diesen Ursprung und Inhalt der letzten realen Möglichkeit, selber wachsend zu treffen, anzutreffen, ihn zu identifizieren, ja sich mit ihm manifest-identisch zu machen. So transfinit auch alle dergleichen Ausrichtungen sind, so liegen sie doch in der strengen und konsequenten Verlängerungslinie des mit bewußter Herstellung der Geschichte Bezeichneten - contra undurchschautes Schicksal. Wonach eben die Realisierung des Realisierenden selber, das heißt, die adäquate Manifestierung des Geschichtsbildenden, Prozeß-Erregenden, als des Kerns der Realmöglichkeit, die ebenso entlegenste wie positiv-tiefste Realmöglichkeit ausmacht; mit kaum erst partiell vorliegenden Bedingungen. Dennoch ist hier das Ganze des bewußten Herstellens der Geschichte sichtbar: erfaßte, erlangte, ausgebreitete causa sui in Gesellschaft und Natur. Wodurch die Realisierung des Realisierenden, diese letzte Realmöglichkeit, das gleiche ist wie das letzte Realproblem: Gesellschaft wie Natur in die Angeln zu heben. Und eben die Welt dieser letzten Realmöglichkeit, die wenigstens definitorisch antizipierbare Welt der causa sui, stellt sich im Exempel dar als: Einklang des unverdinglichten Objekts mit dem manifestierten Subjekt, des unverdinglichten Subjekts mit dem manifestierten Objekt. Das sind die - einer nahen wie fernen Zukunft zugekehrten Grundproportionen der menschlichen Entwicklung. Die Angel in der menschlichen
Geschichte aber ist ihr Erzeuger der arbeitende Mensch, der endlich nicht mehr veräußerte, entfremdete, verdinglichte, für den Profit seiner Ausbeuter unterjochte. Marx ist der verwirklichte Lehrer dieser Aufhebung des Proletariats, dieser möglichen, wirklich werdenden Vermittlung der Menschen mit sich selbst und ihrem normalen Glück. Die Angel in der Geschichte der Natur aber, die der Mensch zum Unterschied von seiner eigenen Geschichte zwar beeinflußt, doch nicht macht, ist jenes mit uns kaum noch vermittelte, ja noch hypothetische Agens des außermenschlichen Geschehens, das abstrakt Naturkraft heißt, unhaltbar-pantheistisch natura naturans genannt worden war, das jedoch in dem Augenblick konkret zugänglich gemacht werden kann, wo der arbeitende Mensch, dieser stärkste, höchstbewußte, von der übrigen Natur keinesfalls abgetrennte Teil des universalen materiellen Agens, aus /(288) dem halben Inkognito seiner bisherigen Entfremdung herauszutreten beginnt. Marx ist der essentielle Lehrer dieser sich annähernden Vermittlung mit dem Produktionsherd des Weltgeschehens insgesamt, der, wie Engels sagt, Verwandlung des angeblichen Dings an sich zum Ding für uns im Maß einer möglichen Humanisierung der Natur. Freies Volk auf freiem Grund, so total gefaßt, das ist das Endsymbol der Realisierung des Realisierenden, also des radikalsten Grenzinhalts im objektiv real Möglichen überhaupt. 9
WELTVERÄNDERUNG ODER DIE ELF THESEN VON MARX ÜBER FEUERBACH
Das Denken nach vornhin ist seit langem angesagt und zu hören. Nur die Feigen reden sich aus allem heraus, und die Lügner bleiben allgemein. Nur sie verstecken sich in weiten oder spinösen Gewändern, suchen immer woanders zu sein als dort, wo man sie ertappt. Aber das Wahre kann überhaupt nicht genug bestimmt sein, auch dann und gerade dann, wenn die Sache vor dem Blick noch dämmert. Durch diesen frühen Spürsinn fürs Wesentliche gelangen bereits dem neunzehnjährigen Marx, im erhaltenen Brief an seinen Vater, scharf gefaßte Hauptsätze schlechthin. Diese Art will von Anfang an in den Kern der Sache, verspielt sich nirgends ins Unnütze, wirft es, sobald es erkannt ist, sogleich ab. So ist sie fähig, bei allem breit Erblickten, lang Durchdachten, das hinzukommt, jederzeit wieder in Form zu sein, zuschlagend und pointierend. Das Erfaßte, das sich so zu fassen versteht, zeigt die Pointen auf dem Weg. Mit und an ihnen schärft sich nun der Zug nach vorwärts, damit ihm selbst mögliche Umschweife noch dienen. Freilich auch ist dies Weisende, in seiner Folge, nicht immer so rasch überblickbar, wie es, in seiner Kürze, zitierbar ist. Denn bedeutende Kürze ist zusammenhängend, darum ist ihr Wort am wenigstens schnell fertig. /(289)
Zeit der Abfassung
So muß sich der Verstand an solchen Sätzen immer wieder neu bewähren. Das nirgends frischer als an der gedrängten Sammlung gedrängtester Weisungen, die als die Elf Thesen über Feuerbach bekannt sind. Marx hat sie im April 1845 in Brüssel niedergeschrieben, höchst wahrscheinlich im Zug der Vorarbeit zur »Deutschen Ideologie«. Veröffentlicht wurden die Thesen erst 1888 durch Engels, als Anhang zu dessen »Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen
deutschen Philosophie«. Hierbei hat Engels den zuweilen nur skizzierten Text von Marx stilistisch leicht redigiert, selbstredend ohne die leiseste inhaltliche Veränderung. Engels schreibt in der Vorbemerkung zu seinem »Ludwig Feuerbach« über die Thesen: »Es sind Notizen für spätere Ausarbeitung, rasch hingeschrieben, absolut nicht für den Druck bestimmt, aber unschätzbar als das erste Dokument, worin der geniale Keim der neuen Weltanschauung niedergelegt ist.« Feuerbach hatte vom reinen Gedanken auf die sinnliche Anschauung, vom Geist auf den Menschen, samt der Natur als seiner Basis, zurückgerufen. Wie bekannt, hatte diese so »humanistische« wie »naturalistische« Absage an Hegel (mit Mensch als Hauptgedanke, Natur statt Geist als Prius) auf den jungen Marx einen starken Einfluß. Feuerbachs «Das Wesen des Christentums«, 1841, seine »Vorläufigen Thesen zur Reform der Philosophie«, 1842, auch noch seine «Grundsätze der Philosophie der Zukunft«, 1843, wirkten desto befreiender, als auch die linke Hegelschule von Hegel nicht loskam, vielmehr über eine lediglich innerhegelsche Kritik am Meister des Idealismus nicht hinausging. »Die Begeisterung«, sagt Engels im »Ludwig Feuerbach« noch an die fünfzig Jahre später, rückblickend, »war allgemein: wir waren alle momentan Feuerbachianer. Wie Enthusiastisch Marx die neue Auffassung begrüßte, und wie sehr er - trotz aller kritischen Vorbehalte - von ihr beeinflußt wurde, kann man in der >HeiligenFamilie< lesen« (Ludwig Feuerbach, Dietz, 1946,S. 14). Die deutsche Jugend von damals glaubte statt Himmel endlich Land zu sehen, menschlich, diesseitig. Indessen hat sich Marx vor diesem allzu vagen diesseitigen Menschsein recht bald gelöst. Die Tätigkeit an der «Rheinischen /(290) Zeitung« hatte ihn in weit engeren Kontakt mit politischen und ökonomischen Fragen gebracht, als die Links-Hegelianer, aber auch Feuerbachianer besaßen. Eben dieser Kontakt führte Marx von der Kritik der Religion, auf die Feuerbach sich beschränkte, ,wachsend zur Kritik des Staats, ja bereits der gesellschaftlichen Organisation, die - wie die »Kritik der Hegelschen Staatsphilosophie« 1841-1843 erkennt - die Form des Staats bestimmt. In Hegels Unterscheidung zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Staat, von Marx pointiert, steckte schon selber mehr ökonomisches Bewußtsein als bei seinen Epigonen, auch bei Feuerbachianern. Die Ablösung von Feuerbach geschah hochachtungsvoll und zunächst nur wie eine Korrektur oder gar bloße Ergänzung, doch der gänzlich andere, der gesellschaftliche Blickpunkt ist von Anfang an klar. Am 13. März 1843 schreibt derart Marx an Ruge: «Feuerbachs Aphorismen sind mir nur in dem Punkt nicht recht, daß er zu sehr auf die Natur und zu wenig auf die Politik hinweist. Das ist aber das einzige Bündnis, wodurch die jetzige Philosophie eine Wahrheit werden kann« (MEGA I, 1/2, S.308). Die »Ökonomisch-philosophischen Manuskripte «, 1844, enthalten noch eine bedeutende Feier Feuerbachs, freilich als Gegensatz zur Hirnweberei Bruno Bauers; sie rühmen so unter Feuerbachs Taten vor allem die »Gründung des wahren Materialismus und der reellen Wissenschaft, indem Feuerbach das Verhältnis >des Menschen zum Menschen< ebenso zum Grundprinzip der Theorie macht« (MEGA I, 3,S. 152). Doch sind die »Ökonomisch-philosophischen Manuskripte « bereits viel weiter, als sie aussprechen, über Feuerbach hinaus. Das Verhältnis »des Menschen zum Menschen« bleibt in ihnen kein abstrakt-anthropologisches überhaupt, wie bei Feuerbach, vielmehr dringt die Kritik der menschlichen Selbstentfremdung (von der Religion auf den Staat übertragen) bereits zum ökonomischen Kern des Entfremdungsvorgangs. Das nicht zuletzt in den großartigen Partien über die Hegelsche Phänomenologie, in denen die geschichtsbildende Rolle der Arbeit kenntlich gemacht wird, in denen Hegels Werk daraufhin interpretiert wird. Zugleich
aber kritisieren die »Ökonomisch-philosophischen Manuskripte « dieses Werk, weil es die menschliche Arbeitstätigkeit nur als geistige, nicht als materielle auffaßt. Der Durchbruch zur politischen Öko- /(291) nomie, also weg von Feuerbachs allgemeinem Menschen, vollzieht sich in dem ersten zusammen mit Engels unternommenen Werk, in der »Heiligen Familie«, ebenfalls 1844. Die »Ökkonomisch-philosophischen Manuskripte « enthielten bereits den Satz: «Arbeiter selbst ein Kapital, eine Ware« (1. c. S.103), wonach also vom Feuerbachschen Menschsein hier nichts übrigbleibt als seine Negation im Kapitalismus; die »Heilige Familie« notierte den Kapitalismus selber als den Quell dieser stärksten und letzten Entfremdung. Statt des Feuerbachschen Gattungsmenschen, mit seiner gleichbleibenden abstrakten Natürlichkeit, erschien nun deutlich ein historisch wechselndes Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse und vor allem: ein klassenmäßig antagonistisches. Die Entfremdung freilich umfaßte beide: die Ausbeuterklasse wie die der Ausgebeuteten, vor allem im Kapitalismus, als der stärksten Form dieser Selbstentäußerung, Verobjektivierung. »Aber«, sagt die »heilige Familie«, »die erste Klasse fühlt sich in dieser Selbstentfremdung wohl und bestätigt, weiß die Entfremdung als ihre eigene Macht und besitzt in ihr den Schein einer menschlichen Existenz; die zweite fühlt sich in der Entfremdung vernichtet, erblickt in ihr ihre Ohnmacht und die Wirklichkeit einer unmenschlichen Existenz« (MEGA I, 3, S. 206).Was eben die jeweils arbeitsteilige, klassenhafte Produktion und Austauschweise, zuhöchst die kapitalistische, als den endlich entdeckten Quell der Entfremdung erwies. Spätestens von 1843 ab war Marx Materialist; die »Heilige Familie« hat 1844 die materialistische Geschichtsauffassung geboren, mit ihr den wissenschaftlichen Sozialismus. Und die »Elf Thesen«,zwischen der »Heiligen Familie« von 1844/45 und der «Deutschen Ideologie« von 1845/46 entstanden, stellen so den formulierten Abschied von Feuerbach dar, zusammen mit höchst originalem Erbantritt. Politisch-empirische Erfahrung aus der rheinischen Zeit plus Feuerbach haben Marx gegen den »Geist« und wieder »Geist« der linken Hegelschule immun gemacht. Der bezogene Standpunkt des Proletariats hat Marx ursächlich-konkret, also wahrhaft (aus dem Fundament) humanistisch werden lassen. Wie sich von selbst versteht, ist der Abschied hier kein völliger Bruch. Beziehungen zu Feuerbach gehen durch weite Teile des Marxschen Werks, auch nach dem Abschied der «Elf The- /(292) sen«. Am nächsten steht dem verlassenen Land, schon aus zeitlichen Gründen, die den Thesen unmittelbar nachfolgende »Deutsche Ideologie«. Manche kritische Fassung der Thesen kehrt in ihr wieder, wobei freilich die Kritik an Feuerbach und die mörderische Erledigung schlechter Hegelepigonen sich hier sehr unterscheiden. Feuerbach gehörte noch zur bürgerlichen Ideologie, also mußte die Auseinandersetzung mit ihren scheinradikalen Zerfallserscheinungen, wie Bruno Bauer und Stirner, auch ihn in die »Deutsche Ideologie« verwickeln. Doch so, daß der Philosoph stellenweise noch selber den Griff der konsequenten Waffe lieferte, mit der Marx auch gegen ihn, vor allem aber gegen die Linkshegelianer dreinfuhr. Demgemäß beginnt die »Deutsche Ideologie« grundlegend mit dem Namen Feuerbach und kritisiert, von seiner Religionskritik ausgehend, die lediglich inneridealistische «Überwindung« des Idealismus. »Keinem von diesen Philosophen ist es eingefallen, nach dem Zusammenhange der deutschen Philosophie mit der deutschen Wirklichkeit, nach dem Zusammenhange ihrer Kritik mit ihrer eigenen materiellen Umgebung zu fragen« (MEGA I, 5, S 10). Marx betont auf der anderen Seite jedoch Feuerbacbs »großen Vorzug vor den >reinen< Materialisten, daß er einsieht, wie auch der
Mensch >sinnlicher Gegenstand< ist«. In der Tat ist mit der angegebenen Anerkennung genau so die Wichtigkeit Feuerbachs für die Heranbildung des Marxismus bezeichnet wie mit der Kritik an seinem abstrakten, geschichtslosen Menschwesen das Un-, ja Anti-Feuerbachsche des ausgebildeten Marxismus selbst. Die Anerkennung sagt: ohne den Menschen als ebenfalls »sinnlichen Gegenstand« wäre Menschliches als Wurzel aller gesellschaftlichen Dinge sehr viel schwerer materialistisch herausgearbeitet worden. Feuerbachs anthropologischer Materialismus bezeichnet so den erleichtert möglichen Übergang vom bloß mechanischen Materialismus zum historischen. Die Kritik sagt: ohne die Konkretisierung des Menschlichen zu wirklich existierenden, vor allem gesellschaftlich tätigen Menschen, mit wirklichen Verhältnissen zueinander und zur Natur, wären Materialismus und Geschichte eben dauernd auseinandergefallen, trotz aller «Anthropologie«. Hierbei bleibt aber Feuerbach für Marx stets bedeutend, sowohl als Durchgang wie als der einzige zeitgenössi- /(293) sche Philosoph, mit dem eine Auseinandersetzung überhaupt möglich, klärend und fruchtbar ist. Die Grundgedanken, auf die Marx derart kritisch reagiert, über die er produktiv wegschreitet, stehen wesentlich in Feuerbachs Hauptschrift »Das Wesen des Christentums «,von 1841. Weiter kommen in Betracht Feuerbachs »Vorläufige Thesen zur Reform der Philosophie«, von 1842, und die »Grundsätze der Philosophie der Zukunft«, von 1843. Die früheren Schriften des Philosophen dürften für Marx kaum Bedeutung gehabt haben, da Feuerbach mindestens bis 1839 zu unoriginell war, zu sehr unter Hegels Einfluß stand. Erst von da ab hat Feuerbach den Hegelschen Begriff der Selbstentfremdung auf die Religion angewandt. Erst von da ab sagte der frühere Hegelianer, sein erster Gedanke sei Gott gewesen, sein zweiter Vernunft, sein dritter und letzter sei der Mensch. Das heißt: so wie die Hegelsche Vernunftphilosophie den Kirchenglauben überwunden habe, so setze nun die Philosophie den Menschen (mit Einschluß der Natur als seiner Basis) an Hegels Statt. Bei alldem aber konnte Feuerbach den Weg nicht finden zur Wirklichkeit; gerade das Wichtigste an Hegel: die historisch-dialektische Methode warf er fort. Erst die »Elf Thesen« wurden die Wegweiser aus bloßem Anti-Hegel in die veränderbare Wirklichkeit, aus dem Materialismus der Etappe in den der Front. Frage der Gruppierung Eine alte und neue Frage ist, wie die Thesen geordnet werden müssen. Denn so, wie sie dastehen, zur Selbstverständigung, nicht für den Druck bestimmt, überschneiden sie sich mehrfach. Bringen auch den gleichen Inhalt an anderer Stelle, machen den Einteilungs- und Abfolgegrund nicht überall sichtbar. Bedürfnisse des Unterrichts haben daher mancherlei Versuche gezeitigt, die Thesen nach ihrer Zusammengehörigkeit umzuordnen und sie so in Gruppen zu gliedern. Dabei wird zuweilen versucht, die Nummernabfolge bestehen zu lassen, gleich als wären die »Elf Thesen« hintereinander, in Reih und Glied subsumierbar. Solch nummerntreue Gruppierung sieht etwa folgendermaßen aus: Thesen «1, 2, 3 stehen unter: Einheit von Theorie und Praxis /(294) im Denken, Thesen 4 und 5 unter: Verständnis der Wirklichkeit in Widersprüchen, Thesen 6, 7, 8, 9 unter: Die Wirklichkeit selber in Widersprüchen, Thesen «10,«11 unter: Ort und Aufgabe des dialektischen Materialismus in der Gesellschaft. Das ist die Ordnung nach Ziffern; indem es noch mehrere solcher gibt und inhaltlich ganz verschiedene, ergibt sich, wie wenig der bloße Stellenwert der Zahlen hier lehrt. Jede solcher Ordnungen behandelt die Reihenfolge einerseits zu hoch, indem sie sie ewig eingegraben sein läßt, wie im
Zwölftafelgesetz oder in den Zehn Geboten, andererseits behandelt sie sie so niedrig und formalistisch, als ob sie eine Briefmarkenserie wäre. Numerierung aber ist nicht Systematik, und am wenigsten hat Marx diesen Ersatz nötig. Daher also muß philosophisch, nicht arithmetisch gruppiert werden, daß heißt, die Reihenfolge der Thesen ist einzig die ihrer Themen und Inhalte. Es gibt, soweit zu sehen ist, noch keinen Kommentar zu den Elf Thesen; erst mit ihm aber, als aus der gemeinsamen Sache selber geschehend, geht auch der sich fortproduzierende Zusammenhang ihrer Kürze wie Tiefe auf. Dann erscheint: Erstens die erkenntnistheoretische Gruppe, Anschauung und Tätigkeit betreffend (Thesen 5, 1, 3); zweitens die anthropologisch-historische Gruppe, Selbstentfremdung, ihre ,wirkliche Ursache und den wahren Materialismus betreffend (Thesen 4,6, 7,9, 10); drittens die zusammenfassende oder Theorie-Praxis-Gruppe, Beweis und Bewährung betreffend (Thesen 2, 8). Zuletzt erfolgt die wichtigste These, als das Losungswort, woran sich nicht nur die Geister endgültig scheiden, sondern mit dessen Gebrauch sie aufhören, nichts als Geister zu sein (These 11). Sachgemäß wird die erkenntnistheoretische Gruppe mit These 5 eröffnet, die anthropologisch-historische mit These 4; denn diese Thesen bezeichnen die beiden Grundlehren Feuerbachs, die Marx relativ anerkennt, und über die er in den übrigen Thesen der jeweiligen Gruppen hinausgeht. Die übernommene Grundlehre ist in These 5 die Abkehr vom abstrakten Denken, in These 4 die Abkehr von der menschlichen Selbstentfremdung. Und entsprechend dem ersten Grundzug der materialistischen Dialektik, dessen Abbildung sich hier anmeldet, besteht zwischen den einzelnen Thesen innerhalb der jeweiligen Gruppe freie, sich ergänzende Bewegung /(295) der Stimmen; so wie zwischen den Gruppen selber ständige Wechselbeziehung geschieht, ein zusammenhängendes einheitliches Ganzes. Erkenntnistheoretische Gruppe: Die Anschauung und Tätigkeit Thesen 5, 1, 3 Anerkannt wird hier, daß auch denkend nur vom Sinnlichen auszugehen ist. Die Anschauung, nicht der von ihr nur abgezogene Begriff ist und bleibt der Anfang, an dem jedes materialistische Erkennen sich ausweist. Daran hatte Feuerbach in einer Zeit erinnert, wo noch jede akademische Straßenecke von Geist, Begriff und wieder Begriff wider klang. These 5 betont dieses Verdienst: Feuerbach ist mit dem Kopfwesen »nicht zufrieden«, er will die Füße auf dem angeschauten Boden. Aber These 5, sodann vor allem These 1 machen zugleich kenntlich, daß bei betrachtender Sinnlichkeit, wie Feuerbach sie einzig kennt, die Füße noch nicht gehen können und der Boden selber ungangbar bleibt. Der so Anschauende versucht auch gar keine Bewegung, er bleibt im Stand des bequemen Genießens. Daher lehrt These 5: bloßes Anschauen »faßt die Sinnlichkeit nicht als praktische, als menschlich-sinnliche Tätigkeit«. Und These 1 wirft dem ganzen bisherigen Materialismus vor, daß die Anschauung nur «unter der Form des Objekts« gefaßt wird, »nicht aber als menschliche sinnliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv«. Daher geschah es, daß die tätige Seite, im Gegensatz zum Materialismus, «vom Idealismus entwickelt wurde - aber nur abstrakt, da der Idealismus natürlich die wirkliche sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt«. An Stelle der untätigen Betrachtung, worin aller bisherige Materialismus, einschließlich des Feuerbachschen, verharrt, tritt so der Faktor menschliche Tätigkeit. Und das bereits innerhalb des sinnlichen, also unmittelbaren, als grundlegend anfangenden Wissens: Sinnlichkeit als Kenntnis, als wirkliche Basis der Erkenntnis ist so
keineswegs dasselbe wie (kontemplative) Anschauung. Der von Marx nun in These 1 derart betonte Begriff Tätigkeit stammt eben aus der idealistischen Erkenntnistheorie, und zwar nicht aus der idealistischen schlechthin, sondern erst aus der in bürgerlicher Neuzeit entwickelten. Denn /(296) dieser Begriff setzt eine Gesellschaft als Basis voraus, wo die herrschende Klasse sich selber in Tätigkeit, also Arbeit sieht oder sehen möchte. Das aber ist erst in der kapitalistischen Gesellschaft der Fall, sofern hier die Arbeit, soll heißen: der Arbeitsschein um die herrschende Klasse, zum Unterschied von allen vorbürgerlichen Gesellschaften nicht mehr schändet, sondern geehrt wird. Das aus Notwendigkeit des Profits, der in dieser Profitgesellschaft sich entfesselnden Produktivkräfte. Die in der antiken Sklavenhalter-, auch in der feudalen Leibeigenengesellschaft verachtete Arbeit (sogar die Bildhauer zählten in Athen zu den Banausen) reflektiert sich selbstverständlich auch in den Gedanken der herrschenden Klasse nicht, gänzlich eben zum Unterschied von der Ideologie des Unternehmers, des Bourgeois, des sogenannten homo faber. Dessen in der Neuzeit freiwerdende, die bürgerliche Neuzeit bildende, noch lange fortschrittliche Profitdynamik sich auch im Überbau durchaus kenntlich macht und die Basis selber aktiviert. Das sowohl moralisch, in Gestalt eines sogenannten Arbeitsethos, wie erkenntnistheoretisch, in Gestalt eines Begriffs der Tätigkeit, eines Arbeitslogos in der Erkenntnis. Das Arbeitsethos, vorzüglich von den Calvinisten zwecks Kapitalsbildung gepredigt, diese kapitalistische vita activa setzte sich gegen die aristokratische Muße ab, auch gegen die vita contemplativa der beschaulichen, mönchisch-gelehrten Existenz. Parallel unterschied sich der Arbeitslogos in der Erkenntnis, dieser vorzüglich im bürgerlichen Rationalismus übersteigerte Begriff des »Erzeugens«,von dem antiken wie noch scholastischen Erkenntnisbegriff des bloßen Empfangens: der Schau, der visio, der passiven Abbildung. Wie sie im Begriff der »Theoria« selber erhalten ist, gemäß dem ursprünglichen Schau-Sinn des Worts. Auch Platon ist derart am Ende, cum grano salis, empfangender Sensualist; denn wie immer ideal und wie immer rein auf Ideen bezogen sich seine Schau gibt, so ist sie doch eben wesenhaft rezeptive Schau, und der Denkvorgang wird durchgehends entsprechend der sinnlichen Anschauung gefaßt. Nun aber steht selbst Demokrit, also der erste große, ja der bis Marx tonangebende Materialist, ebenfalls in dieser arbeitsfremden, den Arbeitsvorgang nicht reflektierenden Ideologie. Auch Demokrit faßt die Erkenntnis nur als passive; das Denken, wodurch /(297) bei ihm das wahrhaft Wirkliche erkannt wird, das Wirkliche der Atome samt ihrem Mechanismus, wird hier einzig durch den Eindruck entsprechender Bilderchen (eidola) erklärt, die von der Oberfläche der Dinge sich ablösen und in den Wahmehmend-Erkennenden einfließen. Im Punkt erkenntnistheoretische Nicht-Tätigkeit ist zwischen Platon und Demokrit mithin gar kein Unterschied; beide Erkenntnistheorien eint die Sklavenhaltergesellschaft, das ist hier: die Abwesenheit der verachteten Arbeitstätigkeit im philosophischen Überbau. Und nun: das Paradox erscheint, daß der Rationalismus, der Idealismus der Neuzeit, der sich von Platon oft weit entfernt hat, viel stärker den Arbeitsvorgang erkenntnistheoretisch reflektierte als der Materialismus der Neuzeit, der sich von seinem antiken Stammvater Demokrit ja nie so weit entfernt hat. Der ruhend abbildende Spiegel, diese Auslassung des Arbeitsbegriffs, ist derart, bis Feuerbach einschließlich, materialistisch häufiger als das Pathos der »Erzeugung«, gar der dialektischen Wechselabbildung von Subjekt-Objekt, Objekt-Subjekt aufeinander. Unter den neueren Materialisten lehrt einzig Hobbes rationale »Erzeugung«, mit dem Grundsatz, der bis zu Kant gilt: Nur solche Gegenstände sind erkennbar, die mathematisch konstruierbar sind. Doch so sehr Hobbes mittels dieses Grundsatzes
die Philosophie gerade als Lehre von der mathematisch-mechanischen Bewegung der Körper, mithin als Materialismus definieren konnte, so wenig kam er doch auch seinerseits über die von Marx gerügte »Form des Objekts«, nämlich über bloß kontemplativen Materialismus hinaus. Ein anderes geschah innerhalb des Idealismus dort, wo die »Erzeugung« aus der geometrischen Konstruktion in die wirkliche Arbeitsgestalt der historischen Genesis überging. Das gelang entschieden erst bei Hegel; erst die »Phänomenologie des Geistes« machte mit der Dynamik des erkenntnistheoretischen Arbeitsbegriffes immerhin historisch-idealistischen Ernst. Dieser lag auch weit über dem bloß mathematisch-idealistischen »Erzeugungs«-Pathos, wie es bei den großen Rationalisten der Manufakturperiode, bei Descartes, Spinoza, Leibniz, in ihren Halb-oder Ganz-Idealismus hineingewirkt hatte. Kein besserer Zeuge für diese Bedeutung der Hegelschen Phänomenologie, der von Feuerbach überhaupt nicht verstandenen, als Marx in den »Öko- /(298) nomisch-philosophischen Manuskripten«: die Größe der Phänomenologie wird von Marx eben darin gesehen, daß sie »das Wesen der Arbeit faßt und den gegenständlichen Menschen, wahren, weil wirklichen Menschen, als Resultat seiner eigenen Arbeit begreift« (MEGA I, 3, S. 156). Dieser Satz also erläutert aufs beste das angegebene Manko des bloß anschauenden Materialismus, bis Feuerbach einschließlich: dem bisherigen Materialismus fehlt die dauernd oszillierende Suhjekt- Objekt-Beziehung, die Arbeit heißt. Daher eben faßt er den Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur «unter der Form des Objekts«, mit Auslassung der »menschlich-sinnlichen Tätigkeit«. Hegels Phänomenologie dagegen stand, wie Marx sagt, «auf dem Standpunkt der modernen Nationalökonomie« (1. c. S.157). Feuerbach aber stand erkenntnistheoretisch noch auf dem Standpunkt der Sklavenhaltergesellschaft oder auch der Leibeigenschaft, wegen des Nicht-Tätigen, noch Betrachterischen in seinem Materialismus. Dabei macht Marx selbstverständlich klar, daß die bürgerliche Tätigkeit noch keine ganze, rechte ist. Sie kann das nicht sein, weil sie eben nur Arbeitsschein ist, weil die Werterzeugung nie vom Unternehmer, sondern vom Bauern, Handwerker, zuletzt Lohnarbeiter ausgeht. Und weil der abstrakte, verdinglichte, unübersichtliche Warenumlauf auf freiem Markt gar nichts anderes als ein letzthin passives, äußerliches, abstraktes Verhältnis zu ihm zuließ. Deshalb betont These 1: auch der erkenntnistheoretische Reflex der Tätigkeit konnte nur ein abstrakter sein, «da der Idealismus natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt«. Jedoch auch der bürgerliche Materialist Feuerbach, der vom abstrakten Denken weg will, der statt verdinglichter Gedanken wirkliche Gegenstände sucht, läßt die menschliche Tätigkeit aus diesem wirklichen Sein aus; er faßt sie »selbst nicht als gegenständliche Tätigkeit«. Das wird in der Einleitung zur »Deutschen Ideologie« schlagend weiter ausgeführt: »Feuerbach spricht namentlich von der Anschauung der Naturwissenschaft, er erwähnt Geheimnisse, die nur dem Auge des Physikers und Chemikers offenbar werden; aber wo wäre ohne Industrie und Handel die Naturwissenschaft? Selbst diese >reine< Naturwissenschaft erhält ja ihren Zweck sowohl wie ihr /(299) Material erst durch Handel und Industrie, durch sinnliche Tätigkeit der Menschen. So sehr ist die Tätigkeit, dieses fortwährende sinnliche Arbeiten und Schaffen, diese Produktion die Grundlage der ganzen sinnlichen Welt, daß, wenn sie auch nur für ein Jahr unterbrochen würde, Feuerbach eine ungeheure Veränderung nicht nur in der natürlichen Welt vorfinden, sondern auch die ganze Menschenwelt und sein eigenes Anschauungsvermögen, ja seine eigene Existenz sehr bald vermissen würde. Allerdings bleibt dabei die Priorität der äußeren Natur bestehen, und allerdings hat dies alles keine Anwendung auf die ursprünglichen,
durch generatio aequivoca erzeugten Menschen; aber diese Unterscheidung hat nur insofern Sinn, als man den Menschen als von der Natur unterschieden betrachtet. Übrigens ist diese, der menschlichen Gesellschaft vorhergehende Natur ja nicht die Natur, in der Feuerbach lebt, nicht die Natur, die heutzutage, ausgenommen etwa auf einigen australischen Koralleninseln neueren Ursprungs, nirgends mehr existiert, also auch für Feuerbach nicht existiert« (MEGA 1, s, S.33 f.). Wie entscheidend ist mit diesen Sätzen die menschliche Arbeit, die gerade als Gegenstand bei Feuerbach ganz heimatlose, als wichtiger, wenn nicht wichtigster Gegenstand in der die Menschen umgebenden Welt hervorgehoben. Wonach also das Sein, das alles bedingt, nun selber tätige Menschen in sich hat. Das bringt ganz erstaunliche Folgen, sie machen vor allem These 3 besonders wichtig - nicht nur gegen Feuerbach, auch gegen Vulgärmarxisten. Zwei weitere Begriffe der »sinnlichen Welt«, ein schlechter und ein oft mißverstandener, sind deshalb in diesem wahrhaft gegenständlichen Zusammenhang bemerkenswert, sie gehören engstens zu ihm. Betreffen sie doch die empiristischen Lieblingskinder oder auch Trümpfe jener angeblich tätigkeitsfremden Anschauung, die die »Umstände« nur als das sieht, was um die Menschen herumsteht. Da ist einmal die sogenannte Gegebenheit, ein besonders objekthaft, also scheinbar materialistisch bezogener Begriff. Jedoch abgesehen davon, daß es bedeutungsgemäß ein Wechselbegriff ist, der nicht gälte, wenn es kein Subjekt gäbe, dem allein etwas gegeben wird oder gegeben sein kann, ist in der Welt, die die Umgebung der Menschen ausmacht, kaum ein Gegebenes, das /(300) nicht ebenso ein Bearbeitetes wäre. Marx spricht daher vom »Material«, wie es die Naturwissenschaft ja erst durch Handel und Industrie erhält. In der Tat zeigt nur die Oberflächenbetrachtung Gegebenes; bei einigem Eindringen dagegen enthüllt sich jeder Gegenstand unserer normalen Umgebung als ein keineswegs schieres Datum. Er erweist sich vielmehr als Endresultat vorhergehender Arbeitsvorgänge, und noch der Rohstoff, außer dem, daß er gänzlich verändert ist, wurde mit Arbeit aus dem Wald geholt oder aus Felsen gehauen oder aus der Erdtiefe gefördert. So viel über den ersten passiven Trumpf, der ersichtlich gar keiner ist, sondern nur am Standort der Oberfläche gilt und sticht. Der zweite Trumpf angeblich tätigkeitsfremder Anschauung benutzt zunächst allerdings einen völlig legitimen, ja entschieden materialistischen Begriff, nämlich das Prius des Seins vor dem Bewußtsein. Erkenntnistheoretisch spricht sich dieses Prius aus als die unabhängig vom menschlichen Bewußtsein existierende Außenwelt, geschichtlich als Priorität der materiellen Basis vor dem Geist. Aber Feuerbach wiederum hat diese Wahrheit einseitig verhärtet, er hat sie mechanistisch übertrieben, indem er auch hier die Tätigkeit ausgelassen hat. Unabhängigkeit des Seins vom Bewußtsein ist im Bereich der normalen menschlichen Umgebung keineswegs das Gleiche wie Unabhängigkeit des Seins von menschlicher Arbeit. Durch die Arbeitsvermittlung mit der Außenwelt wird die Unabhängigkeit dieser Außenwelt vom Bewußtsein, ihre Gegenständlichkeit vielmehr so wenig aufgehoben, daß sie gerade dadurch endgültig formuliert wird. Denn wie die menschliche Tätigkeit selber eine gegenständliche ist, also aus der Außenwelt nicht herausfällt, so ist auch die Subjekt-Objekt-Vermittlung, indem sie geschieht, ebenso ein Stück Außenwelt. Auch diese Außenwelt existiert unabhängig vom Bewußtsein, indem sie ja selber nicht unter der Form des Subjekts, aber freilich auch nicht nur »unter der Form des Objekts« erscheint. Sondern eben die wechselwirkende Vermittlung von Subjekt und Objekt darstellt, dergestalt, daß zwar überall das Sein das Bewußtsein bestimmt, aber gerade wieder das historisch entscheidende Sein, nämlich das ökonomische, außerordentlich viel objektives Bewußtsein enthält. Alles Sein aber ist
für Feuerbach autarkes Prius als rein vormenschliche Basis, Natur- /(301) basis, mit dem Menschen als Blüte, doch eben lediglich als Blüte, nicht als eigener Naturkraft. Die menschliche Produktionsweise, der im Arbeitsprozeß geschehende und regulierte Stoffwechsel mit der Natur, gar die Produktionsverhältnisse als Basis, all das hat aber einleuchtenderweise selber Bewußtsein in sich; ebenso wird die materielle Basis in jeder Gesellschaft vom Bewußtseins-Überbau wieder aktiviert. Was die Wechselwirkung in dieser Seins-Bewußtseins-Relation angeht, bei aller Priorität des ökonomischen Seins, so gibt eben These 3 darüber vorzüglichen Aufschluß. Es ist ein Aufschluß, der allerdings dem Vulgärmaterialismus keine Freude bereitet; dafür aber gibt er dem menschlichen Bewußtsein den reellsten Platz in den »Umständen», also gerade innerhalb der von ihm mitgebildeten Außenwelt. Die mechanistische Milieutheorie behauptet, »daß die Menschen Produkte der Umstände und der Erziehung, veränderte Menschen also Produkte anderer Umstände und geänderter Erziehung sind«. Über diese einseitige, auch oft ganz naturalistische Abbildlehre (Milieu gleich Boden, Klima) setzt nun These 3 die dem bisher üblichen Materialismus so überlegene Wahrheit, »daß die Umstände eben von den Menschen verändert werden, und daß der Erzieher selbst erzogen werden muß«. Das bedeutet selbstverständlich nicht, daß diese Veränderung der Umstände nun ohne Bezug auf jene objektive Gesetzmäßigkeit geschehen könnte, welche auch den Subjekt- und Aktivitätsfaktor bindet. Marx führt vielmehr einen Zweifrontenkrieg an diesem Punkt, er kämpft sowohl gegen die mechanistische Milieutheorie, im Seins-Fatalismus endend, wie gegen die idealistische Subjekttheorie, im Putschismus, mindestens in übersteigertem Tätigkeits-Optimismus endend. Eine Stelle aus der »Deutschen Ideologie» ergänzt derart These 3 durchaus, und zwar auf Grund der heilsamsten Wechselbewegung von Menschen und Umständen, von SubjektObjektVermittlung dauernd wechselwirkender, dauernd dialektischer Art. Dergestalt, daß in der Geschichte »auf jeder Stufe ein materielles Resultat, eine Summe von Produktionskräften, ein historisch geschaffenes Verhältnis zur Natur und der Individuen zueinander sich vorfindet, die jeder Generation von ihrer Vorgängerin überliefert wird, eine Klasse von Produktivkräften, Kapitalien und Umständen, die zwar einerseits von der neuen Generation /(302) modifiziert wird, ihr aber auch andererseits ihre eigenen Lebensbedingungen vorschreibt und ihr eine bestimmte Entwicklung, einen speziellen Charakter gibt - daß also die Umstände ebensosehr die Menschen wie die Menschen die Umstände machen« (MEGA I, 5, S. 27 f.). Wie gesagt, die Wechselwirkung zwischen Subjekt und Objekt wird an dieser Stelle besonders betont, auch mit hörbarer Voranstellung der Umstand-Mensch-Relation vor die umgekehrte, so jedoch, daß der Mensch und seine Tätigkeit allemal das Spezifische der materiellen Geschichtsbasis bleiben, ja gleichsam deren Wurzel darstellen und ebenso deren Umwälzbarkeit. Selbst die Idee (in der Theorie) wird nach Marx eine materielle Gewalt, wenn sie die Massen ergreift; wie sehr erst ist die technisch-politische Veränderung der Umstände eine solche Gewalt, und wie deutlich bleibt auch der so verstandene Subjektfaktor innerhalb der materiellen Welt. Eine letzte Ausführung zu These 3 gibt das »Kapital«, den Menschen nun ganz entschieden zur Außenwelt schlagend, ja zur Natur: »Die seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte, Arme und Beine, Kopf und Hand, setzt er in Bewegung, um sich den Naturstoff in einer für sein eigenes Leben brauchbaren Form anzueignen. Indem er durch diese Bewegung auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigene Natur... Die Erde selbst ist ein Arbeitsmittel, setzt jedoch zu ihrem Dienst als Arbeitsmittel in der Agrikultur wieder eine ganze Reihe
anderer Arbeitsmittel und eine schon relativ hohe Entwicklung der Arbeitskraft voraus« (Das Kapital 1, Dietz, 1947, S. 185, 187). Damit also ist die menschliche Tätigkeit mit ihrem Bewußtsein selber als Stück Natur erklärt, als wichtigstes dazu, eben als umwälzende Praxis gerade an der Basis des materiellen Seins, das primär wieder das folgende Bewußtsein bedingt. Jener Feuerbach, der keinerlei revolutionären Auftrag spürte, der auch über den Menschen als naturhaftes Gattungswesen nie hinauskam, hatte für dieses vermehrte, um die menschliche Aktivität vermehrte Prius Natur keinerlei Sinn. Das ist allerletzt der Grund, weshalb die Geschichte in seinem rein anschauenden Materialismus nicht vorkommt und weshalb er über das kontemplative Verhalten nicht hinausgelangt. So bleibt sein Verhältnis zum Objekt antik-aristokratisch, in inkonsequentem Gegensatz zum /(303) Pathos des Menschen, das er - wieder nur rein theoretisch und eben als bloße Blüte der vorhandenen Natur - in den Mittelpunkt seiner Religionskritik (und keiner anderen) stellte. Hoch sieht er daher auf die Praxis herab, die er nur als gemeines Geschäft kennt: »Die praktische Anschauung ist eine schmutzige, vom Egoismus befleckte Anschauung« (Feuerbach, Das Wesen des Christentums, 1841, S.264). Es ist diese Stelle, auf die sich Marx in der These 1 zuletzt bezieht, wenn er sagt, daß bei Feuerbach «die Praxis nur in ihrer schmutzig-jüdischen Erscheinungsform gefaßt und fixiert wird«. Und wieviel Hochmut dieser Art gab es erst später, als die immer mehr »vom Egoismus befleckte Anschauung «,eine sogenannte reine Anschauung, dann eine sogenannte Wahrheit um ihrer selbstwillen sich ideologisch beibog. Wieviel «equestrische Wissenschaft« entstand da, hoch zu Roß, au dessus de la melée (außer dem Schmutz in ihr selber); wieviel Aristokratie des Wissens (ohne aristoi), verständnisinnig der schmutzigen Praxis verschworen, von der rechten abhaltend. Ahnungsvoll setzte Marx bereits gegen ein so reines Unverständnis wie dasjenige Feuerbachs das Pathos der »revolutionären, der praktisch-kritischen Tätigkeit«. Derart betont Marx gerade als Materialist, gerade innerhalb des Seins selber, den subjektiven Faktor der Produktionstätigkeit, als welcher, genau wie der objektive, ein gegenständlicher ist. Und das hat gewaltige, gerade auch anti-vulgärmaterialistische Konsequenzen; sie machen diesen Teil der Feuerbach-Thesen besonders kostbar. Ohne den begriffenen Arbeitsfaktor selber kann das Prius Sein, das ja keinerlei factum brutum oder Gegebenheit ist, in der Menschengeschichte nicht begriffen werden. Es kann erst recht nicht mit dem Besten der tätigen Anschauung, womit These 1 schließt, vermittelt werden: mit «der revolutionären, der praktisch-kritischen Tätigkeit«. Der arbeitende Mensch, diese in allen »Umständen« lebendige Subjekt-Objekt-Beziehung, gehört bei Marx entscheidend mit zur materiellen Basis; auch das Subjekt in der Welt ist Welt. /(304)
Anthropologisch-historische Gruppe: Die Selbstentfremdung und der wahre Materialismus Thesen 4, 6, 7, 9, 10
Anerkannt wird hier, daß menschlich stets von der Entfremdung auszugehen ist. These 4 gibt das Thema an: Feuerbach entschleierte die Selbstentfremdung in ihrer religiösen Gestalt. Seine Arbeit bestand also darin, »die religiöse Welt in ihre weltliche Grundlage aufzulösen. Aber«, fährt Marx fort, »er übersieht, daß nach Vollbringung dieser Arbeit die Hauptsache noch zu tun bleibt.« Feuerbach hatte, wie These 6 genauer bestimmt, das religiöse Wesen auf eine weltliche Grundlage insofern gebracht, als er es in das menschliche Wesen auflöste. Das war an sich ein bedeutendes Unternehmen, zumal da es scharf auf den Anteil menschlicher
Wünsche blickte. Feuerbachs »anthropologische Kritik der Religion« leitete die gesamte transzendente Sphäre aus Wunschphantasie ab: die Götter sind die in wirkliche Wesen verwandelten Herzenswünsche. Zugleich entsteht durch diese Wunsch-Hypostase eine Verdoppelung der Welt in eine imaginäre und eine wirkliche; wobei der Mensch sein bestes Wesen aus dem Diesseits in ein überirdisches Jenseits schafft. Es gilt also, diese Selbstentfremdung aufzuheben, das heißt, durch anthropologische Kritik und Ursprungsbezeichnung den Himmel zu den Menschen wieder zurückzuholen. Hier nun aber setzt die Marxsche Konsequenz ein, die bei dem Abstrakt-Genus Mensch, dem klassenmäßig-geschichtlich ganz ungegliederten, nicht haltmachte. Feuerbach, der Hegel so sehr wegen seiner Begriffs-Verdinglichungen getadelt hatte, lokalisiert zwar sein Abstrakt-Genus Mensch empirisch, doch nur dergestalt, daß er es dem einzelnen lndividuum innewohnen läßt, gesellschaftsfrei, ohne Sozialgeschichte. These 6 betont darum: »Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.« Ja, Feuerbach ist mit diesem seinem hohlen Bogen zwischen einzelnem Individuum und abstraktem Humanum (unter Auslassung der Gesellschaft) wenig anderes als ein Epigone der Stoa und ihrer Nachwirkungen im Naturrecht, in den Toleranzideen der bürgerlichen Neuzeit. Auch /(305) die stoische Moral hatte sich, nach dem Untergang der griechischen öffentlichen Polis, aufs private Individuum zurückgezogen: das war, sagt Marx in seiner Doktor-Dissertation, »das Glück ihrer Zeit; so sucht der Nachtschmetterling, wenn die allgemeine Sonne untergegangen, das Lampenlicht des Privaten» (MEGA I, 1/1, S. 133). Andererseits aber sollte sich in der Stoa, unter Überspringung aller nationalgesellschaftlichen Verhältnisse, das Abstrakt-Genus Mensch als einziges Universale über den einzelnen Individuen geltend machen, als Ort der communis opinin, der recta ratio zu allen Zeiten, unter allen Völkern: das ist, als das allgemeine Menschenhaus, eingeordnet in das ebenso allgemein-gute Welthaus. Dieses Menschenhaus war nur nicht die verschwundene Polis, sondern es war halb - mit dienstfertiger Ideologie-die Pax romana, das kosmopolitische Imperium Roms, halb mit abstrakter Utopie - ein Menschheits-Bruderbund weise gewordener Individuen. Nicht grundlos ist derart der Begriff humanitas, als Gattungs- und Wertbegriff zugleich, am Hof des jüngeren Scipio entstanden, und der Stoiker Panaitios war sein Urheber. Feuerbach nun hat mit seinem Abstrakt-Genus Mensch vor allem den Neu-Stoizismus aufgenommen, wie er - wiederum mit hohlem Bogen zwischen Individuum und Allgemeinheit - in der bürgerlichen Neuzeit hervorgetreten war. Das zuletzt im abstrakt-erhabenen Citoyenbegriff und im Kantischen Pathos einer Menschheit überhaupt, das den Citoyen deutsch-moralisch reflektierte. Die Individuen der Neuzeit freilich sind Kapitalisten, keine stoischen Privat-Säulen, und ihr Universale war nicht die antike Ökumene, die die Völker auslöschen sollte, sondern - mit Idealisierung gerade der antiken Polis - die Generalität der bürgerlichen Menschenrechte mit dem abstrakten Citoyen darüber, diesem moralisch-humanen Gattungs-Ideal. Trotzdem sind hier wichtige ökonomisch bedingte Entsprechungen (es hätte ja sonst keinen Neu-Stoizismus im siebzehnten und achtzehntenJahrhundert gegeben): hier wie dort ist die Gesellschaft in Individuen atomisiert, hier wie dort hebt sich über sie ein Abstrakt-Genus, Abstrakt-Ideal von Menschheit, Menschlichkeit. Marx aber kritisiert genau dieses Abstraktum über bloßen Individuen, definiert das menschliche Wesen eben als »Ensemble der gesellschaftlichenVerhältnisse«. Deshalb /(306) wendet sich These 6 sowohl gegen Feuerbachs geschichtslose Betrachtung der Menschlichkeit an sich
wie - damit zusammenhängend - gegen den rein anthropologischen Gattungsbegriff dieser Menschheit, als einer die vielen Individuen bloß natürlich verbindenden Allgemeinheit. Den Wertbegriff Menschheit behält Marx freilich noch durchaus bei; so deutlich in These 10. Der Ausdruck »realer Humanismus«, womit die Vorrede der »Heiligen Familie« beginnt, wird zwar von der »Deutschen Ideologie« aufgegeben, im Zusammenhang mit der Absage an jeden Rest bürgerlicher Demokratie, mit der Gewinnung des proletarisch-revolutionären Standpunkts, mit der Schöpfung des dialektisch-historischen Materialismus. AberThese 10 sagt trotzdem mit allem Wertakzent einer humanistischen Entgegensetzung, eines »realen Humanismus« also, der jedoch nur als sozialistischer gilt und gelten gelassen wird: »Der Standpunkt des alten Materialismus ist die bürgerliche Gesellschaft; der Standpunkt des neuen die menschliche Gesellschaft oder die vergesellschaftete Menschheit.« Das Humanum steht also nicht überall in jeder Gesellschaft »als innere, stumme, die vielen Individuen bloß natürlich verbindende Allgemeinheit«, es steht überhaupt nicht in irgendeiner vorhandenen Allgemeinheit, es befindet sich vielmehr in schwierigem Prozeß und gewinnt sich einzig mit dem Kommunismus zusammen, als dieser. Eben deshalb hebt der neue, der proletarische Standpunkt den Wertbegriff Humanismus so wenig auf, daß er ihn praktisch überhaupt erst nach Hause kommen läßt; und je wissenschaftlicher der Sozialismus, desto konkreter hat er gerade die Sorge um den Menschen im Mittelpunkt, die reale Aufhebung seiner Selbstentfremdung im Ziel. Indes gewiß nicht in Feuerbachs Manier, als eines Abstrakt-Genus, versehen mit allzu erhabenen Human-Sakramenten an sich. Marx nimmt daher in These 9 genau das Motiv der erkenntnistheoretischen Thesengruppe auf, dieses Falls contra Feuerbachs Anthropologie: »Das Höchste, wozu der anschauende Materialismus es bringt, das heißt, der Materialismus, der die Sinnlichkeit nicht als praktische Tätigkeit begreift, ist die Anschauung der einzelnen Individuen in der >bürgerlichen Gesellschaftbürgerlichen GesellschaftDie Idee des Erkennenshinter< und unter sich hat. Philosophie und Studium der wirklichen Welt verhalten sich zueinander wie Onanie und Geschlechtsliebe« (MEGA I, 5, S.216). Die Namen Kuhlmann (ein damaliger pietisischer Theologe) und gar Stirner zeigen überdeutlich, an welche Adresse oder Art Philosophie diese mächtige Invektive gerichtet war; sie war an philosophische Windbeutelei gerichtet. Nicht war sie an die Hegelsche Philosophie und andere große der Vergangenheit gerichtet, so kontemplativ diese auch gehalten war; Marx war der letzte, der am konkreten Hegel, am kenntnisreichsten Enzyklopädisten seit Aristoteles, ein »Studium der wirklichen Welt» vermißt hätte. Dergleichen haben grundsätzlich andere Köpfe als Marx und Engels Hegel vorgeworfen, es waren die Köpfe der preußischen Reaktion, später des Revisionismus und ähnliche »Realpolitiker«, wie bekannt. Von der wirklichen
bisherigen Philosophie dagegen spricht Marx auch in der »Deutschen Ideologie« ganz anders, nämlich im Sinn eines schöpferischen reellen Erbantritts. Vorher hatte das die »Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie«, von 1844, bereits dahin klargestellt, daß die Philosophie nicht aufgehoben werden könne, ohne sie zu verwirklichen, nicht verwirklicht werden könne, ohne sie aufzuheben. Das erstere, mit dem Akzent auf der Verwirklichung, ist für die »Praktiker« gesagt: »Mit Recht fordert daher die praktische politische Partei in Deutschland die Negation der Philosophie. Ihr Unrecht besteht nicht in der Forderung, sondern in dem Stehenbleiben bei der Forderung, die sie ernsthaft weder vollzieht noch vollbringen kann. Sie glaubt, jene Negation dadurch zu vollbringen, daß sie der Philosophie den Rücken kehrt und abgewandten Hauptes einige ärgerliche und banale Phrasen über sie hermurmelt. Die Beschränktheit ihres Gesichtskreises zählt die Philosophie nicht ebenfalls in den Bering der deutschen /(325) Wirklichkeit oder wähnt sie gar unter der deutschen Praxis und den ihr dienenden Theorien. Ihr verlangt, daß man an wirkliche Lebenskeime anknüpfen soll, aber ihr vergeßt, daß der wirkliche Lebenskeim des deutschen Volkes bisher nur unter seinem Hirnschädel gewuchert hat. Mit einem Worte: Ihr könnt die Philosophie nicht aufheben, ohne sie zu verwirklichen.« Das zweite, mit dem Akzent auf der Aufhebung, ist für die »Theoretiker» gesagt: »Dasselbe Unrecht, nur mit umgekehrten Faktoren, beging die theoretische, von der Philosophie her datierende politische Partei. Sie erblickte in dem jetzigen Kampf nur den kritischen Kampf der Philosophie mit der deutschen Welt, sie bedachte nicht, daß die seitherige Philosophie selbst zu dieser Welt gehört und ihre, wenn auch ideelle Ergänzung ist. Kritisch gegen ihren Widerpart verhielt sie sich unkritisch zu sich selbst, indem sie von den Voraussetzungen der Philosophie ausging und bei ihren gegebenen Resultaten entweder stehenblieb oder anderweitig hergeholte Forderungen und Resultate der Philosophie ausgab, obgleich dieselben - ihre Berechtigung vorausgesetzt - im Gegenteil nur durch die Negation der seitherigen (!) Philosophie, der Philosophie als Philosophie, zu erhalten sind. Eine näher eingehende Schilderung dieser Partei behalten wir uns vor.« (sie geschah in der »Heiligen Familie» und der »Deutschen Ideologie«, mit schwerster Kritik der verkommenen Kontemplation, der kritischen »Ruhe des Erkennens«). lhr Grundmangel läßt sich dahin reduzieren: Sie glaubte, die Philosophie verwirklichen zu können, ohne sie aufzuheben« (MEGA I 1/1 S.613). Marx gibt also beiden damaligen Parteien ein Antidoton zu ihrem Verhalten, eine jeweils umgekehrte Medicina mentis: er legt den Praktikern von damals ein Mehr-Verwirklichen von Philosophie auf, den Theoretikern von damals ein Mehr-Aufheben von Philosophie. Jedoch auch die »Negation« der Philosophie (ein selber so höchst philosophisch geladener, aus Hegel stammender Begriff) bezieht sich hier ausgesprochenerweise auf die »seitherige Philosophie«, nicht auf jede mögliche und künftige überhaupt. Die »Negation» bezieht sich auf Philosophie mit Wahrheit um ihrer selbst willen, also auf autark-kontemplative, auf eine die Welt lediglich antiquarisch interpretierende, sie bezieht sich nicht auf eine die Welt revolutionär verändernde. /(326) Ja auch innerhalb der »seitherigen Philosophie«, der von den Hegel-Epigonen freilich so grundverschiedenen, gibt es, bei aller Kontemplation, so viel »Studium der wirklichen Welt«, daß eben die deutsche klassische Philosophie nicht ganz unpraktisch unter den »drei Quellen und drei Bestandteilen des Marxismus« figuriert. Das schlechthin Neue in der marxistischen Philosophie besteht in der radikalen Veränderung ihrer Grundlage, in ihrem proletarisch-revolutionären Auftrag; aber das schlechthin Neue besteht nicht darin, daß die einzige zur konkreten Weltveränderung fähige und bestimmte Philosophie keine - Philosophie mehr wäre.
Weil sie das ist wie nie, daher gerade der Triumph der Erkenntnis im zweiten Satzteil der These 11, die Veränderung der Welt betreffend; Marxismus wäre gar keine Veränderung im wahren Sinn, wenn er vor und in ihr kein theoretisch-praktisches Prius der wahren Philosophie wäre. Der Philosophie, die, mit langem Atem, mit vollem Kulturerbe, nicht zuletzt auf Ultraviolett sich versteht, soll heißen: auf die zukunfttragenden Eigenschaften der Wirklichkeit. Verändern im unwahren Sinn läßt sich freilich vielfach, auch ohne Begriff; die Hunnen haben gleichfalls verändert, es gibt auch eine Veränderung durch Cäsarenwahnsinn, durch Anarchismus, ja durch die Geisteskrankheit der Faselei, die Hegel ein «vollkommenes Abbild des Chaos« nennt. Aber gediegene Veränderung, gar die zum Reich der Freiheit, kommt einzig durch gediegene Erkenntnis zustande, mit immer genauer beherrschter Notwendigkeit. Durchaus Philosophen haben seitdem dergestalt die Welt verändert: Marx, EngeIs, Lenin. Praktizisten aus der hohlen Hand, Schematiker mit Zitatenschatz haben sie nicht verändert und auch nicht jene Empiristen, die Engels »Induktionsesel« genannt hat. Philosophische Veränderung ist eine mit unaufhörlicher Kenntnis des Zusammenhangs; denn wenn Philosophie auch keine eigene Wissenschaft über den anderen Wissenschaften darstellt, so ist sie doch das eigene Wissen und Gewissen des Totum in allen Wissenschaften. Sie ist das fortschreitende Bewußtsein des fortschreitenden Totum, da dieses Totum selber nicht als Faktum steht, sondern einzig im riesigen Zusammenhang des Werdens mit dem noch Ungewordenen umgeht. Philosophische Veränderung ist derart eine nach Maßgabe der analysierten Lage, der /(327) dialektischen Tendenz, der objektiven Gesetze, der realen Möglichkeit. Darum also geschieht philosophische Veränderung letzthin wesentlich im Horizont der überhaupt kontemplationsunfähigen, interpretierungs-unfähigen, wohl aber marxistisch erkennbaren Zukunft. Und unter diesem Aspekt erhob sich Marx auch über die oben angegebene, nur antithetisch gesetzten Wechselakzente: Verwirklichung oder Aufhebung der Philosophie betreffend (Verwirklichung akzentuiert gegen die »Praktiker«, Aufhebung akzentuiert gegen die »Theoretiker«). Die dialektische Einheit der recht verstandenen Akzente lautet, am Ende der zitierten »Einleitung« (MEGA I, 1/1, S. 621 ), wie bekannt: »Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie.« Und die Aufhebung des Proletariats, sobald es nicht nur als Klasse, sondern ebenso, wie Marx lehrt, als schärfstes Symptom der menschlichen Selbstentfremdung gefaßt wird, ist ohne Zweifel ein langer Akt: die völlige Aufhebung dieser Art fällt mit dem letzten Akt des Kommunismus zusammen. Des Sinns, den Marx in den »Ökonomisch-philosophischen Manuskripten« ausdrückt, mit einer Perspektive, die sich gerade aufs philosophisch äußerste «Eschaton« versteht: «Erst hier ist ihm (dem Menschen) sein natürliches Dasein sein menschliches Dasein und die Natur für ihn zum Menschen geworden. Also die Gesellschaft ist die vollendete Wesenseinheit des Menschen mit der Natur, die wahre Resurrektion der Natur, der durchgeführte Naturalismus des Menschen und der durchgeführte Humanismus der Natur« (MEGA I, 3,S.116). Hier leuchtet die von Marx zu formulieren gesuchte letzte Perspektive des Veränderns der Welt. Ihr Gedanke (das Wissen-Gewissen jeder Praxis, worin das noch ferne Totum sich spiegelt) verlangt zweifellos ebensoviel Neuheit der Philosophie, wie er Resurrektion der Natur schafft. /328)
Der archimedische Punkt; Wissen nicht nur auf Vergangenes, sondern wesentlich auf Heraufkommendes bezogen
Erstmals wurde der Geist so mächtig, endlich versteht er sich darauf. Und genau deshalb, weil er sich seines früheren, oft falsch erhabenen Wesens begeben hat. Weil er ein wahrhaft politisches Lied geworden ist, sich endlich selber aus dem Betrachteten und Vergangenen zur Gegenwart herausmachte. Zu einer damaligen Gegenwart überdies, die den Geist nicht als Äther zuließ, sondern als materielle Gewalt brauchte. Hierfür ist erneut der Zeitpunkt wichtig, wo mit den anderen Frühschriften auch die »Elf Thesen« an dieses kräftige Licht traten. Marx schrieb darüber im »Kommunistischen Manifest«, 1848, also wenig später: »Auf Deutschland richten die Kommunisten ihre Hauptaufmerksamkeit, weil Deutschland am Vorabend einer bürgerlichen Revolution steht, und weil es diese Umwälzung unter fortgeschritteneren Bedingungen der europäischen Zivilisation überhaupt und mit einem viel weiter entwickelten Proletariat vollbringt als England im siebzehnten und Frankreich im achtzehnten Jahrhundert, die deutsche Revolution also nur das unmittelbare Vorspiel einer proletarischen Revolution sein kann.« Von daher also der besondere Anstoß, ein von Feuerbach nicht empfundener, der die neue Philosophie sogleich, in statu nascendi, auf die Barrikaden brachte. Bereits in der These 4 war der archimedische Punkt entdeckt, von dem dergestalt die alte Welt aus den Angeln, die neue in die Angeln zu heben ist, der archimedische Punkt in der »weltlichen Grundlage« von heute: »Diese selbst muß also erstens in ihrem Widerspruch verstanden und sodann durch Beseitigung des Widerspruchs praktisch revolutioniert werden.« Und nun, was ist es endgültig, was den Ansatzpunkt der »Elf Thesen«, also die beginnende Philosophie der Revolution entdeckt hat? Es ist doch nicht der neue, der proletarische Auftrag allein, so entscheidend er von der Betrachtung losriß, die Dinge nicht hinnehmen, gar verewigen ließ, wie sie sind. Auch ist es nicht nur das kritisch-schöpferisch angetretene Erbe der deutschen Philosophie, der englischen politischen Ökonomie, des französischen Sozialismus, /(329) so notwendig diese drei Fermente, vorab Hegels Dialektik und Feuerbachs erneuerter Materialismus, für die Herausbildung des Marxismus waren. Sondern dasjenige, was endgültig zum archimedischen Punkt führte und mit ihm zur Theorie-Praxis, kam in gar keiner Philosophie bisher vor, ja ist in und an Marx selber noch kaum völlig reflektiert worden. »In der bürgerlichen Gesellschaft«, sagt das Kommunistische Manifest, »herrscht die Vergangenheit über die Gegenwart, in der kommunistischen die Gegenwart über die Vergangenheit.« Und es herrscht die Gegenwart zusammen mit dem Horizont in ihr, der der Horizont der Zukunft ist, und der dem Fluß der Gegenwart den spezifischen Raum gibt, den Raum neuer, betreibbar besserer Gegenwart. Also wurde die beginnende Philosophie der Revolution, das ist, der Veränderbarkeit zum Guten, allerletzt am und im Horizont der Zukunft eröffnet; mit Wissenschaft des Neuen und Kraft zu seiner Leitung. Alles Wissen aber war bisher wesentlich auf Vergangenes bezogen, indem nur dieses betrachtbar ist. Das Neue blieb so außer seinem Begriff, die Gegenwart, in der das Werden des Neuen seine Front hat, blieb eine Verlegenheit. Das Denken in Warenform hat diese alt überkommene Ohnmacht besonders gesteigert; denn das kapitalistische Zur-Ware-Werden aller Menschen und Dinge gibt ihnen nicht nur Entfremdung, sondern es erhellt: die Denkform Ware ist selber die gesteigerte Denkform Gewordenheit, Faktum. Über diesem Faktum wird das Fieri besonders leicht vergessen und so über dem verdinglichten Produkt das Produzierende, über dem scheinbaren Fixum im Rücken der Menschen das Offene vor ihnen. Aber die falsche Wechselbeziehung zwischen Wissen und Vergangenheit ist sehr viel älter, ja ihren Ursprung hat sie eben dort, wo der Arbeitsvorgang in der Erkenntnis überhaupt nicht reflektiert war, so daß das Wissen nicht nur, wie oben gezeigt, schlechthin
Schau, sondern der Gegenstand des Wissens schlechthin Ausgestaltetes, die Wesenheit schlechthin Ge-wesenheit sein mußte. Hier hat die Platonische Anamnesis ihren Ort: »Denn wahrlich«, sagt Sokrates im Dialog »Menon« (81 B - 82 A) und weist auf Schau gerade in der Urvergangenheit der Seele, »Suchen und Lernen sind ganz und gar nur - Erinnerung.« Es ist der Bann dieses kontempla/(330) tiven Antiquariums, der - aller gesellschaftlichen Veränderungen des Erkenntnisbegriffs ungeachtet - die Philosophie bis Marx nicht nur in der Betrachtung, sondern eben auch in der bloßen, jeder Betrachtung eingeschriebenen, Relation zur Gewordenheit gehalten hat. Selbst dem Entwicklungsdenker Aristoteles ist das Wesen das »Was-war-Sein«, im Sinn der abgeschlossenen Bestimmbarkeit, statuarischen Ausgeprägtheit. Selbst dem großen dialektischen Prozeßdenker Hegel ist das Geschehen völlig unter seine fertige Geschichte gebeugt, und das Wesen ist die gewordene Wirklichkeit, worin es »mit seiner Erscheinung eins ist«. Nicht zuletzt bei Feuerbach notiert Marx selber diese Sperre: »Feuerbachs ganze Deduktion in Beziehung auf das Verhältnis der Menschen zueinander geht nur dahin, zu beweisen, daß die Menschen einander nötig haben und immer gehabt haben. Er will das Bewußtsein über diese Tatsache etablieren, er will also, wie die übrigen Theoretiker, nur ein richtiges Bewußtsein über ein bestehendes Faktum hervorbringen, während es dem wirklichen Kommunisten darauf ankommt, das Bestehende umzustürzen« (Deutsche Ideologie, MEGA I, 5, S 31) Der Effekt von alldem war nun der, daß der Geist der Anamnesis seine Erkenntniskraft gerade dort gesucht hat, wo am wenigsten Gegenwart, gar Zukunft zur Entscheidung steht. Während also die bloße Relation: Wissen-Vergangenheit zu Fragen der Gegenwart gar zu Entscheidungsproblemen der Zukunft in einem fast nur kannegießernden Verhältnis steht oder im Verhältnis des kurzsichtigsten bürgerlichen Klassenstandpunkts, wird ihr (freilich ohne daß der verewigte Klassenstandpunkt aufhörte) erst in der Abgeschiedenheit des Präteritum gleichsam heimatlich zumute. Und zwar desto heimatlicher, je ferner die Objekte zeitlich zurückliegen, je adäquater also ihre Abgeschlossenheit zu der Ruhe der Kontemplation erscheint. Daher erlauben in der Relation: Wissen-Vergangenheit die Kreuzzüge sozusagen mehr »Wissenschaftlichkeit« als die beiden letzten Weltkriege, Ägypten wiederum, das noch fernere, mehr als das Mittelalter. Gar das scheinbare totale Vorbei der physischen Natur steht oder stand da als eine Art Über-Ägypten oder Potenz von Ägypten, ganz weit zurück, mit der granitnen Gewordenheit einer Materie, die, nicht ohne methodischen Jubel, /(331) tot genannt wurde. Wie anders aber das alles im Marxismus, wie groß ist dessen Macht gerade an der Gegenwart geraten. Wie bewährt sich seine neue, seine durchgängige Geschehens- und VeränderungsWissenschaft gerade an der Front des Geschehens, in der Aktualität der jeweiligen Entscheidung, in der Tendenz-Beherrschung zur Zukunft hin. Marxistisch ist auch die Vergangenheit nicht wachsend antiquarisch gestaffelt, denn die Geschichte als urkommunistische wie als eine von Klassenkämpfen macht auch ihre weitest zurückliegende Epoche zu keinem Museum; noch weniger aber macht sie die näherliegende, wie in der bürgerlichen Kontemplation, zum wissenschaftsfreien Moratorium. Wonach so große Teile der bürgerlichen Gelehrsamkeit, ohne alles konkrete Wissensverhältnis zur Gegenwart, dieser, als sie Entscheidung verlangte, entweder hilflos gegenüberstanden oder, in letzter Zeit, sich dem Anti-Bolschewismus noch über alles Klasseninteresse hinaus mit skandalöser Unwissenheit, Unweisheit verkauften. Sogar noch die damit unvergleichlichen wissenschaftlichen Bahnbrecher der bürgerlichen Gesellschaft, die gewiß zur Gegenwarts- und Zukunfts-Relation gehaltenen großen und reinen Ideologen des
siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts standen dem Heraufkommenden ihrer eigenen revolutionären Klasse allemal mit Illusionen oder unkonkret überschießenden Idealen gegenüber; das also nicht nur wegen der jeweiligen Klassenschranke, sondern ebenso wegen der Schranke vor der Zukunft, die bis Marx mit der Klassenschranke durchgehends gesetzt war. Dies alles eint sich, je länger, je mehr, eben mit der Anamnesis oder der kontemplativ-statischen Wissensperre gegen das wirklich Anrückende, Heraufkommende. Und ebenso, nun völlig entschieden: wo das Wissen- Vergangenheits- Verhältnis in der Gegenwart nur Verlegenheit sieht und in der Zukunft Spreu, Wind, Gestaltlosigkeit, dort erfaßt das Wissen- Tendenz- Verhältnis das Wozu seines Wissens überhaupt: als den vermittelten Neubau der Welt. Die dialektisch-historische Tendenzwissenschaft Marxismus ist derart die vermittelte Zukunftswissenschaft der Wirklichkeit plus der objektiv- realen Möglichkeit in ihr; all das zum Zweck der Handlung. Der Unterschied zur Anamnesis des Gewordenen, samt ihren sämtlichen Abwandlungen, könnte nicht einleuchtender sein; er gilt sowohl /(332) für die erleuchtende marxistische Methode wie für die in ihr erleuchtete unabgeschlossene Materie. Erst der Horizont der Zukunft, wie ihn der Marxismus bezieht, mit dem der Vergangenheit als Vorraum, gibt der Wirklichkeit ihre reelle Dimension. Unvergeßlich ist hier auch der neue Ort des archimedischen Punktes selber, von dem her in die Angeln gehoben wird. Er liegt gleichfalls nicht weit hinten, im Vergangenen, Abgetanen, zu dem der frühere, bloß betrachtende Materialismus die Welt herunteranalysiert hatte. Das wirkte in der Folge, gerade als seine entzaubernde Rolle längst dahin war, hemmungslos retrograd; er löste die historischen Erscheinungen in biologische, diese in chemisch-physikalische auf, bis herab auf die atomare »Basis« von allem und jedem. Dergestalt, daß auch von historisch höchst geladenen Erscheinungen, etwa der Schlacht bei Marathon, nur noch Muskelbewegungen übrigblieben, also die Griechen und Perser samt dem gesellschaftlichen Inhalt dieser Schlacht in gänzlich unterhistorische Muskelbewegungen verschwanden. Diese lösten sich dann wieder aus der Physiologie in organisch-chemische Vorgänge auf, und die organische Chemie wiederum, die ohnehin allen Lebewesen gemeinsame, landete schließlich beim Tanz der Atome, eben als der generellsten »Basis« von allem und jedem. Damit war freilich nicht nur die Schlacht bei Marathon, die doch erklärt werden sollte, völlig verschwunden, sondern die ganze gebaute Welt zeigte sich im Allgemeinen einer totalen Mechanik untergegangen - mit Verlust sämtlicher Erscheinungen und ihrer Unterschiede. Der mechanische Materialismus erblickte in dieser Zerlegung auf Atomistik und sonst nichts des Pudels Kern; in Wahrheit war hier wirklich erst jene Nacht, von der einmal Hegel sprach, die Nacht, wo alle Kühe schwarz sind. Dasjenige fehlte, was gerade Demokrit, der erste große Materialist, Retten der Erscheinungen genannt und methodisch gefordert hatte. Hier leistete Feuerbach mit seinem nicht physikalischen, sondern »anthropologischen« Materialismus dem jungen Marx allerdings einen großen Dienst, einen im ganzen Tenor der »Elf Thesen« anerkannten. Atome und dann die ganze Biologie liegen zwar entwicklungsgeschichtlich jedem weiteren Bau zugrunde, doch der »starting pomt«, wie später Engels in der «Dialektik der Natur« das /333) nannte, dann der archimedische Punkt (für die Geschichte) ist dem Marxismus der arbeitende Mensch. Seine gesellschaftlichen Weisen der Bedürfnisbefriedigung, das »Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse«, wie es an Stelle des Feuerbachschen Mensch-Abstraktums trat, der gesellschaftliche Austauschprozeß mit der Natur selber: all das wurde nun als die einzig relevante und wirkliche Basis
erkannt, was das Reich der Geschichte und Kultur angeht. Es war das gleichfalls eine materielle Basis, ja eine viel ausgeprägter materielle als die der unsichtigen Atomvorgänge, doch gerade als ausgeprägtere, als historisch-charakteristische machte sie die geschichtlichen Erscheinungen und Charaktere nicht zur Nacht. Sie brachte vielmehr erstmals Licht, ein genuines Licht, worin zugleich der archimedische Punkt lag, der heißt: Beziehung der Menschen zu Menschen und zur Natur. Und eben weil der historische Materialismus, zum Unterschied vom einseitig naturwissenschaftlichen, kein betrachtender war, entdeckte er am spezifischen Ort seines archimedischen Punkts nicht nur den Schlüssel der Theorie, sondern den Hebel der Praxis. Marxismus also zerstört am wenigsten diesen Hebel und, dem entsprechend, nicht die höhere, die neue Organisation lebendiger Materie, zu der der Hebel hebt. So nochmals These 10: »Der Standpunkt des alten Materialismus ist die >bürgerliche< Gesellschaft, der Standpunkt des neuen die menschliche Gesellschaft oder die vergesellschaftete Menschheit.« Und Weltveränderung dieser Art geschieht sinngemäß einzig in einer Welt der qualitativen Umschlagbarkeit, Veränderlichkeit selber, nicht in der des mechanischen Immer-Wieder, der puren Quantität, des historischen Umsonst. Es gibt ebenso keine veränderbare Welt ohne den erfaßten Horizont der objektiv-realen Möglichkeit in ihr; sonst wäre selbst ihre Dialektik eine des Auf-der-Stelle-Tretens. Ja noch viel mehr Gewalt der Schöpfung hat sich in der weltumfassenden Dialektik des Marxismus erkennbar gemacht und kommt zur Wissenschaft. Die Hoffnung, die Herder im »Genius der Zukunft« hymnisch anzurufen suchte: «...denn was ist Lebenswissen! und du, / Der Götter Geschenk, Prophetengesicht! und der Ahndung / Vorsingende Zauberstimme!«, gerade die Hoffnung des Lebenswissens wurde, damit es wirklich eines sei, bei Marx Ereignis. Das Ereignis ist nicht /(334) abgeschlossen, denn es ist selber ein einziges Vorwärts in der veränderbaren, Glück implizierenden Welt. So bekundet die Gesamtheit der »Elf Thesen«: Die vergesellschaftete Menschheit im Bund mit einer ihr vermittelten Natur ist der Umbau der Welt zur Heimat. 10
ZUSAMMENFASSUNG ANTIZIPATORISCHE BESCHAFFENHEIT UND IHRE POLE: DUNKLER AUGENBLICK - OFFENE ADÄQUATHEIT
Wer aber treibt in uns an? Einer, der sich selbst nicht innehat, noch nicht hervorkommt. Mehr ist auch jetzt nicht zu sagen, dies Innen schläft. Das Blut läuft, das Herz schlägt, ohne daß zu verspüren ist, was den Puls in Gang setzt. Ja, tritt keine Störung hinzu, so ist überhaupt nichts unter unserer Haut spürbar. Was in uns reizfähig macht, reizt sich selber nicht. Das gesunde Leben schläft, als in sich webend. Es steckt ganz in dem Saft, worin es kocht. Puls und gelebtes Dunkel Daß man lebt, ist eben deshalb nicht zu empfinden. Gerade dieser unmittelbare Puls schlägt einsam. Akte wie Vollzug des Wollens, Vorstellens und so fort treten aus dem unmittelbaren Dunkel ihres Geschehens nicht heraus. Aber am meisten dunkel bleibt schließlich das Jetzt selber, worin wir als Erlebende uns jeweils befinden. Das Jetzt ist der Ort, worin der unmittelbare Herd des Erlebens überhaupt steht, in Frage steht; so ist das gerade Gelebte selber am meisten unmittelbar, also am wenigsten bereits erlebbar. Nur wenn ein Jetzt gerade vergangen ist oder wenn und solange es
erwartet wird, ist es nicht nur ge-lebt, sondern auch er-lebt. Als unmittelbar daseiend, liegt es im Dunkel des Augenblicks. Nur das gerade Heraufkommende oder das gerade Vergangene hat den Abstand, den der Strahl des Bewußtwerdens braucht, um zu bescheinen. Das Daß und Jetzt, der /(335) Augenblick, worin wir sind, wühlt in sich und empfindet sich nicht. Dementsprechend also wird der jeweilige Inhalt des gerade Gelebten nicht wahrgenommen. Platz für möglichen Vormarsch Aber was im Jetzt treibt, stürzt zugleich dauernd vorwärts. Es bleibt darum nie in sich selber webend, denn das Daß des Lebens ist gierig. So ungeäußert sein Innen noch sein mag, darin äußert es sich, daß es das Seine nicht bat, vielmehr draußen sucht und meint, also daß es Hunger hat. Und das Draußen, in das das Subjektive greift, muß wenigstens so liegen, daß sich nach ihm greifen läßt. Wäre um das Drängen nach dem, was ihm fehlt, nichts als lauter enge, erstickende, fest gewordene Mauer, dann wäre nicht einmal Drängen da. So aber ist ihm noch etwas offen, sein Drängen, Wünschen, Tun hat Platz. Was nicht ist, kann noch werden, was verwirklicht wird, setzt Mögliches in seinem Stoff voraus. Es gibt im Menschen dies Offene, und Träume, Pläne wohnen darin. Das Offene ist ebenso in den Dingen, an ihrem vorderen Rand, dort, wo noch Werden möglich ist. Und das Drängen hat daran nicht nur den Auslauf oder das Freie, wo noch gegangen, noch gewählt, noch geschieden, Weg eingeschlagen, Weg gelegt werden kann, sondern außer dem Weg ist im objektiv Möglichen ein uns möglicherweise Entsprechendes, woran das Drängen nicht endlos ungesättigt weitergeht. Das Entsprechende ist als solches nicht selber ausgemacht und garantiert, es ist nicht empfangend, gar lösend, aber es ist seines Möglichen gewärtig und so immerhin als Gewärtiges empfangend. In den Dingen ist ein Treiben, worin unsere Angelegenheiten noch betrieben werden können, eine Front, worin unsere Zukunft, gerade diese, entschieden werden kann. Solch Veränderbares ist keinesfalls selbstverständlich: es könnte ja auch nichts Neues mehr unter der Sonne geschehen. So aber gibt es im Fluß der Dinge, also der Ereignisse, noch durchaus ein Noch und Noch-Nicht, was dasselbe ist wie echte, das heißt, aus nie so Gewesenem bestehende Zukunft. Zeiten, in denen nichts geschieht, haben das Gefühl fürs Novum fast verloren; sie leben in Gewohnheit und das Kommende ist keines, sondern abgezir- /(336) kelt wie das Gestrige auch. Aber Zeiten wie die heutige, in denen Geschichte, vielleicht für Jahrhunderte, auf der Waage steht, haben das Gefühl fürs Novum extrem, sie spüren, was Zukunft ist, mit angehaltenem Atem, mit befördernder Arbeit am Heraufziehenden, heraufziehend Möglichen. Solche Zeiten sind der Ort, um das Korrelat des Möglichen besonders zu erfahren, über zersprungener Gewordenheit. Das Jetzt des Treibens hat nur unter ungeschlossenen Dingen Platz, um zu verwirklichen, um seine Inhalte wachsend manifest zu machen. Quell und Mündung: das Staunen als absolute Frage Wird recht verwirklicht, so kommt das Leben dorthin, wo es noch nie war, nämlich nach Hause. Zwei Momente aber machen, in dieser möglichen Verwirklichung eines noch Möglichen, letzthin Quell und Mündung aus. Der Quell ist bezeichnet durch das Dunkel des Jetzt, worin Verwirklichen entspringt, die Mündung durch die Offenheit des objekthaften Hintergrunds, wohin die Hoffnung geht. Es wurde erkannt: im Verwirklichen ist selber etwas unreif und noch nicht verwirklicht, daher schwächt es
(vgl. S.221); dieses Unreife macht sich kenntlich im Dunkel des gelebten Augenblicks. Es wurde weiter erkannt: im objekthaften Hintergrund oder Korrelat ist Offenheit, noch entscheidbar Real-Mögliches, ist Utopie als Frontbestimmtheit der Objekte selbst (vgl. S.235); dies Reifbare macht sich kenntlich als immer noch währende Tendenz, immer noch dämmernde Latenz. Dunkler Augenblick hier, adäquate Offenheit dort bezeichnen folglich Quell und Mündung des Heraufkommens; sie sind die Pole des antizipierenden Bewußtseins wie dessen, was ihm objekthaft entspricht. Mündung allerdings, das bezeichnet ein Moment des Endzustands, der noch mehr bedeutet als adäquate Offenheit, vielmehr: in dem sich diese als offene Adäquatheit gibt. Invarianz eines stets Gemeinten oder utopischen Endes, das in der Richtung ist, diese einzig gültige Invarianz wurde ebenfalls ausgezeichnet (vgl. S.255); sie ist Unum necessarium in der Richtung, ist überal[l] identisch angelegtes Element des utopischen Endzustands. Und nun: die offene Adäquatheit macht sich nicht in Erfahrungen des weiterlaufenden Weltprozesses kenntlich, /(337) mit experimentierter Mündung, sondern in kurzer, seltsamer Erfahrung eines antizipierten Stillehaltens. Erfahren wurden in diesem Stillehalten allemal knappste Symbolintentionen eines Überhaupt, subjektiv zunächst, ja lyristisch scheinend und doch erzphilosophisch in der Sache selbst fundiert, nämlich in einem Aufblitzen von utopischem Endzustand. Solche Erfahrungen eines utopischen Endzustandes fixieren ihn gewiß nicht, sonst wären sie keine Erfahrungen bloßer Symbolintention und keine utopischen, gar zentralutopischen. Aber sie betreffen in der Tat den Kern der Latenz, und zwar als letzte Frage, in sich selbst widerhallend. Diese Frage ist auf keine bereits vorhandene Antwort hin konstruierbar, auf kein irgendwo in der vorhandenen Welt bereits geschlichtetes Material beziehbar. Beispiele hierfür sind in dem Buch »Spuren« gegeben, wo »das fragende, das bodenlose Staunen« an einer Stelle aus Hamsun erläutert wird (Ernst Bloch, Spuren, 1930,S. 274ff). Besonders aber im »Geist der Utopie», worin solch letzthinnige Symbolintention als »Gestalt der unkonstruierbaren Frage», das heißt eben, als Gestalt der auf keine bereits vorhandenen Lösungen hinbiegbaren, hinkonstruierbaren Fragen zuerst bezeichnet worden ist: »Ein Tropfen fällt, und es ist da; eine Hütte, das Kind weint, eine alte Frau in der Hütte, draußen Wind, Heide, Herbstabend, und es ist wieder da, genauso, dasselbe; oder wir lesen, daß sich Dimitri Karamasow im Traum verwundert, wie der Bauer immer >Kindchen< sagt, und wir ahnen, hier wäre es zu finden; >die Ratte, die raschle, solange sie mag! Ja wenn sie ein Bröselein hätte!Hochzeitsliedvergiß das Beste nicht!< hatte der Alte zu ihm gesagt, aber noch keiner konnte dieses Unscheinbare, tief Versteckte, Ungeheure jemals im Begriff entdecken» (Ernst Bloch, Geist der Utopie, 1918, S.364). Man sieht daran, es sind ganz uneigentliche Anlässe und Inhalte, zu denen derart das Subjekt gegebenenfalls inkliniert, doch in ihnen, den für jeden Menschen verschiedenen, obzwar allemal bedeutungsidentischen Anlässen und Inhalten, kündigt sich der Gehalt des tiefsten Staunens an, zwischen Subjekt und Objekt, beide in durchdringender /(338) Betroffenheit auf einen Augenblick identifizierend. So läuft die unkonstruierbare, die absolute Frage allerdings auch wieder auf den Augenblick zu, in sein Dunkel hinein. Nicht als Lichtung, doch als unverwechselbarer Hinweis auf das unmittelbare Dunkle des Jetzt, sofern dessen inhaltlich zentrale Latenz sich immerhin in solch staunendem Fragen, fragendem Staunen abbildet. Wäre der Inhalt des im Jetzt Treibenden, im Da Berührten positiv heraus, ein »Verweile doch, du bist so schön«,
dann wären gedachte Hoffnung, gehoffte Welt am Ziel. Nochmals: Dunkel des gelebten Augenblicks; Carpe diem Was in uns reizfähig macht, wurde gesagt, reizt sich selber nicht. Es schläft als warm und zugleich verdunkelt, weckt sich selber am wenigsten empfindend auf. Auch das Empfinden innerer und äußerer Reize nimmt an dem Punkt, wo diese ins Jetzt eintauchen, an dessen Dunkel teil. So wenig wie das Auge an der Stelle des blinden Flecks sieht, wo der Nerv in die Netzhaut tritt, so wenig wird von irgendeinem Sinn das gerade Erlebte wahrgenommen. Dieser blinde Fleck in der Seele, dieses Dunkel des gelebten Augenblicks muß bei alledem vom Dunkel vergessener oder vergangener Vorgänge durchaus unterschieden werden. Wenn sich Vergangenes zunehmend mit Nacht bedeckt, so ist das aufhebbar, Erinnerung hilft auf, Quellen und Funde können ausgegraben werden, ja historisch Vergangenes steht, wenn auch lückenhaft, gerade fürs betrachtende Bewußtsein besonders objektivierbar da. Das Dunkel des gerade gelebten Augenblicks dagegen bleibt in seiner Schlafkammer; aktuelles Bewußtsein ist gerade nur in bezug auf ein eben vergangenes oder für ein erwartet anrückendes Erlebnis und seinen Inhalt da. Der gelebte Augenblick selber bleibt mit seinem Inhalt wesenhaft unsichtbar, und zwar desto sicherer, je energischer Aufmerksamkeit sich darauf richtet: an dieser Wurzel, im gelebten Ansich, in punktueller Unmittelbarkeit ist alle Welt noch finster. In punktueller Unmittelbarkeit: - geschieht freilich alles Erleben punktuell und atomistisch, folglich in Augenblicken und als diese? Das wird von vitalistischen Psychologen verneint, sie lassen Seelisches pulslos fließen. So sieht James, ungeachtet daß er »transitive /(339) parts of the consciousness« zuläßt, psychisches Leben als einen Strom. Teilung gilt bei Vitalisten insgesamt, besonders bei Bergson, als künstlich, als wissenschaftlich-ideale Abstraktion, angeblich nach mathematischem Muster hergestellt; auch der Augenblick wäre danach kein unmittelbares Sichbefinden, gleitend und diskret zugleich, sondern eine hergestellte Fiktion. Jedoch all diese vitalistische Augenblicksleugnung bleibt im vorliegenden Fall gänzlich unzuständig; denn eben zum Leben gehört der punktuelle Puls, er ist an ihm keine Abstraktion. Abstrakt dagegen ist der Strom der Bewußtseins-Vitalisten selber; denn ihm fehlt gerade der schlagende Puls, dies Element des Lebensstroms zum Unterschied von einem wellenlosen, ununterbrochenen Geschiebe. Das Bild des Bewußtseinsstroms zeigt seine eigene Abstraktheit darin, daß es von einem wirklichen Strom fast nichts mehr enthält, vielmehr in sich selber stationär ist. Der Bewußtseinsstrom der Vitalisten ist auch darin so wenig wirklicher Strom, daß er weder Quell noch Mündung aufweist, und vor allem hat er mit dem einzigen konkreten Begriff des Stroms, mit dem des Prozesses, nichts gemein, als welcher dezidiert aus Unterbrechungen besteht, nämlich aus dialektischen Momenten des dialektischen Zusammenhangs. So gewiß der Prozeß aus ihnen nicht »zusammengesetzt« ist, nach einer selber verdinglicht mechanistischen Auffassung, so verdankt er ihnen doch seinen diskontinuierlichen Charakter, eben den »Puls der Lebendigkeit«, wie Hegel sagt. James, auch Bergson sind in diesem Punkt nicht nur hinter Hegel, sondern selbst hinter den ihnen so viel näherstehenden, nämlich undialektischen Hume zurückgefallen. Dessen Lehre von den »indivisible moments of time and consciousness» ist bedeutend konkreter als die bloße Oberflächenanschauung: Bewußtseinsstrom, mit der pulslosen Abstraktheit, wozu sie verdinglicht worden ist. Selbst von Husserl wäre hier das Rechte zu erfahren, wenigstens was das Zeithafte im angeblichen »Aktkontinuum» angeht: »Während
eine Bewegung wahrgenommen wird, findet Moment für Moment ein Als-Jetzt Erfassen statt, darin konstituiert sich die aktuelle Phase der Bewegung selbst.« Und weiter: »Das Fließen ist nicht nur überhaupt Fließen, sondern jede Phase ist von einer und derselben Form... Die Form besteht darin, daß ein Jetzt sich konstituiert /(340) durch eine Impression, und daß an diese ein Schwanz von Retentionen sich angliedert und ein Horizont der Protentionen« (Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, 1928,S.391,476). Kein Fluß kann überhaupt gedacht, gar dialektisch verstanden werden ohne jenes Jetzt-Inmitten in seiner Zeit, welches nicht einmal selber Zeit ist, sondern »das sonderbare Etwas«, nach Platons Wort, woraus die Zeit (nicht nur die Zeitauffassung) des wirklichen Bewegungsstroms entspringt und worin Bewegung mit unruhiger Ruhe selber geeint ist. Platon, der sich besser als James und Bergson auf das diskontinuierliche Kontinuum versteht, zeichnet eben deshalb den Augenblick (das Plötzliche) entschieden aus. Er figuriert hier als Momentum des Übergangs zwischen Bewegung und Ruhe, Ruhe und Bewegung: »Denn aus der Ruhe geht nichts über, solange es noch ruht, noch aus der Bewegung während es sich noch bewegt, in die Ruhe; sondern der Augenblick, dieses sonderbare Etwas, liegt zwischen der Bewegung und der Ruhe, keiner Zeit angehörig; und in ihm, aus ihm geht das Bewegte in die Ruhe über und das Ruhende zur Bewegung« (Parmenides, 156 D-E). Und zuletzt den Fluß als einen zur Mündung (Ruhe) betreffend - hat sowohl der Tenor des Faustplans wie der ihm verwandte der Mystik den Augenblick als keine Abstraktion in sich. »Verweile doch, du bist so schön«: es soll zum Augenblick als einem höchsten gesagt werden können, auch zu jenem vollkommen erfüllten und so standhaften, bestandhaften der in Eckardts Mystik als das Nu (nunc stans) der Vollkommenheit pointiert ist. Derart einen sich alle diese, untereinander so verschiedenartigen, Bekundungen in der Anerkennung eines realen Jetzt; zum Unterschied vom Abstraktionsstrom der Vitalisten. Und es bleibt letzthin der Puls, der auch dem intermittierenden Augenblickscharakter des Bewußtseins das Modell gibt oder besser: als Entsprechung im Leib geschieht. Vom Pulsschlag her wird der seelische Augenblick im Klopfen seines Jetzt erfahren, im Vorwärtsstürzenden, auch Transitiven aller Augenblicke. Mehr allerdings geht in dieser Unmittelbarkeit noch nicht davon auf, auch erstreckt sich das Gewahrwerden nur so weit, daß der gelebte Augenblick eben als dunkler erfahren und bezeichnet werden kann. Wobei das Entscheidende hinzutritt, das ohnehin im ganzen Bisherigen das /(341) Problem über bloße Psychologie hinaustrieb: das Dunkel des gelebten Augenblicks ist abbildlich für das Dunkel des objektiven. Also für das Sich-nicht-Haben jenes intensiven Zeitelements, das sich noch nicht selber in die Zeit und den Prozeß als inhaltlich manifestiert entfaltet hat. Nicht das Fernste also, sondern das Nächste ist noch völlig dunkel und ebendeshalb, weil es das Nächste, das Immanenteste ist; in diesem Nächsten steckt der Knoten des Daseinsrätsels. Das Leben des Jetzt, das eigentlichst intensive, ist noch nicht vor sich selbst gebracht, als gesehen, als aufgeschlossen zu sich selbst gebracht; so ist es am wenigsten Da-Sein, gar Offenbar-Sein. Das Jetzt des Existere, das alles treibt und worin alles treibt, ist das Unerfahrenste, was es gibt; es treibt noch ständig unter der Welt. Es macht das Realisierende aus, das sich am wenigsten realisiert hat - ein tätiges Augenblicks-Dunkel seiner selbst. Woraus auch das Seltsame aufgeht, daß noch kein Mensch richtig da ist, lebt. Denn Leben heißt doch Dabeisein, heißt nicht nur Vorher oder Nachher, Vorgeschmack oder Nachgeschmack. Es heißt den Tag pflücken, im einfachsten wie gründlichen Sinn, heißt sich zum Jetzt konkret verhalten. Aber indem gerade unser nächstes eigentlichstes, unaufhörliches Dabeisein keines ist, lebt noch kein Mensch
wirklich, gerade von dieser Seite her nicht. Carpe diem im raschen, gedankenlosen Genuß, es scheint so einfach, auch verbreitet, ist jedoch so selten, daß es als wirkliches Pflücken gar nicht vorkommt. Nichts ist gerade gegenwartsflüchtiger als jenes übliche Carpe diem, das ganz im Genuß des Jetzt aufzugehen scheint, nichts weniger seinsmächtig, nichts mehr Banalität ante rem. So rasch also läßt sich das Pflücken des Tags nicht vollziehen, es sei denn, das Verweile doch, zum Augenblick gesprochen, wird in der Tat mit einem Faulbett verwechselt. So sehr urkräftiges Behagen seine Ehre hat, so ist es doch nur scheinbar in Auerbachs Keller oder gar in philisterhafter Besitzeslust zu Hause. Oben bereits (vgl. S. 207ff.) wurden Lenau und Kierkegaard als nicht unbedenkliche, doch sehr bedenkenswerte Nicht-Meister des Carpe diem erinnert. Sie waren beide dazu verdammt, das Bild der Geliebten mit ihr selber im Gedränge zu sehen. Das mag oft Lebensschwäche sein, jedoch das gewaltige Sujet der ägyptischen Helena zeigt an, daß mit Schwäche, auch /(342) mit romantischem Überschwang, auch mit einer Art utopischer Neurose der Fall nicht erschöpft ist. Über das bloße Impressible, über die Oberfläche des Lustund Schmerzmoments kommt das übliche Carpe diem nicht hinaus, ja es ist konträr zu seiner Horazischen Lesart - das Zerstreute, das Unverweilende, das Gegenwartlose selber. Kurz: so wenig wie die Neugier utopisch ist, so wenig ist das übliche Carpe diem, das doch gerade von einem »Augenblick» zum anderen springende, den Tag im Tag vertuende, seinsmächtig. Echtere Berührung des Moments gibt es einzig in starken Erlebnissen und an scharfen Wendestellen des Daseins, sei es des eigenen, sei es der Zeit, sofern sie von geistesgegenwärtigem Auge bemerkt werden. Außerordentliche Tatmenschen scheinen ein echtes Carpe diem zu bieten, als Entscheidung im geforderten Augenblick, als Kraft, dessen Gelegenheit nicht zu versäumen. Mommsen exemplifiziert diese Kraft an Cäsar, nennt sie »geniale Nüchternheit« und fährt bedeutsam fort: »Ihr verdankte er das Vermögen, unbeirrt durch Erinnern und Erwarten energisch im Augenblick zu leben; ihr die Fähigkeit, in jedem Augenblick mit gesammelter Kraft zu handeln.« Aber hat Cäsar, haben die meisten Täter der Klassengesellschaft, das heißt hier: der undurchschauten Geschichte, den Augenblick, den sie taten, auch ebenso nach seinem geschichtlichen Inhalt erfaßt? Dieser Fall ist so selten, daß sich als einziges Beispiel fast nur das Goethesche anbietet, eines Mannes zudem, der kein Täter war, wohl aber ein Konkretblick ohnegleichen. So gehört Goethes Satz am Tag der Kanonade von Valmy hierher: »Von hier ab und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen«; es gibt aber dergleichen Vergegenwärtigungen nicht viele. Nicht viele solcher Bemerkungen eines sonst unbemerkten Augenblicks: als eines transitorischen, mit fruchtbarstem Motiv, als einer Treffstelle weitverzweigter Vermittlungen zwischen Vergangenheit und Zukunft - mitten im unsichtigen Jetzt. Ein plötzliches, nicht historisch-horizontales, sondern senkrecht einschlagendes Licht fällt dann auf Unmittelbarkeit, so daß sie fast vermittelt zu sein scheint, ohne freilich aufzuhören, unmittelbar oder überdichte Nähe zu sein. Das großartigste Beispiel für durchschaute Vergegenwärtigung geben die Situationsanalysen von Marx und /(343) Engels, an der Spitze der »Achtzehnte Brumaire«.Und Lenin hat sein Leben lang Gegenwärtiges mit historischem Durchblick erfaßt, bis zu jenem durchdachten Carpe diem, welches Große Sozialistische Oktoberrevolution heißt. All das setzte freilich bereits ein völlig unkontemplatives Verhalten voraus, nämlich Begreifen-Ergreifen der aktuellen Triebkräfte des Geschehens selbst. Das ist der Klassengesellschaft unvollziehbar, die notwendig über dem Produkt das wirklich Produzierende übersah; doch der rechte Weg zur aktiven Aktualität ist auch mit der
Situationsanalyse erst begonnen. Sein Ziel bleibt die Erhellung dessen, was im letzten Daßgrund des Geschehens so treibt wie sich noch verborgen ist. Gewiß auch: durch alle Gesellschaften hindurch ziehen sich die keineswegs nur lyristischen, vielmehr erzphilosophischen Erfahrungen der unkonstruierbaren Frage, als des absoluten Staunens, ein beginnendes Carpe diem des unüblichen, echten Sinns; doch wie viel Scheu, wie viel bloße Symbol-Intention wiederum ist in dieser unscheinbaren Alltags-Mystik, der einzigen, die geblieben ist, die wert ist, zu bleiben. Sonst überall ist Nicht-Da der Zustand des Jetzt und selbst noch das Hier dieses Nicht-Da bildet eine Zone des Schweigens genau dort, wo die Musik gespielt wird. Dadurch steht nicht nur das Existieren, sondern vor allem doch das Subjekt des Existierens im Inkognito, gerade also das Treibende, letzthin Inhaltliche des Existierenden selbst. Hierfür erst wäre das volle Carpe diem entscheidend, dergestalt, daß das Existierend-Aktuelle und seine zeitlich-räumlich angrenzende Umgebung durch die Nähe, die diese noch unmittelbare Erlebnisschwierigkeit hat, keineswegs trübe und schwierig gemacht würde. Aber die Augenblicke schlagen noch ungehört, ungesehen, ihr Präsens ist bestenfalls im Vorhof seiner noch nicht bewußten, noch nicht gewordenen Präsenz. Dunkel des gelebten Augenblicks, Fortsetzung: Vordergrund, schädlicher Raum, Melancholie der Erfüllung, Selbstvermittlung Das gelebte Dunkel ist so stark, daß es nicht einmal auf seine unmittelbarste Nähe begrenzt ist. Vielmehr wirkt es auch in /(344) seine Umgebung ein, in die ans gerade Jetzt sich anschließende Zeit, sodann in den ans gerade Hier sich anschließenden Raum. Diese Wirkung verhindert, daß die erlebniswirkliche Nähe, besonders als geschehende, in gehörigen und beruhigenden Abstand kommt, also auf übliche Weise betrachtet werden kann. Dadurch entsteht das eigentümliche, nicht leicht betrachtbare, aber auch nicht leicht faßbare und wißbare Zwielicht des jeweils aktuellen Vordergrunds. Einige Sprichwörter wissen darüber besser Bescheid als die meisten bisherigen Denker; so etwa: Was er webt, weiß kein Weber, oder: Am Fuß des Leuchtturms ist kein Licht. Und merkte nicht Ödipus, weil er sich selber im Licht stand, als letzter, daß er seine eigene Mutter geheiratet hatte? Das Rätsel der Sphinx, das von außen betrachtbare, hatte er leidlich gelöst, zu seinem eigenen Fall aber, als einem unmittelbar nahen, verhielt er sich hilflos. Und so weiter im unverstandenen Text der Jetzt-Zeit, des Hier-Raums, wo immer bloße Betrachtung, vom Abstand, vom Gewohnten her, sich dazu vorwagt. Am verräterischsten erscheint dergleichen, wie oft bemerkt (vgl. S. 330), sobald die verdinglichte Betrachtung, als die eines Erstarrten, Gewordenen, in der Gegenwart ankommt und zu diesem Nahen, Geschehenden, Werdenden ihr Wort zu sagen versucht. Dann zerreißt die Gewöhnung an die Art Zusammenhänge, zu der das Abstandhafte weit hinten in der Vergangenheit Anlaß gegeben hatte. Schon die relative Nähe des neunzehnten Jahrhunderts macht die bürgerlichen Historiker, wenn sie bei diesem Jahrhundert im Verlauf ihrer Darstellung ankommen, charakteristisch verlegen; Meinungen schieben sich an Stelle der bisherigen Zusammenhangsurteile. Und die vollends verblüffende Unwissenschaftlichkeit dieser Historiker ist erinnerlich, als die Geschichte zum Weltkrieg ging; aus dem Gelehrten wurde der kannegießernde oder auch hurrapatriotische Oberlehrer. Das aber nicht nur wegen des klassenmäßig bedingten unkonkreten Verhaltens des Bourgeois zu den Annexen des Jetzt, sondern diese besondere Sehschwäche, samt dem ideologischen
Fälschungsinteresse dazu, wird durch den allgemeinen Einsturz der sozusagen objektiven Betrachtung, wie ihn die Nähe bewirkt, zentral begünstigt, und die Fehlurteile der bürgerlichen Parteilichkeit schlagen sich besonders interessiert in die Bresche /(345) der aktuellen Unmittelbarkeit, der durch bloße Betrachtung nie zu bewältigenden. All das mag, indem es und soweit es die Schwierigkeit des Aktuellen samt dem sich daran anschließenden Jetzt- Vordergrund, Hier- Vordergrund angeht, durch ein Problem der Landschaftsmalerei verdeutlicht werden. Das Problem des Aktuellen lautet malerisch: Wo denn fängt in einem Bild die dargestellte Landschaft an? Der Maler malt nicht sich selber mit, obwohl er sich unmittelbar, als innerster Ring des Unmittelbaren, ebenfalls in der Landschaft befindet. Indes auch der zweite Ring der Unmittelbarkeit: der eigentliche Vordergrund des Bilds, ist nur schwierig objektivierbar; sie hat immer noch zuviel Nähe zum Standort des Malers. Und genau das Durcheinander aus Nähe bewirkt die relative Undurchformtheit auch des räumlichen Vordergrunds, seine Unzugehörigkeit zur eigentlichen Landschaft. Die dargestellte Landschaft beginnt also nicht nur, wie selbstverständlich, außerhalb des Malers, der sie malt, sondern auch jenseits der noch zerstreuten Gegenstände seiner näheren Umgebung. Mit einem Begriff, der aus der Physik der Luftpumpe entnehmbar ist, wird klar: der Vordergrund ist für die Darstellung schädlicher Raum, das heißt, ein solcher, aus dem die Atmosphäre noch nicht ganz entwichen ist. Dieses Falls die Atmosphäre der Unmittelbarkeit, das währende Dunkel und die währende Unordnung des Jetzt und Hier, der Nähe. Auf die Frage: wo fängt die Landschaft an? wo beginnt zusammenhängende Objektivierung? kann daher nur geantwortet werden: jenseits des schädlichen Raums, im Abstand von ihm, genau dort, wo das Dunkel der Unmittelbarkeit samt ihren Ausläufern aufzuhören beginnt. Und da zwischen Subjekt und Objekt der Betrachtung überall dieser merkwürdige Zwischenraum liegt, eben als schädlicher Raum sui generis, aus dem die Atmosphäre der unvermittelten Unmittelbarkeit noch nicht hinreichend entfernt ist: so entspricht der schwierige Vordergrund des Landschaftsbilds und sein Problem methodisch scharf der angegebenen Schwierigkeit geschehender, in der Zeit geschehen der Aktualität. Innerhalb dieser allerdings ist die Einwirkung des gelebten Dunkels noch unvergleichlich folgenreicher als im räumlichen Beachtungsrelief die Sache selbst, und ist nicht nur ein Exempel ihrer, wie in der malerischen Komposition. Das zeigt sich schon /(346) daran, daß der Hier-Raum als räumlicher Vordergrund doch schließlich in Landschaft übergehen, mit ihr gleichsam abschließen kann, daß ein unerledigter Rest von Nähe in der Ruhe dieses Abschlusses sich nicht meldet. Die Jetzt-Zeit dagegen als Vordergrund der Zeit läuft nicht ohne weiteres in Faßbares, Gestaltbares, Wißbares über, und zwar - eine neue Schwierigkeit auch nicht ohne weiteres in die Wißbarkeit, die keine passive Betrachtung, sondern aktive Tendenzkunde ist. Denn sonst müßte diese Wißbarkeit das die Jetzt-Zeit nachher Umgebende, also die Zukunft, so völlig in den objektiven Griff bekommen wie, mutatis mutandis, das Landschaftsbild die Landschaft hinter dem Hier-Raum. Was höchst bekanntlich in Ansehung der Zukunft, außer den nächst, übernächst zu vollziehenden Schritten und der großen Perspektive, nicht der Fall sein kann, auch nicht in der Grundwissenschaft des beherrschten Geschehens, in der endlich konkreten Tendenzwissenschaft: Marxismus. Und zwar deshalb nicht, weil das Zukünftige - anders als das Raumferne - selber so unbeherrschtes Jetzt, also Dunkel enthält, wie das Jetzt selber noch unaufgeschlossene Zukunft, also Neuheit enthält und sich nach dorthin vorwärts stürzt. Vergangenheit, dieses auch nur scheinbar, auch nur für die Betrachtung Geschlossene und so mit der objektivierbaren Raum-Landschaft scheinbar Vergleichbare, kommt im
Zeitbewußtsein wie in der Zeitphase erst später, erst nach dem Stürzen in Zukunft auf und ist mit der objektivierten Landschaft, wie sie direkt an die Raum-Aktualität sich anschließt und hinter ihr als fertig dasteht, deshalb doch nicht vergleichbar. Konträr: Das Zukunfthaltige der Jetzt-Aktualität setzt sich - über alle Vergangenheitsformen hinweg - auch in seiner Vordergrundsaktualität und in allen ihren Horizont-Umgebungen immer wieder fort. Indem aber Zukunft derart zur Aktualität gehört, nimmt auch sie, die Zukunft, mit allen ihren Vordergrunds- und Horizont-Objektivitäten am Dunkel des gelebten Augenblicks teil. Und sie nimmt daran in einerWeise teil, die die wesentlichste Eigenschaft der Zukunft ausmacht: der Betrachtung verschlossen, aber auch der Tendenzkunde noch relativ unbekannt zu sein. Dieser Zusammenhang von Augenblicks- und Zukunftsdunkel wurde im »Geist der Utopie« erstmals so formuliert: »Das Dunkel verstärkt sich, sobald nicht nur wir, son- /(347) dem auch die andere, gedrehte Seite unentschieden bleibt, sobald wir uns also dem Zukünftigen zuwenden, das selber, sofern es vor allem logisch neu ist, nichts anderes bedeutet als unser vergrößertes Dunkel, als unser Dunkel in der Ausgebärung seines Schoßes, in der Vergrößerung seiner weiteren Geschichte; und ebenso verstärkt es sich Gott als dem Problem des radikal Neuen gegenüber, der nicht etwa für uns nur sichtbar werden muß, um zu sein, so daß sich der ganze Weltprozeß elastisch zu einer Bewegungsbeziehung zwischen zwei >getrennten< Realitäten reduzierte, sondern der sich selber nur als Hoffnung, als Nicht Fürsichsein, gleich uns im schattenhaft Ungeschehenen, noch Unrealen innehat« (Geist der Utopie, 1918 S. 372). Gemäß dieser unheimlichen Formulierung fällt also das Dunkel des gelebten Augenblicks in seiner völligen Tiefe mit der essentiellen, doch nicht da-seienden Existenzweise des Zielinhalts selber zusammen, der einmal unter der mythologischen Bezeichnung Gott intendiert war, und der nach der zitierten Stelle eben der noch nicht da-seiende, noch nicht herausgebrachte Zielinhalt des Existierens selber ist. Das Carpe diem oder Präsens des absoluten Zielinhalts steht aber in dem gleichen Grund, in dem das Subjekt des Existierens steht, und aus dem gleichen Grund wie dieses steht der Zielinhalt als realisierter noch aus: aus dem Grund jenes ungelichteten Existenzherds, der mit unmythologischer Bezeichnung Agens wie Kern der sich entwickelnden Materie ist. So weit, so tief also reicht das Wurzeldunkel des gelebten Augenblicks; so genau ist es dem Novum in beiden zugeordnet, dem Ultimum des Inhalts. Und es ist ebenso die gleiche Zukunft: das in der Zeiten Schoß Enthaltene, welches das im Augenblick Enthaltene zu erschließen berufen ist. Einzig das Seinkönnen, das leitungsmächtig beförderte und aufgeschlossene, bringt das unmittelbare Sein des treibend-verborgenen Augenblicks zu sich und herauf; einzig dieses aufgeschlossene Transzendere ins Novum schließt das immanente Existieren inhaltlich auf. Je näher hierbei die Anwesenheit zum existentiellen Erzeuger des Geschehens, also - geschichtlich - zum Menschen, je radikaler die Selbstergreifung des geschichtsbildenden Subjekts, desto mehr löst sich die blinde Aktualität, desto eingreifender kann sie als Durchgangspunkt weitverzweigter dialektischer Vermittlungen /(348) erkannt werden. Das eigentliche, metaphysische Dunkel des gelebten Augenblicks erhellt sich mittels solch geschichtlicher Subjekterfassung noch nicht oder erst in Anfängen, doch das Vordergrundproblem, mit dem Riß des Jetzt und Hier in den Abbildungen des Weltzusammenhangs, wird endlich in Griff gebracht. Es wird zum Problem des vermittelten Durchgangspunkts und darin der aktuell-konkreten Entscheidung an der Front des Weltgeschehens aufgehoben. Nicht, daß dieser Riß im Leben, also selbst bei einem nicht betrachtenden, damit verschwände. Denn letzthin ist die Wirkung des gelebten Dunkels auch auf die
angegebenen mannigfachen Vordergründe nicht beschränkt. Sondern der blinde Fleck, dieses Nicht-Sehen des unmittelbar eintretenden Jetzt und Hier, tritt eben auch bei jeder Verwirklichung auf. Ja, das Sehen wird durch allzu nahen Abstand nur getrübt, während die bis jetzt vorhandene Art des Verwirklichens nicht an irgendeinem Vordergrund, sondern im Verwirklichten selber sich verfinstert. Auch echtes Carpe diem ist von dieser Melancholie nicht ausgenommen, dann nämlich, wenn es nicht bloß geistesgegenwärtig ist, sondern die Früchte einer erfüllten Hoffnung pflückt. Und die Erfahrungen des zentralen Staunens, in der unkonstruierbaren Frage, werden von dieser Melancholie nur deshalb verschont, weil sie eben nur blitzhafte Anzeichen eines da-seienden Jetzt, Hier und Da enthalten, und das an stellvertretenden, oft skurrilen Gegenständen, aber nicht, noch nicht an der verwirklichten Sache an und für sich selbst. Sonst überall ist ein Riß, ja Abgrund im Verwirklichen selbst, im aktuiert-aktuellen Eintreten des so schön Vorhergesehenen, Ausgeträumten; und dieser Abgrund ist der des ungefaßten Existere selbst. Also gibt das Dunkel der Nähe auch den letzten Grund für die Melancholie der Erfüllung: kein irdisches Paradies bleibt beim Eintritt ohne den Schatten, den der Eintritt noch wirft. Es ist ja nicht nur so, daß ein Fiasko droht, wenn zu weit überholende Träume verwirklicht werden sollen oder wenn allzu erhabene Träume ihren Vollzug gefährden. Ein Rest im Realisieren selbst wird auch dort noch gefühlt und liegt vor, wo angemessene Ziele realisiert worden sind, oder wo monumentale Traumbilder mit Haut und Haaren, mit Leib und Seele in Wirklichkeit getreten zu sein scheinen. Es gibt ein /(349) Verwirklichen, das von der Tat der Verwirklicher selber absieht und sie nicht enthält; es gibt Ideale, die sich als abgehobene, tendenzfremde, abstraktfixe geben und so auch das Unfertige, Unverwirklichte ihrer Verwirklicher unterschlagen. Gerade in der Melancholie der Erfüllung meldet sich genauso dies zutiefst noch nicht Erfüllte im Subjekt, wie sich das Unzureichende im Fixierten des Ideals darin kritisiert. Auch das Element des Verwirklichens also gilt es, im gleichen Zug mit dem Element der künftigen Gesellschaft, wachsend in Freiheit zu setzen. Derart eben wurde beim Problem der Verwirklichung bereits gesehen (ägyptische Helena): der Wunsch- oder Idealinhalt kommt, gerade wenn er sein Verwirklichungsziel erreicht, an einem Punkt dunklerer Wirklichkeit an, als er sie vorher, im schwebenden, utopischen, bloß wesenden Realcharakter besaß. Wie zu wiederholen: Realisierung, so sehr sie den kontemplativen Abstand aufhebt, wirkt nie schon gänzlich als Realisierung, weil im Subjektfaktor der Realisierung selbst etwas ist, das sich noch nirgends verwirklicht hat. Der Subjektfaktor der Daseinsgebung ist selber noch nicht da, er ist nicht prädiziert, nicht objektiviert, nicht realisiert; das zuletzt kündet sich im Dunkel des gelebten Augenblicks. Und dies Inkognito bleibt noch das mitgehende Grundhindernis in jeder Verwirklichung, als einer vollen. Es zu entfernen, den Erzieher selbst zu erziehen, den Erzeuger selbst zu erzeugen, den Realisierenden selbst zu realisieren, darauf gehen alle humanistischen Wunschträume; sie sind die radikalsten wie die praktischsten. Wachsende Selbstvermittlung des Herstellers der Geschichte ist derart nicht bloß die Hilfe, um konkrete Tendenz-Antizipationen konkret zu verwirklichen, sie ist auch die Hilfe, um Verwirklichung ohne ihren eigentümlich bitteren Rest einzuleiten. Ohne jenes bleibende Minus, das das dunkel gebliebene Unmittelbare des Existierens selber bezeichnet und letzthin das Stück Nicht-Ankunft in der Ankunft ausmacht. Ein Menschsein, das in seinem Daseinskreis mit nichts ihm Fremden mehr behaftet ist, ein Realisierendes, das selber realisiert ist: dieses ist der Grenzbegriff der Verwirklichung als Erfüllung.
/(350)
Nochmals Staunen als absolute Frage, in Angst- wie Glücksgestalt; der schlechthin utopische Archetyp: höchstes Gut
Was im Jetzt treibt, wurde gesagt, stürzt ebenso zukünftig in ein Offenes vorwärts. Dies Offene aber hat einen seelisch doppelten Ort hinter sich, von dem her seine Früchte erwartet, auch getrieben werden. Der eine Ort bleibt die Angst, eben als solche, die desto größer ist, je ungewisser sie ihre Anlässe von überall her erwarten kann. Nicht mehr die neurotische Angst, die aus unverwendbarer Libido stammen mag, auch nicht die normale Realangst in gefährlichen Lagen ist hier zuständig, wohl aber eine ebenso unbedingte wie auf Endgültiges bezogene. Auch Angstträume, wie angegeben, selbst Kindergrauen vor der Dunkelheit, selbst Gespensterfurcht grenzen an sie nur atavistisch an, doch sie bezeichnen die Richtung. Die Hölle war dem Gläubigen mit lauter solchen Phobien bevölkert, auch dann noch, als die äußere Angst, die vor der unbekannten Natur, gar nicht mehr so groß zu sein brauchte. Die Hölle ist kraft der Aufklärung verschwunden, doch das Korrelatsproblem des ganz und gar durchdringenden, des metaphysischen Grauens ist geblieben. Sein Aufenthalt ist allemal das Jetzt, ein blutiger Spalt im Dunkel des Jetzt und des in ihm Befindlichen. Daß ein solch unmittelbares Grauen existiert, daß es von anderer Art ist als die entsetzliche Realangst vor wirklich Gewordenem, steht außer Zweifel. Sein Element ist der unerträgliche Augenblick, ein oft, doch nicht immer pathologisches Gebilde, ein fast fällendes Entsetzen an sich selbst. Epilepsie, in der Aura vor dem Anfall, scheint zu diesem Unerträglichen besonders genauen Bezug zu haben, Paranoia liefert davon die dem Angsttraum nächsten Bilder, den Angsttraum am Tag. Büchners Fragment über den wahnsinnig werdenden Dichter Lenz berichtet hierüber unvergeßlich: »Hören Sie denn nichts?« fragt der irre Dichter, »hören Sie denn nicht die entsetzliche Stimme, die um den ganzen Horizont schreit, und die man gewöhnlich die Stille heißt?« Und in Büchners »Wovzeck« wird die Angst überall von einem brüllenden Nichts erweckt, vom Wind, vom Abendhimmel, von der Erwartung eines unbestimmt Negativen unter, über allen Dingen, von jeder Richtung her den armen Teufel bedrohend. Angst erscheint in diesen /(351) sämtlichen, untereinander noch so weit abstehenden Zeugnissen als eine Erwartung nach der unbestimmt-finstersten Seite, nach Seite des würgenden, starrenden Nichts im Real-Möglichen. Bildhaft ist dies Unbildbare gleichfalls notiert, in Dürers »Melaneholia«, und zwar diesseits wie jenseits der darin enthaltenen astrologischen Beziehungen. Auch jenseits des Saturn, der der Frauengestalt aus den Augen herausscheint, dessen Embleme das Blatt füllen, nur unterbrochen durch das freundlichere Quadrat des Jupiter, an der Wand hinter der Figur. Aber Saturn, der Stern der Grübelei und doch auch Sammlung, erklärt, obwohl er ebenso der Stern des Unglücks ist, nicht den Grund, in den Melancholia blickt. Sammlung ist nur im Auge der Figur, vielleicht in der Kugel des Vordergrunds, vielleicht sogar im schlafend gekrümmten Hund, doch nicht im Ensemble der Gegenstände, noch im Objekt, worauf die Figur blickt. Dieses Objekt selber ist nicht auf dem Bild, doch gerade seine völlig ungesammelte Beschaffenheit ist vom Ensemble angedeutet. Treffend wurde von Dehio aufs Dissolute dieses Interieurs hingewiesen: der Zirkel ruht müßig in der Hand, zerstreutes, gramseliges Licht liegt auf zerstreuten Gegenständen, die Ordnung, welche sonst Gelehrtenstuben des sechzehnten Jahrhunderts auszeichnet, ist völlig fern, kein größerer Gegensatz als zwischen diesem Ensemble und dem aufgeräumten des Blatts »Hieronymus im Gehäus«. Das eben macht: Dürers Blatt »Melancholia« zeichnet, mit astrologischen Hilfsmitteln, die Angst als die Berührung mit einem möglichen Abgrund, der nicht einmal einen
Boden hat, auf dem das Fallen zerschellt. Das Blatt zeichnet Stupor, worin eine in dauerndem Jetzt eröffnete Verzweiflung starrt; Dürers «Melancholia« ist so das unschätzbare Dokument negativen Staunens, gerade ohne Spuk und Hölle, selbst ohne die Bestimmtheit Saturn. Auch im Negativen gibt es also Gestalten der unkonstruierbaren, der absoluten Frage, es gibt unerträgliche Augenblicke des Staunens. Sie sind sinngemäß verwischter als dessen positive Beschaffenheiten, denn sie sind nur darin präzis, daß sie radikal unbestimmtes Grauen bedeuten, am Ort des Abgrunds. Freilich: der Abgrund ist nicht allein vorhanden an diesem Ort, das Gorgonische ist selbst in der Melancholia nicht allein auf der Welt, sondern außer dem Stupor des Staunens gibt es eben eine Hiero- /(352) nymus-Ruhe des Staunens, und diese zeigt intentional den anderen Ort des noch Offenen an. Denn der Gesichtertausch, der »Gegensinn der Urworte«, der bereits in allen radikalen Affektzuständen, besonders in den Erwartungsaffekten zu sehen war, fehlt im radikalen Staunen am wenigsten. Daher oft der gleiche Anlaß, welcher das negative Staunen hervorruft, Glück als das Positivum des Staunens hervorzurufen vermag. Und auch hier ist der Ort allemal das Jetzt, doch nicht als blutiger Spalt im Dunkel des Jetzt und des in ihm Befindlichen, sondern Hoffnung fängt an zu blühen, beim Einschlag der positiven Symbolintention in dieses Dunkel, rätselhaft an Unscheinbarem bestätigte. Das Element dieses positiven Staunens ist der ruhemächtige Augenblick, jener, wo eine sonst ganz gleichgültige Wahrnehmung oder ein Bild das Existierend-Intensive glücklich erschüttert und-stellt. Tolstoi spricht im »Tod des Iwan Iljitsch« von Stauden im Schneesturm, Sturm und Kälte herrschten lebensfeindlich, die Landschaft selber lag in äußerster Verlassenheit; dennoch oder deshalb erschien, in einem unsäglichen Nebenbei, an dieser Landschaft plötzlich Heimkehr und Antwort, zentraler als an jeder Apotheose. Tolstoi verbindet sogar das kleine, fast lächerliche zentrale Nebenbei der Stauden im Schneesturm durchaus mit den seltenen großen Augenblicken, worin Menschen, meist im Moment des Tods, Ein und Alles aufgeht, aufzugeben scheint. Ein Bogen zieht zu dem Erlebnis des tödlich verwundeten Andrej Bolkonskij auf dem Schlachtfeld von Austerlitz, der den Sternhimmel erblickt wie nie zuvor, auch zu dem Einheitserlebnis von Karenin und Wronski am Sterbebett Annas;-aber freilich auch: diese Unio mystica mit Sinn, Ewigkeit, Ganzheit ist wieder viel zu groß und zu bestimmt, viel zu verabredet in ihrem theologischen Gegenstand, um gegen die Bescheidenheit des Abseitigen, nirgends Formulierten anzukommen. Das Haus steht in allen herkömmlich religiösen Erfahrungen als bereits wirklich, gleich als läge es nur an der Blindheit der Menschen, es nicht zu sehen, nur an der Schwäche des Fleischs, nicht einzutreten. Dennoch ist der Bezug zu den unscheinbaren Symbolintentionen unvermeidlich, sie sind in allen diesen Betroffenheiten enthalten wie Keime eines Summum bonum, eines absolut menschlich-adäquaten Da. Das so sich kundgebende Da jedoch /(353) steht in bloßer realer Möglichkeit, und sämtliche positiven Symbolintentionen rufen nur sein Zeichen im Menschen hervor, dieses allerdings; sie rufen den verständlich-unverständlichen Namen der guten Existenz, in antizipierter Stille. Und ebenso rufen sie ihn in zentraler Abseitigkeit, dicht neben der Angst-Betroffenheit, mit ebenso jäher, ebenso unentschiedener Konzentration. Utopie des Endes rührt den Menschen in solch objektivem, zugleich objekthaftem Staunen an; wobei ein Inhalt des Grauens durchaus in den des Wunderbaren verwoben sein kann. Als Zeichen der Paradoxie des Wunderbaren oder eben der Noch-Nicht-Bestimmtheit, Noch-Nicht-Entschiedenheit, die dem Endcharakter des Eigentlichen und überhaupt der Tendenz zukommt. Hier überall ist diese Adäquatheit (die Naturalisierung des Menschen, die Humanisierung der Natur) noch
offen: nicht nur ihrem erst künftigen Eintritt nach, sondern auch ihrem noch unfixierbaren, durch einen Sprung über jedes bis jetzt Gewonnene hinausliegenden Inhalt nach. Dergleichen trägt sich im eigenen Jetzt nur zu, weil es am Quell von allem sich zuträgt. Und in dem Quell ist eine Mündung angelegt, ob sie erreicht wird, ist eine andere Frage. Aber die Mündung selber ist als lebende Frage allem vorgesetzt, als die nach dem Überhaupt, als die des noch nicht vorhandenen Überhaupt selbst. Unkonstruierbare Frage und ihr Staunen wurden oben definiert als der in sich selbst einschlagende Blitz des letzt Real-Möglichen, den Kern der Latenz betreffend; indem das Real-Mögliche so in sich selbst einschlägt, reicht es sich die Hand zu einem Anhalt, hört es auf, endlos zu sein. Und dieser Anhalt geschieht eben am Treiber des Real-Möglichen selbst: die überhelle Betroffenheit des Staunens vor aufblitzenden Momenten und Signaturen der Adäquation hat daher genauestens Bezug zum Daß des Existierens in der Schlafkammer des gelebten Augenblicks. Wie also das Dunkel des gelebten Augenblicks den einen Pol des antizipierenden Bewußtseins, der antizipatorischen Weltbeschaffenheit selber darstellt, so das Realstaunen mit der offenen Adäquatheit als Inhalt den anderen; und sie ziehen sich heftig an, die Symbolintention des Überhaupt und Omega weist auf das Dunkel des Alpha oder der nächsten Nähe. Es ist der im Dunkel des gelebten Augenblicks immer noch trei- /(354) bende und immer noch verborgene Quell oder Anfang der Welt, der in den Signaturen seiner Mündung sich erstmalig faßt und löst. Nur antizipierend faßt und löst, an ganz schwachen, ganz kleinen Zeichen: der Weltknoten, der nirgends anders als im unmittelbaren Daß des Existierens steckt, wird ebenso nur durch intensivste Nähe zu dieser immanentesten Daß-Intensität, durch Evidenzen in Nähe entwirrt. Gerade das dermaßen allernächst Unscheinbare, die feine Signatur dieser Evidenzen ist das einzige, was von der früheren vermeintlichen Götternähe geblieben ist, ja was in ihr, soweit sie ein Ens perfectissimum zu enthalten schien, allemal den Kern ausgemacht hat. Die großen Vor-Scheine der echten Mystik bleiben als solche in experimentierender Geltung, denn was auch in ihnen als letzte Symbole, als Real-Symbole erschienen war, hatte Anschluß an feine Signatur und nahm sie auf. Hier steht der Vor-Schein des Andante, ja der Idylle als Finale, mit jenem Tao der Welt, das Laotse ohne Geschmack nennt, und das deshalb den durchdringendsten Geschmack hat. Ruhe, Tiefe war allemal in diesem Unscheinbaren fundiert und ist als bezeichenbare geblieben: »Aber nicht, als ob das geheime Fach in jedem Objekt noch große Entrollungen und Dokumente enthalten müßte wie in früheren Zeiten, als eine riesenhafte Emballage noch mit allerTiefe mitgegeben war und dieser Götter, Himmel, Mächte, Herrlichkeiten, Throne - als wesentlich gehalten wurden. Sondern schlafend, lautlos kam Odysseus nach Ithaka, gerade nach Ithaka kam er schlafend, jener Odysseus, der Niemand heißt, und in jenes Ithaka, das eben die Art sein kann, wie diese Pfeife daliegt oder wie sich sonst ein Unscheinbarstes plötzlich gibt und das stetig Gemeinte sich endlich anzublicken erscheint. So fest, so sehr unmittelbar evident, daß ein Sprung ins Noch-Nicht-Bewußte, ins tiefer Identische, in die Wahrheit und das Lösewort der Dinge getan ist, der nicht zurückgeht; daß mit der plötzlich letzten Bedeutungsintention des Beschauers am Objekt zugleich das Gesicht eines noch Namenlosen, das Element des Endzustands, allenthalben eingebettet, in der Welt auftaucht und diese nicht mehr verläßt« (Ernst Bloch, Geist der Utopie, 1923, S.248). Der Donner, der glaubt, daß er noch das Letzte und sein erscheinender Ausdruck sei, ist dekadent geworden; denn das Endgültige ist lautlos und einfach. Daß /(355) aber der Endzustand auch im unscheinbarsten Staunen, vor
und hinter jedem Vor-Schein, noch nicht gestellt ist, das erwies sich an der ebenso negativen wie positiven Utopie, wie sie an diesem Ende aufgeht und eben in ihrem Letzten noch nicht Wirklichkeit geworden ist, weder als negative des Pessimum und seines Nichts noch als positive des Optimum und seines Alles. Zwischen beiden besteht selbst im unbedingten Staunen noch das gefährliche Ineinander einer letzthin unentschiedenen Alternative, und sie besteht objekthaft im Mündungsproblem der Welt. Doch ebenso freilich - und das ist auch ihrer Aussicht nach das gewaltige Plus der Hoffnungs-Betroffenheit - ebenso hat das Optimum des Zielinhalts die Offenheit des weiterwährenden, bis jetzt keineswegs niedergeschlagenen Geschichtsprozesses für sich: noch ist nicht allerTage Abend, noch hat jede Nacht einen Morgen. Auch die Niederlage des erwünscht Guten schließt seinen künftig möglichen Sieg solange in sich ein, als in Geschichte und Welt nicht alle Möglichkeiten des Anderswerdens, Besserwerdens erschöpft sind; als eben das Real-Mögliche mit seinem dialektisch-utopischen Prozeß noch nicht zu Ende fixiert ist. Als noch Wunsch, Wille, Plan, Vor-Schein, Symbolintention, Chiffer des Einen-Gemeinten im Prozeß Raum haben, ja im Prozeß virtuelle Paradiese bilden. Und die letzte Symbolintention bleibt eben die heimathafte der unkonstruierbaren Frage des «Verweile doch, du bist so schön« in seinem Optimum. Die Invariante dieser Richtung führt am Schluß, wie jetzt spruchreif wird, auf den einzigen Archetyp, der nichts Archaisches an sich hat. Das ist: auf den rein utopischen Archetyp, der in der Evidenz der Nähe wohnt, auf den des Summun bonum als ein noch unbekanntes, allüberbietendes. Der Archetyp: höchstes Gut ist der Invarianzinhalt des glücklichsten Staunens, sein Besitz wäre der, welcher verwandelt im Augenblick und eben als dieser Augenblick, zu seinem völlig gelösten Daß. Der Archetyp des höchsten Guts ist deshalb nicht archaisch, nicht einmal historisch, weil es keine einzige Erscheinung bereits gegeben hat, die ihm sein Bild auch nur annähernd erfüllt hätte. Noch viel weniger kehrt er, mit Platons Anamnesis, zum Unvordenklichen einer Vollkommenheit zurück, um an ihr sein Optimum zu füllen. Wohin dieser Archetyp des unkonstruierbaren /(356) Glücks zurückkehrt, das ist einzig der selber völlig unerschienene Ursprung, in den er einkehrt und den er, durch sein Omega, erst zum Alpha bringt, zur erscheinenden Genesis von Alpha und Omega zugleich. Sämtliche Gestalten der unkonstruierbar-absoluten Frage, in ihrem hellen Teil, umkreisen oder umgeben daher das Optimum dieses Einschlags ins Gelungensein des Omega, worin das Rätsel-Alpha des Daß oder Weltanstoßes als gelöst hervortritt. Summum bonum wäre völlig gelungene Erscheinung des Gelungenen: daher ist es ebenso aus der Erscheinung ausgetreten; daher ist es selber unscheinbar, ein utopisches Summum jener unscheinbaren Symbolintentionen, an denen jede Erscheinung in die Sache selbst übergeht. Der Inhalt der gründlichsten Wünschbarkeit, den das höchste Gut bezeichnet, ist zwar noch genauso im gärenden Inkognito wie dasjenige in den Menschen, was diesen Inhalt wünscht. Doch sein intendiertes Alles bezeichnete allemal die Spitze der Träume vom besseren Leben, sein utopisches Totum regiert durchgehends die Mündungs-Tendenzen im gut betriebenen Prozeß. Das Nicht im Ursprung, das Noch-Nicht in der Geschichte, das Nichts oder aber das Alles am Ende Was an sich und unmittelbar als Jetzt vor sich geht, ist so noch leer. Das Daß im Jetzt ist hohl, ist nur erst unbestimmt, als ein gärend Nicht. Als das Nicht, womit alles ansetzt und beginnt, um das jedes Etwas noch gebaut ist. Das Nicht ist nicht da,
aber indem es derart das Nicht eines Da ist, ist es nicht einfach Nicht, sondern zugleich das Nicht-Da. Als solches hält es das Nicht bei sich nicht aus, ist vielmehr aufs Da eines Etwas treibend bezogen. Das Nicht ist Mangel an Etwas und ebenso Flucht aus diesem Mangel; so ist es Treiben nach dem, was ihm fehlt. Mit Nicht wird also das Treiben in den Lebewesen abgebildet: als Trieb, Bedürfnis, Streben und primär als Hunger. In diesem aber meldet sich das Nicht eines Da als ein Nicht-Haben, und zwar durchaus als ein Nicht, nicht als ein Nichts. Weil das Nicht Anfang zu jeder Bewegung nach etwas ist, so ist es eben darum keineswegs ein Nichts. Vielmehr: Nicht und Nichts müssen zunächst so weit voneinander gehalten werden wie möglich; das /(357) ganze Abenteuer der Bestimmung liegt zwischen ihnen. Das Nicht liegt im Ursprung als das noch Leere, Unbestimmte, Unentschiedene, als Start zum Anfang; das Nichts dagegen ist ein Bestimmtes. Es setzt Bemühungen voraus, lang ausgebrochenen Prozeß, der schließlich vereitelt wird; und der Akt des Nichts ist nicht wie der des Nicht ein Treiben, sondern eineVernichtung. Auf das Nicht bezieht sich das Dunkel des gelebten Augenblicks, auf das Nichts erst das negative Staunen, genau wie das positive sich auf das Alles bezieht. Das Nicht ist freilich Leere, aber zugleich der Trieb, aus ihr herauszubrechen; im Hunger, in der Entbehrung vermittelt sich die Leere gerade als horror vacui, gerade also als Abscheu des Nicht vor dem Nichts. Und auch an diesem Punkt, besonders an diesem, zeigt sich, daß kategoriale Grundbegriffe (Gründlichkeiten) einzig durch die Affektlehre hindurch zugänglich gemacht werden. Denn nur die Affekte, nicht die affektlosen, vielmehr affektlos gemachten Gedanken reichen so tief in die ontische Wurzel, daß an sich so abstrakt scheinende Begriffe wie Nicht, Nichts, Alles samt ihren Unterscheidungen mit Hunger, Verzweiflung (Vernichtung), Zuversicht (Rettung) synonym werden. Diese Begriffe erhellen so die Grundaffekte, wie die Grundaffekte die ontologischen Grundbegriffe, indem sie ihnen den intensiven Stoff kenntlich machen, dem sie entspringen, durch den sie brennen, und den sie erhellen. Ontologische Grundbegriffe: hier werden also das Nicht, das Noch-Nicht, das Nichts oder aber das Alles als diejenigen ausgezeichnet, welche in abgekürztester Terminologie den intensiv sich bewegenden Weltstoff in seinen drei Hauptmomenten kenntlich machen. Darum bezeichnen diese scharf-gedrängten Grundbegriffe Realkategorien, nämlich Gebietskategorien der Realität durchaus; denn ihre konzise Ontologie bildet den objektiven Affektgehalt, also Intensitätsgehalt in den drei Hauptmomenten der Prozeßmaterie aufs Angenähertste ab. Dergestalt aber, daß das Nicht, wie es sich nicht bei sich aushält, den intensiven, schließlich interessehaften Ursprung (das Daßhaft-Realisierende) von allem charakterisiert. Das Noch- Nicht charakterisiert die Tendenz im materiellen Prozeß, als des sich herausprozessierenden, zur Manifestierung seines Inhalts tendierenden Ursprungs. Das Nichts oder aber das Alles charakterisiert die Latenz in dieser /(358) Tendenz, als zu uns negative oder positive, vorzüglich am vordersten Frontfeld des materiellen Prozesses. Auch diese Latenz aber bezieht sich wieder nur auf den Inhalt des intensiven Ursprungs, das ist, auf die Füllung des in seinem Hunger Gemeinten, auf die einschlagende Befriedigung dieses Interesses. Weiter, wie bemerkt: im Hunger, in der Entbehrung vermittelt sich die Leere (der Nullpunkt des unmittelbaren Daß des Existierens) gerade als horror vacui. Dieser horror vacui ist der originäre Daßund Setzungsfaktor, der intensive Verwirklichungsfaktor, der die Welt in Gang bringt und in Gang hält, sie als Experiment der Ausschüttung ihres Daß-Inhalts in Gang hält. Der Start zum Anfang allen Da-Seins liegt hierbei allemal in dem mit sich noch unvermittelten Dunkel selbst, nämlich im Dunkel des Jetzt oder gerade gelebten Augenblicks; das Fiat aller Weltbewegungen geschieht unmittelbarst in diesem
Dunkel. Und das Dunkel ist eben kein weit entferntes, kein unvordenkliches am Anfang der Zeiten, als einem längst passierten und mit Fortsetzung oder Kosmos überdeckten Anfang. Sondern konträr: das Dunkel des Ursprungs bleibt als unmittelbares unverändert in der nächsten Nähe oder im währenden Daß jedes Existierens selbst. Dieses Daß ist in jedem Augenblick als noch ungelöst; die Rätselfrage, warum überhaupt etwas ist, wird vom unmittelbaren Existieren selber als seine eigene gestellt. Ihr Ausdruck ist die in und durch jeden Augenblick erneute Schöpfung; die Welt als Prozeß ist das Experiment zur Lösung der immer und überall treibenden Ursprungsfrage. Oben wurde dies Ungelöste als der Weltknoten bezeichnet, der im ungelösten Daß des Existierens steckt; so erschafft sich die Welt in ihrem unmittelbaren Da-Sein jeden Augenblick neu, und diese fortgesetzte Schöpfung erscheint ebenso als Erhaltung der Welt, nämlich des Weltprozesses. Der Start zum Anfang und das punktuelle des Starts, das Ursprung und Weltgrund heißt, befindet sich in eben jenem Jetzt und Hier, das noch nicht aus sich hervorgetreten ist, also sich überhaupt noch nicht von seiner Stelle bewegt hat. Dieser Ursprung im strengen Sinn ist selbst noch nicht entsprungen, aus sich entsprungen; sein Nicht also ist zwar genau jenes, das die Geschichte letzthin treibt und Geschichtsprozesse zu seiner Bestimmung setzt, aber selber noch nicht /(359) geschichtlich geworden ist. Der Ursprung bleibt das durch die Zeiten sich hindurchbewegende und ebenso aus sich noch nicht herausbewegte Inkognito des Kerns. Jeder gelebte Augenblick wäre mithin, wenn er Augen hätte, Zeuge des Weltanfangs, der in ihm immer wieder geschieht; jeder Augenblick ist, als unhervorgetreten, im Jahr Null des Weltanfangs. Der Anfang geschieht in ihm solange immer wieder, bis das unbestimmte Nicht des Daßgrunds durch die experimentellen Bestimmungen des Weltprozesses und seiner Gestalten entweder zum bestimmten Nichts oder zum bestimmten Alles dem Inhalt nach entschieden ist; jeder Augenblick enthält mithin ebenso, als potentiell, das Datum der Weltvollendung und die Data ihres Inhalts. Indem das Nicht in seine Was- oder Inhalts-Objektivierungen hineingerät, verändert es sich, soweit es ein vermitteltes wird, allerdings unaufhörlich, denn es steht nun selber im zeiträumlichen Prozeß, den es setzt und in dem es seinen Inhalt experimentell ausschüttet. Die Schöpfung, die es ständig neu setzt, ist nun nicht Erhaltung im Sinn des Gewordenseins, sondern Erhaltung im Sinn des Werdens, das heißt des Experimentierens auf den Inhalt des Daß-Kerns. Und die ständig neue Setzung vermittelt sich historisch zu besonders ausgezeichneten Punkten: zum Durchbruch eines historisch Neuen. Eben indem der gründlichste Inhalt des Existierens, als noch nicht manifestiert, historisch fort und fort herausgetrieben werden muß, entwickelt der Prozeß der Herausbildung immer wieder Fronterscheinungen dieses Ungekommenen, also das Noch-nie-so-Gewesene oder Novum am Horizont, in jenem, wohin er einströmt, wohin er schließlich einsinnig zu münden tendiert. Die ganze mannigfaltige Fülle in dieser Recherche des Kerns nach seiner Frucht ist freilich, samt dem immer wieder möglichen Novum, ebenso fortdauernder Mangel, nämlich an Einem, das noch nicht gefunden ist; weshalb die zeiträumliche Wirkungssphäre mit Scherben und Schalen ohne Zahl, mit wilden, saurierhaften Ausgeburten nicht minder bedeckt ist, wie sich fortschreitende Anstalten zum Einen, Guten, Lösenden zeigen. Derart zeigt sich aber auch das Nicht - in diesem seinem Fortgang genommen - zugleich unweigerlich als Noch-Nicht: es geht geschehend-geschichtlich als dieses auf. Das Nicht als Noch-Nicht zieht quer durchs Gewordensein und /(360) darüber hinaus; der Hunger wird zur Produktionskraft an der immer wieder aufbrechenden Front einer unfertigen Welt. Das Nicht als prozessuales Noch-Nicht macht so Utopie zum Realzustand der
Unfertigkeit, des erst fragmenthaften Wesens in allen Objekten. Daher ist die Welt als Prozeß selber die riesige Probe aufs Exempel ihrer gesättigten Lösung, das ist, auf das Reich ihrer Sättigung. Das Nicht äußert sich, wie bemerkt, als Hunger und was sich tätig anschließt. Als Meinen und Intendieren, als Sehnsucht, Wunsch, Wille, Wachtraum, mit allen Ausmalungen des Etwas, das fehlt. Aber das Nicht äußert sich ebenso als die Unzufriedenheit mit dem ihm Gewordenen, daher ist es, wie das Treibende unterhalb alles Werdens, so das Weitertreibende in der Geschichte. Das Nicht erscheint in jeder bisherigen Bestimmung zum Etwas als die unberuhigte Verneinung, welche besagt: dieses Prädikat ist doch nicht die letzthin adäquate Bestimmung seines Subjekts. So eben macht sich das Nicht im Prozeß als aktivutopisches Noch-Nicht kenntlich, als utopisch-dialektisch weitertreibende Negation. Als eine in der positiven Setzung selbst erwachsende Verneinung, und zwar letzthin vom adäquaten Endzustand des Alles her, worin das Nicht einzig zur Ruhe käme, nämlich zum positiven Austrag des in ihm Gemeinten. Derart ist das Noch-Nicht freilich auch zerstörend oder der auflösende Widerspruch in allem Gewordensein, gemäß der materialistischen Dialektik. Und es ist dieser Widerspruch genau deshalb, weil jede Stufe der Bestimmung für das dadurch Bestimmte und Großgezogene wieder zur Schranke werden muß, mit anderen Worten: weil kein Gewordensein in der Tendenz zum Alles bereits ein Gelungensein darstellt. Der Widerspruch zum Gewordensein äußert sich im Subjekt wie im Objekt des Prozesses, als den zwei Seiten der gleichen bewegten Realität. Im bewußten oder Menschensubjekt entsteht der subjektive Widerspruch zur unzureichenden oder hemmend gewordenen Gewordenheit, im Objekt entspricht ihm der objektive Widerspruch, welcher im Gewordenen selbst auftritt, als die herangereifte Tendenz zur nächstfälligen, mit den Produktivkräften vermittelteren Daseinsform. Das Noch-Nicht wird hierbei desto bestimmter, seine Tendenz aufs Erfüllende desto stärker, je mehr die Aufgaben, die /(361) es sich stellt, objektiv lösbare geworden sind. Nun aber muß weiterhin festgehalten werden und ist höchst entscheidend: das Nicht als bloßes Noch- Nicht allein könnte subjektiv wie objektiv das inadäquate Gewordensein doch nur beunruhigen, es könnte es nicht in der angegebenen Weise immanent sprengen. Sprengung ist Vernichtung: und der Akt des Vernichtens per definitionem wie der Sache nach ist nur vom umgehenden Nichts beziehbar. Das Nicht, wie es sein Alles sucht, geht daher - im Stirb und Werde - ebenso eine Verbindung mit dem Nichts ein, wie es eine mit dem Alles hat. Bereits Vergehen, wie gar Vernichtung, wird nur dadurch konstituiert, daß im Wechsel des Prozesses und als dieser Wechsel ebenso das Nichts umgeht oder die ständig drohende Vereitlung. Desgleichen aber geht im Vergehen ein - wie immer noch unzureichendes - Alles um, als jenes, welches relative Gelungenheit, vor allem in Meisterwerken, möglich macht: sonst gäbe es von der Vergangenheit überhaupt nur Vergessen und nicht auch das partial Gerettete und Rettbare, welches Geschichte und Nachreif e heißt. Die Verbindung des Nicht und Noch-Nicht mit dem Alles ist eine des Ziels, sie wurde angegeben als diejenige, welche besagt und erkennen läßt: dieses Prädikat ist doch nicht die letzthin adäquate Bestimmung eines Subjekts; oder konkret: die Menschen wie die ganze Welt befinden sich rebus sic stantibus immer noch in der Vorgeschichte, im Exil. Die Verbindung des Nicht und Noch-Nicht mit dem Nichts dagegen ist keine des Ziels, wohl aber ist sie eine des Gebrauchs, den die dialektische Negation mit dem Nihil der Vernichtung anstellt, nämlich im Sinn der Vernichtung inadäquaten Gewordenseins durch immanente Sprengung. Dieser dialektische Gebrauch des Nichts verdeckt in keiner Weise den angegebenen
Grundunterschied zwischen Nicht und Nichts, zwischen dem Start und Horror vacui hier, dem möglichen Definitum der Vernichtung und Mors aeterna dort. Die dialektische Gebrauchbarkeit des Nichts verdeckt auch nicht die gänzlich antihistorische Vor-Erscheinung, welche das Nichts als schlechthinnige Zerstörung hat, als eine in der Geschichte immer wieder aufgehende Mördergrube; denn gewiß ist in dieser Grube gerade ein Stück Geschichte, ein Stück Licht im Aufgang vernichtet. Von der dezidierten Mächtigkeit, dezidierten Vor-Erscheinung eines solchen Nichts gibt es keine /(362) Dialektik, das heißt, keine fortschreitende Negation der Negation: Vernichtungen wie der Peloponnesische Krieg, der Dreißigjährige Krieg sind bloß Unglück, nicht dialektische Wendung; die Mortifikationen Neros, Hitlers, alle diese satanisch wirkenden Ausbrüche gehören zum Drachen des letzten Abgrunds, nicht zu den Beförderungen der Geschichte. Anders jedoch wirkt eben die Verbindung des Gebrauchs, welche an nicht so dezidierten Erscheinungen des Nichts, gar an den der Sache immanenten Negationen statthat, mithin an solchen, worin Geschichte weitergeht. Dann muß das Nichts durchaus zum Besten dienen, und der Akt der Vernichtung wird als Negation, vor allem als Negation der Negation produktiv. Derart besteht Dialektik durch Nichts darin, daß alles noch ungelungen Seiende den Keim seines Vergehens in sich selbst trägt, wodurch eben zugleich der Beharrung im Vorläufigen der jeweils erreichten Gewordenheit der Krieg erklärt wird. Dieser Krieg muß sich der steten Ungenügsamkeit des Noch-Nicht verbinden und ihm zu Diensten sein: Inadäquates wird aus dem Weg zum Alles fortgeräumt, geht aus dem Gewordensein ins Nicht-Mehr-Sein des Orkus. Ja, die Dialektik durch Nichts bezieht sich sogar auf den ungeheuren Komplex des Gewordenseins, der sich nicht als das Alles, sondern als bloßes All oder Universum aus dem Prozeß heraushebt, auch in allen rein kosmischen Perspektiven der Philosophie, von Parmenides bis Spinoza, dem Alles sich substituiert. Das All ist das erst astralmythische, dann pantheistische, dann mechanistische Substitut des Alles und steht an seinem Platz als Inbegriff der gegebenen Welt und des Genügens an ihr. Es erscheint so als das Ganze der Bewegung, das sich nicht bewegt, als Harmonie des Gewordenseins, worin die Differenzen des Werdens und das Defizit der Einzelheiten, wie nach dem Gesetz der großen Zahl, sich ausgleichen; eine entronnene, eine positive Stabilität. Aber die Dialektik durch Nichts hat sogar noch Weltvernichtung in sich einbezogen, hat dem Universum Vorläufigkeit testiert, mit Gebrauch des Nichts. Der physikalisch als Kältetod, mythologisch ganz umgekehrt als Weltbrand bezeichnete Orkus hat physikalisch die Geburt eines anderen Alls oder Universums in sich, utopisch sogar die Geburt eines total erfüllenden Alles. Neuer Himmel, neue Erde, die Logik der Apokalypse /(363) setzen die dialektische Umfunktionierung des sonst satanisch gewerteten Vernichtungsfeuers voraus; jeder Advent enthält den Nihilismus als verwendet-besiegten, den Tod als verschlungen in den Sieg. Die Vereitlung und Vernichtung ist zwar die ständige Gefahr jedes Prozeß-Experiments, der ständige Sarg neben jeder Hoffnung, sie ist aber auch das Mittel, welches inadäquate Statik bricht. Und nicht zuletzt mischt sich Dialektik durch Nichts in sämtliche bedeutende Positivitäten ein, hier nicht als ihre Gefahr, sondern als ihre wichtige Folie, als Erschwerung ihrer Evidenz. In dieser Erschwerung ist die Schwärze zu Hause, das einbezogene Element von Rauhigkeit, von Nicht-Geheurem, welches auch in höheren Regionen bloßes Rosenrot verhindert. Die Schwärze verhindert Verflachung, soweit sie durch billigen Glanz, durch faule Apotheose erzeugt wird; an deren Stelle wird gerade durch Nicht-Glätte, durch Rauhigkeit das Tiefe wie das Erhabene getroffen. Ist das Schaudern der Menschheit bestes Teil, so ist genau das
Nichts zu aller Glätte, zu aller verabredeten Lösung im Schauder der Erhabenheit gedacht und mitverschlungen. So ist das Nihil, wohin Dürers Melancholia blickt, auch ein Gebrauchs- und Bildungselement des positiven Staunens oder der Alles-Perzeption im zuversichtlichen Sinn. Ja, erst wenn mit dem riesig heraufgezogenen Bewußtsein des Nichts in der Welt, gar in der scheinbaren Überwelt Ernst gemacht wird, tritt die zentrale Unscheinbarkeit einer Landung, eines Alles hervor, das bisher vom Kosmosjubel oder auch von Thronen, Mächten, Herrlichkeiten verdeckt worden war. Dadurch hat der vorgerückte Zustand des Nichts, der in der Geschichte immer stärker ausbrechende und nicht etwa von ihr steigend Zugedeckte, der Dialektik zum Alles selber konstitutive Macht gegeben. Utopie dringt vor, im Willen des Subjekts wie in der Tendenz-Latenz der Prozeßwelt; hinter der zersprungenen Ontologie eines angeblich erreichten, gar fertigen Da. So ist der Weg des bewußten Realitätsprozesses gerade steigend einer des Verlustes des fixierten, gar hypostasierten Statik-Seins, ein Weg des steigend perzipierten Nichts, freilich dadurch auch der Utopie. Diese erfaßt nun gänzlich das Noch-Nicht wie die Dialektisierung des Nichts in der Welt; sie unterschlägt im Real-Möglichen aber ebensowenig die offene Alternative zwischen absolutem /(364) Nichts und absolutem Alles. Utopie ist in ihrer konkreten Gestalt der geprüfte Wille zum Sein des Alles; in ihr also wirkt nun das Seinspathos, das vordem einer vermeintlich bereits fertig gegründeten, gelungen-seienden Weltordnung, gar Überweltordnung zugewandt war. Aber dies Pathos wirkt als eines des Noch Nicht-Seins und der Hoffnung aufs Summum bonum darin; und: es sieht, nach allem Gebrauch jenes Nichts, in dem die Geschichte noch weitergeht, eben von der Gefahr der Vernichtung, selbst vom immer noch hypothetisch möglichen Definitivum eines Nichts nicht weg. Auf die Arbeit des militanten Optimismus kommt es hierbei an: wie ohne sie Proletariat und Bourgeoisie in der gleichen Barbarei untergehen können, so kann ohne sie im Weiteren wie Tieferen immer noch Meer ohne Ufer, Mitternacht ohne Ostpunkt als Definitivum drohen. Diese Art Definitivum bezeichnete dann das schlechthinnige Umsonst des Geschichtsprozesses, und es ist, als noch nicht geschehen, so wenig ausgeschlossen wie, im positiven Sinn, das Definitivum eines allerfüllenden Alles. Zuletzt also bleibt die wendbare Alternative zwischen absolutem Nichts und absolutem Alles: das absolute Nichts ist die besiegelte Vereitlung der Utopie; das absolute Alles - in der Vor-Erscheinung des Reichs der Freiheit - ist die besiegelte Erfüllung der Utopie oder das Sein wie Utopie. Triumph des Nichts am Ende ist mythologisch als Hölle, Triumph des Alles am Ende als Himmel gedacht gewesen: in Wahrheit ist das Alles selber nichts als Identität des zu sich gekommenen Menschen mit seiner für ihn gelungenen Welt. Der Daß-Satz: Am Anfang war die Tat, der Alles-Satz: Das Unzulängliche, hier wird's getan - beide unidealistischen Sätze bestimmen den Tendenzbogen der sich qualifizierenden Materie. Unsere Intentions-Invariante darin bleibt: Naturalisierung des Menschen, Humanisierung der Natur - als der mit den Menschen total vermittelten Welt. Utopie kein dauernder Zustand; also doch: Carpe diem, aber als echtes an echter Gegenwart Das Jetzt als nur flüchtiges ist mit alldem nicht richtig, soll nicht so sein. Aber ebensowenig soll ein endlos hinziehendes Träumen /(365) sein, worin anwesender Genuß erschwert, gar geflohen wird. Ist doch Utopisches letzthin nichts, wenn es nicht auf das Jetzt hinweist und dessen ausgeschüttete Gegenwart sucht. Als echte Gegenwart, nicht mehr als eine aus Jetzt, gerade Vergangenem und dem Zugleich
des umgebenden Raums zusammengestückte. Gewiß, das bloße unmittelbare, vorüberfliegende Jetzt ist zu wenig, es yergeht und weicht dem nächsten, weil noch nichts darin richtig gelungen ist. Daher fühlt Jean Paul Wahres, wenn er sagt: »Gäbe es für das Herz nichts als den Augenblick, so dürftest du sagen, um mich und in mir ist alles leer.« Aber er sagt gegen diese Leere Falsches, wenn er Vergangenheit, selbst Zukunft statt dessen verdinglicht; wenn er sie, auf romantische und idealistische Weise, überhaupt nicht in Gegenwart einrücken lassen will. Wenn er mit echt gefühltem Dunkel des gelebten Augenblicks, doch ebenso mit verabsolutiertem Aufenthalt in Erinnerung, selbst Hoffnung - nicht nur ein noch unzureichendes, schlecht äußerliches Carpe diem, sondern jedes Präsens folgendermaßen herabsetzt: »Da ihr schöne Tage nie so schön erleben könnt, als sie nachher in der Erinnerung glänzen oder vorher in der Hoffnung: so verlangtet ihr lieber den Tag ohne beide; und da man nur an den beiden Polen des elliptischen Gewölbes der Zeit die leisen Sphärenlaute der Musik vernimmt und in der Mitte der Gegenwart gar nichts; so wollt ihr lieber in der Mitte verharren und aufhorchen, Vergangenheit und Zukunft aber - die beide kein Mensch erleben kann, weil sie nur zwei verschiedene Dichtungsarten unseres Herzens sind, eine Ilias und eine Odyssee, ein verlorenes und wiedergefundenes Milton-Paradies - wollt ihr gar nicht anhören und heranlassen, um nur taubblind in einer tierischen Gegenwart zu nisten.« Selbst wo der Zukunft von dem Idealismus Jean Pauls eine völlige Gegenwart und Wirklichkeit zugegeben wird, zeigt sich Herabsetzung dieser Greifbarkeit, folglich Verdinglichung des Strebens, Verewigung der Utopie: «Wenn hinieden, sag ich, das Dichten Leben würde und unsere Schäferwelt eine Schäferei und jeder Traum ein Tag: so würde das unsere Wünsche nur erhöhen, nicht erfüllen, die höhere Wirklichkeit würde nur eine höhere Dichtkunst gebären und höhere Erinnerungen und Hoffnungen - in Arkadien würden wir nach Utopien schmachten, /(366) und auf jeder Sonne würden wir einen tiefen Steinhimmel sich entfernen sehen, und wir würden seufzen wie hier« (Titan, 45. Zykel, Schluß). Dergleichen ist allerdings nur melancholisch gesagt und nicht mit Zustimmung, auch ergeht in der prophezeiten Endlosigkeit der Sehnsucht eine Warnung gegen jenen Utopismus, der ein Arkadien als gesteigerte Sommerfrische oder auch als resignierte Schäferei für den letzten Wunschinhalt hält. Doch wo von vornherein, wie im Fall Arkadien, nur Flucht- und müder Kontrastwunsch antreiben, läuft die Flucht allerdings leicht weiter - eben aus Arkadien sich wieder heraussehnend, herausseufzend. Womit nun freilich Jean Paul selber, als der mit Goethe und Gottfried Keller größte Meister der Anschaulichkeit in deutscher Sprache und des goldenen Überflusses der Welt, dem verewigt Utopischen schließlich absagt. Auch ist es das Politikum des Demokraten in ihm, das sich, um der »Dämmerungen für Deutschland« willen, von bloßer romantischer Traum-Vergaffung ins Nicht-Jetzt am Ende auch losreißt. Jean Paul selber gibt darum einem Willen zum Präsens, zum utopischen Präsens das letzte Wort: »Die Gegenwart ist an die Vergangenheit gefesselt wie sonst Gefangene an Leichen, und Zukünftiges zerrt am anderen Ende; aber einst wird sie frei.« Nichts widerstrebt derart gerade utopischem Gewissen mehr als Utopie mit unbegrenzter Reise; Unendlichkeit des Strebens ist Schwindel, Hölle. Wie statt der immer wieder vorüberfliegenden Augenblicke oder bloßen Schmeckpunkte ein Anhalt sein soll, so soll auch statt der Utopie Gegenwart sein und in der Utopie wenigstens Gegenwart in spe oder utopisches Präsens; es soll zu guter Letzt, wenn keine Utopie mehr nötig ist, Sein wie Utopie sein. Der wesentliche Inhalt der Hoffnung ist nicht die Hoffnung, sondern indem er eben diese nicht zuschanden werden läßt, ist er abstandslos Da-Sein, Präsens. Utopie arbeitet nur um der zu erreichenden Gegenwart willen,
und so ist Gegenwart am Ende, als die schließlich intendierte Abstandslosigkeit, in alle utopischen Abstände eingesprengt. Gerade weil utopisches Gewissen sich mit Schlecht-Vorhandenem nicht abspeisen läßt, gerade weil das weitest reichende Fernrohr notwendig ist, um den wirklichen Stern Erde zu sehen, und das Fernrohr heißt konkrete Utopie: gerade deshalb intendiert Utopie nicht einen ewigen /(367) Abstand von dem Objekt, mit dem sie vielmehr zusammenzufallen wünscht, als mit einem dem Subjekt nicht mehr fremden. Das Daß, weshalb und zu dessen Erhellung die Welt-Odyssee in Fahrt und noch nicht Odyssee des Stilliegens ist, wirft sich nicht ewig in Entwerfen und Prozeß; denn das Intensivum dieses Daß will in seinem Grunde statt endlosem Prozeß einzig knappes Resultat. Ist auch ein stehenbleibendes Anhalten auf dem Unterwegs so schlimm und noch schlimmer als verabsolutiertes Unterwegs selbst, so ist doch jeder Anhalt richtig, in dem das utopische Gegenwartsmoment des Endzustands selber nichtvergessen ist, konträr, in dem es durch Zusammenstimmung des Willens mit dem antizipierten Endzweck (summum bonum) behalten ist. Solche Momente sind in jeder konkreten revolutionären Arbeit, in der Verwirklichung des Proletariats als Aufhebung der Philosophie, in der Aufhebung des Proletariats als Verwirklichung der Philosophie. Sie sind in jeder Artikulierung des unbekannten Selberseins durch künstlerischen Vor-Schein und im Herd aller Artikulierungen der zentralen Frage. Sie sind selbst im Stupor des negativen Staunens, wie erst im Überrieseln des positiven, als einer angeläuteten Landung. Darin ist durchaus utopisches Präsens, eben im Sinn begonnener Aufhebung des Abstands von Subjekt und Objekt, also auch des sich aufhebenden utopischen Abstands selbst. Die Magnetnadel der Intention beginnt sich dann zu senken, denn der Pol ist nahe; der Abstand zwischen Subjekt und Objekt läßt nach, indem der Einheitspunkt vorbewußt dämmert, wo die beiden Pole des utopischen Bewußtseins: dunkler Augenblick, offene Adäquatheit (zur Daß-Intention) auf den Punkt geraten, zusammenzufallen. Daran geht Utopie sinngemäß nicht weiter, sie geht vielmehr in den Inhalt dieser Präsenz hinein, das ist, in die Anwesenheit des Daß-Inhalts, zusammen mit seiner nicht mehr entfremdeten, nicht mehr fremden Welt. Das als solche Anwesenheit, als solch manifestierte Identität Intendierbare steht, wie leider nur zu erweisbar, noch nirgends in einer Gewordenheit, aber es steht unabweisbar in der Intention darauf hin, in der nirgends abgerissenen, und steht unverkennbar im Geschichts- und Weltprozeß selber. Für diesen kam erst recht noch kein Abbruch durch ein entschiedenes Umsonst und Nichts. Darum gibt sich die /(368) Identität des zu sich gekommenen Menschen mit seiner für ihn gelungenen Welt zwar als bloßer Grenzbegriff der Utopie, ja als das Utopissimum in der Utopie und gerade in der konkreten: jedoch dieses Allererhoffteste in der Hoffnung, höchstes Gut genannt, stellt ebenso die Region des Endzwecks dar, an der jede solide Zwecksetzung im Befreiungskampf der Menschheit teilnimmt. Das Alles im identifizierenden Sinne ist das Überhaupt dessen, was die Menschen im Grunde wollen. So liegt die Identität allen Wachträumen, Hoffnungen, Utopien selber im dunklen Grund und ist ebenso der Goldgrund, auf den die konkreten Utopien aufgetragen sind. Jeder solide Tagtraum meint diesen Doppelgrund als Heimat; er ist die noch ungefundene, die erfahrene Noch-Nicht-Erfahrung in jeder bisher gewordenen Erfahrung. 21
TAGTRAUM IN ENTZÜCKENDER GESTALT: PAMINA ODER DAS BILD ALS EROTISCHES VERSPRECHEN
Das erhitzt mir nun die Seele, da wird es immer größer; und ich breite es immer weiter und heller aus; und das Ding wird im Kopf wahrlich fast fertig, wenn es auch lang ist, so daß ich's hernach mit einem Blick, gleichsam wie ein schönes Bild oder einen hübschen Menschen im Geist übersehe und es auch gar nicht nacheinander, wie es hernach kommen muß, in der Einbildung höre, sondern wie gleich alles zusammen. Mozart
Der zärtliche Morgen Desto mehr wird geträumt, je weniger bereits erlebt ist. Vor allem Liebe malt das Ihre stets früher, als sie es hat. Sie stellt sich die Eine, den Einen vage vor, bevor das dadurch liebenswerte Geschöpf leibhaftig aufgetreten ist. Ein Blick, ein Umriß, eine Art zu gehen, wird geträumt, so müßte die Erwählte aussehen, um eine zu sein. Die geliebten Züge schweben bildhaft vor, und der äußere Reiz muß ihnen gemäß sein, sonst kann er nicht als /(369) ein zu liebender zünden. Der äußere Reiz wird also hier, damit er zündet, nicht nur hingenommen, etwa als der erste, der vorgekommen ist, sondern er wird aus innerer Neigung, Vorbereitung als zündender ausgewählt. Das dann Gemeinte, die kommenden Züge der Gestalt werden zwar nicht deutlich gesehen, doch deutlich und auslesend erfragt. Ein erfüllender Schein derer schwebt und schreitet vor, die erwartet werden, selber erwarten. Mit diesem Auge, diesem Umriß kommt ein zu Liebendes den Morgen herauf, steht ein Fernes vor der Tür. Sehr früh haben so manches Mädchen, mancher Knabe diese ihre schwärmerische Wahl getroffen, oft wirkt sie dauernd nach. Zuweilen geschah die Wahl zu Hause, an einzelnen Zügen von Vater und Mutter, zuweilen auf der Straße, zuweilen an einem abgebildeten Gesicht. Vieles bleibt hier inwendig, ein Traum von dem, was man nicht kennt oder was noch nicht erreichbar ist. Der Traum mit dem Bild darin wird lange, ja allein geliebt. Wirkung durchs Porträt Er drückt sich deutlicher aus, wenn er sich in einem Bild selber ansieht. So glaubten Mädchen vor alters, ihren künftigen Mann in der Andreasnacht zu erblicken. Oder die Mädchen gingen zu einer Hexe, die ihnen, nachdem eine ängstliche Neugier sie trunken gemacht hatte, den Bräutigam im sogenannten Erdspiegel zeigte. Käthchen von Heilbronn und Graf Wetter vom Strahl erscheinen einander über Zeit und Raum in der somnambulischen Silvesternacht, Elsa von Brabant sieht in gleicher Entrückung ihren Ritter. Ein Erdspiegel wiederum ist im Zauberspiegel der Hexenküche aufgestellt, mit dem »schönsten Bild von einem Weibe«; selbst Helena im Kaiserpalast erscheint zunächst als dieser Schemen. Dann aber, mit verweltlichter, weit mehr erfahrbarer Magie, tritt das eigentliche Porträt auf, den Willen, gegebenenfalls auch Nicht-Willen durch Bezauberung erotischzwingend. Die Bezauberung reicht vom Schattenriß und der Photographie bis zum stellvertretenden Gemälde der noch nicht gekannten Frau; das Original kann überdies, was die Aura erhöht, von Gefahr umgeben oder selber eine Gefahr sein. Das so entstellende besondere Medium der Liebe wird, wie rechtens, /(370) am ehesten durch ein
Märchen bezeichnet, durch Grimms Märchen vom treuen Johannes: »Nach meinem Tode«, sprach der alte König zum treuen Johannes, «sollst du meinem Sohn das ganze Schloß zeigen, aber die letzte Kammer in dem langen Gang sollst du ihm nicht zeigen, worin das Bild der Königstochter vom goldenen Dache verborgen steht. Wenn er das Bild erblickt, wird er eine heftige Liebe zu ihr empfinden und wird in Ohnmacht niederfallen und wird ihretwegen in große Gefahren geraten.« Der junge König sieht trotz allem das verbotene Gemälde und scheut keine Gefahr, bis er die Geliebte gewonnen hat und heimführt. So entsteht Bezauberung durchs Porträt, und zwar nicht, wie im Analogiezauber, eine, die das Dargestellte treffen soll, sondern eine, die umgekehrt den Beschauer trifft, vom gemalten Objekt her erotisierend. Der Bann einer fernen Sonne trifft, durchs Brennglas des Gemäldes, den Menschen davor, erregt in ihm utopische Unruhe. Diese Art Liebestrank-Wirkung, überreicht durch gemalte Antizipation, ist ausführlicher als bei Grimm dargestellt in der Geschichte des Prinzen Kalaf und der Prinzessin Turandot, aus Tausendundein Tag. Prinz Kalaf will das Bild der gefährlichen Turandot ohne Erregung betrachten, die sieghaften und mörderischen Züge, hofft sogar, dennoch Fehler darin zu entdecken, aber sogleich verfällt er dem Feuer, das aus dem Vor-Schein ihn anglüht. Das chinesische Motiv gelangte aus dem Orient in die europäische Ritterschaft und in ihre Traumfigur, den Amadis von Gallien. Amadis von Gallien also, das Original der europäischen Traumritter, sah das Bild der Oriana, einer englischen Prinzessin, keiner chinesischen: trotzdem macht Porträtmagie gerade hier aus der Liebe vollen Orient. Treibt in Abenteuer, Hindernisse, Gefahren ohne Zahl, in die ganze damals bekannte Welt, zum Sultan des alten Babylon dazu und in Höllenspuk, bis die Vereinigung gelungen ist und Oriana dem Preis der Ritterschaft in die Arme sinkt. Was Turandot als Bild versprach, hat die Lady des Amadis auf der ganzen Strecke ihrer Gewinnung gehalten und nach der Gewinnung nicht verloren. Schiller hat das Thema der Turandot nur überarbeitet, aber von Amadis allerdings und seinem Minnedienst, vom Weib als Bild und wie ein Bild fiel noch ein voller Strahl in »Maria Stuart«; der erste Auftritt Mortimers vor der Königin steht durchaus in diesem Zeichen: /(371) Eines Tags, als ich mich umsah in des Bischofs Wohnung, fiel mir ein weiblich Bildnis in die Augen, von rührend wundersamem Reiz, gewaltig ergriff es mich in meiner tiefsten Seele, und des Gefühls nicht mächtig stand ich da. Da sagte mir der Bischof: Wohl mit Recht mögt Ihr gerührt bei diesem Bilde weilen. Die schönste aller Frauen, welche leben, ist auch die jammernswürdigste von allen, um unsres Glaubens willen duldet sie, und Euer Vaterland ist's, wo sie leidet. So sah Mortimer Marias Porträt in Frankreich, der sinnlich-übersinnliche Glanz des Katholizismus strahlte daraus und entzündete einen Bildrausch, der den Ritter im selben Zug zur schottischen Königin wie zur himmlischen Maria trieb. Als Motiv aber bleibt die Bildnis-Utopie des gotischen und noch des barocken Ritterromans: Leidenschaft verbindet sich mit frommer Bildverehrung, mit einer so stark ausgewechselten und säkularisierten Anbetung Marias, daß sie den Ritter zu
Perseus macht, der Andromeda befreit, zum Kreuzzugsritter um das gefangene Weib. Die Fahrten der Ritter sind verschollen, doch das Barock, das das fernhinschickende Motiv aufnahm, klingt in wunderbarer und reiner Weise bei Mozart nach, an einer Miniatur, wie sich versteht, wozu das Gemälde geworden ist, im Lied Taminos: »Dies Bildnis ist bezaubernd schön.« Pamina gibt die süßeste Gestalt aller Traumgeliebten und durch die Musik ihres Vor-Scheins die wesentlichste. Die feine Miniatur Paminas liegt in Taminos Hand und wird von ihr umschlossen, als zärtlichstem Rahmen, Pamina blickt den Jüngling in den unirdischen Schönheiten seines Lieds selber an, sie zieht als Zauberbild wie als Musikgestalt seiner Liebe vor Tamino her. Mit starker Vergröberung, freilich auch Magnetisierung der Miniatur aus der »Zauberflöte« kehrt das Turandot-Motiv bei Wagner wieder, im »Fliegenden Holländer«. Sein Bild hält Sent in Bann und Hoffnung: als optisch in dem bedenklichen Konterfei über der Tür, als Musik in der dämonischen Ballade. /(372) Wagners Neu-Barock überhaupt wandelt diesen Bann mit Vorliebe ab; ungemalt in der Lohengrin-Vision Elsas, lange bevor sie ihn sah, gemalt in der, wenn auch indirekten, Vorbereitung Evas in den »Meistersingern«, Stolzing betreffend. »Das eben schuf mir so schnelle Qual, daß ich schon längst ihn im Bilde sah«, im Bild Davids, »wie ihn uns Meister Dürer gemalt.« Bezeichnenderweise hat das immer noch barocke Gebäude der Oper das Turandot-Bild häufiger an seinen Wänden hängen als das Schauspiel. Solcher Beispiele sind viele, sie reizen alle zum Traum und versprechen. Es ist nicht einmal nötig, daß das Bild, das ihn erregt, selber ein vorzügliches sei. Ja, in der Erfahrung, fern von Märchen und Oper, bietet sich für die utopische Zärtlichkeit sogar die Photographie an. Dostojewskij, im »Idioten«, läßt Myschkin durch Rogoschin von Nastasja Filippowna hören, er sieht ihr Bild, er sieht den leidenden, doch hochmütigen Ausdruck, schnell führt er die Photographie des Mädchens an die Lippen und küßt sie. Das Porträt ist in dieser Dostojewskij Welt »der gesammelte Widerspruch einer Person, das Menetekel von Schönheit in Leid«; es erregt nicht nur den Willen, diese Frau zu finden, sondern sie durch Liebe von ihrem Gesicht zu befreien, ihr die Sehnsucht nach Kindheit und Unschuld zu erfüllen, die das Bild außer der Schönheit verspricht. Grund genug für den kranken Heiligen oder weisen Toren, in diese Frau durch ihr Bildnis eingeweiht zu sein. Haben doch fast stets die Bezauberten außer der Gefahr, von der die Geliebte umgeben ist, noch das Leid der Geliebten mit gesehen, daß sie selber von dem Geliebten fern ist, an fremdem Ort, fern von der Liebe; dies schafft neben der Schönheit die tiefste Verführung. Selbst hinter dem Gemälde der unselig-spröden Prinzessin Turandot wirkt noch der Archetyp der Andromeda, die sich in der Gewalt eines Drachens befindet. So zuletzt auch dann, wenn das Idol nun bei keinem, selbst nicht bei dem vorzüglichsten Bildwerk stehen bleibt; wenn dieses von der Liebe ganz übermalt, wo nicht im Grunde selber von ihr gemalt ist. Das letztere war schließlich bei allen den angegebenen Porträtzaubern der Fall und kulminiert nur bei der reinsten Traumfrau, die es gibt, und ihrem treuesten Träumer: bei Dulcinea und Don Quichote. /(373) Daher ist und bleibt keine andere als Don Quichotes Dulcinea für all diese Bild-Geliebten die Konzentration, die warnende wie die vollständigst utopische. Ausgeführt bis zur Komik: ein lächerliches Glücksbild in lächerlichem Unglück; verdichtet bis zum Urphänomen aller erotischen bloßen Traumwesen: zu Dulcinea als der femme introuvable. Das Bild der Geliebten schafft aber den ersten starken Wachtraum auch in glücklichen Lebenslagen; Imago ersetzt sowohl, wie sie ins Unbekannte hinausschickt.
Nimbus um Begegnung, Verlobung Anders wieder, wo die Frau leibhaftig bereits gesehen worden ist, aber flüchtig. Dann rückt gleichfalls ein Bild um das Ereignis, ein aus dem ersten oder dem letzten Eindruck gewonnenes. So kurz der erste Eindruck gewesen sein mag, er hält als solcher an, umreißt und färbt sich. Der Blick auf die Vorübergehende, Verschwindende bleibt stehen, qualvoll, unausgelebt, doch bildhaft entschieden. Oder aber, es kommt zu sehr raschem Abschied bei unerwiderter, erfrorener, erstickter Liebe, zu einem Abschied, worin das kurz Durchlebte schon wieder versinkt, sich freilich auch faßt. Dann bleibt nicht der erste, sondern der letzte Eindruck stehen, wird mit den wenigen Zügen eines versäumten Glücks geschmückt. Der Eindruck erhält sich in beiden Fällen als Erinnerungsbild, das trotzdem nichts zu Ende Gelebtes besitzt, sondern immer noch vor der möglich gewesenen Fülle steht. Wieder kann ungesunde Imago in diesem Nimbus sein, und wieder kann er eine menschlichste Art Liebe mit bezeichnen. Heines Gedicht: Ich stand in dunklen Träumen und starrte ihr Bildnis an geht ganz in diese fruchtlose Wehmut ein. Mörikes Peregrina-Lieder halten das gleiche unterbrochene Wesen nicht sentimental, sondern erschütternd fest: Ach, gestern in den hellen Kindersaal, beim Flimmer zierlich aufgesteckter Kerzen, /(374) wo ich mein selbst vergaß in Lärm und Scherzen, tratst du, 0 Bildnis mitleid-schöner Qual; es war dein Geist, er setzte sich ans Mahl, fremd saßen wir mit stumm verhaltnen Schmerzen; zuletzt brach ich in lautes Schluchzen aus, und Hand in Hand verließen wir das Haus. In diesem unerfüllten, obzwar leibhaftig gewesenen Wunschbild ist die Qual einer Liebe, die nicht lebt und nicht vergeht, die in ihrem Morgenzwielicht wandert, ewig wiederkehrt und ewig scheidet. Das gleiche Bildmotiv ahasverischer Anfänge wiederholt sich, sehr viel schwächer, doch gerade im Unausgesprochenen ergreifend, in Mörikes Mozart-Novelle; der Dichter Peregrinas erzählt die Begegnung einer jungen Braut (der glücklichen Braut eines anderen) mit Mozart und den Nachglanz dieser Begegnung: »Einige Augenblicke später, als sie durchs große Zimmer oben ging, das eben gereinigt und wieder in Ordnung gebracht worden war, und dessen vorgezogene gründamastene Fenstergardinen nur ein sanftes Dämmerlicht zuließen, stand sie wehmütig vor dem Klaviere still. Durchaus war es ihr wie ein Traum zu denken, wer noch vor wenigen Stunden davorgesessen habe. Lang blickte sie gedankenvoll die Tasten an, die Er zuletzt berührt, dann drückte sie leise den Deckel zu und zog den Schlüssel ab in eifersüchtiger Sorge, daß so bald keine andere Hand wieder öffne.« Hier hat sich eine flüchtige, freilich außerordentlich bedeutsame Wirklichkeit gleichsam gerahmt; wenigstens ihr Gedankenbild, ihr utopisch weiter deutendes, wurde von unerfüllbarer Liebe gewonnen. So ist die Imago der vorübergehenden, der nie wieder gefundenen Frau auch den Wunschbildern aus abgebrochener oder unvollendeter Wirklichkeit radikal beigemischt. Hebbel schrieb derart ein schweres Lied auf die Unbekannte:
Nun wird mein Auge nimmer dich erkennen, wenn du auch einst vorübergehst an mir, und hör ich dich von fremder Lippe nennen, so sagt dein Name selbst mir nichts von dir. Und dennoch wirst du ewig in mir leben, /(375) gleichwie ein Ton lebt in der stillen Luft, und kann ich Form dir und Gestalt nicht geben, so reißt auch keine Form dich in die Gruft. Ja selbst bei gelingender Liebe ist in ihren Anfang ein Bild dieses Bevorstehenden, Nicht-Bevorstehenden eingesprengt; seltsam, in feine Fetische gebannt, steht dann der aufgehende Morgen still. Tolstoi läßt, in der »Kreutzersonate«, den roten Gürtel eines Mädchens leuchten, hieran entzündet sich Liebe, auch die spätere asketische Erinnerung hat den Gürtel nicht vergessen. Mit welch glücklichem Blitz steht gar der Raum um Werthers Lotte still: sie selber tritt vor, scharf und dauernd bis auf die blaßroten Schleifen an Arm und Brust und das schwarze Brot in ihrer Hand, die Kinder um sie her, ihnen die zärtliche Geste des Brotausteilens zugewendet, so weiblich echt geraten, ein ganzes vorleuchtendes Schauspiel von Güte. Mitten im schönen Beginn springt so das Bild heraus, bleibt auch nachher als Gestalt der heimlichen Verlobung, bewahrt diese in ihrer unberührten Landschaft. Keine Miniatur zieht hier vorher, wie diejenige Paminas, aber sie bildet sich selber in der Liebe auf den ersten Blick und macht mit einer in diesem Rahmen so rein affektionierten Weise »Traum der höchsten Hulden, himmlisch Morgenglühn«, wie das Quintett der »Meistersinger« singt. Zuviel Bild, Rettung davor, Nimbus um die Ehe Ist die gemeinte Frau gewonnen, so ebbt freilich das Fabeln um sie ab. Jedoch es braucht nicht zu verschwinden, ja zu viel anfängliches Bild wird ungern Fleisch. Vor allem, wenn das Traumbild sich mehr von dem Liebhaber nährte, der es hatte, als vom Geliebten, dem es galt. Sehr romantische, sehr in die Märchenzeit der jungen Liebe verliebte, dazu wirklichkeitsschwache Seelen haben sich daher allgemein in Erfüllungsscheu, speziell in Ehehaß hervorgetan. Hier darf nochmals an Lenau erinnert werden, gewillt, ewig nur auf wilden Meeren mit dem Bild der Geliebten zu verkehren. Und an die gedichtete, doch ebenso greifbare Gestalt kann als Exempel erinnert werden, an E. Th. A. Hoffmanns Kapellmeister Kreisler, der in der Liebe /(376) nur die Himmelsbilder, in der Ehe nur die zerbrochene Suppenschüssel sah und so die Bilder gegen die Schüssel nicht eintauschen wollte. Dunkel des gelebten Augenblicks und Verdinglichung der trojanischen Helena sind in all dergleichen, wie gesehen ward, romantisch travestiert, aber auch, als pathologisch geschärft, in Darstellung gebracht und kenntlich gemacht. Sogar noch ein naturalistischer Spätoder Halbromantiker wie Ibsen hat, auf besonders lehrreiche Weise, den bloßen Morgenwert der Liebe, die Liebe als bloßen Morgenwert gefeiert, exaggeriert. Das in der »Komödie der Liebe« ganz bohemehaftradikal, wo Falk und Schwanhild sich freiwillig verlassen, gerade aus höchster Zuneigung verlassen, damit ihre »Frühlingsliebe« nicht in der Ehe verschwinde, als in der Wirklichkeit, wo die Blätter fallen. Das ist verstiegen, gewiß, doch nicht verstiegener als der hier wiederkehrende und all das umfassende, für all das wieder einschlägige Chock des Menelaos vor seiner ägyptischen Helena. Und nicht verstiegener als eine andere
Reaktionsgestalt Ibsens, eine zu ihrer Zeit gar nicht als romantisch, sondern sozusagen als hypermodern verrufene: die »Frau vom Meer«, mit dem gleichen Anfangswertkomplex. Auch diese Frau, Ellida Wangel, verdinglicht einen kaum realisierten Anfang und ruiniert ihre Ehe damit. Freilich ist das Hausfremde, Meerverwandte auch in Ellida Wangel selber, wenn sie stets auf den Ozean hinausblickt und auf den fremden Mann ihrer ersten Liebe, auf die Silhouette, die er fern im Ozean bildet. Aber wesentlich bleibt das grenzenlose Entführungsbild dezidiert unrealistisch einer Welt entgegen gestellt, die vor ihm ausnahmslos als Fjord-Enge erscheint. Und das abstrakt-utopische Gewerbe in eroticis arbeitet weiter; zuletzt noch hat es Spitteler dargestellt in dem traumbesessenen Helden seines Romans «Imago« und der schönen Theuda, der aus Treue zu ihrem Bild Verschmähten. An einen anderen, den »Statthalter«, verheiratet, ist sie dadurch »ein abgeschnitten Stück Brot«; doch ihr Phantastdichter will das Wirkliche nicht wahrhaben, und nicht eher wird ihm die aus der Welt verrückte Situation wieder gut, als bis er aus dem sinnlich-übersinnlichen Freier wieder in den übersinnlichen sich verwandelt. Theuda-Imago darf nicht wirklich werden, gerade die Muse des Dichters leidet das nicht, wie von /(377) Spitteler angegeben wird; die Wirklichkeit nach soviel Phantasie würde es gleichfalls nicht leiden. »Imago« ist bizarr-exzessiv, doch wahr daran bleibt: allzu himmlische Liebe wird keine irdische, die eine stört die andere. So tönt gerade auch in Liebe-Ehe das so viel allgemeinere Problem der Verwirklichung an, das Decrescendo durchs Dunkel des gelebten Augenblicks und durch seine Auswirkungen. Die Hungerleiderei nach dem reinen Traumbild ante rem kommt dadurch fast in den Zustand, sich unbesehen, ja besonders beim Weltlicht besehen, als das Höhere vorzukommen. Erhalten die mannigfachen Kapellmeister Kreisler doch selbst vom antiromantischen Feind aller Wunschträume scheinbar recht, vom Advokaten der Wirklichkeit: »Mag einer auch noch soviel mit der Welt herumgezankt haben, umhergeschoben worden sein, zuletzt bekommt er meistens doch sein Mädchen und irgendeine Stellung, heiratet und wird ein Philister so gut wie die anderen auch; die Frau steht der Haushaltung vor, Kinder bleiben nicht aus, das angebetete Weib, das erst die Einzige, ein Engel war, nimmt sich ohngefähr ebenso aus wie alle anderen, das Amt gibt Arbeit und Verdrießlichkeiten, die Ehe Hauskreuz, und so ist der ganze Katzenjammer des Übrigen da« (Hegel, Werke X, S. 216f.). Manches davon mag auch außerhalb dieses biedermeierlichen Philisteriums wahr geblieben sein, eben als die dem Zu-viel-Bildhaften auf dieser Stufe sich anschließende Melancholie der Erfüllung. Es ist diese Melancholie, welche in den Liebestraum vor der Sache oder auch im Anfang der Sache so bedenklich zurücktreibt, ihn als Fernliebe an sich sich einkapseln und verdinglichen läßt. Und zwar gerade deshalb, weil seine Fabel, als eine, die wesentlich nur Fernliebe enthält, in der erblickten Wirklichkeit abebbt; desto sicherer erinnert sich dann abstrakte Utopie. Hier ist ein Quell für die eigentlich utopistische Neurose: nämlich für das Verbleiben im Wachtraum, für die Verfestigung des Bilds im Anfangszeichen, im bloßen Initiale von Wirklichkeit. Anders jedoch liegt der Fall sogleich, wo sich die Fabel vor dem Kommenden nicht sperrt. Wo das Bild in ihr nicht nur bewahrt, sondern in Fleisch und Blut bewährt sein will. Und das wird der Verlauf der Sache selbst, sobald der Vorschein, statt nur subjektiv in sich zu wuchern, hinreichend vom Gegenstand /(378) selber miterregt worden ist. Denn die Imago einer bereits erblickten geliebten Person kann durchaus Züge aufweisen, die im Gegenstand nicht ganz unbegründet sein mögen. Hat doch nicht jedes Liebesobjekt die Kraft, durch Imago in die Phantasie zu greifen, sie auf sich hin zu bewegen, selbst bei noch so empfänglicher Disposition oder bei
bloßer Analogie des Originals mit seinem Bild. Bei besonders scharfer Evidenz der lebenden Bildwirkung muß in dem Objekt selber eine Lockung enthalten gewesen sein, nämlich ein fundiertes Wunschbild in ihm selbst, mindestens so zu scheinen, und die Kraft, als dieses wirken zu können. Pamina ist im angetroffenen Zustand ihrer Wirklichkeit vielleicht nicht so, wie sie Tamino im Bild erscheint, doch die utopische Imago, die sie erregte, ist eben ihre eigene. Für Erotik gilt dann besonders, was für jede Imago an Menschen gilt: diejenigen, welche sie zu erregen verstehen, sind poetische Naturen, das ist, solche mit einem starken Anteil objektiver Phantasie in sich. Mit realer Möglichkeit, in gutem Klima das in die Phantasie Greifende zu werden, was sie nicht grundlos zu sein scheinen und als Vorschein ausstrahlen. Liebe, die sich im Genuß oder in der Enttäuschung ihrer Bilder nicht Post festum erschöpft, hält daher dem Liebesobjekt die Treue zu dem, was auch im Objekt ein Wunschbild seiner selbst gewesen sein mag, mithin, gegebenenfalls, eine Anlage zum Selbst-Transzendieren übers Angeborene, Gewordene hinaus. So geschieht Bewährung der Imago am Objekt und mittels des Objekts; so findet es Quartier. Fehlt allerdings diese Kraft zum Belichten durch ein Bild oder war gar nur der Liebhaber allein die poetische Natur, in so haltlos überströmender Irrealität, daß ihm wirklich Helena in jedem Weib erscheint: dann ist die Katastrophe des Bilds im ganzen Umfang unvermeidlich. Nicht bloß die Jugend der Liebe zieht dann vor Hegels enthülltem Hauskreuz ab, die unglückliche Ehe kennt überhaupt kein Heilmittel mehr als äußerstenfalls dieses, eine banale zu werden, ein Schatten in der empfindungslosen Vorhölle. Das Geliebte wird in ihr nie wieder das werden, was es zuvor war, zum Unterschied von der glücklichen Ehe, worin Raum für ein konstitutiv gewesenes Traumbild bleibt, sich zu bewähren, das heißt, sein Belichtetes zu entwickeln. Und hierbei bewährt sich zugleich ein Frisches, /(379) das die ganze gewohnte, allzu gewohnte Alternative zwischen Anfangstraum und Phlegma auf diesem Feld aufzuheben imstande sein kann. Denn gerade Utopisches ist keineswegs, gemäß der romantischen Psychologie, auf das Alpha beschränkt, dergestalt, daß das folgende Alphabet der Dinge bloß problematische Streckung eines schon Bekannten wäre. Vielmehr hat auch die Ehe ihre spezifische Utopie und einen Nimbus darin, der mit dem Morgen der Liebe nicht zusammenfällt, daher keineswegs mit ihm vergeht. Diese Utopie entspringt eben der Bewährung der Liebes-Imago, und immer ist ihre Poesie eine der Prosa, allerdings der hintergrundreichsten: des Hauses. Das Haus ist selber ein Symbol, und zwar bei aller Geschlossenheit ein offenes; es hat als Hintergrund die Zielhoffnung des Heimatsymbols, das sich durch die meisten Wunschträume durcherhält und am Ende aller steht. So originär ist diese Hoffnung, daß sie vor den Morgenbildern der Liebe nicht nachgibt; konträr, sie hat sich bereits dem Lotte-Bild mitgeteilt, der Landschaft der heimlichen Verlobung und des vorleuchtenden Schauspiels von Güte zugleich. Das Wunschbild ist hier freilich keines der Leidenschaft, als welche zur Ehe niemals ein Konstituens ist; in der Neigung bereits löst sich der Mensch von der Leidenschaft ab. Das Wunschbild ist erst recht keines der sexuell-sozialen Versorgtheit, der rationalisierten Sexualität, welche die Ehe zur bürgerlichsten Einrichtung im Bürgertum werden ließ. Ebensowenig ist Ehe als Kunstgewerbe visiert, mit Befristung schon am Anfang, als eine innerbürgerliche Revolte gegen das antizipierte Philistertum. Sondern Imago der Ehe setzt genau um zwei Menschen den Entwicklungsraum Haus, mit seinen vielen Karrieren über das Philistertum hinaus. Das vor allem in der sozialistischen Gesellschaft, indem sie die Familie nicht mehr als Refugium vor dem Lebenskampf zu setzen nötig hat, sondern als nächste Erscheinung der Solidarität in Gang hält. Mit dem Partner als ständigem Gast im
Haus, mit dem Bund einzigartiger Vertrautheit auf dem Grund besonderer Verschiedenheit. Dies Wesen ist voll Spannung, trotzdem ist es nicht dramatisch, sondern episch durchaus; so sagt der mit Glück hier konservative Chesterton mit viel Recht: >Alle die Dinge, die aus der Monogamie einen Erfolg machen, sind ihrer Natur nach undramatische /(380) Dinge, das stille Wachsen eines instinktiven Vertrauens, die gemeinsamen Wunden und Siege, die Ansammlung alter Gewohnheiten, das reiche Reifen alter Scherze; gesunde Ehe ist ein undramatisches Ding.« Und trotzdem ist Ehe so fern von einem bloßen moralischen Nachtrag zur Liebe, daß sie gerade im Vergleich zu ihr ein seltsam Neues darstellt: das Abenteuer erotischer Weisheit. So daß sie das gelingende oder nicht gelingende Experiment einer Kommunion darstellt, die weder in Sexualliebe noch in irgendeiner bisher erschienenen sozialen Gemeinschaft ihresgleichen findet. Derart erscheint Ehe als die Utopie einer der freundlichsten wie strengsten Ausprägungen des menschlichen Lebensgehaltes; derart ist ihre Bewährung nicht nur, ja zuletzt überhaupt nicht mehr, die des gemalten Paminabilds, des jungfräulichen der Begegnung. Vielmehr kommt zur Utopie des Paminabilds in Taminos Hand die Musik der Feuer- und Wasserprobe hinzu; diese bezeichnet und bedeutet nun nicht weiter die Braut, sondern die Ehe, nicht weiter die Leidenschaft, sondern die Freundschaft der Liebe, die eben Ehe heißt. Pamina selber leitet die Musik der Treue an oder die Bewährung der Imago weit über die erste bloße Bezauberung durch diese Imago hinaus. Die Ehe eröffnet und besteht die Feuerprobe der Wahrheit im Leben der Gatten, der standhaften Befreundung des Geschlechts im Leben des Alltags. Gast im Haus, ruhende Einheit bei feiner, brennender Andersheit, dieses wird mithin die Imago der Ehe und der Nimbus, den zu gewinnen sie unternimmt. Oft mit falscher Wahl, wie bekannt, mit Resignation als Regel, mit Glück als Ausnahme, fast noch als Zufall. Und selten wird Ehe gar die überbietende Wahrheit des initial Erhofften, mithin tiefer, nicht bloß wirklicher als sämtliche Brautlieder. Dennoch hat sie ihren utopischen Nimbus zu Recht: nur in dieser Form arbeitet das keineswegs einfache, das hintergründige Wunschsymbol des Hauses, ist überhaupt Aussicht auf gute Überraschung und Reife. So tausendmal besser Liebesleid ist als unglückliche Ehe, an der überhaupt nur noch Leid ist und fruchtloses, so zerstreut sind die Landabenteuer der Liebe gegen die große Schiffahrt, die Ehe sein kann, und die mit dem Alter nicht aufhört, nicht einmal mit dem einseitigen Tod. /(381)
Hohes Paar, Corpus Christi oder kosmisch und christförmig gewesene Utopie der Ehe
Das Schiff, das so aufnimmt, wurde doppelt leuchtend gemalt. In irdischer und überirdischer Farbe, zwei mythische Utopien der Ehe bieten sie dar. Die eine kann bezeichnet werden als die des Hohen Paars, sie ist aristokratisch-heidnisch, die andere ordnet die Ehe als Corpus Christi. Die Kategorie Hohes Paar wurde bisher wenig beachtet, obwohl sie sogleich nach der mutterrechtlichen Gesellschaft hervorgetreten ist. Bachofen hat sie auffallenderweise umgangen, hat immer nur Weib oder Mann allein auf die jeweilige, entweder mutter- oder vaterrechtliche Höhe gesetzt. Dabei hat das hohe Zwei das eigentümlichste Wunschbild der Ehe entwickelt, auch in den Augen ihrer Beschauer, nicht nur der Partner. Weib und Mann werden hier jeder in sich konzentrisch als Bild vorgestellt, das eine anmutig und gewährend-gut, das andere kraftvoll und herrschend-gut; erst die Verbindung aber wird Segen an sich. Sie erscheint als Einheit von Zartheit und Strenge, von
Huld und Macht, ja von Hure und Prophet, das alles hier mit dem alten astral-mythischen Hintergrund von Mond und Sonne, auch Erde und Sonne. Das Weib hat die glitzernde Mondgöttin oder die urweise Erdgöttin für sich, der Mann das strahlende Lichtwesen; beide können oder sollen im Hohen Paar zusammen am menschlichen Himmel wirken und spenden. Der Hohe-Paar-Nimbus liegt um Perikles und Aspasia, um Salomo und die Königin von Saba, um den «Helios« Antonius und die »Isis« Kleopatra, um Simon Magus und Helena. Die beiden letzten, Simon, der Gnostiker zur Zeit Jesu, Helena, eine Hetäre aus Tyrus, wurden - als »Dynamis« und »Sophia« in Einheit - von ihren Gläubigen besonders verehrt; die Welt erschien ihnen durch das Wiederfinden dieses Urmännlichen, Urweiblichen als erlöst. Lebt doch noch durchs ganze Mittelalter hindurch ein Nachklang dieses Simon-Helena-Kults zur Zeit Christi und hat sich, durch Vertauschung der Personen, im Verhältnis Fausthomerische Helena erhalten. Die Spätantike dagegen lieferte der Kategorie Hohes Paar auch besonders abenteuerliche Beispiele: so hat sich der Kaiser Eleagabal, als Priester des syrischen /(382)Sonnengotts Baal, mit der Priesterin der karthagischen Mondgöttin Tamit vermählt - Tag und Nacht, Baal und Tamit in einem. Dicht strömte hier noch ein weiterer Astralmythos herein, der babylonische einer »heiligen Hochzeit« in Gott selbst. Er lebte in der Gnosis, wenn sie ihre herabstrahlenden Bildekräfte mann-weiblich abteilte (»Urgrund und Stille«, »Licht und Leben«, »Begriff und Sophia«), er hielt sich in der Kabbala. Das Christentum, mit dem weiblosen Gottvater, ließ keine oder nur undeutliche Hohe Paare auf Erden zu, das gnostisch-kabbalistische Judentum dagegen durchaus. So hatte noch der Pseudomessias Sabbatai Zewi, um 1650, sein Weib Sara, wie die tyrische Helena eine Hetäre, als »zweite Person in der Gottheit« neben sich. Ja, das - aus hellenistischen Quellen stammende - Tamino-Pamina-Bild, das - von Simon Magus und der tyrischen Helena her nachwirkende Faust-Helena-Bild, sie vollziehen poetisch die uralte Vermählung nach. An zwei Menschen, am erotisch fixierten Zwei wollte so die Kategorie des Hohen Paares erscheinen lassen, was in den Kulten, am äußeren Firmament nicht zusammenkam: Mond und Sonne zugleich, mit gleicher Stärke am Himmel, im Himmel. Ob die misera contribuens plebs je selber zu diesem Traumbild kam, steht dahin; wahrscheinlich hat sie sich mit dem Anblick an ihren Halbgöttern begnügt. Dennoch läuft das Bild solcher Union noch durch den Nimbus jeder jungen Ehe, wenn sie zwischen wohlgeratenen Menschen geschieht. Das Bild hat sich im Kitsch wie an dynastischen Paaren (Räuber und Räuberbraut, Erbprinz und seine hohe Gemahlin) ausdrücklich erhalten und gab auch bei verschwundenem aristokratischem Hintergrund, bei verschwundenem Astralmythos starkes Glanzlicht auf die Ehe. Der equilibrierende Partner zur schönsten Frau hat die erotische Vollendungsphantasie lange beschäftigt, als perfektes Paarbild aus Anmut und Kraft. Und hat das Christentum die Hohen Paare theologisch nicht mehr begründet, so lebt doch eben in der Faust-Helena-Sage, in der Pamina-Tamino-Union (von Goethe in »Der Zauberflöte zweiter Teil« weiter behandelt) dieser leitbildhafte Paar-Mythos fort. Ja, als »Bild von unserer Wonne« steht er sehr hoch im Buch Suleika des »Westöstlichen Divan«, ausdrücklich auf das Zugleich von Mondsichel und Sonnenaufgang /(383) bezogen und darauf, was es bedeute, deren Feinheit und dessen Macht zu vereinen: Der Sultan konnt' es, er vermählte Das allerhöchste Weltenpaar, Um zu bezeichnen Auserwählte, Die tapfersten der treuen Schar.
So eigentümlich groß erscheint in alldem die Zweieinigkeit von Sexualität und ruhte nicht, bis sie am Firmament selber ihren Halt zu finden glaubte. Eine Einheit von Menschen, die in vollerem Sinn als Adam und Eva Mann und Weib sind, ein Sakrament von Sonne und Mond. Das Christentum aber hat nicht nur wegen seines weiblosen Gottvaters, sondern vor allem doch als nichtastralmythische Religion dafür keinen Ort mehr. Keinen Ort in einer Welt, worin Mond und Sonne nun gleichmäßig untergehen, als Äußerlichkeiten, mit denen die kosmische Utopie der Ehe gleichfalls untergeht. Dafür aber taucht ihr zweites Gesicht auf, ein inneres, das anders verspricht und bindet. Hingabe und Kraft, Magdliches und Führung sollen nicht welthaft, sondern außerweltlich verbunden und so vollendet werden. Ehe wird Gemeinde in nuce, also das von Frau und Mann nachgebildete Corpus Christi. Auch hierin ist ein Bild, das erst mit der Ehe einsetzt und in ihr, als dem Haus, sein erotisches Versprechen hat, mit sinnlich-übersinnlichem Glanz. Millionen haben noch den Glauben daran, als ans Sakrament der Ehe, ihnen wird die Ehe im Himmel geschlossen und bleibt darin, bis zum Tod, trotz möglicher irdischer Armseligkeit oder Katastrophe. Die Ehepartner selbst vollziehen durch Heirat das Sakrament, sie selber treten bereits mit Gott, als dem Schöpfer der Kinderseelen, in Bezug. Jede Ehe, schärfte Pius IX. ein, ist an sich selbst ein Sakrament, wenn auch noch ein leeres; nicht damit die Ehe heilig werde, sondern weil die Ehe heilig ist, ist die Mitwirkung des Priesters erforderlich, im einzigen Sakrament, das die Kirche nicht selber spendet, das sie durch ihre Ratifizierung nur zu einem vollen macht. Dann allerdings, im Sacramentum plenum, soll dem Gläubigen ein ungeheurer Goldgrund in der Ehe vortreten; Gattin und /(384) Gatte stehen in Imago ohnegleichen. Nach der Kirchenlehre treten sie als geweihte Glieder des Leibes Christi zusammen, um sich der Erweiterung dieses Leibes zu widmen, der Ausbreitung des Gottesreichs in der vernünftigen Kreatur. Bild und Vorbild der Ehe bleibt eben der Bund Christi mit seiner Gemeinde: »Denn wir sind Glieder seines Leibs, von seinem Fleisch und von seinem Gebein. Um deswillen wird ein Mensch Vater und Mutter verlassen und seinem Weib anhangen, und werden zwei sein ein Fleisch. Das Geheimnis ist groß: ich sage aber, in Christus und der Gemeinde« (Eph. 5, 30-32). Die Liebe Sulamiths zu Salomon im Hohen Lied, mit Brüsten lieblicher denn Wein, mit dem Freund, der hinabgegangen ist, daß er sich weide unter den Gärten und Rosen breche, dies glühende Hochzeitslied wird klerikal verwandelt und allegorisch dargestellt als Liebesgespräch Christi mit seiner Gemeinde, als Hingabe des Haupts an den Leib, als Reinigung des Leibs durch das Haupt. Trotz Sündenfall sind die Leiber Glieder Christi, Tempel des Heiligen Geists (1. Kor. 6, 16-19), immer dergestalt, daß die Ehe in der Ehe Christi mit der Gemeinde wurzelt und deren Erweiterung und Fortwirkung, deren Organ und Abbild in der vernünftigen Kreatur ist. Sexuelle Kommunion und Treue zu ihr verbinden sich in diesem Ehebild völlig mit religiöser und mit sozialer Kommunion - freilich nur in Form der aufs Jenseits bezogenen christlichen Gemeinde. Die Ehe wird bei Paulus die Verbindung von Jünger und Jüngerin aus Verwandtschaft und Herkommen, um im Bild des neuen Gottes sich zu vermischen, um im neuen Haus ihm anzugehören; die Geschlechtsgenossenschaft wird dem Ideal nach Kultgenossenschaft. Die Kreatur freilich setzte dem Wein dieses Wunders gewaltig Wasser und Unglück zu, erst recht die ganz und gar nicht christförmige Gesellschaft, in der nun, als spätrömischer, feudaler, kapitalistischer, das Corpus Christi nicht eben vollkommen im Sozialzusammenhang sich ausprägte.
Doch wirkte die Utopie vom Weinstock und den Reben immerhin in dem Refugium, als das die Familie innerhalb der Klassengesellschaft sich nicht-antagonistisch halten wollte. Trotz aller stark vaterrechtlich-patriarchalischer Züge und trotz des außerweltlichen Flucht- und Bezugspunkts gab es keine Liebesutopie, die so tief wie diese /(385) die Ehe wichtig genommen und ihr Bild verpflichtend gemacht hätte. Der patriarchalische Grundzug, mit dem Mann als »Haupt«, war immerhin in eine Liebesgemeinschaft weiter Ordnung einbezogen, worin keine Herrschaft mehr sein sollte, auch keine Einsamkeit zu zweien. Unus Christianus nullus Christianus, dieses Prinzip eines hintergründigen Kollektivs reflektierte sich hier als Glaube, Liebe, Hoffnung der Ehe. Nach-Bild der Liebe Ist ein Traum nun wirklich geworden, so wird er das nicht immer bleiben. Wird nicht er zu Grabe getragen, so der Leib, den er gefunden hat. Der Tod schneidet nicht die Liebe ab, doch dasjenige, was für sie sichtbar und lebendig war. Der Wünschelrute des ersten Eindrucks wurde gefolgt, das Gold war gediegen, seine Zeit ist vorüber. Dann aber stellt sich wieder ein Wachtraum bildhaft her, es bleibt ein Nach-Bild von Liebe, als erfüllter und doch wieder nicht erfüllter. Dieses Nach-Bild ist der Peregrina-Vision aus unerfüllter Liebe, der Vision des nie gelingenden Abschieds so fern wie möglich und trotzdem in einem Punkt verwandt. Denn auch die glücklich Geliebte kann durch den Tod Peregrina werden, sofern der Tod fremd an ihr ist, sofern er nur äußerlich unterbricht. Zweifellos gibt es hier weitverbreitete Selbsttäuschung, bis zum Kitsch herab, der sich in der Erinnerung um die oder den sogenannten Seligen ansetzt; von dieser Karikatur ist nirgends die Rede, nicht einmal von verklärender Erinnerung weniger abgeschmackter Art. Sondern kein Nach-Bild der Liebe ist zweifelsfrei, wenn es sich nicht schon bei Lebzeiten des Gegenstands bilden konnte; dann allerdings ist es, gerade in seinem Glanz, untrüglich. Wie bei der Peregrina-Vision geht auch in solchem Fall aus Erinnerung immer wieder Hoffnung auf, und aus dem Nach-Bild ein Versprechen; Theodor Storms Novelle «Viola Tricolor« kreist zweimal um dieses Problem. Denn ungesättigt-erinnerndes Wunschwesen arbeitet hier sowohl im Kind, das das Gemälde der toten Mutter mit Rosen schmückt und über der Stiefmutter die eigene am wenigstens vergißt, wie es in dem Mann arbeitet, der die zweite Ehe einging, und auch er hat seinen langen Nachblick. Er /(386) hat ihn auf einsamen Wegen, in seiner einsamen Studierstube mit dem Bild der Verstorbenen über dem Schreibtisch, am Fenster, das in den Garten geht, auf die kleine Hütte, die er so lange nicht mehr betreten hatte. Dort geht der Nachblick hin, dort geht und lebt das Nach-Bild: »Der Himmel war voll Wolken; das Licht des Mondes konnte nicht herabgelangen. Drunten in dem kleinen Garten lag das wuchernde Gesträuch wie eine dunkle Masse; nur dort, wo zwischen schwarzen pyramidenförmigen Koniferen der Steig zur Rohrhütte führte, schimmerte zwischen ihnen der weiße Kies durch. Und aus der Phantasie des Mannes, der in diese Einsamkeit hinabsah, trat eine liebliche Gestalt, die nicht mehr den Lebenden angehörte; er sah sie unten auf dem Steige wandeln, und ihm war, als gehe er an ihrer Seite.« Storms Held unterliegt so der Verführung der Toten, eigentümliche, ganz und gar vertrackte Untreue erscheint: mit einem Schatten bricht er der zweiten Frau die Ehe. Merkwürdigerweise kommt diese sehr beunruhigende Art Nach-Bild in großer Poesie selten vor, gleich wie wenn nur die Hochzeitstafel aus Leichenschmaus, auf Grund eines Verbrechens, ein Problem wäre, für den Rächer Hamlet. Jedoch Shakespeares »Wintermärchen« ist ganz von
der Kraft des erotischen Nach-Bilds erfüllt: es wirkt in der schuldhaften Sehnsucht des Königs vor dem Standbild Hermiones; und nur hier, in Shakespeares geheimnisvoll-leichtem Spiel, läßt ein tiefer Scherz wieder zurückwollen, läßt er mit Kraft in die Vergangenheit ziehen und sie wieder zur Gegenwart machen; nur hier wird die Statue eines vergangen-unvergangenen Lebens wieder lebendig. Das ist Märchen-Lösung; überall sonst haben im Leben schwere Verwicklungen ums erotische Nach-Bild Platz, als einem, das daran unruhig ist, bloß Bild von Gewesenem zu sein. Einer anders schönen Liebe werden hier leicht Hexentränke gereicht, die nicht verjüngen, sondern sie nur in einen Zwischenzustand zwischen gespenstischem Frühling und Nachreife reißen. Doch ist zu unterscheiden: das falsch zelebrierte Nach-Bild schließt neues Leben ab und altes in ein unechtes Jetzt ein, mit allem Nachteil dessen, was auch in der seelischen Optik »wiederholte Spiegelung« heißen kann. Das recht bestandene Nach-Bild dagegen, das weder mit Rückkehr durch Nachgeschmack noch mit /(388) Totenkult das Mindeste gemein hat, mag das fruchtbarste sein; denn es strahlt in jene Sphäre, worin auch in der Vergangenheit noch ein Ungewordenes erwartet und entgegenkommt. Die tote Geliebte hat sich aus der bloßen Erinnerung herausbewegt, die Imago läßt nicht fruchtlos zurücksehnen, sondern wirkt wie ein Stern aus der Zukunft her. Epimetheus, in Goethes »Pandora«, sieht das Nach-Bild sogar in Greifbarkeiten der vorhandenen Welt, obzwar transparent; die verschwundene Pandora scheint hindurch: Sie steiget hernieder in tausend Gebilden, sie schwebet auf Wassern, sie schreitet auf Gefilden, nach heiligen Maßen erglänzt sie und schallt, und einzig veredelt die Form den Gehalt, verleiht ihm, verleiht sich die höchste Gewalt; mir erschien sie in Jugend-, in Frauengestalt. An Dantes Beatrice hat diese Art erotisches Versprechen seine stillste Gewalt gefunden, eine der fortwirkenden Begegnung mit Vollkommenheit, als heiliger. Sancta erhellt im Tod das Drüben, kommt selbst aus dieser Zukunft noch entgegen, erwartet, empfängt, vollendet. Wo immer solch unbegreiflich Trosthaftes entsteht, erweist sich die Geliebte, der das Nach-Bild gilt, als aus Beatrices Geschlecht. So wenig endet das Bild als Versprechen, so sicher pflanzt die fundierte Treue zu ihm Hoffnung auf, nicht nur am Grab, auch in der Vergegenwärtigung. 22
TAGTRAUM IN SYMBOLISCHER GESTALT: LADE DER PANDORA; DAS GEBLIEBENE GUT
Jeder Traum bleibt dadurch einer, daß ihm noch zu wenig gelungen, fertig geworden ist. Darum kann er das Fehlende nicht vergessen, hält er in allen Dingen die offene Tür. Die mindestens halboffene Tür, wenn sie auf erfreuliche Gegenstände zu gehen scheint, heißt Hoffnung. Wobei, wie gesehen, es keine Hoffnung ohne Angst und keine Angst ohne Hoffnung /(388) gibt, sie erhalten sich gegenseitig noch schwebend, so sehr die Hoffnung dem Tapferen, durch den Tapferen überwiegt. Indes auch sie, als möglicherweise trügerische mit Irrlicht, muß eine wissende sein, eine in sich selber voraus-bedachte. Die allemal merkwürdige Pandorasage läßt die Hoffnung den Menschen durch ein Weib bringen, doch in dämonischer Weise. Pandora ist zart wie Pamina, blendend wie Helena, aber böse oder mit böser Absicht
geschickt und so doch wie die übliche Schlange im Sündenfallmythos. Sie kommt von Zeus, der durch sie den Raub des Feuers an Prometheus rächen will, ein Lockbild des Schönen schlechthin, aber mit einer verschlossenen Sammlung gefährlicher Geschenke, Prometheus schlägt sie aus, Epimetheus aber, der Nach-Bedenkende, läßt sich verführen, Pandora öffnet so die mitgebrachte Lade. Nun enthielt diese, nach Hesiods Darstellung der Sage, das ganze Heer von Übeln, das seither über die Menschen gekommen ist: Krankheit, Sorge, Hunger, Mißwachs, sie flogen heraus. Erst zuletzt verschloß der angeblich mitleidige Zeus den Deckel, ehe noch die Hoffnung ausfuhr. Es ist das aber eine sehr widerspruchsvolle Sage oder Fassung der Sage; denn die Hoffnung, durch welche Zeus die von Prometheus geschaffenen Menschen doch auch trösten wollte, über ihre Schwäche, liegt hier mitten unter den eindeutigen Übeln. Sie unterscheidet sich in der Hesiodschen Fassung von den anderen Übeln nur dadurch, daß sie im Faß geblieben, also sich unter den Menschen gerade nicht verbreitet hat. Das aber ergibt in der Hesiodschen Überlieferung keinen rechten Verstand, es sei denn eben, daß Hoffnung als Übel sich auf ihr Trügerisches bezieht, auch auf das Kraftlose, das sie für sich allein noch darstellt. So hatten die Alten Elpis abgebildet, zart, voller Schleier und entfliehend, so wollten die Stoiker die Bilder der Hoffnung hinter sich lassen, genau wie die der Angst und Furcht. So wirkt noch die unvergeßliche Spes, die Andrea Pisano auf dem Portal des Florenzer Baptisteriums abgebildet hat: sie sitzt wartend, obwohl sie geflügelt ist, und trotz der Flügel erhebt sie, wie Tantalus, die Arme nach einer unerreichbaren Frucht. Also mag die Hoffnung, so viel besitzloser als die Erinnerung, nach Seite der Ungewißheit ein Übel scheinen, und die täuschende, die unfundierte ist es gewiß. Aber freilich, auch die /(389) unfundierte Hoffnung kann unter die üblichen Übel der Welt nicht so einrangiert werden, als sei sie das gleiche wie Krankheit oder Sorge. Erst recht ist die fundierte, das heißt, mit dem real Möglichen vermittelte Hoffnung vom Übel, selbst vom Irrwisch so weit entfernt, daß sie eben die mindestens halboffene Tiir darstellt, die auf erfreuliche Gegenstände zu gehen scheint, in einer nicht zum Gefängnis gewordenen, kein Gefängnis seienden Welt. Die Alten haben sich je länger, je mehr der Hoffnung nicht zu entschlagen gesucht. Eine spätere, hellenistische Fassung (auch Goethes «Pandora« hat sie sich zu eigen gemacht) stellt daher Pandoras Mitgift nicht als Behälter des Unglücks, sondern konträr der Güter dar, letzthin als Mysterienlade. Die Lade der Pandora ist in dieser Fassung Pandora selbst, das heißt: die «Allbegabte«, voller Reize, Geschenke, Glücksgaben. Auch diese sind, nach der hellenistischen Fassung des Mythos, aus der Lade gefahren, doch anders als die Laster sind sie gerade gänzlich entflogen und haben sich nicht unter den Menschen ausgebreitet; als einziges Gut blieb sonach die Hoffnung, immerhin diese, in der Lade. Sie unterhält den Mut zu den fehlenden Gütern, die Standhaftigkeit und Nichtresignation vor den ausbleibenden, und wo sie verschwindet, geht der in der Welt anhängige Prozeß verloren. So ist auf die Dauer die zweite Fassung des Pandoramythos doch die einzig wahre; Hoffnung ist das den Menschen gebliebene, das keineswegs bereits gereifte, aber auch keineswegs vernichtete Gut. Ja, die halbgeöffnete Tür mit adventistischer Dämmerung voraus, wodurch subjektiv und objektiv die Hoffnung bezeichnet wird, ist die Pandora- Lade der unfertigen Welt selbst, samt dem Hohlraum mit Funken (Chiffern, positiven Symbolintentionen), den ihre Latenz darstellt. Mit einem historischen Symbol, dem freundlichsten, das es gibt, öffnet sich die Lade als die tiefe, warme Stube, die Kajüte an Land, in der das versprechende Licht des Zuhause brennt. Mit einem Landschaftssymbol, dem stärksten, das es gibt,
öffnet sich die Lade als das offene Meer, mit schweren Abendwolken im Sturm, mit den goldroten Morgenwolken über dem Horizont, wenn die Sonne nicht mehr fern ist und der Tag beginnt, der auch vor dem Abend zu loben ist. Beide Anblicke sind ebenso /(390 die Perspektive der Philosophie, die endlich auf die Hoffnung materialistisch- offen antwortet und der neuen Erde des Totum verschworen ist. Dieses Totum oder Alles steht noch im Prozeß und dessen Tendenz, es nähert sich, mit utopischen Elementen des Endzustands, an der Front des Prozesses, in der Latenz. Die Illusionen und ihre ohnehin nie existent gewesenen Güter sind aus der Lade der Pandora weggeflogen, aber die realiter fundierte Hoffnung, worin der Mensch dem Menschen Mensch und die Welt den Menschen Heimat werden kann, ist geblieben. Also versteht sich die konkrete Antizipation aus dem gleichen Grund so auf Aufklärung (Zerstörung der Illusionen), wie sie sich auf echtes Geheimnis (Daß-rätsel, utopisches Totum) versteht. So auf ein Maximum von Illusionslosigkeit wie auf ein (entscheidungsträchtiges) Maximum von Optimismus. Und deshalb fällt auch kein Moment der begriffenen Hoffnung aus der Theorie-Praxis des total gehaltenen, des nicht künstlich angehaltenen Marxismus heraus. Der mechanische Materialismus, gewiß, er ist wahr als Materialismus, das heißt, als Erklärung der Welt aus sich selbst, aber er ist unwahr, wenn er als bloß mechanischer eine gleichsam dumme, sicher eine halbe und enge Welt lehrt, bewegt ohne Ziel, mit dem alten Kreislauf von Werden und Vergehen, an die Kette immer gleicher Notwendigkeit geschlossen. Das aber ist nicht die Welt, in der die forttreibenden Widersprüche geschehen, der besseres Leben, Menschwerdung, Ding für uns real möglich sind, in der Entwicklung und Entwickelbarkeit nach vorwärts Platz haben. Die wirkliche offene Welt ist die des dialektischen Materialismus, der keine mechanistischen Eierschalen trägt. Von den Idealismen eines Verstands als Erzeuger, eines Geistes als Demiurg, von Pfaffentum und Jenseits-Hypostasen ist er so mächtig weit entfernt wie der mechanische Materialismus, aber auch von der Statik im Einzelnen, vor allem im Ganzen der Welt, dem dieser, zusammen mit dem Idealismus, noch huldigt. Man kann von der Materie nicht gut und groß genug denken; ihre Tage, die ebenso unsere sind, haben weder immer gleiche Zahl und Maß noch gar schon ihr volles Gewicht. Nicht nur Bewegung und ein scheinbar so »Anthropomorphes« wie Widerspruch (mit der Bewegung selber als ersten Widerspruch) sind ihre Daseinsweisen, sondern auch /(391) ein scheinbar so viel mehr »Anthropomorphes« wie Antizipation. Diese ist herausgefühlt und erschlossen durch Hoffnung, abgebildet durch deren objektiv-positiven Tendenz- und Latenzbegriff. Und solch Aurorisches bricht nicht nur menschlich-historisch immer wieder vor, es qualifiziert und umfaßt auch die Landschaft der physischen Welt, der keineswegs nur quantitativen und kreislaufhaften. Es gibt auch darin, gerade darin, Chiffern einer Heimatbildung, in Vermittlung mit der menschlich-historischen, auf Grund des bisher so wenig durchreflektierten Morgenlands: objektiv-reale Möglichkeit. Die Stoffbildungen der Welt - bis hin zur Entfesselung der intensivsten Produktivkraft, des wahrhaften Atomkerns: Existere, Quodditas - sind voll von der Tendenz des Noch-Nicht zum Alles, des Entfremdeten zur Identität, der Umwelt zur vermittelten Heimat. Auch nach und gerade nach dem Bau einer klassenlosen Gesellschaft arbeiten diese Stoffprobleme (Aufgaben) der Bergung, Humanisierung. Die Hoffnung des Ziels aber ist mit falscher Sättigung notwendig uneins, mit revolutionärer Gründlichkeit notwendig eins; - Krummes will gerade werden, Halbes voll.
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DRITTER TEIL (Übergang) WUNSCHBILDER IM SPIEGEL (Auslage, Märchen, Reise, Film Schaubühne)
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SICH SCHÖNER MACHEN, ALS MAN IST
Nicht jeder sieht nach etwas aus. Aber die meisten wollen angenehm auffallen und streben danach. Die äußerlichste Art ist hierbei die leichteste. Der Matte färbt sich, als ob er glühe. Da scheint mancher vor anderen, tut sich hervor. Das Herrichten ist bald gelernt und flüchtig. Die Frau, der Bewerber zeigen sich, wie man zu sagen pflegt, von der besten Seite. Soll heißen von jener, die am flottesten verkäuflich ist. Das Ich wechselt sich in Ware um, in gangbare, auch glänzende. Es sieht, wie andere sich geben, was andere tragen, was in der Auslage liegt, und legt sich selber hinein. Freilich kann kein Mensch aus sich machen, was nicht vorher schon in ihm angefangen hat. Ebenso zieht ihn draußen, an schönen Hüllen, Gebärden und Dingen, nur an, was im eigenen Wünschen lange schon, wenn auch vage, lebt und sich daher gern verführen läßt. Stift, Schminke, fremde Federn helfen dem Traum von sich gleichsam aus der Höhle. Da geht er und posiert, pulvert das bißchen Vorhandene auf oder fälscht es um. Doch eben nicht so, als ob einer sich ganz verfälschen könnte; wenigstens sein Wünschen ist echt. In der gestellten Haltung zeigt, ja verrät es sich. Das Wünschen geht aber nur herkömmlich nach oben, der strebsame junge Mann dieser Art ist mit dem Zustand unzufrieden, worin er sich befindet, aber nicht mit dem von reich und arm überhaupt. So lächelt er zu diesem recht freundlich, so macht er sich heraus, dem Bild gemäß, das er als seines sieht, vielmehr, das man ihn als seines sehen läßt. Mehr scheinen als sein, das ist alles, was ihm derart gestattet wird, im kleinbürgerlichen Drang, als besserer Herr zu gelten. Mehr sein als scheinen aber, dies Umgekehrte wird durch kein Herrichten nachgemacht; weshalb es nirgends so viel Kitsch gibt wie in der Schicht, die sich selber als unecht erträgt. Das Unsere als lichtecht, es wird außer dem Schlips noch wenig getragen. /(396) 24
WAS EINEM HEUTE DER SPIEGEL ERZÄHLT
ich durfte dienen. Spruch Schlank sein Keinen Blick auf sich werfen, das ist etwas. Aber für den kleinen angestellten Mann heißt es gewöhnlich nur, zu Ende zu sein. Ist er das noch nicht, und will er nicht dazu kommen, dann muß sich der Bewerber als adrett bewußt sein und als so bekleidet. Zum Ankleiden gehört ein Spiegel, mit den Augen seines Herrn sieht sich der Bedrohte an. Mit den Augen, wie der Boß ihn wünscht, wenn er auf seine Angestellten sich verlassen will. Zwar glaubt der Gespiegelte sich zu sehen, wie er sich selber zu sehen, selber zu sein wünscht, ja, auch der notgedrungen Gespiegelte glaubt das, kurz vor seinem Auftritt unter Menschen, im Geschäft. Das
Gesicht legt sich nun so glatt wie möglich, der Angestellte will so schlank, so faltenlos sein wie sein Kleid und hält sich danach. Er setzt sich damit in Vorteil, aber in jenen, den die wirklichen Herrn von dem kleinen Mann haben. Also wirft ihn das Glas nicht einmal zurück, wie er sich selber wünscht, sondern eben wie er gewünscht wird. Dergleichen ist genormt gleich den Handschuhen im Laden, gleich dem Ladenlächeln des Verkäufers, das zum allgemeinen und vorgeschriebenen geworden ist. Unter Angst und und Öde lächeln, das ist jetzt das amerikanische Zeichen der Herren, die keine sind. Gewollt ist damit, sie sollen sich gleichen wie ein Ei dem anderen, und lauter Hühner kriechen aus. Stark im Ducken Wer sich zum Kauf anbietet, hat zu gefallen. Das Mädchen, wie es sein soll, der junge Mann, wie er sich halten soll, sie werden deshalb auch draußen vorgeführt. Wie die herrschende Schicht das braucht, bei Strafe ihres Untergangs. Das Weibliche an der angestellten Person besteht aus Rosa, das Männliche aus Wachs (muß aber patent sein). Beide ganz dabeizuhalten, dazu also hängt ein Spiegel auch auf der Straße, in jeder Öffentlichkeit, es hängen ihrer viele, auf Schritt und Tritt. Die Auslage spiegelt /(397) und vermehrt dadurch, was im Käufer vorgehen sollte, was er kleinbürgerlich sein möchte, damit er kauft. Der übliche Lese- und Filmstoff des Westens liefert viele solche Bilder des erwünschten Wohlverhaltens, des fruchtlosen Scheins. Betrügerische Wegweiser sind hier aufgestellt: zum tanzenden Arbeitstier, zur Reise des Angeketteten, zur Glanzehe des Verschnittenen. Alles in der Art Lüge, die süß und wiederum unmöglich genug sein muß, um zu berauschen und doch im Geschirr zu halten. Ein wirklicher Ausweg aus der Öde scheint der Sport; echte Wünsche fühlen sich hier im Start; Wettbewerb, für kleine Leute fast ausgestorben, hat Zuflucht. Aber das Feld ist schmal, das Vorwärtskommen Spielform, der Ernst bleibt unbewegt. Der Schwimmer verbessert Rekorde nur im Wasser, der Boß aber im Profit. Freilich: ganz andere Spitzenleistungen kämen heraus, würde der Erste im Dulden, der Starke im Ducken, der Champion im Herunterschlucken, in guter Miene zum bösen Spiel ausgezeichnet. Hier sind die unbekannten Sieger jenes Lebens, das den Menschen im kapitalistischen Lebensweg noch wirklich geboten wird, ohne Lüge. Der Boxer steht im Ring, gibt Saures, aber der beste Nehmer steht vor den Seilen, als Zuschauer. Ist der wahre Meister im Empfang von Kinnbaken, im Aufstehen, wenn die Glocke tönt. So vor allem gefällt er denen, die das getäuschte Stehaufmännchen beider Stange halten. 25
DAS NEUE KLEID, DIE BELEUCHTETE AUSLAGE
Ein samtener Kragen putzt. Spruch Nun kann keiner aus seiner Haut heraus. Aber leicht in eine neue hinein, daher eben ist alles Herrichten Ankleiden. Das frische Hemd liegt ohnehin morgens ausgebreitet wie der junge Tag, ein neuer Mantel deckt dem entlassenen Sträfling alles Vergangene zu. Das wählbare Kleid unterscheidet den Menschen vom Tier, und der Schmuck ist noch älter als dies Kleid, er teilt sich ihm bis heute heraushebend mit. Gar Frauen ziehen mit dem Gewand ein neues Stück ihrer selbst an. Sie ist eine andere im /(398) anderen Kleid, im feinen Schaum des weiblichen Putzes. Der Wunsch, sich vielfach zu versuchen, beginnt aber auch bei den meisten übrigen Menschen mit dem ebenso makellosen wie variablen Schein, den ein Schneider
spenden kann. Daher ist es alten oder seßhaften Leuten bequem, immer auf gleiche Art angezogen zu sein. Andere fühlen sich sofort ohne Falte, wenn die Hose keine wirft. Gut aufgebaut Danach hinaus auf die belebte Straße, selber müßig, schauend. Licht kommt zwischen den Bäumen von den hellen Häusern her, von dem Platz am Ende, und ruft. Was aber hier ruft, ist die glänzend beleuchtete Ware hinter Glas, die Kunden sucht. Zum Schnittmuster kommt also die Auslage hinzu, um elegantes Wunschleben zu erregen. Die Auslage ist erst mit dem offenen kapitalistischen Markt entstanden, und sie trägt, bezeichnenderweise am meisten im Westen, immer noch die Eigenschaft: Bedürfnisse zu erregen, vorab solche mit »persönlicher Note«. Zum Zweck, daß dadurch der Herzenswunsch des Geschäftsmanns selber erfüllt werde: Profit zu machen. Die gute Auslage muß darum suggestiv sein, setzt allemal Teile fürs Ganze und die Teile selbst wieder als bloß andeutende, so wird der Aufenthalt vor Schaufenstern unruhig gemacht. Hier der Feinkostladen, mit Schüsseln, die man nicht umhin kann, appetitlich zu nennen. Kaffee, Tee, Schnäpse stehen am besten vor Delfter Kacheln, auf rotem Lack; holländisch-indische Luft lullt den Käufer ein. Hier ein Porzellangeschäft: in der Mitte der gedeckte Tisch, blütenweiß, kristallen, kerzenbeschienen, auf Gäste wartend, die so vornehm sind wie er selber. Hier eine Damenkonfektion höherer Ordnung: unwahrscheinlich schlank geraffte Kostüme auf der Höhe der Zeit wie wenig anderes auf der Welt und doch eine Art Jenseits: so schreiten keine ird'schen Weiber. Hier ein Schneidersalon für Generaldirektoren und solche, die ihnen ähnlich werden wollen: unnachahmlich hat sich der Ulster über den Chippendalestuhl geworfen, ein weicher Hut wartet daneben, schweinslederne Handschuhe, Schuhe wie aus dem Einband eines altflorentinischen Buchs. Der Wanderer jedoch und wer all /(399) dergleichen, wie die meisten, nicht kaufen kann, wird bei noch so erregter Unruhe der Besitzlust doch gerade durch das allzu Hohe nicht aufsässig gemacht. Wem es aber nach mehr gemütlichem Glück zumute sein sollte, der findet es hinter den Scheiben des Möbelgeschäfts. Speisezimmer, Schlafzimmer, Studio, Salon - alles ist vorhanden wie ein gemachtes Bett, und der junge Beamte, der es nicht mehr nötig hat, im Park zu schwärmen, braucht die Braut nur hineinzuwerfen. Er sieht hinter den Scheiben, in Daunen und Lachsfarbe, den legitimsten, aber auch den den wenigsten erfüllbaren bürgerlichen Wunschtraum: das Traumhaus zu zweit von innen. Der Traum vom schönen Haus füllt sich mit den ausgestellten Möbeln, die selber über ihre Verhältnisse leben, mit Fabrikware, die immer wieder Maskerade macht: odaliskenhaft der breite Sessel, kalifornisch der Barschrank, faustisch das Studio. An jeder Ecke formt so das Schaufenster Wunschträume, um den reichen Leuten, die kein Geld haben, es aus der Tasche zu ziehen. Und keiner versteht sich besser auf diese Art Träume als der Dekorateur, der ihre Auslagen ordnet. Er stellt nicht nur Waren aus, sondern das Lockbild, das zwischen Mensch und Ware entsteht; er baut aus Glück und Glas. Und der Passant baut an diesem kapitalistischen Lockbild, wie es dicht neben Slums oder trostlosen Spießerstraßen besteht, diese voraussetzt und vergessen lassen soll, rein menschlich weiter. Unruhig, gewiß, jedoch nicht aufsässig gemacht (denn der Zauber hinter Glas zeigt ja keinen beneidbar sichtbaren Besitzer) bejaht der Kleinbürger gerade vor den ihm unerschwinglichen Auslagen den eleganten und lobenswerten Anblick, zu dem die Herren ihr Leben formen. Es muß die Frau für diese Blumen, für dies Parfüm, es muß des Lebens
Überfluß geben; aber wo ihn finden? Um Weihnachten, wo man nicht sich selbst, sondern andere beschenkt, wird die weltstädtische Ladenstraße geradezu fromm. Doppelt und dreifach glüht die Lichtreklame, die Wünsche hinauf und herunter, wird blau, gelb, rot, grün, gießt Tränke aus, wellt als Tabakrauch, macht aus der Ware allenthalben ein sogenanntes Christkind. Ein putziges Bild, so wie die überfüllten Schaufenster ein täuschendes sind. Den Kaffee, der ins Meer geschüttet wird, braucht man nicht erst auszustellen. /(400)
Licht der Reklame
Stets aber braucht die Ware noch einen Zettel dazu, der sie lobt. Der sie im Wettbewerb besonders ansprechend macht und sie nicht nur im Schaufenster glänzen läßt. Die gezeichnete und gesprochene Auslage, die große Glocke ihrer heißt Reklame. Sie besonders verwandelt den Menschen ins Heiligste, was es neben Eigentum gibt, in den Kunden. Auch frühere Zeiten, andere Länder als kapitalistische hatten eine Art Reklame, doch sie war mehr zufriedenes Selbstlob als Mittel im Erwerbskampf. Sie übersprang, sie ironisierte sogar die Ware; so wie sich heute noch ein Kohlengeschäft, fast höhnisch, als »Orkus« anpreisen mag. Bereits im alten Peking gab es folgende Firmenschilder: über einem Korbgeschäft »Die zehn Tugenden«; über einem Opiumladen »Die dreifache Rechtschaffenheit«; über einer Weinhandlung «Nachbarschaft der Hauptschönheit« ; über einem Holzkohlenladen »Springbrunnen aller Schönheit«; über einem Steinkohlenladen »Die himmlische Stickerei«; über einem Metzgergeschäft »Hammelladen des Morgenzwielichts«. Doch das sind Gedichte, nicht Kassenmagnete, wenn sie auch als Lockung und sozusagen Übertreibung lange der kapitalistischen Reklame vorhergehen. Noch schöner als der Dekorateur spielt nun der Reklamefachmann auf dem Klavier der Wunschträume, sie im Gereizten unwiderstehlich machend, bis ein Kunde aus ihnen reift. Es entstehen nun atlantische Schlager wie folgende: Frühjahrshüte sind kein Kostenpunkt mehr heutzutage; Call for Philipp Morris; Purity and a big bottle, that's Pepsicola; Modern design is modern design; Buick, der Wagen des erfolgreichen Geschäftsmanns. Erwerb von Damenstrümpfen ruft, nach der Versicherung der New York Times, förmliche Neugeburt hervor: »Van Raalte covers you with Leg Glory from sunrise till dark.« Sparsamkeit, Wunsch zum letzten Schrei und Morgenrot haben ein Rendezvous auch für Herren und in billigerer Preislage: «Howard Clothes, styled with an eye for the world of tomorrow.« Die Reklame macht aus der Ware, auch aus der beiläufigsten, einen Zauber, worin alles und jedes gelöst ist, wenn man sie nur kauft. Die Dame der Zeichnung, die Kölnisch Wasser auf die Schläfen tupft, die von Herren eine Schweizer Scho- /(401) kolade entgegennimmt, ist eben dadurch die Glücklichgewordene schlechthin. Schaufenster und Reklame sind kapitalistisch ausschließlich Leimruten für die angelockten Traumvögel. Die so glänzenden und angepriesenen Waren werden, wie Marx sagt, der Köder, womit man das Wesen des anderen, sein Geld, an sich locken und jedes wirkliche und mögliche Bedürfnis in eine Schwachheit verwandeln will. Das alles vermögen gemalte, gut gesprochene Waren, eine Parade von Christmas-, von Easter-Values durch das ganze Jahr. So werden die Angestellten aufgepulvert, ohne daß sie explodieren, und das viele Licht der mehreren und doch allesamt verrotteten Berlin W dient nur dazu, die Dunkelheit zu vermehren. 26
SCHÖNE MASKE, KUKLUXKLAN, DIE BUNTEN MAGAZINE
Ja, ich hab die Schönheit von Mama, doch das Geld von Papa. Jazzlied Noch stärker lockt die Sucht, sich zu verwandeln. Der Mensch zieht dann nicht nur ein neues Gewand an, sondern wird darin unkenntlich. Das Mittel dazu ist nicht das Kleid, sondern die Verkleidung. Es entsteht der Wunsch zur ganz und gar nicht alltäglichen Maske. Die Maske ist zunächst Larve, als solche verbirgt, ja verneint sie das bisherige, das im bisherigen Leben dargestellte Ich. Die Hausfrau, der Kaufmann verschwinden, an die Stelle tritt ein buntes Bild ihrer selbst. Das wird nun auf den Leib aufgetragen, damit bewirtet sich der Träger. Es geschieht jene Verkleidung, die in vielen Fällen gar keine ist, sondern eine kleine Erfüllung. Die Maske ermöglicht dem Bürger nicht nur, so auszusehen, wie er auf Festen zu sein und genommen zu werden wünscht, sie erlaubt ihm auch, recht ausgelassen zu handeln. Ja, sie sitzt ihm, wenn er als Verbrecher, Henker oder Pascha verkleidet ist, oft besser am Leib als sein alltäglicher, sozusagen aufgezwungener Rock. Er wirft damit einen Traum über sich, den Traum vom bunten oder großen Tier. Und man begreift, /(402) welche Rolle der Vermummte im Leben spielen möchte, auch könnte, wenn er nicht verhindert wäre. Er ist als Henker, Lustmörder, Prinz gar nicht nur maskiert. Der gut Verkleidete hat sich entkleidet, so sieht er inwendig aus. Die krummen Wege Seltener macht es sich, auch draußen ein buntes Tier zu sein. Es überrascht, daß, um reich hervorzustechen, nicht noch mehr Verbrechen geschehen. Alle Verbrecher, auch wenn sie aus der Hefe kommen, sind kleinbürgerlich, nur im Wohlstand lebt sich's angenehm, das wollen sie. Das Verbrechen, so scheint es, macht über Nacht reich, wenn man die Nacht so zu benutzen versteht wie der besitzende Herr seinen Tag. Zweifellos besteht für arme, also verhinderte Ausbeuter ein beständiger Reiz, in die Unterwelt zu gehen, in dieses ihr Schlacht- und Gauklerfest. Dem Reiz des Revolvers wird im Kleinbürgertum nur deshalb verhältnismäßig selten nachgegeben, und er bleibt geplant, weil seine Folge sehr gute Nerven verlangt, auch viele schwarze Freitage hat. So sagt ein alter Spruch, rechtschaffen sei der, welcher von den Verbrechen nur träumt, welche die anderen tun; der Hochstapler ist aber auch außerhalb des Maskenballs dasjenige, was er zu sein wünscht, ein Prinz. Ja, das Gauklerfest hält sich als Berufskleidung oft auch bei kapitaleren Verbrechern: die krumme Straße soll zugleich die farbig-unheimliche sein und bleiben, das Verbrechen selber liebt und hält die anarchische Romantik, die der Kleinbürger darüber legt. So wird verwahrloste Jugend durch das Gangsterbild, das Blutwunschbild verführt; es gibt aber auch wirklich spaßhafte Raubmörder, vor allem Lustmörder, die ihr Gewerbe zu allem übrigen in einer Art Traumspiel, vor allem mit Rächerwünschen, agieren und so komödiantisch vermehren. Sie narren die Polizei in Briefen, die zur Entdeckung führen; die Lust an der Rolle, an der endlich nicht bloß gespielten, ist zu groß. Das als solche Rolle Ersehnte und Gemeinte wird durch Zeugnisse belegt; sie sind überdies auf fürchterliche Art dichterisch. So ein Brief des neunzehnfachen Düsseldorfer Lustmörders Kürten, um 1930, an die Polizei; triefend von Blutdurst, grinsendem, sogar moralisch /(403) drapiertem Leid und schmierigem, doch sehr sich auskostendem Verbrecherstil. Der Lustmörder versteht sich auf doppelte Schaurigkeit und schreibt: »Sie interessieren sich wohl für mein Tun. Da mein Anfang in einer anderen Gegend liegt, dürfte Nachfolgendes Ihre besondere
Aufmerksamkeit verdienen. In Langenfeld (nördlich von Köln) war der Anfang und, wenn meine Stunde dafür gut ist, dann auch das Ende meiner Not. Dort lebt ein Wesen, das im moralischen Leben und auch im Denken kaum einem Menschenkinde zu vergleichen ist. Daß die mir nicht gehören kann, hat mich zu all dem furchtbaren Tun getrieben. Die muß noch sterben, und wenn es auch mein Leben kostet, vergiften habe ich sie wollen, doch der gänzlich reine Körper hat das Gift überwunden. Jetzt habe ich bessere Zeit, die Meine muß abends von Hilden nach Hause, die Zeichnung des Wegs liegt bei. Sie ist mein nächstes Opfer« - und ein späterer Brief schließt mit Versen wie aus dem Abort der Schlaraffia, doch ihr Inhalt stimmte: Am Fuß von Pappendelle An der angekreuzten Stelle, Wo kein Unkraut wächst, Und die mit einem Stein bezeichnet ist, Liegt eine Leiche anderthalb Meter tief. Die Briefe steckten in schwarzgerändertem Trauerkuvert; der Selbstgenuß am ausgeführten, trotzdem noch drapierten Mord ist groß. Ein Teil Nazi meldete sich in alldem an, er nahm später viel spaßhafte Raubmörder, moralische Lustmörder auf. Die krummen Wege sind derart besonders genau mit grausamen Wunschbildern besetzt, einschließlich denen des Hochgerichts am Ende, mit dessen unausdenklicher Grausamkeit sich der christliche Bürger jahrhundertelang das Unglück versüßte, nicht selber rädern, vierteilen, brennen zu dürfen. Erfolg durch Schrecken Immer mehrere dergleichen drängten dazu, auch im Leben vermummt zu sein. Fratze und Kapuze sind dem Möchtegern nicht /(404) nur auf Bällen, sie sind auch untertags erwünscht. Die Maske hat sich nicht nur bei den altmodischen Privatverbrechern aus dem Kostümfest herausbewegt, sie wurde faschistischer Ernst. Öffentlicher, politisch gemachter, es kam die Nacht der langen Messer und ihr Tag. «Wolfsgebiß« und «Kupeeschrecken«, Scherzartikel, die sich Handlungsreisende anlegten, um Mitreisende zu belustigen, wurden Parteiabzeichen. Eben hatte Papa im Kostümfest des Vereins Frohsinn noch den Richter Lynch dargestellt, und er wurde einstimmig zur gelungensten Maske des Abends erklärt. Nun war er das gleiche auf der Straße, aber wirklich und tadellos; und die Juden mit abgeschnittenen Hosen und mit launigen Tafeln um den Hals, die Judenliebchen mit geschorenen Köpfen im Zug lösten Lachsalven aus, bevor sie andere Salven auslösten. »Regression« brach aus, Apachen, Totenköpfe, Ritter vom feurigen Nachthemd belebten die Straße, Polizei machte sie doppelt unsicher. Alle Wünsche kamen an, die der Kleinbürger im Karneval markiert hatte, jedes Feurio und Mordio, wie sehr erst die Wünsche derer, die als Fememörder, Kukluxer, Kapuzenmänner und dergleichen falsche Revolte in die echte Barbarei getrieben haben. Der faschistische Scharlatan griff zur Werwolfsmaske, er magisierte mit halb-irren Namen, mit Szenerien aus dem Schauerroman, wo dieser in den Kitsch übergeht, aber auch in die gut gebrauchte, nützlich gebaute Schizophrenie des Spießers. Also der Schlaraffia des Ernstfalls, auch sie kommt aus dem goldenen Westen. Tonangebend bleibt hier der amerikanische Kukluxklan, die reaktionäre Untergrundbewegung der amerikanischen Südstaaten nach dem Bürgerkrieg, dann erneut nach dem ersten Weltkrieg. Die Bande trug Dominos mit Kapuze, der Stoff
war dunkel und mit weißen Zeichen benäht, die im Fackellicht gespenstisch wirken sollten. Es gab Zeichen in Gestalt eines Bowiemessers, es gab unter ihnen Kugeln, Halbmonde, Kreuze, Schlangen, Sterne, Frösche, Räder, Herzen, Scheren, Vögel, Rinder. Der Klan selbst nannte sich Invisible Empire; das Reich hat einen »Kaiserlichen Zauberer« an der Spitze, ihm folgen der «Große Drache«, der »Große Titan«, der »Große Zyklop«. Es gibt »Klan-Wölfe« und »Klan-Adler«, die Namen der Gemeinen stimmen mit den Figuren auf ihren Dominos überein; auf den Bergen der Versammlung /(405) aber brennt ein Feuerkreuz. Extremes Anderssein wird mit dieser Mummerei vorgemacht, barbarisch buntes, wodurch der blutrünstige Babbit aus sich Tabu macht. Im Anschluß an Indianergeschichten und Totems, auch an mittelalterliche Feme, überhaupt ans ausschließlich finstere Mittelalter, wie das amerikanische Magazin es sich vorstellt. Die Masken des Klans waren so die erste faschistische Uniform, und seine Aufrufe kolorierten mit ihren Wunschbildern als erste die »Revolution« von rechts, die Lynchrevolution. Lehrreich hierzu der Start der Bewegung, der vielleicht noch einmal erscheinende, der Aufruf des Arkansas-Klan April 1868, wie folgt: KKK Special Order No. 2 Spirit Brothers; Shadows of Martyss; Phantoms from gory fields; Followers of Brutus!!! Rally, rally, rally. When shadows gather, moons grow dim an stars tremble, glide to the Council Hall und wash your hands in tyrant's blood; and gaze upon the list of condemned traitors.The time has arrived. Blood must flow. The true must be saved. Work in darkness Bury in waters Make no sound Trust not the air Strike high and sure Vengeance! Vengeance! Vengeance! Das klingt ohne weiteres wie des Lustmörders Kürten zitierte Verbrechersprache, doch mit revolutionärer Maskerade. In der wirklichen Primitive drängte der Maskenträger durch seine Vermummung sich in das Wesen ein, das durch die Maske dargestellt ist. Der Wilde mit Löwenmaske wird zum Löwengott selbst, er glaubt, als dieser handeln zu können. Noch der tanzende Derwisch, wenn er sich um seine Achse dreht, fühlt sich als Himmelskörper, der sich um die Sonne dreht; dadurch zieht /(406) er in der Einbildung die Kräfte der Sonne auf sich herab. Die zivilisierte Barbarei aber gebraucht die Maske, dieses Falls die des Menschenfressers, gar nicht nur, um an diesem ihrem Wunschidol noch mehr als ohnehin zu partizipieren, sondern vor allem auch, um Entsetzen zu erregen, um durch Schreck zu lähmen. Und die Maske saß wie angegossen, als das Großkapital sie rief, als wirklich »Monde verblichen und Sterne zitterten« und die Kristallnacht auf die Straße kam. Erfolgsbücher, Geschichten aus Syrup Doch diese Lust, sich zu verwandeln, muß auch in freundlichere Felder schweifen
können. Denn hinter all ihren verbrecherischen Bildern steht eben ein kleinbürgerlich gelecktes, zu ihm flieht der wilde Babbit zuletzt. Es findet sich sowohl prosaisch, in den Erfolgsbüchern, wie in der sozusagen poetisch behandelten Süßigkeit, in der Süßigkeit mit Handlung, kurz in der Magazingeschichte. Die Erfolgsbücher sind solche, die mit und ohne Ellbogen den Weg zum gemachten Glück versprechen. Das können bereits kosmetische sein, sie sind wie jener französische Koch, der aus einem Handschuh ein Beefsteak zu machen verstand. Ihnen schließen sich die Ratgeber im Lebenskampf an, für die verhinderte Schönheitskönigin, für den Glückspilz in spe. Abbildungen (gute Manieren lehrend) unterstützen die Darlegung, zuletzt wird dem Angestellten im Großtableau sein Ziel gezeigt: er sitzt am Eßtisch zwischen der Familie des Chefs, neben ihm die halb gewonnene Tochter; Monogamie, mit Einheirat übersetzt, schließt das Erfolgsbuch ab. Am verbreitetsten blüht diese Gattung in Nordamerika; how to win friends and to influence people, gerade das gehört zum Geschäft. Die Rubriken eines «Popular Guide to desirable living« lauten: «How to live your life; The secrets of health; Love and marriage; How to make money; The way to charm; Success with your children; How to sharpen your memory; Unmarried, but -; Never too old to love; How to make people to like you; How to talk about books, theatre, music, arts.« Kurz, hier ist ein wahrer Pharus im kleinbürgerlichen Wunschmeer, und er führt zum perfekten Babbit, das ist, zum Wunschziel des Babbits mit Kredit. Soviel /(407) über rationale Erfolgskurse und ihren Siegerpreis; es gibt aber auch, was am wenigsten erstaunt, irrationale. Sie erwecken »die geheimen Kräfte« im Menschen, sie stellen fest: «Die intensive Inanspruchnahme des heutigen Erwerbslebens bedingt bei vielen Herren eine vorzeitige Abnahme ihrer besten Kraft«, sie machen magnetisch. Sie beheben Schüchternheit im Verkehr mit dem anderen Geschlecht, bilden Salonlöwen und den Mann, dem Damen das Ruder ihres Lebensschiffleins gern übergeben. Zu Erfolgsbüchern gehören sogar die verschiedenen Ratgeber sexueller Gelehrsamkeit, soweit sie nicht purer Ersatz oder für bloße Voyeurs da sind. Der spießbürgerliche Gipfel wurde in van de Veldes »Vollkommener Ehe« erreicht, dem ehrbaren Zotenbuch, dem pedantischen Wegweiser auf dem Umweg zur Lust. Der Privatdruck für Weinhändler, zu dem längst schon die ars amandi geworden, wird nun Muttermilch mit Whisky; zugleich entsteht Ersatz für den klugen, ratgebenden Beichtvater von ehedem. Aber die Liebe vergeht und die Versicherungsgesellschaft bleibt; ihr ist deshalb jedes Erfolgsbuch zuletzt gewidmet oder den Instinkten, die zu ihr hinführen. Das Traumbuch des vollendeten Beischlafs versinkt vor dem bedeutend amerikanischeren der well-to-do-Bilanz, des Schäfleins im Trocknen. Ganz am Ende, wo sonst Torschlußpanik droht, erscheint im Versicherungsprospekt daher ein vornehm zurückgezogenes Haus, mit Wald und See und dem freundlichen Briefträger am Gitter, der dem rosenzüchtenden Hausherrn und der schlummernden Gemahlin gerade die Versicherungsrente bringt. Das alles verspricht der Führer zum Leben und fällt aus der Prosa völlig in Poesie, nämlich in das Rosarot, das es für keinen Möchtegern-Kapitalisten, der zu einem Erfolgsbuch greifen muß, mehr gibt. Werden alle anspruchsvoll Strebenden enttäuscht, so nicht die, welche ohne Anspruch lesen. Ihnen bietet sich die Magazingeschichte an, sie schummert deutsch aus der Zeit her, wo sie sich allemal kriegen, sie lügt schlechthin amerikanisch. Darin werden vorgetäuschte Lebensläufe in aufsteigender Linie besichtigt, empor zu Geld und Glanz, auf dem Papier. Und der Pfiff, wodurch der Aufstieg gemacht wird, ist immer derselbe, er ist, wie Upton Sinclair einmal sagte, der des unmöglichen /(408) Zufalls. Dienstmädchen heiraten erfolgreiche Goldgräber oder Männer mit einem goldenen Herzen, die bald darauf ein Petroleumlager entdecken. Arme
Stenotypistinnen, die sich jede Kalorie für Seidenstrümpfe absparen, begegnen einem Angestellten, Liebe entspinnt sich, der Liebhaber spendet bescheidene Ausflüge, die ihm Gelegenheit geben, das edle Wesen seiner Geliebten zu entdecken, zuletzt aber entdeckt er ihr sich selbst, nämlich als Chef in eigener Person, und führt die Braut heim sounds like magic, doesn't it? Oder ein so armer wie hübscher Bursche hält ein durchgegangenes Pferd auf, lernt auf diese Weise die reiche Erbin kennen, die dann seine Frau wird - ein goldenes Bett der freien Unternehmung mitten im Monopolkapital. Die Magazingeschichte zeigt, mit unmöglichem Zufall, lauter solch private Umwälzung, nämlich hinauf auf die Höhen der Gesellschaft. Sie vermittelt den Zaunblick, den falsch hoffnungsvollen, in die reichsten Kreise, sie ist, besonders in Amerika, das millionenfach verbreitete Fusel-Epos vom großen Los. Das alles, dieses Falls im Spießer-Deutschland, durchsetzt mit Gemüt, aus der Plüschzeit des vorigen, keineswegs ausgestorbenen Jahrhunderts: »Ich weiß eine Bank, wo der wilde Thymian blüht.« Oder immer noch a' la Marlitt: »Und dann ging's kling, kling, mit fröhlichem Schall in die Winterpracht hinein, wie Glücksgeläute klang's in den Herzen der Jugend wider, als künde es nur Frohes und Schönes fürs ganze Leben.« Oder romantisch solid: »Wie mollig es im Gutshaus war! In allen unteren Zimmern brannten die farbig verhüllten Lampen, denn früher noch als gewöhnlich war heute bei dem Schneetreiben die Dämmerung hereingebrochen. Und in allen Öfen knisterte die von kernigen Holzscheiten entfachte Glut, und selbst draußen im großen Vorflur strömte ein großer altmodischer Kachelofen Wärme aus.« Oder romantisch-dämonisch, wieder hinauf, wenn auch mit gleich kerniger Prosa, zum aristokratischen Hochland des Spießer-Respekts, der Verklärung: »Diese alten Schlösser, düster und schweigsam von außen, feenhaft im Innern - mit ihren prunkvollen Brokatwänden, ihren Portieren aus schweren Stoffen. Welch fremdartiges und phantastisches Schauspiel schlägt uns da entgegen! An jeder Tür lauert die Intrige, aber längs der halbdunklen Korridore knüpft die Liebe ihr zartes Band.« Die /(409) Magazingeschichte bleibt derart die ergriffenste in ihren feudalen, die wundergläubigste in ihren kapitalistischen Bildern. Tiefen Frieden mit der Oberschicht atmet sie aus, will ihn lehren, verbreiten, intakt erhalten. Das alles, was den Erfolgstraum angeht, mit ständig offenen Armen des happy-end, eben des kapitalistisch-feudalen; ein anderes Ende gibt es nicht, kann, darf, wird nicht sein. Das Parasitenleben der Oberschicht wird dadurch dargestellt als hoch in Ordnung, Reichtum ist Gnade. Der arme Teufel rebelliert nicht, er fliegt von selber der reichen Erbin in den Schoß. Dies Wohlgefällige, dies Unmögliche, doch keine Spielregel Störende unterscheidet allein schon den Glückskitsch der Magazingeschichte von der weit weniger passiven, daher edlen Spießern verhaßten Kolportage. Insgesamt geschieht in den Spiegeln dieses geschriebenen Kitschtraums nichts als Zufall, und der Segen, den er dem Glückspilz bringt, mehrt im ganzen atlantischen Zauber die billigen Don Quichotes der sinnlosen Hoffnung. 27
BESSERE LUFTSCHLÖSSER IN JAHRMARKT UND ZIRKUS, IN MÄRCHEN UND KOLPORTAGE
Entchen, Entchen, da steht Gretel und Hänsel. Kein Steg und keine Brücke, nimm uns auf deinen weißenRücken.
Hänsel und Gretel Dann gingen wir schlafen. Ich schlief aber nicht, sondern ich wachte. Ich sann auf Hilfe. Ich rang nach einem Entschloß. Das Buch, in dem ich gelesen hatte, führte den Titel: »Die Räuberhöhle an der Sierra Morena oder der Engel aller Bedrängten.« Als Vater nach Hause gekommen und dann eingeschlafen war, stieg ich aus dem Bett, schlich mich aus der Kammer und zog mich an. Dann schrieb ich einen Zettel: »Ihr sollt Euch nicht die Hände blutig arbeiten, ich gehe nach Spanien; ich hole Hilfe.« Diesen Zettel legte ich auf den Tisch, steckt ein Stückchen trockenes Brot in die Tasche, dazu einige Groschen von meinem Kegelgeld, stieg die Treppe hinab, öffnete /(410) Die Tür, atmete da noch einmal tief und schluchzend auf, aber leise, leise, damit ja niemand es höre, und ging dann gedämpften Schritts den Marktplatz hinab und die Niedergasse hinaus, den Lungwitzer Weg, der über Lichten-Stein und Zwickau führt, nach Spanien zu, dem Land der edlen Räuber, der Helfer aus der Not. Karl May, Mein Leben und Streben Wenn Seemannsgarn zu guten Seemaunsweisen Von Glut und Kälte, Stürmen und Passaten, Von Schiffen, Inseln, Abenteuerweisen, Von Ausgesetzten, Schätzen und Piraten, Kurz all der Zauber alter Heldentaten, Wie er von je mein ganzes Herz bezwungen, Berichtet nach der Weise der Janmaaten, Auch euch noch reizt, ihr neunmalklugen Jungen. So lauscht mir denn! - Doch war ich zu vermessen, Will keine Sehnsucht sich mehr offenbaren, Seid ihr zu nüchtern, habt wohl gar vergessen, Wer Kingston, Ballantyne und Cooper waren, Für die ich einst geschwärmt in jungen Jahren: So sei's. Dann will ich schweigend und bezwungen Mit meinen Helden in die Grube fahren, Die sie und ihre Werke längst verschlungen. Stevenson, Die Schatzinsel, Widmungsgedicht an den zögernden Käufer Durch das planlose Umherstreifen, durch die planlosen Streifzüge der Phantasie wird nicht selten das Bild aufgejagt, das die planvolle Philosophie in ihrer wohlgeordneten Haushaltung gebrauchen kann. Licbtenberg Gegen Abend mag am besten erzählt werden. Das gleichgültig Nahe verschwindet, Fernes, das besser und näher scheint, rückt heran. Es war einmal: das bedeutet märchenhaft nicht nur ein Vergangenes, sondern ein bunteres oder leichteres Anderswo. Und die dort Glücklichgewordenen leben, wenn sie nicht gestorben sind, heute noch. Auch im Märchen ist Leid, doch es wendet sich, und zwar auf immer. Das sanfte, übel gehaltene Aschenbrödel geht zum Bäumchen auf seiner Mutter Grab, Bäumchen rüttel dich und schüttel dich, ein Kleid fällt herab, so prächtig und
glänzend, wie Aschenbrödel noch keines gehabt, und die Pantoffel sind ganz golden. Das Märchen wird zuletzt immer golden, genug Glück ist da. Gerade die kleinen /(411) Helden und Armen gelangen hier dorthin, wo das Leben gut geworden ist. Mut des Klugen Nicht alle sind so sanft, diese Güte nur abzuwarten. Sie ziehen aus, ihr Glück zu finden, klug gegen roh. Mut und List sind ihr Schild, ihr Spieß der Verstand. Denn Mut allein hülfe den Schwachen wenig gegen die dicken Herren, er würfe ihnen nicht den Turm zu Boden. List des Verstandes ist dem Schwachen sein menschlicher Teil. So phantastisch das Märchen ist, so ist es doch, in der Überwindung der Schwierigkeiten, immer klug. Auch reüssieren Mut und List im Märchen ganz anders als im Leben, und nicht nur das: es sind, wie Lenin sagt, allemal die schon vorhandenen revolutionären Elemente, welche hier über die gegebenen Stränge fabeln. Als der Bauer noch in Leibeigenschaft lag, eroberte so der arme Märchenjunge des Königs Tochter. Als die gebildete Christenheit vor Hexen und Teufeln zitterte, betrog der Märchensoldat Hexen und Teufel von Anfang bis Ende (nur das Märchen pointiert den »dummen Teufel«). Gesucht und gespiegelt wird das goldene Zeitalter, wo bis ganz hinten ins Paradies hineinzusehen war. Aber das Märchen läßt sich von den heutigen Paradiesbesitzern nichts vormachen; so ist es aufsässig, gebranntes Kind und helle. Man kann auf einer Bohnenranke in den Himmel klettern und sieht dort, wie die Engel Geld mahlen. Im Märchen »Der Gevatter Tod« bietet sich einem armen Mann der liebe Gott selbst als Gevatter an, aber der arme Mann antwortet: «Ich begehre dich nicht zum Gevatter, denn du gibst dem Reichen und läßt den Armen hungern.« Hier überall, in Mut wie Nüchternheit wie Hoffnung, ist ein Stück Aufklärung, lange bevor es diese gab. Das tapfere Schneiderlein in Grimms Märchen, ein Fliegentöter von Haus aus, zieht in die Welt, weil es meint, die Werkstätte sei zu klein für seine Tapferkeit. Es begegnet einem Riesen, der Riese nimmt einen Stein in die Hand und drückt ihn zusammen, daß das Wasser heraustropft, wirft einen anderen Stein so hoch, daß man ihn kaum noch sehen kann. Doch der Schneider übertrifft den Riesen, indem er statt eines Steins einen Käse zu Brei /(412) zerdrückt und einen Vogel so hoch in die Luft wirft, daß er überhaupt nicht wiederkommt. Schließlich, am Ende des Märchens, besiegt der Kluge alle Hindernisse, erringt die Königstochter und die Hälfte des Reichs. So kann im Märchen aus einem Schneider ein König werden, ein König ohne Tabu, der den ganzen feindseligen Mutwillen der Großen abserviert hat. Und wo die Welt noch voller Teufel war, widersteht ein anderer Märchenheld, der Bursche, der auszog, das Fürchten zu lernen, der Angst auf der ganzen Linie, er setzt Leichen ans Feuer, daß sie sich wärmen, kegelt mit Gespenstern im verwunschenen Schloß, nimmt den Obersten der bösen Geister gefangen und erlangt dadurch einen Schatz. Der Teufel selber läßt sich im Märchen betrügen, ein armer Soldat betrügt ihn, indem er ihm die Seele verkauft unter der Bedingung, daß er den Soldatenschuh mit Gold fülle. Aber der Schuh hat ein Loch, der Soldat stellt ihn über eine tiefe Grube, und so muß der Teufel Säcke über Säcke voll Gold beischleppen, bis zum ersten Hahnenschrei, um dann geprellt davonzufahren. Also müssen im Märchen selbst durchlöcherte Schuhe dem, der sich darauf versteht, zum Besten dienen. Leiser Spott über bloßes Wünschen und die märchenhaft einfachen Mittel, ans Ziel zu kommen, fehlt nicht, ebenfalls aufgeklärter, doch er entmutigt nicht. In alten Zeiten, beginnt das Märchen vom Froschkönig, wo das Wünschen noch geholfen hat, - das Märchen gibt sich
mithin nicht als Ersatz fürs Tun. Wohl aber übt der kluge August des Märchens die Kunst ein, sich nicht imponieren zu lassen. Die Macht der Riesen wird als eine mit einem Loch gemalt, durch das der Schwache siegreich hindurch kann. Tischleindeckdich,, Geist der Lampe Auch gute Dinge, wie sie noch nie gesehen waren, stehen hier bei. Vor allem Wunschgeräte der bequemsten Art bieten sich dem Schwachen an, magisch. Am sinnfälligsten wirkt derart Grimms Märchen Tischleindeckdich, Goldesel und Knüppel aus dem Sack: ein Held, ein armer verstoßener Junge; kommt zu einem Schreiner in die Lehre und erhält dort, als seine Zeit um ist, ein Tischlein ohne besonderes Ansehen, aber mit besonderer /(413) Bewandtnis. Spricht man zu ihm »Tischlein deck dich«, so bedeckt es sich augenblicklich mit Speisen so gut, wie kein Wirt sie hätte herbeischaffen können, und ein großes Glas mit rotem Wein steht daneben. Hinzu kommt ein wundertätiger Esel, der speit nach Wunsch Goldstücke aus, hinten und vorn; zuletzt erscheint der Knüppel aus dem Sack oder die magische Waffe, ohne welche der Arme, auch wenn er reich und glücklich geworden, in dieser Welt nicht bestehen kann. Das Tischleindeckdich hat in der Märchen-Wunschmagie viele Brüder: die fliegenden Pantoffel in Hauffs Geschichte von dem kleinen Muck und sein Spazierstöckchen als Wünschelrute; das Stück Holz im Märchen «Saids Schicksale«, unter dem Schiffbrüchigen verwandelt sich das Holz in einen Delphin, der Said pfeilschnell ans Ufer trägt. Grimms Märchen »Bruder Lustig« kennt einen Ranzen, in den der Bruder alles hineinzaubern kann, was er wünscht: gebratene Gänse, acht Teufel, zuletzt, nachdem er den Ranzen in den Himmel geworfen hat, schafft er sich mit ihm selber in den Himmel. Grimms Märchen »Die Wassernixe«, das mit einem ungeheuren Knüppelausdemsack versehen ist, läßt Kinder gegen die böse Nixe eine Bürste, dann einen Kamm, dann einen Spiegel hinter sich werfen. Daraus wird zuerst ein großer Bürstenberg mit Tausenden von Stacheln, dann ein Kammberg mit Zinken, dann ein Spiegelberg, so glatt, daß die Nixe ablassen muß und nicht mehr herüber kann. Spiel und Magie haben im Märchen so insgesamt Freipaß, Wunsch wird Befehl, Mühe der Ausführung fällt weg, auch trennender Raum, trennende Zeit. Bei Andersen bringt ein fliegender Koffer ins Land der Türken, Galoschen des Glücks führen einen Justizrat zurück ins Kopenhagen des fünfzehnten Jahrhunderts. In Tausendundeiner Nacht fliegt das »Zauberpferd« am Himmel trägt es hin, und ebendort wartet, mit gekreuzten Armen, der stärkste Wunscherfüller: der Geist der Lampe. Höchst bezeichnend ist gerade dies reichste Märchen »Aladin und die Wunderlampe« auf lauter Wunschutensilien zur Erlangung des Nichtzuhandenen aufgebaut. Räucherwerk wird entzündet, der falsche Oheim murmelt geheimnisvolle Worte, und alsbald geht die Höhle auf mit den verborgenen Schätzen, die auf den Namen Aladins gehäuft sind. Ein unterirdischer Garten erscheint, und /(414) die Bäume sind mit Edelsteinen bewachsen statt Früchten. Der Sklave des Rings, der Geist der Lampe treten vor - beide halluzinierte Urwünsche nach Macht, nach einer, die nicht auf bestimmte Güter beschränkt ist wie beim Tischleindeckdich, sondern die Lampe bringt ihrem Herrn alles, unbegrenzt alles, was er begehrt. Der Geist der Lampe verleiht Schätze ohne Zahl, Schönheit des Körpers und augenblickliche ritterliche Kunst, Feinheit der Rede wie des Geistes. Er baut über Nacht einen Palast, wie die Erde keinen getragen, mit Schatzkammer, Marställen und Rüsthaus; die Steine sind aus Jaspis und Alabaster; die Fenster aus Juwelen. Ein leichter Befehl: und im Augenblick versetzt die Lampe den Palast von China nach Tunis, dann zurück an die alte Stelle, ohne daß nur der Teppich vor dem
Portal sich im Wind bewegt hätte. Nicht übersehbar ist auch die magische Tafel, die dem falschen Oheim fast Allwissenheit über die Vorgänge auf der Erde verleiht: »Nun aber entwarf er an einem Tage unter den Tagen eine Sandtafel, und er streute die Figuren hin und erforschte ihre Folge genau; und alsbald stellte er die Folge der Figuren, der Mütter sowohl wie der Töchter, sicher fest« - es ist dieselbe geomantische Tafel, kraft deren der Zauberer in Tunis von dem fernen Schatz in China erfahren hatte, den Aladin dann hob. Lauter Wunschmittel, lauter via regia, um auf kürzestem Weg (im Märchen) zu erlangen, was die Natur selber, außerhalb des Märchens, dem Menschen verweigert. Überhaupt ist technisch-magische Schatzgräberei das Märchenhafte selber in dieser Art Märchen; denn der gefundene Schatz symbolisiert wie wenig anderes das Wunder der plötzlichen Veränderung, des jähen Glücks. Scharfsinn und Räucherwerk sind im Aladin-Märchen dazu vonnöten, Scharfsinn allein genügt in dem verweltlichten Schatzgräbermärchen Edgar Allan Poes »Der Goldkäfer«, in Stevensons »Schatzinsel«. Aber noch in diesen Halbmärchen (zur Abenteuergeschichte übergehend) macht der Schatz Spannung wie Wende; er selbst ist die Springwurzel, die das Leben aufriegelt und seinen Glanz erwerben läßt. Das technisch-magische Märchen geht derart nur indirekt oder notgedrungen auf Besitz; es geht auf die Verwandlung der Dinge zu jederzeit vorhandenen Gebrauchsgütern. Es malt statt der kurzen Decke, nach der fast /(415) jeder Mensch sich strecken muß, ein Lotterbett der Natur. Es intendiert um das Heimatgebiet aller Tischleindeckdich und auch der Wunderlampe wieder mit einem Märchen zu bezeichnen - es intendiert Schlaraffenland. Die gebratenen Tauben darin: das klingt zudem, als hörte man bereits ein soziales, bereits ein Staatsmärchen, einfacher in seinen Gütern, aber noch nahrhafter als alle anderen. »Auf Flügeln des Gesanges, Herzliebchen trag ich dich fort« Der Bursche, der das Fürchten lernen wollte, träumte nur erst schwach. Auch das tapfere Schneiderlein erlangte die Prinzessin fast absichtslos, weil sie nun einmal auf seinem Wege liegt. Alle Märchenhelden finden ihr Glück, doch nicht alle sind bereits deutlich im Traum von ihm zu ihm hin bewegt. Nur die Helden der späteren, doch deshalb nicht schlechteren Kunstmärchen oder märchenhaften Legenden (mit so verschiedenen Autoren wie Hauff, E. Th. A. Hoffmann, Keller) sind auch psychologisch Märchengestalten, nämlich träumerisch-utopischer Natur. Der kleine Muck bei Hauff: er war ausgezogen, sein Glück zu suchen, gerade seinem Traum vom Glück zog er nach. »Wenn er einen Scherben auf der Erde im Sonnenschein glänzen sah, so steckte er ihn gewiß zu sich, im Glauben, daß er sich in den schönsten Diamant verwandeln werde; sah er in der Ferne die Kuppel einer Moschee wie Feuer strahlen, sah er einen See wie einen Spiegel blinken, so eilte er voll Freude darauf zu, denn er dachte, in einem Zauberland angekommen zu sein. Aber ach, jene Trugbilder verschwanden in der Nähe, und nur allzubald erinnerten ihn seine Müdigkeit und sein vor Hunger knurrender Magen, daß er noch im Lande der Sterblichen sich befinde.« In eine anders kuriose, doch ebenfalls zum Märchen geborene Gattung gehört der Student Anselmus aus E. Th. A. Hoffmanns »Goldenem Topf«, dem erklärt romantischen «Märchen aus der neuen Zeit«. Auch Anselmus hat den Kopf voller Träume, und die Geisterwelt ist ihm nicht verschlossen, eben deshalb ist er im Leben der Ungeschickteste. »Also wie gesagt, der Student Anselmus geriet ... in ein träumerisches Hinbrüten, das ihn für jede äußere Berührung des gewöhnlichen Lebens unempfindlich /(416) machte. Er fühlte, wie ein unbekanntes Etwas in seinem Innersten sich regte und ihm jenen
wonnevollen Schmerz verursachte, der eben die Sehnsucht ist, welche dem Menschen ein anderes, höheres Sein verheißt. Am liebsten war es ihm, wenn er allein durch Wiesen und Wälder schweifen und wie losgelöst von allem, was ihn an sein dürftiges Leben fesselte, nur im Anschauen der mannigfachen Bilder, die aus seinem Innern stiegen, sich gleichsam selbst wiederfinden konnte.« Und so errang Anselmus doch noch die tönende Serpentina, wenn auch mit Kampf gegen die Pechsträhne, die ihn hemmte, gegen feindliche Mächte, die in eben dieses Pech und Schlimmeres sich verkleidet haben. Im blauen Palmbaumzimmer des Archivarius Lindhorst, im starken Dreiklang heller Kristallglocken erscheint Serpentina, und er wird ihrer wert. Anselmus gelangt nach Atlantis, wohin er mit der Tochter des Lichtfürsten auf ein Rittergut zieht, nachdem er so lange schon einen Meierhof dort besessen hatte, einen Meierhof in Träumen, als Besitztum des inneren Sinns. Das ist Anselmus, Student aus dem untergegangenen Deutschland; und neben ihm stehen, wie es sich gehört, alle anderen Wunschnaturen des Kunstmärchens wie der Legende aus Don Quichotes Geschlecht. Besonders wenn sie Quichote nur in der starken Phantasie, nicht aber in der Handlungskraft zugehören. Der Ritter Zendelwald in Kellers Legende »Die Jungfrau als Ritter« ist der Verträumteste dieser Art. Daher lebte er völlig unentschlossen, wußte fast nichts von den Dingen, die außerhalb vorgehen. Desto besser freilich kannte er die Wunschgedanken, welche er, in seiner einsamen Burg, von Welt und Frauen aufbaute. »Wenn sein Geist und sein Herz sich eines Dinges bemächtigt hatten, was immer vollständig und mit Feuer geschah, so brachte es Zendelwald nicht über sich, den ersten Schritt zu einer Verwirklichung zu tun, da die Sache für ihn abgemacht schien, wenn er inwendig damit im reinen war. Obgleich er sich gerne unterhielt, redete er doch nie ein Wort zur rechten Zeit, welches ihm Glück gebracht hätte. Aber nicht nur seinem Munde, auch seiner Hand waren seine Gedanken so voraus, daß er im Kampfe von seinen Feinden öfters beinahe besiegt wurde, weil er zögerte, den letzten Streich zu tun, den /(417) Gegner schon im voraus zu seinen Füßen sehend.« Da kam zu dem träumerischen Ritter eine Kunde, die, obwohl sie mitten aus der vollen und wirklichen Welt einlief, doch ziemlich mit dem Gegenstand sich deckte, der seine Einbildungskraft gerade erfüllte. Zendelwald hatte nämlich auf einer seiner spärlichen Reisen die Gräfin Bertrade gesehen, eine junge, überaus schöne und reiche Witwe; er war auf ihrer Burg, in schwerer Verliebtheit, doch schweigsam trennte er sich. Während Zendelwald viele Monate hindurch an nichts anderes mehr dachte als an die ferne Herrenfrau, kam nun die Botschaft, daß der Kaiser ein Turnier ausgeschrieben habe und die Gräfin dem Sieger über alle ihre Hand reichen wolle, fest darauf vertrauend, daß die göttliche Jungfrau sich ins Mittel legen und dem Rechten, der ihr gebühre, die Hand zum Siege lenken werde. Der Ritter machte sich endlich auf den Weg, fiel aber bald wieder in sein altes Bild- und Gedankenwesen, antizipierte wunschgemäß und arbeitete sein Traumwerk aus. »Zug für Zug fand jetzt in seiner Vorstellung das Abenteuer statt und verlief auf das beste, ja er hielt bereits tagelang, während er durch das sommergrüne Land ritt, süße Zwiegespräche mit der Geliebten, worin er ihr die schönsten Erfindungen voraussagte, daß ihr Antlitz in holder Freude sich rötete, alles dies in seinen Gedanken.« Da aber Sinnieren den Schritt hemmt, so kam der Ritter erst an, als das Turnier schon vorüber war, und alles wäre für ihn vergebens gewesen, hätte die himmlische Jungfrau den Graben zwischen Wunschträumen und Wirklichkeit nicht ausgefüllt. Denn sie selber hatte das Turnier in Gestalt des Ritters Zendelwald gekämpft, ja mehr: wie der verspätete Träumer, mit höchstem Erstaunen, seine eigene Person als Sieger und Bräutigam neben der schönen Gräfin sah, wie er, von
wirrer Eifersucht gepeinigt, durch die Reihen brach, um den DoppelgängerNebenbuhler zu sehen, da verschwand im Augenblick das Ebenbild von Bertrades Seite, die Gräfin wandte sich dem wirklichen Zendelwald zu und setzte die Unterhaltung fort, ohne den Wechsel der Person im mindesten bemerkt zu haben. »Allein Zendelwald wußte nicht, wie ihm geschah, als Bertrade ihm wohlbekannte Worte sprach, auf welche er einige Male, ohne sich zu besinnen, Worte erwiderte, die er auch schon irgendwo gesprochen hatte; ja, /(418) nach einiger Zeit merkte er, daß sein Vorgänger genau das nämliche Gespräch geführt haben mußte, welches er während der Reisetage phantasierend ausgedacht hatte.« So wurde der Ritter mit der Gräfin glücklich; aus eigenem Traum wie eigenem Märchen ist dieses Glück hervorgetreten und wirklich geworden. Märchenhaft wirklich; die Jungfrau Maria, selber ein gläubiger Traum, half einem Träumer, mit höchst weichem, fast ruinösem wishful thinking, ins Wunderland. Aus ihrer Inwendigkeit traten freilich weder Anselmus noch der schwache Zendelwald heraus, auch dort nicht, wo ihnen die Fee Legende Boden verschaffte. »Fort nach den Fluren des Ganges, dort weiß ich den schönsten Ort« Und doch wird der Morgen dieser Art nicht nur von innen her gespeist. Die glänzenden Scherben, die der kleine Muck zu sich steckte, leuchteten ihm auch draußen, auf dem äußeren Feld, wo sie lagen, durchaus. Lange bevor das Inwendige von Wunschbildern strömt, werden sie durch märchenhafte Züge der Natur erregt, besonders durch Wolken. In ihnen erscheint zum erstenmal die hohe Ferne, ein getürmtes und wunderbares Ausland, über unseren Köpfen. Kinder halten weiße Kuppelwolken für Eisgebirge, für eine Schweiz am Himmel; auch Burgen finden sich dort, höher als auf der Erde, hinreichend hohe. Die Sehnsucht ist dieser Jugend ohnehin das gewisseste Sein, und das abreisende Abendrot, wohin die Sonne weggeht, verstärkt es noch. Der Junge im Märchen der Lagerlöf: »Reise des kleinen Nils mit den Wildgänsen« zieht mit den Vögeln ihre glänzende und singende Bahn, die Bahn nach Süden, wo die himmlische Burg auf der Erde steht, wo die glückseligen Inseln Wak-Wak im Meer zu Hause sind. Denn auch das erste Bild des Meeres stammt den meisten Menschen vom weiten Himmel und zieht dahin; das heißt: die Wolke ist dem märchenhaften Blick nicht nur Burg oder Eisgebirge, sie ist auch eine Insel im Himmelsmeer oder ein Schiff, und der blaue Himmel, worin sie segelt, spiegelt den Ozean. Ist doch die Ferne über unseren Köpfen, das Luftmeer mit seinen Wolken, nicht einmal auf irdische Küsten /(419) begrenzt oder spiegelt sie wider. Also tauchen alle Märchen, in denen das Himmelsblau vorkommt, dieses in ein riesiges oberes Wasser, und die Reise geht unbeschwert zur Küste, die besonders in diese Phantasie greift: zum Morgenstern. In alldem wirken noch astralmythische Reste, bis hin zum Märchen von den Sterntalern; aber sie sind den Märchen, die noch weiter oder höher als die Vögel fortziehen, so wenig nötig wie der christliche Himmel. Auch ohne all das hat es seine wunderlichen Blicke, und sind sie wunderlich, so tragen sie doch den Glanz eines eigenen Gemüts ganz kosmisch hinaus, und alles duftet darin von Poesie. So in dem Märchenwesen, das Gottfried Keller im »Grünen Heinrich« seine Frau Margret mit dem Regenbogenlicht treiben läßt, gleichwie mit einem Boten. Als ein anderer kleiner Muck mit Scherbenglanz und Utopie in einer Unwissenheit, die sich nicht zu schämen braucht, wenn sie Schöneres enthält als die entzauberte Welt, lebt Frau Margret unter dem Strandgut ihresTrödel- und Raritätenladens, Verschollenes dringt an und läßt sich hören, das Tageslicht selber wird illustriert mit Bildern aus fernen Ländern und Heidenbüchern:
»Alles war ihr von Bedeutung und belebt; wenn die Sonne in ein Glas Wasser schien und durch dasselbe auf den hell polierten Tisch, so waren die sieben spielenden Farben für sie ein unmittelbarer Abglanz der Herrlichkeiten, welche im Himmel selbst sein sollten. Sie sagte: >Seht ihr denn nicht die schönen Blumen und Kränze, die grünen Geländer und die roten Seidentücher? diese goldenen Glöcklein und diese silbernen Brunnen?< und so oft die Sonne in die Stube schien, machte sie das Experiment, um ein wenig in den Himmel zu sehen, wie sie meinte.« Es ist der Realist Keller, der diese Kinderei aufnahm und aufzeichnete; sie setzt, in einem schuldlosen Gemüt, immerhin den Drang zur Sonne fort, der alles Lebende erfüllt, und schmückt ihn aus. Wenn die Ferne in der Muschel wie Meer braust, so mag sie im Prisma wie Hafenlicht aussehen, wie Frau Margrets schrulliges Wunderlicht, und das Märchen hat nichts dagegen. Sogar das ist möglich, daß sein Traum zeichnet, das ist, daß er eine förmliche Karte von seinen Küsten entwirft. Dazu ladet das äußere Feld ohnehin ein, worin er sich bewegt, woraus er hineingelebte Phantasiebilder, märchenhaft geordnet, herausliest und aufnimmt. Kipling, in dem /(420) Traummärchen »The Brushwood Boy», läßt seinen Knaben ganz genau solch eine Karte entwerfen, er reist auf ihr. Hongkong ist hier eine Insel, mitten im »Ocean of Dreams«, und an seiner Küste liegt Merciful Town, die gnadenvolle Stadt, »wo der Arme seine Bürde niederlegt und der Kranke vergißt zu weinen«. Der Brushwood Boy reitet im Traum seinen Dreißigmeilenritt mit dem Mädchen, das er sich seit seiner Kindheit denkt, er reitet mit dem erträumten Brushwood Gin durch die Dünen und Steppen, durchs Abendlicht seiner Wunschgeographie, durch »die Täler aus Wunder und Unvernunft«. Ja auch vor der Realität Ostasien, in die nun später der erwachsene Mann als Kolonialoffizier gelangt, verschwindet das Traumland nicht; Hongkong ist eine Stadt und bleibt doch eine Insel, die Traumkarte wird nicht ungültig. »Policeman Day« weckt regelmäßig zur schlechten Wirklichkeit auf, die Traumkarte bleicht in der wirklichen Welt trotzdem nicht. Das Wunschbild des Helden mischt sich in diesem Märchen mit bloßen Nachtträumen, doch so, daß er diese zur Versinnlichung des eigentlichen Tagtraums zwingt, zum Wunschland Indien und zur Wunschprinzessin, die aus ihm hervortritt. Auch wird die Geliebte in Kiplings Märchen zuletzt nicht nur das Mädchen, das ein Einsamer sich denkt, das er mit Traumschmuck behängt und in Fata Morgana unterbringt. Sondern das Brushwood Girl existiert gleichfalls, durchaus, ist ihrem Helden im eigenen und identischen Wunschtraum begegnet; so entdecken sich am Ende die beiden Traumsubjekte auch real und finden aneinander, in realer Liebesmystik, ihr Indien wieder. Ein reales Indien höherer Ordnung, eines, zu dem das geträumte ein Versprechen war und der Anlaß, der Phantasiestoff, der unwiderlegte Hintergrund. Ist es doch, außer Wolken, Himmelsblau, Regenbogen, der Orient überhaupt, weit um die Ufer des Ganges herum, eine selber fabelhafte Außenwelt, wodurch dem Märchen sein Anschluß an Vorhandenes im äußeren Feld erleichtert wird. Dort ist The Brushwood Boy zu Hause, dort nimmt der Dschungel auf und gibt den Blick auf ein Ausland frei, das im Märchen lauter Inland und Heimat ist. Südmeer, türkisgrüner Himmel, Basargewölbe, das geheimnisvolle Haus - all diese orientalischen Szenerien geben dem Märchenwunsch am wahlverwandtesten /(421) nach, nehmen ihn auf. Der Grund dafür ist keineswegs einfach: gewiß - die meisten Märchenstoffe stammen aus dem Orient, besonders aus Indien, und inklinieren dahin wieder zurück, doch auch die Märchennatur, eben die Wolke und Abendburg aus Himmel, ja sogar der deutsche Märchenwald grenzen ans Morgenland. Dort kulminiert zwar nicht die angegebene Aufsässigkeit in so manchem Grimmschen Märchen, wohl aber das Wunderhafte, das Abenteuer und die Landschaft des Magischen; sie
machen den archetypischen Glanz von Tausendundeiner Nacht. Der mag auch auf der Insel Hongkong liegen oder in der Imago des Brushwood Girls selbst, der Wunderfrau: das inwendigste Märchen enthält dieses Stück auswendigen Ort. Im indischen Ocean of Dreams, im Bild, das aus der Ferne anläuft und selber auf Fahrt schickt. Südsee in Jahrmarkt und Zirkus Die Ferne kann dem Jungen auch ganz sinnenhaft anlaufen und gegenwärtig sein. In Farben und Gestalten, roh wie Fleisch, bunt wie das Fähnchen, das italienische Metzger an dieses stecken. Die Buden auf dem Jahrmarkt sind gleichfalls nicht hier gewachsen, so wenig wie der immer wieder abgestaubte, immer wieder frisch enthüllte Zauber, den sie mit sich führen. Er wirkt wie aus abnormer Fremde, ist zweifellos ordinär und voller Schwindel, aber immerhin noch gehaltvoller als der Ärger, den der Spießer an der uralten Jugend- und Volksfreude nimmt. So fahren diese Schiffsbuden auf, getragen von Südsee für das einfache und für das unverdorben komplizierte Gemüt; die Zeltschiffe machen in den staubigen Städten auf kurze Zeit fest. Sind mit blaßgrünen oder blutrünstigen Gemälden tätowiert, in denen Votivbilder für Rettung aus Seenot sich mit Harem kreuzen. Der Motor treibt das Orchestrion mit fremdem, fettem, unmenschlichem, atemlos-trägem Klang, zuweilen ist er mit einem Wachsmädchen verbunden, das neben dem Eingang festgeschraubt tanzt. Und mit wahnsinniger Verrenkung, mit einer, die aus angeschraubtem Wachs zu tanzendem übergeht, von Zeit zu Zeit den Kopf in den Nacken wirft, um gerade in dieser Lage zitternd stillzustehen, dicht hinter dem Ausrufer, der sich /(422) selber vor nichts fürchtet. Die Welt, die solcherart angepriesene, hat die Geheimnisse des Brautbetts, auch der Mißgeburt an ihrem einen Rand, die Geheimnisse der Bahre an ihrem anderen. »Die Dame wird ihren herrlich gebauten Oberkörper entblößen, man wird sehen die Geheimnisse der menschlichen Plastik«; aber auch: «Professor Mystos ruft um neun Uhr abends, um die Stunde, wo sie gestorben, eine ägyptische Mumie ins Leben zurück.« Seltene Menschen und ihre Kunst geben sich zur Schau, in lauter Seitenkapellen der Abnormität. Der Schwertschlucker und der Feuerfresser, der Mann mit der unzerreißbaren Zunge und dem eisernen Schädel, der Schlangenbeschwörer und das lebende Aquarium. Kümmeltürken, Kürbismänner, Riesenweiher sind da: »die Natur ist mit dem Stoff ihres Körpers so verschwenderisch umgegangen, daß in der Zeit, wo dieser zur höchsten Vollkommenheit gediehen war, die Masse vierhundert Pfund erreichte«. Und zur abnormen Fremde tritt immer wieder die des Märchens, auch des Schauerromans: orientalischer Irrgarten, Höllenrachen, Geisterschloß. Das ist Jahrmarkt, eine buntbäuerische Phantasie, sie ist in amerikanisierten Großstädten zwar steigend mit Lautsprechern, technizistischen Jux-Etablissements durchsetzt, doch das Wunschland mittelalterlicher Südsee, sozusagen, blieb. Und hält sich, aus dem Mittelalter viel weiter zurückgehend, erst recht im Jahrmarkt höherer Ordnung, in der Schauart der Circenses ganz ohne Vorhang. Denn kommen die Budenwunder mehrfach unter ein Dach, in einen Ring, und bricht die Menagerie dahin aus, so entsteht nun aus der Südsee Kolosseum oder der Zirkus. Das Wachsfigurenkabinetthafte muß freilich fehlen, jeder Scheintod, jede mechanische Orgel, weil hier im Zirkus alles Leben ist. Und zum Unterschied vom Jahrmarkt, der mit Verhüllung arbeitet, mit Bühne, Vitrine, Vorhang, ist der Zirkus völlig offen; die Manege bringt das mit sich. Ja, er ist die einzige ehrliche, bis auf den Grund ehrliche Darbietung, die die Kunst kennt; vor Zuschauern in lauter Kreis ringsum kann
nirgends eine Wand gemacht werden. Dennoch geschieht Verfremdung, die Saltos sind das Äußerste, was der menschliche Körper hergibt, aber er gibt sie her, Gaukler treten auf, doch ohne Gaukelei. Gemacht wie von lauter Zigeunern im grünen Wagen, älter als der älteste Leser /(423) sich entsinnen kann, vielleicht schon vorgeschichtlich, ist die Zirkuskunst doch eine Art bürgerliche Rechtschaffenheit in der Kunst und das Vorbild dafür. Er ist das Lokal ohne Hinterräume, außer Garderobe und Stall, und der kann in der Pause besichtigt werden, alles geht hellbeleuchtet in der Manege her, auf dem Trapez unter der Decke, und ist trotzdem Zauber, eine eigene Wunschwelt aus Exzentrik und präziser Leichtigkeit. Wenig haben sich die Typen verändert, die gestrengen, komischen und gymnastischen, sie sind verabredet wie die Tierarten, die man zu sehen bekommt: die Elefanten, Löwen, rundum trabende Pferde, der Herr Direktor mit der Peitsche und der Stallmeister im Entreakt, die Schulreiterin, die Seiltänzer und andere Ärialisten, halb Sylphen, halb am Rand des Todes, die Tierbändiger und Kettenbrecher. Daß aber der Zirkus auch das Volksvergnügen ohne Pause ist, dazu helfen die Clowns, die in dieser Pause auftreten. Sie reichen vom glitzernden und gepuderten des elisabethanischen Zeitalters bis zum Tramp mit roter Kugelnase, schwarz-weißem Freudenmaul, bis zur Krone der Armut, dem dummen August. Es sind sämtlich Figuren aus einem freundlich gewordenen Kolosseum, und so sind erst recht die Schaustellungen des zweiten Teils oder Pantomimen. Die Vorstellung wird eingeleitet von der schönsten Musik dieser Art, von Fuciks Gladiatorenmarsch, geschlossen mit dem Marsch Per aspera ad astra. Der Zirkus stellt heute noch die farbigste Massenschau dar oder das Bild der Sensation; er ist arabische Fantasia in der aufgeheitertsten römischen Arena. Was Bude und Zelt spiegeln, wird selten nochmals gespiegelt. Selbst surrealistisch nicht recht, obwohl der Spaß wenig geheuer sein kann, sein Gesicht abseitig. Obwohl die Wachsfigur in Schreck eintaucht, der Glitzerclown in Unbekanntes überhängt. Nur Meyrink hat das eigene Märchen, die eigene Kolportage aus dieser Welt herausgeholt, witzboldig, wahlverwandt, schlecht geschrieben, unheimlich, alles zusammen. So Mohammed Daraschekohs orientalisches Panoptikum beschreibend: «Der Motor am Eingang schlapfte sein Tempo und trieb ein Orgelähnliches Instrument. Eine stolpernde, atemlose Musik spielte - mit Klängen, die, laut und dumpf zugleich, etwas Sonderbares, Aufgeweichtes hatten, als tönten sie unter Wasser. Geruch von /(424) Wachs und schwelenden Öllampen lag im Zelt. Die Programmnummer: Fatme, die Perle des Orients, war vorüber, und die Zuschauer strömten hin und her oder sahen durch die Gucklöcher an den mit rotem Tuch bespannten Wänden in ein roh bemaltes Panorama hinein, das die Erstürmung von Delhi darstellte. Stumm standen andere vor einem Glassarg, in dem ein sterbender Turko lag, schweratmend, die entblößte Brust von einer Kanonenkugel durchschossen - die Wundränder brandig und bläulich. Wenn die Wachsfigur die bleifarbenen Augenlider aufschlug, drang das Knistern der Uhrfeder leise durch den Kasten.« Gestelltes, dadurch nicht geringeres Entsetzen wird hier nochmals gestellt, in Impression und zu ihr hin, aber zusammenhängende Traumlichter von Jahrmarkt und Zirkus fehlen gleichfalls nicht. »Der Golem« Meyrinks ist Märchenkolportage vom Jahrmarkt, seine Kolportage «Das grüne Gesicht« desgleichen, mit Schau vom Zirkus eingesprengt. «Der Golem«: er behandelt in seiner Kolportage nicht mehr, doch auch nicht weniger als das Budengeheimnis, zu dem keine Nachzahlung verhilft. Hier ist das Dudeln, das von der Straße hereindringt, der Mondschein am Fußende des Betts, eine bleiche Tafel, die aussieht wie ein Stück Fett, das Zimmer ohne Tür, irgendwo in der
Pragerstadt, mit dem Golem als Bewohner, das Gesims aus Stein am Golemzimmer, woran der Gast sich anklammert und sieht und sieht und abstürzt, denn der Stein ist glatt wie ein Stück Fett. Auch eine schöne Mirjam geht um, ein Wachstraum aus Vollendung, und ihr Haus steht im Morgenlicht, unbetretbar wie die Bude zu den Geheimnissen Griechenlands für Besucher unter sechzehn Jahren, wie das siderische Leben. Die seltsame Mischung aus Jakob Böhmischem und Witzmacherei verstimmt, die eben dieser Art Schrifttum eignet, bis in den Surrealismus hinein, aber sie hängt mit dem zweideutigen, zweiköpfigen, durchweg allegorischen Genre zusammen. Die Bilder Dalis, zuweilen selbst Max Ernsts bewegen sich in einer ähnlichen Mischluft aus Spaß und Tiefe, ja Gemütlichkeit und Grauen; das Modell zu alldem gibt die gleichzeitige humoristisch bewegte und medusisch starrende Wachsfigur. Meyrink wie der gesamte Jahrmarktszauber verschiedener Grade sind ein Nonsens, woran Schausteller wie Autor keinen Zweifel /(425) lassen, doch eine Sehnsucht wohnt darin, selber nicht unsinnig, obzwar grell und betrügbar, billig und ungeregelt. Es ist die Sehnsucht nach einer aus Abseitigkeiten und Seltsamkeiten bestehenden Figurenbildung in der Welt, nach Kuriosem als objektiver Eigenschaft. Dali und Meyrink zusammen werden freilich übertroffen, was dieses Falls selbstverständlich, ja sie werden, was nicht so selbstverständlich, gerade im schnöden Grauen erledigt, sobald sich ein großer Dichter, der sich aber ebenso aufs Schnurrig-Seltsame, Schlimm-Humoristische versteht und ihm verschworen sein mag, des metaphysischen Schimpfs annimmt. Der Dichter ist Gottfried Keller, und sein «Traumbuch« von 1848 bekundet über das in Rede Stehende, nie ganz zur Rede Kommende folgendes: «Ich trat in ein Wachskabinett; die Gesellschaft des Potentaten sah sehr liederlich und vernachlässigt aus, es war eine erschreckende Einsamkeit, und ich eilte durch sie hin in einen abgeschlossenen Raum, wo eine anatomische Sammlung zu sehen war. Da fand man fast alle Teile des menschlichen Körpers künstlich in Wachs nachgebildet, die meisten in kranken, schreckbaren Zuständen, eine höchst wunderliche Generalversammlung von menschlichen Zuständen, welche eine Adresse an den Schöpfer zu beraten schien. Ein ansehnlicher Teil der ehrenwerten Gesellschaft bestand aus einer langen Reihe Gläser, welche vom kleinsten Embryo an bis zum fertigen Fötus die Gestalten des angehenden Menschen enthielten. Diese waren nicht aus Wachs, sondern Naturgewächs und saßen im Weingeist in sehr tiefsinnigen Positionen. Diese Nachdenklichkeit fiel um so mehr auf, als die Burschen eigentlich die hoffnungsvolle Jugend der Versammlung vorstellten. Plötzlich aber fing in der Seiltänzerhütte nebenan, welche nur durch eine dünne Bretterwand abgeschieden war, eine laute Musik mit Trommeln und Zimbeln zu spielen an, das Seil wurde getreten, die Wand erzitterte, und dahin war die stille Aufmerksamkeit der kleinen Personen, sie begannen zu zittern und zu tanzen nach dem Takte der wilden Polka, die drüben erklang: es trat Anarchie ein, und ich glaube nicht, daß die Adresse zustande kam.« Soweit der junge Keller, und wieder fällt der Humor auf, zusammen mit jener Art von höhnischem Tiefgang, der des Witzes sich hier doppelt spaßhaft bedient. Uralte Volkslust, /(426) keineswegs einfache, aber auch keineswegs dekadente, erhält sich im Jahrmarkt, wandert darin aus. Ein Stück Grenzland ist da, zu sehr herabgesetztem Eintrittspreis, aber mit erhaltenen Bedeutungen, mit kuriös-utopischen, konserviert in brutaler Schau, in vulgärer Hintergründigkeit. Es ist eine Welt, die zu wenig auf ihre spezifischen Wunschgegenden untersucht worden ist. Eben »Curiöses«, wie dergleichen zuletzt noch im Barock genannt worden ist, hält sich hier über Wasser, über Land.
Das wilde Märchen: als Kolportage Auch im Märchen läuft ja nicht alles von vornan sanft dahin. Es gibt darin Riesen und Hexen, sie sperren ab, lassen spinnen die ganze Nacht, führen irre. Und es gibt, gegen das allzu sanfte oder eilige Himmelblau, eine Märchenart, die selten als solche angesehen wird, eine wilde, gleichsam reißende Art. Sie ist überhaupt wenig angesehen, nicht sowohl deshalb, weil sie leicht zum Schund abfällt, als weil die herrschende Klasse tätowierte Hänsel und Gretel nicht liebt. Das reißende Märchen also ist die Abenteuergeschichte, sie lebt am besten heute als Kolportage fort. Auf ihrem Gesicht liegt der Ausdruck eines anerkannt unfeinen Wesens, und ist auch öfters so. Doch zeigt die Kolportage durchgehends Märchenzüge; denn ihr Held wartet nicht ab, wie in der Magazingeschichte, bis ihm das Glück in den Schoß fällt, er bückt sich auch nicht, damit er es auffängt wie einen zugeworfenen Beutel. Sondern ihr Held bleibt dem armen Schwartenhals des Volksmärchens verwandt, dem kühnen, setzt Leichen ans Feuer, haut den Teufel übers Ohr. Am Helden der Kolportage ist ein Mut, der, meist wie sein Leser, nichts zu verlieren hat. Und ein bejahtes Stück vom bürgerlichenTunichtgut dringt an, vom durchgebrannten, doch nicht umgekommenen; erbat, wenn er zurückkommt, Palmen, Messer, die wimmelnden Städte Asiens um sich her. Der Traum der Kolportage ist: nie wieder Alltag; und am Ende steht: Glück, Liebe, Sieg. Der Glanz, auf den die Abenteurergeschichte zugeht, wird nicht wie in der Magazingeschichte durch reiche Heirat und dergleichen gewonnen, sondern durch aktive Ausfahrt in den Orient des Traums. Hat die Magazingeschichte etwas von einer unsäg- /(427) lich verkommenen Legende, so ist die Kolportage der letzte, doch noch erkennbare Schein aus Ritterromanen, aus Amadis von Gallien. Von daher das Ruhmredige, wie es schon aus den ältesten Heldengedichten bekannt ist, so dem Waltharilied, wo der Held zehn Ritter zugleich übermannt, oder aus der Sage vom König Rother und dem starken Asprian, der einen Löwen an die Wand wirft, daß er zerbricht. Von daher aber auch das Pathos gegen die Philister, gegen ein Leben, dessen Grabschrift schon mit zwanzig Jahren feststeht, gegen Ofenwinkel und juste milieu. Es entsteht echte Märchenaura wilder Art; die Aura der Stevenson-Welt »von Glut und Kälte, Stürmen und Passaten, von Schiffen, Inseln, Abenteuerweisen, von Ausgesetzten, Schätzen und Piraten«. Und immer wieder hat die ganze Gruppe, besonders wo sie gleichsam ohne Entschuldigung, also ohne literarische Feinheit auskommt, einen Ludergeruch. Der ist zweideutig, kann auf Kukluxer und Faschisten weisen, ja ihnen ein besonderes Reizmittel sein; doch der Ludergeruch weist eben auch auf das berechtigte Mißtrauen der ruhigen Bourgeoisie gegen zuviel Lagerfeuer des armen Teufels. Jede Abenteuergeschichte bricht die Moral des »Bete und arbeite«; statt des ersten herrscht Fluchen, statt des zweiten erscheint das Piratenschiff, der Schütze, nicht in des Regenten Sold. Die Räuberromantik zeigt so noch ein anderes, ein das arme Volk seit alters ansprechendes Gesicht, und die Kolportage weiß darum. Der Brigant war der mit der Obrigkeit Zerfallene, oft hatte er einen mit dem Volk gemeinsamen Feind, desgleichen besaß er häufig Stützpunkte in der Bauernschaft. Nicht grundlos berichten darum italienische, serbische, vor allem russische Volksüberlieferungen von Räubern mit einer anderen Wertung als die Polizeiberichte. Schillers Räuberstück - mit dem Motto: In tyrannos! - ist nur die sozusagen klassische Erscheinung in einem Schrifttum, worin Brigant und Brutus ihre Gestalten tauschen konnten. Hier ist unreifer, doch ehrlicher Revolutionsersatz, und wo anders drückte er sich aus als in der Kolportage? Wäre Schiller, ihr eigentliches Genie, ihr nur treuer geblieben, diese Gattung wäre eindeutig noch ein
anderes geworden als abgesunkener Ritterroman und Schatzgräbergeschichte. Kukluxklan und Faschismus setzen von der Kolportage lediglich die kriminelle /(428) Abkürzung und die Wildnis ins Leben. Dagegen das ungemeine Ziel in der Wildnis: Gefangenschaft und Befreiung, Betäubung des Drachens, Rettung des Mädchens, Klugheit, Durchbruch, Rache - all diese Stücke gehören zur Freiheit und zum Glanz dahinter. Nicht der Faschismus, sondern der revolutionäre Akt in seiner romantischen Zeit ist lebendig gewordenes Volksbuch dieser Art. Daher traten außer Schillers »Räubern« unmittelbar vor und nach 1789 die Rettungsstücke, man kann sagen: die Rettungsmärchen, auf; nach Gefangenen wurde gegraben wie nach Schätzen in der Höhle. Und wichtig: das Textbuch zu Fidelios, das Trompetensignal selber wären nicht und nicht so ohne die Kolportage, die sie darstellen. Gerade die Fidelio-Handlung ist schärfste, brisante Kolportage, wie bekannt, und sie gehört der Befreiung zu. Tiefer Kerker, Pistole, Signal, Rettung: Dinge, die im gehobenen Schrifttum neuerer Art keinesfalls oder nie von Haus aus derart vorkommen, ergeben eine der stärksten überhaupt vorhandenen Spannungen: die von Nacht zum Licht. Wonach eine Umwertung dieser Gattung, kraft des höchst legitimen Wunschbilds in ihrem Spiegel, besonders evident ist. Hier überall sind verschollene Bedeutungen frisch, unverschollene wartend, wie im Märchen. Glücklicher Ausgang wird erobert, vom Drachen bleibt kein Rest, außer in Ketten, der Schatzgräber findet sein Traumgeld, die Gatten sind vereint. Märchen wie Kolportage sind Luftschloß par excellence, doch eines in guter Luft und, soweit das bei bloßem Wunschwerk überhaupt zutreffen kann: das Luftschloß ist richtig. Es stammt zu guter Letzt aus dem goldenen Zeitalter und möchte wieder in einem stehen, im Glück, das von Nacht zu Licht dringt. Derart schließlich, daß dem Bourgeois das Lachen vergeht und dem Riesen, der heute Großbank heißt, der Unglaube an die Kraft des Armen. /(429) 28
REIZ DER REISE, ANTIQUITÄT, GLÜCK DES SCHAUERROMANS
Ach, in der Berliner Atmosphäre Wird der Mensch im Juli meistens krank, Wenn ich doch ein Kassenbote wäre Bei der Dresdner Bank. O der dunklen Lust, wie Orgeln brausend, Wenn das Herz in alle Fernen schreit Denn mit Dreimalhunderrtausend Kommt man ziemlich weit. Heil dem Jüngling, der vom Zwang genesend Diesen wundersamen Traum gebiert, Wie ein Mensch den eigenen Steckbrief lesend Fern im Bad soupiert. Traurig wisch ich meine stille Zähre, Unterdrücke diesen schoflen Drang Schon im Hinblick auf die Aktionäre Bei der Dresdner Bank. Peter Scher
Da ich jetzt von weitem die Türme und den blauen Rauch von Nürnberg sah, vermeinte ich schier, nicht etwa eine einzige Stadt, sondern eine ganze Welt zu sehen. Des Johannes Butzbach Wanderbüchlein Dieselben Dinge täglich bringen langsam um. Neu zu begehren, dazu verhilft die Lust der Reise. Sie frischt die Erwartung nicht bloß an, bevor die Fahrt angetreten, sondern tut das mitten im Genuß des Sehens. Wünsche, denen nicht mehr zu helfen ist, überalterte, altjüngferlich gewordene, fallen fort. Das Stockige fällt fort, das nicht nur dem immer gleichen Alltag, sondern auch allzu lange herumgetragenen Wünschen eignen mag. Können doch Wunschträume derart aus der Zeit geraten sein, die ihnen angestanden hat, daß sie nie wieder erfüllt werden können. Wer sich in der Jugend einen Kodak gewünscht hat und ihn nicht bekam, wird den Kodak seiner Wünsche nie mehr finden, auch wenn er als Mann imstande ist, sich den besten zu kaufen. Solche Dinge wurden dem Verlangen nicht zu der Zeit oder in den Umständen teilhaftig, wo sie das äußerste Vergnügen würden bereitet haben. Der Hunger danach ist grau geworden, ja fast /(430) jedes Ziel kann, wenn zu lange, zu vergebens oder eben auf zu gewohnte Weise dahin gestartet wird, langweilig werden. Neue Waren dagegen erregen neue Bedürfnisse, neue Eindrücke erst recht. Schöne Fremde Jede Reise muß freiwillig sein, um zu vergnügen. Sie braucht dazu eine Lage, die gern, mindestens nicht unlustig, verlassen wird. Das erste Gefühl im Wagen oder Zug, wenn er endlich abfährt, entscheidet über das Kommende. Ist Reisen erzwungen oder Beruf, also nicht abbrechend-glücklich, so ist es keines. Geschieht es aus der Langeweile, weil einem sonst nichts mehr einfällt, so fährt diese mit. Sie ist das Gepäck und Geschick, das mit einem selber in der stählernen Kiste über die Schienen geschleift wird. Der Zug hat dann nicht die vergnügte Eigenschaft, die so selten sonst vorkommt: genau in der Richtung zu fahren, in die man sich wünscht. Auch Geschäftsreisende, Matrosen, Emigranten sind nicht auf Reise, letztere trotz der möglichen Befreiung nicht. Reise ist bei allen diesen erzwungen oder Beruf, Bann hier, Verbannung dort. Ist laufendes Band, wie in Fahrstuhl und Fabrik, nicht ein blaues, das der Frühling wieder flattern läßt durch die Lüfte. Glück der Reise jedenfalls ist und bleibt zeitweiliges Entrinnen ohne Nachforderung von zu Hause, ist durchgreifende Umstellung ohne äußeren Zwang zu ihr. Der Reisende des kapitalistischen Zeitalters muß zudem noch Konsument sein können, nicht Bewerber, er verliert sonst die Welt anziehender Fremdlinge, unter denen er nichts zu tun hat, unter denen er keine Gewohnheit hat. Zwar bleibt wahr: nichts ist in der Fremde exotisch als der Fremde selbst; doch dieser sieht als bürgerlicher Enthusiast zunächst gar nicht den Alltag der Fremde, am wenigsten will er das Elend in ihr sehen, das ihm den Wechsel auf Schönheit nicht einlöst; er sieht in der Fremde, mit oft heillosem Subjektivismus, sein persönlich mitgebrachtes Wunschbild von ihr. Und dieses allerdings ist meist exotisch genug, entweder so, daß Enttäuschung erfolgt, etwa deshalb, weil Italien nicht aus Lampions besteht, oder so, daß das alte Wunschbild, wenn es die Sache selbst nicht verfehlt, sondern /(431) übersteigert hat, neben dem der gewonnenen Erfahrung stehenbleibt, unbelehrt, doch stellenweise auch unenttäuscht. Indem das Wunschbild unbelehrt bleibt, dringt es
nicht richtig ins nüchtern Vorhandene ein; der Durchschnittsreisende, ohnehin durch Hotel, Fremdenführer, Wagenfahrten isoliert, nimmt eben die Armut noch weniger wahr als zu Hause. Andererseits aber ist der gleiche Bürger imstande, kraft der eigenen Verfremdung, die er den Gegenständen gibt, keine Abstumpfung des Alltags zu haben und an den Gegenständen gegebenenfalls Bedeutungen zu sehen, die im Alltag nur ein tüchtiger Maler entdeckt. Verfremdung ist hier das genaue Gegenteil zur Entfremdung; innerhalb der bürgerlich-privaten Welt ist die Reise der Mai, der alles neu macht, der einzige. Und die erfrischende Verfremdung wird unterstützt durch ein anderes Paradox der Reise, durch eines, das nun nicht nur dem bürgerlichen Enthusiasten widerfährt, das vielmehr mit dem sich scheinbar aufblätternden Nebeneinander des Raums auch sachlich zusammenhängt. Daraus entsteht eine Art subjektiver Verzeitlichung von Raum, subjektiver Verräumlichung der Zeit, dann besonders, wenn die Schauplätze rasch einander folgen. Die Reisezeit wird so gefüllt wie sonst nur der Raum, und der Raum wird das Medium der Veränderungen wie sonst nur die Zeit. Es entsteht also eine Umkehrung der gewohnten Wahrnehmungsordnungen, es entsteht gefüllte Zeit im bewegt, verändert erscheinenden Raum. Die alten Abenteuergeschichten rollten den Raum gänzlich in dieser Reise auf, störten seine mythische Starre; jede Reise lebt noch, selber mutatis mutandis, vom Paradox dieses Wandeltraums. Das vor allem in der Jugend, und besonders in der zu zweien. Ist die Liebe selber eine Reise, in gänzlich neues Leben, so wird der Wert der Fremde, der gemeinsam erfahrenen, durch sie verdoppelt. Wie die Geliebte bereits die Straße verzaubert, in der sie wohnt, samt den geringsten Merkzeichen in ihrem Quartier, den Fenstern, den Laternen, Bäumen, so geht dieser Zauber erst recht auf das über, was die Liebesfahrt zu sehen bekommt. Frisch eingeschenkte Liebe in ihrem ersten aufbrausenden Schaum entführt ohnehin, und erotische Verwandlung sucht auch Verwandlung des Draußen. Den eigenen Überraschungen verbinden sich die des ungekannten Lands, der fremd-schönen Stadt; noch in /(432) den Stumpfsten fällt dann Licht, und die Lebhaften werden voll Figur. Wanderer, Weg und Ziel werden in der Liebesreise wie eines; weshalb auch dem Liebhaber und der Liebhaberin, wenn sie getrennt sind, nichts Schönes erscheint, von dem sie nicht wünschen, daß es der andere zugleich sehe, daß es gemeinsam gesehen werde. Noch die bürgerliche Hochzeitsreise kopiert das, wenn sie auch einen Teil der Aussteuer daraus machte. Erotik macht die Welt eindringlich und überall zu Cythera; alles Schöne wird der Erotik eine Flucht von Wunschträumen, von Entführungen und Eröffnungen. Das indische Liebesbuch Kamasutra rät derart in großer Feinheit, man möge der Geliebten nach dem Liebesakt schöne Gegenstände zeigen und erhabene, besonders ungewohnte, seien es Kunstwerke oder Sternbilder. Ihre erste wahre Liebesreise bleibt den meisten Menschen die traumreichste, die am jugendlichsten, also am stärksten utopisch umwitterte Erinnerung. Der fremde Ort besiegelt alle früheren Wünsche nach Ferne; Verfremdung in Schönheit ist der Abend und die Nacht der Liebesstadt, lebt untertags. Und wie Reise der Erotik verwandt ist, so auf anders verbindende Art den Geschäften der Atuse. Der glückhaft verwandelte Aufenthalt mag nicht grundlos zu dem Wunsch verpflichten, daß Bedeutendes an diesem ungemeinen Ort zustande gebracht werde. Nichts wirkt stärker auf solche Pläne und Hoffnungen ein als eine von der gewohnten Zerstreuung entfernte, selber vorgeformt wirkende, plastische Umgebung. Am bäurischen Tisch in der Loggia dieses Landhauses, den Wein vor sich, unter alten kräftigen Bögen, durch die römischer Himmel siebt - hier scheint die Arbeit zu gelingen. Blicken gar Objekte großer Natur, großer Geschichte in den Fluß der Sätze, dann entsteht der Anschein,
als spiegelten sie sich darin ab, als teilten Vesuv oder Monreale sich ihnen mit. Es ist das ein feiner Aberglaube, und er hat Ungewöhnliches, das zum Glauben berechtigt, zustande gebracht. Aus diesem anders erotischen, produktiven Pathos der Reise heraus schrieb Shelley seinen »Entfesselten Prometheus« in den Büschen des Palatin; in der Vorrede legt er Gewicht darauf, er wolle vor einer majestätischen Vergangenheit verpflichtet sein, er wolle vor ihr bestehen. Auch Gegensatz kann derart wirken: Ibsens »Nora«, in einem normannischen Wachturm bei /(433) Amalfi entstanden, gar Goethes Hexenküchenszene, gedichtet im Garten der Villa Borgliese: am Kontrast des Entstehungsorts zum Ort und Tenor der Handlung gediehen Abgeschlossenheit und sonst nie so komplementär erschienene Gegenlandschaft des Autors wie des Werks. »Wie man nach Norden weiterkommt, so nehmen Ruß und Hexen zu«: aber der gestaltbare Hexenrauch nahm gerade unter Pinien zu, in der Klarheit des Pincio; selbst die Walpurgisnacht wurde im Süden konzipiert. Nichts Heimisches alterierte oder machte, zwischen Werk und zerstreutem Alltag, verwischte Ränder. Die Verfremdung, die jeden bedeutenden Gegenstand noch doppelt erhöht macht, wie eine Bergspitze überWolken, legt gegebenenfalls, mit oder ohne Komplementärwirkung, die Größe des Werks selber frei. Das sind die Wirkungen der reisenden Verfremdung auf die Hoffnung; mit Eros in beiderlei Gestalt, der der Liebe und der der Schöpfung. Und schließlich zu guter Letzt, mit so häufigem Umschlag, was Verfremdung angeht: eine der Neuerungen der Reise mag sogar sein, daß sie auch das Gewohnte zu Hause verfremdet. Der so entstehende Affekt heißt Heimweh; er ist sinngemäß einer der durch Ferne so ausgelösten wie ausgewechselten Sehnsucht. Wird doch Heimweh nicht nur durch die Unlust erregt, die das Nichtvorhandensein gewohnter Gegenstände hervorruft, sondern außer dem Heimweh aus Verlust der gewohnten Merkwelt gibt es das produktive, das die verlassene, längst abgestumpft erfahrene Umgebung selber farbig, ja utopisch macht und ihr neue Seiten abgewinnt. Dann wird das Heimweh so von einem Wunschbild getragen wie die Fremde vor Antritt der Reise und in ihr. Und es wird von der gleichen, oft ungerecht, oft aber auch gerecht vergoldeten Erinnerung getragen, die den Reisegang selber nachher vollendet, und die die utopischen Länder im Exotischen kennzeichnet. Mit dem Unterschied freilich, daß die Vergoldung des Heimwehs bei der Rückkehr verschwindet, während das Reisebild Post festum noch exotischer wird, gar eine Verwandlung erlangt, die sich ans gute Wunschland der Kunst und anderer Entführungen anschließt oder anzuschließen vermag. Der übers Meer fährt, sagt zwar Horaz, verändert nur den Himmelsstrich, nicht sich selbst. Aber er verändert wenigstens den Himmelsstrich: im einfachen Fall ist das /(434) eine Umstellung der Kulissen, im bedeutenderen erwächst aus dem veränderten Bewußtseinsinhalt eine veränderte Bewußtseinslage, die dem Inhalt angemessen werden will. Weiter bezieht sich der Reisereiz gewiß auf eine über die Hälfte nur subjektive Schönheit, auf eine also, die mit Verfremdung vom bloßen Beschauer her und vom bloßen Wunschbild der hochgesteigerten Sache überzogen ist. In der Fremde ist niemand exotisch als der Fremde selbst, so ist auch die Fremde sich selber keineswegs schön verfremdet, und der dort Einheimische hat außer der eigenen Not, die der bloße reisende Enthusiast nicht sieht, selber den Wunsch nach Fremde. Etwa nach derjenigen, woher der reisende Enthusiast selber kommt; all das aus dem gleichen, dem beiderseits vorhandenen Subjektwunsch nach Entfremdung. So daß man sehen kann, wieviel Subjektivität von Haus aus in jedem Reiseerlebnis als solchem steckt, und wie schwierig sie es letzthin machen kann, zu jener veränderten Bewußtseinslage vorzudringen, die dem erblickten Inhalt nicht nur gerecht werden will, sondern gerecht werden kann. Auch
Goethes »Italienische Reise«, die so großartig objektiv gerichtete, gelangt dadurch, daß sie tunlichst nur Pro-Klassik, Anti-Barock zu erblicken sucht, aus dieser Subjektivität erst zur Hälfte des wirklichen Italien. Aber die Reise geht einem Wunschbild des schönen Andersseins wenigstens an diesem fernen Punkt nach und einem, das in der Fremde, mit ihren frisch erblickten Wundern, sich dennoch oft leibhaftig bekleidet. Weshalb eben auch Post festum das Reisebild so nahe der Kunst verwandt bleiben mag, ja anderer Verwandlung dazu, nämlich der sammelnden zu einer letzten Reise. Der oft berichtete Erinnerungszug in der Sterbestunde, wohl schon im höheren Alter, hat darum nicht nur Menschen, Figuren, Gegenstände an seinem konzentrierten Weg, die gleichsam an der Wiege oder im eigenen Haus gesungen worden, sondern vorzüglich Reisebilder - auch Post festum mit utopischer Festlichkeit nochmals verschönte. Und dies letzte Gewürz war wohl schon beim ersten Anblick ungemeiner Gegenstände am Werk, brennend und überdeckend oder aber den wahren Geschmack der Sache verstärkend. Nicht nur Geschichte, auch Geographie hat so darin das Beste, daß sie Enthusiasmus erregt; freilich als einen, der sich zur desto /(435) intensiveren Einsicht in die - zum Gewohnten nicht nur kontrastierenden - Gegenstände an ihrem Ort und ihrer Stelle zusammenfindet und aufmacht. Fernwunsch und historisierendes Zimmer im neunzehnten Jahrhundert Eine Geschichte aus dem zehnten Jahrhundert? - »Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?« Scheffel, Vorwort zu »Ekkehard« Seit die Reise bequem geworden ist, führt sie nicht mehr so weit. Sie nimmt mehr häuslich Gewohntes mit und dringt in den Landes Brauch noch weniger ein als früher. An Stelle der Wanderschaft, des Ritts, des nie vermeidbaren Abenteuers ist im neunzehnten Jahrhundert Verkehr getreten, ein - verglichen mit den heutigen Fluglinien - verblüffend rasch ausgebautes Eisenbahnnetz. Weniges wurde so kanalisiert wie das Reisen; zwei Weltkriege gehörten dazu, um diesen nützlichen Fortschritt zu stören. Das neunzehnte Jahrhundert hatte es immerhin zustande gebracht, daß der Schnellzug ungestört an einer Stelle vorbeisaust, wo nach alten Reisebüchern sich vordem eine Räuberhöhle befunden hatte, und das gefährliche Leben zu Hause war noch nicht recht aufgeblüht. Dafür aber wurde eben die schöne Fremde zu einem kleinbürgerlichen Ferienschmaus umgefälscht. Es kamen die sogenannten Reisegesellschaften, als Mittel, nicht nur die Reise, sondern auch die ihr zugewandten vormaligen Wunschbilder billig auszuführen. Es begannen die sogenannten Sehenswürdigketen, und sie standen innerhalb einer für die Tour zurechtgestellten Welt, einer verabredet-italienischen, verabredet-orientalischen. 1864 organisierte der frühere Bahnbeamte Louis Stangen die erste seiner nachmals so beliebt gewordenen Gesellschaftsreisen; sie eröffneten dem gemäßigten Fernweh nicht nur sein Italien, sondern auch seinen vorderen Orient. Sorrent wurde gegrüßt, die schimmernde Blüte der Wellen, auch die blaue Adria, die Inselperle Korfu, Kairo, die Pforte des Morgenlands, und die gigantischen Pyramiden. Alles garantiert, samt Trinkgeldern, alles am Schnürchen, Er- /(436) klärer inbegriffen, für eine Pauschalsumme pränumerando. Aber auch der ungegängelte Fremdenverkehr wuchs seit der Mitte des Jahrhunderts mit gemehrtem Wohlstand der Mittelklasse immer rationalisierter an; die Welt wurde für die Besichtigung von acht Tagen, von vierzehn Tagen, von vier bis sechs Wochen katalogisiert. Einzig die Alpinistik
lieferte, stellenweise, noch Platz für Ungebahntheit, auch für spezifische Fern-, nämlich Höhenwünsche. Ebenso blieb, ja wuchs die lesende Teilnahme des Publikums an den letzten übriggebliebenen Entdeckungsreisen, an denen ins dunkle Afrika und an den Nordpolfahrten; Nansens Buch »Durch Nacht und Eis«, mit den hocharktischen Photographien und den Farbdrucken: Nordlicht-Krone, Nordlicht-Baldachin, gab breitesten Kreisen noch eine Ahnung von unverkaufter Natur. Die unverkaufte suchte der Normalreisende allerdings auch dort, wo er seine ganze häusliche Komfortzelle (living room) mitnahm, und wo die gleiche Coca-Cola-Welt, die die Touristik begünstigte, immer mehr die erträumte Andersheit, auch Märchenferne der Besuchsorte aufhob. Vor allem aber an der Basis dieser sämtlichen Organisierungen: die Touristik gewann, indem sie Seefahrt machte, den Vorderen Orient bespülte oder zu Hause wenigstens die Bilder »Im Fluge durch die Welt« verbreiten ließ, wachsende propagandistische Bedeutung für die heimischenWeltmarkt-,Weltmachtwünsche. Denn das imperialistische Zeitalter beförderte und umgab die Reisebüros dauernd; zugleich aber hat es die Fremdwelt erst recht deformiert. Sie wurde bestenfalls in Gebiete abseits von der Kapitalstrecke zurückgedrängt, hauptsächlich aber wurde sie ein immobiler Fremdenartikel, so lange, bis sie ein anderer, kolonialer ward; - alles geht unter, mit Ausnahme des Abendlands, das ist von hier aus ein gültiger Satz. Die Beschäftigung mit Volksleben, der Streifzug ins Ungestellte, diese konkrete Wahrnehmung wirklicher Merkwürdigkeiten ist lange dahin. Goethes »Italienische Reise«, noch Viktor Hehns Italien-Buch zeigten diese Sachlichkeit, vor allem auch, was erfahrene Folklore angeht. Der sonst so präzise Baedeker zeigt Folklore nicht mehr oder nur noch mit Beschimpfungen, sofern sie nicht ins genormte Aussichtsfenster paßt. Und der Ferntraum erhielt sich erst recht nur um den Preis, daß Kontrastwünsche das Exotische überströmten, freilich auch den /(437) immobilen Fremdenartikel nochmals zu einem Artikel gemacht haben, zu einem, der schlechthin die Marke: Nicht-Zuhause trägt. Als wenn die Fremde lediglich das Gegenteil von Krefeld oder auch Minneapolis oder auch Liverpool wäre, als wenn sie nicht ihre eigenen Bedeutsamkeiten, ihre nur mit sich selbst vergleichbaren, mit sich führte. Dem bloßen Kontrastwunsch steht nun so Eigenes wie etwa süditalienische Kirchenfeste oder wie die noch erhaltenen Karawanen, Kamelmärkte und Basare des Orients nicht etwa disparat zur heimischen Welt, auch schließt dies Mittelalter vor den Toren Europas nicht etwa Züge des eigenen gewesenen Mittelalters auf, sondern konträr: genaues Widerspiel zur Heimat des Besuchers wurde gesucht, ein Kontrast, den das Besuchte doch gar nichts angeht. Solche Kontrastwünsche sind freilich älter als das neunzehnte Jahrhundert, wenn auch nicht viel älter als das achtzehnte. Sie leiteten bei Winckelmann, in der Suche nach edler Einfalt, stiller Größe, sie wirkten bei Goethe, soweit dieser nicht italienisches Volk und Landschaft, sondern bestimmte italienische Kunstwerke beurteilt, und machten ihn, der von deutschen »Tabakpfeifensäulen« genug hatte, blind für das so sehr vorhandene, so sehr überwiegende Barock Italiens. Anders hatte Delacroix in seinen Algier- und Marokkobildern Gegensatz gesucht, dieses Falls romantisch. Die Glut seiner Raubtiere, Haremsfrauen, Wüstenszene (»férocité et verve») ist nicht nur Afrika, sondern Anti-Louis-Philippe, Anti-Bürgerkönigtum. Delacroix hatte sogar, aus lauter Anti-Klassizismus, gepredigt, daß die wahre Antike bei den Arabern zu suchen sei. Aber von diesen früheren Kontrastwünschen unterscheiden sich die des späteren neunzehnten Jahrhunderts nicht bloß durch das gesunkene Niveau ihrer Träger, sondern vor allem auch durch dasjenige der Welt, die sie, wenn auch negiert, zu kontrastieren suchten. Indem Venedig nun einfach den Gegensatz zu dem
Krefeldschen oder Liverpoolhaften zu geben hatte, erschien es leicht selber als ein überdonnertes Nicht-Liverpool; woran das wirkliche Venedig doch ganz unbeteiligt ist. Und die sogenannte italienische Nacht ist ein ganz anderes als das Gegenteil zu einem nordeuropäischen Industrietag; es sei denn, daß die Nacht für die Fremden gestellt wird. Aber nur auf diese Art erschien das Nie-Erhörte, Nie-Gesehene, das die Ausfahrt /(438) subjektiv, sogar objektiv darbieten sollte. Ein Wonnetraum aus Flucht und Ferne, aus Kontrastbildern mitten im kanalisierten Zierat machte seine Reiseandenken, und Sphinxhaftes, das überall liegt, wartete auf bessere Zeiten. Denn die Wunder der schönen Ferne erschließen sich nur ohne transferierten Maskenball, nur mit dem bedeutenden, gar ahnungsvollen Gegenstand im eigenen Saft, an Ort und Stelle. Nicht zuletzt sollten nach 1850 die vier häuslichen Wände selber unkenntlich werden. Auch dieses mit fern hergeholtem Schmuck, mit einem, den die eigene dürre Zeit nicht gab. Von allem Weißen, Unverhüllten wandte man sich ah, gleich als ob man daran eines Leichnams gewahr würde. Dem hochkapitalistischen Jahrhundert war verräterisch viel daran gelegen, daß jedes seiner Stücke maskiert sei. Das Biedermeier hatte noch, mit besonderer Liebe, ungetünchte Wände oder solche in schlichtem Grün, seine Möbel waren so ehrlich-klar, hell-schön wie wenige andere vorher. Geraffter Mull ließ das Tageslicht doppelt weiß herein, es fiel auf die Vitrine und den Kirschbaumschrank, auf den reinen Rundtisch mit den schlanken Beinen oder der wohlgestalteten Säule, die ihn trug, auf bescheiden-reiche Lyrastühle, auf das sanftmächtige Kanapee. Und wenn man damals dies ganze Wesen auch neugriechisch nannte, so war es doch völlig bei sich zu Hause, war überall mehr Sein als Scheinen. Mit einem feinen Duft von Märchen, Punsch, von der diesen Zimmern eng verbundenen Kunst E. Th. A. Hoffmanns. Das nun hörte um die Mitte des Jahrhunderts mit einem Schlag auf, kopierter Fernzauber, maschinelle Butzenscheibe begannen. Ein reich werdendes Bürgertum legte sich ins Adelsbett, träumte dort vergangene Stile nach, altdeutsche, französische, italienische, orientalische, lauter Andenken. Eine immer wieder erstaunliche Lust kam auf, gar Kein-Sein in Scheinen zu verwandeln, die alltägliche Wohnung unter anderer Flagge segeln zu lassen. Reise-Ersatz, ja Reise-Überbietung in den eigenen vier Wänden wurde die Parole, teils als historische, teils als exotische. Von daher die StoffDrapiersucht der Gründerjahre, die Versammlung von Nippes, neureichem Protzenstil, Samt und Atlas durcheinander. Von daher Büfetts als Ritterburgen, die Hellebarden und der Haremsprunk, die Moscheelampen und die Stierhörner - eine ganz /(439) rätselhafte Montage. Und sie lag in schummerigem Licht, durch vielfache Draperien des Fensters fallend, durch tunlichst pseudoorientalische Vorhänge, um die Straße fernzuhalten, um dem Ensemble seine Maskerade zu hüten. Und in das Ensemble klangen die Salonstücke der höheren Töchter, die mit Schleifchen, Tromperchen, Amoretten verzierten, all das falsche Rokoko der »Cascades«, »Carillons« und »Papillons«, der »Pensees fugitives« und »Cloches du monastére«, die »Souvenirs de Varsovie« nicht zu vergessen. Quer ins Zimmer hing überdies sehr gerne eine polierte Stange mit einem riesigen Kelim, als wäre hier Mast und Segel und das Zimmer kreuze arabisch auf dem Weltmeer oder läge im Hafen vor einer indischen Stadt. Daneben fehlte das Spinnrad nicht und das Reiseandenken aus Venedig: die Perlmuttergondel vor einem himmelhohen Muranospiegel. Zu all dieser Wunschmaske als Einrichtung (in den verschiedensten Preislagen ausgeführt, wie sich von selbst versteht) gab aber letzthin das Atelier des Wiener Malers Makart das Modell: hier war das Original historisch-exotischer Verkleidung. Jeder Kommerzienrat entnahm sich daraus, von Tapezierern beraten,
die Anregung zum heimischen Fremdleben, bis auf die Staffelei in der Ecke mit dem soeben beendeten Ölgemälde. Um die noch nie so dagewesene Glanz-Utopie des nouveau riche zu schildern, müßte man selber seinen Pinsel in den Makart tauchen, wo er am tiefsten ist. »Das Atelier an der Gußhausgasse« schreibt ein Zeitgenosse Makarts 1886, »gewann durch die verschwendetische Pracht und Kunstliebe des Meisters mehr und mehr den Charakter eines malerisch angeordneten Museums, welches der Phantasie Makarts den Apparat seiner Hilfsmittel und Vorbilder zu bequemer Benutzung darbot, in dem sich ihm die eigene Existenz und die glänzende Geselligkeit, mit welcher er sich umgab, in ein farbenschimmerndes Kunstwerk verwandelte.« Farbenschimmernd, Tizian, Venedig und vor allem eben Orient, das war die Traum- und Fluchtparole dieser so tief spießbürgerlichen, gelangweilten und pessimistischen Zeit, der Verdeckungszeit, Dekorationszeit, Maskenzeit par excellence. Verkleidung regierte nicht minder den historischen Roman, altdeutsch hei Scheffel (Elkehard), römisch-germanisch bei Felix Dahn (Ein Kampf um Rom), ägyptisch bei Georg Ehers (Uarda, /(440) Semiramis); alle im Butzenscheibenlicht, auch an Tiber und Nil. Und es bedurfte dieser historischen Verfremdung, weil die exotische Wohnung doch nicht ganz ausreichte, um den Protzentraum von Ritterburg zu erfüllen, und weil die Geschäftsstraße draußen erst recht nicht mit Spinnrädern versehbar war. Trotz der Mühe, die sich auch die Außenarchitektur, wenn man das so nennen kann, mit Kostümen gegeben hat, mit den romanischen Bahnhöfen und gotischen Postämtern, mit indischen Musikpavillons und maurischen Affenhäusern. Und da der rohe Mechanismus dieser Zeit sich mit alldem doch nicht zudecken ließ, so bezog er noch, damit er ebenfalls, gleichsam mit einer gigantischen Wohnungseinrichtung, dekoriert werde, ein Reiseandenken ganz großer Art: die Natur. Der Genießer des neunzehnten Jahrhunderts sah in ihr die Nachbildung einer an sich trostlosen, doch gut drapierten mechanisch-materialistischen Aussicht, eine Art Simili-Panorama aus Kraft und Stoff. Die letzteren beiden blieben zwar, wie Ludwig Büchner sagte, »die Rohstoffe, aus denen sich das ganze Weltall mit seinen Wundern und Schönheiten aufbaut«, indes für die Ferien, die sich nicht um ihre Schönheit bringen lassen wollten, wurde die Natur zur Prachtausgabe. Hier gebrauchte sogar der Aufgeklärteste die Wörter »Göttin« und »Tempel«; dergleichen leuchtete wie ein Diorama von Firn und Alpenglühen am häuslichen Fenster. »Die Göttin der Wahrheit wohnt im Tempel der Natur«, sagen Häckels »Welträtsel«, die Stoff und Kraft so sehr koloriert und veredelt haben, »sie wohnt im grünen Walde, auf dem blauen Meere, auf den schneebedeckten Gebirgshöhen.« Ja in dem Maße, wie die Makartwelt um die Jahrhundertwende gegen Böcklin, anders gegen Klinger nachließ, wurde die überfüllte Wohnung wieder klassischer, sozusagen, und der Orient gegen lauter Mittelmeer eingetauscht, ohne daß freilich die Draperie verschwunden wäre. Der Raum legte nur gleichsam Weiß-Gold-Maske an; zur Gasbeleuchtung trat Cäsar Flaischlens »Sonne im Herzen«, zur Architektur des historischen Romans trat Carl Larssons »Haus in der Sonne«, von 1895, als eine Art von kosmisch, nicht mehr bengalisch beleuchteter Lebensform. Das ergab jetzt eine Jugendstil-Erotik neben der der gemalten Sklavinnenmärkte in Kairo, eine »halkyonische» Erotik neben der /(441) des Palmbaums im Salon und der deutschen Renaissance auf türkisch. Die spezifische, nur im neunzehnten Jahrhundert vorhanden gewesene Traumschicht, worin der überfüllte Kitsch und alle die angegebenen Seltsamkeiten gestanden haben, historisch-exotisch-utopisch dekorierend, besetzte sich jetzt mit heller Beschworenem, aber immer noch mit Beschworenem. Ein Haremshimmel hatte fast über der ganzen Zimmereinrichtung des neunzehnten Jahrhunderts gestanden, nun
wird das orientalische Zypern im eigenen Heim, im eigenen Naturtempel mit einem sezessionistisch-antikischen vertauscht - und bleibt doch Zypern als Genrestück, als Exotik des Schein-Jahrhunderts. So nicht zuletzt in dem Prospekt, den der Häckelianer Wilhelm Bölsche gleich einer Draperie »edler Nacktheit« vom Tempel der Natur gemalt hatte: »Lichte Zukunftswelt eines besseren, auch von seinen Schlacken gereinigten Griechentums; wo Sitte und Nacktheit, reine Weihe der Kunst und heißer Duft des Liebesfrühlings auf gemeinsamer Blumenwiese beieinander lagern können, ohne sich zu stören, während der weiße Tempel mit seinem heiligen Vorhang vor den tiefsten Mysterien des Lebens wie des Denkens still darüber zum Himmelsblau ragte... Wann werden wir aus dem tiefen Schattental unserer Irrungen deine Insel der Seligen erreichen?« Wie ersichtlich, fehlt auch hier der Vorhang nicht, eine Art antiker Portiere, die man sich gern vor dem Eingang des Tempels vorstellt, gleich Reizwäsche vor der Geliebten oder auch gleich dem hängenden Kelim im früheren Salon, nur nicht als Segel gedacht. Solch antiken Tempel mit Vorhang auf Blumenwiesen gab es nicht, er ist gleichfalls geträumtes Kontrastbild aus Reisebildern. Er fand sich, mehr weiße Ölfarbe als Marmor, auf damaligen Ausstellungen, sein Urbild erscheint als Spielwerk, zuweilen in Schloßgärten des späten Rokoko, auch auf klassizistischen Stichen. Überall wirkt hier, noch um die Wende des neunzehnten Jahrhunderts, schöne Fremde dekorativ, nämlich als die besondere Art von angeordneter, von gestellter Utopie. Vor allem über Zimmer- und Bilderwelt der Gründerzeit lag der echte Fluch der Kopie (hergestellt durch Fabriken), der falsche Segen einer Exotik in Plüsch, einer Passage als Wohnung, eines Panoramas als Einrichtung. Die reiche, die korinthische Säule in allen Ehren, aber sie besonders muß die /(442) allerechteste sein; denn ihr Ort ist nicht die Protzerei des kleinbürgerlichen nouveau riche, nicht der zugestellte Mangel an Phantasie, sondern deren Überfluß. Aura antiker Möbel, Ruinenzauber, Museum Das Sammeln ist eine besonders vertrackte Art abzureisen, seit je. Es zieht zusammen, hält alles bei sich, berührt sich mit Habgier und Geiz, insofern bleibt es ganz eng zu Hause. Es sucht andererseits das Seine so weit umher wie möglich, durchstreift alle Winkel nach altem Gerät, macht sich nichts daraus, den davon Besessenen zu ruinieren, insofern ist es hinlänglich extravertiert. Das ist widersprüchlich, aber in dem Wunsch einig, sich mit Seltenem zu umgeben, zeitlich oder räumlich Fernes gleichsam als Kapsel zu haben. Gesammelt werden kann alles: Knöpfe, Weinetiketten, Schmetterlinge, besonders häufig Briefmarken. Das Sammeln antiker Gegenstände, nicht mehr vorhandener oder exotischer Kunst ist nur die edelste Jagdart unter den übrigen. Auch die Sucht nach Vollständigkeit findet sich beim Markensammler ebenso wie beim Porzellansammler; der Wunsch, einen Satz, und der, ein Service komplett zu haben, ist der gleiche. Und die Seltenheit bestimmt hier wie dort den Preis, handle es sich um eine abweichende Zähnung oder um eine auch seitlich geschweifte Barockkommode, die die Hälfte mehr kostet als eine nur vorn, an den Schubladen, geschweifte. Bei allen Sammelobjekten ist die Arbeit des Händlers, als eines Finders von Raritäten, produktiv (eine der wenigen produktiven im Verteilungsgeschäft); bei allen reguliert die Konkurrenz der Liebhaber den Preis. Trotzdem unterscheidet sich Kunstsammeln wesentlich von dem übrigen, denn das Seltene ist in diesem Feld zugleich das Nicht-Wiederherzustellende, das Unwiederbringliche. Während Briefmarken und ähnliches heute so ziemlich dasselbe sind wie vor hundert Jahren, eignet dem alten Möbel, Samt, Porzellan eine
verlorene Güte, ein verschwundenes Handwerk, eine versunkene Kultur; und dieses qualifiziert die Seltenheit. Zum Unterschied von der eintönigen und immer eintöniger werdenden Maschinenware geht ein ungenormter Reichtum im Antiquitätenland auf, ein stets aufs Neue verblüffender. Die einfachsten /(443) Fayenceteller sind bereits verschieden, wenn ihre Herstellungsorte fünf Wegstunden voneinander getrennt waren. Kein Orientteppich, mit Ausnahme der Buchara und Afghan, ist dem anderen gleich; zwischen einem Frankfurter und einem Danziger Schrank, obwohl sie beide barock sind, bestehen Unterschiede wie zwischen Hoftor und Schloßportal. Das alles ist getrennt durch Lokalität, Auftrag, Überlieferung, doch alles ist unwiederholbar geeint im soliden Handwerk, Stück für Stück eigens angefertigt, und alles verband eine geschlossene, langsam gewachsene Kultur. Heutiges Sammeln von Altertümern bedeutet daher Abkehr von der Maschinenware, Hinwendung zu einem unwiederbringlich gewordenen Hausbild, das zugleich das behaglichste und phantasievollste war. Dieser Sammler-Eros wird auch durch die unleugbare Herkunft seiner heutigen Gestalt aus dem vorigen Jahrhundert nicht geschwächt, genauer: aus dessen Dekorationszimmern. Er wird nicht geschwächt, weil sich ja die Antiquitätenfreude auf alles andere eher beziehen will als auf protzig hergerichtete Kopien und die sogenannten Stilmöbel. Sogar die gefälschten Antiquitäten sind selten an die Bedürfnisse und Schmuckwünsche eines neureichen Protzentums adaptiert. Alle echten aber sind Zeugen einer durch den Kapitalismus zerstörten Formgewißheit, erhaltenes Strandgut aus verlorener Schönheit. Mit romantisch-reaktionärem Antikapitalismus hat die Einschiffung nach dem Antiquitätenland gar nichts zu tun, wohl aber mit der Einsicht, daß der späte Kapitalismus der Todfeind der Kunst war, vorzüglich der im Hausgerät. Als ehedem schön gelungenes bildet es weiter sein beglückendes Ensemble, aus dem gleichen Boden stammend, aus der gleichen, phantasievollen Fruchtbarkeit. Auch verstehen sich alle diese guten Stücke untereinander, schließen sich, noch in der Mischung, einander an, wie, um Beispiele aus Architektur zu gebrauchen, aus Würzburg, aus Worms, ein Seitenportal aus reinem Rokoko sich bruchlos an einen romanischen Dom angeschlossen hat. Es bleibt zwar wahr, der Wunsch abzureisen liegt auch dem Sammeln echter Altsachen zugrunde. Das verbindet in etwas mit dem faulen Fernzauber von ehedem, das kannte der wirklich echte Bewohner wirklich echter Umgebung nicht. Aber erkannte den Wunsch, der heute noch einen wichtigen Teil des antiqua- /(444) rischen Aufenthalts ausmacht: den Wunsch, in mehreren alten Zeiten, fernen Landen gegenwärtig zu sein. Es ist der Wunsch des Justizrats aus Andersens »Galoschen des Glücks«, ins gotische Kopenhagen zu gelangen; die vielen Zauberei-Geschichten, die den Adepten ins alte Troja oder an den fernen Ganges versetzen, sind von gleicher Art. Welch ein Traum, einen Tag, nur eine Stunde im Porzellanjahrhundert verweilen zu können, gar im alten Athen, Rom, Byzanz, Memphis, Babylon. Lebend durch die alten Straßen und Häuser gehen zu können, in einer Zeitreise nach rückwärts, gegen den Tod, hinter die eigene Geburt. Der Besucher findet einen Widerschein dieses unnatürlichen, gegen den Lauf der Dinge gestemmten Wunschbildes in Pompeji. Und sicher ist ein Stück Pompeji in jedem alten Weinkrug, lebt im Klang, womit die barocke Schranktür ins mächtige Schloß fällt, im entlegenen Schein der Zinnteller. Am wildesten, auch am meisten voll ineinander gestellter Spiegelungen ist diese Rückwärtsreise mit Wünschen in jedem gut überfüllten Antiquitätenladen. Balzac beschreibt eine so gegebene Wunschserie oder Spiegelmontage ganz unvergeßlich im »Peau de chagrin«. Ein junger Dichter betritt hier das Magazin, »betrunken vom Leben und vielleicht schon vom Tod«, und
als solcher Voyeur erfaßt er die Quer-Montage, erfährt er den ineinander gestellten Aufenthalt in Vergangenheit, in Ferne, in Spiegelgalerie. »Er mußte die Gebeine von zwanzig Welten sehen ... Krokodile, Affen, ausgestopfte Riesenschlangen grinsten Kirchenfenster an, schienen nach Büsten zu schnappen, Lackkästchen haschen und auf Kronleuchter klettern zu wollen. Eine Sévresvase, auf die Madame Jacotot Napoleon gemalt hatte, stand neben einer dem Sesostris geweihten Sphinx ... Gerätschaften des Todes, Dolche, fremdartige Pistolen und geheime Waffen, waren kunterbunt mit den Gerätschaften des Lebens durcheinandergeworfen: mit porzellanenen Suppentöpfen, Meißner Tellern, durchsichtigen chinesischen Tassen, antiken Salzfässern und feudalen Konfektdosen, ein elfenbeinernes Schiff mit vollen Segeln schwebte auf dem Rücken einer bewegungslosen Schildkröte. Eine Luftpumpe drang in das eine Auge des Kaisers Augustus, der in regloser Majestät verharrte ... Auf diesem Kehrichthaufen der Welt fehlte nichts, nicht das Kalumet der Indianer, noch die grüngol- /445) denen Pantoffeln des Harems, nicht der maurische Jatagan noch das Idol der Tataren. Alles gab es bis zum Tabaksbeutel des Soldaten, dem Ziborium des Priesters und dem Federschmuck eines Thronsessels. Dieser Bilder Verwirrung war überdies noch von tausend launenhaften, spielenden Lichtern überflogen, voll eines wilden Durcheinanders von Nuancen und des stärksten Gegensatzes von Helle und Finsternis. Das Ohr meinte, abgebrochene Schreie zu hören, der Verstand holte tausend unbeendete Trauerspiele aus dem Chaos, und das Auge glaubte, kaum verhülltes Leuchten zu gewahren.« Dem jungen Dichter wurde die Verzweiflung gestillt, die ihn in dieses Magazin getrieben hatte, er verwandelte sich in Ritter und Bajaderen, in verschollenes Wachs, Eisen, Sandelholz, rings um ihn komprimierten sich hundert Zeiten und Räume in eine einzige Perspektive. »Bald wurde er zum Seeräuber und umgab sich mit dessen ganzer düsterer Poesie, dann bewunderte er zarte Miniaturen, azurne und goldene Ornamente, die eine kostbare Meßbuch-Handschrift zierten, und vergaß die Erregungen des Meeres wieder. Eingelullt von einem Gedanken voll Frieden, vermählte er sich von neuem der Wissenschaft, lag in den Tiefen einer Zelle und sah durch ihr Spitzbogenfenster über die Wiesen, Wälder und Weinberge seines Klosters hin.« Die so geschilderten Ausschweifungen ergehen sich ersichtlich stets in Strandgut-Montage, nicht in den Dekorationszimmern des französischen, gar des deutschen zweiten Kaiserreiches. Balzacs Betroffenheit ist nicht einmal romantisch, sondern sie ist, auf neue Weise, in ihrem Verfallensein ans Trümmerhafte schlechthin barock. Der Antiquitätenladen Balzacs ist ein Schausaal von Vergangenheit und Ferne, Strandgut wird so allegorisch. Was bedeutet, daß das verschwunden Erhaltene wirkt, als gäbe es nun erst seine letzte Schöne frei. Das Verwitterte erscheint dann, als ein bloßes der Oberfläche, wie schwermütig-heiteres Lichten, wie Lichtung; so entstand manieristisch, bei Balzac noch anklingend, der Kult der Ruine. Die Vergänglichkeit, am menschlichen Leib und Glück so beklagt, erlangte, als gestaltete und ebenso eröffnete, damals einen seltsam-figürlichen Wert. »Mit blassen Leichen prangen«, das gab dem Schluß barocker Trauerspiele seinen Schmuck; nicht anders wurden die Trümmer als /(446) solche geehrt, welche aus der Antike herüberstarrten (vgl. Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, 1928, S. 176 f.). Der gesamte barocke Manierismus reflektierte das Zwielicht, das aus dem Ineinander von aufsteigendem Bürgertum und tonangebendem, prekär-mächtigem Neufeudalismus entstand; wobei freilich die Vergänglichkeit, als eine im Sturz aufgehaltene, durchaus noch Form bildete, also keineswegs in Nihilismus fiel. Die Ruine mußte so ziemlich genau die Mitte halten zwischen dem Zerfall und einer
hindurchscheinenden, sozusagen erst integren Linie; diese schwebende, in der Schwebung gleichsam angehaltene Mitte machte sie, im barocken Sinn, malerisch. Die Ruine hatte weiterhin, fürs barocke Christentum, den Blick in die Vergänglichkeit mit dem einer Welt am letzten Tag verbinden lassen; diese Mischung von Vergänglichkeit und Apotheose machte die antiken Trümmer ehrwürdig, nicht nur schön. Also wurde die Ruine - ungebrochenen Zeiten mehr ein Schreck als ein Wunschbild - die Kategorie, unter der die Antiquität zum erstenmal erbaulich wurde. Und mehr als das: ein Abglanz der vielen Märtyrerszenen in den Bildern des Barock fiel auch auf die Trümmer vergangener Schöne. Die Renaissance hatte, wo sie Ruinen antiker Tempel darstellte, diese noch aus lauter herausgelösten und gleichsam vorzeigbaren Mustern bestehen lassen. Aber Bilder und Stiche der zwei nachfolgenden Barockjahrhunderte verwenden die Ruine, um gerade das klassische Muster, als eines des Maßes und der Symmetrie, barock umzuformen. Die Trümmer wurden neue Elemente eines eigenen, entschieden unklassischen Emblems, einer Allegorie der Vergänglichkeit, auf der die Ewigkeit sich niederläßt. So wurden die Reste des Altertums vom barocken Darsteller eher im Zerfallenen überschönt, als ins Intakte restauriert; das selbst bei Piranesi, wie erst bei den Empfindsamen der Antike als Sonnenuntergang. Piranesis »Vedute di Roma« sind sehr genau, sie wollen Anschauung geben und wurden so, im beginnenden WinckelmannJahrhundert, empfangen, doch auch hier sind die Torsi als solche, in ihrer elegisch erwünschten Schönheit, durchaus überbetont. Gar die eigentlichen Barockmaler, die der melancholisch-trunkenen Phantasie, haben Trümmer-Antike auch dorthin gesetzt, wo sie an Ort und Stelle überhaupt nicht vorkommt: Chisolfis »Ruinen /(447) von Karthago« (Dresden) gehen um 1650 ein vorzügliches Exemplar dieser Gattung. Büsche, geborstene Mauern, malerisch herabgerollte und verstreute Säulen machten hier die Herrlichkeit des Altertums durch Vergänglichkeit besonders kostbar. Drückt die gemalte Architektur allemal Wunschträume am zwanglosesten aus, so hier die: christliche Elegie im antiken Hymnus zu haben. Und ein Abklang des Barock war noch die Empfindsamkeit, »wo der Vorwelt Schauer uns umwehen«; daher ist sie von künstlichen Säulenstümpfen bevölkert, nicht nur auf Gräbern, auch von künstlichen Ruinen insgesamt, so im Schloßgarten von Schwetzingen. Zudem traten außer den antiken Trümmern nun auch die der mittelalterlichen Burgen in den Gesichtskreis, sonderlich zum Spuk geeignet, neben der antiquarischen Erbaulichkeit. Ruinen galten seit je, schon in der Antike selbst und in Tausendundeiner Nacht, als guter Aufenthaltsort für Abgeschiedene: also wurde diese Szenerie, besonders als sie sich in heimischen, in gotischen Mondschein verschob, der legitime Ort des mit dem achtzehnten Jahrhundert beginnenden Schauerromans. Wie verschieden wirken diese sentimental gesuchten Ruinen voll den entsetzlich wirklichen, die die amerikanischen Terrorangriffe hinterlassen haben. Wie verschieden aber auch war damals schon die Aura, welche bloße Vergänglichkeit und ihre Elegie verliehen, von dem Grauen, das ohne alle Aura (es sei denn der der Sinnlosigkeit) in den öden Fensterhöhlen wohnt. Wie weit aber auch war die damalige Kategorie Antiquität, diese mit Ruinenzauber, ja Ruinenchiffern vermehrte, von den Restaurierungsbegriffen des neunzehnten Jahrhunderts entfernt; wie verschieden ist die Andacht zum Torso vom Trieb zu seiner Ergänzung. Als 1820 die Venus von Milo ausgeackert worden war, wurden die fehlenden Arme, bald nachher und das ganze Jahrhundert hindurch, in mehr als hundert Rekonstruktionen ex ingenio wiederhergestellt; das Barock hätte gerade am Torso seine Erbauung gehabt, eben die der Vergänglichkeit und des Endlichts auf ihr. Aber in wichtigen Bezügen allerdings ist der Ruinenblick auch heute noch
geblieben, außerhalb der verklärten facies hippocratica: so im Pathos der Patina, so in dem der Blockeinheit. Das Wunschoathos der Patina reicht von irisierenden Gläsern bis zum Goldton von Pästum, von verwitterten /(448) Dachziegeln (Mönch und Nonne) bis zur edelgrünen Bronze; dies Pathos will die seitdem verflossene Zeit, will sie wie alten Wein oder wie den Abend eines wohlverbrachten Lebens. Anders, ganz unromantisch, aber gleichfalls der Zerstörung nicht undankbar, ehrt Liebe zur Blockeinheit den Einfluß der Zeit, namentlich in plastisch-griechischem Feld: die armlose Venus von Milo erscheint hier als strengere Form, verglichen mit der illusionistischen des kompletten Originals. So kann das kostbare Strandgut überall Bedeutungen herzeigen, die es über seinen ursprünglichen Zustand und ehemaligen, gar alltäglichen, Zusammenhang erhöht macht. Das am stärksten in leeren Zeiten; nicht grundlos stieg das Museum selber, aus der fürstlichen Schatzkammer entstanden, erst im neunzehnten Jahrhundert zu seinem belehrenden, bewundert-mahnenden Glanz. Antiquität insgesamt: sie ist großenteils gewiß ein Unwiederbringliches, ein Vineta unter den Wassern der Vergangenheit. Aber sie ist im Zeitalter der Maschinenware und der formalistischen Bauhausimpotenz, die die dekorative des neunzehnten Jahrhunderts so stolz abgelöst hat - ebenso ein utopisches Zeichen. Ein mahnend-utopisches Zeichen dessen, was Fülle, was Ornament, was tüchtig umgebende Phantasie war und nicht bloß war, sondern unbeendet ist. Selbst eine wirkliche Neuschöpfung wird und muß als solche - auch Altertum in sich haben, mit- und fortarbeitendes, wie sich versteht, nicht kopiertes. Der Grad von Neuheit macht ein Werk wichtig, aber der Grad von Altertum macht es kostbar, und beide Bestimmungen gehen im Werk, das ein Kulturerbe so antritt wie selber hinterläßt, Hand in Hand. Die Maschine hat andere Bedingungen geschaffen, als sie die handwerklichen waren, denen alle Antiquitäten entstammen, aber sowenig wie der kapitalistisch erzeugte Maschinenmensch von heute bleibt, so wenig ist eine Maschinenware, die bloß der allgemeinen Mechanei und ihrer Einfallslosigkeit entspricht, das letzte Wort. »Eine Geburtszange muß glatt sein, aber eine Zuckerzange mitnichten« (Geist der Utopie, 1918, S.22); jeder echte Künstler liebt das Ornament, auch wenn das echte Ornament eine Epoche, die durch Mechanei wie Kitsch so sehr dezimiert worden ist, noch nicht wiederliebt. Die Reinigung von den Greueln des neunzehnten Jahrhunderts ist vorausgesetzt, dies /(449) allerdings als conditio sine qua non, doch jenseits dieser Reinigung steht als Aufgabe eine Ausdruckswelt, die die Fülle des zur Antiquität Gewordenen fortsetzt, nicht vernichtet. Ein heftiger, wenn auch keineswegs schon gesegneter oder gar vom Epigonentum des Epigonentums befreiter Farben-, Formen-, Ornament-Wille geht durch die von der Mechanei befreite Welt. Er erweist, daß das Licht, das die ganze Geschichte hindurch bis zum Einbruch der Maschinenware geschienen hat und alle unsere Museen erfüllt, nicht im Bauhaus und ähnlichem Leerjubel erloschen ist. Je drastischer der architektonische Pseudo-Fortschritt, nämlich ins Nichts, desto mehr werden Antiquitäten im alten Wunschbild ein neues Vergißmeinnicht, ein nicht romantisches. Die jetzt im Lauf befindliche Realität hat genug Vor-Schein, um gegen allen Lombard beim neunzehnten Jahrhundert - Gebilde von bisher unbekanntem Menschen-Ausdruck hervorbringen zu können. Es ist das Zeichen eines schlecht Gebauten, also der meisten neuen Geräte und Straßen, daß es nicht alt werden kann, sondern im Lauf der Jahre nur verrottet. Und ebenso ist es das Zeichen einer geborenen Kostbarkeit, daß sie nach angemessener Zeit ans große alte Erbe sich anschließt und seiner wert ist. Schloßgarten und die Bauten Arkadiens
Hier ist's jetzt unendlich schön, mich hat's gestern abend, wie wir durch die Seen, Kanäle und Wäldchen schlichen, sehr gerührt, wie die Götter dem Fürsten erlaubt haben, einen Traum um sich herum zu schaffen. Es ist, wenn man so durchzieht, wie ein Märchen, das einem vorgetragen wird, und hat ganz den Charakter der elysischen Felder... Goethe 1778 an Ch. v. Stein über den englischen Park bei Dessau Kein heiteres Haus, das nicht im Grünen steht oder dahin blicken möchte. Dies Freie gehört zu ihm, vor allem das nach eigenen Wünschen gestaltete: der Garten. Er sammelt und ordnet die Blumen, zähmt Fels und Wasser, gibt Wände, die sich von selber öffnen. Der Garten gehört zum Lustwandel und nimmt ihn auf, er gehört zur Frau und zu Cythera. Nicht grundlos schloß /(450) sich der arabische Garten dem Harem an, eine Landschaft von Liebe, Überraschung und Friede. Zu diesem Ende war er von Kühle und Versteck belebt, von Wasserspielen und Kiosken, Seltsamkeiten fehlten nicht. Der Park der Bagdader Kalifen enthielt Bäche aus Zinn, einen Teich, der mit Quecksilber gefüllt war, ringsum hingen Goldkäfige mit geblendeten Nachtigallen, die auch am Tage sangen, Aolsharfen klangen in den Bäumen. Die Wand der Liebespavillone war durchbrochen wie Filigran aus Elfenbein, durch sie schien der türkisgrüne, morgenländische Himmel. Irrgänge waren beliebt, Spiegelwirkungen, die die Liebesfreude vermehrten (die berühmtesten waren in den Schloßgärten des arabischen Palermo, auch Rom hatte solche Künste bereits aus dem alten Orient geholt). Und wie die Schöne mit Silberspangen und Schmuckketten behängt ist, so der orientalische Garten mit Metallarbeit, Glasblumen, Jade aus China ein feiner Lusttraum von Natur selber, von Natur als Weib. Die zweite Blüte des Gartens nun kam im Barock; das Interesse des abendländischen Absolutismus am orientalischen Despotismus ließ hier zugleich in die arabische Phantasie greifen. So vor allem in den Schloßgärten des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts, trotz des neuen, vordringlich gewordenen Elements der Repräsentation. Dies neue Element nun siegte in der zweiten Glanzzeit aller Gartenkunst, in der barocken, doch es siegte nie ganz. Der Barockpark wurde der gemessene, geometrisch ausgemessene Schauplatz für zeremonielle Feste, aber auch für eine Natur, die überall chargiert. Sie hatte sich als Randzone des Hofs zu verhalten, halb mathematisches Wesen, halb gebändigte Ausschweifung; sie war Panorama. Es zeigten sich hierbei barbarisch komische Exzesse, die dem Barockwunsch nach Emblembildung aus allem und jedem entsprachen: Adam und Eva in Taxus, St. Georg in Buchs, ein Drache mit Schwanz aus kriechendem Efeu, hervorragende Dichter in Lorbeer. Doch ebenso schuf der Barockgarten das Nonplusultra dessen, was sich die damalige Gesellschaft unter einer Natur »sans la barbe limoneuse«, obzwar mit Allongeperücke, wünschte und vorstellte. Das aber war Nachahmung der Oper. Es war überdies noch illuminierte Natur nicht nur gestellte Kulisse, im Sinn eines damaligen Edelmanns, der sagte, er liebe die Natur; denn sie sei eine so vollkommene /(451) als rationale Verblüffung, große Veduta, als Mischung aus antiken Verhältnissen und orientalischen Launen, kurz als Ensemble aus Reglement und Wunderlichkeit zugleich. Das Rokoko brachte die in alldem wirkende Repräsentation zum Verschwinden, es entfernte von der Natur auch noch die Allongeperücke, doch die orientalische Laune blieb selbst in arkadischem Gewand. Neu kamen marmorne Wunschbilder hinzu, deren Allegorie sich zur
sogenannten Tändelei entspannt hat: Amor und Grazien, ziegenfüßige Pane, welche Nymphen umarmen, schwelgerischer Mädchenraub. Alles in verkleinerter, an Porzellan und Kindlichkeit erinnernder Form, unter grünem Laubdach, neben einem träumerisch rieselnden Quell, zur Nachahmung einladend, ein Jardin Eden auf amouröse Weise, in stille Boskette versteckt. Wirklich trat hier ja, wie im orientalischen Garten, der Harem ins Freie, durch außerordentliches, nur katholisch erreichbares Raffinement vermehrt. Und im Barockpark ist sentimentalischer Orient auch ohne sein Raffinement erkennbar, wenigstens dann, wenn diese Wunschwelt nochmals konzentriert, nämlich gemalt wird. Durch die hochantikische Barockgartenwelt, als die Claude Lorrain und der heroische Poussin die südliche Landschaft dargestellt haben, blickt ein durchaus östlich-antikes Mittelmeer; es blickt im hellgoldenen Licht hinter glänzenden Gebüschen, es blickt noch in den Säulentempeln und Ruinen, die allesamt wie Palmyra erscheinen, nicht wie Rom. Veduta herrscht auch im Barockgarten durchaus, échappée de vue ins Unendliche, doch ebenso in Versteck und Fülle. Natur erscheint als vorgeordnetes Abenteuer von Repräsentation und Lust, mit einem Zauberschloß in der Mitte. Also wurden Häuser aufs reizvollste mit einem Grün vermehrt, das von selber nirgends so wuchs. Auch die scheinbare Abkehr vom künstlichen Wesen, das ein künstlerisches war, hat den Garten dieser Art nicht aufgehoben. Die Abkehr vom französischen Garten geschah um 1750, auf Grund der immer stärker vordringenden bürgerlichen Lebensform; der englische, der sozusagen natürliche Stil begann. Aber auch die englische Anlage pflegte ihre Wildnis als eine sehr kultivierte, und sie behielt den Menschen in der Landschaft, die Landschaft für den Menschen. Zwar entfernt sich der englische Park, auch der im Rokoko mit /(452) dem französischen noch oft gemischte, scheinbar vom Schloß, auch soll er keine Grenze gegen die freie Natur mehr haben. Auch wurde dem Mittelgebirgsgarten wieder Vorzug gegeben vor dem künstlich in der Ebene angelegten: Romantik kündete sich an, die Heidelberger Landschaft begann entdeckt zu werden, der Zürchersee, die angebliche Garten-Natur für sich selbst, scheinbar ohne menschlichen Eingriff. Aber was so entstand, war wiederum nicht gegebene, sondern Wunschnatur durchaus, diejenige Addisons und Popes, dann vor allem Rousseaus, die eines sentimentalisch gewordenen Arkadien, und der englische Park war seine Einleitung. Er entfernt sich nur insofern vom Schloß oder Haus, als er in Wiesen und Gehölz, in Trauerweiden, Schilfseen und Urnen ein neues Parterre bildete, nämlich eines zum Empfindungsbau oder Romantikhaus der ganzen Welt. Daß die Natur in ihrem ursprünglichen, vollkommenen Zustand ein Garten war: diese biblische Vorstellung wurde nun die heidnische, sie durchzog einen elysischen Traum. Selbst die Einöde, der scheinbar äußerste Gegenpol zur Mensch- und Pflanzenwelt, wurde so in Rousseauismus einbezogen, wenn auch erst auf dem Umweg der Romantik. »Der Garten«, sagt derart Friedrich Schlegel, »in diesem symbolisch-künstlerischen Sinn ist schon ein erhöhter, schön gewordener und verklärter Zustand; in der Einöde aber ist es die wirkliche Natur selbst, deren Gefühl mit jener tiefen Trauer erfüllt, die zugleich ein so wunderbar Anziehendes hat« - das Anziehende der Versunkenheit, ja Abgeschiedenheit, die sich selber lebend genießt. Allmählich hatten auch Wüsten und Eisgebirge darin Platz, bereits seit Hallers Gedicht über die Alpen. Sie waren mit Unheimlichkeit versehen, sie lagen an den Rändern, wo Natur zum alten Chaos abfällt, doch auch, wo sie sich über die bewohnten Grenzen ins einsam Erhabene erstreckt. Der englische Garten als architektonisches Gebilde konnte dergleichen selbstverständlich nicht mehr andeuten, aber seine Anlage liebte solche Verdämmerungen oder Abbrüche der Gewohnheiten, er baute noch die Kuriositäten,
die er vom Barock übernahm, in Einsamkeit, Entlegenheit. Besonders lehrreich und gleichsam enzyklopädisch wirkt hier ein Garten im Übergang vom Rokoko zur englischen Anlage: der schönste, der Schwetzinger Schloßgarten. Neben /(453) Schilfseen und Urnen wollte hier das Gedächtniswürdige der Welt in Attrappen und Fassaden zusammengetragen werden, ein grüner Schausaal. Aber ein Schausaal, der wiederum nur geäußerte Stimmungen und Wunschbilder zeigte, eine natürliche Schatzkammer aus lauter künstlichen und sentimentalischen Schätzen. Grüner Taxus und weiße Götter, Voliere und verschwiegenes Badehaus, Apollotempel und Moschee - all diese Wunschbauten frühester Montage sind vereinigt. Es findet sich ein Tempel des Merkur, einer der Minerva (mit unterirdischer Kammer, als Kultraum der »Weisheit«), eine künstliche Ruine, ein Tempel der Botanik und ein römisches Wasserkastell - alle aus dem Theater des Barock oder Rokoko in den offenen Park übertragen. Das war der Lustgarten großer Herren, der Raum höfischer Naturfeste und Promenaden, doch ebenso liegt bleibend der Hauch einer phantastischen Entführung und Entlegenheit darüber. Die Arie der Susanne aus » Figaros Hochzeit« wohnt genau in dieser Gegend, der Adel Mozartscher Musik klingt in solchen Gärten dicht neben einer Extravaganz, die aus Geschichte, Mythologie, fremden Zonen ihr sentimentalisches und kuriöses Panorama macht. Selbst Voltaire schrieb 1768 an Collini über den schönsten dieser Parks: »Ich will, bevor ich sterbe, noch einer Pflicht genügen und einen Trost genießen: ich will Schwetzingen wiedersehen, dieser Gedanke beherrscht meine ganze Seele.« Und unter all den Baumasken, mit denen solche Gärten versehen waren, fehlte ständig eine einzige, die der Kirche. Statt dessen eben sollte Arkadien versinnlicht oder versinnbildlicht sein: im Barockgarten ein Arkadien mit Kuriosität, im englischen Garten eines mit Zephyr, Mondsichel und Nocturno. Tolles Wetter, Apollo hei Nacht Es gibt auch eine Art, sich die Dinge lesend zu verfremden. Und zwar in eben die Gegend hin, wo es weht und raunt und ahndungsvoll hergeht. Dergleichen liegt von der feinen Abendempfindung des englischen Gartens freilich weit weg, hat aber vergröbert, bisweilen sogar vertieft noch das Empfindsame in sich. Dieses ist nun eine völlig bürgerliche Lust geworden, sie /(454) wird lesend zu sich genommen, kann also auf dem Lehnstuhl geschehen, besonders leicht sogar. Nicht nur das vorige Jahrhundert leistete Erkleckliches im Lesegenuß von Schauern bei behaglicher Lampe. Die warme Stube machte für tolles Wetter draußen doppelt empfänglich und für die gelesenen Vorgänge, zu denen dieses Wetter pfiff. Rauher Wind bewirkte die Entführung des Lesers in Umstände, die merkwürdig zum Anti-Kaminfeuer gänzlicher Fremde gehören. Diese Entführung geschieht meist schon zu Beginn solcher Geschichten; das öde Haus, »schauriges Zwielicht« sind dazu erwünscht. Am besten bieten sich sogar, erstaunlicherweise, unfreundliche Welt an sich selber, Novembernächte, Schreie, wirre, auch spukhafte Vorgänge zur Wärme des Ausblicks an. Hier landen - obzwar zu einem, gegebenenfalls, noch so herabgesetzten Preis -Wünsche, die jenen nicht ganz unähnlich sind, die einmal zur Ossianwelt getrieben haben, zu Sturmwind, Heide, Nebel, verwehtem Ächzen. Hier wirkt am sichersten der Schuß Chok und Rauhnacht, ja Angstwunsch in den Wünschen, von dem oben gehandelt wurde (vgl. S.95), der »Gegensinn der Urworte «,der immer dialektische. Ohne diesen, ohne den Mischaffekt, ja Mischgegenstand, der im Schaudern wirkt, wären die Requisiten des Nachtgrauens nicht so voll verhängter Lust. Denn von ihnen ist auch die Verfremdung erfüllt, die das völlig
sensationelle Behagen des Grauens ausmacht: der Schauerroman. Gerade sein schlechtes Wetter beginnt in der Ossianzeit, es meldet sich zuerst in Horace Walpoles «Castle of Otranto« 1764, läuft weiter zu E. Th. A. Hoffmann, wo stets Geisterstunde ist. Aber auch zu Jean Paul, dessen «Titan« mit Flackerlicht und Hades ebenso reichlich schaltet wie mit Sonne, Alpen und Rom. Edgar Allan Poe wäre erst recht nicht denkbar ohne solchen Aufenthalt im letzten Schein des Abendlichts und in der hereingesunkenen Nacht. Reisebilder dieser Art wohnen in einer Grotte, gleichsam in der Meeresgrotte, worin nach der nordischen Sage Salz gemahlen wird, nicht attisches, aber gotisches. Die Landschaft wird von bitterem Wasser und Nacht durchströmt, die Szenerie wird möbliertes Niflheim. Dunkler Gang und Treppe, Nacht, Friedhof, Eulen, Uhren, unbestimmtes Licht, rätselhaftes Geräusch, Falltüren, gotische Zimmer, Versteck schlechthin, unheimliche Gemälde mit allzu lebhaften Augen: /(455) dies Ensemble füllt vor allem den Schauerroman, wesenhaft. Und geistig-wesentlich bleibt ihm, immer wieder, das sonderbare Wunschglück im Grauen: »Es war wirklich eine sturmrasende, aber doch sehr schöne Nacht, eine Nacht, die grausig seltsam war in Schrecken und in Pracht. Ganz in unserer Nachbarschaft mußte sich ein Wirbelwind erhoben haben, denn die Windstöße änderten häufig ihre Richtung. Die ungewöhnliche Dichtigkeit der Wolken, die so tief hingen, als lasteten sie auf den Türmen des Hauses, verhinderte nicht die Wahrnehmung, daß sie wie mit bewußter Hast aus allen Richtungen herbeijagten und ineinander stürzten - ohne aber weiterzuziehen. Selbst ihre ungewöhnliche Dichtigkeit verhinderte nicht, dies wahrzunehmen, dennoch erblickten wir keinen Schimmer von Mond oder von den Sternen, ebensowenig aber einen Blitzstrahl. Doch die unteren Flächen der jagenden Wolkenmassen und alle uns umgebenden Dinge draußen im Freien glühten im unnatürlichen Licht eines schwach leuchtenden und deutlich sichtbaren gasartigen Dunstes, der das Haus umgab und einhüllte« (Poe, Der Untergang des Hauses Usher). So akklimatisiert wie nirgends ragen auch die Atavismen der Geisterwelt in den Schauerroman herein, mit bleichem oder rußigem Feuer, mit Schlürfen und Klopfen, mit billig-preziösem und jedenfalls disparatem Zauber. Der wunderlichste Spiegel ist hier aufgetan, aber wie immer er phosphoresziert, er zeigt ein Nicht-Geheures der Erfahrung dazu. Gerade dieser Blick, bei Hoffmann mitten in der genausten Beschreibung seiner Biedermeierwelt am Werk, macht den eigentümlichen Realismus Hoffmanns aus. Als einen, der so eindringlich den Abstand zwischen der mittleren Daseinsmisere und den Hoffnungsbildern zeigt, der aber auch, wenn er diese Misere dämonisiert und die Hoffnungsbilder lokalisiert, eine Dimension in der wirklichen Welt aufschließt, die den Schauerroman wie die Hoffnungsbilder darin hier nicht nur als soziologischen Realismus, mit Unterhaltungsfasson darum herum, eingrenzen läßt. Vielmehr: vergessene Grenzsituationen gehen in der gedrückten Reinlichkeit, dem heißen Punsch der biedermeierlichen auf; Hoffmann rapportiert, mit Humor belichtend, was alles noch aus den verlassenen Sektoren hereinreichen, den Alltag durchsetzen mag. Mitternacht ist für diesen Hoffmann zu /(456) jeder Tageszeit, aber zugleich sind die Menschen dem sogenannten Graus der Geisterwelt weder hilflos verfallen, noch behält gar deren Bann das letzte Wort. Sondern noch das tollste Gezeuge erweckt wie im Märchen kluge Gegenkräfte; sie kehren die Entlegenheit zum Hellen um, zu dem in seiner Nachtfolie besonders blau erscheinenden Äther, zum Humanismus. Also wirft der Justitiar im »Majorat«, einer echten Schauergeschichte, den abgeschiedenen Daniel ins Wesenlose zurück, also besiegt der Archivanus Lindhorst, im »Goldenen Topf«, die Hekate Apfelweib und treibt die Verfremdung fort bis in das Licht eines wolkenlosen Atlantis. Das ist
objektiver Gegensinn zum Grauen in der Antiquitätenreise des Schauerromans.
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WUNSCHBILD IM TANZ, DIE PANTOMIME UND DAS FILMLAND
Nune pede libero pulsanda tellus. Horaz Hippolyta: Doch diese ganze Nachtbegebenheit Und ihrer aller Sinn, zugleich verwandelt, Bezeugen mehr als Spiel der Einbildung.Es wird daraus ein Ganzes voll Bestand, Doch seltsam immer noch und wundervoll. Shakespeare, Ein Sommernachtstraum Auch was tanzt, will anders werden und dahin abreisen. Das Fahrzeug sind wir selbst, verbunden mit dem Partner oder der Gruppe. Der Leib bewegt sich in einem Takt, der leicht betäubt und zugleich in ein Maß bringt. Werben und Fliehen vor allem, eine Bewegung, die allemal auch die sexuelle anklingen läßt, das macht einen Grundzug des gesellschaftlichen Tanzes aus, und je verrohter dieser ist, desto deutlicher. Aber er ist damit nicht erschöpft, auch ein anderer Schritt oder Wirbel wird nachgeahmt, in Form gebracht, der zierliche, der gemessene und, in vielen, besonders russisch erhaltenen Volkstänzen, der der Freude nach getaner Arbeit. Doch auch im sexuellen Tanz ist ein Gehobenes, Abgehobenes, das sich sichtlich fühlbar macht, gefühlt sichtbar /(457) wird. Der Tanz läßt völlig anders bewegen als am Tag, mindestens am Alltag, er ahmt etwas nach, das dieser verloren oder auch nie besessen hat. Er schreitet den Wunsch nach schöner bewegtem Sein aus, faßt es ins Auge, Ohr, den ganzen Leib und so, als wäre es schon jetzt. Leicht, beschwingt oder streng, in jedem Fall tritt hier der Leib anders an, in anderes ein. Wobei ein Trieb besteht, immer stärker darin fortzufahren. Neuer Tanz und alter Wo freilich alles zerfällt, verrenkt sich auch der Körper mühelos mit. Roheres, Gemeineres, Dümmeres als die Jazztänze seit 1930 ward noch nicht gesehen. Jitterbug, Boogie-Woogie, das ist außer Rand und Band geratener Stumpfsinn, mit einem ihm entsprechenden Gejaule, das die sozusagen tönende Begleitung macht. Solch amerikanische Bewegung erschüttert die westlichen Länder, nicht als Tanz, sondern als Erbrechen. Der Mensch soll besudelt werden und das Gehirn entleert; desto weniger weiß er unter seinen Ausbeutern, woran er ist, für wen er schuftet, für was er zum Sterben verschickt wird. Um aber vom wirklichen Tanz zu sprechen, so kam aus dem gleichen Zerfall, der in breiten Kreisen den amerikanischen Unflat hochbrachte, in bedeutend engeren eine Art Reinigungsbewegung auf. Sie richtete sich freilich nicht gegen den Jazz, schon aus dem Grund nicht, weil sie schon vor dem ersten Weltkrieg begann. Sie richtete sich, im Zusammenhang mit der gleichzeitigen Reform des Kunstgewerbes, gegen den linderen Zerfall, gegen die Verhäßlichungen des neunzehnten Jahrhunderts, denen der Jazz dann erst die beendete Scheußlichkeit aufsetzte. Die neuen Tanzschulen, von der Isidora Duncan, dann von Dalcroze her, suchten ein schöneres Menschenbild im Fleische vorzuzeigen; wobei sie allerdings den Bau vom hohen Dach her begannen, folglich äußerst »weltanschaulich« sein mußten. Als eine von vielen sei die Loheland-Schule
erinnert, und zwar deshalb, weil sie die natürliche sein wollte. Sie sah auf die schönen Tiere mit dem in sich gut eingehängten, kerngesunden Gang. Sie ging darauf aus, die zweckhaft verborgene oder eingefrorene Haltung, die das Herr-Knecht-Verhältnis mit sich brachte, von oben herab auf- /(458) zulösen. Die Glieder wurden in Kursen, die nichts mehr mit Anstandslehre, nicht einmal etwas mit den ritterlichen Haltungen gemeinhaben wollten, zu unverkrampfter Bewegung angehalten, »um die Leibmitte spielend«. Unter den Zuschauern haben Frauen wie auch Männer, besonders nach dem ersten Weltkrieg und in Deutschland, entzückt auf den Spiegel gesehen, wovor und worin so studierte Tänzer sich bewegten. Eine neuartige Boheme, eine sozusagen natürlich-stilvolle, schlank-fechterhafte, wurde damals dekorative Mode; sie hat mindestens einen neuen Frauen- und Schauspieler-Typ gebracht. Formen wurden angenommen und vorgeführt, mittels deren der Mensch als in Freiheit dressiert erschien. Wobei das Beste, was allda so künstlich gesucht wurde, jederzeit dort hätte gefunden werden können, wo die Menschen sich einzig naturhaft bewegten - im Volkstanz. Er allein steht wirklich auf dem Boden, den der immer weiter verkommende bürgerliche Erholungstanz verloren hat. Und er braucht kein Kunstgewerbe, um sich der sogenannten Leibmitte zu erinnern, um gut in den Leib eingehängt zu sein. Die bäuerlichen Gebiete haben diesen Tanz, auch nach der kapitalistischen Vernichtung der Trachten, der Verwüstung der Festbräuche, noch lange erhalten; eine neue sozialistische Heimatliebe belebt ihn wieder und macht ihn wahr. Der Volkstanz ist überall national gefärbt und so überhaupt nicht, wenn er echt bleibt, übertragbar. Es sei denn als Zeuge und Maß jedes unverdorbenen, gruppenhaft gelingenden Ausdrucks von Trieb- und Wunschbildern. Ob deutscher Ländler, spanischer Bolero, polnischer Krakowiak oder russischer Hopak: die Form ist genau und verständlich, der bedeutete Inhalt ist Freude jenseits des Lasttags. Die Gelassenheit wie die Ausgelassenheit besagen: Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein. Und zwar Mensch mit Menschen in der Gruppe, eine rhythmisch bewegte Formfolge unisono. Einzelne Burschen und Mädchen treten durchaus und jederzeit vor, ganze Tänze können der Darstellung herausgehobener Sagenhelden dienen, so der grusinische vom Bergadler, aber wesenhaft bleibt auch dann die Gruppe, die Bewegungen wieder auffangend, abschließend. Jeder Volkstanz ist so Übereinstimmung, die Zeit der Gemeinwiesen, des Gemeinackers ist noch darin erinnert, mitsamt uralten pantomimischen Formen. /(459) Hier macht überall der ganze Körper mit, gibt sich dem Fluß hin. Aber auch Tanz, der nur auf künstliche Haltung gestellt war, starb zu gleicher Zeit nicht aus. Er lebt im exakten Ballett, höfischer Herkunft, dem Volkstanz ursprünglich höchst fern, aber auch unvereinbar mit dem Kunstgewerbe des neuen Tanzes, das sich auf entspannte Bewegung so viel zugute getan hatte. Welcher Gegensatz zu dem Leib um seine Mitte spielend, in der Loheland-Schule und zu allem Ähnlichen, was als eine Art künstliche Natur wogen mochte. Das Ballett hat keinerlei Sehnsucht danach, wohl aber eine nach der graziös oder erlaucht beherrschten Haltung, die einmal zu Rokoko und noch Empire gestimmt hatte, vorab zu feinen Leiden und kühlem Jubel. Beider Ausdruck geht lautlos auf Fußspitzen, in einer Wolke von Gaze und Puder. Dem bloßen Kreisen um die eigene Leibesmitte stellt das klassische Ballett ein recht spiritualisiertes Handwerk zur Seite oder besser entgegen. Denn es zeichnet eine menschliche Landschaft vor, der wie der leibliche Schwerpunkt, so auch die Schwere fehlen soll; noch der Boden wird verneint. Hier trifft es sich merkwürdig, daß das Leicht-Exakte, wie es diesen völlig künstlichen Tanz auszeichnet, mit dem Mechanischen sich berührt; Kleists Versuch über das
Marionettentheater grenzt in diesem Punkt bedeutend ans Ballett. Zwar versetzt sich nach Kleist der Maschinist durchaus in den Schwerpunkt seiner Marionetten und läßt die Kurven ihrer Bewegung darum spielen, und doch »haben diese Puppen den Vorteil, daß sie antigrav sind«. Das gelingt hier noch vollendeter als in der erstrebten Elfengeisterweise des Balletts, wenn es den Boden verneint: »Die Puppen brauchen den Boden nur, wie die Elfen, um ihn zu streifen und den Schwung ihrer Glieder durch die augenblickliche Hemmung neu zu beleben; wir brauchen ihn, um darauf zu ruhen und uns von der Anstrengung des Tanzes zu erholen: ein Moment, der offensichtlich selber kein Tanz ist und mit dem sich weiter nichts anfangen läßt, als ihn möglichst verschwinden zumachen.« Kleist läßt den Vorsprung der Marionette weiter darin begründet sein, daß das Bewußtsein, das ihr fehlt, viel Unordnung in der natürlichen Grazie des Menschen angerichtet habe. Und er zielt damit keineswegs etwa auf irrationale Vorurteile, sondern eben auf das Mechanische, dem die Marionette zugehört, und das ihr mit /(460) der Exaktheit zugleich die Grazie gibt. Wobei diese vollendete Grazie dem Menschen erst auf der anderen Seite der Erkenntnis, nach völliger Durchmessung des Bewußtseins und der Erkenntnis, wieder zufallen soll. Nun, so weit auch das Ballett von der Art einer solchen Durchmessung entfernt ist, seine völlige Ratio zeigt das hier Darzustellende, Abzubildende in der Tat mit jener Grazie, die die Schwere, gleich den Marionetten, aufgehoben zu haben scheint. Elegante Lösung, das ist zwar kein mechanischer, wohl aber ein mathematischer Begriff, vielmehr Ehrenpunkt; die gekühlte Ratio des Balletts ist derart anmutig und präzis in einem. So bedachte, was das Ausdrucksvoll-Wesentliche im Exakten angeht, der «Sterbende Schwan« der Pawlowa ein Weißes, Reines, Hinfälliges in der Erscheinung, und im japanischen Ballett wird selbst eine Schlacht nur durch einige sparsam bezeichnende Bewegungsfiguren des Fächers ausgedrückt. Das Ballett ist die Schule jedes durchdachten Tanzes; kein Zufall, daß es in der Sowjetunion mit dem Volkstanz, dieser anderen, buntbäurischen Echtheit, zusammen blüht. Und zwar so, nach dem Wort des praktischen Theoretikers Moissejew, daß ohne diesen Volkstanz das sowjetische Ballett im heutigen Ausdruck gar nicht möglich wäre. Auch können der Volkstanz (mit seinen pantomimisch-dramatischen Mitteln) und das allemal nicht dramatische Ballett je nach den Wunschaffekten und der Handlungsfolge nacheinander, im gleichen «Tanzpoem« verwendet werden. Das sowjetische Ballett (denn das Balletthafte bleibt auch in der Mischform leitend) zeigt deshalb doch keinen Stilbruch. Der gebärdenhaft-reiche Ausdruck des Volkstanzes und der sparsam-präzise des Balletts einen sich realistisch in der abzubildenden Handlung. Neuer Tanz als ehemals expressionistischer, Exotik Wo alles zerfällt, fehlt oder fehlte auch der Weg ins Fremde nicht. Er war sogar in der Loheland-Schule schwach eingeschlagen, hinzu den schönen, gut eingehängten Tieren, mit dem kerngesunden Gang. Aber die Spiele um die Leibmitte und ähnliches reichten nicht aus, wo die erstrebte »Haltung« eines großen Teils der bürgerlichen Jugend zu verwildern begann. Wo ein Auf- /(461) ruhr gegen das Menschenbild Bourgeois gar keiner war, auch dort nicht, wo der scheinbare Aufruhr nicht sein faschistisches Gegenteil wurde. Es gab hier, im Reflex des Tanzes, merkwürdige Bildungen, flach- und gewiß auch mißverständlich-irrationale, in denen ein Rapport mit unkontrolliertem Anderssein, mit unzivilisierter Fremde gesucht wurde. Noch spießig wirkte das bei der Impekoven, wenn sie unkenntlich aufgeputzte Genrebilder tanzte. Banalverrückt wurde das gleiche bei der
sogenannten Eurhythmie, einer anthroposophischen Tanzschule voller Derwische und Derwischinnen aus der guten Stube, doch sehr kosmisch, wie das Modewort lautete. Hier sollte in den Tanzenden der sogenannte Ätherleib entwickelt werden, überdies das Sonnengeflecht und die Verflechtung mit den sogenannten kosmischen Werdekräften. Zu diesem Zweck wurden auf mehr als wörtliche Weise Gedichte getanzt, derart, daß jedem Vokal sozusagen symbolische Bewegung entsprach, - eine astrologische Übung der abgeschmacktesten Art, doch eben, mitsamt der ganzen Anthroposophie, banal-irrational wirksam. Fremde im geographischen Sinn, aber zugleich archaische zeigte die Tanzlandschaft, die bei der Sent M'ahesa geboten wurde. Diese war völkerkundlich und vor allem kunstgewerblich-mythisch dekoriert, grundfalsch, doch dem Wunsch nach Exotik gemäß in indianischen, siamesischen, indischen Kopie-Tänzen. Bleibt die Mary Wigman oder echter Expressionismus im Tanzbild, mit dem Bisherigen, als irrationalem Spießertum, unvergleichbar. Die Aussage-Grenzen des Tanzes hat die Wigman am meisten vorgerückt, vieles an diesem vorgerückten Tanz und seinen imaginären Szenen war bloß andeutend, doch weniges war abstrakt, nichts war leer. Die Landschaft, die sich im Gongschlag um den neuen Tanz dehnt, schien hier mit einem bezeichnenden Ineinander von Niflheim und Bagdad gefüllt, darin bewegte sich, wie man sagen kann, eine durch Chagall gesehene Hoffmannswelt. Sie war selbst dann darin, wenn die Wigman Bizets Arlésienne tanzte, und höchst verbesserte Hoffmann das Genrebild von Saint-Saens’ Danse macabre. Dazu nahm allerdings auch die Wigman mit ihrer Schule, mit ihrem Nebel-Flamme-Wesen, an der Nachtseite des Expressionismus teil, die er - so gebannt wie geflogen, so geflogen wie gebannt -neben seiner utopischen Grelle /(462) oder Helle aufwies. Und die ganze Tanzheit-im Original selber, nicht bloß in seinen Nachahmungen war einem Dionysischen im mehrdeutigen Sinn zugehörig; wie es denn ohne Nietzsche nie zu dieser Art neuer Tanz gekommen wäre. Da ist der Dionysos, der nach unten hin zum Tanz der Mörder rief, und für den am Ende selbst die Negerplastik nur ein Umweg zur blonden Bestie war. Da ist der andere Dionysos, der den Tanz gegen den Geist der Schwere pries, der in freilich vagerem Dithyrambus den Lebensgott pries, gegen die Mechanei der Verkleinerung und Denaturierung: »Meine weise Sehnsucht schrie und lachte also aus mir, die auf Bergen geboren ist, eine wilde Weisheit wahrlich! -meine große flügelbrausende Sehnsucht.« Auch diese Art Flügelbrausen ließ teilweise, an seinem sehr kurzen Ende, nicht zu fernen Meeren, sondern in den nahen Blutsee des Faschismus tragen; als welchem solche Art Flügelbrausen bereits an seinen imperialistischen Prämissen gesungen war. Dennoch steckt Mehrdeutigkeit im Dionysos und so auch im expressionistischen, selbst exotisierenden Tanz, der ohne das Pathos dieses Lebensgottes auch nicht in Ekstase geraten wäre. Nicht in die dekorative und noch weniger in die echte, welche mit Schleichen, Keuchen, Kauern ebenso das unterdrückte Leben wie mit Flügelbrausen das befreite darstellen wollte. So ist die Wigman-Welt, als freilich einzige und echteste aus der expressionistischen Tanzzeit, noch in ihrer Nachtseite frei von Blut und eine Figurenbildung gewesen, die aus dem ihr zugefügten wie ihrem eigenen Dunkel phantasiereich ins Helle strebte. An originalen Tanzschöpfungen dieses Typs ist ein Erbe antretbar, das sie nochmals, anders auf die Füße stellt, auf diejenigen, welche wissen, wohin zu gehen. Kulttanz, Derwische, seliger Reigen Der Tanz war stets die erste und leibhaftigste Form, auszufahren. An einen anderen
Ort als den gewohnten, wo man sich als Gewohnter befindet. Und zwar fühlt sich der primitive Tänzer durchgängig, mit Haut und Haaren verzaubert. Sein Tanz beginnt orgiastisch, soll aber auch ein weithin vertragendes Werkzeug sein. Denn gerät der Besessene außer sich, so hofft er sich zugleich in die Kräfte zu verwandeln, die außerhalb seiner, außer- /(463) halb des Stamms und seiner Hütten im Busch, in der Wüste, am Himmel hausen. Mit der Maske, welche die Dämonen abbildet, macht er diese sichtbar gegenwärtig, wird er der Baumgeist, Leopardgeist, Regengott; zugleich aber will der Tänzer, indem er in diesen Göttern zu stecken meint, ihre Kräfte zu den Menschen hinüberziehen. Vom geweihten Platz, auf dem der Kulttanz vor sich geht, sollen Saat, Ernte, Krieg vor ihren bösen Dämonen geschützt, mit ihren günstigen oder günstig gestimmten umgeben werden. Trommelschlag, Klatschen der Hände, eintönig rasender Gesang verstärken die Trance, worin das Entsetzen selber helfen soll und eingemeindet wird. Und wichtig ist nicht die Maske allein, sondern eben der Tanz, der sie bewegt, in dessen Sprüngen sie sich schüttelt und Prozession macht. Nichts hierbei ist willkürlich, jeder Schritt ist geschult und vorgeschrieben, doch nicht anders, wie Krämpfe nicht willkürlich sind, und der Besessene keinen Gestus frei hat. Magischer Tanz ist Einschulung in diese Krämpfe, er ist durchaus dämonisch und will es sein. Seine Träger sind auf überlegte Art bewußtlos und auf geregelte wild. Es geht dem Tanz immer wieder nach, daß er zur Nacht gehört und mit ihr begann. Die Griechen, gewiß, sie haben das Maß erfunden, das Rasende scheint nicht nur unter, auch hinter ihnen zu liegen. Aber auch bei ihnen kam es in dem Haufen bacchantischer Weiber wieder, die im Frühjahr fast rätselhaft ausschwärmten. Fast rätselhaft in einer Kultur, deren Sichtbares wie Geheimes gerade in der Bewegung ganz anders beschaffen ist, dem Willen zum Maß nach genau so beschaffen ist, wie es Goethe sieht oder ersehnt: Wenn zu den Reihen der Nymphen, versammelt in heiliger Mondnacht, Sich die Grazien heimlich herab vom Olympus gesellen; Hier belauscht sie der Dichter und hört die schönen Gesänge, Sieht verschwiegener Tänze geheimnisvolle Bewegung. Die Mänaden aber, weit hinter den Nymphen zu Hause, zeigten von alldem nur verschwiegener Tänze unheimliche, dionysische Bewegung. Die Arme der Mänaden waren mit Schlangen /(464) umwunden, und ihr Gang beschwor den unterirdischen Bacchus mit dem doppelten Geschlecht und dem Stierkopf. Doch verschwand freilich die abbildliche Bewegung um die Nacht-, Fruchtbarkeits-, Abgrundgötter im gleichen Grad wie der dionysische Abgrund überbaut wurde. Und das nicht nur in Griechenland, auch in den Ländern Vorderasiens mit ihren gleichfalls, ja erst recht orgiastischen Tanzriten, Nachtkulten. Der Abgrund wurde zweifach überbaut, mutterrechtlich und vaterrechtlich; das ergab neue und untereinander verschiedene magische Tänze, doch sie waren in der versuchten Abkehr vom nur Orgiastischen geeint. Mutterrechtlich-chthonisch waren die phrygischen Tänze um den Lebensbaum beschaffen, sie leben sogar noch in den Maitänzen fort, den über die ganze Erde verbreitet gewesenen. Die Paare hatten in ihnen lange bunte, um den Maibaum geknüpfte Bänder, die Bänder verflechten und entflechten sich in der Bewegung des Tanzes, die so die Verschlingung von Werden, Vergehen, neuem Werden abbilden soll. Die Paare nehmen mit ihrem Bändertanz an diesem chthonischen Weben teil, am glückhaft gedachten oder so gewünschten. Vaterrechtlich-uranisch aber waren die Tempeltänze Babylons beschaffen, sie
gaben ein Aufsteigen auf den sieben Planetenstufen des Himmels wieder, zugleich ein Abstreifen der sieben »Schleier« dieser Sphären, damit die Seele rein zum höchsten Gott komme. Eine Erinnerung an diese nicht mehr chthonische, sondern kosmische Pantomimik hat sich im Islam erhalten, und zwar im Tanz der Derwische. Die Trance gilt hier als Vorbereitung, als das sich Umkleiden der Seele gewissermaßen, um am Reigen der Huri, ja der Engel teilnehmen zu können. Die Huri aber wurden in diesem Orden nicht nur als die Himmelsmädchen, sondern eben als die Sterngeister angesehen, die - ganz babylonisch, ganz chaldäisch - die menschlichen Geschicke lenken. Indem sich der Derwisch in die Drehung der Huri abbildend hineindrängt, sucht er folglich den Gestirnen konform zu werden, ihre Drehung in den eigenen Tanzfiguren motorisch widerzuspiegeln, sucht er den Erguß des primum agens aufzunehmen, um das die Sterne selber kreisen. Ibn Tofail erläuterte das im zwölften Jahrhundert so, daß die Derwische, deren Orden um die gleiche Zeit begann, die »himmlischen Kreisbewegungen als Pflicht über sich nehmen«. Da- /(465) durch glaubten sie, am Ende einen Abglanz der göttlichen Bewegung auf sich herabzuziehen, nicht mehr dämonisch, aber siderisch, dem äußeren Himmel zugetan, der Astrologie. So deutlich ist in alldem, mutterrechtlich wie vaterrechtlich, erdmythisch wie astralmythisch, die uralte orgiastische Trance zu überformen versucht. So sichtbar freilich auch hielt in diesen außerchristlichen Kulten immer noch Schamanisches dem Gesetz des Tags die Waage. Schwieriger allerdings ließ sich der Tanz an, als der Leib selber nicht mehr dreinsprechen sollte. Das Christentum hat der Absicht nach nicht nur den sinnlichen, auch den religiösen Tanz zurückgedrängt. Bedenken gegen ihn, wenigstens als trancehaften, beginnen bereits bei den Juden: Tanz gehört zu den Baalpriestern. Diese schäumen, diese hinken um den Altar (1. Kön. 18, 26), diese haben ihre Derwische, und auch noch die jüdischen «Prophetenhaufen« zur Zeit Sauls traten wie Derwische auf, Pauken schlagend und ekstatisch (1. Sam. 10, 5); eben deshalb wurden sie verachtet. Und eben deshalb wurde verwundert gefragt: «Ist Saul auch unter den Propheten?« (1. Sam. 10, 12); letztere also galten damals noch als heidnisch besessen. Wird daneben oder darüber, mit hoher Ehrung, der Tanz Davids vor der Bundeslade berichtet, so empfand nicht nur Michal, sein Weib, das als eine Erniedrigung, sondern David selber gab ihr die Erniedrigung zu (2. Sam. 6, 22), obzwar mit umgekehrten heiligen Vorzeichen, als Trance vor Jahwe. Diese Heiligung aber blieb sowohl im frühen Christentum wie in der Kirche aus; der Tanz blühte im Mittelalter als höfischer und als Volkstanz, doch nicht liturgisch. «Es ist keinem gestattet«, so bestimmt ein Konzil von 680, »Spiele und Tänze aufzuführen, welche, vom Teufel eingegeben, die Heiden erfunden haben«; - die Gesten des Leibs sind der transzendierenden seelischen Bewegung nicht mehr der Ort, worin sie sich einheimisch macht. Die vorgeschriebenen Schritte der katholischen Priester vor dem Altar enthalten zwar vielleicht noch eine Erinnerung an römische Tempeltänze, aber sie ist auf sparsamste symbolische Andeutungen reduziert, und die Prozession hat einen steifen Schritt. Ekstatischer Tanz bricht nur noch irregulär aus, so bei den Geißlern zur Zeit des schwarzen Tods, und ist dann konvulsivisch. Drüben aber ist /(467) seliger Reigen, so wie ihn Fra Angelico gemalt; als ein Wunschsein von Bewegung, für das der irdische Körper gewogen und zu schwer befunden wird. Die Bewegungen der Seligen und der Engel wurden vor allem so definiert, daß sie nicht im Raum geschehen, sondern ihren Bewegungsraum mit sich tragen, ja erst bilden. Der Ort, sagt Thomas mit solcher, höchst merkwürdiger Bewegungsutopie (perfectio motus), wird vom Engel, nicht der Engel vom Ort umschlossen, die Engel sind auf virtuelle, nicht auf körperliche Weise ausgedehnt.
Der himmlische Tanz wurde daher als einer ohne Schritte und Entfernungen gedacht, als Flug, der seine Strecke nicht kontinuierlich zu durchmessen braucht, und der, als immateriell, überhaupt keine Mühe und keinen trennenden Raum mehr kennt. Aber dergleichen ist nicht für Menschen gebaut; der einzig christliche Tanz war als himmlischer, nicht als irdischer imaginiert. Das Wunschbild eines solchen Tanzes bestand, konnte jedoch - anders als die Tänze der participation magique nicht menschliche Bewegung hervorrufen oder werden. Es lebte noch im Barock, ja hier besonders eindringlich, wenn es seine jubelnd schwebenden Engel an die Wölbung malte; doch dieses kanonische Schweben ist für die im Fleische wandelnden, die unbeflügelten Menschen kaum im Traum vollziehbar. Nicht grundlos also ist auch jeder neuere Versuch einer Tanzkunst unchristlich gehalten oder aber: das schwerelose Flugwesen derer, die im Fleische wandeln, nimmt, im Ballett, Verwandtschaften mit einem so gänzlich Unspirituellen auf und an, wie es die - Marionette darstellt. So wirkt die weiter bleibende durchaus unabgeschlossene Tanzkunst allemal als eine, die den höchst irdisch verwandelten Leib bejaht; sei es, daß sie aus der Folklore schöpft oder aus der Überlieferung höfischer Tänze, deren letzte das Ballett ist. Wobei wahre neue Tanzkunst nur entstehen kann, wenn ein begründeter, vom Zuschauer geteilter Anlaß zur Freude da ist, zum «nunc pede libero pulsanda tellus«. Die substanziierteste Freude entsteht mit der Erstürmung der Bastille und ihren Folgen, dem freien Volk auf freiem Grund; sie war nicht vor dieser Erstürmung und wird nicht ohne sie sein. /(467)
Die taubstumme und die bedeutende Pantomime
Der Tanz braucht keine Worte, er will auch nicht singen. Was er in die Luft, in die unbekannte Gegend zeichnet, liegt unter der Sprache oder ist ihr entlegen. Liegt er unter der Sprache, dann entsteht, wo immer der Tanz, besonders auch in Gruppen, auf Mitteilung angelegt ist, die übliche Pantomime. Sie wirkt wie taubstumm, ist seit langem so beschaffen, als ob sich die übrigen Glieder nur als Ersatz der Zunge abmühten. Das beginnt schon bei so graziösen Gestalten wie Pierrot und Colombine, es kulminiert aber, sobald keine Gebärde mehr sagen kann als: »Ich liebe dich« oder: »Ich hasse dich« oder äußerstenfalls: »Ich bin von Eifersucht verzehrt.« Im antiken Mimus, dem erstaunlich ausführlich und schlagkräftig gewesenen, war diese Gestik bedeutend ausdrucksvoller und vielsagender, erst recht im Ostasiatischen. Das kommt nicht davon, daß man hier noch einer angeblich primitiveren Gebärdensprache nahegestanden hätte, die der Lautsprache vorhergegangen wäre. Die Lautsprache, als Grundlage des Denkens, entwickelt mit dem Geistigen erst die Fähigkeit, sich auch wortlos-mimisch auszudrücken. Sich mindestens so viel reicher, variierender, vor allem mehr im Mimus eines Zusammenhangs ausdrücken zu können als die sprachlosen Tiere. Der Grund also für den überragenden Mimus der Mittelmeervölker, verglichen mit dem des Nordens, liegt in der hier erhaltenen Wechselwirkung zwischen Lautsprache und Gebärdensprache. Und die Gebärdensprache, die nach der Lautsprache erst menschlich-geistig ausgebildete, konnte hier deshalb einen Ausdruck außerhalb der Sprache kultivieren, weil im Süden einmal die plastische Verleiblichung stärker ist und weil zum anderen der Affekt-Ausdruck - mindestens in der Mittelschicht, von der Unterschicht zu schweigen - nicht verknappt, verkümmert wurde. »Jede seelische Erregung hat von Natur aus ihre Miene und Geste (quendam vultum et gestum)«, sagt darum Cicero recht südländisch in seinem Buch vom Redner. Und obwohl die Griechen die Pantomime nicht sonderlich pflegten, war ihnen doch die seelische
Erregung so eng mit körperlicher Darbietung verbunden, daß Aristoteles die Affekte, bezeichnenderweise, nicht so sehr in seiner Schrift von der Seele als in der über /(468) Rhetorik behandelt hat. Denn wie heute noch bei den Mittelmeervölkern sind es die Affekte, die sich vorzugsweise in der oratorischen Mimik ausdrückten, ja erläutern. Auch das Barock hat von seinem überwiegend italienischen Ursprung her die Gebärdensprache nicht ausgetilgt, sondern sie ganz im Gegenteil outriert; so brachte das Barock die Pantomime besonders groß heraus. Die Italiener, aber auch die Franzosen haben damals, Gesten und Attitüden betreffend, ein ganzes sogenanntes Wörterbuch der Natur ausgebildet; wobei noch Batteux, in seiner sonst so rationalistischen Kunstlehre, betonte, daß die Gebärdensprache auch ungesitteten Völkern, selbst Tieren ohne weiteres verständlich sei. Der dergestalt ausgebildete Kanon stand in Wechselwirkung mit dem der Barockplastik, die ja gleichfalls in ausdrucksvollen Attitüden sich überbot. Auch die Statuen standen damals wie auf der Bühne; und der Mime auf der Bühne profitierte von dem höchst ausgebildeten Expressivo der barocken Statue. Gerade hier freilich zeigte sich, wie sehr jede kompliziertere Gestik, samt Batteux's »naturel dictionnaire de la nature«, die ausgebildete Sprache voraussetzt, obwohl sie sie ausläßt und suo modo lakonisiert. Der über ein Unrecht Empörte, das er nicht zu ändern vermag, wendet den Blick nach oben, den rächenden Blitzstrahl herabrufend: diese und ähnliche Attitüden waren ungesitteten Völkern, auch Tieren keineswegs verständlich, ja sie enthielten so wenig »Natur«, daß sie außerhalb des barocken Idioms, des barocken Katholizismus und des durch ihn gesehenen Blitz-Zeus kaum vorkommen. Dennoch war die so beschaffene Pantomimik nirgends wie taubstumm, konträr, sie wirkte damals beredter als jede Interjektion und auch Tirade. Noch im achtzehnten Jahrhundert ging eine Pantomime »Medea und Jason«, mit reichem Gefühls- und Handlungsstoff, über die Londoner Szene und erlangte europäischen Ruhm. Terpsichore, die Muse des Tanzes, hat sich hier überall mit Polyhymnia, der tönenden Muse der Mimik, verbunden; die Skala des Ausdrucks, besonders des pathetischen, war offenbar groß. Sie ist seitdem auffallend viel kleiner geworden, hat aber ihre Sprossen nicht ganz verloren. Noch im Niedergang hielt sich ein Rest des Bedeutens, mindestens des eigenartigen Anklangs, den das Spiel ohne Worte erregt. Kommt doch ohnehin das verständ- /(469) liche Schweigen bei vorhandener Bewegung dauernd im Traum vor, in dessen sonst so verschiedener Gestalt: der nächtlichen und der des Wachzustands. Auch im Nachttraum werden weit mehr Gestalten, Geschehnisse, Handlungen gesehen als Stimmen gehört; und die Geschehnisse sprechen für sich selbst. Erst recht im Wachtraum laufen ganze lange Spiel- und Wunschreihen stumm ab; denn das optische Vorstellen bedarf bei den meisten Menschen weniger Anstrengung als das akustische. Stumme Bilder steigen fast automatisch aus dem Reich der Wachtraumstimmung, dagegen Rede und Gegenrede müssen meistens erst erfunden werden. Und von diesem überwiegend optischen Wesen, sei es unter dem Schlafwasser oder im Rauch des Wachtraums, gibt die bedeutende Pantomime einen Spiegel. Ja, der wortlose Grund, der die Pantomime sprechend macht, erstreckt sich über den Traum hinaus ebenso in die terra firma des nicht immer gesprächigen Lebens. Auch der Coitus ist unberedt, auch der erbitterte Kampf, auch der feierliche Empfang, zusammen mit langen Strecken jedes Zeremoniells, und als archetypische Erinnerung bleibt: die Ur-Pantomime, lange vor dem antiken Mimus und außerhalb seiner, war, gleich dem Tanz, mit dem sie zusammenfiel, wortlos-magisch. Sie wollte die gleichfalls wortlosen Kräfte der Natur befördern: Feuer wird bei den Navajos umtanzt in der Richtung des Sonnenlaufs, das Bild der
Sonne wird schweigend hochgezogen. Bei den Azteken wurde beim Frühlingsfest selbst der Kampf der alten und neuen Dämonen pantomimisch dargestellt, in Japan führten Priesterinnen die Kagura-Tänze auf, den Hervortritt der Sonne mit allen mythisch überlieferten Einzelheiten nachahmend. Kurz, es gibt keinen Kult, worin gerade Pantomime fehlte; der Gemeinde sollte sie in der Sprache der Gebärde sagen, was in Worten so nicht auszudrücken war. Und eben der Traum hat dies lautlos-ausdrucksvolle Spiel, den Lauf und Ablauf von Gestalten bewahrt; der Tagtraum setzt, in seiner bewegten Ausmalung erwünschter Vorgänge, diese stumme Prozession bewußt, aus Eigenem fort. Daher also wurde auch die geformte und überlegte Pantomime nie ganz vergessen, daher wollte und konnte sie, nach dem Tiefstand im vorigen Jahrhundert, als die Skala des schweigenden Ausdrucks auf ein halbes Dutzend grober oder komisch-outrierter Konven- /(470) tionen zusammengeschrumpft war, expressiv erneuert werden. Nichts ermunterte mehr dazu als die merkwürdige Neuform der Pantomime im Film; sie kam sehr bald, nachdem die verschränkten Arme, die ausgestreckten Zeigefinger von dessen Bildfläche verschwunden waren. Indem Asta Nielsen, die erste große Filmschauspielerin, die Kunst besaß, mit einem Zucken des Augenlids, einer Hebung der Schulter mehr auszudrücken als hundert mittlere Dichter zusammen, war das Schweigen noch nicht dumm geworden. Ebenso wurde vom expressionistischen Tanz her eine Erneuerung der Pantomime versucht, so in der bedeutsamen rhythmischen Allegorie, die der Dichter Paul Claudel in den zwanziger Jahren mit dem schwedischen Ballett hergestellt hat; diese Pantomime führt den klaren Wachtraumtitel: » Der Mensch und seine Sehnsucht«. Erinnerung und Sehnsucht umspielen hier den Menschen, er erhebt sich vom Schlaf, tanzt seinen eigenen Willen und den aller Geschöpfe. Claudel erläutert das so: »Alle Tiere, alle Geräusche des unendlichen Walds lösen sich los, kommen herbei, ihn anzusehen... So taumeln in langen Nächten Fiebernde, die von Schlaflosigkeit gepeinigt sind, so werfen sich gefangene Tiere wieder und wieder und noch einmal gegen Eisenstäbe, die nicht zu durchbrechen sind.« Eine Frau erscheint, dreht sich wie gebannt um den Menschen, er ergreift einen Zipfel ihres Schleiers, »sie aber dreht ihn immer weiter um ihn, wickelt dabei den Schleier von sich ab, bis er wie eine Schmetterlingspuppe ihn einhüllt, sie aber fast nackt ist» (vgl. Blaß, Das Wesen der neuen Tanzkunst, 1922, S.77). Blaß nannte diese allegorische Tanzfolge allzu georgisch einen bewegten Teppich des Lebens, das ist Literatur, aber er konnte sie auch aus ihr selbst erläutern, »als die unendlich wiederkehrende, nicht zu beruhigende Menschenbewegung, wie sie zuletzt aus allen kunsthaften Verkleidungen und Vollendungen unvollendet und als sie selbst sich wieder erhebt«. In der Tat erzeugte dergleichen nicht unbedeutende Pantomime und eine, die sich ohne die früheren mythologischen Stoffe mit menschlicher Sehnsucht und ihren Wachtraumgestalten beschäftigt. Wie erst, wenn nicht der allgemeine Mensch und seine noch allgemeiner geschweifte Sehnsucht tanzen, sondern endlich Konkretheit aufzieht, abgezielte. Das geschieht in Asafjews Ballett-Pantomime »Die Flamme von Paris«, den Sturm /(471) auf die Tuilerien während eines Fests Ludwigs XVI. betreffend. Im Gegensatz zwischen dem Schrittmaterial der Hoftänze und dem Ca ira der Revolution entsteht eine völlig verständliche Handlung, fast ein Drama ohne Worte. Das alles wird möglich, sobald der Sinn der Fabel in Gebärden des Schweigens sich vermittelt, in der eigentümlich offenen Aura um wortloses Zeigen und Handeln. »Saltare fabulam».. dieser Ruhm des alten Mimus ist der Pantomime also nicht versunken oder unzugänglich geworden. Ja, auch die Hälfte des gesprochenen Schauspiels geschieht noch im Gestus und macht so eigentlich erst Schauspiel, Schau im Spiel.
Neuer Mimus durch die Kamera Auffallend nun, wie die Geste gerade filmhaft so reich werden konnte. Denn hier flimmerte sie in den Anfängen besonders arm und grob, schien Kitsch zu bleiben. Der Freier auf Knien, die wogende Angebetete, sie waren der Clou des Kintopps. Aber bald gab der einigermaßen entwickelte Film selber der verkommenen Pantomime einen erstaunlichen Zuschuß. Insgesamt wurde durch das Glück, daß der Film als stummer, nicht als Tonfilm begann, eine mimische Kraft ohnegleichen entdeckt, ein bislang unbekannter Schatz deutlichster Gebärden. Die Quellen dieser Kraft liegen keineswegs klar zutage, so unbestreitbar auch ihr Effekt ist, verglichen mit dem der üblichen Pantomime, aber selbst des Theatergestus, im stummen Spiel. Einiges mag im Film ohne weiteres als ungespreizt erscheinen, weil die gestierenden Filmmenschen sich ohne Rahmen, aber auch ohne betonten Abstand von uns bewegen. Die Kamera nimmt das Auge mit, wechselt dauernd die Gesichtspunkte des Beschauers, die die der Akteure selber werden, nicht mehr die des Beschauers im Parkett. Seit gar Griffith zum erstenmal die Köpfe der Menschen in die Handlung hineingeschnitten hat, seit dieser Verwendung der Großaufnahme erscheint auch das Muskelspiel der Gesichter wie aufgeschlagenes Leiden, Freuden, Hoffen. Der Zuschauer erfährt nun an der Großaufnahme eines riesig isolierten Kopfs weit sichtbarer als an dem des sprechenden Schauspielers auf der ganzen Bühne, wie fleischgewordener Affekt selber aussieht. /(472) Aber all dies Kamera-Leben wäre nichts ohne besondere Schauspieler, die - im noch stummen Film - die Gebärde zu konzentrierter Feinheit oder Vielseitigkeit geschärft haben. Der Weg ging hierbei gerade von der Nuance aus, also von einer in der früheren Halbkunst Film besonders überraschenden Vornehmheit. Asta Nielsen hat, wie gesehen, zuerst jenes Kammerspiel in die Gebärde gebracht, das den Film von der üblich gewordenen, arg verkommenen Pantomime so weit entfernt hat. Erst mit solchem Kammerspiel war es überhaupt möglich, zu vergrößern, ohne zu vergröbern, Zwischentöne oder scheinbar Nebensächliches ins Blickzentrum zu stellen, Übergänge rascher oder flüchtiger Art (wie das Reichen eines Löffels, das Spiel der Augenbraue bei hoffnungsloser Liebe und so fort) wesentlich zu machen, ja zu einem Ecce homo. Der Film ist gefüllt mit lauter gespiegeltem Auf und Ab von Wunschtraumbewegung oder - jenseits der immer schwindelhafter gewordenen »Traumfabrik« - mit erwünscht-realen Tendenzbewegungen der Zeit, aber damit dieses auf Filmweise an Gestalten und ihrer Handlung nahe gebracht werden kann, dazu bedarf es eines mikrologisch ausgeformten Tonfalls nicht des Worts, sondern der Gebärde. Solcher Tonfall ist auf der Sprechbühne am Wort selbstverständlich, und seine Wirkungen sind erstaunlich: »Gebt mir den Helm», ist der erste Satz der Jungfrau von Orleans, wird das »gebt« betont, auch leicht gezogen, nicht das »mir«, dann hört das ganze Hoftheater des neunzehnten Jahrhunderts auf, und die scheu Besessene steht da. Der gute Film hat diese Umbetonung oder Sichtbarmachung auf den Leib und die Bewegung bezogen, offensichtlich belehrt vom neuen Tanz; wonach dieser also das Rätsel lösen mag, wie die Geste gerade filmhaft so reich werden konnte. Beispiele für die Mikrologie des Nebenbei, das keines ist, sind tausendfach; mit mimischen Instanzen aus dem Unterbewußten wie Geahnten ist bereits jeder gute Spannungsfilm geladen, wie erst - ganz ohne Panoptikum und Attrappe - der kritische Gesellschafts- und der Revolutionsfilm. Ja nicht nur auf Menschen dehnte sich der merkwürdige neue Mimus aus, selbst auf die Dinge, die natürlich stummen, aber auch, wenn der Regisseur es kann, unnatürlich beredten.
Hierher gehören die mit dem Schiff schwingenden Kochtöpfe in Eisensteins »Potemkin« oder ebenda /(473) die isoliert dargebotenen großen, rohen, zertretenden Stiefel auf der Treppe in Odessa. Der Film «Zehn Tage, die die Welt erschütterten« zeigt im Petersburger Winterpalais nicht die wankenden Verteidiger, er zeigt einen riesigen Kronleuchter, dessen Kristalle leise und immer stärker zittern - wegen der Einschläge, wie sich versteht, mit Übersinn, wie sich erst recht versteht. Aber auch diese Pantomime der Film-Dinge ist erst von der der Film-Menschen gelernt; alle Künste der Kamera hätten nichts dergleichen zu zeigen, wenn vorher kein Wimperzucken der Asta Nielsen oder kein Handschlag in Großaufnahme das Ihre gegeben hätten. Vor allem die Gegenstände des neunzehnten Jahrhunderts sprechen im Film ihre vertrackte Lächerlichkeit oder ihr unheimliches Versteckspiel aus; so in Rene' Clairs Meisterstück »Chapeau de paille« (1927), so in dem Tonfilm «Gaslight« (1943). Und der Tonfilm, als Form selber, sah nur in seiner ersten Zeit, als er Theaterersatz photographierte, danach aus, als ob die Pantomime, die durch den stummen Film erneuerte, nun zum zweitenmal sterben sollte. Jedoch auch der Tonfilm ist noch überall pantomimisch, wo der Dialog schweigt, es gibt sogar ein besonderes, nur durch den Tonfilm erlangtes Plus pantomimischer Art. Denn die Dinge gewinnen hier dadurch, daß sie auch akustisch aufgenommen werden, eine ganze eigene Schicht von Mimik hinzu. Ja man kann sagen: der Tonfilm brachte das Paradox einer sozusagen hörbaren Pantomime zustande, nämlich einer auf Geräusche bezogenen. Das Mikrophon macht das Schneiden einer Schere durch Leinwand hörbar, durch Wolle, durch Seide, und das recht verschiedene Geräusch, das dadurch entsteht; Anschlagen der Regentropfen ans Fenster, der Fall eines silbernen Löffels auf Steinfußboden, knarrende Möbel gelangen in eine mikrologische Merk- und Äußerungswelt. Überhaupt wird die Kulisse nicht nur beweglich wie im stummen Film, sondern eine Schallkulisse, und ihr Laut verwandelt sich in dinghafte Gebärden. Bisher Unbeachtetes wird belauschbar, auch das leiseste Flüstern, eben so, daß es durchs Mikrophon immer noch ein Flüstern bleibt, ein heimliches, ein verräterisches, eines, das der Geste und dem Zeichen nahe steht. Insgesamt also gehört der Film, indem er durch Photographie und Mikrophon das ganze Erlebniswirkliche in einen flußhaften /(474) Mimus aufzunehmen fähig ist, zu den stärksten Spiegel-, auch Verzerrungs-, aber auch Konzentrierungs-Bildern, die dem Wunsch der Lebensfülle als Ersatz und Glanzbetrug, aber auch als bilderreiche Information aufgestellt werden. Hollywood ist Fälschung ohnegleichen geworden, dagegen der realistische Film in seinen antikapitalistischen, nicht mehr kapitalistischen Spitzenleistungen kann als kritischer, als typisierender und als Hoffnungsspiegel durchaus den Mimus der Tage darstellen, die die Welt verändern. Das Pantomimische des Films ist letzthin das der Gesellschaft, sowohl in den Weisen, wie es sich ausdrückt, als vor allem in den abschreckenden oder anfeuernden, verheißungsvollen Inhalten, die hervorgestellt werden. Traumfabrik im verrotteten und im transparenten Sinn Je grauer der Alltag, desto Bunteres wird gelesen. Aber ein Buch verlangt Hocken in der Stube, man kann mit ihm nicht ausgehen. Auch wird gelesenes Wunschleben nur insoweit anschaulich, als es der Leser aus seiner Umwelt, wie ausdeutend immer, schon kennt. Die Liebe hat jeder in sich, doch bereits eine noble Abendgesellschaft ist nicht jedem gegeben, also nicht jedem ganz vorstellbar. Weit täuschender als die Bühne führt der Film dergleichen Begebnisse vor, mit der wandernden Kamera als dem Auge des hindurchschauenden Gast-Beschauers
selber. Erst recht brauchen die meisten die Leinwand, um Wüste und Hochgebirge zu sehen, Monte Carlo und Tibet, das Kasino von innen. Im neunzehnten Jahrhundert gab es für solche Fernsicht eigene optische Etablissements, sie hatten bereits großen Zulauf. Es gab die sogenannten Kaiserpanoramen: der Besucher saß vor einem der stereoskopischen Operngläser, die in einer Rotunde eingeschraubt waren, und hinter dem Glas zogen gefärbte Photos aus aller Herren Länder ruckweise, nach einem Klingelzeichen, an ihm vorüber. Es gab vor allem die großen Rundpanoramen, 1883 wurde das erste in Berlin eröffnet, es stellte die Schlacht von Sedan dar, vielmehr: es führte den Beschauer unmittelbar in sie hinein, als wäre er ein Augenzeuge. Wachsfiguren, echter Erdboden, echte Kanonen, gemalter Rundhorizont machten den Besucher bei einem historischen Moment gleichsam gegenwärtig; /(475) das Gebilde war seines Schöpfers würdig, des Hof- und Uniformmalers Anton von Werner. Damals wurde freilich darüber gestritten, ob solche Zusammenstellung auf ebener Erde eine Kunst sei, fast so, wie man heute beim Kino darüber gestritten hat; aber das »Panoramische« wurde mit derselben sehr ästhetischen Miene diskutiert wie heute das »Filmische«. Die Verächter nannten Anton von Werners Gebilde zu »naturalistisch«, die Bewunderer wiesen umgekehrt auf ganz ähnliche Mischkunst im Barock hin, auf die barocken Weihnachtskrippen, auf die Stationen des Kalvarienbergs. Das Moderne im Jahr 1883, bei der Wachs-, Waffen- und Öl-Pantomime Sedan, bei diesem Ersatz fürs Nicht-Dabeigewesensein, war immerhin ein Triumph der Technik, den die Dabeigewesenen von 1870 noch nicht gekannt hatten; denn für die Abende verhieß der Führer «electrische Glühlichtbeleuchtung« sowie eine »Electrofontaine aus Bogenlicht« (vgl. Sternberger, Panorama, 1938, S. 21). Der Film braucht das nicht mehr, er ist selber neue Technik durchaus, mitsamt den echten Kunstfragen, die aus neuer Technik, neuem Material entspringen; und seine Zugehörigkeit zur Kunst ist entschieden durch seine Zugehörigkeit zur echten Pantomime. Trotzdem hat sich auch das Kino, gerade dieses, nicht ungestraft im Zeitalter des Lebensersatzes entwickelt, in einer Gesellschaft, die ihre Angestellten ablenken oder durch ideologische »Electrofontainen« täuschen muß. Lenin nannte den Film eine der wichtigsten Kunstarten, und in der Sowjetunion hat er sich mindestens als wichtigstes Mittel zur politischen Erziehung der Massen ausgebildet. Von solcher Aufklärungsarbeit ist er in Hollywood bekanntlich so weit entfernt, daß er die Roheit und Verlogenheit der Magazingeschichten fast überbietet; der Film ist durch Amerika die geschändetste Kunstart geworden. Das Hollywood-Kino liefert nicht nur den alten Kitsch: die Saugkuß-Romanze, den Nervenbrecher, wo zwischen Enthusiasmus und Katastrophe kein Unterschied mehr ist, das happy-end innerhalb einer völlig unveränderten Welt; es benutzt diesen Kitsch auch ausnahmslos zur ideologischen Verdummung und faschistischen Aufhetzung. Und selbst die Sozialkritik, die früher hie und da in einigen Amerika-Filmen vorkam: sie war damals schon, dem Kapitalismus gegenüber, wenig mehr als das Raffinement einer /(476) kritischen Apologie; sie ist seit der Faschisierung der Liberty gänzlich verschwunden, mit Stacheln nur noch gegen die Wahrheit. Ilja Ehrenburg nannte in den zwanziger Jahren Hollywood eine Traumfabrik und bezog sich damit auf die bloßen Ablenkungsfilme, mit verrottetem Glanzlicht. Seitdem aber ist die Traumfabrik eine Giftfabrik geworden, zum Zweck, daß hier nicht mehr nur Flucht-Utopie verabreicht wird («there is a goldmine in the sky far away«), sondern eben weißgardistische Propaganda. Das Kino-Panorama zeigt - in der vom Faschismus wunschgesteuerten Phantasie - das Morgenrot als Nacht und den Moloch als Kinderfreund, Volksfreund. So verkommen ist das kapitalistische Kino geworden, das zur Technik des
Angriffskriegs geschlagene. Eine gute Traumfabrik, eine Kamera der kritisch anfeuernden, planhumanistisch überholenden Träume, hätte, hatte und hat zweifellos andere Möglichkeiten - und das innerhalb der Wirklichkeit selbst. Denn bezeichnend bleibt, was alles im Film immer wieder an Rechtem auftaucht. Unter so viel Nieten, so viel Opium, so raschem Umsatz, so wenig Muße. Die technischen Gründe, die den Film retten, wurden angegeben: kein Abstand, kein Guckkasten, sondern Mitwandeln des Beschauers; Kammermusik-Pantomime, selbst in der Massenware nicht ganz verlorengegangen, in guten Filmen vorwiegend; Aufgang der weiten Welt, gerade in der Nähe, im Nebenbei, im pantomimischen Detail. Hinzu kommt die durch die Filmtechnik ermöglichte und dem Wachtraum so verwandte Verschiebbarkeit des Details, der fest gewordenen Gruppierungen selbst. Was nun bei so gutem, wenn auch durchkreuztem technischem Wie das Was des Films angeht, nämlich seine ihm spezifischen Stoffe, so wirkte hier die Zeit, in die die Ausbildung des Filmes fällt, nicht nur kapitalistisch verheerend, sondern in begrenztem Sinn zugleich - sage man: ironisch verwertbar ein. Denn sie ist als bürgerliche Zerfallszeit auch eine der gesprungenen Oberfläche, der zerfallenden bisherigen Gruppierungen und Zusammengehörigkeiten; sie ist folglich, wie in der Malerei, so im Film, die Zeit einer nicht nur subjektiv, sondern objektiv möglichen Montage. Indem diese objektiv möglich wurde, ist sie also keineswegs notwendig willkürlich und ausgemacht irreal (im Hinblick auf die objektiven /(477) Vorgänge); sie ist vielmehr imstande, Veränderungen im äußeren Bezug von Erscheinung und Wesen selbst zu entsprechen. Hier ist das Feld neuer Fingerzeige und dinglicher Instanzen, das Feld entdeckt-realer Trennungen zwischen bisher ganz benachbart erscheinenden Objekten, entdeckt-realer Verbundenheit zwischen scheinbar, in der bürgerlichen Bezugsordnung, ganz entfernten; der gute Film machte dementsprechend von solch realistisch möglich gewordener Verschiebbarkeit auch an Stoffen stets Gebrauch. Derart ging der sowjetische Regisseur Pudowkin (»Sturm über Asien«, 1928) so weit, zu behaupten: «Der Film versammelt die Elemente des Wirklichen, um mit ihnen eine andere Wirklichkeit zu zeigen; die Maße von Raum und Zeit, die in der Bühne feststehen, sind im Film gänzlich verändert.« Der Zauber verbindet sich mit jener photographierbaren Transparenz, die der Sowjetfilm des öfteren gezeigt hat, historisch wie modern, und die besagt, daß eine andere Gesellschaft, ja Welt in der gegenwärtigen ebenso verhindert ist wie umgeht. Das ist das Rechte und Beste, was aus dem Film herauskommt, nicht zuletzt durch die völlig neue Form erleichtert, worin das «Transitorische« hier gezeigt werden kann. Die Kunst des Filmscheins, obwohl sie weder Malerei noch Dichtung ist, auch nicht in ihren besten Exemplaren, gibt doch ein Bild, welches Bewegung erlaubt, und eine Erzählung, welche gegebenenfalls den beschreibenden Stillstand einer Großaufnahme verlangt. Das Kino wird dadurch kein Mischgebilde, von der Art, wie, in soviel höheren Gebieten, Lessings «Laokoon« erzählende Malerei, beschreibende Dichtung definiert hat. In höheren Gebieten mögen erzählende Malerei, beschreibende Dichtung abgeschmackt sein; Lessing weist der Malerei einzig Handlungen durch Körper, der Dichtung einzig Körper durch Handlungen zu. Dagegen die Filmtechnik zeigt Handlungen durch ganz andere Körper als die der Malerei, nämlich durch bewegte, nicht stillstehende; wodurch die Grenzen zwischen beschreibender Raumform, erzählender Zeitform hinfallen. Eine Soi-disant-Malerei denn der Film ist dadurch, daß er sämtliche Gegenstände darzustellen vermag, zum Unterschied vom Bühnenbild, wenigstens so weit geworden wie Malerei, und das Bild ist auch im Tonfilm allemal das Primäre - eine Soi-disant-Malerei also /(478) ist nun selber Handlungs-Nacheinander geworden, eine Soi-disant-Poesie selber
Körper-Nebeneinander: und der Laokoon des Films, zum Unterschied von dem der Statue, schreit. Er kann schreien, ohne erstarrte Grimasse, weil der Film auch im Stillstand der Großaufnahme diesen Stillstand nur als übergehenden, nicht als erstarrten zeigt. Jeder Hintergrund dreht sich hier nach dem Vordergrund, und die dem Film so wesentliche Wunschhandlung oder Wunschlandschaft steigt, obzwar nur photographiert, ins Parterre.
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DIE SCHAUBÜHNE, ALS PARADIGMATISCHE ANSTALT BETRACHTET, UND DIE ENTSCHEIDUNG IN IHR
Sie sitzen schon, mit hohen Augenbrauen, gelassen da und möchten gern erstaunen. Der Direktor im »Faust«
Der Vorhang geht auf Seit alters kommen hier sonderlich gespannte Leute zusammen. Die Antriebe, die sie an die Kasse und in den fensterlosen Raum geführt haben, sind verschieden. Ein Teil ist gelangweilt und will sich nur in einen Abend einkaufen, wo man schlecht oder recht zerstreut wird. Ein besserer, sich heute mehrender, werktätiger Teil will keine Zeit totschlagen, sondern sie füllen. Auch diese Besucher wollen in der Vorstellung unterhalten, also gelöst und frei werden, aber nicht ohne weiteres oder lediglich frei von etwas, sondern frei zu etwas. Bei allen aber treibt, was man mimisches Bedürfnis nennen kann. Dieses Bedürfnis ist weiter verbreitet als das poetische, es hängt positiv mit der nicht nur willfährigen oder heuchelnden, sondern versucherischen Lust, sich zu verwandeln, zusammen. Es teilt mit dem Schauspieler selber diese Lust, sucht sie durch ihn, das heißt in allen besseren Fällen durch das, was er jeweils vorstellt, zu befriedigen. Weiter aber, vor allem will der Zuschauer nicht sehen, was der Schau- /(479) spieler mimisch vorstellt, sondern was er und die ganze Gruppe der Spieler als sinnlich farbige, sprechend bewegte Vorstellung von etwas geben. Wird der Zuschauer in das Leben der Bühne hineingezogen, so wird er damit keineswegs wie der Freund bloßer Zerstreuung aus dem vorhergehenden Alltag schlechthin herausgezogen. Das auch dann nicht, wenn die Bühne sogenannte leichte Kost verabreicht, wenn anders diese von Kitsch, der nicht einmal zerstreut, sondern verblödet, unterschieden ist. Der Vorhang geht auf, die vierte Wand fehlt, an ihrer Stelle ist der offene Bühnenrahmen und hinter dieser Schauseite hat es auf gefallende, auf unterhaltende Art bedeutend, das ist, Etwas bedeutend herzugehen. Vom gehabten Leben verschwindet die Enge, in die es so oft geraten ist; merkwürdige und entschiedene Menschen, ein weiterer Schauplatz, kräftige Geschicke ziehen nun auf. Der Zuschauer ist ebenso erwartend wie miterfahrend der Dinge gewärtig, die da kommen sollen. Die Probe aufs Exempel Aber er bleibt nicht nur gewärtig, die leibhaftig packenden Spieler reizen zu mehr auf. Sie verlangen vom Zuschauer, sich zu entscheiden, sich mindestens über sein Gefallen an der Darbietung als solcher zu entscheiden. Und dargeboten wird ein objektives Stück, so daß sich das Klatschen oder Pfeifen, worin die Entscheidung sich äußert, auf das Stück ausdehnen muß, das dem Schauspieler doch erst seine Rolle gibt. Wie erst dann, wenn der Zuschauer, der kein Backfisch und kein Starkult ist, den Mimen überhaupt nicht anders vernimmt denn als Medium der dramatischen Person innerhalb einer ebensolchen Handlung. Das Mißfallen, das hier geäußert, der Beifall, der hier gezollt wird, zuweilen in die offene Szene hinein: sie sind von der lautlosen oder auch noch so temperamentvollen Stellungnahme zu gelesener Literatur recht verschieden. Denn erst, indem der Zuschauer auf der Bühne wirklich sieht, was er zu sehen wünscht oder auch, was er nicht zu sehen wünscht, wird er üblicherweise zu einer Stellungnahme gebracht, die über die Entscheidung des bloßen Geschmacksurteils erheblich hinausgeht. Nicht zuletzt ist dafür auch wichtig, daß sich in jedem Theater eine förmliche /(480) Versammlung von Stimmfähigen befindet, während sich vor dem Buch in der Regel immer nur ein einzelner Leser befindet. Sehr interessant wird diese Entscheidung bei Brecht zum Hauptpunkt gemacht und eben dadurch, daß sie sich von dem bloß »kulinarischen« Geschmacksurteil reichlich loslöst. Auch dadurch, daß sie die dargestellten
Menschen, Begegnungen, Handlungen nicht nur wertet, »wie sie sind, sondern auch, wie sie sein könnten«; daß der theaterhafte Aufbau eines Menschen »nicht von ihm, sondern auf ihn ausgeht«. Zu diesem Zweck wird bei Brecht die Entscheidung so scharf und so bedacht aufgezeigt, in Regie und Handlungsführung, daß sie sich allemal über den Theaterabend hinaus zu erstrecken hat. Und zwar auf aktiviertbelehrte Weise, ins besser zu tätigende Leben hinein, also wirklich in die Dinge hinein, die in des Worts verwegenerer Bedeutung kommen sollen. Das erstens, indem der Zuschauer sich nicht mehr in das Spiel bloß einfühlt. Er bleibt wachen Sinns und versetzt sich in die Handlung und ihre Spieler, während er sich ihr ebenso gegenübersetzt. Richtig ist so einzig »die Haltung des RauchendBeobachtens« (Anmerkung zur Dreigroschenoper), nicht die des gebannten Manns, der seine Gefühle schwelgend abreagiert, statt daß er sich Gedanken macht und sie vergnügt, erheitert erlernt. Vergnügen am Spiel muß sein, mehr als je, der tierische Ernst ist hier falscher als irgendwo, ja, »das Theater muß etwas Überflüssiges bleiben können« (Brecht, Kleines Organon für das Theater § 3), doch der gehabte Genuß hat den Zuschauer nicht zu schmelzen, sondern er macht ihn unterwiesen und aktiv. Zweitens wird der Schauspieler selber sich nie ganz mit der Figur und ihrer Handlung verschmelzen, die er nachahmt. »Er bleibt immer nur der Zeigende, der nicht selbst Verwickelte«, er steht neben der Stückfigur, sogar als ihr Kritiker oder Lober, und seine Gebärden sind nicht die des unmittelbaren Affekts, sondern machen die Affekte eines anderen mittelbar kenntlich. Durch dieses mehr epische als dynamische Theaterspielen soll die Vorstellung - von aller Exhibition der Schauspielerseelen oder des sogenannten Theaterbluts befreit - nicht weniger, sondern mehr Lebendigkeit, Wärme, Eindringlichkeit erhalten. Wonach Brecht gerade im Hinblick auf die Publikumswirkung des /(481) epischen Mimenstils betont: »Es ist nicht der Fall - wiewohl es mitunter vorgebracht wurde -, daß episches Theater, das übrigens - wie ebenfalls mitunter vorgebracht - nicht etwa einfach undramatisches Theater ist, den Kampfruf hie Vernunft - hie Emotion (Gefühl) erschallen läßt. Es verzichtet in keiner Weise auf Emotionen. Schon gar nicht auf das Gerechtigkeitsgefühl, den Freiheitsdrang und den gerechten Zorn: es verzichtet so wenig darauf, daß es sich sogar nicht auf ihr Vorhandensein verläßt, sondern sie zu verstärken oder zu schaffen sucht. Die >kritische HaltungTheater< gefunden haben«. Aber das Gottschedsche Schulmeistertum im deutschen Gesicht der moralischen Anstalt stirbt so leicht nicht aus; weshalb immer wieder Toleranz für das Licht mit Glück erbeten werden muß. Weshalb Goethe, im Aufsatz »Deutsches Theater«, folgendes Bekenntnis zum schön-heiteren Schein zu setzen hat: »Aus rohen und doch schwachen, fast puppenspielhaften Anfängen hätte sich das deutsche Theater nach und nach durch verschiedene Epochen zum Kräftigen und Rechten vielleicht durchgearbeitet, wäre es im südlichen Deutschland, wo es eigentlich zu Hause war, zu einem ruhigen Fortschritt und zur Entwicklung gekommen; allein der erste Schritt, nicht zu seiner Besserung, sondern zu seiner sogenannten Verbesserung, geschah im nördlichen Deutschland von schalen und aller Produktion unfähigen Menschen.« Und nach/(493) dem Goethe die Gottschedsche Reform dermaßen reserviert beurteilt, nachdem er gar den Hamburger Streit für und wider, ob ein Geistlicher das Theater besuchen dürfe, ventilieren muß, fährt er, nicht ganz ohne Erinnerung an den Titel von Schillers Jugendarbeit, fort: »Dieser Streit, der von beiden Seiten mit vieler Lebhaftigkeit geführt wurde, nötigte leider die Freunde der Bühne, diese der höheren Sinnlichkeit eigentlich nur gewidmete Anstalt für eine sittliche auszugeben... Die Schriftsteller selbst, gute, wackere Männer aus dem bürgerlichen Stande, ließen sich's gefallen und arbeiteten mit deutscher Biederkeit und gradem Verstande auf diesen Zweck los, ohne zu bemerken, daß sie die Gottschedsche Mittelmäßigkeit durchaus fortsetzten.« Diesem scharfen Plädoyer entsprechend wollte Goethe ja auch, daß man die berühmte Aristotelische Katharsis nicht auf die Zuschauer beziehe und in sie verlege, sondern auf die Personen des Dramas. Zweifellos wirkt mit alldem bei Goethe nicht sowohl eine aristokratische Reaktion gegen die Gemeinnützigkeit der deutschen bürgerlichen Aufklärung, als die Abneigung gegen das säkularisierte Muckertum, das selbst an die moralische Anstalt sich gehängt hat, an eine schließlich minus -Theater. Item, Apollo ohne Musen und Minerva ohne Epikur passen noch weit schlechter zum Materialismus in der Kunst, als sie zu ihrem
Idealismus gepaßt haben. Was aber Schiller mit seiner moralischen Anstalt meinte, war statt Gottschedscher Hausbackenheit blühendes Theater und dadurch erst moralische Zweckmäßigkeit, war Szene und dadurch erst Tribunal. Dann erst, durch den Reichtum der Szene hindurch, kann das Theater der Moral dienen, wie so oft in der Kunst, gerade als höchster, geschehen. Die isolierte Vollendung dessen steht in der Hamletszene, wo das Schauspiel den königlichen Mörder zur Entlarvung zwingt; die sozialrevolutionäre moralische Anstalt steht in »Kabale und Liebe« und »Wilhelm TeIl«, im »Egmont«, sie ist mit lauter Brutus-Musik versehen im »Fidelio«. Und diese moralische Anstalt ist nicht nur ein Tribunal, denn über dem gerichteten, selbst über dem triumphierenden und dadurch gerade Entsetzen erregenden Lasterbild auf der Bühne erscheinen die Wege der Rettung, mindestens die Zeichen ihres Lichts. Die deutsche Klassik insgesamt war der Versuch, aus der klassenmäßig zerstückelten Gesellschaft den /(494) ganzen, unzerstückelten Menschen zu entwickeln. Dieser Versuch - rein auf den Glauben an ästhetische Erziehung gebaut - war selbstverständlich ein abstrakter, doch er stellte ebenso unzweifelhaft bemerkenswerte Leitbilder auf die Bühne. Und unter ihnen sind solche, die heute erst ihren richtigen Auftrag finden, ganz ohne Abstraktion oder gar überschwengliche Misere um sie herum. Der aufrichtige Schein der Bühne ist also am wenigsten, gleich der Illusion, von der Realität des Zwecks abgelöst; er ist vielmehr deren Beförderung durch Lustbarkeit. Falsche und echte Aktualisierung Die guten Stücke kehren aufgeführt wieder, doch nie als dieselben. Für jedes neue Geschlecht muß darum auch neu inszeniert werden, und das mehrmals. Der Wechsel der Darbietung wird besonders scharf, wenn eine andere Klasse im Parkett Platz zu nehmen beginnt. Aber bleibt die Bühne dann auch nicht unverändert, folglich plunderhaft, so ist sie ebenso keine Garderobe, an deren Haken immer neue Kleider aufgehängt werden können. Soll heißen: die Menschen und Schauplätze eines alten Stücks können nicht gänzlich und radikal »modernisiert« werden. Auf jeden Fall bleibt das Kostüm der Zeit, worin das gegebene Stück spielt. Dem widerspricht durchaus nicht, daß das Barock seine antiken Helden a la mode eingekleidet hat und sie ebenso agieren ließ. Denn das Barock spielte zwar antike Helden, doch eben keine antiken Dramen, sondern selbstgeschriebene; so entstellte es auch keine antiken Dramen, wenn es deren Stoff in die eigenen bürgerlich-höfischen Figuren und Konflikte versetzte. Aus weit weniger schöpferischem, doch noch überlegterem Grund tragen etwa Cocteaus Orpheus und Euridike, in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts verfaßt, Polohemd und Hornbrille; das ebenfalls ohne jeden Anstoß. Jedoch gibt es nicht leicht einen abgeschmackteren Unsinn, als Hamlet im Frack zu spielen oder, mit bescheidenerem Beispiel, den ersten Akt von »Hoffmanns Erzählungen« in eine Chromnickel-Bar zu legen. Oder auch Schillers Räubern Proletenkluft anzulegen und Spiegelberg eine Trotzky-Maske. All das ist ein snobistischer, mindestens übertriebener Rückschlag gegen die ohnehin längst abgelaufene histo- /(495) risierende Theaterspielerei. Richtig ist nur das Selbstverständliche, daß jedes Theater dasjenige seiner Zeit ist und weder ein getreuer Maskenball noch ein pedantischer Philologenspaß. Darum braucht die Szene zu ihrer Erfrischung zwar einen überall neuen und neu in sie eingearbeiteten Blick, jedoch so, daß das Zeitaroma der Dichtung und ihres Bühnenbilds nirgends verfliegt. Denn gerade die neue Parteilichkeit des Blicks braucht die Personen und Handlungen am Ort ihrer
durch die Dichtung gegebenen Ideologie, wenn anders Haß und Liebe, Abschaum und Vorbild den vom Dichter gezeigten Gegenstand haben sollen. Das Bühnenbild, auf das hin der Autor komponiert hat, muß also, statt weggeworfen, zur Kenntlichkeit verändert werden, zur Kenntlichkeit etwa der in ihm sich zutragenden, jetzt erst spruchreif gewordenen Klassenkonflikte. So erst wird das Theater nicht aktuell stilisiert, sondern wirklich aktualisiert, und das, wie im Bühnenbild, so noch viel genauer in der erfrischten Belichtung, Modellierung des Bühnentextes. Hier gibt es außer den altbekannten Strichen sogar die Umarbeitung eines Stückes, sofern dieses in mehreren Stellen verstaubt oder auch ungereift und unbeendet vorliegt, und sofern - als conditio sine qua non - der Neubearbeiter oder auch Ergänzer dem Autor verwandt und ebenbürtig ist. So hat Karl Kraus nicht nur Offenbach-Texte, sondern den ganzen Diamant dieser Musik aus dem Schlendrian gerettet, wohin er gefallen war. So hat Brecht den »Hofmeister« von Lenz als eine Menschenpflanze besichtigt, die aus der feudalen Misere des achtzehnten Jahrhunderts in die kapitalistische des zwanzigsten weiterwächst. Aber die Sache wird auch hier sofort prekär, wenn freche Regisseure, verhinderte Autoren oder kummervolle Epigonen Altes als Krücke und Produktionsersatz benutzen wollen. Die Epigonal-Ergänzer (Modell: Abschluß des Schillerschen »Demetrius«) sind in der Literatur, was die entsetzlichen Burg- und Schloß-Restauratoren des vorigen Jahrhunderts in dem waren, was man damals Architektur nannte. Sie sind gleich letzteren seltener geworden, dagegen forsche Regisseure übertragen immer wieder eine unsägliche Aktualisierung in den Dramentext, auf Grund vulgärpolitischer »Auffassung« desselben. Alles zum Zweck, eine - sei sie noch so löbliche - Tendenz außerhalb des Werkspiegels sicht- /(496) bar zu machen, statt in ihm. Es braucht nicht erst bei höchst unlöblicher, nämlich vorfaschistischer Tendenz - an einen »Wilhelm Tell« erinnert zu werden, wo Geßler, unter Dämpfung und Retusche der Freiheitsmänner, als »interessanteste« Figur in die Mitte gerückt wurde. Oder gar, wo das Lustspiel «Der Kaufmann von Venedig« zu einem antisemitischen Radaustück herhalten mußte. Denn auch bei richtigster Tendenz fährt die vulgärpolitische Aktualisierung auf ein werkfremdes Feld, mit Verlust des gegebenen Dramas. So etwa, wenn «Maria Stuart« dermaßen in Mißszene gesetzt und aus den Maßen gerückt wird, daß das Stück kein Trauerspiel mehr abgibt, sondern den bejubelten Triumph der Elisabeth. Weil sie nämlich - kraft eines dramaturgischen Neubaus ohnegleichen den aufsteigenden Kapitalismus gegenüber der französisch-katholisch-neufeudalen Maria repräsentieren soll. Das ist historisch zwar nicht unrichtig, fürs gegebene Drama jedoch (letzter Akt) noch schlimmer, vor allem weit überflüssiger als eine Schloß-Restaurierung im Geschmack der achtziger Jahre. Nur bei einer in der Dichtung selber mehrdeutigen Figur, an der Spitze Hamlet, ist die Outrierung einer ihrer Züge, ihrer gegebenenfalls bisher übersehenen, allenfalls zu rechtfertigen; indes müssen auch diese Züge bei Shakespeare belichtet gewesen sein, und der Regisseur hat sie nur zu entwickeln. Nur als diese Art Entwicklung und Nachreife geschieht Erneuerung auf dem Theater, und nur zu diesem Ende werden Meisterwerke, mit einem wie immer glücklichen Zerfall ihres «Galerietons«, Museumswerts, auf die Bretter zitiert. Auch Richard der Dritte, er spielt nicht, als wäre er Hitler, sondern er versinnlicht heute einen Teil des Hitlerischen desto klarer, je mehr er durch Shakespeare seine eigene Haut und die seiner Zeit darstellt. Verwandtes gilt im gleichen Stück, wenigstens was das Allegorische der Rettung angeht, von Richmond und dem schönen Tag von morgen um ihn. Vielsagend allerdings muß diese Darstellung sein und kein geschichtliches Panoptikum mit »Zeitlosem «, mit »Allgemein-Menschlichem« darin. Aber Vielsagendes bedeutet
hier: das klassische Drama muß so gesprochen und dargestellt werden, daß nicht die Gegenwart dem Drama aufgepreßt wird, sondern das Drama die Gegenwart mitbedeutet. Und das auf Grund seiner temporär nie erschöpften Konflikte, /(497) Konfliktsinhalte und Lösungen, vielmehr: jedes klassisch große Drama zeigt an diesen seinen Konflikten und Lösungen ein gleichsam überholendes, das Temporäre übergreifendes Anliegen. Ja selbst die in der Gegenwart verfaßten Stücke besitzen nur dann dramatisch aktuelle Bedeutung (im Sinne von Hinweis wie Erhellung), wenn sie sich auf solch übergreifendes Anliegen verstehen. Es gibt einen gesellschaftlichen Prozeß (zwischen Individuum und Gemeinschaft, zwischen kontrastierenden Gemeinschaftsformen selber), der von den griechischen Anfängen des Dramas in die Zukunft reicht, bis in die Gesellschaft der nicht mehr antagonistischen, doch selbstverständlich nicht verschwundenen Widersprüche. Dieser Prozeß, dramatisch zwischen typischen Trägern konzentriert, macht jedes große Drama eben deshalb groß, weil es neuer Aktualität fähig ist, und macht es ebendeshalb aktuell, weil es zur künftigen Aufgabe: optimistische Tragödie transparent ist. In »Rameans Neffe «läßt Diderot sagen: »Der Säulen standen viele am Weg, und die aufgehende Sonne schien auf alle, aber nur Meimnons Säule klang.« Diese Säule bedeutet Genie zum Unterschied von Mediokrität, aber reiner sachlich bedeutet sie die dauernde Klangkraft und Aktualität großer Dramen in Richtung Tagesanbruch. Die aktuelle Inszenierung wird also dann am besten einrichten, wenn sie sich nach dieser Richtung richtet. Sie ist den wahrsten Dramen, vom »Gefesselten Prometheus« bis »Faust«, immanent; sie braucht keine an- und zugefügte Sichtwerbung, sondern eben Sichtbarmachung. Weitere echte Aktualisierung: Nicht Furcht und Mitleid, sondern Trotz und Hoffnung Das Maß für diese Frische muß jedoch immer wieder frisch erarbeitet werden. Es gewinnt sich am sichersten aus dem Dasein bedeutender neuer Stücke und aus dem Verständnis für sie. Es gewinnt sich nicht zuletzt aus dem großen Unterschied, worin sich das Wunschbild in einer sozialistischen Zeit gegen die frühere befindet. Greifbar wird dieser Unterschied an dem, was Schiller den «Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen« nannte. Noch Schiller kommt in dem so bezeichneten Auf- /(498) satz und deutlicher in dem nachfolgenden »Über die tragische Kunst« von der Aristotelischen Definition der Tragödie scheinbar nicht los. Wobei er überdies zwischen Trauerspiel und Tragödie nicht zu trennen beabsichtigt, indem beide den Zuschauer zu rühren hätten. Und Rührung ist es auch, von der her Aristoteles zu seiner berühmten Zwecklehre der Tragödie gelangt. sie habe die Affekte der Furcht und des Mitleids zu erregen. Schiller akzentuiert daran nur das Mitleid, doch auch im Aristotelischen Original zeigt uns die Tragödie Menschen, vorab ihre Helden, in einem Zustand des Leidens. Und die dramatisch bewirkte Hochsteigerung der Furcht vor dem Leiden, des Mitleids mit ihm, soll den Zuschauer bekanntermaßen von diesen Affekten befreien. Das heißt, die Affekte sollen durch die tragische Steigerung wieder zu ihrer normalen Höhe im Leben abreagiert werden. Das ist der Sinn der Aristotelischen Katharsis oder Reinigung, als einer solchen, die immer eben Rührung durch dramatisch erfahrenes Leiden einschließt. Erst Euripides freilich hat die Rührung in die Tragödie gebracht, weshalb ja auch Aristoteles dem Euripides die stärkste dramatische Wirkung im angegebenen Sinn zuschrieb. Vorausgesetzt ist hierbei aber nicht nur das spezifische Drama, von dem Rührung ausgeht, sondern vor allem doch auch ein Verhalten, das weniger das Aufbegehren gegen das Schicksal als das -wie immer standhaft ertragene Leiden an
ihm, das Unterliegen vor ihm pointiert. Die gesamte antike Sklavenhaltergesellschaft nahm ein tragisch Aufsässiges im Leiden, nahm Prometheus als tragischen Grundhelden nicht wahr oder wollte ihn mindestens nicht voll wahrhaben. Das trotz der Prometheus Trilogie des Äschylos und trotz des Wissens, daß die tragischen Helden besser sind als die Götter, gar als das Schicksal. Und nun ist es gerade für das Maß der Erfrischung des dramatischen Aspekts lehrreich, wie vor allem die Furcht-, dann die Mitleid-Reinigung der uns fremdest gewordene tragische Effekt ist. Einzuräumen bleibt, daß ihn, wie gesehen, noch Schiller liebte (allerdings mit ausschließlicher Betonung des Mitleids); daß ihn vorher Lessing in der »Hamburgischen Dramaturgie« verteidigte oder nochmals reinigte (allerdings gleichfalls mit Reduktion der Furcht, die das auf uns selbst bezogene Mitleid sein soll). Aber bereits die unternehmerische, /(499)dynamische bürgerliche Gesellschaft verstand den antiken Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen nur noch mit Mißverständnissen; bereits ihr wird mit dem tragischen Helden, auch dem der griechischen Tragödie, ein ganz anderes Wunschbild Theater aktualisiert als dasjenige, welches die bloß passiven Affekte Furcht und Mitleid mit sich führt. Der Furchtaffekt ist mit der Schicksalstragödie ohnehin gefallen, und das Mitleid? Diese Art Rührung ist am Äschyleischen Prometheus und dem, was damit zusammenhängt, weit geringer als die Bewunderung. Ja es läßt sich noch weit mehr, noch ganz anderes in der dermaßen eingetretenen Affektverschiebung feststellen, in dieser wesentlichsten Art von Aktualisierung. Denn ist der tragisch erregte Grund nicht mehr Furcht und Mitleid, so bleibt er auch nicht nur Bewunderung. Er ist vielmehr - und nun als solcher auch in den tragischen Personen selber gesehen Trotz und Hoffnung. Das erst sind die beiden tragischen Affekte im revolutionären Verhältnis, und sie kapitulieren nicht vor dem sogenannten Schicksal. Der Trotz schwindet zwar an und in den Helfend-Siegreichen, als den Helden der sozialistischen Gesellschaft und Dramatik; den nicht mehr antagonistischen Widersprüchen, der substanziellen Solidarität entsprechend. Desto wichtiger aber ist er an und in den Scheiternd-Siegreichen, als den Helden der klassisch überlieferten Dramatik, die - nach Hebbels Wort - an den großen Schlaf der Welt gerührt haben. Und die spezifische Hoffnung, als eine, die in diesem Scheitern allemal ihr sachgemäßes Paradox trieb und die den besten Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen bildet, kommt im sozialistischen Theater überhaupt erst ohne Paradox nach Hause. (Dergestalt daß hier allerdings, im Sinn der letzten Stücke [«Romanzen«] Shäkespeares, des Goethischen Faust, das Tragische aufgehoben sein mag.) Insgesamt erhellt sich so das Theater in seiner moralischen, seiner paradigmatischen Anstalt als eine heiter-antizipierende. Darum ist es heiter auch in der Tragödie, nicht nur in der kritischen Komödie, nicht nur im Lustspiel. Darum spannt sich gerade um die tragischen Helden, ja noch um die echte Rührung, nämlich um die edlen Untergänge des Trauerspiels der Rundhorizont Morgen. Wenn Schiller sagt: »Was sich nie und nirgend hat begeben, das allein veraltet nie«, /(500) so ist dieser Satz zweifellos, sage man, übertrieben; und doch steckt in ihm, unter so viel pessimistischer und idealistischer Resignation, ein materieller Kern. Nur muß der Satz lauten: Was sich noch nie und nirgends ganz begeben hat, doch als menschenwürdiges Begebnis bevorsteht und die Aufgabe bildet, gerade das veraltet nie. Der wirkende Anteil Zukunft gibt also das eigentliche Maß für Frische, auch in der Komödie, die die Gegenwart kritisiert, im Lustspiel, das sie behaglich ausgehen läßt, wie sehr erst in der Erhabenheit der tragischen Welt. Weil an der hoffnungsreichen Wirkung ihrer Helden klar wird, daß deren Untergang nicht ganz stimmt, daß das Element Zukunft darin erhebt.
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VERSPOTTETE UND GEHASSTE WUNSCHBILDER, FREIWILLIG HUMORISTISCHE
Wenn nächstens jemand ein Kapital von hundert Millionen darauf verwendet, alle Neger mit weißer Ölfarbe anzustreichen oder Afrika viereckig zu machen, mich soll's nicht wundern. G. Freytag, Die Journalisten Das Wörtchen Wenn Über vieles wird sich schief gelacht, was nicht heiter ist. Über jeden, der Pech hat, liebt man zu schmunzeln, und ist er klug, so tut er selber mit. Eine besonders schale, doch auffallende Art von Spaß hat hier Platz. Wie lustig, daß einer seinen Schlüssel verloren hat und deshalb zu spät kommt. Daß man seinen Schnupfen nicht los wird, wird gemeinhin erzählt und quittiert wie ein guter Witz. Das Lachen dient hier dazu, die Sache klein zu machen, nebensächlich und fast so, als wäre sie nicht da. Andererseits macht es Spaß, ist auch selber spaßhaft, die Dinge, die einem nicht passen, oder die man als nichtpassende an andern gewohnt ist, so für sich allein umstellen zu können, mit einem kleinen, nur innerlichen Finger sozusagen. Schön, wenn es so ginge, doch daß es nicht so geht, erregt ebenfalls Gelächter. /(501) Daher das Sprichwort: Wenn das Wörtchen Wenn nicht wär', wär' gar mancher Millionär. Oder: Wenn die Wünsche Pferde wären, würden alle Bettler reiten. Dieser Spott ist richtig, trotzdem bleibt vieles darin merkwürdig, noch mehr wird bald bedenklich. Denn hebend gern verbreitet sich ein so fröhlicher Ton dorthin, wo er nur noch grinst und höhnt. Er verbreitet sich auf Kosten des Vorwegnehmens überhaupt, des ungewohnten. So mag schon der Urmensch gelacht haben, als ihm ein Träumer vormachen wollte, Fleisch könne und werde einmal gebraten verzehrt werden. Die Auswüchse sind es, sie haben immer die Lacher gegen ihre Seite. Die Sache ist Wind und wird zu Wasser werden wie jeder Wind. Das tut zwar nicht jeder Wind, doch der Spießer hört es gern. »Die neumodischen Dinge taugen alle nichts« Von hierher wird das Neue am leichtesten, auch innigsten verspottet. Seine Bringer stören, denn angeblich gewöhnt sich der Mensch an alles, auch ans Schlechte. Ungewohntes bleibt dem Kleinbürger eine Fundgrube von Spaß und Abneigung; das hängt mit seiner unsicheren Selbstzufriedenheit zusammen. Der Komiker sagt es frei heraus, die neuen Damenhüte sind ein Graus; nach diesem Rezept wird nun der Ulk der Zukunft ausgekocht und angerichtet. Aber freilich, es kommt hinzu, daß der so beschaffene Witz auch Wurzeln in ganz anderer Klasse und in sehr alten Zeiten aufweist. Davon lebt er, lebt die Abneigung des Spießers, ohne es zu wissen, und nur die Hämischkeit ist dessen eigenes Gewächs. Auch der Bauer frißt nicht, was er nicht kennt, er hatte dazu, solange ihm das Neue vom Gutsherrn kam und von der Stadt, die den Bauern ausplünderten, guten Grund. Das hat sich bei dem Bauern, als eine erworbene Eigenschaft, lange erhalten, das ließ ihn, von ganz anderer Basis her, mit dem Kleinbürger in den Ruf einstimmen: Die neumodischen Dinge
taugen alle nichts. Und ein anderer Grund liegt sogar in einer sehr alten, fast archetypisch nachwirkenden Neuerungsscheu: im Aberglauben als dem Restbestand aus längst vergangener magischer Zeit. Nachdem die ersten eisernen Pflüge in Polen eingeführt waren und schlechte Ernte folgte, schrieben die /(502) Bauern das dem Eisen zu und kehrten zum Holzpflug zurück. Das macht: in der guten alten Zeit, in der Holz-, Stein-, Bronzezeit war Eisen nicht dabei, so taugt das spätere Material nicht zu den hier überkommenen Bräuchen. Ebenso: die Beschneidung wird bei allen Stämmen, die sie als letzten Rest des primitiven Menschenopfers pflegen, mit einem Holz- oder Steinmesser ausgeführt; die Tempel der uralten Erdgötter durften nicht mit eisernen Werkzeugen gebaut oder repariert werden. Dem verwandt ist, vom alten Steinmesser auf die Priesterkaste übertragen: in Rom haben die Plebejer als letztes das Amt des sacerdos erlangt, das bis dahin einzig den Patriziern archaisch vorbehaltene. Und der römisch-katholische Gott wiederum versteht nur Latein; eine deutsche Messe wäre hier, was das Eisen für die alte Erdmutter bei den alten polnischen Bauern war: Herausforderung, Greuel. So tragen für den Aberglauben alle Neuerungen das Zeichen: es ist kein Segen daran. Ein Rest der alten Angst wird von zurückgebliebenen wie von ungleichzeitigen Schichten analog auch gegen die Zukunft verwendet, die ihnen nicht paßt. Ungewohntes ist hier in jeder Weise landfremd, so wird es, mit auffallendem Gegenschlag gegen den Wunsch nach Überraschung, verspottet. Le Néant; Un autre monde Kühner wird der Witz, wenn er Neues selber schnöde vormacht. Wenn er gar mit dem Dunkeln darin spielt und es in ein prickelndes Grauen auflöst. Das Prickelnde darin bezeichnet allemal das Vergnügen daran, daß etwas nun nicht mehr mit rechten, das heißt gewohnten Dingen zugeht. Sehr früh flickte das Zaubertheater der Magie am Zeug, nicht sowohl, um sie zu entzaubern, als um dem Publikum einen kuriosen, einen komischen Schatten auch über das technisch Wunderhafte fallen zu lassen. Das Wunschbild, über die alten Grenzen zu steigen, wird damit, unter anderem, zum Sensationsspaß verkleinert; ein Komödiant kann einen Erfinder lehren. Hierher gehören Feuertricks: die Kunst, auf glühenden Kohlen zu gehen, der Flammenesser, Flammenspeier. Powel the Fire-Eater briet 1762 ein Beefsteak auf seiner Zunge, indem er eine glühende Kohle darunter legte; die /(503) Zunge war mit einem unbekannten Schutzmittel gesalbt. Hierher gehören die optischen Illusionen, vor allem die Arbeit mit Spiegelreflexen, die seit dem sechzehnten Jahrhundert bezeugt sind. Benvenuto Cellini berichtet von Phantomen, die, während einer Vorstellung im Kolosseum, auf Rauch projiziert wurden; die dazu gebrauchten Spiegel wurden vom Hof der Tatarenchane nach Rom eingeführt. Erhalten hat sich davon der Trick, lebende Personen durch Spiegelwirkung verschwinden und wieder erscheinen zu lassen: »Le Néant«,auf Montparnasse, ist eine Bude, die noch heute Menschen, auch Dinge, die eben noch auf der Bühne standen, spurlos aus dem Gesicht bringt und aus dem Nichts ins Da-Sein zurückkehren läßt. 1865 konstruierten Tobin und Pepper »The Cabinet of Proteus«,worin Männer und Frauen verwandelt wiedererschienen: nackt im Liebesbett oder mit Büßerhemd auf dem Scheiterhaufen. »Le Néant« auf Montparnasse aber, wirkt er nicht, als wollte er so lange vor Sartre schon entwerten und spotten: Aller Fortschritt ist einer ins - Nichts. Dergleichen fehlt erst recht nicht, wo in Bildern Neues übertrieben wird. Witzblätter ziehen seit hundert Jahren Stoff daraus, wie der Mensch in hundert Jahren aussehen wird. Der Spott wird desto stärker, je sonderbarer der Spötter
selber von seinen voraus gemalten Fratzen betroffen ist. Dann kann sich freilich die Karikatur auf eine Höhe schwingen, die dem Witzblatt notwendig fehlen mag. Bedeutend hierfür ist ein Grotesk-Bilderbuch mit Text aus dem neunzehnten Jahrhundert auf der romantisch-technischen Kippe: Grandvilles »Un autre monde« (1844); der Autor starb drei Jahre später im Irrenhaus. Umgestiegen wird hier aus der alten Welt in eine neue, und die Sittenschilderung des Umstiegs mischt sich mit freundlichen Genreszenen der Hölle. Auf dem Titelblatt werden verheißen: «Transformations, Visions, Incarnations, Ascensions, Locomotions..., Metamorphoses, Zoomorphoses, Lithomorphoses, Métempsychoses, Apotheoses et autres choses.« Gehalten wird von diesen Versprechungen nicht alles, immerhin rollt der Vorhang auf vor einer vertrackt-utopischen Zucht. Da sind umgebaute Menschen, Doppelfresser, vorn und hinten tragen sie Kopfgebisse und greifen zu. Werkzeuge haben sich längst verselbständigt, sie sind riesige Insekten aus Eisen, ihre Gliedmaßen Zangen oder /(504) Hebebalken, ihr Kopf ein Schmiedehammer, der nietet, indem er nickt. Ein »Concert à la vapeur« zischt, rasselt, klirrt menschenlos und präzis herauf: alle Instrumente werden durch Dampf betrieben, fast sind sie selber Dampfmaschinen geworden; eine oszillierende Kolbenstange, mit Hand daran, gibt den Dirigenten ab. Auch die »Mystères de l'infini« werden vertechnisiert: Jupiter, Saturn, Erde, Mars sind durch eine Eisenbrücke verbunden; die Brücke zeigt sich durch Gaslampen beleuchtet, so groß wie ein kleiner Mond. Baudelaire sagte von Grandville und seinen Zeichnungen: »Es ist ein krankhaftes literarisches Gehirn, stets auf illegitime Kreuzungen versessen... Dieser Mensch hat mit übermenschlichem Mut sein Leben damit zugebracht, die Schöpfung zu verbessern.« Aber eher und einzig richtig war er das Talent, technische Gargantuas auszubildern und mit diesem Scherz sein Entsetzen zu treiben. Jedes dieser Bilder karikiert, überzerrt die Mittel, die Menschen durch Technik glücklich zu machen. Auf dem Justizpalast der Zukunft steht als Axiom: «Les crimes sont abolis, il n'y a plus que des passions« - ein ernster Gipfel im aufgebäumten Spott utopischen Unsinns. Soweit Grandville und sein Orakel; ein schizophrener Kleinbürger, ein bedeutendes Grauen technischer Phantasie hat hier zuviel von Proteus oder auch Prometheus gegessen, davon ward ihm übel. Wobei ohnehin jede Seltsamkeit, wie gesehen, ein Stück Witz mit sich führt (vgl. S.114), als ihre Kehrseite; was ja auch an manchen Produkten des Surrealismus bemerkbar wurde. Außerhalb des Surrealismus ist das am besten erweisbar an den Höllenmontagen, den »paradisi voluptatis« Hieronymus Boschs, deren Misch-Nonveantés vom spanischen Hof einzig um der Belustigung willen gesammelt worden waren. Und nicht ganz unverwandt erscheint das eigentümliche Witzgrauen auch in der übertriebenen Prothesen-Familie Grandvilles, als einer, worin Irrsinn und Spaß zugleich ausbrechen. Schwer, dem beizukommen; Heiterkeit rettet, selber frivol, vor jener dämonisch werdenden Entlegenheit, zu der der Mensch und später die Maschine die Welt umstellen können. Witz rettet vor der äußersten Künstlichkeit oder Ungesundheit abstrakter und doch darstellbarer Mischfiguren, vor dem Schattenreich technischer Unzucht, schwarzer Utopie. Zugleich aber ist Witz objektiv in ihr: /(505) als ein Anfang des »Grotesken«, das sprachlich wie sachlich aus der »Grotte« oder Unterwelt stammt, als Vater oder Bruder eines Gelächters, das gerade der Hölle nicht fehlen darf. Einiges davon erscheint in den angegebenen Karikaturen, den Furchtkarikaturen der Technik und ihrer Prothesen. Mit hämischem oder höhnischem Angsttraum, voll Schreck vor der technischen Herausforderung und dem, was sie ruft. Riesige Schlitzaugen öffnen sich auf einem Bild Grandvilles am Himmel; die Großbomber der Zukunft freilich und die Atombombe wurden vom schrecklichsten Hohn nicht vorgesehen.
Die »Vögel« des Aristophanes und das Wolkenkuckucksheim Der Spott übers Neue macht sich ganz groß, wo ein Auftrag vorliegt. Ein Auftrag der herrschenden Klasse gegen um sich greifende Unzufriedenheiten und ihre Bilder. Dann werden Lobredner der alten Zeit gesucht, und lange bevor sie das Neue romantisch wegbliesen, hieben sie satirisch darauf ein. An sich liegt die politische Satire der unterdrückten Klasse zweifellos näher als der besitzenden, der es im Alten wohlgeht und die sich darin erhalten will. So lebte der Spott des sizilischen Mimus durchaus im Volk, und auch die altattischen Komödienschreiber sahen dem Volk nicht nur aufs Maul, auch ins Herz, wenn sie über hergebrachten Schlendrian lachen machten. Aber die Reaktion während und nach dem unglücklichen peloponnesischen Krieg bewirkte, daß der Spott sich immer mehr gegen Besserwissenwollen selber kehrte und durchaus nicht gegen Überaltertes. Wobei mit überlegenen Mitteln auch der Haß des Spießbürgers im Demos mobilisiert wurde, eben der Haß gegen Ungewohntes und seine Art. Die erste politische Satire war demgemäß reaktionär, war genau gegen Utopien gerichtet; ihr Meister: Aristophanes machte etliche seiner besten Komödien auf Kosten revolutionärer Hoffnung. »Ekklesiazusen« heißt die eine Komödie, sie verspottet den Plan des Frauenstimmrechts und der Gütergemeinschaft; die andere heißt «Vögel« und verspottet sozialistische Utopie schlechthin. Sogar der Spitzname »Wolkenkuckucksheim« (Nephelokokkygia) geht wörtlich auf die »Vögel« zurück, ebenso die Mehrzahl humoristischer Genre- /(506) bilder, womit der sogenannte Zukunftsstaat seitdem bedacht worden ist. Zwei Athener suggerieren den Vögeln, eine Stadt in den Wolken zu gründen, nicht ohne Absicht, selber dahin zu fliegen. Der eine: Peisthetairos (Rätefreund) hält Finken, Meisen, Schwalben eine »Hetzrede«, er belehrt sie, daß sie einstmals die Welt statt der Götter beherrscht haben und wieder beherrschen sollen. Der andere: Euelpides (Hoffegut) glaubt dumm und treu an die Stadtgründung in der Luft, an Nephelokokkygia hoch droben, zwischen Erde und Himmel, beide kontrollierend. Der Vogelstaat soll das Reich der Freiheit werden: Zucht und Sitte sind dort verbannt, es herrscht »Natur«. Ganz im Sinn des Vorrangs der »Natur« vor der «Satzung«, wie die sophistische Aufklärung ihn gelehrt hatte, wendet sich der Chorführer an die Zuschauer: Wer von euch mit uns, den Vögeln, Seine Tage fernerhin Fröhlich lebend will verbringen, Diesen lad ich freundlich ein. Alles, was Gesetz verbietet Dort bei euch als frevelvoll, Ist bei uns im Reich der Vögel Durchaus schön und tugendhaft. Wie schön und tugendhaft aber dies Natürliche ist, geht daraus hervor, daß Aristophanes einen Genossen einfügt, der alles beschmutzt, was ihm in den Weg kommt. Und ein Gesetz wird erwogen, in der vollendeten Bosheit, der genialischen Verleumdungs-Strategie dieser Komödie, »wonach es Ruhm bringt, wenn man den Vater henkt und beißt«. So erscheint hier der gesamte soziale Wunschtraum als Gemisch aus Verbrechen und Posse; seine »Natur« selber hat keinen Boden, außer dem des Wolkendunsts. Sonderbar nur, daß die schöne Stadt in den Wolken, dieser
Reflex aller fernen Glücksinseln, zuerst durch das Medium des Spotts literarisch erschien. /(507)
Fröhliche Überbietung: Lukians «Vera historia«
Seit alters wird vom besseren Leben so erzählt, als wäre es irgendwo schon da. Auch fremdartige Dinge können als ein Besseres erscheinen, indem sie mindestens andersartig sind und unerhört. Die Form, worin von dergleichen berichtet wird, ist das Reisebuch oder aber Erzählungen in der Art Sindbads. Auch Staatsmärchen haben sehr oft diese Form gewählt; liegt doch das Glücksland bezeichnenderweise weit weg. Auf ferner Insel, in einer Südsee; die davon berichteten Wunder sind gewollt unkontrollierbar. Der heiterste Spott über diese Art Lüge ist Lukians «Vera historia«, auch ein Modell Münchhausens ist darin. Gottfried Bürger entnahm von hier einige Geschichten fast wörtlich, und Thomas Morus, der Lukians Dialoge übersetzt hat, ließ sich nicht abhalten, seine Utopia gleichfalls mit Seemannsgarn anzuspinnen. Auch Rabelais' wunderbare Riesenbilder (die Welt in Pantagruels Mund, bestehend aus fünfundzwanzig bewohnten Königreichen, die Wüsten und ein breiter Meerstrich nicht mitgerechnet) haben aus der «Vera historia« großen Nutzen gezogen; und Rabelais ist der einzige, der Lukian in solcher Groteske übertraf, nämlich mit Renaissance-Dimension. Dem bloßen Spötter Lukian, in absteigender, skeptisch zerstörender Gesellschaft, fehlte Größe des utopischen Spotts durchaus; doch machte ihn seine Skepsis nun gerade dem liederlichen Element verschworen, das an Wunderkunden als einziges aufging. Nicht ohne daß, wie es bei Ironie recht oft der Fall, die Fabelei so lange verspottet wurde, bis der Spott sie nachmachte und übertraf. Derart gab Lukian eine ausgesuchte, fast selber utopische Phantasterei über Unvorhandenes, ganz leicht, ganz sorglos, wie ein Bewohner der glücklichen Inseln selber. Er will, wie die ehrgeizige Einleitung sagt, den großen Lügnern nachfolgen, dem Odysseus an der Spitze, aber auch Dichtern, Philosophen, Geschichtsschreibern und vor allem der legendären Geographie. Er verspottet besonders Fabulantes von der Art des Antonios Diogenes, der in nicht weniger als 24 Büchern die «Wunder jenseits Thules« behandelt hatte. Über diese Vorgänge sagt Lukian: «Ich werfe ihnen ihre Lügenhaftigkeit nicht vor; was mich aber überrascht, ist, daß sie keine Entdeckung /(508) fürchteten. Indem ich wünsche, an der Welt der Schriftsteller und Lügner teilzunehmen, und außerstande, Tatsachenberichten zu können (indem mir nichts von Bedeutung zustieß), sage ich im voraus das einzig Wahre, nämlich daß ich Lügen erzählen werde. So beginne ich also mit dem, was ich weder sah noch hörte, und, was mehr ist, ich schreibe über Dinge, die nie geschahen und je geschehen könnten.« Dergestalt segelt Lukian, selbst noch die Möglichkeit seiner eigenen Phantasieländer verlachend, mit fünfzig anderen Lügnern über die Säulen des Herkules. Die bekannte Welt bleibt zurück (soweit sie nicht im Mond, einem aufgehängten Erdspiegel, von Zeit zu Zeit reflektiert wird). Und in der unbekannten gibt es alles, was Tantalus begehrt und Zeus vorenthält. Lukian hat Motive aus seiner syrischen Heimat verwendet, die sich später in Tausendundeiner Nacht wiederfinden, so in den Geschichten Sindbads des Seefahrers. Es gibt eine Art Vogel Rok, es gibt einen Riesenfisch, der Lukians Schiff verschluckt, und anderen Gruselglanz mehr. Dazu finden sich alkoholische Motive, «Vinland«-Motive, wie sie erst in mittelalterlichen Reiselegenden, Entdeckungsbildern wieder auftauchen. Denn auf der Insel jenseits der Säulen des Herkules sieht der Reisende riesige Fußspuren, die des Herkules und des Dionysos. Und letzteren folgend erreicht er einen Fluß, der Wein führt, mit Fischen, die Rausch
erzeugen, mit Frauen am Flußufer, die teilweise zu Weinstöcken verwandelt sind und so doppelt trunken machen. Andererseits weist Lukian den Mondbewohnern flüssige Luft als Getränk an, 1700 Jahre vor deren Herstellung, während (damit Unsinn trotzdem recht behalte) kolossale Spinnen den Raum zwischen Mond und Morgenstern mit einem gangbaren Gewebe überziehen. Aber weit sonderbarer ist dieses: das Lügenschiff auf seiner Fahrt in den Atlantik ist nämlich unterwegs, um zu erfahren, wörtlich: um zu erfahren, »was die Grenze des Ozeans sei und welche Menschen auf seinem entgegengesetzten Ufer wohnen«. Das ist deutlicher als die berühmte Prophezeiung des Seneca, daß einst der Gürtel des Ozeans zerreißen werde, aber die Vorhersage der entgegengesetzten Ufer des Atlantik - steht in einer Spottschrift über Lug und Phantasterei. Freilich: erreicht dann der wahrhaftige Erzähler eine Wunderstadt, so stellt er sie wieder dar als /(509) abgeschmackt vor lauter Zauber, und das Wunderland besteht überhaupt nur noch aus Unmöglichkeit. Insofern gibt Lukianisches sogar ein ganz gutes, nämlich lustiges Antidoton gegen die Dichter, die lügen, gar gegen die Münchhausens, die utopisieren. Jedoch es bleibt ein anderes, ob ein Münchhausen gelegentlich, um des erhöhten Jägerlateins willen, auch utopisiert, oder ob ein Utopist Reisewunder beizieht, um seine glückliche Insel recht stark zu kolorieren. Die Absichten bei beiden sind grundverschieden, so wie die Windbeuteleien Münchhausens und die Glücksmärchen eines Thomas Morus methodisch verschieden sind. Selbst der abstrakteste Utopist hatte nichts Unmögliches, sondern lauter Möglichkeiten im Sinn, auch wenn deren wahre Geschichte noch so im sehr argen lag und ausstand. Es gibt keinen Fluß, der Wein führt, aber ein ,Überfluß für alle, den es gleichfalls nicht gibt, geht aus der heiteren Lüge sogleich in die heiterste Aufgabe über. Freiwillig humoristische Wunschbilder Zuletzt gibt es voreilende Träume, die an Neues glauben und doch darüber lachen. Sie tun es freiwillig, brauchen keinen Spötter von außenher, sie werden bereits humoristisch geboren. Und eben deshalb, weil sich Vorhandenes in ihnen verblüffend verschiebt, mit Zukunft allerorten und nicht als wahr geglaubter. Sonderlich lustig bietet sich für solches Spiel die Bildung ausgewechselter Lebewesen an. Mit dem Messer besorgte das Maurice Renard im Schauerroman «Docteur Lerne«, die Vertauschung von Gehirnen betreffend. Ein Arzt setzt Kalbsgehirne in Löwenköpfe ein, Affengehirne in Menschenköpfe und umgekehrt. So verändert und mischt er die Arten, sein eigener Neffe tobt in einem Stier, in den er das Gehirn dieses Neffen eingesetzt hat. Längst vorher hat der verbrecherische Arzt sich selbst ermordet und sein Gehirn dem Kopf seines großen Lehrers implantiert, in dessen Leib und Würden er nun lebt. Ist das chirurgischer Wünschspott, so wird er elektrisch-erotisch bei Villiers de l'Ile Adam im Edison-Roman »L'Eve future«, einer Art Jahrmarktsbude mit mechanischen Meermädchen, doch wirklich lebendig. Erzählt wird hier die Erschaffung (Umschaffung) einer Frau /(510) durch Edison, den amerikanischen Wundermenschen selber. Der Erfinder stellt für Lord Ewald eine kostbare Nachahmung Alicias her, der sehr schönen Geliebten des Lords, noch schöner durch die technisch hinzugefügte Seele eines höheren weiblichen Wesens. Reines Metall, parfümiertes Fleisch, die neuen Rätsel des Mikrophons, Phonographen, elektrischen Stroms («L'Eve future« erschien 1886) vereinen sich zum »Automate-electro-humain«. Was die Automatenkünstler des Rokoko, was Spallanzani in »Hoffmanns Erzählungen« begonnen, wird hier sozusagen vollendet;
denn die neue Olympia ist keine Puppe mehr, sondern faktisch Ideal von Weib. Trotz Edison ist die Linie freilich nicht modern, der Plan selber: die virgo optime perfecta ist sogar antik. Magisch ist sie im Pygmalion-Mythos gedacht, und Aphrodite war dem Bildhauer gnädig, indem sie die makellose, von keinem organischen Verdruß gestörte Statue belebte. Und weiter, wieder ins Komische gehend: In einem erhaltenen Fragment des römischen Gelehrtenspaßes, in M. Terentius Varros »Befreiter Prometheus « eröffnet der Titan nach seiner Befreiung eine Menschenfabrik, von der Goldschuh, ein Reicher, sich ein Mädchen bestellt »aus Milch und feinstem Wachs, wie die milesischen Bienen es sammeln«. Der Witz ist allerdings der gleiche wie im Edison-Roman, und sein Ziel bleibt der alte Homunculus, der nur sogleich als synthetische Jungfrau gezüchtet wird. Eine eigentlich neue Bahn im elektrisch-utopischen Humorfeld, sogar Paradoxfeld betrat erst H. G. Wells mit seiner »Time-Machine«. Diese Maschine ist auch hinsichtlich ihrer Erzählung viel besser gelungen als Wells' spätere limonadenhaft-liberale Staatsmärchen. Die Zeitmaschine fährt nicht nach rechts noch nach links, sondern einzig auf der Zeitlinie vor und zurück, als nicht mehr imaginärer Raumachse. Der Erfinder schwingt sich im Laboratorium auf das unerhörte Fahrzeug, stellt den Hebel in die Zukunft. Um ihn wird es Nacht, nämlich die kommende, wird es Tag von morgen, wird es in einer Stunde die nächste Woche, wird es künftiger Winter und Sommer, mit wachsender Tourenzahl der Maschine nur noch als Reflex von Weiß und Grün erscheinend. Jahrzehnte werden durchrast, Jahrhunderte. Endlich stellt der Fahrer den Motor in der Landschaft ab, die - auf der gleichen Raumstelle wie sein Zimmer - im Jahre 802701 sein /(511) wird. Dort trifft er völlig harmlose, auf der Kinderstufe stehengebliebene Menschen, singend, tanzend, Blumen flechtend; unter der Erde aber hausen die Morlaken, klebrig-schwärzliche Geschöpfe von weit höherer Intelligenz. Es sind die Proletarier von ehemals, und die Blumenmenschen sind die im Müßiggang verblödeten Reichen, sie werden jetzt von den Morlaken als Viehherde gehalten, als lebender Fleischvorrat. Der Zeitfahrer kehrt nach mancherlei Gefahren aus dem Jahr 802 701 zu seinen gegenwärtigen Freunden zurück, eine Blume in der Hand, die auf der ganzen jetzigen Erde nicht vorkommt. Er verspricht, das Geheimnis der Maschine zu enträtseln, sobald er mit ihr auch die andere Richtung der Zeit, die vergangene, erprobt habe. Doch von dieser Reise, versichert Wells, kam der Fahrer nicht mehr zurück, sei es, daß er sich im Diluvium angesiedelt, sei es, daß er, noch tiefer in die Vergangenheit geraten, einem Ichthyosaurus zum Opfer gefallen sei. Soweit dieser interessante Spaß, er spielt virtuos auf dem populären Zeitbegriff, er spielt weniger virtuos auf dem populären Spießerbegriff, wonach es, »da der Mensch sich nicht ändert«, auch in Jahrhunderttausenden noch Klassen geben wird. Die Klasse der Müßiggänger droben, wenn auch eßbar geworden, der Arbeiter drunten, wenn auch mit der einzig übriggebliebenen Intelligenz, der von Kanalgeschöpfen. Ganz reaktionär aber endet das letzte, das totale Morlaken-Gemälde, das über Wells hinaus Aldous Huxley noch geliefert hat, mit dem ironischen Shakespeare-Titel: «Brave New World«. Einzig Reflexmenschen bewohnen darin die Zukunft, sauber, gefühllos, unsentimental in die Reflexgruppen der Roboter und der Führer eingeteilt. Individuen sind abgeschafft, die Gesellschaft funktioniert als Schaltwerk, und das idiotische Wunschbild, das Huxley als eines der Kommunisten oder der Faschisten hinstellt, ihm angeblich gleichviel, ist sozusagen schreiend komisch. Es erbricht sich dermaßen vor Lachen, daß es nicht einmal Monopolkapitalismus von Vergesellschaftung der Produktionsmittel zu unterscheiden weiß. So ist die liberale Bourgeoisie zu utopischem Humor unfähig geworden; sein Spiel endet in Grausen
und Dummheit. Ist, wie der Individual-Agitator Huxley zeigt, nur noch zu Hoffnungsmord und Anti-Utopie fähig. Halte man sich statt dessen an «L,Eve future«, besonders an /(512) die »Time-Machine«, soweit sie technisch bleibt, und an verwandte Humoresken. Gerade der Sozialismus hat Platz für freiwillig humoristische Wunschbilder echter, künftiger Art; ja sie werden in ihm eine eigene heitere Schriftgattung bilden können, die der moussierenden Projekte. Wenn einmal ein kleines goldenes Zeitalter anfängt zu beginnen, dann wird manches Wunschbild übertreibbar, doch keines mehr karikierbar sein. 32
HAPPY-END, DURCHSCHAUT UND TROTZDEM VERTEIDIGT
Ich möchte einen Cancan tanzen, So frech wie die Pompadour, Denn wir Pariser Pflanzen Denken nur l’amour, l’amour. Offenbach, Pariser Leben Der Kommis hat auch Stunden, wo er sich auf ein Zuckerfaß lehnt und in süße Träumereien versinkt; da fällt es ihm dann wie ein Fünfundzwanzig Pfund aufs Herz, daß er von Jugend auf ans Gewölb gefesselt war wie ein Hund an die Hütten. Wenn man nur aus unkompletten Makulaturbüchern etwas vom Weltleben weiß, wenn man den Sonnenuntergang nur vom Bodenfenster, die Abendröte nur aus Erzählungen von Kundschaften kennt: da bleibt eine Leere im Innern, die alle Ölfässer des Südens, alle Heringsfässer des Nordens nicht ausfüllen, die alle Muskatblüt' Indiens nicht würzen kann. Nesrroy, Einen Jux wiIl er sich machen Man weiß zu gut, die Menschen wollen betrogen werden. Doch dieses nicht nur, weil die Dummen in der Mehrzahl sind. Sondern weil die Menschen, zur Freude geboren, keine haben, weil sie schreien nach Freude. Das erst macht auch die klügeren zeitweise einsinnig, einfältig, sie fallen auf Glanz herein, und es ist nicht einmal nötig, daß der Glanz Gold verspricht, hier kann bereits genügen, daß er glänzt. Schaden macht klug, doch binnen kurzem arbeitet die Sucht wieder und hofft, daß man sie diesmal nicht betrügt. Sie hält sich für den Ernstfall frisch und will ihn /(513) nicht versäumen; unterdessen aber wachsen immer neue, ungebrannte Kinder heran, immer neue Betrüger haken in eine Schwäche ein, die ebenso eine Stärke sein könnte. Denn immerhin hat sie eine Schwäche fürs Glück, fürs Lachen zuletzt und ist nicht der verprügelten Meinung, selten käme etwas Besseres nach. Die Benutzung der Schwäche braucht nicht durch Schwindler zu geschehen, kleinen wie großen Stils. Schönfärben wird überall gesucht, schlechte Bücher sind voll davon. Aber bezeichnenderweise mehrt sich der Zucker gegen das Ende, er steigt sozusagen an oder auf. Das Leben ist bedenklich, doch per saldo soll es sich rentieren. Auch der sonst Gewitzigte wird derart vom Ende gut, alles gut beeindruckt. Viel steht dafür, den Schein am Ende schlechthin zu verurteilen. Im Anblick des Unheils, das er angerichtet hat, heute, in steigender Weise, anrichtet. Wo die Arbeit gar keine Freude mehr macht, muß die Kunst dazu herhalten, Spaß zu sein, fröhlicher Schwindel, aufgesetztes happy-end. Das hält die Hörer bei der Stange; am
Ende der faschistischen Volksgemeinschaft oder des American way of life wird jeder etwas kriegen, und zwar ohne daß das Geringste an der vorliegenden Wirklichkeit geändert werden müßte. Die Besucher der Kinos und die Leser der Magazingeschichten erblicken rosenrote Aufstiege, als wären sie in der gegenwärtigen Gesellschaft die Regel, und nur der Zufall hätte sie für den zufälligen Beschauer verhindert. Ja, das happy-end wird kapitalistisch desto unumgänglicher, je geringer die Aufstiegschancen in der heutigen bestehenden Gesellschaft geworden sind, je weniger Hoffnung diese bieten kann. Dazu kommt die »moralische« Dosierung des guten Ausgangs; denn nicht jeder wird reich und glücklich, soviel Zucker ist selbst in der Magazinwelt nicht da. Sondern nur dem Tugendhaften wird ein Bankkonto, dem Bösen, und nur ihm, ist das Elend vorbehalten; derart findet eine der frechsten Umkehrungen des wirklichen Zustands statt. Das Hotel zum Reichen Mann ist allerorten von Guten bewohnt; das viele Schlechte aber, Hunger, Slums, Gefängnisse, das die herrschende Gesellschaft nicht abschaffen und nicht einmal wegleugnen kann, wird zweckgemäß auf die sittlich Schlechten verteilt. Es sind die allen Sonntagspredigten der gerissenen Erbaulichkeit, nun gänzlich zur Heu- /(514) chelei geworden, zur Schminkindustrie dazu. »Wenn das Geld«, sagt Marx, »mit natürlichen Blutflecken auf einer Backe zur Welt kommt, so das Kapital von Kopf bis Zeh, aus allen Poren blutend schmutztriefend «; also braucht es, je länger, je mehr, Maske für den Ausgang, Glück der Bravheit am Ausgang. Das happy-end ist aber nicht nur verlogen, es ist auch flach geworden wie noch zu keiner Zeit, es beschränkt sich auf das Lächeln der Auto- und Parfümreklame. Gepflegte Herren und Damen zeigen das High-Life einer untergehenden Gesellschaft, ohne daß sich in dieses Ende Süßigkeit des Lebens zusammendrängte wie im Rokoko. Das Glück des bürgerlichen Reichtums ist selber so plump wie leer geworden, sein happiness grenzt in Wahrheit mehr ans Nichts als selbst die Toten. Trotzdem betrügt dies vorgelogene, vorgeschriebene happy-end Millionen, denen es die Jenseits-Vertröstung der Kirche ersetzt, und nur um des Betrugs willen ist es vorgeschrieben. Mit immer neu erwärmter Einbildung soll der arme Teufel, der in goldenen Träumen sich heraufspielt, des Glaubens bleiben, diese Träume seien im Kapitalismus, mindestens in Kapitalismus plus Geduld und etwas Wartezeit sicher erfüllbar. Doch für den kleinen Mann gibt es keinen Börsengewinn des Lebens, jedes Rosenrot endet für ihn als schwarzer Freitag. Es gibt sehr geschicktes kapitalistisches Feuerwerk, nicht nur in optischer Beziehung, dem gegenüber die sozialistische Welt kaum mitkommt. Aber nach all den Blitzschlangen und Sternkästen, venezianischen Prachtbomben und der Königin der Nacht folgt die gewaltige Kanonenschlagbombe, und das ist der Clou wie der Abschluß der Sache. Was immer der Kapitalismus mit happy-end aufzieht, Geschäft wie nie, Großdeutschland, America first, selbst keep smiling, führt in den Tod. Auf platteste Weise wird das Schöne in der Welt der übertünchten Gräber zu des Schrecklichen Anfang. Und trotzdem ist das nur die eine Seite des Scheins, die selber falsche. Ein unüberhörbarer Trieb arbeitet in der Richtung des guten Endes, er ist nicht nur auf die Leichtgläubigkeit beschränkt. Daß Betrüger sich diesen Trieb zunutze machen, widerlegt ihn au fond fast so wenig, wie der «Sozialist« Hitler den Sozialismus widerlegte. Die Betrügbarkeit des happy-end-Triebs besagt nur etwas gegen den Stand seiner Vernunft; dieser /(515) aber ist so belehrbar wie verbesserbar. Der Betrug stellt das gute Ende dar, als sei es in einem unveränderten Heute der Gesellschaft erreichbar oder gar schon das Heute selbst. Doch indem Erkenntnis den faulen Optimismus zuschanden macht, macht sie nicht auch die dringende
Hoffnung aufs gute Ende zuschanden. Denn diese Hoffnung ist zu schwer zerstörbar im menschlichen Glückstrieb begründet, und zu deutlich war sie allemal ein Motor der Geschichte. Sie war es als Erwartung und Aufreizung eines positiv sichtbaren Ziels, um das zu kämpfen wichtig ist und das in die öde fortlaufende Zeit ein Vorwärts schickt. Mehr als einmal hat die Fiktion eines happy-end, wenn sie den Willen ergriff, wenn der Wille sowohl durch Schaden wie eben durch Hoffnung klug geworden war, und wenn die Wirklichkeit in keinem zu harten Widerspruch dagegen stand, ein Stück Welt umgebildet; das heißt: eine anfängliche Fiktion wurde wirklich gemacht. Zuweilen gelang sogar, bei kräftigem Glauben, ein Paradox: der Sieg des Dringlichen über den mächtigen Feind, des Heiteren über das übel Wahrscheinliche. Fehlt der Willensinhalt des Ziels, dann bleibt selbst das gut Wahrscheinliche ungetan; bleibt aber das Ziel, dann kann selbst das Unwahrscheinliche getan werden oder mindestens, für später, wahrscheinlicher gemacht. Nicht einmal das Zerreißen der Kette an ihrem schwächsten Glied gelang und gelingt, wenn den Zerreißenden nicht das Positivum: Anti-Kette gänzlich im Gemüt steht. Die Menschen verkleinern sich, wenn ihr Zweck verkleinert wird, dagegen als großer und heiterer macht er sich in einer Welt unvermeidlich, die nur noch die Wahl zwischen Sumpf oder energischem Neubau vor sich hat. So steht es der roten Farbe nirgends an, freiwillig schüchtern zu sein. Bereits jede Schranke, wenn sie als solche gefühlt wird, ist zugleich überschritten. Denn schon das Anstoßen an ihr setzt eine über sie hinausgehende Bewegung voraus und enthält sie keimhaft. Das ist das einfachste dialektische Zugleich im objektiven Faktor, vorab, wenn er das Bewußtsein der Schranke vervollständigt und aktiviert. Dann gelangt das Bewußtsein vermittelt auf die andere Seite, in den Kampf ums happy-end, wie es im Ungenügen am Vorhandenen sich schon verspürt, fast meldet. Der Unzufriedene sieht dann in Einem, wie schlecht /(516) die kapitalistischen Verhältnisse sind und wie dringend ihn die sozialistischen Anfänge brauchen, wie gut deren Folge sein kann und wird. Dergleichen macht die Schranke zur Staffel, vorausgesetzt, daß die andere Seite, das Glück des Ziels, stets auf dem Weg anwesend bleibt. Und die unabdingbare Einsicht in die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten beglaubigt: diese Gesetze haben, als erkannte und verwendete, das Zeug in sich, zu einem guten Ende zu leiten. Also braucht der Sozialismus auch keine Anleihen bei anderen Farben, Gebräuchen, Mächten, gleich als ob seine eigene Farbe nicht ausreichte. Er braucht das vor allem nicht, wenn diese Farben oder Stellagen so sehr diesseits der überschrittenen Schranke liegen und schon so ganz anderes gestellt haben, daß sie nicht leicht, auch nicht unmißverständlich umfunktioniert werden können. Der Sozialismus, der seinen Weg zum happy-end als eigenen besitzt und hält, ist gerade auch als Kulturerbe eines aus eigener Schöpferkraft, eigenem Fülle-Ziel, ohne Plüsch, ohne geistige Schüchternheit. Das neureiche Bürgertum der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts kam nicht mit Eigenem aus; so trieb es Putz und Ersatz mit Schleifchen, Deckchen, maskierten Häusern und Bildern, unverstandenen Ornamenten, hochherrschaftlichen Fassaden, Historismen; und der Ersatz war danach. Dem Sozialismus, der nie mit fremdem Kalbe pflügt, der die Maskerade wie das Protzentum gesellschaftskritisch entlarvt, ästhetisch verdammt, liegt das alles meilenfern. Gründerzeiten sind hier Fremdkörper, im Sozialismus besonders merkbare; auch zum Kulturerbe geht ihm kein Weg durch die gute Stube. Politisch grenzt das revolutionäre Proletariat nirgends ans Kleinbürgertum, wie sollte es das kulturell? Tatsächlich wird ja auch dergleichen nie praktiziert; denn eine Praxis, die keine realistische Theorie hinter ihr und für sich hat, wäre keine, ist im Sozialismus unmöglich. Ja, auch noch das echte
Kulturerbe nimmt der Sozialismus nicht so auf, daß er damit beginnt und dann auf ihm, als wäre es eine fertige Bel-Etage, weiterbaut, sozusagen. Sondern der Bautrieb ist hier, zum ersten Mal in der Geschichte der Kultur, moralisch, ist der Bau einer Welt ohne Ausbeutung und ihre Ideologie. Weder Kahlheit noch Epigonentum bezeichnen des weiteren dieses Werk, sondern der Farbenakkord Rot und Gold, ein offenbar /(517) herrlich-kühner. Im Rot aber steckt zugleich das Gold, das dem Besten aus der Tradition wahlverwandt macht und ihr Klassisches ausmacht - als wachsenden Gehalt, nicht als ehemalige Lokalform. Darum: frische Luft und große Weite gehören zu diesem Ausgang, als demjenigen, worin auch kein happy-end aus Plüsch mehr hängt und keines aus dem Lorbeerschema des Historismus. Es gibt genug fröhliche Umschlagplätze am Strom zum wahren happy-end; denn dieser fließt einzig durch den Sozialismus. Wie bemerkt, jede Schranke, wenn sie als solche gefühlt wird, ist bereits überschritten. Doch ebenso: keine Schranke wird tätig überschritten, ohne daß gemeintes Ziel in echten Bildern und Begriffen vorherzieht und in dergestalt bedeutende Verhältnisse versetzt. Sieh den Ausgang der Dinge als freundlich an, das also ist nicht immer leichtsinnig oder dumm. Der dumme Trieb zum guten Ende kann ein kluger werden, der passive Glaube ein kundiger und aufrufender. Insofern kann zu einer Verteidigung des alten fröhlichen Kehraus geschritten werden, denn er ladet, streckenweise, zum Essen ein, nicht nur zur Betrachtung. Und dies Essenwollen hat zuweilen gegen die Sperre erst empfindlich gemacht, die sich - in Gestalt der vorhandenen Gesellschaft - zwischen Vorstellung und Lustgelag schiebt. Wogegen Menschen; die überhaupt an kein happy-end glauben, die Weltveränderung fast ebenso hemmen wie die süßen Schwindler, die Heiratsschwindler, die Charlatane der Apotheose. Bedingungsloser Pessimismus also befördert nicht viel weniger die Geschäfte der Reaktion als künstlich bedingter Optimismus; letzterer ist immerhin nicht so dumm, daß er an gar nichts glaubt. Er verewigt nicht das Geschleppe des kleinen Lebens, gibt der Menschheit nicht das Gesicht eines chloroformierten Grabsteins. Er gibt der Welt nicht den todtraurigen Hintergrund, vor dem sich überhaupt nichts zu tun lohnt. Zum Unterschied von einem Pessimismus, der selber zur Fäulnis gehört und ihr dienen mag, verneint ein geprüfter Optimismus, wenn die Schuppen von den Augen fallen, nicht den Zielglauben überhaupt; konträr, nun heißt es, den richtigen zu finden, zu bewähren. Deshalb ist selbst über einen bekehrten Nazi mehr mögliche Freude als an sämtlichen Zynikern und Nihilisten. Deshalb ist der sturste Feind /(518) des Sozialismus nicht nur, wie verständlich, das große Kapital, sondern ebenso die Menge der Gleichgültigkeit, Hoffnungslosigkeit; sonst stünde ja das große Kapital allein. Sonst gäbe es ja, trotz aller Fehler in der Propaganda, nicht die Verzögerungen, bis der Sozialismus in der ungeheuren Majorität zündet, deren Interessen zu ihm gehören, ohne daß sie es weiß. Also ist der Pessimismus die Lähmung schlechthin, während selbst der verrottetste Optimismus noch die Betäubung sein kann, aus der es ein Aufwachen gibt. Noch die Zufriedenheit mit dem Existenzminimum, solange es da ist, die Kurzsichtigkeit im täglichen Kampf ums Brot und die armseligen Triumphe in diesem Kampf stammen letzthin aus dem Unglauben ans Ziel; in ihn daher gilt es, primär einzubrechen. Nicht grundlos hat das Kapital außer dem falschen happy-end seinen echten eigenen Nihilismus zu verbreiten gestrebt. Denn er ist die stärkere Gefahr und kann, zum Unterschied vom happy-end, überhaupt nicht berichtigt werden, außer durch seinen eigenen Untergang. Die Wahrheit ist sein Untergang, als enteignende wie als befreiende, hin zu einer endlich gesellschaftlich möglichen Humanität. So ist denn die Wahrheit, als wegräumende, als Anweisung zum Bau, keineswegs Grämen noch
Eis. Konträr, ihre Haltung ist, wird, bleibt kritisch-militanter Optimismus, und dieser orientiert sich im Gewordenen allemal aufs Noch-Nicht-Gewordene, auf betreibbare Möglichkeiten des Lichts. Er macht die unausgesetzte und tendenzkundige Bereitschaft, den Einsatz ins noch Ungelungene zu wagen. Solange kein absolutes Umsonst (Triumph des Bösen) erschienen ist, ist darum das happy-end des rechten Sinns und Wegs nicht nur unser Vergnügen, sondern unsere Pflicht. Wo die Toten ihre Toten begraben, mag das Grämen mit Recht stattfinden und das Scheitern der existenzielle Zustand sein. Wo Snobs als Verräter sich so lange an der Revolution beteiligten, bis sie ausbrach, mag in der Tat nur mehr zu beten sein: Unsere tägliche Illusion gib uns heute. Wo die kapitalistische Rechnung nirgends mehr aufgeht, mag der Bankrotteur in der Tat veranlaßt sein, einen Tintenklecks über das Heft des ganzen Daseins zu gießen und auszubreiten, damit die Welt insgesamt kohlschwarz aussehe und kein Prüfer den Nachtmacher zur Rechenschaft ziehe. All das eben ist eine noch schlimmere /(519) Täuschung als die der strahlenden Fassaden, die man nicht mehr halten kann. Die Arbeit dagegen, womit die Geschichte weitergeht, ja längst weitergegangen ist, führt zu der gutseinkönnenden Sache, nicht als Abgrund, sondern als Berg in die Zukunft. Die Menschen wie die Welt tragen genug gute Zukunft; kein Plan ist selber gut ohne diesen gründlichen Glauben in ihm.
Ernst Bloch
Das Prinzip Hoffnung Zweiter Band
[Klappentext] Ernst Bloch wurde am 8. Juli 1885 in Ludwigshafen geboren, studierte Philosophie und Physik und lebte zunächst als freier Schriftsteller in München, Bern und Berlin. 1933 emigrierte er in die Tschechoslowakei und 1938 in die USA. Von 1949 bis 1957 war er Ordinarius für Philosophie an der Universität Leipzig und seit 1961 an der Universität Tübingen. 1967 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Als Ernst Blochs «Prinzip Hoffnung« 1959 im Suhrkamp Verlag erschien, war es schon, obwohl bis dahin noch nicht vollständig publitiert, ein berühmtes Werk. Heute ist die Wirkung vielleicht nicht mehr die eines Lauffeuers, aber sie reicht tiefer: Das Antizipieren der Zukunft, das »Träumen nach vorwärts«, das in diesem Werk philosophisch demonstriert wird, hat nicht nur das wissenschaftliche Denken ungemein angeregt, sondern ist tief in das Lebensgefühl der heutigen Generation eingedrungen. Geschrieben 1938-1947 in den USA durchgesehen 1953 und 1959 suhrkamp taschenbuch wissenschaft 3 Dritte Auflage, 26.-35. Tausend 1976 © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1959 Suhrkamp Taschenbuch Verlag
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VIERTER TEIL (Konstruktion) GRUNDRISSE EINER BESSEREN WELT (HEILKUNST, GESELLSCHAFTSSYSTEME, TECHNIK, ARCHITEKTUR, GEOGRAPHIE, PERSPEKTIVE IN KUNST UND WEISHEIT)
/(522) Der Akt-Inhalt der Hoffnung ist als bewußt erhellter, gewußt erläuterter die positive utopische Funktion; der Geschichtsinhalt der Hoffnung, in Vorstellungen zuerst repräsentiert, in Realurteilen enzyklopädisch erforscht, ist die menschliche Kultur bezogen auf ihren konkret-utopischen Horizont. Das Prinzip Hoffnung, S. 166 /(523) 33
EIN TRÄUMER WILL IMMER NOCH MEHR
Zu viele stehen draußen an. Wer nichts hat und sich dabei bescheidet, dem wird auch noch genommen, was er hat. Nur hört der Zug nach dem, was fehlt, nie auf. Wovon geträumt wird, dessen Fehlen tut nicht weniger weh, sondern mehr. So hindert das, sich an die Not zu gewöhnen. Was immer wehtut, drückt und schwächt, soll weg. Ein wenig nur aufzuatmen, das genügte nie lange. Vor allem lebte stets ein Träumen über den kurzen und privaten Tag hinaus. Hier geht also ein anderes an als die Lust, sich so zu putzen, zu siegeln, wie man von seinen Herren gewünscht wird. Hier zeichnet sich ein größeres Bild in die Luft, ein wünschend überlegtes. Auch bei diesem Überlegten wurde weithin geirrt, doch mit ihm kann nicht so weithin betrogen werden. Auch läßt es sich nicht billig abspeisen, sein Wille zielt auf mehr, und dieses Mehr ist es, wonach alles, was er erlangt, schmeckt. So daß er nicht nur über die eigenen, sondern über die schlecht vorhandenen Verhältnisse insgesamt zu leben sucht. Die Sehnsucht hält ihre Kraft fest, gerade als betrogene, auch noch als eine bald hierhin, bald dorthin leerlaufende. Wie sehr erst, wenn der Weg richtig und sorgend vorwärts geht. 34
ÜBUNG DES LEIBS, TOUT VA BIEN Frisch, fomm, fröhlich, frei. Spruch
Nur was klein ist, rückt nach unten. Das Kind hat nichts zu melden, die Frau kocht und wäscht. Der Arme steht krumm, nicht viele werden noch täglich einmal satt. Wie bleiben wir gesund, ist da die Frage, wie nährt man sich gut und billig. Wo ist der /(524)grüne Ast, er kann an anderen gesehen werden, sie sitzen darauf. Vierzehn Tage frei, das ist schon sehr viel für die meisten, dann zurück in ein Leben, das
keiner will. Die frischere Luft steht hier für viel, was strahlen könnte. Sie bietet sich dem Körper an, der ohnehin jedem gehört. Nie wurde mehr Sport gewünscht, getrieben, geplant als heute, nie mehr von ihm erhofft. Er gilt als gesund, das Sportherz hat das Bierherz verdrängt. Gebräunte Haut macht ohne weiteres blühend, bringt Süden oder Höhe fleischgeworden herbei. In Kauf wird genommen, daß Sport in gebliebenen bürgerlichen Zuständen oft verdummt, also schon deshalb von oben gefördert wird. Nicht bloß der freie Wettbewerb, zu dem kein Platz mehr ist, wird im Verbessern der Rekorde ersetzt, auch der wirkliche Kampf um Besserung. Ein kräftiges Bedürfnis treibt die Massen ins Freie, aber das Wasser reinigt nur die Körper, und die Wohnung, zu der der Freiluftmensch abends heimkehrt, ist nicht frischer geworden. Freilich im Vormärz, als das Turnen aufkam, schien der Ruck durch die gelähmten Glieder noch mit einem anderen Ruck verbunden. Stahl, fahr aus dem Rost, aus dem Schlauch der Most, durch den Dunst läuft der Ost, ein Pereat dem Frost, so lautete damals, als Turnen statt Drill kam, ein Sang. Sturm und Drang des Leibs trat in der Bürgerjugend vor, der sogenannte Turnvater Jahn schrieb 1815:»Die Seele des Turnwesens ist das Volksleben, und dieses gedeiht nur in Öffentlichkeit, Luft und Licht.« Vom gestrafften Rückgrat gingen so gefährliche Anregungen aus oder verbanden sich mit ihm, und der junge Turner dachte an Freiheit. Dies Freie allerdings: aufrechter Gang, Kraft, vor dem Feind sich nicht zu ducken, sondern seinen Mann zu stehen, Männerstolz vor Königsthronen, Zivilcourage ist danach nicht gekommen, wie bekannt. Es ist auch nachher arm geblieben, unter Deutschen besonders, weil hier eine Doppelschicht von Herren war, die bourgeoise und die feudale. So entstand der Händler selber als Held, der Bourgeois selber im Stechschritt, und die Nazis, sich gar noch auf den Turnvater Jahn berufend, haben all das vollendet. Leibesübung, ohne die des Kopfs, hieß schließlich: Kanonenfutter sein und vorher Schläger. Es gibt keinen unpolitischen Sport; ist er frei, so steht er links, ist er verblendet, so vermietet er sich an rechts. Und erst in einem un- /(525)geduckten Volk, in einem, wo der tüchtige Leib weder mißbraucht noch als Ersatz für Männerstolz steht, wird Jahns Wunsch sinnvoll. Erst wenn der Schwimmer auch sonst das Gegebene teilt, hat er sich freigeschwommen und liebt das tiefe Wasser. Auch die sportliche Übung bleibt eine wünschende, hoffende. Sie will des Körpers nicht nur mächtig werden, derart, daß an im kein Fett ist und jede Bewegung wohlig-ungehemmt hergeht. Sie will auch mit dem Körper mehr machen, mehr sein können, als ihm an der Wiege gesungen wurde. Das ist in den Sporthaltungen nun anders als in den kosmetischen Haltungen vorm Spiegel, als beim make up, das nachts von den weiblichen Zügen wieder weggewischt wird, oder beim sonstigen Umbau, der mit den Kleidern wieder ausgezogen wird. Der Körper soll gerade nicht verdeckt werden, sondern aus den Verzerrungen und Entstellungen herauskommen, die auch ihm die arbeitsteilige, entfremdende Gesellschaft zugefügt hat. Gewünscht ist ihm mit so vielen, ehemals nur ritterlichen Übungen und so vielen neu gefundenen dazu in der neuen Gesellschaft ein »Gesunden« zu geben. Als eines nämlich, das gar kein Kranksein voraussetzt, das vielmehr das Verb, das Tun von Gesundheit selber ist, ein Heilen gerade ohne Kranksein. Wobei der Sport auch dem bürgerlichen Notzustand enthoben wird, den sogenannten Ausgleich zur überwiegend sitzenden Lebensweise im engeren wie auch weiteren Sinn zu schaffen, die dem Stubenarbeiter eigen ist. Sitzende Lebensweise wird es immer geben, doch ihre Weiterungen, wie sie aus dem Mangel an Freiluft jeder Art herkommen, nicht immer. Es ist ein sportlicher Wunsch, seinen Leib derart in der Hand zu haben, daß noch auf der Sprungschanze, wenn der Mensch fliegt, jede
Lage vertraut ist, auch die neue, übertriebene. Mitnichten baut so der Geist den Körper, doch er hält ihn, oft über das angeborene Maß, in Form. Frisch gewagt, halb gewonnen, das ist freilich leicht gesagt. So wird es dargestellt, als sei es auch leicht zu tun, ja, als zeige der Spruch das Beste, was hier zu tun ist. Denn scheinbar gibt es noch eine andere Art, den Leib mächtig zu machen, diejenige nämlich, welche fröhlich blind von ihm wegsieht. Coué, mit der Devise: Tout va bien, tauchte dergestalt auf (um von völlig läpischen Gesundbetern zu schweigen). Dem Mutigen gehört diese /(526) Art Welt, auch ohne daß er sonderlich mutig zu sein braucht. Durch Tout va bien soll Schnupfen und Schwereres vertrieben werden, gleichsam leicht-sinniger Weise. Der bekannte Reiter auf dem Bodensee erscheint als vorbildlich: indem er so tüchtig wie unwissend über die Gefahr hinritt, kam sie gar nicht zum Zuge, und das Eis unter ihm brach nicht. Hier ist das gefährlihche Vorbild für das Wegsehen vom Übel; indem es ignoriert wird, soll es wie nicht da sein. Allerdings kommt ein Schuß Wahres an der Sache ebenfalls zustande, sobald der Mut nicht blind oder billig ist, sondern - wieder recht sporthaft - Kopf-oben heißt. Je heller hier die Stimmung, je mehr vom Kopf-oben erhofft wird, desto mehr tut dieser Anspruch der Schlappheit Abbruch. Und diese kann sogar der Anfang zu einer Krankheit sein, nicht nur ihre Wirkung. Tout va bien heißt keineswegs: alles ist so gut wie gut, doch zum Traum des Besseren gehört bereits hier, daß ein Wille auf seinem Weg ist. Auch ist nicht einmal unser Leib so beschaffen, daß er unverändert, gleichsam unverlängert auskommt. Diesem Manne kann durchaus geholfen werden, samt dem Weib, auf der planbaren Straße. 35
KAMPF UM GESUNDHEIT, DIE ÄRZTLICHEN UTOPIEN
Der Geheilte muß sich als neuer Mensch fühlen, er müßte gesünder Sein als vorher. Inschrift Ein warmes Bett Was leiblich schwach ist, muß üben statt zu ruhen. Kann nicht wünschen, zu rasten, ohne daß es vollends rostet. Aber der Kranke will durchaus rasten und ruhen, das Bett verbirgt und birgt ihn zugleich. Und schlafend fühlt sich auch der Kranke gesund, nämlich gar nicht. Er ist dann wie der heile Leib selber, der sich nicht einmal im Wachen spürt. Sehr einfach scheinbar, das fortzusetzen, Unbehagen abzuschütteln wie ein Hund das Wasser. Krankes gehört nicht zu uns, ja, es ist etwas schändlich daran, /(527) es ist von der Art eines Alps, über Nacht muß es verschwinden. Nichts anderes als dieses bloße Verschwinden wird zunächst gewünscht, sowie der Schlaf die Müdigkeit fortschafft. Der schmerzende Zahn soll weg, selbst ein krankes Glied soll weg, da gibt es eine selber wieder kranke Lust des Abschüttelns. Wie bei einem geilen Weib, das sich am liebsten noch die Haut ausziehen möchte. Oder auch wie bei Fetten, die sich am liebsten als Gerippe sehen möchten. Der Kranke hat so nicht das Gefühl, daß ihm etwas fehlt, sondern daß er etwas zu viel hat. Das Unbehagen soll als ein Herumhängendes, Überflüssiges weg, Schmerz ist wildes Fleisch. Vom Leib wird geträumt, der wieder auch behaglich zu schweigen weiß. Irre und Märchen
Derart wünscht sich jeder Kranke, im Nu gesund zu werden. Ein ehrlicher Arzt kann ihm das nicht geben, doch immer wurde dies Plötzliche ausgemalt. Morgens im Blut herumgeschwommen, mittags gesund und frisch auf zwei Beinen. Selbst Ärzte hingen Träumen dieser Art nach, meist betrügerisch, oft selber betrogen. Die zwei allgemeinsten Lieblingswünsche der Menschen heißen: jung bleiben, lange leben. Und ein dritter eben ist, beides nicht auf schmerzlichen Umwegen, sondern überrumpelnd, märchenhaft zu erlangen. Indem der Kranke nicht hüpft und springt, tun es desto mehr seine Wünsche. Der. Kurpfuscher lebt von diesem Willen zum Schlagartigen, und dann das wirklich Irre. Ein Arzt stürzte im Nachthemd auf die Straße, rief, die feurige Eule sei gekommen, Tod und Krankheit seien abgeschafft. Heiltränke, Heilwasser, wie abkürzend und kondensiert wirken sie selber, wie gesteigert hat sich das Märchen mit ihnen beschäftigt. Es gibt die Salbe, die mit einem Schlag die Schäden heilt, es gibt den Brunnen, woraus die Alten wieder jung auftauchen, vorzüglich ist er dazu geeignet, das flüchtige Gut der weiblichen Schönheit stetig zu machen. Ein Schlaraffenland aus Gesundem breitet sich aus, ohne Schmerz, mit springenden Gliedern und immer lustigem Magen. Nicht grundlos grenzen Kurpfuscher leicht ans medizinische Märchen an, mit zaubernden Salben, Stäben, Wassern; sie sind allesamt lebende Altweiber- /(528) mühlen. Der Graf St. Germain, der sein Alter, ein blühendes Mannesalter, selber auf viele hundert Jahre ausgab, verkaufte einen «Tee zum langen Leben«; es war ein alltägliches Gemisch aus Sandelholz, Sennesblättern und Fenchel. In höherer Schicht gehörte Mesmer zur Gilde der halb betrügerischen, halb utopischen Abkürzung; er glaubte Krankheiten durch Streichen und sanfte Töne, folglich hypnotisch zu heilen. Und gänzlich zum Erneuerungsgeschäft gehörte, zu Mesmers Zeit, Dr. Grahams »Celestial Bed«, das die Eigenschaft haben sollte, den darin Liegenden durch süßen Schock zu verjüngen; elektrische Ströme, Parfüm und Glasglocken waren in das Gestell eingebaut. Älter und gleichsam solider wirkt der Glaube an wundertätige Kräuter; das Märchen teilt ihn mit dem Volksglauben: eben das Plötzliche, Ungeduldige ist auch der Hoffnung auf Heilkräuter eigen, das Brechende, alles Wendende: die Blätter des Bocksdorn etwa wirken als Pflaster gegen Geschwüre, seine Abkochung soll in einem Aufwaschen gut sein gegen kranke Ohren und faules Zahnfleisch, schlechte Augen und schrumpfende Lippen; wie von fernen Inseln scheint bereits diese so gewöhnliche Pflanze herübergebracht. Es ist, als stünden Kräuter aus Frau Holles Wiese überall umher, und man brauche sie nur kundig aufzugreifen. Ungemeines wurde erhofft und verlangt, nicht nur in der irren, sondern in dieser gleichsam kolportagehaften Heilkunst. Aber nicht zu vergessen: Ungemeines hat auch, bei höchst verändertem Weg, sämtliche groß-medizinischen Pläne begleitet. Es ist immer ein Abenteuerliches und Sonderbares in ihnen, im Gift, das nicht tötet, sondern schmerzfrei macht, im Messer, das nicht mordet, sondern heilt, in Grenzgebilden wie dem künstlich hergestellten Magen. Daß das dermaßen Geflickte oder Ersetzte nicht sonderlich hält und zuverlässig nicht besser ist als das gesunde Organ, macht das Abenteuer nicht geringer, sicher nicht erfolglos. Die Krankheit ist nicht abgeschafft, aber ihr Ende: der Tod, ist verblüffend zurückgedrängt. Wäre das ausgebeutete Leben etwas wert, dem so viele zurückgegeben werden, und holte nicht ein Krieg in Tagen auf, was in Jahren an Sterben versäumt wurde, dann könnte der Arzt seit hundert Jahren halb zufrieden sein. Hier kann gestorben werden, diese Inschrift ist jedenfalls nicht mehr über Krankenhäusern richtig, /(529) sondern über den Staaten, worin sie stehen. Heilen ist ein Wachtraum, dem nur durch die Wiederherstellung der alten Gesundheit ein
Ende gesetzt ist; und gibt es alte Gesundheit? Hier tauchen die eigentlichen medizinischen Träume auf, hier branden sie um einen Felsen, der selber nicht so dauernd ist, wie er scheint. Das Lager, von dem der Kranke aufsteht, wäre erst vollkommen, wenn er erfrischt statt nur geflickt wäre. Arznei und Planung Das bedeutet nichts weniger, als den Leib umzubauen. Als das Leben in Gänge zu leiten, wo es bisher nicht oder nicht so leicht floß. Von vornherein neu, dem Leib hinzugesetzt sind die schmerzstillenden Mittel. Sie waren seit je gesucht; hinzu kommt der Traum des Kranken, während des Eingriffs in seinen Leib nicht anwesend zu sein. Auch der Leib kann seinen Schmerz zuweilen betäuben, so im Schock nach einem Unfall. Doch wird kein Arzt während des Schocks operieren, die Zahl der tödlichen Ausgänge ist zu groß. Anders bei narkotischer Betäubung, bei dieser unnatürlichen, von außen hinzugefügten Wohltat. Und von außen kommen die meisten Arzneien, die pflanzlichen, metallischen, darunter viele umadressierte Gifte. Den Fingerhut etwa schützt sein Gift vor Tierfraß, in der Droge dient es dem kranken Herz: welch ein Umweg, welch weithergeholte Hilfe. Nun gar erst der Schnitt ins Leben, die Entfernung kranken Gewebes, die Vernähung des geöffneten Leibs nach geschehener Veränderung seines Inhalts, die antiseptische Behandlung, der Kampf gegen Bazillen. All das ist künstlich und liegt nicht in der Linie des ohnehin vorhandenen Selbstschutzes, der ohnehin möglichen Regenerierung. Kühnes Planen gehörte dazu, weit davon entfernt, die Dinge hinzunehmen, wie sie sind. Wunschbilder gegen die Krankheit dürften neben denen gegen Hunger die ältesten sein, und von vornherein galt die Heilung als gewonnene Schlacht. Andererseits folgt der hinfällige Körper auch den schönsten Träumen von einem besseren Leben nach; so können sogar die Staatsmärchen, in denen doch sonst keine Not mehr gilt, nicht umhin, die Krankheit und den Arzt zu bedenken. Platons «Politeia« (3. Buch) verlangt vom idealen Arzt sogar, daß er »selbst /(530) auch am eigenen Leib alle Krankheiten durchkosten müßte und selbst keine kerngesunde Natur habe«. Denn nur so könne er aus sich heraus die Krankheiten aus eigener Erfahrung beurteilen, mit freilich unbefleckt gebliebener Seele; »diese allerdings darf nicht schlecht sein, sonst kann sie unmöglich gute Heilung bewirken«. So verstiegen das Verlangen ist, daß der Arzt die Krankheiten, gar alle Krankheiten leibhaftigst kennen müsse, die er heilt, so schließt Platon in die Krankheit doch auch die Behandlung ein, die vom allzu gesunden Arzt allzu unbeteiligt verhängte. Und die Behandlung kann in der Tat nicht nur schmerzhafter, sondern gefährlicher, auch längerandauernd sein als die Krankheit selbst. Auch die neueren Staatsmärchen, Morus' »Utopia«, gar Bacons »Nova Atlantis«, lassen die Heilkunde leichter, schmerzloser, abgekürzter werden, eine Kunst des neu aufgebauten Lebens oder, wenn dieses nicht zu erhalten ist, des mühelosen Tods. Morus zeigt auf einer glücklichen Insel statt der mittelalterlichen düsteren Spitäler freundliche, geräumige Krankenhäuser für alle. Bacon fügt Speisen und Getränke hinzu, die den Körper in nichts mehr beschweren, dazu heilsame Bergluft, künstlich erzeugt, Serum und undeutlich beschriebene Bäder, die aber aus jedem einen Herkules machen sollen. Was desto nötiger, als gerade der vorhandene Körper in diesen Utopien nicht auf der Höhe des übrigen, so reibungslos erträumten Daseins lebt. Im Hintergrund steht deshalb auch hier, gerade hier, der Wunsch, einen weniger anfälligen Leib zu bilden. Wie das zuletzt in einer sehr späten Sozialutopie herauskommt, unverhohlen, in Swesens »Limanora, The Island of Progress«, 1903.Die Herrschaften auf dieser
Insel lachen über den Gedanken, daß Medizin nur therapeutisch sei. Sie sind weit hinaus »over the crude stage of mere cure of disease«, sie greifen in das bloße laissez faire, laissez aller des Körpers zurückhaltend, befördernd, stimulierend, ordnend und umordnend ein. So wird der Arzt hier überall nicht als Schuhflicker gedacht, der schlecht und recht das Alte wieder herrichtet. Sondern er wird als Erneuerer gewünscht, das Fleisch nicht nur von seiner erworbenen, sondern sogar von seiner angeborenen Schwäche befreiend. Denn auch dem gesunden Leib könnte noch viel weiter geholfen werden. In diese Linie gehören alle Pläne, die nicht mit jeweils /(531) einzelner Heilung, sondern mit erstrebter Abschaffung gattungsmäßiger Übel beschäftigt sind. Sie heißen: Beeinflussung des Geschlechts, künstliche Zuchtwahl, Abschaffung des Alterns. Diese Pläne, so utopisch sie sind, werfen freilich zum Teil noch einen reaktionären Schatten. Nicht umsonst schmeckt das Wort »Ertüchtigung« vorläufig mehr nach Kanonenfutter als nach Übermensch. Am stillsten ist es um den Plan für Beeinflussung des Geschlechts geworden, er war lang der lauteste. Dieser Traum ist meist spießig, sucht männliche Stammhalter für Müller und Schulze, als wäre Wappen mit Schwert zu vererben. Er ist überdies sinnlos; denn würden nach dem Wunsch der Eltern selbst mehr Knaben als Mädchen geboren, so würden die Mädchen besonders begehrt, also besonders kostbar, und die Liebesfrüchte kämen im Lauf der Zeit aus dem Wechsel ihrer Geschlechtsteile gar nicht heraus. Zweitens lebte schon vor den Nazis der Plan einer rationellen Züchtung, er erinnert an landwirtschaftliche Versuchsanstalt. Ist doch auch keine unserer Nähr- und Zierpflanzen noch so, wie sie von Haus aus war, alle sind künstlich gezüchtet und verändert. Ebenso die meisten Haustiere, auch sie wurden sozusagen okuliert und gekreuzt, bis das fetteste Schwein oder der schnellste Renner oder auch nur das geduldigste Maultier herauskam. Das nun soll, nach den Mendelschen Regeln der Vererbung, auf den Menschen übertragen werden, es gilt planbewußte Kreuzung, es gilt die besser sortierte Mischung der Erbmasse. Aber: sortiert wird durch Eingriffe in die menschliche Liebe, die als solche nicht aus einer besonderen Auslese der gegenseitigen Keimzellen besteht. Auch wäre es dann nur konsequent, die Liebe abzuschaffen und, wie bei edler Pferdezucht, die Pravazspritze zu verwenden, gefüllt mit dem Sperma der besten Zuchthengste, unter Umgehung der übrigen nicht so rassigen Männer. Campanella hatte in seinem autoritären Staatsroman »Civitas solis«, 1623, die Zeit des Beischlafs durch Sterndeuter bestimmen lassen; die Sterndeuter nun sind unterdessen die Zucht- und Hegemeister geworden. Auch suchen sie nicht bloß die Stunde der Paarung aus, sondern die Paare selber, nach den Auspizien der Erbmasse. Das vor allem mit Rücksicht auf ein Produkt, das der herrschenden Klasse dienlich ist, im Zeitalter des Kleinmenschen am laufenden Band. Solche Zuchtwahl /(532) soll vor der Geburt geschehen, nach ihr aber gelten nicht mehr die immerhin komplizierten Mendelschen Regeln, sondern die schlichten des Mords. Dieser wird angewandt auf alle außerhalb der Norm Stehenden, und Norm war bei den Nazis nur der Esel unten, die Bestie oben. Im noch gehemmten Bürgertum findet sich dafür der Babbit als Maß; alles andere soll, nach der Wertung durch den gleichen Typ, im ungehemmten ausgerottet werden. Dazu also ist die sogenannte Eugenik verkommen; Beethoven, der Sohn eines unheilbaren Trinkers, wäre nach ihr nie geboren worden, und wäre dies trotzdem passiert, so hätte ihn »der Krieg als Züchter« ausgetilgt. Erst eine nicht mehr kapitalistische Gesellschaft könnte im Problemgebiet der Eugenik, mit anderen Mitteln und Maßen der Auslese, nach dem Rechten sehen. Wobei die beste Eugenik vermutlich in guter Kost und Wohnung, in ungetrübter Kindheit besteht. Das befördert Wohlgeratenes, macht
auch die Auslese nach der merkwürdigen Tinktur überflüssig, die man reines Blut genannt hat und die vermutlich nur aus Inzucht herstammt, mit ihren seltenen Vorteilen, überwiegenden Gefahren. Der Adel hat sich sehr lange dieses Sinns eugenisch fortgepflanzt, und er hat sich nicht, rein physiologisch sozusagen, als Gold erwiesen, das durch die lange Reihe der individuellen Umschmelzungen hindurch seinen Wert erhalten oder sich gar immer reiner geläutert hätte. Was den Adel als solchen, nämlich nicht individuell, sondern als Gattung, heraus- und hervorhob, war einzig der Standeskodex, der ihm Verpflichtung und Halt gab, war primär die gute Kinderstube, folglich keine Vererbung. Und dasjenige im Gesicht, zu dem man Herr sagen möchte, kommt dem König Lear nicht vom Stammbaum her zu; in seinen beiden Töchtern zeitigte der Stammbaum vielmehr Hundsföttisches genug. Selbst die Chance zum Adel kommt also nicht von Züchtung her, vielmehr: soziale Hygiene, eine Gesellschaft, in der keine aufrechte Haltung mehr unterdrückt ist, in der keine Gemeinheit sich mehr rentiert, legt ohnehin Noblesse frei, ja nur sie legt sie wirklich frei. Erst recht reüssiert erst hier die »Züchtung« der Genies, dieser wirklichen und allein erwünschbaren » Blutminoritäten «. Solange wenigstens die sonderbare Art »Hormon« oder wie man das nennen mag, was schöpferische Begabung hervorruft, sowohl der Art wie auch /(533) den Bedingungen seines Entstehens nach physiologisch unbekannt ist. Gewiß: vom Vater die Statur, von Mütterchen die Frohnatur, oder auch, in vielen anderen Fällen: Mütterchen zeigte Hysterie, und diese scheint nun wie eine Voraussetzung zur Glanzgeburt. Doch wiederum: wie viele pünktliche Väter, fabulierende Mütter haben nur unauffälliges Wesen hervorgebracht oder wohl gar ärmliches und gebrechliches? Die Blutmischung, welche große Begabung macht, liegt also noch zu sehr im Dunkel, um sie mit einiger Aussicht physiologisch zu befördern und zu ermuntern. Dagegen ist, nach geschehener Glanzgeburt, die Geschichte überfüllt mit jenen ungünstigen Umständen, die die große Begabung verhinderten, sich überhaupt nur wahrzunehmen, dann: sich auszubilden. Allezeit schwamm der größte Teil der Goldfische unten, es gab Tausende von Solons als Viehhirten, von Newtons als Tagelöhner, und niemand kennt ihre Namen. Hier hätte die rationelle Züchtung lange ein soziales Feld, bevor sie das noch weithin undurchsichtige der beherrschten Befruchtung betritt, betreten kann. Die Beherrschung des individuell-biologischen Habitus und die Abschaffung seiner als eines «Schicksals« sind gewiß ein Ziel, doch erst wird diese Planung die wirklichen Slums niederreißen, bevor sie dem Slum des schwächlichen Leibs nahetritt. Alles spricht dafür, auch auf dem Weg organischer Züchtung die Aggressionstriebe zu reduzieren, die sozialen zu befördern; so wie der Nährwert des Getreides, die Süßigkeit der Kirschen gesteigert worden ist. Aber die züchtende Gesellschaft muß selbst erst gezüchtet werden, damit der neue menschliche Nährwert nicht nach den Anforderungen der Menschenfresser bestimmt wird. Reiner, das heißt ohne Menschenfresser, sieht schließlich die dritte Planung aus: der Kampf gegen das Alter. Er greift wohl am kühnsten aus, bei der Frau fängt er früh an. Er will die sonderbare Wunde nicht aufsichtslos lassen, die der Leib sich selber schlägt. Was die Erneuerung verlorengegangener oder schadhafter Organe angeht, ist die menschliche Natur die sprödeste. Nur in seinem Gehirn ist der Mensch das höchstentwickelte Lebewesen, nicht dagegen in anderen organischen Fähigkeiten. Stellt doch in der gesamten organischen Entwicklung Fortschritt häufig auch einen gewissen Rückschritt dar, indem er einseitige /(534) Ausbildungen fixiert. Indem er Organe sich überspezialisieren läßt, so daß Entwicklung nach einer anderen als der festgewordenen Richtung aufhört, ja Fähigkeiten einer früheren
Stufe verlorengehen. Gerade die Fähigkeit des Regenerierens nimmt auf höheren organischen Stufen stetig ab: beim Regenwurm genügen einige Ringe zur Herstellung des übrigen, bei Molchen wachsen noch Beine und Augen nach, bei Eidechsen der verlorengegangene Schwanz. Bei Säugetieren dagegen, beim Menschen ist in diesem Punkt die mütterliche Natur keineswegs freigebig. Die Menschen sind bei Verlust auf Prothesen angewiesen, und die allerstärkste Abnutzung: das Altern, das immerhin bei vielen Tieren so viel später eintritt, ist ihnen die empfindlichste. Auf dieses Feld wurde der Wunschtraum vom Jungbrunnen gelegt, und die Linie darauf zu fand, kurpfuscherisch oder nicht, dauernd Anpflanzung. Der »Tee zum langen Leben« des Grafen St. Germain ist erwähnt, ebenso Dr. Grahams »Celestial Bed« aus dem so aufgeklärten achtzehnten Jahrhundert. Von Persien kam der Rat zur Atemtechnik, von Tibet Atembeherrschung, von den Gesundbetern der Glaube, nächstens im Fleisch unsterblich zu sein. Bescheiden richtig klingt gegenüber solchem der Rat Hufelands in seiner »Makrobiotike von 1796: »Schlaf und Hoffnung sind die beiden besten Elixiere.» Doch fehlte auch unter stofflicheren Elixieren der rationalere Wunschweg nicht: Chinesen nahmen Keimdrüsen von Hirschen und Affen ein, Inder von Tigern; und wirklich entdeckte 1879 Brown-Sequard in der Keimdrüse den vermeintlichen Stoff der Verjüngung, das Hormon. Die weitere Annahme, daß jedes Organ die Stoffe herstelle, die seine Erkrankung heilen (»Dentin», im Zahn, »Cerebrin« im Hirn), fiel rasch dahin; obwohl sie, etwas verändert, von Bier noch in den zwanziger Jahren verteidigt wurde. Aber die Hoffnung, welche die Keimdrüse angefacht hatte, betrog nicht ganz bei Stoffen, welche aus Drüsenorganen selbst ausgezogen werden, sie lassen Krankheiten aus der Unterfunktion dieser Drüsen wenigstens erfolgreich behandeln. Seitdem ging hier ein gänzlich neues medizinisches Traumland auf: 1922 wurde aus der Bauchspeicheldrüse ein Hormon gegen Zucker gewonnen, 1929 aus dem Harn trächtiger Stuten ein Eierstockhormon, das sechsmal so stark ist wie das natürliche. Alle Krankheiten, die auf /(535) Unterfunktion der endokrinen Drüsen beruhen (Hypophyse, Nebenschilddrüse, Schilddrüse, Nebennieren, Eierstöcke und anderen), können in der Tat durch Präparate aus diesen Drüsen behandelt werden. Nur eben mit dem allgemeinst interessanten Traum, mit dem Wirkstoff gegen das Alter, will Erwartbares noch nicht gelingen, trotz Mobilmachung kreuz und quer. Steinach unterband den Samenstrang, erzielte dadurch ein Wachstum der Pubertätsdrüse, die im Übermaß produzierten Hormone gelangten ins Blut; Voronoff überpflanzte Keimdrüsen von Affen. Beides war umsonst, Verjüngung trat zwar ein, doch so vorübergehende, als läge die Ursache des Alterns überhaupt nicht in den Keimdrüsen und als wäre deren Abnutzung selbst nur eine Wirkung unbekannter Ursachen. Bleiben noch Träume um die Thymusdrüse übrig, die Wachstumsdrüse bis zur Pubertät, mit sechzehn Jahren ist sie aufgebraucht, hat nur noch irgendwelche, nicht hinreichend klargestellte Funktionen während der Schwangerschaft. Darin nun, nicht in Keimdrüsen, soll die Verjüngung warten, und Mittel werden gesucht, dies Organ bis ins hohe Alter funktionsfähig zu halten, damit das hohe Alter, wenn kein zeugungsfähiges, so doch ein aufrechtes, lebhaftes, aufgeschlossenes sei. Der utopische Apfel der Verjüngung hängt trotzdem noch in ziemlicher Ferne, und - was Prüfung auf Herz und Nieren angeht - bleibt das Alter fast wie zu Großvaters Zeit auch. Geändert hat sich die Weise, es zu nehmen, nämlich nicht mehr hypochondrisch, nicht mehr übertrieben. Doch das ist ein psychischer Eingriff, keiner vom Unterbau, von den Drüsen und der inneren Sekretion her, aus der wahrscheinlich die Vitalität gespeist wird. Am bewußtesten, auch glücklichsten wird
in der Sowjetunion gegen die herabwertenden Wirkungen des Alters gekämpft; und das aus Gründen, die die kapitalistische Gesellschaft sich gar nicht gestatten kann. Bei ihr, als der konkurrierenden, müssen alte Menschen schon deshalb Platz machen, abtreten, damit die sogenannte jüngere Kraft sich setzen kann. Sozialistisch dagegen wird der Kampf für ein gesundes kräftiges Alter das gleiche wie der Kampf für die Erhaltung wertvoller Kader auf allen Gebieten des großen Aufbaus. »Das Alter», sagte derart Metschnikow, »das unter allen früheren Verhältnissen eine überflüssige Belastung für die Gemeinschaft war, wird nun zu einer /(536) sozial besonders nützlichen Periode der Arbeit. Es kann seine unersetzlichen Erfahrungen den schwierigsten Aufgaben des gesellschaftlichen Lebens zuwenden.« Damit ist eine Zukunft bezeichnet, in der ein bedeutend mögliches Altern an die Stelle des pathologischen getreten ist, ja selbst noch die physiologische Abnahme nicht mehr als unabwendbare anerkannt wird. Die gelungenen sowjetischen Versuche der Wiederbelebung kurz nach eingetretenem Tod greifen selbst in die definitivste Tatsache, die im Leben der Menschen vorkommt, und zeigen sie als verfrüht. Das Leben über seine bisherigen Grenzen hinauszutreiben, über die für unsere Fähigkeiten, ungetanen Arbeiten, Zweckreihen viel zu engen, das ist der Wunsch, der den nach Heilung einschließt und ersichtlich überbietet. Zögerung und Ziel im wirklichen leiblichen Umbau Dem Kranken selber geht sein Wünschen nicht so weit hinaus. Ihm liegt daran, daß das Leiden weggeräumt wird, das ist genug. Er will wiederhergestellt werden, ist zufrieden, wenn er den Schaden los ist, wenn er als der alte wieder aufstehen kann, und verlangt unmittelbar nicht mehr. Ebenso sind dem Arzt, am Bett des Patienten, die Pläne weit gedämpfter als die oben genannten allgemeinen, umbauenden. In jedem besonderen Fall, bei jeder wirklichen Krankheit (das Altern ist ja keine) genügt ihm Rückführung zur früheren Gesundheit. Der Chirurg sieht in seiner Arbeit keineswegs einen Umbau zum Besseren, sondern einen Notbehelf. Der künstliche Magen übertrifft den angeborenen mitnichten, Glücks genug, wenn ein Mensch mit solchen und ähnlichen Prothesen es einige Jahre ohne Beschwerde aushält. Und Glücks genug für den praktisch tätigen Arzt, wenn ein Patient von der interessanten Kegelbahn chirurgischer Möglichkeiten wieder zu seinem Leisten zurückkehrt. Vielleicht fühlte selbst Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand, obwohl er Tischenden mit ihr abschlägt und als Pochwerk auftritt, sich durch diese Prothese nicht nur verstärkt. Hier also ist eine Gegenbewegung gegen den utopischen Umbau des Leibs, gegen den bei gattungsmäßigen Übeln (künstliche Zuchtwahl, Kampf gegen das Altern) so weit vorgewagten. Der praktische /(537) Arzt begnügt sich wesentlich damit, das Ende der Krankheit: den Tod, zurückzudrängen, er kämpft gegen die erworbene Schwäche des Fleisches, nicht gegen die angeborene. Seine Medizin unterwindet sich noch nicht des hohen Amts, so ein Leibverbesserer zu sein, wie es Umbau der Gesellschaft zum Besseren gibt und die riesig verändernden Kühnheiten der anorganischen Technik. Das ist ein starker Unterschied zwischen den medizinischen Wünschen, soweit sie einzeln-praktisch sind, und denen der weitergreifenden Weltveränderung. So können die Eingriffe und Veränderungen noch so kühn sein, das Ziel selbst ist im Bewußtsein der meisten Ärzte stationär: eben Wiederherstellung des status quo ante. Daher denn die Ärzte dem faschistischen Blut- und Bodenruf oft viel leichter verfielen als andere, weniger restaurierende Berufe. Daher auch dem Arzt in den meisten sozialen Utopien eine
bedeutende, durchaus eingreifende Rolle gegeben wird, aber rein ärztliche Utopien wenige erschienen sind oder gar keine; es sei denn, man nehme Hufelands oder Feuchterslebens ruhige Schriften als solche. Sprengende Träume wird man darin nicht finden, sowohl Hufelands «Makrobiotik« wie Feuchterslebens «Diätetik der Seele« enthalten wenig mehr als die Wünsche und Bilder, die ein kluger Mann ohnehin während der Brunnenzeit in den Kolonnaden des Biedermeier gebrauchte. Ein Grund für dieses utopische Zögern mag gegebenenfalls in der ärztlichen Vorsicht und Verantwortlichkeit liegen. Ein anderer Grund liegt gegebenenfalls in dem empirischen Sinn, der mit Vorsicht nahe verwandt ist und der dem beflügelten Geist Blei an die Sohlen heftet. Aber der letzte Grund für die erstaunliche, oft auch selber heilsame utopische Zurückhaltung, neben aller «schöpferischen« Medizin, dürfte philosophisch sein, ob er bewußt ist oder nicht: die Herkunft der europäischen Heilkunde aus der Stoa. Diese Schule vertraute dem natürlichen Lauf der Dinge, wollte ihn nirgends sprengen, überall ihm gemäß werden. Hippokrates, der ältere medizinische Lehrer, wirkte freilich vor der Stoa, aber überliefert wurde auch er durch Galen, das Haupt der stoischen Heilschule. Gesundheit ist nach ihr die rechte Mischung der vier Hauptsäfte des Körpers (Blut, gelbe Galle, schwarze Galle und Schleim), Krankheit dagegen Störung dieses Gleichgewichts. Darin steckt bereits /(538) Glaube ans Gleichgewicht als an einen nur störbaren, aber nicht überschreitbaren Zustand. Galen aber brachte außerdem das ganze stoische Vertrauen auf Natur hinzu, den erstrebten Einklang mit ihr, ohne die geringste Abweichung oder Überholung. »Die Welt hat alles in sich, dessen sie bedarf«, sagt völlig stoisch Plutarch, und so genügsam ist auch unsere kleine Welt, der Leib. Diese Überzeugung hinderte zwar die Stoa nicht, was den Staat angeht, sich einen sehr viel besseren zu denken, eine Art allgemeinen Bruderbund, doch die Leiber in ihm, wenn sie »vernünftig«, das ist naturgemäß lebten, galten als richtig, wie sie sind. Sogar die Krankheiten waren für den stoischen Arzt nicht nur Übel, sondern selber ein Stück Heilung, nämlich von der in den Körper eingerissenen Unordnung; lange wurden von den Galenisten sogar chemische Kuren, als künstlich, abgelehnt. Zweierlei Gegenmittel gegen utopische, auch allzu utopische Kühnheit wirkten von der Stoa schließlich nach: bon sens und Vertrauen auf die natürlichen Heilkräfte. Ein guter Arzt folgt der Natur, unterstützt sie, widerspricht ihr niemals: das ist stoisches Erbe. »Peu de médecin, peu de médecine«: mit diesem Satz aus dem achtzehnten Jahrhundert, der Blütezeit der Klystiere, hob sich schließlich der Arzt selber auf, auch der empirisch mutige, nicht nur der utopistisch übermütige. Und die sogenannte Naturheilkunde begann mit bon sens genug, um dem instinktiven Verlangen nach Luft, Licht, Wasser Ehre zu geben, aber auch mit dilettantischer Verrücktheit genug, um bei der Behandlung mit Weißkäse zu enden. So kommt hier doch wieder ein utopischer Zug heraus, freilich der schlechteste, einer des unwissenden wishful thinking, mit bald abergläubisch werdenden Hoffnungen. Dergleichen ist von der trotzdem eingeborenen ärztlichen Utopie: dem schließlichen Umbau des Leibs so verschieden wie möglich, nämlich das Gegenteil. Aber der Schlag gegen sie kommt doch von naturfrommer Gesinnung her, praktisch-empirisch wie vor allem auch durch das stoische Erbe nahegelegt. Und das Gute an dieser Gesinnung ist zweifellos, daß sie die abstrakte Verbesserei ärztlich fast stets gehindert hat. Gibt es wenig rein medizinische Utopien, so auch keine abstrakten, wie die Staatsmärchen. So ist der geringere utopische Sinn des praktisch behandelnden Arztes doch zum Teil selber /(539) heilsam; denn alles, was vom gewohnten Leben des Leibs sich zu weit, zu künstlich trennt, wird brandig wie ein abgeschnürtes Glied. Verantwortung und stoisches Erbe hielten den Anschluß
ans objektiv Mögliche; anders als oft bei der Eugenik und dem Kampf gegen das Alter. Nur darf diese Gesinnung den anders gründlichen utopischen Mut nicht unterbrechen, ohne den auch in der Heilkunst nichts Großes geschieht. Der Mut bezieht sich gerade nicht-utopistisch auf ursächliche Befreiung von körperlichem Übel. Da die letzte Ursache hier doch nicht in Bazillen liegt oder in dem merkwürdigen »imperialistischen« Wachstum einzelner Zellen und Zellgruppen, wie beim Krebs, sondern eben in der korruptiblen Anfälligkeit und Hinfälligkeit des Fleisches selbst, bleibt der Wunschtraum von dessen Umbau doch unvermeidlich und darum - auch bei Wegblick davon - im Hintergrund. Ja, ein Verdacht entsteht, daß die so sehr nur auf den status quo ante gezielte ärztliche Vorsicht selber nicht ganz geheuer ist. Der Satz darf letzthin gewagt werden: gerade weil der Arzt, auch am einzelnen Krankenbett, einen fast ,wahnwitzigen utopischen Plan vor sich latent hat, weicht er ihm scheinbar aus. Dieser endgültige Plan, der letzte medizinische Wunschtraum, ist nichts Geringeres als Abschaffung des Tods. Der Kranke, der genesen ist, will sich wie neu geboren fühlen. Das meint mehr als: wiederhergestellt, obwohl der Kranke froh ist, wenn er immerhin dieses ist. Heilfroh, wie man sagt, kann er nun wieder seinen Geschäften nachgehen. Wiederhergestellt freilich, aber zu welchem Wieder denn im Lauf seines Lebens? Gibt es überhaupt alte Gesundheit, solche, die nur wiederherzustellen wäre? Ist sie ein dauernder Felsen, zu allen Zeiten fest, so festgemacht wie ausgemacht? Sie ist keiner, Gesundheit ist ein schwankender Begriff, wenn nicht unmittelbar medizinisch, so sozial. Gesundheit ist überhaupt nicht nur ein medizinischer, sondern überwiegend ein gesellschaftlicher Begriff. Gesundheit wiederherstellen, heißt in Wahrheit: den Kranken zu jener Art von Gesundheit bringen, die in der jeweiligen Gesellschaft die jeweils anerkannte ist, ja in der Gesellschaft selbst erst gebildet wurde. Also sind selbst für die bloße Absicht der Wiederherstellung die Ziele des Wieder wechselnd, mehr: sie werden selber erst von der jeweiligen Gesellschaft als «Norm« gesetzt. /(540) Gesundheit ist in der kapitalistischen Gesellschaft Erwerbsfähigkeit, unter Griechen war sie Genußfähigkeit, im Mittelalter Glaubensfähigkeit. Krankheit galt damals als Sünde (daher vor allem die furchtbare Behandlung der Irren, in Ketten und Kerker), also war der sündenarme Mensch der bestgeratene. Also galt Katharina von Siena, die für jeden bürgerlich-aufgeklärten Arzt von heute eine Hysterische ist, als hochgradig normal. Dergleichen heilen zu wollen, darauf wäre kein mittelalterlicher Arzt verfallen, es wäre auch keine Wiederherstellung eines sogenannten ursprünglichen Zustands gewesen, sondern Verwandlung in einen viel späteren, modern-normalen, der damals kaum erst bestand. Auch die Gesundbeterei, so sehr Jesus hier ein Doktor und seine Kirche eine Apotheke ist, wäre in dem, was sie unter Gesundheit meint, frommen Zeiten völlig unverständlich gewesen. Denn das Mittelalter kannte unter seinen Gebeten vielleicht auch schweißtreibende, abführende, krampfstillende, doch keine zu dem Ziel, einen Geschäftsmann wieder leistungsfähig zu machen. Sogar das sogenannte Urwüchsige von damals war, von heute aus gesehen, keineswegs ein »Urbild« von Gesundheit; denn es brachte den Kinderkreuzzug hervor, die Flagellanten und anderes. Dergleichen widerspricht der Waldesfrische und wurde doch zu seiner Zeit genau als die des rechten Christkinds, des rechten Waldbruders betrachtet. Und die sogenannten Primitiven selber? - sie bauen ihren Leib so magisch um, daß er kaum mehr wiederzuerkennen ist, sie meißeln und färben das Gebiß, damit sie nicht, wie sie von den Europäern sagen, »aussehen wie Hunde«, sie erstreben und ehren eine Art Gesundheit, die eher der eines Somnambulen gleichkommt als der eines Sportlers. Eine vorgegebene, gleichbleibende Gesundheit ist derart nirgends
vorhanden; es sei denn in der allgemein-materialistischen und nur darin ewig jungen Formel: Auf einem vollen Bauche sitzt ein fröhlich Haupt. Doch jeder weitergehende Text von mens sana in corpore sano ist keine Erfahrung, sondern ein Ideal, und zwar ein in der jeweiligen Gesellschaft verschiedenes. Also gibt der Arzt jeder jeweiligen Gesellschaft, statt uranfänglich allgemeine Gesundheit wiederherzustellen, dem Kranken vielmehr eine hinzu. Er baut eben jenes Normale wieder auf, das sozial jemals im Schwang /(541) ist, und: er kann es wieder aufbauen, weil eben auch der Leib des Menschen imstande ist, sich funktionell zu verändern, gegebenenfalls zu verbessern. Der Leib wurde bisher nur auf begrenzte, auch fragwürdige Arten von Gesundheit orientiert, auch hat die Gesellschaft eine Menge Krankheiten möglich gemacht (venerische, tuberkulöse, neurotische), von denen die Tierwelt wenig oder gar nichts weiß. Dafür aber meinte der organische Wunschtraum mindestens einen Leib, auf dem nur Lust, nicht Schmerz serviert wird und dessen Alter nicht Hinfälligkeit, als Schicksal, ist. Es ist also dieser Kampf gegen das Schicksal, der medizinische und soziale Utopien trotz allem verbindet. Das Vermögen, verlorengegangene Teile zu ersetzen, ist im menschlichen Körper geringer als bei niederen Tieren, dafür wird erst im Menschen das utopische Vermögen zu bisher nie Besessenem wirksam. Es ist unwahrscheinlich, daß diese dem Menschen so wesentliche Kraft, die Kraft des Überschreitens und Neubildens, an seinem Leib stillsteht. Die Erforschung dieser Tendenz ist freilich nicht möglich ohne Kenntnis dessen, was im Leib selber schon auf sie hin angelegt ist; alles andere wäre Narretei. Indem der Leib sämtlicher Mehrzeller auf den Tod angelegt ist, hängt auch der geheimste medizinische Plan, die Abschaffung des Tods, so völlig in Luft, daß ihm schwindelt. Ebendeshalb erscheint solch ein Plan wahnwitzig und wird, obwohl er mindestens dem Kampf gegen das Altern vorschwebt, nirgends seriös eingestanden. Was verständlich ist, sogar schon ante rem, weil die Fortdauer im Fleisch selbst als Wunschtraum nicht ohne gemischte Gefühle vorkommt, ja nicht ohne Grauen; die Sagen vom Ewigen Juden, vom Fliegenden Holländer zeigen das an. An den sozialen Nicht-Sinn einer sich unaufhörlich überfüllenden Erde braucht gar nicht erst gedacht zu werden: kein Auftritt ohne allen Abgang, keine mögliche Gesellschaft ohne geräumigen Friedhof. Insgesamt, auch ohne Groteske, hängt jedes organische Besserseinwollen in der Luft, wenn das soziale nicht gekannt und berücksichtigt ist. Gesundheit ist ein sozialer Begriff, genau wie das organische Dasein der Menschen, als Menschen, insgesamt. So ist sie überhaupt erst sinnvoll steigerbar, wenn das Leben, worin sie steht, nicht selber von Angst, Not und Tod überfüllt ist. /(542) Malthus, Geburtenziffer, Nahrung Vom Leib allein her wird so kaum eines seiner Übel beseitigt. Darum sind alle nur gesundheitlichen Verbesserer unserer Lage so kleinbürgerlich und kurios, die Rohköstler, die leidenschaftlichen Pflanzenesser, oder auch die mit der Atemtechnik. All das ist Hohn gegenüber dem soliden Elend, gegenüber Krankheiten, die nicht durch schwaches Fleisch, sondern durch starken Hunger erzeugt werden, nicht durch falschen Atem, sondern durch Staub, Rauch, Blei. Sicher gibt es Menschen, die richtig atmen, die mit gut durchlüfteten Lungen und aufrecht getragenem, bis ins hohe Alter beweglichem Brustkorb ein angenehmes Selbstbewußtsein verbinden. Doch vorausgesetzt bleibt, daß diese Menschen Geld haben; was heilsamer für gebeugte Haltung ist als Atemkunst. Die prachtvolle Franziska Reventlow schrieb dieser Art ein Buch über den Geldkomplex, den ursächlich zu beseitigen keiner von
seinem Arzt verlangen kann; er ist der wahre Nimmersatt, der 90prozentige Krebsschaden. Desto interessierter freilich war und blieb die kapitalistische Lust, rein medizinisch in den sozialen Knoten zu schneiden. Die Züchtung, vielmehr dasjenige, was mit ihr angefangen wurde, gibt davon nur das vorerst abschreckendste, nicht das einzige Beispiel. Doch nicht weniger abschreckend ist die Urgroßmutter der imperialistischen Dezimierung, die Malthussche Bevölkerungstheorie. Während keine ausgeführte rein ärztliche Utopie vorliegt, erschien hier eine sozusagen soziale Utopie auf ärztlichem Boden; übrigens von einem Ökonomen, der gar keiner mehr war, sondern bereits der erste Klopffechter für die kapitalistische Wirtschaft. Malthus bestimmte im »Versuch über das Bevölkerungsgesetz», 1798: der Grund des Elends liegt im »natürlichen« Widerspruch zwischen dem grenzenlosen Streben des Menschen nach Fortpflanzung und der beschränkten Zunahme der Nahrungsmittel. Malthus verspricht: Das Massenelend besteht nur so lange, bis ein Volk in vernünftiger Erkenntnis dieses Zusammenhangs seine Vermehrung auf ein Maß einschränkt, das dem Maß des vorhandenen Brotlaibs entspricht. Die proletarische Geilheit also, nicht das Kapital, produziert das soziale Elend; und das sogenannte Gesetz vom abnehmenden Bodenertrag spricht dem proletarischen Sündenbock vollends /(543) das Urteil. Auch erscheint die Krise nur erst als Mangelkrise, unter Annahme sehr langsam wachsender Produktivkräfte, nicht als eine des Überflusses. Trotzdem wurde diese Lehre noch vielfach abgewandelt, ja ein sogenannter Kathedersozialist, Adolf Wagner, verkündete noch in den neunziger Jahren, Malthus habe in allem Wesentlichen recht. Sein Wesentlichstes kam aber erst zur Geltung, als die kapitalistische Zeit erfüllt war und nur noch Gemeinheit mit Lüge und Mord sie strecken kann. Von Hause aus war die Malthus-Theorie schon menschenfeindlich und borniert, Marx hatte als ihr Merkmal bereits »eine tiefe Niedrigkeit des Denkens» attestiert, in beiderlei Sinn, im moralischen wie wissenschaftlichen. Folglich brach im imperialistischen Stadium des Kapitalismus vollends ihre Brutalität aus; gefeiert aber wird sie nicht nur unter amerikanischen Mördern, sondern bei Rechtssozialisten, wie Eduard Heimann, wird sie mindestens entschuldigt, bei besonders schmierigen Faschisten, wie Edgar Salm, sogar georgisch veredelt. Der erneuerte Malthusianismus rechtfertigt den Krieg, die Verschrottung der »überzähligen» Arbeitslosen, die faschistische Ausrottung ganzer Völker, und zugleich soll er jene Proletarier, denen das Dasein, nach dem numerus clausus des Profitinteresses an ihnen, geduldet wird, von den wahren Ursachen des kapitalistischen Elends ablenken. All das macht Malthus dem Endspurt des Kapitalismus empfehlenswert; ist dieser doch ohnehin nicht mehr imstande, originelle Gedanken hervorzubringen, selbst nicht zu seiner Gemeinheit und für sie. Sobald der Wunsch kein progressiver mehr ist, wird er nicht einmal der Vater eines Gedankens, sondern des Anschlags, mindestens der Vertuschung. Das Malthussche, als abgelenkte Diagnose auf unzureichende, gesellschaftlich isolierte Ursachen, ist daher nicht nur Übervölkerungslehre und darauf beschränkt. Denn auch in Kreisen, die von Klopffechterei nichts wissen oder wissen wollen, ersetzt oder verdrängt der lediglich medizinische Rückgriff jenen auf die sozialen Ursachen des Elends. Der Hebel zur Besserung wird hier überall so weit unten, so tief unter dem wirklichen Menschen und seinem Milieu angesetzt wie möglich. Von daher auch ohne buchstäblichen Malthus der interessierte, mindestens ahnungslose Schmalblick, der aus einem Tropfen Blut sozusagen, /(544) ins Laboratorium geschickt, die ganze Krankheit der Menschen zu erkennen glaubt. Vom lebendigen ganzen Leidträger wird weggesehen, besonders aber von den Umständen, worin er sich befindet. Von daher die Überschätzung der Bazillen, als der einzigen
Seuchenerreger; die Mikrobe verdeckte vor allem andere Begleiterscheinungen der Krankheit, schlechtes Milieu und dergleichen; so enthob sie von der Pflicht, auch dort die Ursachen zu suchen. Die Schwindsucht etwa wütet vorzugsweise unter den Armen, doch zöge man das in Rechnung, so müßte die Armut bekämpft werden, als besonders feuchter Fleck; wozu bürgerliche Heilkunde weniger Neigung zeigt. Einseitig ärztliche Abtreibung der Übel ist dergestalt oft nur ein absichtlich oder unabsichtlich gewähltes Mittel, um die wirklichen Übel nicht beheben zu müssen (ut aliquid fien videatur, wie es auf Scheinrezepten heißt). So bezeichnet das gesamte Malthuswesen, auch abgesehen von dem Mann selbst und seiner Lehre, ein ganzes Feld der Verdrängung. Bloßer mechanistischerPflasterkasten, ohne Primat des sozialen Milieus und ohne Plan seiner Veränderung, ohne Pawlow und Kenntnis des ganzen Menschen als eines zerebral-sozial gesteuerten Wesens, das verhindert die Zusammenarbeit von Arzt und roter Fahne, unter Vorantritt der letzteren. Die soziale Frage wird durch geschlechtliche Selbstbeherrschung der Armen am wenigsten gelöst, es muß anders in die Produktion eingegriffen werden und in eine andere. Ein Stück Malthus wirkte auch auf Darwin, der die Übervölkerung ins Tierreich zurückprojizierte; sowjetische Darwinisten haben gerade den Darwinismus von den malthusianischen Fehlern befreit. Bleibt nur der Plan einer Geburtenkontrolle, einer für viele allerdings heilsamen und insofern progressiven. Solange es nämlich kapitalistische Gesellschaft gibt und das Leben in ihr so prekär ist, daß sie dergleichen Einschränkung oder Abtreibung braucht. Solange sie in dem Zustand bleibt, den sie heute hat: nämlich ihre Sklaven nicht mehr füttern zu können. Raum für alle hat die Erde, oder sie hätte ihn, wenn sie mit der Macht der Bedarfsdeckung statt mit der Bedarfsdeckung der Macht verwaltet wäre. /(545)
Die Sorge des Arztes
Dann erst finge auch die ärztliche Arbeit wirklich sauber an. Der Arzt wäscht seine Hände, bevor er beginnt, alle Geräte sind blank, doch das allein hilft nichts. Die Gesellschaft selber ist schmutzig und krank, sie in erster Reihe bedarf klinischer Aufmerksamkeit und Planung. Krankheit ist von hier aus gesehen wirklich schuld, doch nicht die des Einzelnen, sondern der Gruppe selbst. Das könnte auch für den Arzt auf der Hand liegen, wann immer er Slums betritt. Und auch während der Behandlung spricht alles seinem medizinischen Gewissen Hohn: der arme Teufel mit kranker Niere fährt, um seinen Verdienst nicht zu verlieren, auf dem ratternden Lastwagen, die Zähne vor Schmerz zusammengebissen, während der Reiche unter der Steppdecke ruht. Und nach der Behandlung: was ist das Leben der meisten, zu dem der Arzt wieder »leistungsfähig« macht? Was ist eine Gesundheit, die lediglich dazu reif macht, wieder geschädigt, verbraucht, angeschossen zu werden? Ein deutscher Kinderarzt schrieb noch 1931, mit einem common sense, der zu gewissen nichtbürgerlichen Folgerungen führen sollte: »Kurieren, curare, Sorge für jemanden tragen, heißt vermeiden, daß seine Gesundheit überhaupt gestört wird. Ist dies trotzdem geschehen, so soll die cura des Arztes darauf gerichtet sein, den Erkrankten in Verhältnisse zu bringen, die für ihn möglichst günstige sind.» Ein schönes Ziel, ein menschenökonomisches, doch ein erst in der sozialistischen Gesellschaft erreichbares. Wie es jetzt steht, zeigt sich (Amerika ist in der Zahl seiner Geisteskranken führend): der Kapitalismus ist ungesund - sogar für die Kapitalisten. Und erst recht werden erst in einer anderen als der Profitwirtschaft die Träume des Eingriffs und organischen Umbaus entgiftet. Das von der Wiege bis zum Grabe, ja bereits vor der Wiege, all das als Hilfe für das Zoon politikon, aber das
rechte. Es ist marxistisch, bewußt Geschichte zu machen und sie nicht mehr passiv zu erleiden. Ja es ist auch marxistisch, bewußt bereits in das Vorbedingende einzugreifen, woraus die Menschen kommen und worin sie körperlich leben, bevor sie überhaupt geschichtlich auftauchen. Das ist ihr Dasein im Mutterleib, weiter der ihnen von daher mitgegebene körperliche Zustand. Sich /(546) mit ihm nicht mehr abzufinden, wie er gerade geworden, liegt dem Menschen, der nirgends Geschick hinnimmt, nahe. Die Kühnheit liegt ihm nahe, den Leib vor der Geburt bereits in seinen Anlagen richten zu wollen, gleichsinnig mit der Zeit, wie man eine Uhr richtet. Ihn nach der Geburt bewußt, gegebenenfalls verändernd, vital fortzuformen, von der beherrschten inneren Sekretion her oder aus noch unbekannten Bildekräften. Das alles nicht, um die Menschen gleichzumachen, wozu weder Aussicht noch auch Anlaß ist, wohl aber, damit ihr organischer Start nicht viel ungehinderter sei als ihr sozialer. Damit sie nicht Leibeigene ihrer selbst bleiben, nachdem sie es in der Gesellschaft nicht mehr sind. Sie alle möchten Gutgeratene sein, in dem Maß der Freiheit, das ihnen sozial bevorsteht und kommt. Aber als sichtbarste Hoffnung bleibt bei alldem der zentral steuernde Einfluß des Lebens in einer gesund gewordenen Gesellschaft auf die Krankheiten des Geboren- und Erwachsenseins selber, vorzüglich auf deren Verhütung, und auf die Lebensdauer. Ein weiter Weg bis dahin und einer, der vielleicht, was das heikle Fleisch angeht, noch auf lange nicht sehr zufriedenstellend zurückgelegt werden kann. Innerhalb der Leistungsfähigkeit zum kapitalistischen Betrieb wird er zweifellos nicht zurückgelegt; denn Gesundheit ist etwas, das genossen, nicht verbraucht werden soll. Schmerzloses, langes, bis ins höchste Alter, bis in einen lebenssatten Tod aufsteigendes Leben steht aus, wurde stets geplant. Wie neu geboren: das meinen die Grundrisse einer besseren Welt, ,was den Leib angeht. Die Menschen haben aber keinen aufrechten Gang, wenn das gesellschaftliche Leben selber noch schief liegt. /(547) 36
FREIHEIT UND ORDNUNG, ABRISS DER SOZIALUTOPIEN
Die Erde gehört niemand, ihre Früchte gehören allen. John Ball Ich kann mir die gegenwärtige Lage der Menschheit schlechthin nicht denken als diejenige, bei der es nun bleiben könne, schlechthin nicht denken als ihre ganze und letzte Bestimmung. Dann wäre alles Traum und Täuschung; und es wäre nicht der Mühe wert, gelebt und dieses stets wiederkehrende, auf nichts ausgehende und nichts bedeutende Spiel mitgetrieben zu haben. Nur wiefern ich diesen Zustand betrachten darf als Mittel eines besseren, als Durchgangepunkt zu einem höheren und vollkommeneren, erhält er Wert für mich; nicht um sein selbst, sondern um des Besseren willen, das er vorbereitet, kann ich ihn tragen. Fichte, Die Bestimmung des Menschen An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin
die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist. Kommunistisches Manifest I. EINFÜHRUNG Ein schlichtes Mahl Vieles fiele leichter, könnte man Gras essen. Hierin hat es der Arme, sonst als Vieh gehalten, nicht so gut wie dieses. Nur die Luft ist ohne weiteres da, aber der Acker muß erst bestellt werden, immer wieder. In gebückter, mühsamer Haltung, nicht so, wie man feines Obst aufrecht an der Mauer zieht. Sammeln von Beeren, Früchten, freie Jagd sind lange vorbei, wenige Reiche leben von vielen Armen. Beständiger Hunger zieht durch das Leben, nur er zwingt zur Fron, dann erst zwingt die Peitsche. Wäre der tägliche Bissen so sicher wie die Luft, dann gäbe es kein Elend. So aber wächst nur im Traum das Brot wie Laub auf den Bäumen. Vorhanden ist nichts dergleichen, das Leben ist hart, und trotzdem war stets ein Gefühl des Auswegs da, und daß er /(548) möglich sei. Da er so lange nicht gefunden wurde, schwärmte träumerischer Mut nach überallhin aus. Die gebratenen Tauben Ein Leib, der satt ist, hätte über nichts zu klagen. Falls es ihm nicht an Kleidung und Obdach fehlte, also fast an allem. Falls es nicht an Freunden fehlte und falls das Leben leicht und friedlich liefe statt des Unwetters, als das es den meisten geworden ist. Aber nur das Märchen, das immer lehrreiche, und das Staatsmärchen wissen vom Tischleindeckdich, vom Schlaraffenland zu erzählen. Wie der Jungbrunnen in ärztliche Wunschbilder, so reicht das Schlaraffenland in soziale, präludiert ihnen heiter. Alle Menschen sind dort gleich, nämlich gut dran, es gibt weder Mühe noch Arbeit. Gebratene Tauben fliegen ins Maul, jede Taube auf dem Dach ist bereits wie eine in der Hand, alle Dinge und alle Träume sind als Gebrauchsgüter zur Hand. So leben die Schlaraffen angenehm, lassen sich von den Reichen nicht mehr vorsagen, wie wenig beneidenswert Reichtum sei. Wie ungesund der lange Schlaf, wie tödlich die Muße, wie sehr es der Not bedürfe, damit nicht alles Leben stillsteht. Fröhlich hat das Volk sein nahrhaftestes Märchen, sein sinnfälligstes utopisches Modell weiter ausgemalt, sogar karikiert: die Weinstöcke sind mit Bratwürsten zusammengebunden, die Berge haben sich in Käse verwandelt, die Bäche fließen mit bestem Muskatellerwein.Tischleindeckdich, indische Zauberfluren sind hier als öffentliche Einrichtung da, als Glückslage schlechthin. Irrsinn und Kolportage auch hier Nicht zu leugnen, die feurige Eule fliegt auch in diese Bilder herein. Sie fliegt darin weiter als bei den medizinischen Träumen, und: Ende der Not, das klingt nicht verrückt. Aber mehrere Weltverbesserer waren paranoisch oder bedroht, es zu sein, auf nicht ganz unverständliche Weise. Irrsinn, als Lockerung für einen Einbruch des Unbewußten, für Besessenheit durchs Unbewußte, kommt auch an Noch-Nicht-Bewußtem vor. Der Paranoiker ist häufig ein Projektenmacher, und es gibt zwischen /(549) beiden zuweilen auch Gegenseitigkeit. Derart, daß ein
utopisches Talent paranoisch ausgleitet, ja fast freiwillig dem Wahn nachgibt (vgl. Seite 103 ff.). Das Beispiel liefert einer der größten Utopisten, Fourier; bei ihm wachsen neben scharfer Tendenzanalyse die eigentümlichsten Zukunftsbilder. Nicht die Gesellschaft, aber die Natur betreffend, soweit sie in unsere eigene harmonisch-höfliche Ordnung einbezogen ist und mit ihr gleichsam mitsingt. Da plant Fourier, als Draufgabe zur sozialen Befreiung, eine Nordpolkrone, soll heißen, eine zweite Sonne, die dem Norden andalusische Wärme verschaffen wird. Die Krone duftet, wärmt und leuchtet, von ihr geht ein Fluidum aus, das das Meer entsalzt, ja zur Limonade verbessert. Hering, Kabeljau und Auster werden sich, durch Verschiebung der fehlerhaft gelagerten Erdachse, ins Ungemessene vermehren, die Meerungeheuer dagegen zugrunde gehen. Statt der Ungeheuer erscheinen ein Anti-Hai, ein Anti-Walfisch, freundlich-paradiesische Wesen, »die die Schiffe in den Windstillen ziehen«. Auf dem Land aber prophezeit Fourier »einen elastischen Träger, den Anti-Löwen, mit dem ein Reiter, der morgens von Calais auszieht, sein Frühstück in Paris einnimmt, seinen Mittag in Lyon und seinen Abend in Marseille zubringt«. Allerdings sieht man - bei großen Utopisten - der Wahnsinn hat auch Methode, nichtbloß seine eigene, auch die technische einer späteren Zeit: der Anti-Walfisch ist der Dampfer, der Anti-Löwe der Expreßzug, ja das Auto. Ebenso närrisch, ebenso vorwegnehmend ist Fouriers Lehre, daß sich dem Menschen ein neues Organ bilden werde, wenn auch am Ende eines Tierschwanzes, der ihm wachsen wird (Daumier hat von dieser Phantasie eine Zeichnung geliefert). Mittels dieses Organs nehmen Menschen die »ätherischen Fluida« auf, können mit den Bewohnern anderer Sterne in Verbindung treten, während die Planeten sich begatten. Die »ätherischen Fluida» sind durchs Radio unterdessen empfangen worden, obwohl der Rapport mit den Sternen noch im argen liegt, der technische Leib, die Begattung der Planeten erst recht. Der Erscheinung nach sind diese Märchen von denen Jules Vernes, mindestens von den sternhaft-utopischen Kolportagen bei Laßwitz, gar Scheerbart nicht ganz verschieden. Doch es fehlt bei Fourier alle Spielerei; der Farbtopf dieses Ernstes steht in Paranoia, nicht nur in der /(550) Kolportage, freilich wird auch die Kolportage überfärbt durch Paranoia. Spürt man nicht das feine Stück Wahnsinn, das selbst den liberal-utopisierenden Freimaurern des achtzehnten Jahrhunderts beigemischt war, den Bürgern mit Winkelmaß und Pyramiden? Sitzt nicht eine Art Narrenmütze auf dem ganzen Zeremoniell, auf den Zurüstungen und Symbolen, die den jungen Maurer »dem Reich Astraeas« entgegenführen sollen? Sogar Saint-Simon, der große Utopist, streifte in seinen letzten Schriften, den Industriepapst betreffend, leise den Wahn, der Weltverbesserer zuweilen bedroht; ganz in ihn war, in der letzten Phase, sein Schüler Auguste Comte versunken. Comte setzte Saint-Simons Kirche der Intelligenz dermaßen fort, daß nicht nur Menschheit, auch Raum und Erde angebetet werden sollten. Die Menschheit als das »Große Wesen«, der Raum als das »Große Medium«, die Erde als der »Große Fetisch«; Clotilde, Comtes tote Geliebte, wurde die neue Maria. Das sind die Bizarrerien, die einige der energischsten Luftschlösser ornamentieren. Doch sind sie, wie gemerkt, auch der Kolportage nicht ganz fremd, jener Kolportage, die der Staatsroman berührt und zuweilen auf fruchtbare Weise aufnimmt. Fast alle älteren Utopien benutzen Raummaschinen, fast alle neueren die Zeitmaschinen einer exotischen Phantasie, wenn sie ins soziale Traumland fahren. Viele suchen wenigstens in ihrem Titel der glücklichen Insel den Glanz greller Kolportage zu geben. Da gibt es ein »Kingdom of Macaria«, eine so berühmt gewesene »Insel Felsenburg«, ein »Crystal Age«: Namen wie die von Jahrmarktsbuden, worin Meermädchen ferner Gestade gezeigt
werden; auch der Geheimklang einer unsichtbaren Loge, weit draußen, fehlte nicht. Die Märchen von Wunderländern, von Wunschzeiten und Wunschräumen geben hier Glanz; seit Alexander sind die schönsten Utopien in Inseln der Südsee eingebaut, in ein Ceylon des Goldenen Zeitalters, ins Wunderland Indien. Schiffermärchen leihen selbst bedeutenden Sozialutopien, so bei Thomas Morus, die Einkleidung; in diesem Rahmen erscheint Glück, lange bevor die Zeiten dazu reif waren; seit mehr als zweitausend Jahren ist in Utopien die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen abgeschafft. Sozialutopien kontrastierten die Welt des Lichts gegen die Nacht, malten ihr Lichtland breit aus, mit dem gerecht gewordenen /(551) Glanz, worin der Unterdrückte sich erhoben, der Entbehrende sich zufrieden fühlt. Daß dieser phantastisch gemalte Zustand so oft nur in Kolportage vorstellbar war, als der einzig gebliebenen Form des Abenteuers und des verständlich-guten Siegs, überrascht nicht. Es ist der Zustand, wie ihn heute noch der Soldat in Brechts »Dreigroschenroman« als endlich eingetretenen träumt: »Die Gemeinheit verlor ihren hohen Ruhm, das Nützliche wurde berühmt, die Dummheit verlor ihre Vorrechte, mit der Roheit machte man keine Geschäfte mehr.« Sind die Sonneninseln erreicht, durch Irrsinn, Schiffermärchen oder auch nur, in den spätesten Sozialutopien, bei Bellamy oder Wells, durch magnetischen Schlaf hindurch: so geht es auf ihnen, von Prunknatur abgesehen, gar nicht mehr so hoch, es geht mehr normal her. Denn normal, denkt man, ist es doch, oder müßte es sein, daß sich Millionen Menschen nicht durch Jahrtausende von einer Handvoll Oberschicht beherrschen, ausbeuten, enterben lassen. Normal ist, daß eine so ungeheure Mehrheit es sich nicht gefallen läßt, Verdammte dieser Erde zu sein. Statt dessen ist gerade das Erwachen dieser Mehrheit das ganz und gar Ungewöhnliche, das Seltene in der Geschichte. Auf tausend Kriege kommen nicht zehn Revolutionen; so schwer ist der aufrechte Gang. Und selbst wo sie gelungen waren, zeigten sich in der Regel die Bedrücker mehr ausgewechselt als abgeschafft. Ein Ende der Not: das klang durch unwahrscheinlich lange Zeit gar nicht normal, sondern war ein Märchen; nur als Wachtraum trat es in den Gesichtskreis. New Moral Worlds am Horizont Weit von hier nur scheint alles besser, die Dinge sind gemeinsam. So leben die Bürger bei Thomas Morus: mäßige Arbeit, nicht über sechs Stunden, der Ertrag ist gleichmäßig verteilt. Es gibt kein Verbrechen mehr und keinen Zwang, das Leben ist ein Garten, behagliches wie edles Glück hängen offen umher. Streng dagegen geht es im großen Gegenstück zu Morus' Utopia her, in Campanellas Sonnenstaat. Nicht durch Freiheit, sondern durch eine bis ins Einzelnste vorgesehene Ordnung kommt das Glück aller hier ins Lot. Trotz einer noch kürzeren Arbeitszeit als bei Morus, einer nur vierstündigen, und wiederum kommunistischer /(552) Verteilung des Ertrags liegt wohltätige Last der Regel auf jeder Stunde, auch jedem Genuß. Die Regel wird erforscht und aufrechterhalten von Wissenden, besonders astrologisch Wissenden; der Sonnenstaat ist genau ins All eingebaut. Langer Weg von hier, über 1789, über die formelle Freiheit und Gleichheit aller, die folgte und zum härtesten Elend ausschlug, langer Weg zu den Utopisten des Industriezeitalters, zu Owen, Fourier, Saint-Simon. Naturrecht liegt auf diesem Weg, auch Fichtes Traum von einem geschlossenen Handelsstaat, worin jeder de jure, also utopisch in facto, die Lebensmittel und Güter besitzt, auf die er ein Urrecht hat. Aber unterdessen war die Barzahlung das einzige Bindeglied der Gesellschaft geworden, es wurde ein anderes Bindeglied gesucht, etwa die vergessene Brüderlichkeit. Owen wandte sich
zuerst unmittelbar an die Arbeiter und blieb in ihrer Mitte tätig, nicht nur als Fabrikant. Privateigentum, Kirche und die gegenwärtige Form der Ehe vernichten das menschliche Glück; New Harmony kennt sie nicht mehr. Die Kapitalisten der Verteilung und Herstellung: Kaufmann und Fabrikant, gelten als entbehrliche Erscheinungen; statt ihrer sollen Basars entstehen, in denen der Arbeiter nach dem Maß seiner geleisteten Arbeitsstunden die Ware eintauscht, die andere Arbeiter hergestellt haben und die er braucht. Fourier, der andere, härtere Utopist, vormarxistisch in der Schärfe seiner Analyse, Fourier baute Nouveau Monde industriel et soaétaire nicht so sehr auf Menschenliebe als auf Kritik auf. Auf Kritik der bürgerlichen Zivilisation, als der letzten Ordnung, die erschienen ist, sie ist der Fluch, gegen den Fourier das Traumbild der Milde setzt, der verschwundenen Lebensangst. Fourier sah als erster, wie in der bisherigen Gesellschaft die Armut aus dem Überfluß selbst entspringt; Heilmittel ist Auszug in kommunistische Inseln, in die Sozialinseln, die Fourier Phalanxen nennt; und alle sind zusammengestimmt untereinander wie unter der Weltleitung. Eine Art Harmonielehre der Leidenschaften ergänzte die reibungslos entworfene Wirtschaft; harfenklar sollte die neue Welt zusammenklingen. Owen wie Fourier entwarfen ihren Staat (mehr Glücksgruppe als Glücksstaat) föderalistisch; zentralisiert dagegen, wieder mehr der Ordnung als der individuellen Freiheit nahe, erscheint er bei Saint-Simon. Fast glühender als bei Owen /(553) und Fourier geht hier der Haß gegen arbeitsloses Einkommen und das Elend, das es voraussetzt, gegen die feudalen und bourgeoisen Rentiers, wie sie Goya und Daumier gemalt. Alle Liebe gilt der Arbeit, und das Zauberwort Saint-Simons heißt l'industrie. Arbeiter freilich sind bei ihm auch die Fabrikanten, Kaufleute, Bankiers; so fiel das »Systeme industriel«( hinter Owen zurück, der ohne diese Typen auskam. Aber der Industrielle Saint-Simons bleibt nicht privat, er wird ein öffentlicher Beamter und die Gesellschaft insgesamt zur Kirche der Intelligenz. Ausbeutung wird ausgerottet, weil individuelle Wirtschaft ausgerottet wird, an ihrer Stelle blüht das Morgenrot Planland, die selige Schenkung Industrie - mit einem sozialen Hohenpriester an der Spitze. Das alles mithin verläßt das alte Land, mehr oder minder friedlich und schnell. Am schnellsten schien das Behagen zu gelingen, wenn ihm auch noch neue Erfindungen zu Hilfe kamen. Die neueren Staatsmärchen sind oft mit ihnen durchsetzt, Morus malt flache Dächer und große Lichtfenster ins Traumland, Campanella sogar Autos. Es gibt auch Staatsmärchen, die gar nicht so sehr soziale Träume ausmalen als vielmehr technische. So Bacons »Nova Atlantis«, das Land jenseits der Säulen des Herkules, jenseits der bekannten Welt. Dort lebt ein glückliches Volk, glücklich vor allem, weil es sich nicht mit dem begnügt, was die Natur gleichsam als Strandgut abwirft. Sondern die Atlantier dringen in die natürlichen Kräfte selber ein, mit instrumentell aufs höchste geschärften Sinnen, und sie machen sich, nachdem sie einen tiefen Blick getan, das Erblickte dienstbar. Neue Pflanzen und Nutztiere umgeben den Menschen, das Leben wird chemisch verlängert, selbst der alte Vogeltraum ist dort erfüllt, durch Wagen, die sich in die Luft erheben. Ein sozialer Teil dieses Romans, mit seinen vielen offenen Türen nach Morgen, blieb unausgeführt; unbekannt also, durch welche Mittel das riesig gewordene Tischleindeckdich nur Gutes bergab, nicht auch, für feindseligeWünsche, Gift. Rein technische Fortschrittsbilder haben so jederzeit den Fortschritt zu billig, zu gradlinig erscheinen lassen; so wie sie heute, isoliert dargeboten und mit weggelassener sozialer Veränderung, Täuschungen oder Betrugsmittel sind. In den ehrlichen, doch abstrakten Utopien bat der technisch unterstützte /(554) Fortschrittsglaube sehr oft den Schein des ungestörten Gelingens und Fortgangs
erleichtert. Unter allen Utopisten hat nur einer, Fourier, behauptet, daß auch in der besseren Zukunft jede Phase ihre aufsteigende, doch ebenso die Gefahr absteigender Linie habe. Abstrakte Utopie, auch der sogenannte sozialistische Zukunftsstaat, nämlich erst der für Kindeskinder, kennt noch selten rechte Gefahr; auch sein Sieg, nicht nur sein Weg, wirkt dann undialektisch. Das, obwohl über der ersten und berühmtesten, wenn auch kühlsten Utopie: der Platons, unzweifelhaft mehr traurige Stimmung liegt als vertrauensvolle. Freilich wird hier ohnehin Unfreundlichkeit aus dem bestehenden Staat in den idealen hinübergenommen: Abneigung der Oberschicht gegen die Masse. Nicht dieser, als dem Nährstand, dient das Wunschbild, sie soll vielmehr niedergehalten werden. Ein Militärstaat wird erträumt, der auch nach innen einer ist, mit Brahmanen von dieser Welt an der Spitze. Es ist der idealisierte dorische Staat, wenn auch philosophisch gekrönt, wovon Sparta weit entfernt war. Und das »Alles sei gemeinsam«, das bei Platon nicht fehlt, ja von ihm her zum vornehmsten utopischen Stichwort wurde, dies gefährliche Wesen wurde auf die beiden oberen Stände begrenzt; es war ein mönchisches Privileg, keine demokratische Forderung. So ist Zurückhaltung in dieser Utopie, um den Preis allerdings, daß sie die reaktionärste ist, ja überhaupt keine im Märchensinn, im Sinn des Goldenen Zeitalters. Und Zurückhaltung ist selbst in der zweiten berühmtesten Utopie der Antike, in Augustins Gottesstaat. Er war zwar in seinem Heil bereits für Adam und Eva bestimmt, deren Fall hat ihn aber vereitelt, seitdem pilgert der Gottesstaat auf Erden. Er kann als irdischer Staat nicht erscheinen, denn er umfaßt nur die Auserwählten, er ist eine Arche Noah. Sein Frieden ist bedroht und einsam, eingesenkt ins Meer von Gram und Unrecht, woraus die Welt besteht. Aber weder Platons Zurückhaltung, die gewiß teuer erkaufte, reaktionär begründete, noch die pessimistische Augustins haben das sozialutopische Glücksbild in seiner Leichtigkeit sehr betroffen. Die Staatsromane sahen sehr oft mit ihrem Rezept alle Widersprüche gelöst, die Gesundheit ist darin gleichsam starr geworden. Keine frischen Fragen, keine anderen Länder erscheinen weiter am Rand, die Insel ist, obwohl selber zukünf- /(555) tig, gegen Zukunft weitgehend abgedichtet. Das hängt vielfach mit technischem Optimismus zusammen, wie bemerkt, es hängt aber letzthin vor allem mit der Verengerung zusammen, die das Utopische, in dieser seiner sinnfälligsten Aussprache, erfahren hat: Utopie wurde auf die beste Verfassung beschränkt, auf eine Abstraktion von Verfassung, statt im konkreten Ganzen des Seins erblickt und betrieben zu werden. So hat Utopisches vom Staatsroman her außer Leichtmütigkeit oder schwärmerischer Abstraktion auch einen Ressortcharakter erhalten, der seinem alle Reiche durchdringenden Grundstoff völlig unangemessen ist. Statt dessen muß utopisches Wesen, das heißt intendiert vollkommene Bedarfsdeckung, ohne die schalen Wünsche, die zu vergessen sind, mit den tiefen Wünschen, die noch zu wünschen sind und deren Befriedigung auf das so unabstumpfbare Glück immer weiterer menschlicher Füllesteigerung bringt, als ein Totum begriffen werden, von dem die Sozialutopien selbst abhängen. Und zu dem sie am Ende innerhalb ihres Ressorts auch überschießen wollten und mußten, sozial-radikale, unbedingt gute Verhältnisse im Sinn. Dies Totum macht, daß die alten Staatsmärchen noch neu und vielsagend sind, daß noch ihr Irrtum lehrreich ist und ihr Anspruch verpflichtend. Sie erheben den Anspruch, auf den Oscar Wildes Satz sich bezieht: keine Weltkarte sei eines Blicks wert, die das Land Utopia nicht enthält. Die alten Sozialträume malten das Eiland der Abstraktion und der Liebe; wegen beider Eigenschaften sollte auch nichts darauf schwierig sein.
Utopien haben ihren Fahrplan Die Träume, besser zusammen zu leben, wurden lang nur innerlich ausgedacht. Dennoch sind sie nicht beliebig, nicht so gänzlich freisteigend, wie es den Urhebern zuweilen selber erscheinen mochte. Und sie sind untereinander nicht zusammenhanglos, so daß sie nur empirisch aufzuzählen wären wie kuriose Begebenheiten. Vielmehr: sie zeigen sich in ihrem scheinbaren Bilderbuch- oder Revuecharakter als ziemlich genau sozial bedingt und zusammenhängend. Sie gehorchen einem sozialen Auftrag, einer unterdrückten oder sich erst anbahnenden Tendenz der bevor- /(556) stehenden gesellschaftlichen Stufe. Dieser Tendenz geben sie Ausdruck, wenn auch mit privater Meinung vermischt, sodann mit dem Traum der besten Verfassung schlechthin. Die Sozialutopien spiegeln die vorhandene Tendenz zwar lange nicht so bemüht oder gar scharf, wie dies einer anderen Form der Vorwegnahme eigen ist: dem bürgerlichen Naturrecht. Aber sie sind vom Drang zur nächsten Stufe doch keineswegs unabhängig, trotz allem Überfliegen, allem Roman eines unbedingten sozialen Glücks. Sie sprechen betroffen, wenn auch selten konkret vermittelt, vom Bevorstehenden, sie kleiden ihr kommunistisches Endglück in Formen einer jeweils nächsten Tendenz. So bei Augustin, so deutlich bei Thomas Morus und Campanella, bei Saint-Simon. Bei Augustin hat die beginnende Feudalwirtschaft eingewirkt, bei Morus das freie Handelskapital, bei Campanella die absolutistische Manufakturperiode, bei Saint-Simon die neue Industrie. Wenn auch auf jedesmal transparente Weise, mit dem Himmel auf Erden und nichts Geringerem im Sinn. Auch Utopien haben derart ihren Fahrplan, selbst die kühnsten sind in ihren unmittelbaren Vorwegnahmen an ihn gebunden. Verschiedenheit des jeweiligen Standorts kommt hinzu, er beeinflußt den Engländer Morus, den Italiener Campanella ganz entschieden. Morus' Utopie der Freiheit entspricht in ihren nicht-kommunistischen Teilen so der kommenden parlamentarischen Form der englischen Innenpolitik wie Campanellas Utopie der Ordnung der absolutistischen des Kontinents. Dergleichen zeigt: auch der noch so privat aufgehende Traum enthält Tendenz seiner Zeit und der nächsten Zeit in Bildern gefaßt, in allerdings auch hier überschießenden, fast allemal zum »Ur- und Endzustand« überschießenden Bildern. So viel über den sozialen Auftrag und Zusammenhang in der Folge der Sozialutopien; er ist jederzeit stärker als die individuellen Eigenheiten der Utopisten. Und noch weniger als aus den Tiefen des puren privaten Gemüts sind Utopien etwa aus den Schubladen apriorischerMöglichkeiten gezogen, unabhängig von der Geschichte. Alle Möglichkeiten kommen erst innerhalb der Geschichte zur Möglichkeit; auch das Neue ist historisch. Selbst das Novum einer Abschaffung des Privateigentums (die von den meisten Sozialutopien vorweggenommen wird, in jenem nicht mehr aktuellen Teil, der zur /(557) letzten Stufe transzendiert), selbst dies Novum ist nicht apriorisch unwandelbar. Es sieht beim wenig liberalen Platon ganz anders drein als bei Thomas Morus, bei diesem wieder ganz anders als bei Robert Owen. Nicht einmal das Neue selbst, in seiner jeweiligen Dimension, nicht einmal das Utopische, als zum Überbau gehörig, ist invariant. Die »künftigen Zeiten«, wie sie Jakob seinen Söhnen auf dem Sterbebett anzeigt, sind nicht nur ihrem Inhalt, sondern auch ihrem Zukunftsbegriff nach nicht dieselben, die der Chiliast Joachim von Calabrese im dreizehnten Jahrhundert im Sinn hatte, gar die Saint-Simon meint. Invariant ist lediglich die Intention auf Utopisches, denn sie ist erkennbar durchlaufend durch die Geschichte: doch selbst diese Invarianz wird sofort variabel, wenn sie sich über das erste Wort hinaus äußert, wenn sie die allemal historisch variierten Inhalte spricht.
Diese Inhalte ruhen nicht als Leibnizsche possibilités eternelles, von denen der Antizipator bald diese, bald jene herausgreift, sie bewegen sich einzig in der Geschichte, die sie erzeugt. Was für alle utopischen Inhalte gilt, nicht bloß für die sozialutopischen der besten aller Gesellschaften. Die sozialen Wachträume selber, gewiß, sie sind unter den gestalteten noch nicht die bedeutsamsten oder tiefsinnigsten, doch dafür bildet sich in ihnen Utopisches an seiner gesellschaftlichen Basis. So zeigen sie nicht bloß den größten Umfang, sondern sind auch, zusammen mit technischen Utopien, die praktischste Erscheinung menschlicher Wunschlandschaft. Zugleich eine stolze; denn Sozialutopien, selbst in ihren tastenden Anfängen, waren stets imstande, zum Niederträchtigen nein zusagen, auch wenn es das Mächtige, selbst wenn es das Gewohnte war. Letzteres ist ja subjektiv meist noch hemmender als das Mächtige, indem es sich unaufhörlicher und darum weniger pathetisch darstellt; indem es das Bewußtsein des Widerspruchs betäubt, den Anlaß zum Mut herabsetzt. Aber Sozialutopie ist fast allemal im Unterschied von dieser Betäubung entstanden, im Unterschied von jener Art Gewohnheit, die unter Niederträchtigkeiten, gar unter unhaltbaren, die Hälfte moralischer Phantasielosigkeit und das Ganze politischer Dummheit ausmacht. Sozialutopie arbeitete als ein Teil der Kraft, sich zu verwundern und das Gegebene so wenig selbstverständlich zu finden, daß nur seine Veränderung einzuleuchten vermag, Als /(558) Veränderung zu einem Zustand der Gesellschaft, der, wie Marx sagt, nicht bloß die Isolierung vom politischen Gemeinwesen beendet, sondern die Isolierung vom menschlichen Wesen. Die Sozialträume haben sich mit einer Fülle von Phantastik ausgebildet, aber zugleich, wie Engels hinzufügt, mit einer Fülle »der genialen Gedankenkeime und Gedanken, die unter der phantastischen Hülle hervorbrechen«. Bis das Entwerfen der Zukunft bei Marx konkret berichtigt und in den wirklich begriffenen Fahrplan einer fälligen Tendenz gebracht wird, so daß es nicht aufhört, sondern erst kraftvoll beginnt. Ohne die wachsende Fülle der Antizipationen, der noch abstrakten Pläne und Programme, die nun zu erinnern sind, wäre auch der letzte Sozialtraum nicht gekommen. Er befindet sich nun auf der Höhe des Bewußtseins und wird so, erst recht voller Planung, Sozialerwachen. II. SOZIALE WUNSCHBILDER DER VERGANGENHEIT Solon und die bescheidene Mitte Solange man Kind ist, läßt man sich nicht viel gefallen. Anders hält es ein Armer, der an den Druck gewöhnt worden ist. Erst spät kommt ein Gefühl, wie schlecht es die Menschen treiben, und ein Blick, wie es anders sein könnte. Der ist zuerst entweichend, ausweichend, der Einzelne zieht sich möglichst schnell auf sich zurück, bedürfnislos. So sagte Bias, daß er alles Seine mit sich trage; er brauchte nicht viel und verlangte von den anderen nicht viel. Leben ohne Gepäck erschien wirtschaftlich wie gesellschaftlich als das beste, dergleichen wurde nie ganz vergessen. Die Reibung wird gering, Neid wie Übervorteilung hören auf, unter Müßigen fehlt zu beidem der Anlaß. Sinnsprüche aus der Zeit der sieben Weisen meinten hierin alle dasselbe, in übertragenem Sinn wünschen sie sämtlich, der Mensch solle sich bescheiden. Er kann mit Wenigem glücklich sein und nur mit Wenigem; zu großer Besitz, sagt Solon, soll geteilt werden. Nicht Reichtum ist uns wünschbar, sondern Tugend, und sie erst macht das gemeinsame Leben leicht. Niemand ist vor seinem Tod glücklich zu preisen, dieser Satz bedeutet auch, daß
auf Reichtum kein Verlaß ist, /(559) daß er sich weder für einen Einzelnen noch als Zustand vieler empfiehlt. So allgemein und von oben herab das noch alles ist, so sucht es doch eben eine stille Mitte. In ihr sollte das Glück spielen, das jedem das Gleiche gönnt und so besteht. Diogenes und die musterhaften Bettler Wurde das zu fette Leben mager gemacht, wo dann halten? Bei gar nichts, das dem Menschen bisher üblich war, auch nicht bei holdem Bescheiden. Diogenes lebte für alle den Wunsch vor, auf den Hund zu kommen; denn der Mensch und die Gruppe, die er bildet, sind das falsche, künstlich gewordene, Umwege machende Tier. Antisthenes, als Kopf der Kyniker, lehrte die rechte Gemeinschaft von vornherein als eine wie unter Hunden, die zu betteln verstehen und sich nicht genieren; eine freie, sich einfach befriedigende Herde. Alle Menschen sollen als diese lockere Herde zusammenleben, kein Volk vom anderen durch Grenzen getrennt sein. Gold ist abgeschafft, auch Ehe und Hauswesen, äußerste Bedürfnislosigkeit (welche den Hunden freilich nicht eignet) macht die Menschen voneinander und von der Umgebung frei. Indem der als Hund geträumte Mensch nicht mehr in überflüssigen Genuß verwickelt ist, hören seine übrigen Verwicklungen auf. Er wird von den Lebensumständen unabhängig, die um das Leben herumstehen, er und seinesgleichen sind in jeder Lage zu Hause, wenn sie nur eine ungestörte ist, eine möglichst wenig staatliche. Die Freiheit beginnt hier also durchaus nicht kühn und üppig, sie beginnt entlaufend und anstößig. So hat Diogenes aus dem Faß unter anderem öffentlich onaniert, auch nur bedauert, daß er sich den Hunger nicht ebenso einfach vertreiben könne. Krates und Hipparchia, ein Mädchen aus reichem Haus, das mit dem Kyniker das Bettlerleben annahm, haben ihr Beilager in einer Säulenhalle öffentlich vollzogen. Nächst den Hunden erschien als Muster der Väter einfache Sitte, ohne Lebensangst zufrieden. Die Vorzeit mit Schwarzbrot, Milch und Rüben war die einzig gesunde, naturgemäße, und Menschen, die sich zu ihr bekennen, kommen so leicht miteinander aus wie lauter Gesättigte. Auch fällt unter Bedürfnislosen fast jede Arbeit weg, nur ein wenig Schlagen auf das Wasser ist notwendig, um den /(560) nackten Schwimmer oben zu halten. Und eine Stadt aus Fässern, worin der Freie wohnt, macht nicht viel Mühe, damit sie sich neidlos erhält. Vor allem schläft der so Frugale ungeschreckt in der Nacht, wandelt aufrecht bei Tag; denn er siedelt sich nicht in der Nähe von Verhältnissen an, über die er keine Macht hat. Aristipp und die musterhaften Schmarotzer Daneben aber lief und lockte das fröhliche Leben, dem nichts abgeht. Die goldene Urzeit wurde dann nicht als die frugal-gleiche, sondern als die üppig-gleiche gedacht. Statt der rauhen füllt hier genießerische, auch schmarotzende Boheme das rechte Dasein aus. Lust, wurde von ihr gelehrt, ist der menschliche Teil, Genuß um seiner selbst willen, unabhängig von der Stillung des Bedürfnisses, das unterscheidet den Menschen vom Tier. Kraft zu genießen, so wurde hier versichert, erhebt den Menschen über den Hund, übers Tier, über den zufriedenen Entbehrer (Marx hätte das keineswegs verneint). Die menschlichen Wünsche gehen zum Unterschied von den tierischen letzthin auf Orgie, und darin sind sie durchaus naturgemäß. Also lehrte Aristipp, der Kopf der Hedoniker, daß nicht Bedürfnislosigkeit, sondern unbegrenzte, kluge Genußfähigkeit der natürliche
menschliche Zustand sei; und er war zu kultivieren. Hedonische Rasse, im Gegensatz zur kynischen, stand derart auf, und ihr Staat ist geträumt als einer der gegenseitigen oder gönnerischen Egoisten. Unter Gemeinschaften ist die die beste, die dem möglichst hohen Lustgewinn ihrer Bürger am wenigsten hinderlich ist. Die hedonische Gruppe verlangt kein individuelles Opfer, kennt weder Familie noch Vaterland, am wenigstens Verbote, welche den Glückswunsch eines Individuums hemmen oder auch nur von vornherein bestimmen. Das verbindet Kyniker und Hedoniker, die Freigeister der Bedürfnislosigkeit und der Lust; sie sind beide anarchisch. Ihr eigenes Leben soll der Staat sein, den man ordnet, das soziale Leben soll unaufdringlich sein wie Flanieren auf dem Markt. Aristippos freute sich seiner gesellschaftlichen Ungebundenheit, die ihm erlaubte, Bettlermantel und Prunkkleid mit gleichem Anstand zu tragen. Er freute sich, wie Xenophon berichtet, der staatlichen Ungebundenheit seines Wanderlebens, seines ubi /(561) bene, ibi patria, und er setzte sie als vorbildlich. Gebundenheit galt äußerstenfalls innerhalb der Freundschaft, ein späterer Hedoniker, namens Annikeris, lehrte sogar, es solle eine Stadt der Freunde errichtet werden, nicht wegen des Nutzens, sondern wegen des sich erzeugenden Wohlwollens und des Vergnügens, das sich daraus ergibt. Der Demokratisierung dieses an sich aristokratischen Genußbilds kam entgegen, daß ja auch der ärmere Bürger den Nutzen von Sklavenarbeit zog; auf dieser Grundlage konnte eine Kommune des Genusses allgemein vorgestellt werden. Vor allem aber deckte sich das hedonistische Bild viel genauer als das kynische mit den Vorstellungen vom Goldenen Zeitalter, mit den lebhaft erhaltenen. Den Umfang wie die Gewalt, welche die Volkstümlichkeit des Lustbilds angenommen hatte, machte Aristophanes in seiner bösartigen Komödie »Die Vögel« kenntlich. Das Lustbild wurde darin aufsässig, insofern als es nirgends unterkam, nirgends ungestört blieb. Beschlossen doch die Helden der Komödie, Euelpides (Hoffegut) und Peisthetairos (Rätefreund), die mit den irdischen Glücksinseln wenig zufrieden waren, in den Wolken bei den Vögeln zu bleiben und ihnen in der Luft die Gründung eines neuen Staates vorzuschlagen. Doch findet sich in der Komödie auch bereits die anders lautende, bedeutend irdischere und wirklich vorhandene Utopie von damals zitiert. Gegen sie erst richtet Aristophanes seinen Aufwand an Witz: Aus Mangel wird nie mehr ein Mensch vergehen, Denn alles ist Eigentum aller, Brot, Kuchen, Gewänder, gepökeltes Fleisch, Wein, Erbsen, Linsen und Kränze. Dieser Vers - seinesgleichen erschien bereits bei Gelegenheit der verspotteten Wunschbilder (Seite 505 f.) - bezieht sich unzweifelhaft auf Erinnerungen des Goldenen Zeitalters, die damals anfingen, gefährlich und ernsthaft zu werden. Der Vers persifliert mit den Linsen ebenso den plebejischen »Naturstaat« wie mit der Fülle der übrigen Güter das hedonische Ideal, besser: den demokratischen Ausverkauf dieses Ideals. Das gewaltige Rülpsen, das solche Travestien erfüllt, ist gleichsam Epikur im /(562) Volk; die Freiheit soll als Völlerei erscheinen. Sie erschien bei den Hedonikern selber als Wein für alle, soweit sie Menschen sind und nicht Sklaven. Die Lustfreiheit war demokratisch, trotz des schrankenlosen Egoismus; denn das Glück wurde wiederum als großzügig gedacht, als Leben und Lebenlassen, mit höflichguten Manieren. Platons Traum vom dorischen Staat
Ein anderes ist es, solche Wünsche zu verspotten, ein anderes, sie unschädlich zu machen. Letzteres unternahm Platon, derart, daß er den utopischen Trieb ebenso aufnahm wie seine freiheitliche Richtung umkehrte. Platon schrieb die erste ausgeführte Schrift über den besten Staat, die «Politeia«, und diese Schrift ist so durchdacht wie reaktionär. Hier wird nicht mehr vage geträumt, Vages ausgeträumt, doch ebensowenig goldene Urzeit ersehnt und angepriesen. Statt verlorener Freiheit (rustikaler oder üppiger Art) erscheint unerreichte Ordnung: die Träumerei festigt sich mit ihrem Inhalt und wird gebietend. Wobei ihr sogar ein empirisches Modell nicht fehlt, ja das Modell ganz in der Nähe gefunden wird (mit einem Wirklichkeitssinn, der bei dem großen Idealisten überrascht), nämlich in Sparta. Die Liebe zu Sparta und seinen Aristokraten begann nach dem Peloponnesischen Krieg den Interessen der athenischen Oberschicht zu entsprechen, dem Interesse am Abbau der Demokratie. Die herrschende Klasse neigt allemal zum Abbau der Demokratie, sobald die Zustände so geraten, wie Platon sie beschreibt: »Der jetzige Staat zerfällt in zwei Staaten, den der Armen und den der Reichen, die sich mit unversöhnlichem Haß verfolgen. »In solchen Zeiten besteht eine Tendenz zur totalen staatlichen Autorität, zum Polizei- und Ordnungsstaat. Also wurde Platons Utopie (das Paradox einer Utopie der herrschenden Klasse) zur Idealisierung Spartas; die wachsende Klassenspannung empfahl Sparta als den strengsten griechischen Staat, als das Heilmittel aus Autorität. Nährstand, Wehrstand, Lehrstand, diese drei Kasten des platonischen Idealstaats finden sich auf dem Peloponnes vorgebildet; es sind die Heloten, die Spartiaten und der Rat der Alten (Gerusia). So nimmt Platon die volkstümliche Staatsträumerei /(563) auf und kehrt sie um; so baut er ein großartiges sozialutopisches Schiff und gibt ihm Gegenwind; so verlegt er dem Schiff das Land seiner Bestimmung und setzt statt des Goldenen Zeitalters das der schwarzen Suppe. Nur im Vorübergehen erinnert auch Platon ans Goldene Zeitalter als das des Überflusses, ja, er fügt hinzu: erst durch die »Verschlimmerung der Welt« seien Obrigkeit und Gesetze notwendig geworden. Und das berühmte Verdikt über den Naturstaat als einen von Schweinen bezieht sich nicht auf dessen obszönen, sondern auf dessen genügsamen Charakter. Sokrates berichtet im zweiten Buch der »Politeia« über die Genügsamen, und wie ihr gesunder Staat zu beschreiben sei: »Felderbsen und Bohnen wollen wir ihnen vorsetzen, und Myrten und Eicheln sollen sie sich am Feuer rösten, dazu dann einen mäßigen Schluck trinken.« Und Glaukon nennt das darauf »einen Staat von Schweinen, denn andere Dinge würde man diesen auch nicht zum Fressen vorwerfen« - womit also der kynische Staat auch nach Seite seiner Genügsamkeit abgelehnt ist, nicht bloß nach Seite seiner Zuchtlosigkeit und Boheme. Doch gleich darauf geht Sokrates, im selben Buch der »Politeia«, auch gegen den hedonischen Staat, den Schlemmerstaat, an. Er ironisiert als dessen unmännliches Glück: «Die Malerei müssen wir herbemühen und Gold und Elfenbein und alles Ähnliche... Dazu gehören auch alle Jagdhelden, die nachahmenden Künstler, die Dichter und ihre Diener, die Rhapsoden, Schauspieler, Tänzer, Schauspielunternehmer, die Künstler in allerlei Fächern, unter anderem die für Frauenschmuck.« Und dem Goldenen Zeitalter wurde nur insoweit ein höheres Glück zugestanden, als die damaligen Menschen die Vorteile ihrer Lage zur Gewinnung eines höheren Wissens verwertet haben. Keine Saturnalien also haben in Platons Tempelstaat Raum, kein Karneval der Natur, keiner der Kunst und überflüssigen Schönheit: eine durchherrschte Welt geht auf, der Vernunftbau eines ständigen Reichs. Seine Menschen sind von dorischer Härte, seine Ordnung bleibt eben die des spartanischen Aristokratismus.
Selbst die Weiber- und andere Gemeinschaft (der obersten Kasten), selbst diese so gefährlich anmutende Ähnlichkeit des Platonischen Idealstaats mit der kynischen wie hedonischen Anarchie stammt aus dem spartanischen Heerlager. Auch in Sparta konnte ein bejaarter Mann /(564) seiner Frau einen anderen zuführen, ein Unverheirateter vom Freund sich dessen Frau ausleihen; auch in Sparta war der Kriegerkaste der Besitz von Gold und Silber verboten, fremde Vorräte und Werkzeuge konnten mitbenutzt werden. Die Gerusia allerdings, Lykurgs Rat der Alten, gab dem Staat Platons nur den Rahmen ab für seine oberste Kaste, die philosophische; denn auch die ältesten Geronten waren keine Platonischen Akademiker, durchaus das Gegenteil. Wenn also Platon den HerrscherWeisen forderte, wenn er lehrte, der Staat würde nicht eher gut, als bis die Regenten Philosophen oder die Philosophen Regenten würden, so ist das geistfeindliche Modell Sparta in diesem einen Punkt, was den Inhalt des Geronten-Rahmens angeht, allerdings verlassen. Aber es ist bemerkenswert, daß auch die Philosophenkaste in Platons Utopie sich nicht hält: die tief enttäuschte Altersschrift »Nomoi« kommt gänzlich ohne Aristokratie der Bildung aus. Statt dessen wird in dieser Schrift die Idealgesellschaft vollkommen als Polizeistaat gesetzt, jetzt übrigens unter Beibehaltung von Privateigentum und Ehe. Die »Nomoi« sind lehrreich als zurückhaltende, sozusagen gebrannte Sozialutopie; sie begnügen sich mit dem Entwurf des zweit-, ja drittbesten Staats. Wächst freilich in diesem verminderten Ideal, gerade als vermindertem, die Reaktion besonders stark, bis hin zum Strafrecht gegen politische und besonders kulturelle Neuerer: so scheint es fast, als betrachte selbst Platon - konservativst geworden aus Pessimismus solches Ordnungsideal nicht mehr als Ideal. Staatsfindung wie Staatskritik jedoch sind in der »Politeia« wie erst recht in den «Nomoi « ausschließlich an der Idee gestufter Architektur, gestufter Menschenarchitektur orientiert. Und zwar soll dieser Bau schon in der menschlichen Anlage genau vorbestimmt sein. Der Mensch hat danach drei Kräfte oder Teile in seiner Seele, die Begierde, den Mut, die Vernunft. Diese drei Tätigkeitsformen sind wertmäßig von unten nach oben geordnet, daher ist verschiedener Rang schon hier. Begierde, Mut, Vernunft verteilen sich auf Unterleib, Brust, Kopf; sie formen als jeweils überwiegende den hitzigen Charakter der Südländer, den kühnen der Nordländer, den besonnenen der Griechen. Sie formieren unter den Griechen die drei Arten oder Richtungen ihrer Besonnenheit: die Besonnenheit der Begierde /(565) ist der Gehorsam, des Mutes die Tapferkeit, der Vernunft die Weisheit. Aus Besonnenheit kommt griechische Tugend: die Tugend des Gehorsams formiert so weiterhin den Nährstand, die Tugend des Muts den Soldatenstand, die Tugend der Weisheit den Stand der philosophischen Gesetzgeber. Auf diese Weise also soll ein gleichsam naturgewollter Staat entstehen, ein Staat, dessen Gesetz der Natur so wenig widerspricht, daß es die Natur in der sozialen Schicht vollendet und krönt. Sehr zum Unterschied von den Kynikern und Hedonisten leitet Platon aus der Natur folglich kein libertinistisches Naturrecht ab, sondern ein unmittelbar hierarchisches: das Prinzip des Suum cuique steckt in der Physis selbst. Das dritte Buch der »Politeia« behauptet sogar, in buchstäblicher soziologischer Verwendung von Chemie: denen, welche sich zu Regenten eignen, sei Gold in der Seele beigemischt, den Kriegern Silber, den Gewerbetreibenden Kupfer und Eisen. Derart scheint das Suum cuique freilich leicht; auch wird hinzugefügt, daß in der Regel die Kinder den Eltern ähnlich sein werden, so daß nur selten ein Sohn aus niederem Stand «seiner Natur nach« in einen höheren passe oder gar ein Soldatenkind ins Gewerbe. Staatskunst insgesamt ist die Zusammenfügung der charakterologisch-sozialen Grundverhältnisse zu einem
harmonischen Ganzen, zur Harmonie der »Gerechtigkeit«. Man wird der Struktur des Platonischen Idealstaats später noch oft begegnen; denn sie ist die einer ersehnten »Staatssittlichkeit«. Daß es (neben den Sklaven) die breite ausgebeutete Masse der Bauern und Gewerbetreibenden im Idealstaat gab, diese durchdringende Unsittlichkeit wurde durch die Ideologie einer gestuften Gerechtigkeit zugedeckt; wobei die Ausbeutung, wie ersichtlich, durch die Lehre einer angeborenen Bedientenseele (aus unedlem Metall) ideologisiert worden ist. Die oberen Stände ruhen ökonomisch vollkommen auf der Arbeit des dritten Standes, und ihr Kommunismus ist keiner der Arbeit, sondern einer der Nicht-Arbeit: der Polizei und der gelehrten Gerusia. Es ist ja nicht so, als ob Platon dem unteren Stand den Lager- und Klosterkommunismus der oberen Stände etwa nicht «zumuten« wollte; gleich als wäre er zu hart. Er ist ihm vielmehr zu edel, die Banausen sind seiner nicht würdig, sie müssen durchaus weiter Sorge haben, zum Unterschied von der aristokratischen Kom- /(566) mune, die keine Sorge mehr hat, sondern, für ihren Staat, Sorge trägt. Auch die Aufgabe, welche Platon den oberen Ständen zuweist, darüber zu wachen, »daß nicht unbemerkt in den Staat die Armut und der Reichtum sich einschleichen«, - auch diese Abart von Geldaskese, angewandt auf den dritten Stand, hat lediglich die Bedeutung, keine reichen, also gefährlichen Plebejer aufkommen zu lassen. Trotz dieser nicht eben revolutionären Inhalte hat Platons »Politeia« in der Folge nicht aufgehört, wie eine sozialistische, ja kommunistische Schrift zu wirken. Sie galt besonders in der Renaissance als eine Art Anweisung zum Sozialismus, gestützt durch die gewaltige Autorität des großen Philosophen. Ebenso zitiert Thomas Münzer, der Theologe der deutschen Bauernrevolution, Platons Utopie, und zwar im Sinn des Omnia sint communia, nicht im Sinn des Suum cuique. Es ist das ein produktives Mißverständnis: das Goldene Zeitalter-Bild, das Platon spartanisch gewendet hatte, wurde nun wieder urkommunistisch erinnert, und so, als wäre Platon, indem er Kommune als das Beste für seine Adelsstände auszeichnete, auch der Führer zu diesem Besten für alle gewesen. So stellte sich am großen Idealisten gleichsam die »Idee« der sozialen Utopie wieder her, als eine ohne Klassen und Stände. An Ort und Stelle sah Platons bester Staat freilich anders aus; er wunschträumte, im Rahmen Spartas, eher ein mittelalterliches, ja militär-klerikales Kirchenreich als ein sozialistisches Gebilde. Und lange bevor die Freiheit ihren Staatsroman fand, hat Platons »Politeia« Ordnung utopisiert. Eine vollendet spartanische, mit Menschen als SockeIn, Mauern, Fenstern, wobei alle nur dazu frei sind, tragend, schützend, erhellend im Gliedbau zu sein. Hellenistische Staatsmärchen, Sonneninsel des Jambulos Die lebhafteren und volkstümlicheren Wünsche liefen weiter, als wäre nichts geschehen. Kamen sie zu Hause nicht unter, so suchten sie in der Ferne das Ihre und nicht nur im Goldenen Zeitalter von einst und morgen. Sondern diese zeitliche Ferne kleidete sich in räumliche, sie wurde die eines entlegenen Wunderlands. Entscheidend hierfür war die Erweiterung des geographischen Horizonts durch die Feldzüge Alexanders. Die Berichte über Arabien /(567) und Indien, welche Nearch, der Admiral Alexanders, nach Hause schickte, haben den Hoffnungen des Goldenen Zeitalters sozusagen Land gegeben. Die hellenistische Utopie wurde durch die Entdeckung Indiens ganz ähnlich verstärkt und illustriert wie die neuzeitliche durch die Entdeckung Amerikas: der Staatsraum fand einen geometrischen Ort. Auch wird nur noch in einem einzigen utopischen Bericht, in dem des Theopompos über das fabelhafte Meropis, vom Glücksland als einem in der Vorzeit erzählt (wie in Platons
»Kritias « über Atlantis). Aber der merkwürdige, als Fragment erhaltene Roman des Euemeros »Heilige Inschrift« (um 300 v.Chr.) hat zum erstenmal die Fiktion von gegenwärtiger Utopie. Durch die Verbindung mit Schiffermärchen entsteht ein fast paradoxer Gewinn: utopische Anschaulichkeit. Von Arabien fährt Euemeros nach einem bisher verborgenen Land, der Insel Panchaea; dort wird gemeinsam produziert, der Ertrag gleichmäßig verteilt, der Boden (auch dies Motiv tritt zum erstenmal auf) gibt Frucht ohne Bebauung und Saat. Hier lebt ein Volk, dessen Glück und Segen aus dem Zusammenhang mit jener Zeit stammen, als Zeus noch auf der Erde war. Königtum und Obrigkeit, außer der milden von Priestern, sind unbekannt und überflüssig: denn Zeus hatte die Gesetze der Glückseligkeit so vollkommen gelehrt, daß es keiner weiteren Eingriffe von oben bedarf. Aber Euemeros berichtete nicht nur Sozialutopie von einem weit entfernten Land, sondern diese selber war wieder Einkleidung für ein Aufklärungsmärchen über Zeus und die Götter. In einem Tempel will Euemeros eben die »Heilige Inschrift« entdeckt haben, nach der seine Utopie benannt ist: die Göttergeschichte der Urzeit, aus der das weltabgeschlossene Glück Panchaeas übergeblieben ist. Uranos, Kronos, Zeus, Rhea waren Fürsten und Fürstinnen, wurden erst später - genau wie Alexander und die Diadochen zur Zeit des Euemeros - zu Göttern erhoben. Es ist das blanker Atheismus, die Götter wurden wohltätige menschliche Lokalgrößen, haben mit Weltleitung, Himmel und dergleichen nichts gemein, sind Produkte der Fama. In diesem Punkt stand Euemeros der hedonistischen Schule nahe, besonders dem Vorgänger Epikurs, dem ersten griechischen Atheisten Theodoros. Sinngemäß wurde das Glücksland Panchaea auch in dem großen epikureischen Lehr- /(568) gedicht des Lukrez erwähnt (De nat. rerum, 2,417); ein Weihrauchland des Diesseits. Glücksutopie und religiöse Aufklärung werden in diesem Land einheitlich: die irdischen Tyrannen und die Götter, vor allem die strengen, abgehobenen, fallen in gleichem Zug. Lag doch gerade im Zeustempel Panchaeas die Urkunde, die Zeus wie alle Götter als ehemalige Menschen verehren ließ, als Menschen aus einer milderen, fast mutterrechtlichen Zeit, aus einer Zeit, wo auch Zeus noch dem Ackerbau vorstand. Euemeros nun hat wesentlich nur mit dieser Ableitung der Götter aus guten Königen nachgewirkt, nicht mit seinem Staatstraum; doch der Hellenismus brachte noch einen anderen Staatstraum hervor, worin nur Lust und Überfluß selber waren. Unbeschwert von heiligen Inschriften, aber auf verstärkte Weise mit der guten Natur versehen, mit der außer dem Menschen, der auch Euemeros vertraut hatte. Es ist die »Sonneninsel« des Jambulos, ein kommunistisches und kollektives Fest; darum volkstümlich durchaus und doch in seinem politischen Festcharakter neu. Hier mögen auch mehr als volkstümliche, nämlich aufständische Wünsche mitgewirkt haben. Jambulos zeigt keine Spielerei, das erhaltene Bruchstück seiner Schrift ist zugleich kräftig, feierlich und fröhlich. Kehrt Sklaven wie Herren aus, setzt gemeinsame Arbeit und Freude, ist in beidem konsequent. Deshalb blieb dieser Staatsroman auch Jahrhunderte hindurch erinnert, er wurde fast neben den Platons gestellt. Die Fragmente waren der Renaissance wohlbekannt, auch in italienischen und französischen Übersetzungen verbreitet. Einfluß auf Thomas Morus und seine »Utopia« ist wahrscheinlich; Campanellas »Civitas solis« berührt sich mit Jambulos nicht nur im Titel, auch in der kollektiven Gesinnung. Der Kollektivismus bei Jambulos ist ausgeführter und ökonomisch durchdachter als der bei Euemeros. Fabelhafter Naturmythos, nämlich tausendfältige Fruchtbarkeit, fehlt allerdings auch hier nicht. Es ist dies Tropische romanhaft durch die Lage der »Sonneninsel« bedingt, sachlich ist es ein Lückenbüßer für noch unentwickelte Produktivkräfte.
Freilich mag auch dionysischer und Helioskult, aus anderer als der vaterrechtlichen oder Herrenzeit, auf hellenistische Utopie eingewirkt haben. Solche Kulte lebten noch ums östliche Mittelmeer, und /(569) zwar als dionysisch befreiende, als Aufhebung aller Standesunterschiede in Rausch und Fest. Jambulos verlegt seinen Staatsroman auf sieben Äquatorinseln: das Glück aller ist dort durch die völlige Eigentumslosigkeit begründet. Durch Wechsel der Arbeit in regelmäßigem Turnus, durch Beseitigung der Arbeitsteilung, durch überlegte Erziehung zu Einverständnis und Eintracht. Sklaverei ist ebenso abgeschafft wie jede Art von Kaste und Platonischer Kastenutopie; gleiche Arbeitspflicht gilt für alle, eine in der Antike, auch in der ihr nachfolgenden Feudalgesellschaft ganz unerhörte, rückwärts wie vorwärts vereinsamte Forderung. Daß hierbei selbst für Haus, Hof, Familie keine abgesonderten Wirtschaftsformen übrigbleiben, vollendet das Kollektivbild dieser Utopie, der letzten und radikalsten, zu der es die Antike gebracht. Was das Fest noch an Verbindendem enthielt, sollte auch die Arbeitspflicht beseelen und fröhlich machen; die tropische Natur half mit, fügte dem Turnus der Arbeit Überfluß und Mühelosigkeit hinzu. Die sieben Äquatorinseln wirken darum durchaus, als lägen sie im Land des kürzesten Schattens, im Weinland ohne Mein und Dein, wo noch eine dionysische Sonne scheint, eine verschmelzende. Helios leuchtet hier gleichmäßig über Gerechte und Ungerechte, beseitigt die Gerechtigkeit des Suum cuique, als wäre er wirklich ein Wohltäter aus dem Goldenen Zeitalter, ja es selbst. Stoa und internationaler Weltstaat Die bisher gesehenen Träume waren in Einem noch bescheiden, gewissermaßen. Sie siedelten sich auf einer Insel an oder in einer Stadt, gingen darüber nicht hinaus. Die Insel war zwar die vorbildliche schlechthin, sie machte aufreizend sichtbar, wie ein Gemeinwesen sein sollte, ja fast: sein könnte. Doch hielt sich das Vorbild in kleinen Verhältnissen, es verlor in sich den griechischen Stadtstaat nicht. Das änderte sich mit den stoischen Staatsentwürfen, sie haben größere Räume für sich, zuletzt sogar römische. Das allerdings auf Kosten des ausgeführten, sicher des radikalen Inhalts, auch des Feuers, das von einer Person auszugehen pflegt, nicht von einer Schule. Die Stoa ist ein langes und weitschichtiges Schrifttum, sie war zwar wirksamer als Platon /(570) und Aristoteles zusammen, hat aber zum Unterschied von deren Schulen keinen Stern ersten Ranges in der Mitte (wie der weitschichtige Neuplatonismus in Plotin). Dazu kommt die dreifache, wenn auch zusammenhängende Erscheinung der Schule: die griechische mit Zenon und Chrysippos, die hellenistische mit Panaitios und Poseidonios, die römische mit Epiktet und Seneca. Trotz dieser Weitschichtigkeit zeigt aber die Stoa als geschichtliche Erscheinung etwas von dem Konzentrierten und Unerschütterlichen, das sie in ihrer Lehre dem Weisen zuteilte. So überdauert sie das Alexandrinertum, diesen merkwürdigen Wintergarten Griechenlands, wird im antiquarischen Treibhaus keinesfalls verzwickt und weichlich. Wird in der ungeheuren Verarbeitung des Wissenstoffs, worin die Stoa mit Alexandrien wetteiferte, auch vielfach einig ging, keineswegs selber leblos, gelehrtenhaft, parteilos. Behält Männlichkeit, Bezug zur Praxis, bei aller Abstraktion, erlangt Zeit- wie Zukunftsnähe, ist reif für Rom, selbst noch für den christlichen Bruch mit Rom. Die Stoa zieht besonders in ihren Sozialträumen Konsequenz aus geschichtlichen Wendungen, sie ideologisiert und utopisiert zugleich deren Tendenz. So eben im Bild, das Zenon um 300 v.Chr. entworfen hat, im Bild des idealen Weltstaats, des Staats aus Humanität (dieser
Begriff wurde erst von Panaitios in der Gesellschaft des jüngeren Scipio gebildet). Der Idealstaat sollte so groß wie so gut sein, daß sich neben ihm überhaupt nichts anderes sehen lassen konnte; er steckte als erste Utopie die Fahne der Universalrepublik, später der Universalmonarchie aus. Platons utopische Polis wollte zeitlos seiend sein wie die Idee des Guten; das Alexanderreich, das römische Weltreich fügten utopische Breite hinzu. Der Auszug aus kleinen Verhältnissen begann bereits in Zenons Sozialutopie; als Untergang und Übergang der griechischen Polis, auch der utopisierten, zum Alexanderreich, dem übernationalen. Plutarchs Rede de fortuna Alexandri bringt noch in spätem Rückblick, mit der üblichen kausalen Umkehrung von Wirklichkeit und Reflex, Alexandergeschichte mit Erinnerungen aus Zenons »Politeia« zusammen. Alexander erscheint hier als Vollzieher des stoischen Idealstaats, er wird dargestellt, wie er »in einem festlichen Mischkrug« Leben, Gesinnung, Ehe, Lebensweise der Völker zusammenbringt. Wie er sie lehrt, die /(571) Guten überall für Verwandte, die Schlechten überall für Fremde, die Ökumene für ihr Vaterland zu halten. Das Alexanderreich zerfiel sehr rasch wieder in Einzelstaaten, doch nach den Punischen Kriegen stieg Rom auf, und sein Imperialismus führte einen noch viel gewaltigeren Mischkrug mit sich. Auch für Rom: wie die griechische Nation im Alexanderreich unterging, so die lateinische in Cäsars Mittelmeermonarchie. Das Schicksal selber, die der Stoa so wichtige und noch als Ordnung erscheinende Tyche, schien die römische Vergrößerung zu enthalten. Der der Stoa nicht fernstehende Historiker Polybios datiert so vom Zweiten Punischen Krieg an eine ganz andere Weltlage: bisher waren die Ereignisse verzettelt, nun hängen sie gleichsam körperlich zusammen, mit groß gelingendem Zug. Die Tyche läßt bei Polybios die Weltläufte konvergieren, schafft für alle ein raum-zeitliches Gesamtschicksal: Rom. Pax romana und stoischer Universalstaat ergänzten sich am Ende derart, daß kaum recht unterscheidbar, wo gefügiger oder aber patriotischer Kompromiß der stoischen Literaten dann anfängt, wenn ihre kosmopolitische Utopie schließlich wie das Römische Reich selbst aussieht (»unter Absehung seiner menschlichen Schwächen«,wie Cicero sagt). Es ist gewiß nicht die erdrückende Militärmacht, wohl aber das Universale, die Ökumene, welche Rom der Stoa verführerisch machte. Wobei eine zwar rigorose, doch spitzfindige und keineswegs rebellische Schule es durchaus ertrug, wenn diese Verführung ihr nützlich war; wenn Utopie des Bruderbunds späterhin, in wieviel rhetorischen Darbietungen, zur Lobrednerei des römischen Imperiums überging. Zenon hatte bereits den Weltstaat prophezeit; dies in betontem Gegensatz zur Enge der Platonischen Polis, auch zu ihrer Kasten-Enge. Und wenn Zenon die Individuen sogar mit dem Universum verknüpft hatte unter Überspringung von Völkern, so erst recht bereits unter Überspringung von Grenzen. Er ging von einzelnen, innerlichen, sittlich frei gewordenen Menschen aus. Ihnen sollte ein Verband werden, ein riesiger, darin wurden die weniger Weisen durch Vorbild erzogen. Zenon duldet in seiner »Politeia« keine Münze, keine Macht über Menschen, nicht Gerichte, nicht einmal Ringerschulen. Chrysippos nannte alle bestehenden Gesetze und Verfassungen falsch, vor /(572) allem wegen der Macht, die sie enthalten, mit der sie sich erhalten. Ein Dasein ohne gesetztes Recht, ohne Krieg, wiederum das Goldene Zeitalter wird erträumt, und Freundschaft, wie in kleinen Kreisen, so in groß verbundenen, bürgt für ungestörten Zusammenhang. Vom Besonderen dieser Utopie, auch von den phantastischen Teilen, zeigen die erhaltenen Fragmente nur ein blasses Bild. Doch ist wegen der Innerlichkeit, von der sie ausgeht, wegen der Gleichgültigkeit, wegen der gespielten und echten Verachtung der Stoa gegen die äußeren Umstände wahrscheinlich, daß die Utopie
mindestens ökonomisch unausgeführt blieb. Und was das Politische angeht, die »beste Verfassung«, so wurde die Stoa, trotz Chrysippos, bald eklektisch. Sie predigte Mischungen von Demokratie und Aristokratie, hierin einem Nicht-Utopisten wie Aristoteles folgend. Sie verstand sich sogar auf Monarchen, ja, sie pries zuletzt die einheitliche Spitze des idealen Einheitsstaats. So daß ein der Stoa ergebener Diadochenkönig, Antigonos Gonatas, das Königtum zum erstenmal als »ruhmreichen Knechtsdienst «(am Volk) bezeichnete; der Kaiser Marc Aurel leitete erst rechtHerrschermoral aus stoischem Staatsideal ab. So weit taucht hier eine Sozialutopie in Gegebenes ein; die als sittlich angegebene Ökumene bricht noch nicht - wie später, unter Augustin, die religiöse - mit dem Cäsar. Doch liegt die Bedeutung der stoischen Utopie ohnehin nicht in ihren Einrichtungen, auch nicht in dem konsequenten Kommunismus, den sie deklamiert. Die Bedeutung liegt im Programm des Weltbürgertums, das bedeutet hier: der Einheit des Menschengeschlechts. Unten bleibt das Individuum ihr Träger; der »obere Staat« beginnt als Aussonderung Einzelner zu sittlicher Bildung und gewaltfreier Gemeinsamkeit. Aber keineswegs endet er damit; es ist einseitig und übertrieben, wenn Wilamowitz einmal sagt, das Idealgebilde Platons sei eine Gemeinschaft, das Zenons ein Individuum. Bereits in dem Idealbild des Weisen überwiegen die nicht-persönlichen, die typischen Züge einer allgemeinen vernünftigen Lebensregel. Und auch im stoischen Staat herrscht viel mehr Pathos der Gemeinsamkeit, gemäß dem allgemeinen Vernunftgesetz, das ihn zu durchdringen hat, als Pflege der Inwendigkeit, von der die Stoa ausging. Die Gemeinsamkeit ist nicht einmal auf die menschliche beschränkt, die menschliche wird /(573) vielmehr durch die kosmische fundiert, deren einen Teil sie bildet. Den wichtigsten Teil; denn die Erde ist, nach dem Bild des Stoikers Kleanthes, »der gemeinsame Herd der Welt«, und über diesem Herd waltet, Menschen und Götter verbindend, planvolle Vernunft. Sie gibt allen Menschen ihr einheitliches Lebensgesetz, fordert die Internationale aller vernünftigen Wesen, ordnet ein in den Kosmos als »oberstes Gemeinwesen«, als »Stadt des Zeus«, von der die einzelnen Staaten die einzelnen Häuser bilden sollen. Die kosmische Vernunft »am gemeinsamen Herd der Welt« zeigt in der Stoa sogar mutterrechtliche Züge; sie waren bereits am Ackerbau-Zeus des Euemeros sichtbar geworden, die stoische Utopie hat sie insgesamt gesteigert. Bona Dea und Zeus, Kosmos als Stadt des Zeus und als Mutterhaus, Weltvernunft und vertrauenswürdigste, alles schlichtende Naturmutter tauschen hier oft die Gesichter. Verstärkt wird dadurch der Halt des Goldenen Zeitalters im Universum selbst, im synkretistisch gefaßten Zeus, gütig wie eine Demeter des Himmels. Das Dasein ohne Geld, Gericht, Krieg, Macht, welches Zenon erträumt hatte, bekommt in dieser «welthaften Megalopolis« den kosmisch geglaubten Halt, der ihm ökonomisch-politisch nicht gegeben worden war. Der Kosmos im Staat ebnet nun alle Rangunterschiede, auch den der Geschlechter, ein: Mann und Weib, Grieche und Barbar, Freier und Sklave, sämtliche Unterschiede aus Beschränktheit verschwinden im geistig wie quantitativ Unbeschränkten. Auch Blut und Familie, die Bindungen aus der Agrar- und Poliszeit, halten die neuen Menschen nicht zusammen, vielmehr Gleichheit der sittlichen Neigungen, sie bestimmt die Bünde in Megalopolis. Die Schwierigkeiten werden gleichsam durch das Gesetz der großen Zahl gelöst, mehr: durch die Ausdehnung, welche kosmomorph macht, durch die Weltharmonie. Das ist «das große Systema, die Götter und das Göttliche im Menschen vereinigend«, nach dem Ausdruck des Poseidonios; ein Pantheon auf Erden, am gemeinsamen Herd der Welt. Das ist der neue Naturstaat, jener, worin Physis gegen die Satzung (Thesis) steht, aber mit dem rechten Gesetz (Nomos)
zusammenfällt. Eine weittragende Gleichung; sie hat weniger auf die späteren Sozialutopien, aber entscheidend aufs Naturrecht eingewirkt. Praktisch einzeln allerdings haben sich die /(574) Stoiker für diesen Freimaurerstaat beinahe nicht mehr eingesetzt, als seine formale Innerlichkeit samt dem kolossalen Kosmos erwarten ließ. So blieb der Brudersinn ökonomisch unausgeführt, die gepredigte Erhabenheit über äußere Verhältnisse ließ diese neben der Utopie unangefochten bestehen. Auch Stoiker außerhalb der Oberschicht, etwa der Sklave Epiktet, waren von sozialrevolutionären Umtrieben so weit entfernt wie ihre Innerlichkeit oder selbst ihre Weltvernunft von der leidenden Erde. Also mochte auch dieserseits ein Kompromiß mit Rom leichtfallen, abgesehen von der Dankbarkeit, wovon Propheten bewegt sind, wenn ihre Prophezeiung (hier die vom Weltstaat) halbwegs erfüllt scheint. Hinzu kommt der betont antiquarische Sinn, den das Goldene Zeitalter und die Gleichsetzung des Wunschstaats mit ihm allmählich angenommen hatten. Denn das Goldene Zeitalter galt der Stoa als unwiederbringlich verloren, erst ein neuer Weltlauf könnte es wieder in Gang setzen, und dieser neue Lauf setzt nichts Geringeres voraus, als daß Zeus die gesamte Welt durch Weltbrand wieder in sich zurücknimmt. Ja selbst dann, nach dieser etwas zu gewaltigen, auch von Menschen unabhängigen Umwälzung, wird sich das - in der neuen Welt wiedergebrachte Goldene Zeitalter nicht halten: unbekannt übrigens, warum, in der Lehre eines universalen Optimismus, wie die Stoa ihn vertritt. Gerade ihm wieder, als dem betonten Frieden mit der statisch gefeierten Weltvollkommenheit, als der pantheistischen Einwohnung ins gutgeheißene Fatum, liegt das Verändern schlecht, es sei denn, als ein Milderndes oder Reformierendes (hier sind Einflüsse auf Sklavenwirtschaft, Eheleben, sogar Staatsführung erkennbar). Wenn die Krankheiten in der stoischen Medizin wie eine Art Purgiermittel dreinsehen, womit vernünftige Natur sich gleichsam selber heilt, so finden Gesetz und Recht zwar keinen solchen Pardon, aber sie werden auch nicht annähernd so bekriegt wie in anderen Utopien. Es wird ihnen das Ganze vorgehalten, ein waltendes Muster, damit die Teile sich danach halten und gehalten werden. Auch die Utopie der Stoa ist nicht auf das Sprengende, sondern auf das Vollendete gerichtet, auf immer besseren Einklang mit der vorhandenen Gottnatur Welt. Prätendierte Weltvollkommenheit verhindert derart die intendierte Weltveränderung ebenso, wie sie sie leiten /(575) will; das macht die Stoa auch als Utopie merkwürdig reformistisch und konformistisch zugleich. Einige Ausnahmen liegen vor: Lehrer des spartanischen Königs Kleomenes, der eine Art sozialistische Wirtschaft befahl, war der Stoiker Sphairos, ein Schüler Zenons; und er soll mit Zenons «Politeia« den König beeinflußt haben. Lehrer des Tribunen Tiberius Gracchus war der Stoiker Blossius, und das Ergebnis: Forderung der Landaufteilung, Kampf gegen die patrizische Oberklasse, war immerhin ein anderes als bei Marc Aurel, der den Zustand des Römischen Reichs bekanntlich nicht erschüttert hat. Begeisternd wirkte vor allem der stoische Utopiebegriff Ökumene, er überleuchtete die bloße, von späteren Stoikern unternommene Ideologisierung des Römischen Reichs, er wirkte auch außerhalb der Stoa. So im Judentum, alte prophetische Universalismen wieder berührend, die der jüdisch-nationale Kirchenstaat, nach der Rückkehr aus Babylon, verschüttet hatte. Es ist mehr als wahrscheinlich, daß das Weltbürgertum, das Paulus im Gegensatz zu Petrus vertrat, durch stoische Einflüsse erzeugt, mindestens verstärkt worden ist. Sein Zitat aus Kleanthes oder Aratus, in der Rede an die Athener (Apostelgesch. 17, 28), beweist, daß Paulus stoische Schriften gelesen hat; und das Zitat bezieht sich auf die Einheit des Menschengeschlechts in der Weltvernunft Zeus. Aber das Sprengende war im Urchristentum, zum Teil sogar bei Paulus,
erheblich deutlicher als das reformatorisch Vollendete, das zur Stoa gehört, selbst wo sie christianisiert. Hier endet die Ähnlichkeit der Stoiker, als der antiken Freimaurer, mit dem frühen Christentum, auf die Paulus angespielt hatte; die stoische Utopie meint Verklärung durch Übereinstimmung mit der Natur, die christliche durch deren Kritik und Krisis. Bibel und Reich der Nächstenliebe Was erzählt denn die Schrift, sogleich nachdem sie geschichtlich wird? Sie erzählt von den Leiden eines versklavten Volkes, es muß Ziegel schleppen, auf dem Feld fronen, «und wurde ihnen ihr Leben sauer«. Moses tritt auf, erschlägt einen Fronvogt, es ist die erste Handlung des nachmaligen Stifters, er muß außer Landes. Der Gott, den er in der Fremde imaginiert, ist bereits /(576) von Haus aus kein Herrengott, sondern einer freier Beduinen, im Sinaigebiet des kenitischen Nomadenstamms, in den Moses eingeheiratet hatte. Jahwe beginnt als Drohung an den Pharao, der Vulkangott des Sinai wird bei Moses zum Gott der Befreiung, des Auszugs aus der Knechtschaft. Exodus dieser Art gibt der Bibel von hier an einen Grundklang, den sie nie verloren hat. Und es gibt kein Buch, worin die Erinnerung an nomadische, also halb noch urkommunistische Einrichtungen so stark erhalten bleibt wie in der Bibel. Gemeinschaft ohne Arbeitsteilung und Privateigentum erscheinen lange noch als gottgewollt, auch als in Kanaan Privateigentum entstanden war und die Propheten es, in bescheidenem Maß, anerkannten. Jeremias nannte die Wüstenzeit die Brautzeit Israels (nach dem Vorgang des älteren Hoseas), und das nicht nur wegen der größeren Nähe Jahwes, auch wegen der ökonomischen Unschuld. Im Gelobten Land allerdings, nachdem man festsaß, hörte das gemeinsame Leben rasch auf. Von den unterworfenen Kanaanitern, die längst auf der Agrar- und Stadtstufe standen, wurden Acker- und Weinbau übernommen, Handel und Gewerbe, Reich und Arm bildeten sich aus, in grellem Klassengegensatz, Schuldner wurden vom Gläubiger als Sklaven ins Ausland verkauft. Die beiden Bücher Könige sind sowohl von Hungersnot wie von dem Reichtumsglanz erfüllt, der sie produziert hat. Einerseits: »Es war eine große Teuerung zu Samaria« (1. Kön. 18, 2), andererseits: «Der König Salomo machte, daß so viel Silber in Jerusalem war wie Steine« (1. Kön. 10, 27). Mitten in dieser Ausbeutung und gegen sie donnernd traten die Propheten auf, entwarfen das Gericht, im gleichen Zug die ältesten Grundrisse von Sozialutopie. Und dieses wodurch die Kontinuität mit der halbkommunistischen Beduinenzeit erweisbar ist - in Verbindung mit halbnomadischen, den Beduinen noch nahestehenden Opponenten, mit ungefügen und abgesonderten Gestalten, den sogenannten Nasiräern. Es bestand auch Verbindung mit den Rehabiten, einem Stamm im Süden, der der Üppigkeit und Geldwirtschaft Kanaans ferngeblieben war, dem alten Wüstengott Treue hielt. Die Nasiräer selbst trugen auch äußerlich Wüstenhabit, härenen Mantel, ungeschorenes Haar, enthielten sich des Weins; ihr Jahwe, dem Privateigentum noch fremd, wurde ihnen zum /(577) Gott der Armen. Simson, Samuel, Elias waren Nasiräer (1. Sam.1, 11; 2. Kön. 1,8), aber genauso Johannes der Täufer (Luk. 1, 15): sämtlich Feinde des Goldenen Kalbs, auch der üppigen, vom kanaanitischen Baal herstammenden Herrenkirche. Vom halben Urkommunismus der nasiräischen Erinnerung bis zur Prophetenpredigt gegen Reichtum und Tyrannei, bis zum frühchristlichen Liebeskommunismus geht so eine einzige, an Biegungen reiche, doch erkennbar einheitliche Linie. Sie hängt im Untergrund fast lückenlos zusammen, und die berühmten prophetischen Ausmalungen vom sozialen
Friedensreich der Zukunft nehmen ihre Farbe von einem Goldenen Zeitalter, das hier nicht nur Legende war. Ebenso ist ihre Kritik des »Abfalls« von Jahwe am Nasiräertum orientiert: denn Abfall ist Hinwendung von dem gleichsam vorkapitalistischen Jahwe zu Baal, auch zu jenem Herren Jahwe, welcher Baal um den Preis besiegt hat, daß er selbst zum Luxusgott geworden ist. Sinngemäß trat das Prophetentum in Zeiten großer innerer und äußerer Spannung auf, als Mahnung zur Umkehr. Amos, der von sich selber sagt, er sei ein armer Kuhhirte, der Maulbeeren abliest, ist unter den Propheten der älteste (um 750 v. Chr.), vielleicht der größte: und sein Jahwe setzt den roten Hahn. »Ich will ein Feuer in Juda schicken, das soll die Paläste in Jerusalem verzehren ... Darum, daß die Gerechten um Geld und die Armen um ein Paar Schuhe verkauft werden. Sie treten den Kopf der Armen in Kot und hindern den Weg der Elenden« (Amos 2, 5-7 ).Und weiter, die Herrenkirche vernichtend: «Ich bin euren Feiertagen gram und mag nicht riechen in eure Versammlung ... Es soll aber das Recht offenbart werden wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein starker Strom« (Amos 5, 2 und 25). Es ist das der gleiche Geist, aus dem Joachim di Fiore, der große Chiliast des Hochmittelalters, nachher sagt: «Man schmückt die Altäre, und der Arme leidet bitteren Hunger.« Zum Religionsgespräch mit Expropriateuren ist dieser Gott ungemein schlechtgelaunt, seine Kollegen sind weder Baal noch Merkur. »Er wartet auf Recht«, ruft Jesajas, «siehe, so ist es Schinderei, auf Gerechtigkeit, siehe, so ist es Klage. Wehe denen, die ein Haus an das andere ziehen und einen Acker zum anderen bringen, bis daß kein Raum mehr da sei, daß sie allein das Land besitzen« (Jes. 5, 7). Jahwe ist derart aufgerufen als /(578) Feind der Bauernleger und der Kapitalsakkumulation, als Rächer und Volkstribun: «Ich will den Erdboden heimsuchen um seiner Bosheit willen und die Ungerechten um ihrer Laster willen; und will dem Hochmut der Stolzen ein Ende machen und die Hoffart der Gewaltigen demütigen, damit ein Mann teurer werden soll als feines Gold und ein Mensch werter als Goldstücke aus Ophir (Jes. 13, 11 f.). Deuterojesajas aber, der große Unbekannte, fügt hinzu: »Es gibt ein geraubtes und geplündertes Volk, sie sind verstrickt in Höhlen und versteckt in den Kerkern; sie sind zum Raub geworden und ist kein Erretter da; geplündert und ist niemand, der sage: Gib sie wieder her« (Jes. 42, 44). Bis zur glücklich-reichen Zeit für alle, als sozialistischer Reichtum wird sie charakterisiert: »Wohlan, alle, die ihr durstig seid, kommt her zum Wasser; und die ihr nicht Geld habt, kauft und esset; kommt her und kauft ohne Geld und umsonst, beides, Wein und Milch« (Jes. 55, 1). Der Tag ist gewiß, wo der Geist der Befreiung wieder lebendig wird, Jahwe als Exodusgott. Auf ihn geht die berühmte Utopie, die bei Jesajas und dem wenig jüngeren Micha fast gleichlautend sich findet, vielleicht sogar einem noch älteren Propheten entnommen ist: »Von Zion wird das Gesetz ausgehen, und des Herren Wort von Jerusalem. Und er wird richten zwischen vielen Völkern, schiedsrichten bis in die Ferne, daß sie schmieden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln. Denn es wird kein Volk wider das andere das Schwert aufheben und werden fortan nicht mehr Krieg führen. Dann wohnt jeder unter seinem Weinstock und Feigenbaum, und niemand schreckt« (Jes. 2, 4; Micha 4, 3 f.). Hier ist das Urmodell der pazifizierten Internationale, die den Kern der Stoa-Utopie ausmacht: mit realem Einfluß lag die Jesajas-Stelle sämtlichen christlichen Utopien zugrunde. Es ist zwar eine Frage, ob der Zukunfts-, folglich Zeitbegriff der altisraelitischen Propheten (und im weiteren Zusammenhang des alten Orients) sich mit dem seit Augustin ausgebildeten deckt. Die Zeiterfahrung hat sicher viele Wandlungen durchgemacht, das Futurum vor allem hat sich erst in neuerer Zeit um das Novum vermehrt und sich mit ihm geladen. Doch der Inhalt der biblisch intendierten Zukunft
ist allen Sozialutopien verständlich geblieben: Israel wurde zu Armut schlechthin, Zion zu Utopia. Die Not macht mes- /(579) sianisch: »Du Elende, über die alle Wetter gehen, und du Trostlose siehe, ich will deine Steine wie einen Schmuck legen und einen Grund mit Saphiren... Du sollst durch Gerechtigkeit bereitet werden, wirst ferne sein von Gewalt und Unrecht, daß du dich davor nicht darfst fürchten, und vom Schrecken, denn er soll nicht zu dir nahen« (Jes. 54, ii und 14). Eine Aura dieses Lichts in der Nacht liegt immer wieder, bis Weitling, über den Sozialutopien. Der Römer kam ins Gelobte Land, das immer weniger eines geworden war. Die Reichen vertrugen sich nicht schlecht mit der fremden Besatzung, sie schützte vor verzweifelten Bauern und patriotischen Kämpfern. Sie schützte vor Propheten, die man jetzt ganz unbeschwert Aufwiegler nennen konnte. Der Nasiräer Johannes der Täufer predigte zu dieser Zeit unter niederstem Volk und verhieß das Ende seines Elends. »Schon ist die Axt den Bäumen an die Wurzel gelegt, welcher Baum nicht gute Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen« (Matth. 3, 10). Raum für Frohbotschaft war damals übergenug, für sozialrevolutionäre, nationalrevolutionäre, die Wende schien nah. »Der nach mir kommt«, sagte Johannes, »hat die Wurfschaufel in seiner Hand, er wird die Tenne fegen und den Weizen in seiner Scheune sammeln, aber die Spreu wird er verbrennen mit ewigem Feuer« (Matth. 3, 12). Und Jesus selbst kam durchaus nicht so inwendig und jenseitig, wie eine der herrschenden Klasse stets gelegene Umdeutung seit Paulus das wahrhaben will. Seine Botschaft an die Mühseligen und Beladenen war nicht das Kreuz, dieses hatten sie ohnehin, und den Kreuzestod erfuhr Jesus in dem furchtbaren Ausruf: «Mein Gott, warum hast du mich verlassen?« als Katastrophe und nicht paulinisch. Das große Logion in Matth. 11, 25-30 ist Diesseits, nicht Jenseits, ist Regierungserlaß des Messiaskönigs, der dem Leid in jeder Gestalt ein Ende setzt und auf der Erde ein Ende setzt, als einer, dem alle Dinge zur Wende übergeben sind: » Mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht.« Jesus hat nie gesagt: «Das Reich Gottes ist inwendig in euch«; der folgenreiche Satz (Luk. 17,21) lautet wörtlich vielmehr: »Das Reich Gottes ist unter euch«; und er war zu den Pharisäern gesagt, nicht zu den Jüngern. Er bedeutet: das Reich ist bereits unter euch Pharisäern lebend, als auserwählte Gemeinde, /(580) in diesen Jüngern; der Sinn ist folglich ein sozialer, kein inwendig unsichtbarer. Jesus hat nie gesagt: »Mein Reich ist nicht von dieser Welt«, diese Stelle ist von Johannes interpoliert (Joh. 18, 36), sie sollte den Christen vor einem römischen Gericht von Nutzen sein. Jesus selbst hat nicht versucht, sich vor Pilatus mit feigem Jenseits-Pathos ein Alibi zu geben. Das hätte dem bekundeten Mut und der Würde des christlichen Stifters widersprochen, es widerspricht vor allem dem Sinn, welchen die Worte »diese Welt«, »jene Welt« zu Jesu Zeiten besessen haben. Der Sinn ist zeithaft und entstammt den astral-religiösen Spekulationen des alten Orients, das ist der Lehre von den Weltperioden. »Diese Welt« ist gleichbedeutend mit der jetzt bestehenden, mit dem «gegenwärtigen Äon«, dagegen «jene Welt« mit dem «künftigen Äon« (so Matth. 12,32; 24,3). Gemeint ist folglich, mit dem Gegensatz dieser Begriffe, keine geographische Trennung von Diesseits und Jenseits, sondern eine zeitlich-nachfolgende auf dem gleichen, hier befindlichen Schauplatz. »Jene Welt« ist die utopische Erde, mit utopischem Himmel über ihr; in Übereinstimmung mit Jes. 6, 17: »Denn siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen; daß man der vorigen nicht mehr gedenken wird noch zu Herzen nehmen.« Erstrebt ist kein Jenseits nach dem Tod, wo die Engel singen, sondern das ebenso irdische wie über-irdische Liebesreich, wozu die Urgemeinde bereits eine Enklave darstellen sollte. Das Reich von jener Welt wurde erst nach der Kreuzeskatastrophe als
jenseitig interpretiert, vor allem, nachdem die Pilatus, gar die Nero selber Christen geworden waren; denn es lag der herrschenden Klasse alles daran, den Liebeskommunismus so spirituell wie möglich zu entspannen. Das Reich dieser Welt war für Jesus das Reich des Teufels (Joh. 8, 44), ebendeshalb bekundete er nirgends, es bestehen zu lassen, er schloß mit ihm keinen Nichteinmischungspakt. Die Waffe wird abgelehnt, - auch das nicht immer: «Ich bin nicht gekommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert« (Matth. 10, 34) - doch die Ablehnung der Waffe, in der Bergpredigt, setzt bei jeder Seligpreisung (Matth. 5, 3-10) das Himmelreich bedeutsamerweise ans sofortige Ende. Die Waffe also wird abgelehnt, weil sie für den Apokalyptiker Jesus überflüssig, weil sie bereits veraltet ist. Er erwartet eine Umwälzung, die /(581) ohnehin keinen Stein auf dem anderen läßt, und erwartet sie im nächsten Augenblick, von der Natur, von der Überwaffe einer kosmischen Katastrophe. Die eschatologische Predigt hat vor der moralischen bei Jesus den Primat und bestimmt sie. Nicht nur die Wechsler werden, wie Jesus tat, aus dem Tempel mit der Peitsche herausgetrieben, sondern der ganze Staat und Tempel fällt, gründlich, durch Katastrophe, in kurzem. Das große eschatologische Kapitel (Marc.13) ist eines der bestbezeugten im Neuen Testament; ohne diese Utopie kann die Bergpredigt gar nicht verstanden werden. Wird die alte Veste so bald und so gründlich geschleift, dann erscheinen dem Jesus, der den «gegenwärtigen Äon« ohnehin als beendet ansah und an die unmittelbar bevorstehende kosmische Katastrophe glaubte, auch ökonomische Fragen sinnlos; daher ist der Satz von den Lilien auf dem Feld viel weniger naiv, mindestens auf ganz anderer Ebene befremdlich und disparat, als er erscheint. Und die Weisung: »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist« wurde von Jesus aus Verachtung gegen den Staat und im Blick auf seinen baldigen Untergang gesagt, nicht, wie bei Paulus, als Kompromiß. Naturkatastrophe ist zwar revolutionärer Ersatz, doch ein äußerst umfangreicher, er entspannt zwar, wie noch in dem Bericht des alten Dieners in «Kabale und Liebe« (2. Akt, 2. Szene), in diesem Rekurs aufs Jüngste Gericht, jede reale Revolte, doch er machte deshalb noch keinen Burgfrieden mit der vorhandenen Welt, kein Vergessen des »künftigen Äon«. Die Katastrophe des Reichs von dieser Welt wird bei Jesus sogar grausam vollzogen, beim Jüngsten Gericht ist von Feindesliebe wenig mehr die Rede. Vereidigt war die neue Mannschaft einzig auf Jesus; durch ihn, in ihm, zu ihm ist die neue Sozialgemeinde, die aus dem bisherigen Äon herausgelöste. «Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben« (Job. 15,5), hatte der Stifter statuiert; so löste sich Jesus im gleichen Maß, wie er sie umfaßte, in die Gemeinde auf. »Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan« (Matth. 25, 40): dieser Satz fundiert die urchristlich gemeinte Sozialutopie in ihrem Liebeskommunismus und in der Internationale dessen, was Menschengesicht trägt, gar armes. Der Satz gibt, in folgenreicher Weise, auch das hinzu, was der Stoa völlig gefehlt hat: sozialen Auftrag von unten und mythisch- /(582) mächtige Person, die über ihn wacht. Auch wo der soziale Auftrag fast verschwunden war, wie bei Augustin, ist der Gegensatz gegen die Macht dieser bestehenden Welt und gegen ihren menschenfeindlichen Inhalt übermächtig geblieben; durch allen Kirchenbau und allen Kompromiß hindurch. Wie erst in den christlichen Revolutionen, mit dem erschlagenen ägyptischen Fronvogt, dem Exodus, dem Prophetendonner, der Austreibung der Wechsler und der Verheißung an die Mühseligen und Beladenen im Sinn. Die Bibel hat keine Sozialutopie ausgeführt, und sie erschöpft sich gewiß nicht in ihr oder hat darin ihren entscheidenden Wert; das zu glauben, wäre die Bibel falsch überschätzend und platt zugleich. Das Christentum ist nicht nur ein Schrei gegen die
Not, es ist ein Schrei gegen den Tod und die Leere und setzt in beide den Menschensohn ein. Aber enthält die Bibel auch keine ausgeführte Sozialutopie, so zeigt sie doch aufs heftigste, im Verneinenden wie Bejahenden, auf diesen Exodus und dieses Reich hin. Und wenn die Kundschafter vom Land berichten, wo Milch und Honig fließt, so fehlten weder die Krieger, die es erobern wollten, noch nachher, als das Land kein Kanaan war, die harten und brennenden Träumer, die es immer weiter suchten, in immer aufreizenderen Superlativ setzten, immer näher zu den Menschen führen wollten. Der großen Babel wurde kein Pardon gegeben: »Sie ist gefallen, ist gefallen, Babylon, die große, und werden sie beweinen und sie beklagen die Könige auf Erden... Und die Kaufleute auf Erden werden weinen und Leid tragen bei sich selbst, daß ihre Ware niemand mehr kaufen wird «(0ff. Joh. 18, 2 ff.). Das Reich aber gilt in der Bibel nirgends als getaufte Babel, nicht einmal - wie nachher das Tausendjährige Reich bei Augustin - als Kirche. Augustins Gottesstaat aus Wiedergeburt Die griechischen Träume nach vorwärts liefen fast alle gut diesseitig. Das Leben selbst, ohne fremden Zuschuß, sollte in ihnen verbessert werden, auf verständige, obzwar bunte Weise. Auch die fernen Inseln des heidnischen Wunschbilds lagen in einer noch zusammenhängenden Welt, mitsamt ihrem Glück. Dieses, mit seinen Einrichtungen, wurde ins bestehende Leben imma- /(583) nent eingesetzt, ihm als Vorbild vorgehalten. Aber dem Rom nun, das in Scherben ging, war nichts mehr als Vorbild immanenter Art hinstellbar. Ein gänzlich anderes, gänzlich Neues war ersehnt, zuletzt, im Wettbewerb der Rettungen, siegte - dies Neue politisch benutzend - das paulinische Christentum. Jesus hatte den Sprung verlangt, keineswegs zwar, wie ersichtlich wurde, aus dem Diesseits heraus ins Innerliche und Jenseitige, sondern frisch auf eine neue Erde. Um den Kern Jesus bildete sich der christlich-utopische Gemeinschaftswunsch aus, dergestalt freilich, daß er immer mehr ins Jenseits rückte, in innerlich transzendente Sammlung, auch Vertröstung. Statt des radikal zu erneuernden Diesseits erschien ein Institut des Jenseits: die Kirche; und sie bezog die christliche Sozialutopie auf sich selbst. Beziehungen zur stoischen Utopie traten hinzu, in Gestalt des »oberen Staats«, wie bereits Chrysippos ihn gelehrt hatte; seine Ökumene gab - außer dem Römischen Reich den Rahmen. Doch in der stoischen Utopie eben fehlte der Sprung ins Neue: die allgemeine Welt erschien als eine mit sich abgeschlossene. Unfähig, in der ganzen antiken Anlage auch ungewillt, neue Anlagen, Aufgaben, gar Durchbrüche aus sich herauszubilden. Dazu war ein Impuls des Exodus notwendig, der sich auf heidnischem Boden nicht fand. Erst der Impuls Jesus hob das Vollendete auf, setzte das Sprengende: der Vernunftstaat, in der Welt, mit Zeus, wurde der Gottesstaat, gegen die Welt, mit Christus. Augustins Utopie »De civitate Dei« (um 425) gab der neuen Erde als einem Jenseits auf Erden den kraftvollsten, den freilich auch Kirche bildenden utopischen Ausdruck. Die irdischen Wünsche können hier nur nebenher bedacht, nie erfüllt werden. Sie sind die schlechten, so haben sie sich bisher ausgetobt, vom rechten Leben abgetrieben. Ihr Ort ist der weltliche Staat, und der Wille, der diesen macht, ist böse. Also kann er nicht verbessert, er muß umgekehrt werden, der bisherige Wille wie der bisherige Staat. Zielpunkt der Umkehr ist Jesus, wobei Augustin zunächst noch die Not zugibt, die die Guten zwingt, mit den Bösen zusammenzuleben. Ihre beiden Staaten sind noch ineinander, und der heilig erwünschte muß das Übel des unheiligen vorerst hinnehmen. Wobei an diesem Punkt (hier überall ist Augustin
noch ein Schüler des Paulinischen Sozial- /(584) kompromisses) der Kirchenvater so weit geht, daß er selbst die Sklaverei billigt, die fast alle Stoiker verworfen hatten. Es sei geboten, sich zu bescheiden, es sei immer noch besser, einem fremden Herrn als den eigenen Lüsten zu dienen. Weiter schreibt Augustin der vorhandenen Obrigkeit das Recht zur Strafe zu, als einem - man weiß nicht woher - guten Hausvater; und das sogar im Zusammenhang mit sogenannter Heilsgeschichte. Denn der weltliche Staat ist der schlechte, aber nicht der schlechteste; unterhalb der civitas terrena rangiert noch der vollkommen teuflische Urstand, der anarchische. Demgemäß gibt es, wo nicht Heils-, so doch Heilungsgeschichte auch in den vorhandenen Erdstaaten; die erste Zuflucht bieten Haus und Familie; die zweite Geschlechtsverband und Stadtstaat (civitas als urbs), die dritte der internationale Völkerstaat (civitas als orbis). Ohne weiteres ist in diesem Völkerstaat das Römische Reich erkennbar, das gleiche, dem Augustin von der Utopie der civitas Dei her mit Verachtung gegenübersteht. Augustin hat, zum Unterschied von anderen Kirchenvätern, besonders Tertullian, keine Sehnsucht nach einem Goldenen Zeitalter des Anfangs, als welches ihm vor jeder Art civitas überhaupt liegt, daher nie anders denn als teuflisches Tierreich beschrieben wird. Wohl aber nahm der praktische Kirchenfürst - gegen jene Antithese von civitas terrena und civitas Dei, von der noch zu sprechen ist - das römische Imperium als Boden der kirchlichen Ökumene. Fast wie die spätere Stoa Rom auf ihren »oberen Staat« bezog; mit dem Unterschied allerdings, daß der »obere Staat« in Rom politisch machtlos war. Wogegen Augustin dem Imperium die Kirche überordnete und fast schon überordnen konnte, der fragwürdigen Heilungsanstalt die von Christus angeblich eingesetzte obere Heilanstalt. Damit ist die relative Anerkennung des irdischen Staats bei Augustin zu Ende; die Verhältnisse waren noch nicht zu weitergehender Ausgleichung geeignet. Die Verhältnisse zwischen Staat und Kirche waren noch so wenig gefestigt, daß Augustin als Vollzieher der christlichen Utopie dem praktischen Kirchenfürsten konträr entgegentritt. Die kluge, wenn auch angeekelte Bewunderung Roms weicht im weiteren Fortgang der civitas Dei dem völlig dualistischen Haß, die Nacht-Licht-, Ormuzd-Ahriman-Spannung aus Augustins manichäischer Ju- /(585) gendzeit rezipierend. Ist Jesus und nur Jesus der Zielpunkt der Umkehr, gibt es nur Heilsgeschichte und keine Heilungsgeschichte: dann sind die historischen Staaten, einschließlich Roms, ausschließlich Feinde Christi; sie selbst, nicht nur die Anarchie, aus der sie sich erheben, sind das Reich des Teufels. Das ist der entscheidende Gedanke in Augustins Werk ,jenseits seines Kompromisses, und er wird prozeßhaft dargestellt: Staatsutopie erscheint erstmalig als Geschichte, ja erzeugt sie, Geschichte entsteht als Heilsgeschichte zum Reich hin, als lückenlos-einheitlicher Vorgang, eingespannt zwischen Adam und Jesus, auf Grund der stoischen Einheit des Menschengeschlechts und des christlichen Heils, das ihm werden soll. Zwei Staaten also kämpfen seit je in der Menschheit unversöhnbar, die civitas terrena und die civitas Dei, die Gemeinschaft der gottfeindlichen Sünder und die der Erwählten (erwählt durch göttliche Gnade). Augustins Geschichtsphilosophie gibt sich als Archiv dieses Kampfes: die Selbstzersetzung der irdischen Staaten, der keimende Sieg des Christusreichs werden an heftigen Beispielen antithetisch verdeutlicht. Der erste Teil der Schrift »De civitate Dei« (Augustin selber nennt sie ein «magnum opus et strenuum«), in Buch 1-10, enthält eine Kritik des polytheistischen Heidentums an sich: die heidnischen Götter sind hier böse Geister, als solche beherrschen sie auf Erden bereits die Gemeinschaft der Verdammten. Der zweite Teil aber, von Buch 11-19, entwickelt den antithetischen Heilsprozeß der Historie, und zwar in Periodisierungen, die ihre Einschnitte wie den Blickhorizont auf die historischen
Inhalte überwiegend dem Alten Testament entnehmen. Die Menschheit erscheintvom Sündenfall bis zum Gericht - als einzige zusammengedrängte Person, so ist die historische Periodik nach Analogie der Lebensalter durchgeführt; es ist gläubige Geschichtsphilosophie der Bibel. Hiernach dauert die Stufe der Kindheit von Adam bis Noah, die Knabenzeit von Noah bis Abraham, die Jünglingszeit von Abraham bis David, das Mannesalter von David bis zur babylonischen Gefangenschaft; die beiden letzten Perioden reichen bis zur Geburt Christi und von da bis zum Jüngsten Gericht. Das bedeutet in bezug auf das Reich Gottes und seine Durchbruchsgeschichte: die civitas terrena (der Sündenstaat) ging in der Sintflut unter, /(586) die civitas Dei erhielt sich in Noah und seinen Söhnen, doch schon in deren Kindern erneuerte sich der Fluch des falschen Staats. Die Hebräer-Juden versammelten sich wiederum unter dem Baldachin, »ein Volk von Priestern, ein heiliges Volk sollt ihr mir sein«; während alle anderen Völker, am bittersten die Assyrer, dem Regiment des Bösen verfielen, dem Machtstaat, der des Teufels ist. Durch die ganze civitas Dei zieht so als Fazit ihrer Geschichtsphilosophie Kritik der Gewalt, Kritik des politischen Staats als eines Verbrechens. Prophetenzorn donnert wieder über Babylon und Assyrien, Ägypten, Athen und Rom (worin das Christentum doch »offizielle Staatsreligion» geworden war): »Die erste Stadt, der erste Staat sind von einem Brudermörder gegründet worden; ein Brudermord hat auch die Anfänge Roms befleckt, so befleckt, daß man sagen kann: es ist Gesetz, daß da, wo sich ein Staat erheben soll, vorher Blut geflossen sein muß» (De civ. Dei XV). Dasselbe besagt der berühmte Satz, ein Beispiel realistischer Staatskritik aus so wenig realistischer Utopie: »Was sind die irdischen Staaten, da die Gerechtigkeit aus ihnen sich zurückgezogen hat, anderes als große Räuberhöhlen? Remota igitur justitia quid sunt regna nisi magna latrocinia?» (De civ. Dei IV.) Gerechtigkeit freilich muß hier im Paulinischen Sinn verstanden werden; sie ist Rechtfertigung durch Ergebung in Gottes Heilswillen und Einklang mit ihm; justitia ist justificatio. Der politische Staat aber ist von nichts erfüllt als vom Streit um irdische Güter, vom innen- und außenpolitischen Hader, vom gottfernen Krieg der Macht; von der Essenz der Hoffart und des Sündenfalls ist er erfüllt. So wenig bleibt Augustin als heilverlangender Denker (»Deum et animam scire cupio nihil ne plus? nihil omnino», »Gott und die Seele verlange ich zu wissen; sonst nichts? sonst gar nichts«) dem vorhandenen Staat zugeneigt. So heftig arbeitet in ihm, von den manichäischen Überzeugungen seiner Jugend her, die Spannung zwischen Lichtgott und Nachtgott, zwischen Ormuzd und Ahriman, als politische. Der Gottesstaat ist eine Arche, oft auch nur eine immer wieder versteckte Katakombe; seine Offenbarung geschieht erst am Ende der bisherigen Geschichte. Weshalb sogar die Kirche mit der civitas Dei sich nicht ganz deckt, wenigstens seit die Kirche das Recht der Sündenvergebung auch auf Todsünde, auch auf /(588) Abtrünnige ausgedehnt hat (seit der Decianischen Christenverfolgung), mithin eine recht gemischte Gesellschaft umfaßt. Nur als Zahl der Erwählten, als das corpus verum ist die Kirche gänzlich Gottesstaat, dagegen die vorhandene Kirche, als das corpus permixtum aus Sündern und Erwählten, deckt sich mit dem Gottesstaat nicht, grenzt nur vorbereitend an ihn an. Die vorhandene Kirche deckt sich bei Augustin freilich mit dem Tausendjährigen Reich, als dem ersten Erwachen, der ersten Auferstehung vor der zweiten endgültigen (0ff. Joh. 30, 5 f.); dieses erste Erwachen wird durch die Gnadenmittel der Kirche eingeleitet und festgehalten. Damit ist der Chiliasmus entspannt, nicht jedoch wird civitas Dei an die vorhandene Kirche ausgeliefert; civitas Dei baut sich vielmehr von Abel an, in Fragmenten, für den Himmel auf, offenbart sich als vollendet erst mit Erscheinung des Reichs. Civitas Dei ist eine Gründung wie Platons ideale Polis, aber
konsequenter als diese ist sie in ihrer vollendeten Ordnungshaftigkeit nicht als von Menschen gegründet, sondern als in einem Ordnungsgott gegründet gedacht. Jede Ordnungs-Utopie reiner Art setzt, damit sie nicht ins Gegenteil ihrer Ordnung, nämlich ins bloße Angeordnete und nicht Geordnete von Zufall oder Schicksal, Tyche oder Moira fällt, eine Heilsökonomie voraus, die die Ordnung gründet und in der sie selbst gegründet ist. Dieses Fundament transzendent mitgeteilter oder eingeflößter Ordnung fand sich, ohne alle Beimischung von Zufall-Moira, nicht in Platons, auch nicht in der stoischen Polis- und Polisgott-Idee; es fand sich erst im christlichen Gottesbegriff. Nicht in und nicht hinter der bestehenden Welt, sondern nach ihr tritt die civitas Dei, als zeitlos-entronnene Polis höchster Gestalt, vollends in Erscheinung. Und es bleibt als utopisches Grundziel der Gesellschaft, dem nur die Kirche entgegenführen kann: Erwerbung des göttlichen Ebenbilds für den Menschen (De civ. Dei XXII). Das ist das radikal überzeitliche Richtungs- und Ordnungsprinzip des einzig besten Staats gegen die anderen, die Systeme der Sünde. Civitas Dei war ganz buchstäblich gedacht als ein Stück Himmel auf Erden, nach der Seite des Glücks wie vor allem nach der der Reinlichkeit, die die Menschen zwar nicht zu Engeln macht, aber zu Heiligen, also nach der katholischen Lehre zu mehr. Dem dunklen Pessimismus /(188) Augustins in Anschauung des weltlichen Staatslebens steht eine Art pfäffisch-brennender, doch raumschlagender, auch in der Folgezeit reich säkularisierbarer Optimismus der civitas Dei entgegen, gegründet auf das Dasein von Heiligen und ihr Wachstum in der Kirche. Das Abtun der Werke des alten Adam, das Anziehen Christi, kurz die Hoffnung auf geistliche Wiedergeburt immer zahlreicherer Menschen wurde so in Augustins Gottesstaat zum utopischen Politikum. Und doch ist es merkwürdig, diese Träume zielen nicht ohne weiteres auf Künftiges hin. Sie eilen voraus wie nur irgendwo, aber die Zukunft kleidet sich scheinbar in Vorhandenes. Die Frage wird so möglich: ist civitas Dei im genauesten Sinn eine Utopie? Oder ist sie die Erscheinung einer bereits vorhandenen und im Diesseits umgehenden Transzendenz? Wird hier der Wachtraum eines sozial Noch-Nicht-Gewordenen wirklich entwickelt, oder wird ein fertig Transzendentes («ecclesia perennis«) in die Welt eingesenkt? Oft zwar wirkt der Gottesstaat als erst keimend in Augustins Geschichte, mithin als utopischkünftig. Oft aber auch als vorhandene Großmacht, Anti-Großmacht, ähnlich zur Existenz gelangt wie die andere dramatis persona, der Teufelsstaat. Civitas Dei wird bei Augustin als fast gegenwärtig gefeiert im jüdischen Levitenstaat und in der Kirche Christi. Eben ein so gewaltiger Zukunftstraum wie der vom Tausendjährigen Reich wird der Kirche aufgeopfert; in ihr soll er bereits erfüllt sein. Und ein Hauptpunkt: die Vorhandenheit der civitas Dei gibt sich zuletzt als fixes Gnadengebilde, prädestinierte Erwählte umfassend. Ob sie die Bürgerschaft wünschen oder nicht, ob sie das Gottesreich erstreben, erträumen, erarbeiten oder nicht. Das Gottesreich kann so wenig wie irgendein Gutes in Augustins Theologie erarbeitet werden, es kommt aus Gnade und ist aus Gnade da, nicht aus Verdienst der Werke. Kraft göttlicher Vorherbestimmung steht auch der Ausgang der Geschichtsdifferenz (zwischen civitas terrena und civitas Dei) von vornherein fest; wie die Gnade, so siegt ihr Licht- und Himmels-Inhalt unwiderstehlich. All das entfernt Augustins Idealstaat in der Tat vom eigentlich utopischen Willen und Plangedanken: dennoch ist die civitas Dei Utopie. Sie ist zwar keine verändernwollende, es gibt nach Augustin über- /(589) haupt nur eine Freiheit des psychischen Wollenwollens, aber seit Adams Fall keine des moralischen Wollenkönnens (non possumus non peccare). Doch indem Gnade den Menschen nicht bloß zum Guten, sondern schon zur Bereitschaft des Guten anrührt, zieht auch
der Gottesstaat dem Menschen vorher und ist in ihm utopisch lebendig; als eine der in Auserwählten prädestinierten Erwartung. Und sein wesentlicher Gehalt: die Gemeinschaft der Vollendeten und Heiligen auf Erden erscheint, wie erinnerlich, erst am Ende der bisherigen Geschichte. Civitas Dei gerät erst ganz, wenn der Weltstaat zum Teufel geht, dem er angehört. Civitas Dei geht so nicht bloß als entschiedene dramatis persona in der Geschichte um, sie wird auch als »Erwerbung des göttlichen Ebenbildes« von der Geschichte hergestellt, vorsichtiger: herausgestellt. Und sie schwebt über dem Geschichtsprozeß insgesamt, sie ist »die ewige Körperschaft, wo niemand geboren wird, weil niemand stirbt, wo wahres und starkes Glück herrscht, wo die Sonne nicht aufgeht über Gute und Böse, sondern Sonne der Gerechtigkeit allein die Guten bescheint« (De civ. Dei V). Das ist gewiß Transzendenz, doch keine, die als fix vorhandene der Utopie widerspricht. Socialis vita sanctorum ist historisch-utopische Transzendenz, denn sie ist, zum Unterschied von Paulus, wieder eine auf der Erde. Auch Paulus führt den Ausdruck Gottesstaat, doch - wie für den Weg von Jesus zu Paulus charakteristisch - im pur transzendenten Sinn als »Staat in den Himmeln«, abgetrennt droben; Augustin dagegen setzt wieder etwas wie neue Erde. Dadurch eben kann seine Transzendenz utopisch sein, denn sie verflicht sich mit der produktiven Hoffnung menschlicher Geschichte, hat darin Umgang, Gefahr und Triumph, nicht, wie die pure Transzendenz, bereits Entschiedenheit, also Fixum. Folglich ist civitas Dei bei Augustin nur als Stein des Anstoßes und höchst bedrohte Vor-Erscheinung präsent: als Utopie ist sie erst am Ende der bisherigen Geschichte. Ja Augustin setzt selbst dem vollkommenen Gottesstaat noch ein weiteres Ziel; zu ihm ist auch er nur Vorstufe. Denn civitas Dei ist nicht das Reich, um das im Vaterunser gebeten wird; dies Reich heißt bei Augustin regnum Christi. Auch civitas Dei wird zwar gelegentlich so genannt, mit apologetischer Schmückung, doch nie heißt das regnum bei /(590) Augustin civitas; denn es steht nicht mehr in der Zeit. Wie also der irdische Sabbat für Augustin ein utopisches Erwartungsfest des himmlischen ist, so hat civitas Dei, die nur scheinbar vorhanden-fertige, selbst noch ihre Utopie in sich: eben regnum Christi als letzten, himmlischen Sabbat. Der siebente Schöpfungstag steht noch offen, über ihn setzte Augustin gerade das zentralste utopische Wort: »Der siebente Tag werden wir selbst sein, Dies septimus nos ipsi erimus« (De civ. Dei XXII). Das ist eine Art Transzendenz, die, wenn sie im Menschen durchgebrochen ist, zugleich, gegen Augustins Abrede, den Willen erregt, selber den Durchbruch vollzogen zu haben. Da hinderte das angebliche »Wir können nicht nicht-sündigen« (non possumus non peccare) wenig, zumal die radikale moralische Unfreiheit des Willens nicht einmal kirchlich durchdrang. Da hinderte die Entspannung des Tausendjährigen Reichs zur Kirche wenig, zumal civitas Dei, als so hohes Traumbild, die korrumpierende Kirche ständig Lügen strafte, Tausendjähriges Reich zu sein. Chiliasmus brach in allen Unruhezeiten wieder vor, Reich Gottes auf Erden wurde das revolutionäre Zauberwort durchs Mittelalter und die erste Neuzeit hindurch, noch bis zum frommen Radikalismus in der englischen Revolution. Civitas Dei bei Augustin selbst ist in ihrer Definition der Machtstaaten dauernder als in ihrer Apologie der Kirche, in ihrer Utopie der Brüderlichkeit dauernder als in ihrer Theologie des Vaters. Die Menschen wurden fortan auch dort als Brüder utopisiert, wo an keinen Vater mehr geglaubt wird - civitas Dei blieb ein politisches Wunschbild auch ohne Gott. Joachim di Fiore, drittes Evangelium und sein Reich Alles hing davon ab, ob man mit dem Erwarteten Ernst machte. Die revolutionären
Bewegungen waren in dieser Lage, und sie schufen vom Reich ein neues Bild. Sie lehrten auch eine andere Art Geschichte, eine, die das Bild belebte und ihm Fleischwerdung versprach. Die folgenreichste Sozialutopie des Mittelalters wurde von dem kalabrischen Abt Joachim di Fiore aufgestellt (um 1200). Ihm ging es nicht darum, Kirche, gar Staat von ihren Greueln zu reinigen, sie wurden statt dessen abge- /(591)schafft. Und das erloschene Evangelium wurde wieder angezündet, vielmehr lux nova in ihm: das von den Joachiten so genannte Dritte Reich. Es gibt, lehrt Joachim, drei Stufen der Geschichte, und jede ist näher zum betreibbaren Durchbruch des Reichs. Die erste Stufe ist die des Vaters, des Alten Testaments, der Furcht und des gewußten Gesetzes. Die zweite Stufe ist die des Sohnes oder des Neuen Testaments, der Liebe und der Kirche, die in Kleriker und Laien geschieden ist. Die dritte Stufe, die bevorsteht, ist die des Heiligen Geistes oder der Erleuchtung aller, in mystischer Demokratie, ohne Herren und Kirche. Das erste Testament hat das Gras gegeben, das zweite die Ähren, das dritte wird den Weizen bringen. Joachim führt diese Folge vielfach aus, meist mit unmittelbarem Bezug auf seine Zeit, als eine geglaubte Endzeit, und mit der politischen Prognose, daß die Herren und die Pfaffen nicht mehr so weiterleben können, die »Laien« nicht so weiterleben wollen wie bisher. Die Predigt Joachims handelte so, frühbürgerlich-schwarmgeistig; vom Fluch und radikalen Ende des verdorbenen Feudal- und Kirchenreichs; mit einem Zorn der Hoffnung, einem Satis est, wie es seit Johannes dem Täufer kaum mehr gehört ward. Daher auch die Stärke des Losungsworts in seinen drei Kategorien: Zeitalter der Herrschaft und Furcht = Altes Testament, Zeitalter der Gnade = Neues Testament, Zeitalter der geistigen Vollendung und Liebe = heraufsteigendes Endreich (»Tres denique mundi status: primum in quo fuimus sub lege, sccundum in quo sumus sub gratia, tertium quod e vicino expectamus sub amplion gratia... Primus ergo status in scientia fuit, sccundus in proprictate sapientiae, tertius in plenitudine intellectus«). Zwei Personen der Dreifaltigkeit haben sich bereits gezeigt, die dritte: der Heilige Geist, kann in einem absoluten Pfingstfest erwartet werden. Die Idee des dritten Testaments, die Joachim in seiner Schrift »De concordia utriusque testamenti» dergestalt ausführt, reicht in ihren Fundamenten - nicht in ihrer sozialutopischen Macht - zurück ins dritte Jahrhundert, zu Origenes, dem von seiner Kirche keineswegs kanonisierten Kirchenvater. Hatte dieser doch eine dreifach mögliche Auffassung der christlichen Urkunde gelehrt: eine leibliche, eine seelische, eine geistige. Die leibliche ist die buchstäbliche, die seelische die moralisch-alle-/(592) gorische, die geistige aber (pneumato intus docente) offenbart das in der Schrift gemeinte »ewige Evangelium«. Dies dritte Evangelium war bei Origenes allerdings gleichfalls nur eine Auffassungsform, wenn auch die höchste, es entwickelte sich nicht etwa selbst erst, in der Zeit. Auch trat das dritte Evangelium bei Origenes aus dem Neuen Testament, als einem bis ans Ende der Zeiten fertig gegebenen, nicht heraus. Es ist die Größe Joachims, die überlieferte Dreiheit bloßer Standpunkte zu einer dreifachen Stufung in der Geschichte selbst verwandelt zu haben. Noch folgenreicher wurde die damit zusammenhängende volle Verlegung des Lichtreichs aus dem Jenseits und der Jenseitsvertröstung in die Geschichte, wenn auch in einen Endzustand der Geschichte. Die ideale Gemeinschaft lag bei Jambulos (wie später bei Morus, Campanella und so noch oft) auf einer fernen Insel, bei Augustin in der Transzendenz: doch bei Joachim erscheint Utopia, wie bei den Propheten, ausschließlich im Modus und als Status historischer Zukunft. Joachims Erwählte sind die Armen, und sie sollen lebendigen Leibs, nicht bloß als Geist, ins Paradies. In der Gesellschaft des dritten Testaments leben keine Stände mehr; ein «Zeitalter der
Mönche« wird sein, das ist der allgemein gewordene Kloster- und Konsumtionskommunismus, ein »Zeitalter des freien Geistes«, das ist spirituelle Erleuchtung, ohne Sondersein, Sünde und ihre Welt. Auch der Leib wird dadurch schuldlos froh, wie im paradiesischen Urzustand, und die gefrorene Erde wird mit der Erscheinung eines geistlichen Mai erfüllt. Es gibt von dem Joachiten Telesphorus (Ende des vierzehnten Jahrhunderts) einen Hymnus, der beginnt: «0 vita vitalis, dulcis et amabilis, semper memorabilis - 0 lebendiges Leben, süßes und liebenswertes, immer gedenkenswertes« - die »libertas amicorum« ist nicht puritanisch. Ihr Thema eben ist Auszug aus Furcht und Knechtschaft oder dem Gesetz und seinem Staat, Auszug aus dem Regiment der Kleriker und der Unmündigkeit der Laien oder der Liebesgnade und ihrer Kirche; also ist die Lehre Joachims, mit ihrem Bruderbund, keine Weltflucht in Himmel und Jenseits. Konträr: das Reich Christi ist bei Joachim so entschieden von dieser Welt wie nirgends mehr seit dem Urchristentum. Jesus ist wieder der Messias einer neuen Erde, und Christentum geschieht in der Wirklichkeit, nicht nur /(593) in Kult und Vertröstung; es geschieht ohne Herren und Eigentum, in mystischer Demokratie. Dazu geht das dritte Evangelium und sein Reich an, selbst Jesus hört auf, ein Haupt zu sein, er löst sich in der »socictas amicorum« auf. Es ist kaum möglich, alle Wege zu bestimmen, die dieser höchst geschichtlich gemeinte Traum genommen hat. Er lief durch lange Zeiten und in weit entfernte Länder, echte und gefälschte SchriftenJoachims waren jahrhundertelang verbreitet. Sie liefen nach Böhmen und Deutschland, auch nach Rußland, die urchristlich gemeinten Sekten zeigen dort deutliche Einflüsse der kalabresischen Predigt. Das Reich Gottes in Böhmen - hundert Jahre später bei den Wiedertäufern in Deutschland - bedeutete Joachims civitas Christi. Hinter ihr lag das Elend, das schon lang gekommen war, in ihr lag das Tausendjährige Reich, dessen Ankunft im Schwange war: so wurde losgeschlagen, es zu empfangen. Besonders genau wurde auf Abschaffung von Arm und Reich geachtet, die Predigt der scheinbaren Schwärmer nahm brüderliche Gesinnung bei der Tasche und beim Wort. Augustin hatte geschrieben: »Der Gottesstaat zieht während seiner Wanderschaft auf Erden Bürger an sich und sammelt Pilgerfreunde in allen Nationen ohne Hinblick auf die Unterschiede in Sitten, Gesetzen und Institutionen, die dem Erwerb und der Sicherung des irdischen Friedens dienen« (De civ. Dei XIX). Der Gottesstaat der Joachiten dagegen warf einen sehr scharfen Hinblick auf Institutionen, die dem Erwerb und der Ausbeutung dienen, und er übte jene Toleranz, die einer Kirchen-Internationale notwendig fremd war, nämlich gegenüber Juden und Heiden. Die Bürgerschaft des bevorstehenden Gottesstaats war nicht durch Taufe bestimmt, sondern durch Vernehmen des Brudergeistes im inneren Wort. Nach der großen überchristlichen Bestimmung Thomas Münzers bildet sich das künftige Reich »aus allen Auserwählten unter allen Zerstreuungen oder Geschlechtern allerlei Glaubens«. Hier wirkt das Dritte Reich Joachims deutlich nach: »Ihr sollt wissen«, sagt Münzer in der Schrift »Von dem gedichteten Glauben« und rühmt das Zeugnis des echten Christen gegen die Fürstendiener und Schriftpfaffen, »Ihr sollt wissen, daß sie diese Lehre dem Abt Joachim zuschreiben und heißen sie ein ewiges Evangelium mit großem /(594) Spott.« Der deutsche Bauernkrieg vertrieb den Spott sehr; noch die Radikalen der englischen Revolution, die agrar-kommunistischen Diggers, die Millenarier und Quintomonarchisten tragen alle das Erbe Joachims und der Täufer zugleich. Erst seitdem der joachitisch-taboritische Geist aus dem Täufertum ausgeschieden wurde, durch Menno Simons, wurden die westlichen Sekten, nicht nur die Mennoniten, stille evangelische Gemeinden, besonders stille.
Aber auch die andere Irredenta, die aus dem Täufertum losgelöste, die beginnend rationale, nicht mehr irrationale Utopie der Neuzeit, verließ das Tausendjährige Reich; Platon und die Stoa siegten über Joachim di Fiore, sogar über Augustin. Dadurch entstand eine größere Genauigkeit der institutionellen Einzelzüge in den Utopien, es kam ein Anschluß an bürgerliche Emanzipation, die bereits zu sozialistischen Tendenzen ausutopisiert wurde, aber die Elemente Endzweck und Endziel, wie die Utopie Joachims sie enthält, wurden abgeschwächt. Sie wurden bei rationalen Utopisten wie Thomas Morus, auch Campanella - zur sozialen Harmonie; ein liberaler oder auch ein autoritativer Zukunftsstaat beerbte so das Tausendjährige Reich. Die mythologisierend christliche Denkart in den mittelalterlich-christlichen Utopien hat das Element Endzweck gewiß nicht präzisiert, aber auch nie aus dem Gesichtskreis verloren. Es hielt sich in dem gärenden, traumschweren Morgenrot, das die joachitische, die täuferische Utopie bis zum Rand erfüllte und ihr den ganzen Himmel zum Osten machte. Diese Denkart hatte weniger ausgeführte Sozialutopie als Platon oder die Stoa, gar als die rationalen Konstruktionen der Neuzeit, aber sie hatte mehr als diese utopisches Gewissen in ihrer Utopie. Gewissen und Problem des letzten Wozu bleiben derart den chiliastischen Utopien verpflichtet; ganz unabhängig von den unhaltbar mythologischen Bezeichnungen ihres Inhalts. Und Joachim war zwingend der Geist christlich-revolutionärer Sozial-Utopie: so hat er gelehrt und fortgewirkt. Er setzte fürs Gottesreich, nämlich fürs kommunistische, zuerst einen Termin und rief zu seiner Einhaltung. Er hat die Theologie des Vaters abgesetzt, ins Zeitalter der Furcht und Knechtschaft zurückversetzt, Christus aber in eine Kommune aufgelöst. Hier wie nirgends war die soziale Erwartung Ernst, die Jesus in den neuen /(595) Äon gesetzt hatte und die von der Kirche zu Heuchelei und Phrase gemacht worden war. Oder wie Marx hierzu mit großem Recht sagt, das Christentum der Kirchenjahrhunderte betreffend (Nachlaß II, S.433 f.): »Die sozialen Prinzipien des Christentums haben jetzt achtzehnhundert Jahre Zeit gehabt, sich zu entwickeln... Die sozialen Prinzipien des Christentums haben die antike Sklaverei gerechtfertigt, die mittelalterliche Leibeigenschaft verherrlicht und verstehen sich ebenfalls im Notfall dazu, die Unterdrückung des Proletariats, wenn auch mit etwas jämmerlicher Miene, zu verteidigen. Die sozialen Prinzipien des Christentums predigen die Notwendigkeit einer herrschenden und einer unterdrückten Klasse und haben für die letztere nur den frommen Wunsch, die erstere möge wohltätig sein. Die sozialen Prinzipien des Christentums setzen die konsistorialrätliche Ausgleichung aller Infamien in den Himmel und rechtfertigen dadurch die Fortdauer dieser Infamien auf der Erde. Die sozialen Prinzipien des Christentums erklären alle Niederträchtigkeiten der Unterdrücker entweder für gerechte Strafe der Erbsünde und sonstiger Sünden oder für Prüfungen, die der Herr über die Erlösten nach seiner Weisheit verhängt. Die sozialen Prinzipien des Christentums predigen die Feigheit, die Selbstverachtung, die Erniedrigung, die Unterwürfigkeit, die Demut, kurz alle Eigenschaften der Kanaille, und das Proletariat, das sich nicht als Kanaille behandeln lassen will, hat seinen Mut, sein Selbstgefühl, seinen Stolz und seinen Unabhängigkeitssinn noch weit nötiger als sein Brot. Die sozialen Prinzipien des Christentums sind duckmäuserisch, und das Proletariat ist revolutionär; soviel über die sozialen Prinzipien des Christentums.« All das trifft die Kirche, oder was seit achtzehnhundert Jahren ex cathedra oder ex encyclica Christentum genannt wird; und Joachim di Fiore, wenn er wiederkehrte, Albigenser, Hussiten, militante Täufer dazu, würden diese Christentums-Kritik sehr verstehen. Wenn auch seinerseits mit Anwendung dieser Kritik auf die Kirchenjahrhunderte und vor allem: mit Herleitung der Kritik aus
einem Christentum, das die Kirchenjahrhunderte gerade mit Joachim, Albigensern, Hussiten, Täufern unterbrochen hat. Aller Joachitismus kämpfte aktiv gegen die sozialen Prinzipien eines Christentums, das sich seit Paulus mit der Klassen- /(596) gesellschaft unter tausend Kompromissen verbunden hat. Das in seiner irdischen Heilspraxis selber ein einziges Sündenregister darstellt, bis herab oder hinauf zum letzten Glied: dem Verständnis des Vatikans für den Faschismus. Bis zur Todfeindschaft des zweiten oder Pfaffenreichs in Joachims Sinn gegen das dritte, das in der Sowjetunion anfängt zu beginnen und von der Finsternis nicht begriffen oder auch wohl begriffen und verleumdet wird. Sogenanntes Naturrecht des Eigentums, gar »Heiligkeit« des Privateigentums sind ein soziales Kernprinzip dieses Christentums. Und die Monstranz, welche Priester dieses Christentums den Mühseligen und Beladenen vorzeigen, zeugt von keinem neuen Äon, sondern vergoldet den alten. Mitsamt der Feigheit und Unterwürfigkeit, die der alte Äon an seinen Opfern braucht, doch ohne den Tag des Gerichts und den Triumph über Babel, ohne die Intention auf neuen Himmel und neue Erde. Das Sich-Schicken in Furcht, Knechtschaft und Jenseits-Vertröstung sind die sozialen Prinzipien eines Christentums, die von Marx verachtet und von Joachim in den Orkus geworfen werden; es sind aber nicht die Prinzipien eines längst verlassenen Urchristentums und einer sozialrevolutionären Ketzergeschichte aus ihm her. Joachim di Fiore drückt mit der Erwartung des Reichs nur aus, was von der eschatologischen Predigt Christi durch die Jahrhunderte nachgewirkt hat, was er von einem künftigen »Geist der Wahrheit« gesprochen hat (Joh. 16, 13), was mit der ersten »Ausgießung des Heiligen Geistes« am Pfingstfest (Apostelgesch. 2, 1-4) nicht abgeschlossen schien. Die Westkirche hat dergleichen für abgeschlossen erklärt, unabgeschlossen war lediglich ihr Kompromiß mit der Klassengesellschaft; die Ostkirche ließ immerhin einen Fortgang dieser Ausgießung offen. Die Westkirche hat seit dem Lateran-Konzil von 1215 alle Klöster der geistlichen Gewalt ihres Diözesanbischofs unterstellt; die Ostkirche hat selbst nach, geschehener Übernahme der abendländischen Sakramentsordnung dem Mönchtum, ja den Sekten eine charismatische, oft ketzerische Selbständigkeit lassen müssen. Die Westkirche hat den Enthusiasmus auf Apostel und die alten Märtyrer eingeschränkt, um dem Adventismus jede Sanktion zu nehmen; die Ostkirche dagegen, die so viel weniger durchorganisierte, lehrt eine fort- /(597) wirkende Beiwohnung des Geistes außerhalb der Priesterkirche, unter Mönchen wie Laien. So fehlt dort das Monopol einer Hostienverwaltung, der gesamte juristisch festgelegte oder eingeschraubte Erlösungsbetrieb; die russische Orthodoxie unter den Zaren war hierzu überdies zu unwissend, sie hatte keine Scholastik, erst recht nicht das juristisch Scharfe, dogmatisch Formulatorische der Scholastik. Statt dessen lebte im russischen Christentum, vom Heiligen Synod unbehinderbar, eben ein ständiges ungeschriebenes Wesen Joachim di Fiore: es lebte im leicht entzündbaren Brudergefühl, im Adventismus der Sekten (die Sekte der Chlysten lehrt russische Christusse, deren sie sieben aufzählt), im Grundmotiv von allem: in der unabgeschlossenen Offenbarung. Einige große Merkwürdigkeiten konnten daher christromantisch auf bolschewistischem Boden noch entspringen; der unbestreitbare Bolschewik und ebenso unbestreitbare Chiliast Alexander Block gab davon ein Zeichen, durchaus im joachitischen Geist. Geht in Blocks Hymnus, dem »Marsch der Zwölf«, das ist der zwölf Rotarmisten, ein bleicher Christus der Revolution voran und führt sie: so ist diese Art Beiwohnung des Geistes den westlichen KirchenKonzernen genauso fern, wie sie in der Ostkirche immerhin theologische Offenheiten findet. Nur die Ketzersekten, mit Joachim unter ihnen, ließen auch im
Westen Offenbarung neu entspringen, und der Heilige Geist riet ihnen demgemäß erstaunliche Pfingstfeste. Er riet soziale Prinzipien des Christentums, die, wie das Beispiel Thomas Münzers angibt, nicht duckmäuserisch waren und das Proletariat nicht als Kanaille behandelten. Das war Ketzerchristentum und schließlich revolutionär-adventistische Utopie; mit den sozialen Prinzipien Baals wären sie nicht entstanden. Sie blühten in der Predigt Joachims, dergestalt, daß hier eine einzige Antithese die Herrenkirche bloßlegte: »Man schmückt die Altäre, und der Arme leidet bitteren Hunger.« Eben diese Antithese wirkt, wie gesehen, als wäre sie aus der Bibel, von Amos, von Jesajas, vom Jesus, den Münzer zitierte. Ja sogar die Staatskonstruktionen aus reiner Vernunft, wie sie vom sechzehnten Jahrhundert an den Sozialismus vorbereiteten, sind selber noch, trotz aller Ratio, in den dritten Äon eingebaut. Sie halten diesen Raum nicht mehr besetzt, doch sie halten ihn, trotz verschwie- /(598) gener Finalität, im Grund: es gibt keine solchen Utopien ohne Unbedingtes. Der Wille zum Glück spricht für sich selbst, doch die Pläne, gar Zeitbilder einer New Moral World sprechen noch anders, nämlich chiliastisch. Wie immer auch säkularisiert und zuletzt, endlich, auf die Füße gestellt, hat die Sozialutopie seit Joachim socictas amicorum in sich, diese zur Gesellschaft gewordene Christförmigkeit. Glück, Freiheit, Ordnung, das ganze regnum hominis, tönen davon nach, in utopischem Gebrauch. Eine Auslassung des jungen Engels von 1842 (Mega I 2, S. 225 f.) führt selbst wenige Jahre vor dem Kommunistischen Manifest einen Klang aus Joachim mit sich: »Das Selbstbewußtsein der Menschheit, der neue Gral, um dessen Thron sich die Völker jauchzend versammeln... Das ist unser Beruf, daß wir dieses Grals Templeisen werden, für ihn das Schwert um die Lenden gürten und unser Leben fröhlich einsetzen in den letzten heiligen Krieg, dem das Tausendjährige Reich der Freiheit folgen wird.« Utopisch Unbedingtes stammt aus Bibel und Reichsidee, letztere blieb jeder New Moral World ihre Apsis. Thomas Morus oder die Utopie der sozialen Freiheit Der Bürger regte sich, suchte das Seine, worin er blühen konnte. Er war für Arbeit, freie Bahn dem Tüchtigen, Ende der ständischen Unterschiede. 1516 erschien die Schrift des englischen Kanzlers Thomas Morus: »De optimo rei publicae statu sive de nova insula Utopia« (Vom besten Zustand des Staates oder von der neuen Insel Utopia). Zum erstenmal seit langem wird hier der Traum vom besten Staat wieder als eine Art Schiffermärchen vorgetragen. U-topia, Nirgend-wo heißt die Insel des Morus, mit einem feinen, leicht melancholischen, aber scharfen Titel. Das Nirgendwo ist als postulativ gedacht für das Wo, in dem sich die Menschen wirklich befinden. Ein Weltreisender erzählt hier, nachdem jede Störung ferngehalten ist, seinen Freunden von der fernen glücklichen Insel. Das Schiffermärchen, das Morus im Anschluß an die utopischen Fabeln der Euemeros und Jambulos wieder verwendet, beruht sogar auf einem gründlichen Bericht; Morus benutzte in seinem Buch erwiesenermaßen die Denkschrift des Amerigo Vespucci über seine zweite Amerika/(599) fahrt. Vespucci hatte von den Bewohnern der Neuen Welt mitgeteilt, daß einzig dort die Menschen »naturgemäß leben«, daß sie »eher Epikureer als Stoiker zu nennen sind«, auch kommen sie ohne Sondereigentum aus. Und der Humanist Petrus Martyr, damaliger Historiker der Entdeckungen, pries den Zustand der amerikanischen Insulaner als einen »ohne Fluch des Geldes, ohne Gesetze und unbillige Richter«. Es mag überraschen, daß Thomas Morus, der Hofmann und der nachmalige Märtyrer der Kirche (gegen den »Reformator« Heinrich VIII.), dem primitiven Kommunismus dieser Berichte so geneigt war und die »Neue Insel
Utopia« mit ihm ausgestattet hat. Man muß die egalisierenden, gegen Standesvorurteile angehenden Tendenzen des beginnenden Bürgertums heranziehen; Gleichheit war bis zum Thermidor ein ernstgemeintes, wenn auch noch so formal bleibendes Losungswort der kapitalistischen Befreiung. Im Jahrhundert der »Utopia« selber, um 1550, war von einem Freund Montaignes eine demokratische Schrift geschrieben worden: Etienne de la Boeties «Le Contr'un ou de la servitude volontaire«; Morus lebte vom gleichen Inhalt. Ein Satz aus dieser rhetorischen, doch interessanten Schrift zeigt zur Genüge, wie wenig die gebildete Renaissance aristokratisch sein mußte: »Die Natur hat uns alle aus demselben Holz geschnitzt, damit einer in dem anderen ein Ebenbild, besser: seinen Bruder erkennen kann.« Man darf weiterhin auf die Eigentumslosigkeit der oberen Stände in Platons »Politeia« hinweisen, diesem von Humanisten so hochverehrten Buch; Morus, der sonst Platons Idealstaat nicht nachfolgt, entnimmt ihm den vornehmen Kommunismus, macht ihn jedoch aus dem Privileg weniger zum Anspruch aller. Man darf nicht zuletzt auf die Liebe des Christen Morus zur Urgemeinde hinweisen; eher kommt ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Reicher ins Himmelreich - von diesem Wort gibt auch dem treuesten Sohn der Kirche kein Papst Dispens. Auffallend allerdings bleibt der diesseitsfrohe Epikureismus, der die kommunistische Insel gleichfalls belebt; er steht als äußerst unkirchlicher Himmel über Utopia. Noch auffallender ist die Abschaffung des Glaubensstreits: Thomas Morus, seit 1935 ein Heiliger der katholischen Kirche, wirkt mit seiner Toleranz fast als ein früher Roger Williams, um nicht zu /(600) sagen: Voltaire. Sicher ist er in diesem Punkt ein naher Vorläufer Jean Bodins, des Ideologen (wenn auch aus anderen Gründen) eines konfessionslosen Staats. Dieser überraschende Widerspruch ermöglichte es einem späten, nicht mehr utopisch interessierten Bürgertum, Morus nur zum Kirchenmann zu machen und ihn zu desinfizieren vom revolutionären Geruch. Unter anderem lieferte ein kapitalistisch interessierter Philologe, Heinrich Brockhaus, eine Hypothese, die gerade den kommunistisch-epikureisch-toleranten »Fremdkörper« in der »Utopia« bedenkt und ihn sorgfältig ausmerzt. Denn nach Brockhaus (Die Utopia Schrift des Thomas Morus, 1929) soll das Werk des Morus, wie es vorliegt und über die Jahrhunderte hinweg gewirkt hat, als demokratisch-kommunistisches Dokument, eine Fälschung sein. Danach war Morus nicht der Verfasser, sondern nur der offizielle Herausgeber, vielmehr: auch Morus hat eine »Utopia« geschrieben, doch was nachher als diese in Umlauf kam, ist nicht mehr das Original, sondern eine von fremder Hand vorgenommene Entstellung der Ur-Utopia. Die fremde Hand ist die des Erasmus von Rotterdam; auf ihn, nicht auf Morus geht der Epikureismus der Schrift zurück, desgleichen der Kommunismus, der Sechsstundentag, die religiöse Toleranz. Ausgetilgt dagegen wurde von Erasmus »der herbe reformatorische Hauptinhalt«, soll heißen, das nicht politische, das ausschließlich religiöse Interesse, das Morus bei Abfassung seiner Ur-Utopia angeblich bewegt haben soll. Dieses Interesse wird von Brockhaus dahin interpretiert, daß Morus der Kirche in letzter Stunde das asketische Gewissen wiederbringen wollte und seine heilsame Würde, ein Jahr bevor 1517 die Katastrophe der gewaltsamen, der schismatischen' Reformation geschah. Demgemäß soll in der Ur-Utopia nicht England kritisiert worden sein, sondern der Kirchenstaat, und vor allem: das Modell des Idealbilds war keinesfalls die Urkommune amerikanischer Insulaner, sondern - das Kloster auf dem Berg Athos. Statt England und die Urkommune soll Morus einzig die beiden Mittelpunkte der Christenheit: Rom und Athos, kontrastiert haben; Utopia ist nichts anderes als »das durch Zusätze umgebildete Athos-Land«. Im Einzelnen wie im Ganzen intendierte danach Morus keinen Entwurf des besten Staats, sondern eine
Reform der Kirche; /(601) doch Erasmus hat dies Konzept verdorben, indem er das Konzept der Ur-Utopia verdarb, die schon zur Absendung ans entscheidende Konzil im Vatikan bereitlag. Also möchte Brockhausens Theorie Morus vom Ludergeruch des Kommunismus befreien, ebenso von der Lebensfreude, ebenso von der religiösen Toleranz; alle diese (historisch wirksam gewordenen) Hauptideen der »Utopia« sind »Entstellungen» des Erasmus. Und nicht, als ob es sich hier um einen gleichgültigen Namenstausch im Bereich des gleichen Werks handelte (wie etwa im Fall Shakespeare-Bacon), konträr: die Werke selbst sind so verschieden wie ein Freigeist und ein Engel. Es gibt ja eine Ur-Utopia, eine einwandfrei von Morus verfaßte, und diese Schrift eben ist ein Religionsdokument, zum Unterschied vom Politikum des Erasmus, - auch das Reich der »Utopia« ist nicht von dieser Welt. Soweit Brockhaus; der soziale Auftrag dieser Art Philologie ist ganz offenbar: einem der edelsten Vorläufer des Kommunismus soll das Wort entzogen werden. Doch hat die suspekte Hypothese den Nutzen, daß sie energischer als bisher auf die Mitarbeit des Erasmus achten läßt und unleugbare Schwierigkeiten dadurch behebt. Daß Erasmus die »Utopia» vor dem Druck redigiert hat, war bekannt; gewisse Elemente von Leichtigkeit, ja von ironischer Spielerei (die Thomas Morus nicht zu Gesicht stehen) dürften durch den großen Literaten hineingearbeitet worden sein. Erasmus konnte tolerant sein, denn er hatte gesagt, der Heilige Geist schreibe im Neuen Testament ein sehr schlechtes Griechisch. Erasmus konnte epikureisch sein, denn er ist der Verfasser der vorurteilsfreiesten pädagogischen »Colloquia« (sie enthalten ein Lehrgespräch über Umgangsformen der Jugend im Bordell). Auch ist der Ton in den beiden Teilen der »Utopia« merkwürdig verschieden: der erste Teil enthält scharfe Anklagen gegen die sozialen Verhältnisse Englands (freilich nicht des Kirchenstaats ),der zweite Teil dagegen, der doch das Idealbild verkünden sollte, ergeht sich in einer freundlich-vornehmen Mischung zwischen Spiel und Ernst, er vermeidet den erwarteten Orgelklang der Hoffnung. Der Thomas Morus jedenfalls, der durch seinen Märtyrertod bekundete, was unter Glauben an eine Sache zu verstehen sei, macht aus dem besten Staat nicht nur eine Märchenerzählung, wie bemerkt, /(602) im Einklang mit spätantiken Formen, sondern er fügt, jenseits dieses Einklangs, Elemente eines höfischen Fabelspiels ein. Vor allem aber ist der Thomas Morus, der in der »Utopia« für die Resultate einer Sozialrevolution wirbt, ein anderer als jener, der wenige Jahre hernach, als diese Revolution in Deutschland ausgebrochen war, den vorhandenen Staat verteidigte, das Königtum, den Klerus, kurz, genau die Festung des Besitzes, die in »Utopia» fehlte. Und der Inhalt, für den der Märtyrer schließlich starb, war nicht der der sozialen, gar religiösen Toleranz; es starb ein treuer Anhänger der Papstkirche, dessen Gedächtnis dem Katholizismus lediglich in dieser Gestalt erhalten geblieben ist. Dazu kommen Unverträglichkeiten der Schrift selbst, besonders in ihrem zweiten Teil; Dissonanzen keineswegs nur zwischen höfischem Fabelton und Kommunismus, sondern zwischen Humanität und Gleichgültigkeit, zwischen Sozialparadies und der alten Klassenwelt. Der erste Teil hatte das Verbrechen aus ökonomischen Ursachen erklärt, demgemäß menschenwürdige Behandlung der Gefangenen verlangt; der zweite Teil kennt mitten in »Utopia« Verbrechersklaven, die schwere Arbeit in Ketten zu leisten haben. Als verwandte Inkonsequenz wirken das Kriegswesen und die Annexionslust der Utopier: »Sie halten es«, bemerkt Morus, »sie halten es für einen höchst gerechten Kriegsgrund, wenn ein Volk Nutzung und Besitz des Bodens, den es selber nicht braucht, sondern wüst und unfruchtbar liegenläßt, einem anderen untersagen will, das nach der Vorschrift der Natur seinen Unterhalt davon ziehen sollte.« Hermann Oncken betont in seiner Ausgabe der »Utopia» mit Recht, daß dieser martialische
Passus mit der isolierten und vorbildlichen Friedensexistenz der Utopier überhaupt nichts mehr gemein habe, wohl aber mit der Praxis des späteren England: »Der kommunistische und primitiv-agrarische Idealstaat, der sich bereits in der Sklavenfrage als Klassenstaat enthüllte, stellt sich nunmehr als ein machtpolitischer Herrschaftsstaat mit Ansätzen zu einem fast modern anmutenden kapitalistischen Imperialismus dar.« So zeigt sich »Utopia« keineswegs aus einem Guß, keineswegs als aus einer einheitlichen Person und ihrer sozialen Christusliebe entsprungen. Doch das eminent Englische vieler dieser Inkonsequenzen spricht eben wieder nicht für Eras- /(603) mus, sondern zeigt, daß auch Morus sich auf Bruchstellen verstand, mehr noch: daß Abschaffung des Eigentums (mit allen Folgen) innerhalb der bürgerlichen Antizipationen eine Anomalie ist, die auch der edelste Christusglaube nicht verschwinden läßt. Träume des frühen Bürgertums, worin der Bürger selbst als Stand verschwindet, können nicht ohne Ironie und Dissonanzen sein. Derart wird der Erklärungswert der Brockhausschen Hypothese auch jenseits der Verdächtigkeit ihres sozialen Auftrags recht reduziert: eine Reihe von Schwierigkeiten stammt zuverlässig nicht erst aus der Redaktion des Erasmus. Keine Ideologie ist englischer als die eines sittlich gerechten Kolonialkriegs, wie »Utopia« ihn lehrt, keine liegt der Mönchsrepublik auf dem Berg Athos ferner. Die »Utopia« ist höchstwahrscheinlich ein Mischgebilde mit zwei Verfassern, doch bereits von Morus, nicht erst von Erasmus wird England kritisiert, und ausschließlich dieses, nicht Rom, soll wiederum zum besten Staat werden. Die »Utopia« ist und bleibt, mit allen ihren Schlacken, das erste neuere Gemälde demokratisch-kommunistischer Wunschträume. Im Schoß eben erst beginnender kapitalistischer Kräfte antizipierte sich eine künftige und überkünftige Welt: sowohl die der formalen Demokratie, welche den Kapitalismus entbindet, wie die der materiell-humanen, welche ihn aufhebt. Zum erstenmal wurde hier Demokratie im humanen Sinn, im Sinn öffentlicher Freiheit und Toleranz mit Kollektivwirtschaft verbunden (als welche allemal leicht von Bürokratischem, ja Klerikalem bedroht ist). Zum Unterschied von den bisher erträumten Kollektivismen des besten Staats ist bei Thomas Morus Freiheit dem Kollektiv eingeschrieben, und echte, materiell-humane Demokratie wird sein Inhalt. Dieser Inhalt macht die »Utopia«, wesentlichen Partien nach, zu einer Art liberalem Gedenk- und Bedenkbuch des Sozialismus und Kommunismus. Die Menschen werden erst durch Not böse gemacht, »wozu so hart strafen«? Mit dieser Frage hebt Morus an, sogleich macht er die Umgebung für den Einzelnen verantwortlich. »Man setzt den Galgen für Diebe fest, während man viel eher dafür sorgen sollte, daß sie ihr Auskommen haben, damit nicht einer in den harten Zwang gerät, erst stehlen, danach sterben zu müssen.« /(604) Dicht nebenan zeigt Morus die Welt, die den Armen schuldig werden läßt und sich als Richter aufspielt: »Wie groß ist doch die Zahl der Edelleute, die selber müßig wie die Drohnen von anderer Leute Arbeit leben, die sie bis aufs Blut schinden; obendrein aber scharen sie einen Schwarm von Tagedieben und Trabanten um sich her.« Und der Schluß des ersten Teils der »Utopia« sagt unverhohlen: »Wo es noch Privatbesitz gibt, wo alle Menschen alle Werte am Maßstab des Geldes messen, da wird es kaum jemals möglich sein, eine gerechte und glückliche Politik zu treiben... So kann denn der Besitz durchaus nicht auf irgendeine billige oder gerechte Weise verteilt werden, so kann das Glück der Sterblichen überhaupt nicht begründet werden, wenn nicht vorher das Eigentum aufgehoben ist. Solange es bestehen bleibt, werden vielmehr auf dem weitaus größten und weitaus besten Teil der Menschheit Armut, Plackerei und Sorge als unentrinnbare Bürde lasten. Die Bürde mag ein wenig erleichtert werden, sie gänzlich zu beseitigen, ist (ohne Abschaffung des Eigentums)
unmöglich.« All diese Worte legt Morus dem Weltreisenden in den Mund, den er als Berichterstatter aus »Utopia« einführt und der nun, vom besten Staat her, entsetzt auf den englischen blickt. Der vorsichtige Kanzler nennt den Mann Raphael Hythlodaeus (das heißt »Schaumredner«), zweifellos aber vertritt Raphael des Morus radikalste Auffassungen. Die Insel »Utopia« nun, von der der Berichterstatter im zweiten Teil erzählt, ist vor allem deshalb eine menschenwürdige, weil ihre Bewohner so weitgehend von der Arbeitsfron befreit sind. Sechs Stunden mäßige Mühe reichen aus, um alle notwendigen Bedürfnisse zu befriedigen und auch genügend Vorrat für die Annehmlichkeiten herzustellen. Dann beginnt das Leben jenseits der Arbeit; es ist ein Leben der glücklichen, der liberalen Einheit der Familie, im schön bereiteten Haus, das mehrere Familien gleich Gästen verbindet. Um nicht einmal den Schein eines Privateigentums aufkommen zu lassen, werden die Häuser alle zehn Jahre nach dem Los gewechselt; auf dem Forum befinden sich die unentgeltlichen Speisehäuser, die Lehranstalten für alle und die Tempel. »Die Wirtschaftsverfassung Utopias hat in erster Linie das Ziel vor Augen, allen Bürgern möglichst viel Zeit freizumachen für die Pflege geistiger Bedürfnisse.« Zu dieser Pflege /(605) geistiger Bedürfnisse gehört nicht zuletzt die Kunst des Essens und Trinkens, ferner die Verehrung körperlicher Schönheit und Kraft; scharf ist an dieser Stelle die Wendung gegen Askese: »Sich selber aufzureiben, ohne irgendeinem Menschen zu nützen, bloß um eines nichtigen Schattens von Jugend willen- das erscheint den Utopiern ganz unsinnig: als Grausamkeit gegen die eigene Person und als höchste Undankbarkeit gegen die Natur.« Weibergemeinschaft kennt Utopia freilich nicht, im Gegenteil: Ehebrecher werden mit härtester Sklaverei, bei Rückfall mit dem Tode bestraft. Doch ist die Ehe löslich und wird auch nur eingegangen, nachdem Braut und Bräutigam sich nackt gesehen; »denn die Utopier meinen, die Natur selbst habe uns das Vergnügen als Ziel unserer Handlungen vorgezeichnet, und nach ihrer Vorschrift leben, nennen sich Tugend«. Allerdings rühmen andere Stellen der Schrift wieder die mönchische Entsagung, die Lust an schmerzlicher, ja ekelhafter und kreaturwidriger Arbeit; doch regierend bleibt, trotz dieser Inkonsequenzen, der Epikureismus. »Das ist die Ansicht der Utopier über Tugend und Vergnügen, und falls nicht eine vom Himmel herabgesandte Religion dem Menschen einen frömmeren Gedanken einhauchen sollte, so meinen sie, es sei keine Ansicht zu finden, die nach menschlicher Vernunft der Wahrheit näher käme.« Auch das Christentum scheint den Utopiern einen »frömmeren Gedanken« nicht zu enthalten; sie haben die christliche Religion vorzüglich nur deshalb angenommen, »weil sie hörten, Christus habe die kommunistische Lebensführung seiner Jünger gutgeheißen«. Sonst haben alle Religionen in großartig unierender Toleranz Platz, auch Sonne-, Mond- und Planetenanbetung. Die Utopier haben sich über einen gemeinsamen Kultus geeinigt, den jede Partei in ihrem Sinn und durch besondere Kultformen ergänzt; Utopia ist das Eldorado der Glaubensfreiheit, um nicht zu sagen: das Pantheon aller guten Götter. »Denn das ist eine der ältesten Verfassungsbestimmungen der Utopier, daß keinem seine Religion Schaden bringen darf... Diese Bestimmung hat der Gründer Utopias getroffen, nicht nur mit Rücksicht auf den Frieden, sondern weil er der Meinung war, daß eine solche Festsetzung auch im Interesse der Religion liege. Er hatte nicht die Vermessenheit, über die Religion irgend etwas endgültig zu /(606) bestimmen, da es ihm nicht sicher war, ob Gott vielleicht selber eine vielfältige Art der Verehrung wünsche und daher dem einen diese, dem anderen jene Eingebung schenke.« Es sind dies freilich die erstaunlichsten Sätze aus dem Mund eines nachmaligen Märtyrers der Papstkirche; sie stellen die Absolutheit des Christentums selbst in Frage. Sie geben nicht nur
einen ersten Hauch der Aufklärung, sondern gleich deren volles Aroma; sie brechen den Obrigkeitsstaat an seiner härtesten Stelle entzwei, an der des Glaubens- und Gewissenszwangs. Die Kraft aber zu dieser Freiheit stammt bei Morus immer wieder aus der Abschaffung des Eigentums, und zwar aus genereller Abschaffung, nicht aus bloßem Klosterkommunismus. Das Eigentum allein schafft Herren und Knechte, schafft Parteiungen unter den Herren selbst, Bedürfnis nach Macht und Obrigkeit, Kriege um Macht und Obrigkeit, Glaubenskriege und unchristliche Auspressung durch Staat wie Kirche. Derart taucht am Schluß der »Utopia« eine Ahnung des Mehrwerts auf: »Was soll man dazu sagen, daß die Reichen von dem täglichen Lohn der Armen alle Tage noch etwas abzwacken, nicht nur durch privaten Betrug, sondern sogar auf Grund öffentlicher Gesetze?« Ebenso schimmert-rückwärts wie vorwärts vereinsamt - eine Art vormarxistischer Begriff des Klassenstaats hindurch: »Wenn ich alle unsere Staaten, die heute irgendwo in Blüte stehen, betrachte, so stoße ich auf nichts anderes als auf eine Verschwörung der Reichen, die den Namen und Rechtstitel des Staats mißbrauchen, um für ihren eigenen Vorteil zu sorgen. Sie hecken sich alle möglichen Methoden und Kunstgriffe aus, zunächst um ihren Besitz, den sie mit verwerflichen Mitteln zusammengerafft haben, ohne Verlustgefahr festzuhalten, sodann, um die Mühe und Arbeit der Armen so billig als möglich zu erkaufen und zu mißbrauchen... Aber selbst wenn diese abscheulichen Menschen die Güter des Lebens, die für alle gereicht hätten, unter sich aufgeteilt haben, - wie weit sind sie dennoch entfernt von dem glücklichen Zustand des utopischen Staats!« Mit einem Hymnus darauf schließt das heilsame und festliche Buch ab: »Welche Last von Verdrießlichkeiten ist in diesem Staat abgeschüttelt, welche gewaltige Saat von Verbrechen mit der Wurzel ausgerottet, seit dort mit dem Gebrauch des Geldes zugleich die Geldgier beseitigt ist. Denn wer sieht /(607) nicht, daß Betrug, Diebstahl, Raub, Streit, Aufruhr, Zank, Mord, Verrat und Giftmischerei, jetzt durch tägliche Bestrafungen mehr nur geahndet als eingedämmt, mit der Beseitigung des Geldes alle zusammen absterben müßten und daß überdies auch Furcht, Kummer, Sorgen, Plagen und Nachtwachen in demselben Augenblick wie das Geld verschwinden müßten?« Thomas Morus findet in der Würdigung des Raphaelschen Berichts, es gebe in der Verfassung der Utopier sehr vieles, was er in unseren Staaten eingeführt sehen möchte, freilich fügt er hinzu, sei das mehr Wunsch als Hoffnung. Eine Wunschkonstruktion ging auf, eine rationale, in der keinerlei chiliastische Hoffnungsgewißheit mehr ist, dafür aber postuliert sich diese Konstruktion als eine aus eigenen Kräften herstellbare, ohne transzendente Unterstützung oder Eingriff. »Utopia« ist weithin ins irdisch Ungewordene, in die menschliche Freiheitstendenz hinein entworfen - als Minimum an Arbeit und Staat, als Maximum an Freude. Gegenstück zu Morus: Campanellar Sonnenstaat oder die Utopie der sozialen Ordnung Der Bürger blühte späterhin auf, gerade indem er neuen Zwang bejahte. Ausgeübt vom König gegen die kleinen, feudalen Herrn und ihre zersplitterte Wirtschaft. Das war der Fall im siebzehnten Jahrhundert, als die Produktion vom Handwerk in große Werkstätten, in Manufaktur überging. Als sie infolgedessen, in den vorgeschrittenen Ländern, auf einen großen, einheitlich verwalteten Wirtschaftskörper tendierte. Das Barock ist die Zeit der zentralisierten Königsgewalt, sie war damals progressiv. Dem Einklang des bürgerlichen Interesses mit der Monarchie entsprach nun eine völlig obrigkeitliche, auch bürokratische Utopie: Campanellas »Civitas solis«, erschienen
1623. Statt der Freiheit, wie bei Morus, klingt jetzt das Lied der Ordnung, mit Herr und Aufsicht. Statt eines Vorstehers der Utopier, im schlichten Franziskanermantel, mit Getreidekrone, erscheint ein Herrscher, ein Weltpapst. Auch liebte Campanella an den Verführungen Amerikas nicht mehr, wie Morus, die paradiesische Unschuld unter Insulanern, sondern das hochgebaute Inka-Reich von einst. Lewis Mumford, in »The Story of Utopias«, 1922, nennt Cam- /(608) panellas Utopie geradezu eine »Heirat zwischen Platons Politeia und dem Hof des Montezuma«. War doch, wie oben bemerkt, Platons »Politeia« die erste utopisierende Ordnung, lange bevor es einen Staatsroman der Freiheit gab. Im Titel wie in der geographischen Lage berührt sich Campanellas »Sonnenstaat« mit dem des Jambulos; wobei jedoch die Staatssonne bei Campanella nicht mit mühelosem hellenistisch-orientalischem Überfluß scheint, sondern eben mit zentralisierter Strenge, wie sie auch der künstliche Jesuitenstaat in Paraguay recht campanellahaft praktizierte. Insgesamt standen Campanellas Träume in Zusammenhang mit damaligen Machteinheiten; er hat diese auf eine utopische Bildwand projiziert. Nicht um sie zu ideologisieren, sondern er glaubte an das Kommen seines Traumreichs und pointierte die vorhandenen Großmächte lediglich als Werkzeuge der beschleunigten Ankunft. Obwohl er siebenundzwanzig Jahre in den Kerkern der spanischen Reaktion verbrachte, die ihm nicht traute, bejubelte Campanella, der erst Beziehungen zu den Türken gehabt haben soll, ganz überstark die spanische Weltherrschaft, zuletzt die französische, in beiden Fällen aber ausschließlich als Bereitungsorte des messianischen Sonnenreichs. Bezeichnenderweise hat er noch die Widmung seiner 1637 neu erschienenen Schrift »De sensu rerum et magia« an Richelieu mit messianischem Anspruch beschlossen, nicht mit höfischer Schmeichelei: »Der Sonnenstaat, der von mir entworfene, von dir zu errichtende«; - in dieser hochmütigen Hoffnung begrüßte Campanella auch die Geburt des nachmaligen Ludwig XIV., des später wirklich so genannten Sonnenkönigs. Des näheren nun ist die Schrift über den »Sonnenstaat« ein pünktlicher Bericht, von einem weit gereisten Genueser seinem Gastfreund abgestattet. Der Gubernator Genuensis erzählt, wie er bei einer Weltumsegelung bei der Insel Taprobane (Ceylon) gelandet und in einen Haufen Bewaffneter geraten sei, die ihn in die Sonnenstadt geführt und über deren Einrichtungen aufgeklärt hätten. Bei aller Kühnheit und der üblichen romanhaften Einkleidung hat der Bericht ein Ingenieurtechnisches an sich: die civitas ist konstruiert wie ein gleichzeitiger Festungsplan von Vauban. Im Ganzen muß Campanellas Utopie konform mit dem Weltsystem ihres Urhebers verstanden werden; Campanella ist außer Bacon und dem Fichte /(609) des »Geschlossenen Handelsstaats« der einzige Philosoph unter den neueren Utopisten. Nicht grundlos ist die »Civitas solis« als Anhang zu einer »Philosophia realis« erschienen, das ist als Paralipomenon, aber auch als Probe aufs Exempel einer Natur- und Moralphilosophie. Wie der Mensch, so ist auch seine Erweiterung, der Staat, ein Abbild Gottes; wonach diese Sozialutopie vom obersten Wesen zum Staat herabsteigt und zeigen will, daß er als vollkommen gedachter den Ausstrahlungen eines göttlichen Sonnensystems gleicht. Die kommunistischen Züge einer solchen Herrschafts-Utopie mögen überraschen; nur eben: hier ist nicht Utopie der Freiheit am Werk, sondern der personlosen Ordnung, gedacht im Weltstaat. Dessen administrative Durchorganisiertheit wurde in einem Inselmodell gespiegelt, wobei der Widerspruch zwischen Universalreich und Inselstadt unterdrückt wird. Das Leben geht militärmonarchisch nach der Uhr, strengste Pünktlichkeit und Vorgeordnetheit zeigen ihren Nutzeffekt sowohl zeit- wie verwaltungs- wie wirtschaftstechnisch. Das beginnende Manufaktursystem, das Arbeiter und technische Produktionsmittel in
großen Werkstätten vereinigte, wird staatssozialistisch utopisiert. Andererseits verklärt Campanella die damalige Hispanisierung des Kontinents, die gezielte Intoleranz (wenn auch mit eigenen Inhalten, nicht mit denen der Inquisition). Es erscheint ein Staatssozialismus, besser: ein papistischer, mit viel byzantinischem und astrologischem Pathos im Grund. Mit dem Pathos der rechten Zeit, rechten Lage, rechten Ordnung aller Menschen und Dinge; ein befehlendes Zentrum stellt Ordnung klassenlos, doch extrem hierarchisch her. Wird so verwaltet, dann gibt es weder Reiche noch Arme, Eigentum ist abgeschafft. Alle Bürger müssen arbeiten, ein Vierstundentag genügt, man kennt weder Ausbeutung noch Profit. Die Gewerbe werden jeweils gemeinsam, unter Aufsicht und ohne Einzelgewinn betrieben, gemeines Wohl ist höchste Aufgabe. Die jetzigen Staaten knirschen vor Selbstsucht: »Wenn es aber kein Eigentum mehr gibt, so wird sie zwecklos und verliert sich.« Die Laster der Armut wie die größeren des Reichtums sind verschwunden, es gibt keine anderen als Ehrenstreitigkeiten: »Die Solarier behaupten, daß Armut die Menschen niedriggesinnt, hinterlistig, diebisch, heimatlos, lügenhaft mache. Aber /(610) der Reichtum macht unverschämt, hochmütig, unwissend, verräterisch, prahlerisch und herzlos. In einem wahren Gemeinwesen dagegen sind alle reich und arm zugleich - reich, weil sie nichts wünschen, was sie nicht gemeinsam haben, - arm, weil keiner etwas besitzt, und folglich sind die Solarier nicht den Sachen versklavt, sondern die Sachen dienen ihnen.« Indem aber das Eigentum derart abgestorben ist, wird nicht auch der Staat verringert, wie bei Morus, er wird vielmehr höchster Zweck der Gesellschaft; von der provincia zum regnum, zum imperium, zur monarchia universalis und schließlich zum Papstreich aufsteigend. Der Staat garantiert gerade den angenehmen Teil der Ordnung, die Güterverteilung: »Alles, was die Solarier brauchen, erhalten sie vom Gemeinwesen, und die Obrigkeit sorgt streng dafür, daß keiner über Gebühr empfange, keinem ein Benötigtes verweigert werde.« Vor allem sucht noch Campanellas Staat seine Macht in der präsenten Metaphysik, die er darstellt, im Abbild Gottes, nach Campanellas Philosophie. Die Obrigkeit spiegelt die Grundkräfte der kosmischen Ordnung, jene drei »Primalitäten« des Seins, welche die menschlichen Erfahrungen wie Wirkungskreise beherrschen. Es sind Sapientia, Potentia, Amor, ihre Einheit ist Gott, sie greifen und emanieren aus Gott durch vier immer körperlicher werdende Welten ins jeweils geschichtliche Dasein, den »mundus situalis«. In ihm brauchen die »Primalitäten« selber eine Verkörperung, um die Ordnung zu schaffen, die allemal nur eine der rechten Zuordnung sein kann: Gott wird der päpstliche Weltherrscher, in Campanellas Utopie auch Sol oder Metaphysicus genannt. Ihm unterstehen drei Fürsten, deren Wirkungskreis den Regionen Sapientia, Potentia, Amor genau entspricht, wie in einem kabbalistischen Raum. Geschichte wird Herstellung dieses einzig rechten, nämlich senkrechten Staatsraums; wie denn der Raum überhaupt bei Campanella überall gefeiert wird, »als unvergängliches und fast göttliches, alles durchdringendes Behältnis der Dinge«, das selber nach Erfüllung strebt und den horror vacui füllt, das Grauen vor Chaos und Nichts. Notwendigkeit als Ausdruck der göttlichen Potentia besiegt den Zufall (contingentia), Bestimmtheit (fatum) als Ausdruck der göttlichen Sapientia besiegt den Einzelfall (casus), Ordnung aber (harmonia), vor allem diese, als /(611) Ausdruck des göttlichen Amor besiegt den Glücksfall, Wechselfall (fortuna). Das aufsteigende Bürgertum steht derart bei Campanella (wie vorher bei Cusanus) durchaus im Kampf gegen das Nichts; anders als das absteigende, sich ins Nichts hineinkniende, panchaotische. Campanellas Weisheits-, Macht-, Liebe-Ordnung, die der drei »Primalitäten« also, ist dem Chaotischen: dem Zufall, dem Einzelfall, dem
Wechselfall, aber entgegengesetzt. Und die Ordnung ist genau als aktive entgegengesetzt, indem contingentia, casus, fortuna lediglich »a nihilo contracta «, eben die Überreste des toten Nichts sein sollen (De monarchia p. 1), aus dem Gott die Welt ins Dasein rief. Recht emanatistisch freilich wollte Campanella das Nichts oder Non-Ens in der Welt zuletzt durch Einstrahlung des Ens, des Sol, des Sonnenwesens besiegen. Es überrascht daher nicht, daß die weitere Weisung einer so durchherrschten Welt der Mythos der Astrologie werden konnte; denn sie vor allem garantiert die Abhängigkeit von oben. Astrologie entsprach dem Fanatismus dieser Ordnung, sie wirft den Menschen mit allen Dingen unter Planeten und die regierenden Häuser des Tierkreises. Das häusliche wie das öffentliche Leben der Solarier, der Verkehr wie die Stadtanlage, selbst Bad, Mahl und rechter Beischlaf geschehen nach Sternstunden: »Männer und Frauen schlafen in zwei getrennten Kammern, erwarten den Moment ihrer fruchtbaren Vereinigung: zur bestimmten Zeit öffnet eine Matrone die beiden Türen von außen. Diese Zeit bestimmen der Arzt und der Astrologe, welche den Moment zu treffen suchen, in welchem Venus und Merkur östlich von der Sonne in einem günstigen Hause stehen, im glückverheißenden Anblick des Jupiter.« Die Wahlfreiheit und die Freiheit überhaupt sind derart aus dem Menschen herausgenommen, nicht zwar in mechanisierender, wohl aber in Weise einer Sterndiktatur, von oben herab, überall. Astrologie ist heute nur noch eine Ruine abergläubischer Baukunst, damals aber war sie noch lebendig und anerkannt, eine Art Ständehaus, das mit seinen Patriarchalismen sich durch die ganze Welt erstreckt. Und nur nebenbei wohnen einige Freigelassenheiten - nicht Freiheiten in der totalen Hierarchie, sie sind einzig fehlende Verbote. Es gibt mehrere solcher fehlenden Verbote: »Die freie Zeit kann der Solarier mit angenehmem Studium, Spaziergang, geistigen /(612) und körperlichen Übungen und mit Vergnügen zubringen.« Ebenso erreicht der Venusberg nicht die Höhe der sonstigen Pedanterie, die astrologischen Gesetze des Beischlafs sind nur für prospektive Eltern verpflichtend: »Die übrigen, die entweder zum Vergnügen oder auf ärztliche Verordnung oder als Reizmittel Umgang mit Unfruchtbaren oder Prostituierten pflegen, lassen diese Gebräuche außer acht.« Ja es gibt sogar liberalistischen Schein an der Stelle, wo der Staat am ernstesten hervortritt, bei Gelegenheit eines Todesurteils: »Der schuldig Befundene muß sich in diesem Fall mit dem Kläger und dem Zeugen versöhnen, indem er ihnen, gleichsam als den Ärzten seiner Krankheit, Kuß und Umarmung gibt. Überdies wird das Todesurteil in Solarien an keinem Verurteilten vollzogen, als bis dieser selbst durch überlegene Gründe zur Überzeugung gelangt ist, es sei nötig, daß er sterbe, und bis er dahin gebracht worden ist, selbst die Vollziehung des Todesurteils zu wünschen.« Eine ähnliche Forderung stellt zwar Rousseaus »Contrat social«, doch der Unterschied zwischen der Gesinnung hier und der Campanellas könnte nicht größer sein. Rousseau will die Selbstbestimmung noch im Akt ihrer Vernichtung wahren, Campanella dagegen gebraucht die Liberalität als Hilfsmittel des stärksten autoritativen Triumphs. Denn das rechtens verurteilte Individuum will sich hier selber als Abweichung vernichtet sehen oder in der Kirchensprache: laudabiliter se subjecit. Die Subjektivität ist nur genau so weit vorhanden, als sie ihrer Austilgung zustimmt. Das heißt, es wird ihr sogar das Refugium genommen, ein Rebell sein zu können oder ein beharrender Ketzer. So triumphiert totaler Konformismus eben dort, wo er eine Ausnahme zu erleiden scheint; Campanellas »Sonnenstaat« stellt auch in seiner Humanität den äußersten Gegenpol zur Utopie der Freiheit dar. Ordnung ist die Tugend selbst und ihre Versammlung: »Bei den Solariern gibt es soviel Obrigkeiten als bei uns Namen von Tugenden: Großmut, Tapferkeit, Keuschheit,
Freigebigkeit, Heiterkeit, Nüchternheit und so fort. Und zu den Ämtern werden sie ausgewählt, je nachdem sie schon als Kinder in der Schule den größten Hang zu dieser oder jener Tugend verraten haben.« Glück bleibt auch in dieser harten Utopie Summum bonum, doch eben das Glück des Dienens, angeschirrt zu einem Gottesdienst, /(613) der - bei völliger Einheit geistlicher und weltlicher Gewalt dasselbe ist wie Staatsdienst. Soviel über Campanellas Zukunftsstaat, er enthält Zwangsrausch ohnegleichen, er überbietet Platons Sparta-Ideal durch Verwendung der ganzen seitdem gekommenen bvzantinischen und katholischen Hierarchie. Außer den Eigentumsverhältnissen ist das Leben nur deshalb so schlecht, weil die Menschen nicht an ihrem Ort sind, weil mundus situalis, der bloße Situationszustand des Lebens, in den Situationszufällen seines Halb-Nichts taumelt. Weil keine Eintracht herrscht und kein Einverständnis mit den durchwaltenden Himmelskräften, kein Einklang mit ihnen; weil der Staat nicht im Lot ist. Das ist immer wieder der Grundgegensatz zu den Freiheits-Utopien, so verschiedener Gestalt, von den Kynikern bis Thomas Morus, bis schließlich zum Anarchismus; bei Campanella bricht der Gegensatz bewußt aus. Die Abschaffung des Privateigentums löst den Gegensatz nicht auf: denn bricht sie bei Morus Unter- und Überordnung überhaupt, setzt sie völlige Gleichheit, so wird diese Gleichheit bei Campanella gerade zum Baugrund, worauf sich neue Hierarchie erhebt, die der Begabungen, Tugenden und »Primalitäten«. Verdeutlicht man sich den Gegensatz Morus - Campanella an den beiden mehr miteinander konkurrierenden als verbundenen Naturmythen ihrer Zeit, so läßt sich sagen: Morus oder die Utopie der Freiheit entspricht fast so sehr der Alchymie, wie Campanella oder die Utopie der Ordnung eben der Astrologie entspricht. Morus erwähnt die Alchymie nirgends, schon deshalb nicht, weil Gold auf seiner Insel verachtet ist und weil Metallveredlung im symbolischen Sinn, als Weltveredlung, dort nicht mehr nötig zu sein scheint. Aber wenn Morus gleich eingangs erzählen läßt, daß der Gründer seiner Insel sie vom Festland erst abgesprengt habe, wenn sie, wie Morus sagt, gerade von der Welt der »plumbei« oder Bleiernen abgeschieden ist, so wurden diese Stellen bald alchymistisch gedeutet und waren, im Sinn der späteren Rosenkreuzer oder eingeweihten »Generalreformatoren« (Andreä, Comenius), so deutbar. »Utopia« wird aus der schlechten Welt herausdestilliert wie Gold aus Blei, - Alchymie galt als die Mythologie dieser Befreiung. Campanella dagegen erwähnt zwar Alchymie durchaus, bereits der Goldglanz in Sol und Civitas solis legte diese Erinnerung nahe, doch /(614) das bei ihm durchgehende Pathos der Astrologie verhinderte, daß soziale Goldbefreiung aus dem vorgeordneten Raum herausbrach und ihn sprengte. Harmonie der unteren Welt war auch bei Campanella eine erst zu gründende, doch bleibt » Civitas solis « scharf an die Sternregenten angeschlossen. Utopie muß hier nicht herausprozessiert werden, sondern sie ist kosmischer Einklang, und es ist nicht zuviel, sondern zuwenig Regierung in der bisherigen Gesellschaft, folglich zuwenig Astrologie. Derart ist der Gegensatz zwischen dem Morus- und dem Campanella Modell auch ein mythologischer; und er reicht - ohne mythologische Hülle - in sämtliche nachfolgende Utopien. Der liberalföderative Sozialismus (von Robert Owen an) hat Morus zum Ahnen, der zentralistische (von Saint-Simon an) berührt sich mit Campanella, mit breitliegendem, hochgebautem Regiment, mit Sozialutopie als Strenge und disponiertem Glück. Sokratische Frage nach Freiheit und Ordnung, unter Berücksichtigung von »Utopia« und »Civitas solis«
Je größer die Worte, desto eher kann sich Fremdes in ihnen verstecken. Dies ist besonders mit Freiheit, mit Ordnung der Fall, wobei oft jeder sich das Seine denkt. Die Insel, auf der die eine oder die andere sich angesiedelt hat, vermindert trotz ihrer Kleinheit das ausgedehnt Vieldeutige dieser Grundsätze nicht. Ein Sokrates stellte sich unwissend über Begriffe, die jeder zu verstehen glaubte, und er wollte sich bei sogenannten Kennern ironisch Rats erholen. Doch wie bald verwickelten sich diese in Widersprüche, wurden verwirrt, Nachdenken kam endlich in Fluß. Auch Freiheit, sodann Zwang und Ordnung müssen derart befragt werden, um nicht Schlagworte für bloße, oft betrogene Meinungen zu sein. Setzen Thomas Morus demokratische Freiheit, Campanella autoritäre Ordnung als synonym zu sozialem Glück, so haben vorher wie nachher diese Politika schon ganz Verschiedenes erlebt und bedeutet. Das Problem der Freiheit ist ihre Vieldeutigkeit und ihr besonders großer Funktionswandel während der Geschichte. So sind nicht nur psychologische oder Wahlfreiheit, politische oder Selbstbestimmungsfreiheit voneinander zu trennen. Auch innerhalb der Selbstbestimmungs- /(615) freiheit kommt alles auf die Gruppe an, die sie anstrebt, auf den jeweiligen Zustand der Gesellschaft, worin der Liberté-Ruf noch jungfräulich ist. So reicht er von freier Konkurrenz, wirtschaftlichem Manchestertum bis zum Kampf gegen eben diese liberalen Herren. Er reicht von dem bürgerlich-revolutionären Akt, der die freie Konkurrenz gegen Zunftschranken und feudale Bevormundung durchsetzte, bis zur freien revolutionären Tat des Proletariats, die genau wieder vom emanzipierten Bürger emanzipiert. Der Freiheits-Ruf reicht von der »Libertät« der deutschen Territorialfürsten, stabilisiert gegen den Kaiser in Wien, bis umgekehrt zur Abschaffung der Fürsten, des beherrschenden Klassenstaats insgesamt. Freiheit: sie wird verlangt von der neufeudalen Libertät der Industriefürsten und Monopole, und sie erfüllt, mit radikalem Gegensatz, das Programm: Expropriation der Expropriateure. Die phrygische Mütze deckt sowohl den nationalen Befreiungskrieg wie den revolutionären Bürgerkrieg gegen die Geßlerschicht in der Nation selbst. All das zeigt Freiheit als einen in seinen Inhalten variierbaren Beziehungsbegriff; sogar das Formale dieser Beziehung ist noch verschieden, je nachdem, ob Befreiung von etwas oder zu etwas erstrebt wird. Das Eigentum an den Produktionsmitteln bedingt eo ipso Unterdrückung derer, die als einziges Kapital ihre Arbeitskraft besitzen. Ein noch so gründlich gemeinter Liberté-Ruf, wenn er innerhalb der Eigentums-Gesellschaft geschieht, verändert nur die Abhängigkeit wirtschaftlich schwächerer Klassen, unterhalb der siegenden Freiheitsklasse, oder setzt neue Sklaven, so das Industrieproletariat. Die Freiheit des Erwerbs endete, indem sie keine Freiheit vom Erwerb geworden ist, eindeutig in Tyrannei, und zwar in besonders drückender; kapitalistische Demokratie ist Plutokratie, Sokrates hätte also in der vielerlei ökonomisch-politischen Freiheit wenig Übereinstimmendes und wahrhaft Emanzipierendes entdeckt, es sei denn dort, wo von den Eigentums-Herren, als dem Quell jeder politischen Nicht-Freiheit, emanzipiert wird. Überall sonst besteht nur das spezielle Interesse an einer Freiheit, die die Freiheit eines speziellen Interesses ist. Dagegen, wo das Eigentum weggehoben wird, gibt Freiheit, im politisch-sozialen Gebrauch, das Gemeinsame heraus, worauf ja Sokrates bei seinen Fragen intendiert hatte, oder /(616) wenigstens einiges von diesem Wesen. Es ist das, was Morus trotz allem zu einem Exempel der Freiheitsutopien macht und was das Verhältnis Herr - Knecht angreift. Wesenhaft lebt in Freiheit die Opposition gegen ein ohne Zustimmung Vorgeordnetes, gegen das die Abhängigen überkommende, ihnen überkommene soziale Schicksal. Wesenhaft wirkt in Freiheit der Gegenzug eines subjektiven Faktors gegen jene
Notwendigkeit, woran die Menschen ohne Willen, wider Willen und jedenfalls ohne Begriff angeschlossen sind. Der subjektive Faktor braucht keiner des Individuums zu sein, er ist sicherer einer der Gemeinschaft, welche in corpore unterdrückt ist und in corpore, ihre Individuen mitbefreiend, gegen Unterdrückung aufsteht. Die Notwendigkeit andererseits muß nicht nur eine schlechthin feindliche sein, wie in ihren überalterten Zeiten, wo sie nur noch durch Tyrannei künstlich aufrechterhalten wird. Sie kann auch in Gesellschaft wie in Natur die blinde sein, welche blind ist, insofern sie nicht begriffen wird. Gegen diese Notwendigkeit tritt sozial-politische Freiheit an, und sie wird erst Freiheit in ihrem völligen oder Wesens-Sinn, indem sie sich mit den Kräften der Notwendigkeit konkret vermittelt. Dieser Art definiert Engels im Anti-Dühring soziale Freiheit in concreto: »Die objektiven fremden Mächte, die bisher die Geschichte beherrschten, treten unter die Kontrolle der Menschen selbst. Erst von da an werden die Menschen ihre Geschichte mit vollem Bewußtsein selbst machen, erst von da an werden die von ihnen in Bewegung gesetzten gesellschaftlichen Ursachen vorwiegend und in stets steigendem Maße auch die von ihnen gewollten Wirkungen haben. Es ist der Sprung der Menschheit aus dem Reiche der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit.« An dieser Freiheit sind noch tausend Probleme, nämlich des Wozu und Inhalts, des Selbst, das in der Selbstbestimmung bestimmt wird, doch es gibt keine Vieldeutigkeit mehr. Vorausgesetzt dazu ist, bei Morus und den meisten Utopien, die Abschaffung des Privateigentums und der von daher erzeugten Klassen. Vorausgesetzt ist der Konsequenzwille zur Negation des Staates als einer Herrschaft über Personen, als eines Unterdrückungsinstruments in den Händen Privilegierter. Bei Engels wird der Staat nicht primär negiert, aber schließlich zurückgebracht auf die Verwaltung von Sachen und die Leitung /(617) der Produktionsprozesse; irgendein Pathos hat er auch hier nicht mehr der Staat wird unfühlbar, als Druck stirbt er ab. Weniger vieldeutig als schlechthin rückschrittlich wirkt das harte Wort Zwang, es schreckt. Und doch schwankt selbst hier etwas, so sehr alles wie Schraube, nichts wie Freiheit aussieht. Denn zu beachten ist, wer denn den Zwang, mithin die Aufrechterhaltung der Ordnung ausübt und wozu diese ausgeübt wird. Ist das beachtet, dann erhellt, auch Ordnung hat mehrere Gesichter, und der Staat, der mit ihr gemacht wird, bleibt nicht der gleiche. Es gibt eine des puren Zwangs, womit schlechte Gemeinschaft sich gegen einige ihrer Wölfe, vorab aber gegen alle ihre Opfer durchsetzt, und eine andere aus der Gemeinschaft selbst, aus ihrem Halt und Bau. Im ersten Fall ist gar keine wirkliche Ordnung, sondern einzig regulierte oder aber gewaltsam aufrechterhaltene Unordnung. Auch die kapitalistische Gemeinschaft wird dann nur möglich, indem individuelle Freiheit, das ist hier die der Warenbesitzer, im sogenannten Rechtsstaat auf das Maß eingeschränkt wird, das die so individuelle Freiheit jedes anderen Bürgers unangetastet läßt. Diese Einschränkung ist nicht aus dieser Freiheit genommen, obwohl das im liberalen Naturrecht versichert wird, sondern schwebt über ihr, ist als Notstand ihr aufgesetzt. Der Notstand heißt bürgerliche Ordnung: als Zwang steht sie den wirtschaftlich ohnehin Unterdrückten und ihrem Aufruhr entgegen, als Schlauheit ist sie den Starken und ihrer Konkurrenz verschworen. Ganz anders zeigt sich die Ordnung im zweiten Fall beschaffen, im Fall sozialistischer Wirtschaft und Gesellschaft. Sie erscheint dann nicht als purer Zwang oder erzwungener Notstand, nicht als Bedingung des Zusammenlebens, gar der Gemeinschaft selbst. Sondern Gemeinschaft ist dann ohnehin primär, der Mensch hat, wie Marx in der Schrift »Zur Judenfrage« hierzu sagt, seine forces propres als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert. Er trennt daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr als politische
von sich ab, als abstrakten politischen Ordnungsstaat, im Gegensatz zu dessen egoistisch wirtschaftenden Elementen. Ordnung verliert dann den Zwang der individuellen Einschränkung; denn der Zustand homo homini lupus ist beendet, Einschränkung des Erwerbsbürgers durch einen abstrakten Staatsbürger nicht mehr /(618) notwendig. Jeder hat die Gelegenheit, ein Mensch zu sein, weil keiner mehr die Gelegenheit hat, ein Monstrum zu sein; so geht der sozialen Ordnung sowohl ihr Zwangscharakter wie ihre abstrakte Idealität verloren. Das gesellschaftliche Individuum hat den abstrakten Staatsbürger in sich zurückgenommen und sich in ihn aufgenommen; so wird Gemeinschaft selbstverständlich, Ordnung konkret. Sie hat sich, sobald die kapitalistische Bedrohung an den Grenzen aufgehört hat, nicht mehr bewaffnet aufrechtzuerhalten, gegen eine unterdrückte Klasse, sondern stellt sich, bei verschwundenem Anlaß zur Unterdrückung, als einverständliche Organisation und Umfassung dar. Solch konkrete Ordnung ist zuletzt dasselbe wie klassenlose Gesellschaft, ist die Struktur dieser nicht-antagonistischen Gemeinschaft schlechthin. Konkrete Ordnung erscheint im unwesentlich Gewordenen als Leitung von Produktionsprozessen, im wesentlich Bleibenden als Bau immer zentralerer Zieleinheit des Menschengeschlechts oder als Bau des Reichs der Freiheit. Ersichtlich liegt damit ein anderer Ordnungsbegriff vor als der des puren Zwangs und der Einschränkung; Ordnung wirkt in der Gemeinschaft selbst, als ihr immanenter Halt. Allerdings wird Ordnung so nicht Spiel, sie bewahrt vielmehr ihren Organisations- und Reichscharakter. Gerade als Organisation verhält sie sich darum nicht unbedingt konträr zum wichtigsten Motiv in Campanellas Ordnungs-Utopie: zur Aufhebung von unbeherrschtem Zufall, Einzelfall, Glücksfall (contingentia, casus, fortuna); zum Willen, die Dinge aus einem Zentrum her ins Lot zu bringen. Und nicht grundlos lebt im Marxismus außer dem gleichsam Toleranten, das sich im Reich der Freiheit ausdrückt, auch das gleichsam Kathedralische, das eben im Reich der Freiheit, in der Freiheit als einem Reich sich ausdrückt. Die Wege dazu sind gleichfalls nicht liberal; sie sind Eroberung der Macht im Staat, sind Disziplin, Autorität, zentrale Planung, Generallinie, Orthodoxie. Und das Ziel, welches jeder künftigen Freiheit den Halt gibt, zeigt gleichfalls mit dem Liberalismus der Dissoziierung keinerlei Verwandtschaft; konträr: gerade totaleFreiheit verliert sich nicht in einen Haufen hüpfender Beliebigkeiten und in die substanzlose Verzweiflung, die an deren Ende steht, sondern siegt einzig im Willen zur Orthodoxie. Ordnung ist also gleichfalls kein einfacher Begriff, /(619) und Sokrates hätte viel Hebammenkunst nötig, bis ihr Wesen erschiene. Als ein Wesen, das ohnehin - noch deutlicher als die Freiheit - erst in eigentumsloser, klassenloser Gesellschaft auf gehen kann. Das Wesen der Freiheit hat den Willen hinter sich, das Emotional-Intensive, das durchbrechen und sich schrankenlos verwirklichen will; das Wesen der Ordnung dagegen hat das vollendet Logische für sich, die Faßbarkeit eines Gutgeworden, oder Gelungenseins. Davon lebt zuletzt sogar der Versuch: Ordnung in allen möglichen Feldern und Sphären, von Sauberkeit und Pünktlichkeit bis zum Überblick des Männlichen und des Meisterlichen, vom Zeremoniell bis zum Baustil, von der Zahlenreihe bis zur philosophischen Systematik. In einigen dieser Dispositionen ist die Ordnung nur äußerlich oder auferlegt, gleich dem Staatsgesetz in den Unterdrückungs- und Klassengesellschaften. In anderen Dispositionen aber, so vor allem in den künstlerisch-genauen und in denen philosophischer Systeme von Rang, kommt die Ordnung zum Teil bereits aus dem Material selbst. Sie ist ihm der Tendenz nach eingeschrieben, derart, daß Chaos, das keines ist oder bleibt, selber den Stern und die Sternfigur latent in sich hält. Die Freiheit hat in ihren Manifestationen das Gemeinsame, nicht von einem dem Willen Fremden oder
Entfremdeten determiniert sein zu wollen: das Gemeinsame der Ordnung aber ist der Wert der Gebautheit, die keiner Emotion mehr bedürftige Entronnenheit. Es ist dies Enthobene und an seinen Platz Gelangte, ja dies Reichshafte, das in anderen Welten, die weniger im argen liegen als die politische, beste Ruhe kenntlich macht und als Bestes kenntlich macht; so bei Giotto, so bei Bach. Das Wesen der Ordnung - und alles Wesen ist noch ein anderes als Erscheinung - bleibt so die Utopie der Zufallslosigkeit, der Situationslosigkeit. Selbst in den abstrakten oder Zwangsordnungen der Klassengesellschaft ist dieser Reichsgeist ein Tribut des Lasters an die Tugend. Er macht die Verführung oder halbe Wahrheit in Campanellas Strenge-Pathos, sozialem Baupathos aus, in der Harmonie, welches aus dem mundus situalis gegen contingentia, casus, fortuna aufsteigt und Sein der Situationslosigkeit setzt. Insofern ist Ordnung der Freiheit entgegengesetzt, nämlich der Freiheit im bürgerlich-antagonistischen Sinn, mit lauter kapitalistischen Einzelfällen als Trägern /(620) und Erwerbsglück als Ziel. Dieser Art Freiheit war teilweise bereits die bürgerliche Ordnung notgedrungen entgegengesetzt; nicht aber ist konkrete Ordnung der konkreten Freiheit entgegen gesetzt. Denn konkrete Freiheit ist ebenso der gemeinschaftlich offenbar gewordene und sozial gelingende Wille, wie konkrete Ordnung die gelungene Figur der Gemeinschaft selber ist; beide, auch die Freiheit sind nun konstruktiv. Konkrete Freiheit, konkrete Ordnung sind in diesem Postulat der Unabhängigkeit verbunden, in der Utopie eines situationslosen Seins, die das Freiheits- wie Ordnungs-Postulat regiert. Diese Verbindung ist keine stille Identität (wie etwa in der Kantischen Ethik, wenn sie Identität ihrer Freiheit mit dem Sittengesetz supponiert). Wohl aber ist die Verbindung dialektisch: Freiheit und Ordnung schlagen immer wieder ineinander über, zur Herstellung der Situationslosigkeit. Die Freiheit wird durch Ordnung beendet, indem sie sie in einem gebauten Raum oder Reich landen läßt, statt daß Freiheit in der Willenszeit endlos weiterläuft. Die Ordnung wiederum findet in der Freiheit ihr Ende, nämlich ihren einzigen Inhalt, oder das Eine, was in Ordnung zu sein not tut: den menschlichen Willen, das wesenhafte Selbst und Was dieses Willens. Das weist die Ordnung letzthin auf die Freiheit, auf dieses allerdings einzig Substantielle der Ordnung, sei es Freiheit der unterdrückten Klasse oder schließlich der klassenlos gewordenen Individuen, mit einem aus ihnen entspringenden Kollektiv. Nur der Wille Freiheit hat einen Inhalt, der Logos Ordnung hat keinen eigenen Inhalt; mit anderen Worten: das Reich der Freiheit enthält nicht wieder ein Reich, sondern es enthält die Freiheit oder jenes Fürsichsein, zu dem hin einzig organisiert und geordnet wird. Marx hat das Frei-Konföderative bei Morus und seinen Nachfolgern, das Geordnet-Zentralistische bei Campanella und seinen Nachfolgern gleichmäßig verbunden und überwunden. Ordnung ist hier das Novum: demokratischer Zentralismus, ist gemeinsame Organisation der Produktionsvorgänge, gemeinsam-einheitlicher Plan der menschlichen Information und Kultivierung. Wie der abgehobene politische Staat abstirbt, so verliert nun Kultur ihre abgehobene Verdinglichung und schwebende Abstraktheit; sie kommt in konkreten Rahmen, in konkret zusammenhaltendes /(621) Relief. Kultur verliert das Beliebige und Ziellose, sie gewinnt den scharf orientierenden Hintergrund eines Wozu; neue Heilsordnung, nämlich für den Menschenstoff, zieht auf. Freiheit erlangt einzig durch diese Ordnung ihren Inhalt als bestimmten, mindestens als immer präziser artikulierten. Aber was in der Ordnungsfigur möglicherweise hervortritt, ist und bleibt eben nichts anderes als bestimmte Freiheit; Ordnung ist demgegenüber einzig der Raum, jedoch der unabdingliche, für den bestimmten Freiheits-Inhalt. Nur der Weg über »Campanella« (als Ordnungspathos gedacht) führt dergestalt zu einer Demokratie des » Morus«
(als Freiheitspathos gedacht), an der kein liberalistisches juste milieu, in keinerlei Gestalt, möglich ist, sondern ein Reich von Individuen anfangen könnte, die aus der räuberisch-vereinzelten Freiheit wie aus der lauen Ungeordnetheit heraus sind und sich aufs beste Erbe aus Föderation und Zentralisierung verstehen: auf Fülle in Einheit. Das ist das gleiche wie Solidarität, als reich bewegter Zusammenklang der individuellen und der gesellschaftlichen Kräfte. Freiheit und Ordnung, harte Gegensätze in den abstrakten Utopien, gehen so in der materialistischen Dialektik ineinander über, stehen sich bei. Konkretes Freisein ist Ordnung, als die seines eigenen Felds, konkretes Geordnetsein ist Freiheit, als die seines einzigen Inhalts. Fortgang: Sozialutopien und klassisches Naturrecht Es mußte nicht immer fernhin geträumt werden, um Licht zu sehen. Besonders dann nicht, wenn ein Anspruch aufs Bessere gestellt wurde, statt seines bloßen Vormalens. Dann kam allemal Näheres, scheinbar Erinnertes, sicher Einleuchtendes auf, nämlich das sogenannte Recht, das mit uns geboren. Das unveränderlich ist oder sein soll und als natürliches Recht allen willkürlichen Satzungen überlegen. Es rechtfertigt, ja fördert gegebenenfalls Widerstand gegen die Satzung, von einem höheren Standort aus als dem des geschriebenen Rechts. Dies uralte, bezeichnenderweise mutterrechtlich bestimmte Antigone-Motiv kam, durch stoisches Naturrecht vermittelt, im sechzehnten Jahrhundert zu neuem Glanz. Seine mutterrechtlichen Züge, obwohl in der Stoa noch deutlich erkennbar, sind freilich ziem- /(622) lich geschwunden. Ziemlich, nicht ganz; denn bei Rousseau, im Preis der ebenso gütigen wie gleichmachenden Natur, sind sie noch deutlich wirksam. Doch tritt das Naturrecht, indem es im erstarkenden Bürgertum ein revolutionäres, ein tyrannenfeindliches wird, sogleich hart auf. Es ist aus anderem Stoff als die sozialen Utopien, wenngleich das Wunschziel verwandt ist, und hat sie vorübergehend ersetzt. So fremdartige Brüder wie Hugenotten (nach der Bartholomäusnacht) und Jesuiten (in der Bekämpfung der Ketzerstaaten) haben, durch juristische Legitimierung des Tyrannenmords, die Theorie der bürgerlichen Revolution vorbereitet; Naturrecht gegen geschriebenes erlangte von da an seine politisch wie methodisch scharfe Gestalt. Althus (Politica, 1610) lehrte, daß der Widerstand gegen ungerechte Herren nicht Aufruhr, sondern Wahrung eigener verletzter Rechte sei. Er benutzte dazu die epikureische Lehre vom Vertrag, den die Menschen freiwillig zur Gründung eines Staats eingegangen sind. Bei Epikur war von einer Kündigung dieses Vertrags noch keine Rede; Althus aber begründet durch sie den Widerstand. Wird der Vertrag von Seite der Obrigkeit gebrochen, wird nicht mehr nach dem Willen und Wohl des Volkes regiert, dann ist er auch nach der anderen Seite nicht mehr verbindlich. Das Volk widersteht nun mit Recht der ungerecht gewordenen Obrigkeit, es entzieht ihr seine Vollmacht. Mit geminderter Widerstandslehre, aber verstärkter Trennung von positivem und ungeschriebenem Gesetz erscheint der logisierte Traum vom Rechten bei Grotius (De jure belli et pacis, 1625); er begann das neuere Naturrecht als System. Das heißt: der Trieb und seine Absicht, womit hier ein Gemeinschaftsvertrag geschlossen worden ist, erscheinen zugleich als das »Prinzip«, woraus die Sätze des Naturrechts a priori abgeleitet werden. Der derart begründende Ursprung des Staats ist der, appetitus socialis, der Trieb zur geordneten und friedlichen Gemeinschaft; infolgedessen wird Unrecht alles, was diese Gemeinschaft stört oder verunmöglicht (wie Bruch des Versprechens, Aneignung fremden Guts), Recht bleibt alles, ewig zu forderndes Recht, was sie gemäß dem Anfangsprinzip in Gang hält. Dies ideale Recht ist
ersichtlich bürgerlich-demokratisch, nicht nur im Schutz des privaten Eigentums, sondern vor allem in der erhobenen /(623) Forderung nach Allgemeinheit, nach genereller Geltung der Rechtssätze für alle. Hierin ist die Theorie des Grotius fortgeschrittener als seine politische Meinung, die in vielem noch ständisch war, noch Sonderinteressen der republikanischen Aristokratie Hollands vertrat. Aber theoretisch sucht Grotius durchaus generell-richtige Vernunft im Befehlen und Verbieten, die »recta ratio«, wie er mit Cicero sagt. Er hat die «Ökumene« seines Naturrechts, als das für alle Menschen gleichmäßig geltende, deutlich in Anlehnung an die Stoa gefaßt. Hatte diese doch zuerst das Naturrecht dargestellt als ein zu allen Zeiten und bei allen Völkern gleiches, jenseits der menschlichen Willkür, jenseits der wechselnden Meinungen und der Interessen (die das positive Recht gebildet haben). Grotius nimmt die stoische Lehre vom consensus gentium auf, als empirischen Beweis des Naturrechts, und die Lehre von den communes notiones, die nur zum wissenschaftlichen Bewußtsein gebracht werden müssen, als apriorische. Die Übereinstimmung in der Gewißheit des Rechten ist so in der Natur der Vernunft, in der Vernunft der Natur begründet als der causa universalis (1. c. Proleg. 40). Von diesem allgemein bestehenden, obwohl immer wieder durch partikulare Interessen verhinderten Vernunftgesetz gibt es keinen Dispens; es ist gleich zwei mal zwei ist vier, könnte also selbst von Gott nicht geändert werden, ja wäre lex divina, auch wenn kein Gott existierte (1. c., Proleg. 71). Das Sonderbare ist, daß die apriorische Konstruktion nicht einmal ganz das Gegenteil hergab, als der Inhalt ihres «Prinzips« geändert wurde. So bei Hobbes (De cive, 1642, Leviathan, 1651), dem ursprünglichen Anwalt der royalistischen Partei Englands, dem schärfsten Verfechter absoluter Zentralgewalt und dennoch einem - Demokraten. Grundtrieb und Absicht von Natur aus sind nun nicht mehr appetitus socialis, freundlich-optimistischer, sondern schrankenlose Selbstsucht, daher homo homini lupus, daher bellum omnium contra omnes als Naturzustand. Die gleiche Selbstsucht schließt folglich den Staatsvertrag nicht als einen der Einigung, sondern der Unterwerfung, der gewollten Unterdrückung der Wolfsnatur. Diese Natur wird an einen Einzigen abgedankt, der sie behält und nun erst de jure verwendet: zur Niederhaltung aller Subjekte, zur Herstellung des /(624) Friedens und der Sicherheit, die die Selbsterhaltung, ihrem »Prinzip« nach, sucht. Außerhalb des Staats gibt es überhaupt kein Recht, und in ihm ist alles Recht, was der Herrscher befiehlt, obzwar dem «Prinzip« des Friedens und der Sicherheit aller gemäß -»auctoritas, non veritas facit legem « (Leviathan, cap. 26). Freilich kam zuletzt auch hier Demokratie heraus, sogar unumschränktere als bei dem aristokratisch-ständischen Politiker Grotius; eine vertrackte Demokratie gewiß, doch eine, die Karl II. über den Leviathan immerhin ausrufen ließ: »I never read a book which contained so much sedition, treason and impiety. « Treten Menschen mit der Absicht der Errichtung eines Staats zusammen, so ist dieser Grundakt selbst ein demokratischer; »der Eine, dem die Gewalt übergeben wird, ist einzig von der Mehrheit Gnaden« (De cive, 5, 7). Weiter bricht die Nullität, worin alle vor ,der absoluten Staatsgewalt bestehen, die ständisch-feudalen Unterschiede: alle Menschen sind gleich, weil alle Menschen vor dem Herrscher nichts sind; die Generalität des Gesetzes gerät auf diese paradoxe Weise lückenlos. Vor allem aber hat Hobbes nicht das absolute Königtum als demonstrabel dargestellt, sondern lediglich die absolute Souveränität und Einheit der Staatsgewalt. Diese war auch in republikanischer Form durchführbar; bereits in der Schrift »de cive« hatte Hobbes den demokratischen Staat dem aristokratischen als grundsätzlich gleichberechtigt gegenübergestellt; auch vertrug sich die Definition der Monarchie als erhaltener Wolfsnatur schlecht mit gesalbter Würde von Gottes
Gnaden. So seltsam ebnete sich hier Bourgeoisie, mit völlig zynisch gefaßtem Herrschertum über ihr, den Weg; und Leviathan, der Staat, ist ein Ungeheuer. Die Feindschaft von Adel und Kirche gegen Hobbes hinderte allerdings nicht, daß alles künftige Naturrecht den Worten nach als Anti-Hobbes auftrat. Dies deutlich bereits bei Locke (Civilgovemment, 1689), er kehrt zu Grotius zurück: Ursprung der Gesellschaft, also das Maß ihrer Richtigkeit, ist wieder gegenseitiges Wohlwollen, nicht gegenseitige Furcht. Hier, bei Locke, nicht bei Rousseau, wird die natürliche Güte des Menschen ungeheuerlich übersteigert, man weiß nicht, wieso es dann überhaupt zu einem Not- und Zwangsstaat kommt. Malt Hobbes in seinen Naturzustand einen Wolfs-Kapitalismus hinein, wie es /(625) zu seiner Zeit nicht einmal einen gab, so Locke eine Utopie, die an die des Morus erinnert; Naturzustand ist »Friede, guter Wille, gegenseitiger Beistand, Schutz«. Dies Wohlgeratene wirkt in gewordenen Rechtsverhältnissen und über ihnen normativ weiter: «Die Natur hat ein Gesetz, das jeden verpflichtet, und die Vernunft, die dieses Gesetz ist (reason which is that law - wiederum eine wörtliche Übereinstimmung mit der Logos Natur der Stoa), lehrt jeden Menschen, der sie befragt, daß, da alle gleich und unabhängig sind, keiner den anderen an Leben, Gesundheit, Freiheit und Besitz schädigen darf.« Ersichtlich ist hier überall Natur zwar eine Leitidee, aber noch keine Kontrastidee zur bürgerlichen Gesellschaft. Auch ist noch keineswegs das ganze Volk, sozusagen ungemildert, Träger des vernunftrechtlichen Ideals, sondern nur dessen repräsentativer Teil, in Ständen oder im ständisch gebauten Parlament. Erst in der letzten, feurigsten Gestalt des klassischen Naturrechts, bei Rousseau (Contrat social, 1762), tritt mit voller Macht das Volk auf, ständisch ungeteilt, unrepräsentiert. Der Bürger wollte selber nach dem Rechten sehen, wünschte keinen mehr, der ihn ersetzt. Haben die oberen Stände seinen Willen mißachtet, so will er keinen neuen verdächtigen Anwalt beauftragen, der ihn verfälscht. Daher Rousseaus schweizerische Vorliebe für kleine Staaten, kleine Städte, wo der öffentliche Wille unmittelbar sich kundgeben und eingreifen kann. Daher der Spott über das englische Parlament und die demokratische Farce, die die Oberschicht mit ihm vorspielt. Die Einsicht des Genfers ist in diesem Punkt verblüffend: das englische Volk, höhnt Rousseau, glaubt frei zu sein, ist es aber nur im Moment der Wahlen; wie diese vorüber, »ist es Sklave, ist es nichts«. Das völlig Neue an Rousseaus Naturrecht ist die Lehre von der Unveräußerlichkeit der Freiheit; sie und einzig sie zu erhalten, ist Sinn und Maß des wahren Staats. Und wie die Freiheit beim Einzelnen, so ist die Souveränität unübertragbar, unteilbar, unvertretbar, unbeschränkbar beim Volk. Sowenig also ein Mensch sich vertragsmäßig in Sklaverei begeben kann, sowenig kann ein Volk sich einem Fürsten übergeben: jeder Zusatz von Herrschaftsvertrag fällt mithin aus dem contrat social fort, er bleibt mehr noch als bei Grotius ein Einigungsvertrag. Und die große /(626) Frage Rousseaus lautet: »Wie kann ein Staat geschaffen werden, worin es keinen einzigen Unfreien mehr gibt, worin der Einzelne in der Gemeinschaft nicht das geringste vom Urrecht seiner Freiheit opfert« (Trouver une forme d'association qui defende et protège de toute la force commune la personne et les biens [!] de chaque associé et par laquelle chacun s'unissant à tous, n'obéit pourtant qu'à lui meme et reste aussi libre qu'auparavant? Tel est le probleme fondamental dont le contrat social donne la solution [Contrat social I, 6]). Die Antwort auf diese ungeheure Frage ist verständlicherweise weniger erschöpfend, gemäß dem bürgerlichen Klasseninhalt; sie lautet: indem Entäußerung an alle geschieht, an die ganze Gemeinschaft, bleibt der Einzelne ja selbst ein gleicher Teil dieser Allheit und erhält aus dem von ihr restlos empfangenen Freiheitsschatz genau so viel zurück,
wie er aufgegeben hat. Durch diese Reziprozität soll die Freiheit nicht aufgegeben werden, ja der Zwang, der durch den Staatsvertrag übernommen wird, soll kein anderer sein, als daß der allgemeine Wille sein Mitglied zwingen wird, frei zu sein (on le forcera d etre libre). Das ist eine ebenso formal-arithmetische wie spitzfindige Auskunft; konkret bedeutet sie wenig mehr als die Garantie der einzelnen freien Unternehmung durch einen solidarischen Interessenverband freier Unternehmer. Der allgemeine Wille, die volonté générale, wird nun gleichsam erst das sittliche Naturrecht, das dem bloßen sittlich-neutralen Naturzustand noch fehlt. Denn nur aus dem »Emile« und anderen Schriften Rousseaus, keineswegs aber aus dem «Contrat social« kann entnommen werden, daß der Mensch, folglich das Volk., unter allen Umständen gut sei. Nach dem «Contrat social« ist der Mensch im Naturzustand «ni bon ni méchant«; er wird auch zum letzteren erst durch die schlechte Gesellschaft gebracht, durch die soziale Erweckung der Selbstsucht, durch die Ungleichheit des Eigentums, die Sonderung der Stände. Ist der Mensch nun, nach dem »Contrat social«, an sich weder gut noch schlecht, so ist doch seine Artikulierung und Organisierung in der volonté générale schlechthin gut. Volonté générale kann nicht irren (II, 3), sie ist Sprache des wirklichen Rechts (II, 6), sie ist die Vernunft selbst, von der sie mit derselben Notwendigkeit bestimmt wird wie das Naturgesetz in der physischen Welt /(627) (II, 4). Wobei der allgemeine Wille, sonst auf annähernde Gleichheit des Privateigentums gerichtet, gegebenenfalls auch auf Sozialismus sich verstehen mag, wenigstens laut »Emile «. Hier berührt sich der sonstige Ideologe des Privateigentums fast mit dem kommunistischen Grundmotiv der meisten Utopien: »Der Souverän (volonté générale) hat kein Recht, das Eigentum eines oder mehrerer Individuen anzutasten. Aber er hat jedes Recht, sich die Eigentümer aller (in gleichzeitig generellem Enteignungsakt) anzueignen« (Emile V). Das ist freilich, wenn nicht die einzige, so eine der wenigen Stellen, worin Naturrechtssysteme Expropriation enthalten. Sie war Rousseau durch Morellys »Code de la Nature«, 1755, nahegelegt, neben Mably, dem wichtigsten Vorläufer des utopischen Sozialismus, mit völliger egalité in der Wirtschaft. Doch das klassische Naturrecht hatte seine Stärke nicht darin, daß es ökonomisch, sondern daß es politisch rebellierte, soll heißen: daß es den Respekt vor der Obrigkeit abtrug. Es baute die subjektiven öffentlichen Rechte in die sogenannten Grundrechte des Individuums ein, kodifiziert in den Droits de l'homme der französischen Nationalversammlung. Diese Droits de l'homme (Liberté, proprieté, sureté, résistance a l'oppression) sind das Postulat, stellenweise auch bereits der juristische Überbau einer fälligen Bourgeoisie, eines Durchbruchs der individuell-kapitalistischen Wirtschaftsweise gegen Zunftschranken, Ständegesellschaft, gebundenen Markt. Doch diese Ideologie zeigt eben einen Überschuß, der Begeisterung erregte; das Ideal Freiheit erregte diese Begeisterung, sofern es mit bloßer Freizügigkeit oder mit freier Konkurrenz eben nicht ganz gedeckt oder abgegolten war. Es band sich im revolutionären Naturrecht ans Individuum (und ans Volk als Aggregat von Individuen), allein das verwendete Pathos der Person war weit älter, stammte aus dem Christentum, aus dessen metaphysischer Schätzung der Einzelseele. Die Droits de l'homme selber sind auch historisch und literarisch genauso vom religiösen Idealismus der jungen amerikanischen Staaten und ihrer Verfassung beeinflußt wie vom Naturrecht Rousseaus. All das sprengte das Gottesgnadentum der Obrigkeit, in seinem eigenen Feld; es sprengte aber auch die polizeistaatliche Rechtsordnung, wonach nur der Staat sui juris, aus eigenem Recht, das /(628) Subjekt dagegen lediglich altenus juris, aus abgeleitetem Recht, besteht. Die ganze Reinigungsgewalt des Naturrechts wird erst am gleichzeitigen Hintergrund der Willkürdespotie klar;
Beaumarchais und der junge Schiller machen die Folie zu Rousseau kenntlich. Gegen den damals nicht nur polizeistaatlichen Geist der Fürstenvergötterung ging das Naturrecht an; es steht diametral zu Versailles. Vor dem Doppelgeschütz Staatsvertrag natürliche Menschenrechte wurde die besonders kostbare Materie der Könige und Herren wehrlos. Das alte Gerüst des Unrechts stürzte ein, Vernunft und Natur wurden die Zeichen, worunter eine Welt menschlicher Würde einzuziehen gedachte. Diese Würde war damals rein individualistisch gefaßt und konnte nicht anders sein, der durchbrechenden privaten Wirtschaftsweise entsprechend, auf die sie noch bezogen war. Aber sie war ebendeshalb, als eine der individuellen Freiheit, genau visiert gegen feudale Unterdrückung, auch gegen das patriarchalische System des aufgeklärten Despotismus. Solche Art Staatsfeindschaft brach damals selbst in Preußen durch, wenn auch nur literarisch, in W. v. Humboldts: »Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen«, 1792. Dessen 15. Kapitel lehrt (freilich folgenlos, sowohl im aristokratischen Buch selber wie in der preußischen Wirklichkeit): »Wenn die Staatsverfassung den Bürgern, sei's durch Übermacht oder Gewalt oder Gewohnheit und Gesetz, ein bestimmtes Verhältnis anweist, so gibt es außerdem noch ein anderes, freiwillig von ihnen gewähltes, unendlich mannigfaltiges und oft wechselndes. Und dies Letztere, das freie Wirken der Nation untereinander, ist es eigentlich, welches alle Güter bewahrt, deren Sehnsucht die Menschen in eine Gesellschaft führt. Die eigentliche Staatsverfassung ist diesem ihrem Zweck untergeordnet und wird immer nur als ein notwendiges Mittel, und da sie allemal mit Einschränkung der Freiheit verbunden ist, als ein notwendiges Übel gewählt.« Junkertum, das noch vor den progressiven Tendenzen der Bürokratie liegt, und Hoffnung Rousseaus, die bereits gegen den beginnenden Militärstaat angeht und ihn denunziert, sind in diesem Libertätsbuch wunderlich vereint. Doch enthüllt es zugleich eine im Traum der Würde selbst gelegene Folge: Naturrecht als Demokratie bedeutet eine /(629) allen Menschen geschenkte Aristokratie. Freies Wirken der Nation untereinander ist hier nicht Handel, wurde nicht als Markt gedacht, sondern als Agora im griechisch-urbanen, utopisch-urbanen Sinn beschworen: für den aufrechten Gang aller. Der aufrechte Gang aller ist zwar gerade in der Klassengesellschaft, worin das Naturrecht blühte, eine Illusion, doch die heroische einer Welt ohne Korruption und Druck, mit Menschenwürde. Das Naturrecht hat diese Welt als eine des noch bürgerlich-humanen, gesellschaftlich garantierten (nicht nur erlaubten) Wollendürfens auskonstruiert. Aufgeklärtes Naturrecht an Stelle von Sozialutopien Sehr lehrreich, von hier aus das Verhältnis zu beachten, das das klassische Naturrecht zum immerhin wahlverwandten sozial-topischen Entwurf einnimmt. Es gibt sich nicht wie dieser als bloß gewünscht, sein Traum ist nicht üppig. Würdig-karg trat das Rechte unter seinen Verfechtern auf, nicht ausgemalt, sondern scharf gedacht. Das gedacht Abgeleitete gibt sich als bindend, als schlechthin geltend, statt des Nirgendwo der Vernunft erscheint ihr ableitbares Überall. Deshalb griff das Naturrecht auch viel näher, freilich auch zum Teil einverstandener in die jeweils aktuellen Verhältnisse ein als Staatsromane. Diese haben zwar, wie gesehen wurde, ebenfalls ihre Zeit in sich und die unmittelbar nachfolgende über sich, doch sie überfliegen beide zugleich. Naturrecht dagegen schärfte, visierte, forderte an Ort und Stelle, griff in bürgerliche Verfassungen ein, schrieb neue. Das Völkerrecht wurde von Grotius in den Linien seines Naturrechts entworfen, gar die Französische
Revolution zog aus Rousseau den wichtigsten Impuls und besonders auch die Fassung ihrer Grundsätze. Paragraph 6 der »Déclaration des droits de l'homme« bestimmt wörtlich nach Rousseau: «La loi est l'expression de la volonté générale.« Selbst in Deutschland, dem nie eine Revolution gelang, hat Naturrecht immerhin Reformgesetzgebungen wie die Stein-Hardenbergsche beeinflußt und, durch Anselm Feuerbach vermittelt, das liberale Bayrische Strafgesetzbuch von 1813. Sogar das Allgemeine Preußische Landrecht von 1794 hat vom Naturrecht. wenigstens die Form seiner /(630) Gliederung übernommen - ein Tribut des wohlwollend bevormundenden Polizeistaats an formal unvermeidliche Vernunft. Dieser Einfluß ist allerdings um den Preis erkauft, daß das Naturrecht auch insofern weniger Sozialutopie ist, als es für halb durchgesetzte Tendenzen hellhöriger ist als für künftige, gar für künftig-radikale. Indem das bei Sozialutopien umgekehrt ist, indem sie die Tendenz zur unmittelbar nächsten Stufe zwar enthalten, dem angezeigten Fahrplan der Utopien entsprechend, und ihren überschießenden Wunschtraum weitgehend in diesem bloß relativen ausdrücken, hierbei aber den überschießenden Wunschtraum selten vergessen, welcher in fast allen Sozialutopien ein kommunistischer ist: indem Sozialutopien derart ins Unbedingte transzendierten und vorhanden Fälliges nur selber unmittelbar oder nebenbei oder aber als Einkleidung des Unbedingten behandelten, hatten sie notwendigerweise auf Befreiung der bürgerlichen Produktivkräfte nicht entfernt soviel Einfluß wie das viel mehr lokalisierte Naturrecht und kommen während der Französischen Revolution kaum dem Namen nach vor. Das Recht insgesamt ist eine der Klassengesellschaft viel nähere Materie als die Utopie, und sicher ist im Recht keine christliche, gar chiliastische. Jesus lehnt Rechtsprechung ausdrücklich als sein Amt ab (Luk. 12, 14), der Volksmund bewahrt den alten Satz »Juristen - böse Christen«. Und nur das Naturrecht der Sekten, also das juristisch unausgeführte, hielt sich, indem es auf den paradiesischen Urstand als Maß zurückging, von der Verquickung mit Sachenrecht, Obligationenrecht, Schuld, Strafe und dergleichen fern. Das ausgeführte klassische Naturrecht hat das keimende Unternehmerinteresse in sich; von daher sein fast durchgehender Schutz der Privatheit, von daher seine liberalistischen Eierschalen. Doch tritt, wie bemerkt, der Überschuß im Freiheitsideal hinzu, jener Männerstolz vor Königsthronen, der mit Ideologie für freie Konkurrenz und individuelle Wirtschaft nicht ganz zusammenfällt. Und von diesem Überschuß kommt schließlich die große bürgerlich-revolutionäre Ausweitung her, die das Naturrecht in seinem Einfluß auf empirische Verhältnisse dem subjektiven öffentlichen Recht angedeihen ließ. Sozialutopien haben dem deshalb nichts an die Seite zu setzen, weil sie kaum von Revolution selber handeln, /(631) weil sie deren erträumtes Ergebnis bereits als geschehen voraussetzen. So sehr Sozialutopien mehr Zukunft enthalten, so ist diese doch mehr eine aus glücklicher Menschenflora als aus durchgekämpfter Forderung. Anders im pointierten Rechtsbegriff, wie er naturrechtlich entwickelt worden ist; hat er doch von Anfang an einen aufreizenden Doppelsinn des Postulierens an sich. Recht als individuelle Berechtigung und Recht als angebliche Vertretung eines Gesamtinteresses, als objektive Rechtsvorschrift von oben herab: diese beiden Momente haben im gleichlautenden Ausdruck: Recht eine merkwürdige Äquivokation. Sie war noch keine, als das subjektive Recht lediglich einen Anspruch von Gläubigern an Schuldner darstellte und lediglich eine Berechtigung, den Vollzug einer Leistung von anderen Privaten zu erzwingen; in diesem unpolitischen Stadium waren Berechtigung und Rechtsvorschrift, facultas agendi und norma agendi, noch Kehrseiten der gleichen Medaille. Das Gesetzbuch Justinians sah in Privatrecht und Staatsrecht (dem Recht des Staats) nur zwei
Positionen innerhalb des gleichen Geländes (lnst. VI, 4): »Publicum jus est, quod ad statum rei Romanae, privatum, quod ad singulorum utilitatem pertinet« (Öffentliches Recht ist, was auf den römischen Staat, privates, was auf den Nutzen der Einzelnen sich bezieht). Tritt jedoch Spannung ein zwischen einer ökonomisch progressiven Klasse und dem Staat als Repräsentanten einer ökonomisch überholten Klasse, dann sehen Recht als Berechtigung und Recht als objektive Rechtsordnung nicht mehr als Kehrseiten der gleichen Medaille drein. Dann sind die beiden inhaltlich nicht mehr äquivok, die zwei juristischen Äste werden getrennt sichtbar, und auf dem einen sitzt das Volk, auf dem anderen die Obrigkeit. Dann kann das Naturrecht eine postulativ-revolutionäre Kraft entfalten, zu der Sozialutopien, mit ihrer bloßen Einladung oder auch Aufreizung zum ausgemalten Glücksziel, nicht imstande waren. Genau das klassische Naturrecht hat das subjektive Recht mit dem ganzen Überschuß des Freiheitsideals ausgestattet: Recht wird wesentlich Recht auf etwas, und zwar von den vordem Beherrschten her. Subjektives Recht hört auf, eine bloße erlaubte Ausnahme zu sein, eine bloße Ausnahme aus der Sphäre des Beherrschtseins. Naturrecht machte aus dieser Ausnahme die /(632) Regel und Hauptsache: facultas agendi schlägt die bisherige obrigkeitliche norma agendi und setzt eigene demokratische Rechtsnormen. Daraus eben entwickelte sich letzthin die Theorie der Französischen Revolution: als Befreiung der Bourgeoisie, aber auch, wie Kant von der Aufklärung sagt, als Ausgang der Menschen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit. Und hier zeigt sich ein weiterer Punkt, weshalb die Sozialutopien im achtzehnten Jahrhundert nicht die gleiche Zündung abgeben konnten wie das Naturrecht: letzteres zeigte, im Rahmen der fälligen Widerstandsbewegung, das stärkere sittliche Pathos. Die Utopien sind weniger mit den Verhältnissen und der unmittelbar fälligen Tendenz in ihnen einverstanden, sind hellhöriger für künftig-radikale Tendenzen, wie von Diogenes bis zu den letzten vormarxistischen Staatsentwürfen erweisbar, aber sie setzen auch mehr auf Menschenflora im Unterschied von der Eisenseite und dem Charakter. Die Akzente sind verschieden, womit die beste Verfassung hier sozialutopisch, dort naturrechtlich ausgesprochen wird. Die Sozialutopie geht überwiegend auf menschliches Glück und überlegt sich, in mehr oder minder romanhafter Form, seine wirtschaftlich-soziale Form. Das Naturrecht (mit nur teilweiser Ausnahme von Hobbes) geht überwiegend auf menschliche Würde und leitet, in tunlichst durchdachter Deduktion, aus dem Begriff eines a priori freien Vertragssubjekts die Rechtsbedingungen ab, unter denen die Würde sozial gesichert und erhalten wird. Einzig Thomasius (Fundamentum juris naturae et gentium, 1705) lehrt Glück als ein Soll des Naturrechts, doch auch hier ist Glück nie ohne Rückgrat. Daher denn eine Sozialutopie wie die stoische, worin das Naturrecht vorwaltet, weit mehr Pathos des Männerstolzes zeigt als bequeme Einrichtungen oder eingenommene Plätze. Wegen dieses republikanischen Charakterwesens (man vergleiche im bürgerlichrevolutionären Drama die Helden Alfieris, Odoardo aus Lessings Emilia Galotti, Verinna aus Schillers Fiesco, auch noch Tell) auch wegen dieser Eisenseite hat das Naturrecht, während des Bürgerkampfs gegen die oberen Stände, die Sozialutopien weitgehend ersetzt. Und der höchst individuelle, der nicht-kommunistische Inhalt gab dem Ersatz den Segen, gab dem Charakterpathos die ideologische Empfehlung. Es ist zwar wahr, im /(633) achtzehnten Jahrhundert sind fast dreimal soviel Utopien erschienen wie im siebzehnten, aber gerade Utopien müssen nicht gezählt, sondern gewogen werden. Selbst ein so edles Gebilde wie Fénelons »Aventures de Télémaque«, 1698, wandelt in seinen zwei Kapiteln Glücksland nur den Thomas Morus ab, klassizistisch proportioniert. Auch eine
unzweifelhaft interessante Diktatur-Utopie wie »L'Histoire des Sévérambes«, 1672, von Vayrasse ist Kombination aus Morus und Campanella; was überdies erschien, ist wesentlich Satire und sonst nur Fabelei. Nur eine einzige Sozialutopie ragt in ihren Einrichtungen aus dem siebzehnten auch ins achtzehnte, sonst so rein naturrechtliche Jahrhundert herüber: Harringtons » The Commonwealth of Oceana«, « 1656; ja dieser Staatsroman stand sogar Pate bei der amerikanischen Verfassung. Aber gerade das zeigt an, daß er Staatsroman nur noch in der äußerlichsten Einkleidung war: »Oceana« ist in Wahrheit ein einziges Verfassungsprojekt, mit Unterhaus, Senat, kurzfristiger Präsidentenwahl, und nur als solcher Entwurf (»society of laws«) gewann das Buch seinen bürgerlich-revolutionären Einfluß. Harringtons » Oceana « stellt so geradezu eine Usurpation der üppigen Sozialutopie durch präzises Naturrecht auf ihrem eigenen Boden dar. Hier besonders zeigt sich: nur das bürgerlich-abgegrenzte Naturrecht, nicht die fast allemal kommunistisch-überschießende Utopie konnte der kapitalistischen Demokratie den Grundriß geben; so wie dieser Grundriß andererseits ohne das Naturrecht nicht entstanden wäre. Noch das klassische Grundbuch der bürgerlichen Ökonomie, Adam Smith's »Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations«, wäre ohne Naturrecht in seiner progressiven Größe gar nicht möglich gewesen, im »natürlichen System«, als das die damalige individuelle Entfesselung der Produktivkräfte auftrumpfen konnte. Dazu aber war das ganze Anspruchs-Pathos, Gewißheits-Pathos: Law of Nature erforderlich; nur dieses konnte die scharf-aktuellen Formeln und Hoffnungen der bürgerlichen Revolution entwickeln. Die Sozialutopie dagegen erträumte unternehmerfreie Bedarfsdeckungswirtschaft, also Kommunismusglück, lange vor seinen empirischen Möglichkeiten; so hatte sie im achtzehnten Jahrhundert wenig zu melden. Erst im beginnenden neunzehnten Jahrhun- /(634) dert, mit Owen, Fourier, Saint-Simon, änderte sich wieder das Bild, Morus und Campanella fanden ebenbürtige Nachfolger. Denn das »natürliche System« des Kapitalismus wurde von ganz erstaunlichen Sorgen gestört, Ricardo und Sismondi haben innerhalb dieses Systems die ersten Krisentheorien entwickelt. Langsam also brachten gerade die ökonomischen Tendenzen der Zeit darauf, manches an dem alten kommunistischen Wolkenkuckucksheim nicht ganz so entlegen oder als Roman zu finden. Aber zwischen Campanella und Owen ist charakteristischerweise ein von originalen Sozialutopien fast leerer Raum, den Anforderungen der bürgerlichen Emanzipation entsprechend. Ihnen kam, wie ersichtlich geworden, das Naturrecht weit näher; es steht enger in der Ideologie, wenn auch keineswegs mit ihr zusammenfallend. Das Erbe des Naturrechts: die durchdachte facultas agendi - wurde von der Sozialutopie nicht angehäuft, es wird von ihr, unter nicht mehr kapitalistischen Zeichen, nur angetreten. Im ganzen war, wie bemerkt, der Recht suchende Traum keineswegs üppig. Er bleibt vielmehr begrifflich, läßt nicht von Fleiß und kalter theoretischer Mühe. Ein Staatsroman hätte vielleicht noch die Lehre vom gesellschaftlichen Urvertrag entwickeln können, nicht aber die strengen Folgerungen, an denen das Naturrecht wesenhaft hängt. Ohnehin ist dem Naturrecht der Urvertrag nicht wesentlich, findet sich doch dieser zuerst bei Epikur, der gar kein Naturrecht braucht, während das reiche der Stoa dafür von einem contrat social nichts weiß. Ohnehin ist die Vertragstheorie die logisch schwächste im Naturrecht: setzt doch der Vertrag, als hochentwickeltes Rechtsinstrument, die gesamte Rechtssphäre schon voraus, die durch contrat social erst gebildet und legitimiert werden soll. Also ist und bleibt dem Naturrecht nicht der Urvertrag wesentlich, dieses Bestandstück wie aus einem prähistorischen Staatsroman, sondern die rationale Konstruktion der besten
Verfassung - mit einem Naturaxiom, einer deduktionsfähigen Prinzip-Natur, nicht mit einer tropisch fruchtbaren und verklärten, wie auf den Sonneninseln des Staatsromans. Die rationale Geschlossenheit des Naturrechts verlangte dergestalt Entwicklung aller Folgerungen aus einem tunlichst einzigen Prinzip (Nutzwille oder Gemeinschaftswille /(635) oder Sicherungswille); dies auf strengste deduktive Weise, nach dem Satz des Nichtwiderspruchs und des zureichenden Grunds. Modell des klassischen Naturrechts war die Mathematik, und das Naturrecht kam diesem Vorbild unter allen geometrisch behandelten Wissenschaften dieser Zeit am nächsten. Gewiß, auch die Sozialutopien waren konstruktiv, doch locker, sie waren konstruktiv, wenn sich so sagen läßt, nur aus der Phantasie reiner Vernunft, nicht aus ihrer Logik. Das klassische Naturrecht dagegen stellt mindestens seit Pufendorf einen der bewußtesten Versuche angewandter Logik dar, es verhält sich von dieser Seite her zu den Sozialutopien wie ein strenger Kanon zu einem Lied oder wie ein Racinesches Drama zu einem Vaudeville. Und es war der Mathematiker Leibniz, der dem Juristen dieser Zeit folgendes versicherte: »Aus jeder Definition kann man, indem man sich der unbestreitbaren logischen Regeln bedient, sichere Folgerungen ziehen. Und eben das tut man im Aufbau der notwendigen und streng beweisenden Wissenschaften, die nicht von den Tatsachen, sondern allein von der Vernunft abhängen, wie dies für die Logik, die Metaphysik, die Arithmetik, die Geometrie, die Wissenschaft von der Bewegung und auch für die Wissenschaft vom Recht gilt. Denn diese alle haben ihr Fundament nicht in Erfahrung und Tatsachen, sondern dienen dazu, von den Tatsachen Rechenschaft zu geben und sie im voraus zu regeln: und das hätte für das Recht selbst dann Geltung, wenn es auch in der ganzen Welt kein Gesetz gäbe« (Leibniz, Hauptschriften, Meiner, II, S.510f.). Der Kalkül innerhalb des aufsteigenden Bürgertums dient also nicht nur der rechnerischen Bestimmung des Warenumlaufs, sondern - auf weniger äußerlich formale Weise - auch der Antithese zu Tatsachen, die den bürgerlichen Aufstieg hemmen. Hier, im Naturrecht, ist die reine Vernunft revolutionär; und statt der Beugung vor Tatsachen setzt sie Geborgenheit in der Natur. In einer höchst vielseitig zusammengesetzten Natur: in einer des rationalen Gesetzeszusammenhangs dann freilich auch, bei Rousseau, in einer des Gegensatzes zu jeder Künstlichkeit, in der Natur als Ursprünglichkeit, Gewachsenheit, Unverdorbenheit. Rousseaus Naturbegriff hat den rationalen Gesetzescharakter fast völlig verloren, dafür steht er im engen Zusammenhang mit allen /(636) damaligen Begeisterungen für Ursprünglichkeit und demokratische Generalität, mit der Natursprache, Naturpoesie, Naturreligion, Naturerziehung; all diese Ideale waren die Monstranzen im Naturaxiom. So gewann auch von hier aus das Naturrecht einen Glanz, dem die Sozialutopien, nachdem ihr Chiliasmus abgeschwächt war, lange nichts zur Seite stellen konnten. Was aber nun die seinerzeit revolutionäre Wirkung des Naturrechts anlangt, so blieb sie allerdings geschichtlich begrenzt und reichte weniger als Sozialutopien in die Zukunft. Man beachte die nahe Bindung des Naturrechts an unmittelbare Strömungen der damaligen Gesellschaft, an durchaus individualistische dazu: konnte die soziale Revolution davon etwas übernehmen? Der Fall ist zweifellos kompliziert, Marx steht zum Naturrecht sehr oft so, als sei es zu den Akten gelegt, zu den bürgerlichen Akten. Andererseits spricht die bürgerliche Reaktion das ganze neunzehnte Jahrhundert hindurch über das Naturrecht nur mit Verachtung und Haß. Gereicht dieser Haß dem Naturrecht nicht zur Ehre, zeigt er nicht ein mögliches, ein bedenkenswertes Erbsubstrat an ihm an? Und wenn die älteren Gegner, von Hugo (Lehrbuch des Naturrechts, 1799) bis Bergbohm (Jurisprudenz und
Rechtsphilosophie, 1892), das Naturrecht vom »historisch gewordenen Recht« her verurteilten, so tun moderne »Soziologen» wie Pareto, gar Gentile das gleiche von ihrem Vitalismus oder von der faschistischen Elitetheorie her. Es ist das etwas, das sehr zum Vorteil des Naturrechts spricht; sein Rationalismus ist der angestammten Peitsche immer noch gefährlich und dem Industriefeudalismus ein merkwürdig lebendiger Feind. Das Naturrecht scheint sich also doch nicht nur auf die fast durchgesetzten Tendenzen seiner Zeit beschränkt zu haben, oder auf die, die ohnehin schon mit einem Fuß im Zimmer stehen. Es hat trotz seines bürgerlichen Unterbaus, trotz der statischen Geschlossenheit seiner Abstrakt-Ideale eben jenen Überschuß, der alle Revolutionen miteinander verwandt erscheinen läßt. Derart zeigt die naturrechtlich geschehene Anmeldung der subjektiven öffentlichen Rechte in Totalität den ökonomischen Individualismus zuweilen weniger als Unterbau denn als Hilfskonstruktion. Die Anmeldung der subjektiv öffentlichen Rechte setzte diese als einen Kader, in den auch Rechte gegen den Unternehmer einge- /(637) setzt werden konnten, nicht nur gegen die Obrigkeit. So das Streikrecht, Koalitionsrecht, das Prinzip der Gleichberechtigung aller Menschen und Nationen, kurz der ehemalige Kodex der bürgerlichen Menschenrechte, von deren Zustand Stalin immerhin zu sagen hatte: »Das Banner der bürgerlich-demokratischen Freiheiten ist über Bord geworfen. Ich denke, daß Sie, die Vertreter der kommunistischen und demokratischen Parteien, dieses Banner wieder erheben und vorantragen müssen, wenn Sie die Mehrheit des Volkes um sich sammeln wollen. Es gibt sonst niemand, der es erheben könnte.« Naturrecht war Anmeldung dieser Rechte, es hat ermöglicht, sie auszusprechen, das ist und bleibt sein Erbe. Selbst sein Pathos der freien Person wirkt wie ein Menetekel gegen jede Verwechslung oder Vermischung von Kollektivität mit Herde und Herdencharakter. Eben der Bezug konkreter Ordnung auf den Willensinhalt konkreter Freiheit hält das Erbe Naturrecht gegen jedes nur abstrakt und isoliert gefaßte Kollektiv, gegen ein Kollektiv, das den Individuen entgegengesetzt wird, statt daß es aus ihnen, aus klassenlosen, entspringt. Das kommunistisch definierte Ziel: »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen» erhält ersichtlich selber ein ausgereiftes Naturrecht - wenn auch ohne Rekurs auf Natur und vielleicht ohne gebliebene Notwendigkeit eines Rechts. So ist die Sache Naturrecht-seine ehemals revolutionär beschaffene Sache, selbstverständlich nicht das »ewige Recht« des kapitalistischen sogenannten Rechtsstaats - noch nicht erledigt, obwohl es dem Marxismus weder zeitlich noch sachlich so genau vorhergeht wie die Sozialutopien. Diese traten augenblicklich wieder vor, als Fragen auftauchten, die mit der juristischen Freilegung nicht zu vereinigen waren. Der Traum von geschützter menschlicher Würde ersetzte auf die Dauer nicht den dringenderen, wo nicht zentraleren Traum vom menschlichen Glück. Fichtes geschlossener Handelsstaat oder Produktion und Tausch nach Vernunftrecht Ist es doch die Not, welche am meisten würdelos ducken läßt. Der Arme ist gar nicht imstande, den Kopf so hoch zu tragen, wie der Stolz es verlangt. Wie also, wenn vor allem Rechtens /(638) wäre, daß jeder Mensch so angenehm lebt wie möglich? Wenn richtiges Recht gerade auch auf Glück angewendet würde und auf sein hungerndes Gegenteil? Wenn die Würde selber Not und Elend als Zustand ansähe, der am wenigsten aus ihr folgt, ja mit ihr unverträglich ist? Das waren Fragen, die aus der urrechtlichen zur wirtschaftlichen Erwägung führen mußten. Weit über ältere
Sorgen und gemäßigte Gewissensbisse oder Ehrbarkeiten hinaus, nach Art des gerechten Preises und dergleichen. Es kam so das Neue eines wirtschaftlichen, nicht nur politischen Rechtsanspruchs, einer naturrechtlichen Marktkritik. In ihrem Gefolge entstand die merkwürdige Mischform: juristische Sozialutopie; Fichte hat sie ausgeführt. Die Schrift: »Der geschlossene Handelsstaat«, 1800, erschien als »Anhang zur Rechtslehre«, aber auch, deutlich utopisch, als »Probe einer künftig zu liefernden Politik«. Die Unterschiede in Methode und Darstellung zwischen Naturrecht und Sozialutopie sind in Fichtes Mischform nicht aufgehoben, doch abgeschwächt. Eine bessere Verfassung wird hier sowohl scharf durchdacht wie sichtbar ausgemalt, sowohl als schlechthin und überall gültig dargestellt wie doch wieder auf eine Art Insel verlegt, nämlich in einen abgeschlossenen Staat. Rechtsanspruch a priori meldet sich durchgehends an, doch nicht nur auf Würde, sondern ausdrücklich auf Glück. Ja auf sozialistisches Glück, ohne jene Abart von Männerstolz, die im Naturrecht, unter anderem, freies Unternehmertum bekleidet hatte. »Leben und leben lassen«, das ist die Regel, nach der Naturrecht hier sozial, nicht individualistisch antritt. Nach der es vor allem eudämonistisch antritt, wie in Sozialutopien: »Jeder will so angenehm leben als möglich: und da jeder dies als Mensch fordert, und keiner mehr oder weniger Mensch ist als der andere, so haben in dieser Forderung alle gleich recht« (Werke, Meiner, III, Seite 432). Und der Staat wird nicht als Schützer des Eigentums vorgestellt, das er in ungleicher Verteilung vorfindet und beläßt, sondern umgekehrt, es wird «Bestimmung des Staats, jedem erst das Seinige zu geben, ihn in sein Eigentum erst einzusetzen, und sodann erst ihn dabei zu schützen« (1. c., S.429). So gingen hier Deduktion aus reinen Rechtsgrundsätzen und soziale Utopie ineinander, mit früher Absicht, beides zu vereinigen. Schon 1793 hatte Fichte an Kant geschrie- /(639) ben, er glühe von dem großen Gedanken, »das Problem der Platonischen Republik, des vernünftigen Staates, in Angriff zu nehmen«. Und Frucht wurde ein gänzlich Paradoxes: Staatssozialismus aus dem Geiste Rouiseaus, so deduzierend wie kolorierend dargestellt. Ein Drittes freilich kam hinzu, das Fichtes Verfahren, das sonst so wenig empirische oder dem Gegebenen befreundete, vom bisherigen Utopisieren wie vom bisherigen Naturrecht abheben wollte. Blick auf die vorhandenen Verhältnisse kam hinzu, mit der Absicht, sich praktisch in ihnen zu bewegen, ohne ihnen anzugehören, und sie dem idealen Staat anzunähern. Die spekulativen Politiker, sagt Fichte, sind fiktiv geblieben, und »so gewiß in ihren Gedanken Ordnung, Konsequenz und Bestimmtheit ist, so gewiß passen ihre Vorschriften aufgestelltermaßen nur auf den von ihnen vorausgesetzten und erdichteten Zustand der Dinge, an welchem die allgemeine Regel, wie an einem Exempel der Rechenkunst, dargestellt wird. Diesen vorausgesetzten Zustand findet der ausübende Politiker nicht vor, sondern einen ganz anderen. Es ist kein Wunder, daß auf diesen eine Vorschrift nicht paßt, welche aufgestelltermaßen auf ihn nicht berechnet ist« (1. c., S.420). Was zwar Fichte an die Stelle der reinen Gedankenwelt setzt, ist - wie in einem ökonomisch-politisch so wenig entwickelten Deutschland selbstverständlich - wieder Gedanke mit allgemein-abstrakten Bestimmungen, nur »daß diese für einen gegebenen wirklichen Zustand weiter bestimmt werden«. Wird jedoch der Idealismus auf diese Art nicht Praxis, so entwickelt er sich bei Fichte, dem zornig Tugendhaften, als Kritik. Fichte nimmt die indirekte Kritik auf, welche das Bild eines utopischen Glückslands an den heimischen Zuständen implicite dargestellt hat. Und er nimmt die direkte Kritik auf, welche die Vernunft des Naturrechts an der Unvernunft der vorhandenen Staatsverfassung explicite geübt hat. Fichtes Kritik wurde hierbei desto schärfer, als er Naturrecht völlig in Vernunftrecht verwandelte, das heißt, von allen
urzuständlichen und vorgeschichtlichen Fiktionen loslöste. Es gibt bei diesem großen Naturhasser überhaupt keine Freiheit in und durch die Natur; Existenz in Tier- oder Urmenschengesellschaft ist nicht arkadisch, sondern zwanghaft und despotisch; erst soziales Leben macht es möglich, Freiheit zu denken. Ein elysisches /(640) Ziel bleibt, aber nicht als arbeitslos gegebenes oder irgendwo vorhandenes, sondern, im Zusammenhang mit Fichtes radikalidealistischer »Tathandlungs«-Philosophie, als erzeugtes. Das in konstruktivem, doch teilweise auch in arbeitstechnischem Sinn: »Wenn nicht entweder die Kräfte unserer eigenen Natur sich ins Ungeheure vermehren, oder wenn nicht die Natur außer uns sich ohne unser Zutun durch ein plötzliches Wunder umwandelt und ihre eigenen bisher bekannten Gesetze vernichtet, so haben wir jenen Wohlstand nicht von ihr, wir haben ihn lediglich von uns selbst zu erwarten; wir müssen uns ihn durch Arbeit erwerben« (1. c., S.453). Es ist das eine Art Einbringung von Arbeitswertlehre in Utopie, in eine, die nicht mehr von Rohstoffen oder auch Manna lebt. Das Pathos der tätigen Vernunft bleibt aber bei Fichte trotzdem so idealistisch, daß es seine Sozialutopie nicht ökonomisch, sondern - syllogistisch, in Schluß form, entwickelt. Auch hierin ist die Übung des Naturrechts stärker als eine genetische Entwicklung vom Arbeitsvorgang her. Daher beginnt Fichtes Schrift mit einem Obersatz als erstem Hauptteil: »Was in Ansehung des Handelsverkehrs im Vernunftstaate Rechtens sei.« Dem folgt ein spezieller Untersatz als zweiter, kritischer Hauptteil: «Vom Zustand des Handelsverkehrs in den gegenwärtigen wirklichen Staaten.« Dem folgt der Schlußsatz als dritter, idealisch resultierender Hauptteil: »Wie der Handelsverkehr eines bestehenden Staates in die von der Vernunft geforderte Verfassung zu bringen sei.« Auf Freiheit geht das Ganze, aber auf Freiheit, die nur durch wirtschaftliche Gebundenheit Platz erlangt. Es bleibe dahingestellt, ob der ethische Individualist Fichte zum wirtschaftlichen Sozialisten wurde, weil er durch den wirtschaftlichen Individualismus seinen ethischen bedroht sah. Aber gerade auch an Fichte erhellt: Sozialismus ist das, was man unter dem Namen Moral so lange vergebens gesucht hat. Bei alledem wird noch durchaus der einzelne Mensch zugrunde gelegt, aus ihm folgt alles. Nur aus ihm als einem denkenden Wesen wird entwickelt, was als Recht vorzugehen hat. Die Urrechte sind die des vernünftigen Einzelnen, und es ist sein »Ich denke«, das die Rechte nicht nur hat, sondern entwickelt. Fichte zeichnet drei Urrechte aus: Verfügung des Individuums über seinen Leib, sein Eigentum, seine Sphäre als Person. Es sollen /(641) das unendliche Freiheiten sein, und sie werden nur durch die Freiheit aller anderen Individuen beschränkt, also durch nichts den Urrechten Fremdes. Damit Menschen zusammen leben können, muß die Freiheit des Einzelnen verendlicht werden, aber so, daß sie erstens nur durch die Freiheit und zweitens nur um der Freiheit willen begrenzt sein darf. Auffallende Folgerungen werden hierbei aus dem Urrecht auf Eigentum gezogen, ganz und gar nicht privatkapitalistische. Es gibt bei Fichte kein Eigentumsrecht auf Sachen, sondern nur eines auf Handlungen, derart, daß kein anderer befugt sein solle, dieses Stück Boden zu bebauen, oder es nur einer Gruppe erlaubt sein soll, Schuhe herzustellen. Alte Zunftrechte werden so funktionell erneuert, als das gesicherte Vermögen des Einzelnen, »ausschließend eine größere Kunst zu treiben«. An Grund und Boden gibt es schlechthin kein Eigentum, er gehört niemand und dem Ackerbauer nur insofern, als er ihn bebaut (folglich kein müßiger Feudalherr ist). Nachdem Fichte derart Besitz wie Eigentum aus dem Sachenrecht in eine Art Erzeugungsrecht gebracht hat, schreitet er zur sozialistischen Konsequenz fort. Gerade wegen des Urrechts auf Eigentum muß es jedem vom Staat gegeben
werden: »Wenn einer nicht so viel hat, um leben zu können, so hat er nicht, was er zu haben berechtigt ist; er hat das Seinige nicht. Im Vernunftstaat erhält er es; in der Teilung, welche vor dem Erwachen und der Herrschaft der Vernunft durch Zufall und Gewalt gemacht ist, hat es wohl nicht jeder erhalten, indem andere mehr an sich zogen, als auf ihren Teil kam« (1. c., S.433). Und weiter im staatssozialistischen Text: »Man hat die Aufgabe des Staates bis jetzt nur einseitig und nur halb aufgefaßt, als eine Anstalt, den Bürger in demjenigen Besitzstande, in welchem man ihn findet, durch das Gesetz zu erhalten. Die tiefer liegende Pflicht des Staates, jeden in den ihm zukommenden Besitz erst einzusetzen, hat man übersehen. Dieses Letztere aber ist nur dadurch möglich, daß die Anarchie des Handels ebenso aufgehoben werde, wie man die politische allmählich aufhebt, und der Staat ebenso als Handelsstaat sich schließe, wie er in seiner Gesetzgebung und seinem Richteramte geschlossen ist« (1. c., S.483). Fichte dehnt damit, in seinem postulierten Idealstaat, die Generalität des Gesetzes, die die Stände- und Privilegienrechte aufgehoben hatte, /(642) auf eine Generalität der Arbeitsbeschaffung aus. Hinzu tritt, als Mittel dazu, die Ausscheidung des freien Unternehmers, die Stillegung der freien Konkurrenz. Hinzu tritt die Abschaffung des offenen Markts, kurz: die Bestimmung des idealen Staats, dirigierte Wirtschaft zu sein. Dieses in einem Deutschland, das noch kaum einen freien Unternehmer aufwies und das deshalb leichter als die vorgeschrittenen Weststaaten zu einer Art vorkapitalistischem Antikapitalismus einlud; wie bereits an Fichtes Arbeitszünften sichtbar geworden. Wahrscheinlich wirkten auch die romantischen Verklärungen der mittelalterlichen Gesellschaft ein, die Novalis kurz zuvor (»Die Christenheit oder Europa«, 1 799) vorgetragen hatte. Ein einziges gemeinschaftliches Interesse, meinte Novalis, verband die entlegensten Provinzen dieses weiten geistlichen Reichs. Der sonst so wenig romantische Fichte hat jedenfalls als einer der ersten die rückwärts gewandte antikapitalistische Utopie berührt, die bei Saint-Simon nicht gänzlich fehlt und die bei Ruskin oder William Morris noch als eine Art gotischer Sozialismus hervorgetreten ist. Abwegig wäre es, wie Mehring meint, beim geschlossenen Handelsstaat an eine bloße Idealisierung des »friderizianischen Staats« zu denken; sie wäre selbst in Deutschland verspätet gewesen. Und dann vor allem widerspricht dem Fichtes Intention, »jeden in den ihm zukommenden Besitz erst einzusetzen«; was die geringste Sorge der Manufakturperiode war. Fichtes Sorge, die sozial beschaffene, machte ihn hierbei besonders bitter gegen das Manchestertum der vorgeschrittenen kapitalistischen Länder. Es findet sich im zweiten und dritten Teil seiner Utopie eine Kritik an den Übelständen der freien Konkurrenz (Absatzstockungen, Erwerbslosigkeit), die in manchem Fouriers Kritik vorwegnimmt. Die »Harmonie der Interessen«, die der große Ökonom Adam Smith vorausgesetzt, ist von Fichte durchschaut, bevor sie noch ihren ganzen Trug praktisch sichtbar gemacht hatte. Ein ökonomischer Laie, aber ein spekulativer Politiker wendet sich gegen die Spekulanten und ihren sogenannten Spieltrieb: »Zufolge dieses Hanges will man nichts nach einer Regel, sondern alles durch List und Glück erreichen, durch Ränke, Bevorteilung anderer, Zufall. Diese Menschen sind es, die unablässig nach Freiheit rufen, Freiheit des Handels und Erwerbs, Freiheit von aller /(643) Ordnung und Sitte. Diesen kann der Gedanke einer Einrichtung des öffentlichen Verkehrs, nach welcher keine schwindelnde Spekulation, kein zufälliger Gewinn, keine plötzliche Bereicherung mehr stattfindet, nicht anders als widerlich sein« (1. c., S. 541). Entsprechend dieser Antipathie gegen Gründerjahre, die noch so fern waren, predigt Fichte statt des Getriebs von Angebot und Nachfrage (nach Adam Smith), statt des freien Interessenkampfs eine
relative Ordnungs-Utopie, als erste nach Campanella. Mit drei arbeitenden Hauptständen, alle unter Aufsicht der Regierung (der wirklich arbeitende Stand, das Proletariat, ist noch nicht bemerkbar). Organisierung der Arbeitsverhältnisse erscheint als Organisierung der Gewerbe- und Handelsverhältnisse, mit Abschaffung des Militärs und des Feudaladels. Einem Stand obliegt die Gewinnung der Rohstoffe, einem anderen ihre Bearbeitung, einem dritten die gleiche Verteilung der vorhandenen Produkte an alle nach stabilem Grundpreis. Aber Tauschhandel und Distribution durch Private findet nur innerhalb des Staats statt, nicht über die Landesgrenze hinaus. Der (sehr zu beschränkende) Einkauf ausländischer Rohstoffe und Fabrikate wird einzig von der Regierung besorgt, sie hat das Außenhandelsmonopol. Es könnte zwar an dieser Stelle der Fichteschen Utopie gefragt werden, warum die Regierung nicht auch den inländischen Handelsverkehr besorgt, also den Stand der Kaufleute überflüssig macht. Aber Fichte drückt die Handelshäuser selber sehr herunter, sie werden zu bloßen Kanälen eines geschlossenen, regulierten, profitarmen Markts. Sie sind sozusagen nur Speditions-, nicht Spekulationsfirmen, sie sind Vermittler innerhalb einer ausschließlichen Bedarfsdeckungswirtschaft, »indem ja die verstattete Produktion und Fabrikation schon in der Grundlage des Staats berechnet ist« (1. c., S.443). Also glaubt Fichtes Staat den inländischen Tauschverkehr nicht übernehmen zu sollen, er begnügt sich mit der sozialen Aufsicht über die Durchführung der eingegangenen Verträge. Er begnügt sich damit schon deshalb, weil der eigentlich oberste oder Staatsstand in dieser Utopie, wie bei Platon, aus Lehrern und Gelehrten besteht; diese aber haben Fichtes Wissenschaftslehre im Sinn, nicht Buchführung, Wechsel, Wechselkredit. Auch ist das Außenhandelsmonopol des Staats lediglich als abwehrend gedacht, als /(644) Schutz des Produktionsbudgets gegen »den nicht zu ordnenden Einfluß des Ausländers«. Und gerade aus diesem Willen zur Übersicht folgt nun der radikalste Abschluß des Plans, der am meisten wieder ans glückliche Eiland erinnernde: die Autarkie. Das Weltgeld aus Gold und Silber wird abgeschafft, ein Landesgeld aus wertlosem Material tritt an die Stelle, das nicht gehortet werden kann und das zum Einkauf ausländischer Produkte untauglich ist. Vielleicht, sagt Fichte, gibt es dann im utopischen Deutschland keine Pelze und Seidenkleider mehr, sicher keinen chinesischen Tee, doch dafür auch keine Wirtschafts- und Eroberungskriege. Ausländische Guthaben sind der Regierung zu übergeben (eine verblüffende Vorwegnahme der Devisengesetzgebung), ja Fichte deutet sogar heimische Ersatzproduktion für Baumwolle und andere Importstoffe an (eine verblüffende Vorwegnahme der synthetischen Chemie). Die chinesische, die patriotische Mauer wird so utopisch: »Es gibt ein bestimmtes Ziel, dessen Erreichung vor der völligen Verschließung des Staats die Regierung sich vorsetzen muß: dieses, daß alles, was im Zeitpunkt der Verschließung irgendwo hervorgebracht wird, von nun an im Lande selbst hervorgebracht werde, inwiefern es in diesem Klima irgend möglich ist« (1. c., S.537). Bekanntlich hat dieser Autarkiegedanke in der halbfaschistischen, der Brüning-Zeit der Weimarer Republik reaktionär gezündet. Er empfahl sich als Mittel, um ohne Golddeckung, ohne internationales Clearing zu wirtschaften, um die Kriegswirtschaft vorzubereiten. Er empfahl sich aber für Fichte wegen der Geschlossenheit, die jedes System organisierter Arbeit braucht, solange es in anderen Staaten nicht gleichfalls eingeführt ist, und sodann allerdings wegen des Patriotismus. Fichte hat unter dem Einfluß der Napoleonischen Kriege seinen anfänglichen Grundsatz: ubi lux, ibi patria wachsend aufgegeben. Doch darf der sogenannte Übergang vom Weltbürgertum zum Nationalstaat in Fichtes Utopie nicht überschätzt werden; auch die Deutschheit bewährt und begründet sich hier nur so,
daß sie am allgemeinsten menschlich oder das stärkste Humanum sei. Fichtes Unterscheidungsgrund der Deutschheit von der Ausländerei liegt ja selbst in den Reden an die deutsche Nation darin, »ob man an ein Ursprüngliches im Menschen, an Freiheit, unendliche Verbesserlichkeit und ewiges Fortschreiten /(645) unseres Geschlechts glaube, oder ob man an alles dieses nicht glaube«. Und das Recht, sich zum jeweiligen Lichtstaat, außerhalb seines Geburtsstaats, hinzuwenden, wird nur durch die Hoffnung begrenzt, daß Deutschland selber dem Licht am meisten zugetan sei. Es wird von dem bleibenden Naturhasser nicht als heimische Scholle, sondern als sittlicher Lichtquell angesetzt: »Unter allen Völkern seid ihr es, in denen der Keim der menschlichen Vervollkommnung am entscheidendsten liegt.« Nur von dieser Hoffnung her hat Fichte die Nation, besonders die deutsche, zwischen Individuum und Menschheit gelegt; Deutschland sollte nicht isoliert, sondern vorbildlich und am menschlichsten innerhalb des Menschengeschlechts stehen. Nationalehre, Nationalcharakter, alles derart Geschlossene hat bei Fichte seinen einzigen Wert von der humanen Idee, die es ausprägt; und die Wissenschaft bleibt ohnehin international. »Diesen Zusammenhang wird kein geschlossener Staat aufheben; er wird ihn vielmehr begünstigen, da die Bereicherung der Wissenschaft durch die vereinigte Kraft des Menschengeschlechts sogar seine abgesonderten irdischen Zwecke befördert« (1. c., 5. 542). Und sowenig schließlich wie Schollenpatriotismus will Fichtes Utopie, daß man in ihrem Staatssozialismus den Staat verabsolutiert. Das würde dem Urrecht der Freiheit widerstreiten oder dem erwähnten Grundsatz, daß diese nur um der Freiheit willen, innerhalb menschlicher Koexistenz, beschränkt werden darf. Auch der geschlossene Handelsstaat ist derart nicht ewig, hinter seiner Utopie wirkt noch eine andere. Er gilt nur als Übergang vom Zwangs- oder Notstaat zu einem Vernunftstaat, worin, bei wachsender Freiheit und Sittlichkeit, kein Zwang mehr nötig ist. Lenin sagte einmal, es müsse dahin kommen, daß jede Köchin den Staat regieren könne; Fichte, dem alle ökonomischen Voraussetzungen und Kenntnisse zu solcher Hoffnung fehlten, hätte der Köchin immerhin als einem Zeichen verwirklichter politischer Weisheit zugestimmt. Und er prophezeit: »Die Leichtigkeit der Staatsverwaltung, sowie aller Arbeit, hängt davon ab, daß man mit Ordnung, Übersicht des Ganzen und nach einem festen Plan zu Werk schreite« (1. c., S.537). Was derart als Vernunftstaat entsteht, macht sich selber durch Vernunft (die den Inhalt der Autorität erzeugt) als Staat überflüssig. »Vernunft- /(655) kunst« entsteht oder Harmonie erzogener, sittlich mündiger Individuen als Reich der schönen Seelen. Ja beim späten Fichte drang fast joachitische Musik in diese edlen Räume, in die Gesellschaftsräume der Vernunftkunst. Die Staatslehre von 1813 verwandelt die sozialen Dirigenten der Zukunft zu Brückenbauern der Ewigkeit: »Die Gelehrtengemeine ist das Lehrerkorps des Christentums, des Reiches Gottes, die angefangene Gesellschaft, aus deren ununterbrochener Fortdauer jene Regenten und Bildner im geschilderten Reiche hervorgehen werden« (Werke, Meiner, IV, S.615). Wie und wodurch es allerdings auch nur zu den Anfängen eines geschlossenen Handelsstaats, gar einer so schwärmerischen Vernunftkunst, kommen mag, über diese Praxis gibt Fichte nichts oder wenig an. Im damaligen Deutschland trat noch kein Proletariat auf, und es war schon viel, wenn Fichte zugab und verurteilte, »daß die verbundene Menge der Eigentümer den einzelnen Schwächeren durch Gewalt abhalten könne, seinen Rechtsanspruch laut werden zu lassen.« (1. c., S.475). Selbst diese geringe Andeutung von sozialer Revolution, als geäußertem Rechtsanspruch, war damals abstrakt, war fast so spekulativ wie Fichtes ganzer Entwurf selbst. So bescheidet sich sein Entwerfer damit, daß das Ganze »eine bloße Übung der Schule ohne
Erfolg in der wirklichen Welt bleiben möge«. Er verwundert sich über die bestehenden Zustände und findet in diesem Verwundern jenen philosophischen Stachel, der erst viel später zu einem praktischen werden konnte. Obwohl Fichte seine sozialistische Schlußfolgerung, wie jede richtig deduzierte, für begrifflich notwendig hält, so wird doch Staatssozialismus in dieser Welt nur für abstrakt-möglich gehalten, nur für »gefordert durch das Rechtsgesetz«. Anderes als Vorschlag und Forderung wurde auch von Fichtes späteren Schülern nicht angemeldet, etwa von Rodbertus, dem Ahnherrn der Kathedersozialisten. Und übers Agitatorisch-Reformistische kam auch der durch Fichte mannigfach beeinflußte Lassalle nicht hinaus, trotz proletarischem Kontakt. Ja, mehr als Fichte schloß sich Lassalle an den gegenwärtigen Staat an, vorzüglich an den preußisch-autoritativen. Arbeiterproduktivgenossenschaften mit Staatskredit sollten einen Übergang zur künftigen sozialistischen Gesellschaft bilden: zu diesem Revolutionsersatz konnte aller- /(648) dings Fichtes Utopie mißbraucht werden. Doch hat ein Sozialismus im Deutschland von 1800 eine geschichtliche Frische und Ehre, die gar nicht mißbraucht werden kann. Er zeigt genau die genialische Naivität, die intuitive Jugendlichkeit, die einem Lassalle um 1860 fehlten, die dem späteren Reformismus selbst als Ausrede fehlten. Der geschlossene Handelsstaat bleibt das erste, aus Urrechten deduzierte und utopisch ausgemalte System organisierter Arbeit. Mehr noch: Fichtes Schrift hält Sozialismus für möglich in einem einzigen, genügend großen und autarken Land. Föderative Utopien im neunzehnten Jahrhundert: Owen, Fourier Das Elend blieb unterdes nicht müßig, es wuchs befremdend an. Hatte es bisher Bauern als Träger, so trat nun der Arbeiter hinzu. Gerade je wirtschaftlich fortgeschrittener ein Land, desto grauenhafter wurde die Lage seiner Armen. Der leibeigene Bauer hatte es hart genug, das Maß des Leidens schien voll. Doch selbst die schlimmste Zeit der mittelalterlichen Bauernnot wird überboten vom Elend der ersten Fabrikarbeiter. Die frühen Fabriken waren dasselbe wie Galeeren; ein verhungertes, schlafloses, verzweifeltes Proletariat wurde an Maschinen gekettet. Der Unternehmerprofit kannte weder Schonung noch Pausen, achtzehn Stunden und darüber dauerte die tägliche Arbeit, ein Schmutzwerk ohnegleichen. Niemals war ein so großer Teil Menschen so unglücklich wie in England um die Wende des achtzehnten Jahrhunderts. Der erste, der sich dagegen wandte, war ein Arzt namens Hall, er sah das Mark des Landes verfaulen. 1805 erschien seine Schrift »The effects of civilisation«; in ihr finden sich neben ärztlicher und sittlicher Empörung mehrere utopische Vorschläge der Verbesserung. Die Armen, sagt Hall, erhalten kaum ein Achtel vom Ertrag ihrer Mühe; es sei der Zug der Zeit, die Reichen immer reicher, die Armen immer ärmer zu machen. Einzige Rettung sei, die industrielle Entwicklung zurückzuschrauben, aber nicht, damit eine sogenannte gute alte Zeit wiederkehre. Hall sah bereits, daß noch nicht alles gewonnen sei, wenn die Fabriken verschwinden, aber die Grundherren bleiben. Der Boden sollte wieder in gleichen Anteilen unter alle /(648) Familien des Lands aufgeteilt werden: hinter dem Maschinensturm kommt so eine Zukunft voll freier Bauern. Hatte dieser Aufruf gegen das Fabrikelend wenig Widerhall erweckt, als ausgehend von einem bloßen Menschenfreund, so um so größeren der Appell eines Fabrikbesitzers selbst, vor allem, da er mit äußerst nützlichem Beispiel verbunden war. Dem Beispiel, daß ein gut genährter und nicht unzufriedener Arbeiter in der halben Zeit dasselbe und Besseres schafft wie ein Galeerensklave. Robert Owen hatte diese Entdeckung
gemacht, aber nicht bloß diese: Owen, eine anima candidissima, »ein Mann von bis zur Erhabenheit kindlicher Einfachheit des Charakters und zugleich ein geborener Lenker von Menschen«, wie Engels sagt, wurde zugleich einer der ersten Utopisten des neunzehnten Jahrhunderts mit föderativ-sozialistischer Zielsetzung. Unter seinen vielen Schriften ragen hervor «The Social System«, 1820, und «The Book of the New Moral World«, 1836; in der ersteren wendet er sich von der patriarchalischen Wohlfahrtseinrichtung hin zum Kommunismus, in der zweiten sucht er ihn seinen Berufskollegen, von der Güte her, zu empfehlen. Aber wenn der Utopist so den Ast absägt, auf dem er als Kapitalist sitzt, so war es phantastisch, von Kapitalisten, die nicht einmal im Nebenberuf Utopisten waren, ein Gleiches zu verlangen. Owen hielt noch das soziale Heil durch Reformen für erreichbar; er verwarf den Streik, sogar den Kampf um politische Freiheiten, er suchte Versöhnung, er erwartete, daß Herzöge, Minister, Fabrikanten aus lauter Einsicht und Menschenliebe dem Kapitalismus absagen. Auch schätzte der Industrielle Owen die künftige Rolle der Industrie merkwürdig gering ein; er verlangte zwar die Einführung der Dampfkraft und Maschinerie in den Haushalt, er setzte nirgends Maschinensturm, die große Industrie aber spielte in den Zukunftsträumen des Fabrikbesitzers von New Lanark noch keine Hauptrolle. Trotz dieser Schwächen organisierte Owen seinen philanthropischen Kommunismus, in Berührung mit Quäkern, über die er aber zu den Schriften Winstanleys vordrang, des Agrarkommunisten der englischen Revolution. Vor allem machte sich Owen die eben erschienene Arbeitswerttheorie Ricardos zu eigen, mit allen Konsequenzen, ohne Spur eines Reservats für »Wirtschaftsführer«. Ricardo hatte entdeckt: das /(649) einzige Wertmaß eines Produkts ist die in ihm enthaltene Arbeitsmenge; Owen baute auf dieser Theorie den Plan einer Zukunftsgemeinde, worin jeder in den vollen Genuß der von ihm produzierten Wertmenge gelangt, unter Wegfall des kapitalistischen Profits, der aus unbezahlter Arbeit stammt. Der Weg zu dieser Gemeinde ist allerdings noch vollkommen reformistisch: Es soll jedem Produzenten durch die Errichtung eines großen Magazins ermöglicht werden, die von ihm hergestellten Gebrauchsgüter zu deponieren. Als Entgelt dafür erhält er eine Arbeitsnote, welche auf den Wert der in dem abgelieferten Produkt verkörperten Arbeit lautet und zur Entnahme von gleichwertigen Produkten berechtigt. Tatsächlich wurde von Owen ein solcher Tauschbasar in London 1832 errichtet, als Arbeitsbörse, worin Produzenten ohne Vermittlung der Kapitalisten zusammenkamen und den Aufschlag des Profits zu umgehen trachteten. Es überrascht nicht, daß die naive Organisation nach wenigen Jahren zusammenbrach, und zwar auf Grund jener noch vorkapitalistischen Utopie, die von der Verteilung, statt von der Produktion her die Wirtschaft regeln wollte. So setzte sich das Überangebot der kapitalistischen Anarchie im Tauschbasar fort; trotz der »Distriktsräte«, die Owen einführte, »mit Übersicht über die vorhandenen Bedürfnisse«. Radikaler als die Konsumgenossenschaft war die eigentliche Zukunftsgemeinde gedacht; hier findet sich, wie Engels mit ebensoviel Spott wie Verehrung sagt, »die vollständige Ausarbeitung des Gebäudes für die kommunistische Gemeinde der Zukunft, mit Grundriß, Aufriß und Ansicht aus der Vogelperspektive«. Unter völliger Abschaffung des Privateigentums soll in genossenschaftlichen Siedlungen ein neues Produktionssystem gegründet werden, auch dieses freilich ohne Zulassung großer Produktion, auf agrarisch-handwerklicher Grundlage. Und das ohne Familie; Owen wandte sich heftiger als je ein Utopist gegen die vorhandene Form der Ehe. Sie war ihm lebenslängliche Geschlechts- und Umgangssklaverei, war die Lüge, welche einen
Grenzfall von dauernder Liebe normativ macht und konventionell vortäuscht. Privateigentum, Ehe, positive Religion nannte Owen die »Dreieinigkeit des Bösen«, alle drei sind Idole, schaffen nur menschliches Unglück. So reproduziert die agrarisch-handwerkliche Grundlage nichts /(650) von ihren alten sozialen Formen, trotz der geplanten alten Dorfanlage. Föderierte Gruppen von dreihundert, höchstens zweitausend Personen werden die Erde bedecken, mit kollektiver Hilfsbereitschaft in sich und untereinander. Die einzige Siedlung allerdings, die dergestalt die Erde bedeckte, New Harmony in Indiana, angeschlossen an die »Nachbarschafts-Ethik« der amerikanischen Pionierzeit, ging noch entschiedener zugrunde als der Londoner Tauschbasar; denn die Zeit von Sektenkolonien war um. In kapitalistisch reifer Zeit konnten solche Kleingebilde nicht höher stehen als ihre kapitalistische Umwelt, ja sie blieben - mindestens produktionstechnisch - weit hinter ihr zurück. Aber Owen wollte ja nicht in erster Linie die Produktion verbessern, um auf die verbesserte menschliche Lage zu stoßen, er wollte von vornherein das edelste Produktionsmittel: den Menschen, verbessern und ihn gereinigt aus dem Fabrikschmutz heben. Von daher die Beschränkung auf kleine, menschlich erfüllbare Lebenskreise; von daher nicht zuletzt Owens pädagogischer Traum in großem sozialem Umfang, der Traum, eine neue Menschheit zu bilden. Die Menschen haben nach Owens Lehre zwar einen in Umrissen angeborenen Charakter, jedoch endgültig bestimmt wird dieser Umriß erst durch die Verhältnisse, wohin das Individuum gerät. Kommen die Verhältnisse in Ordnung, so kommt auch der Mensch in Ordnung, er wird heiter und gut. Diese seine Heilung soll also in kleinen föderierten Gemeinschaften am besten bewerkstelligt werden, ohne Arbeitsteilung, ohne Trennung von Stadt- und Landwirtschaft, ohne Bürokratie. Eben wegen des pädagogisch-humanen Ziels, das einen nahen menschlichen Kontakt zu brauchen schien, steht in Owens Wunschtraum kein zusammenhängender Großbetrieb, sondern die Internationale zerfällt in föderierte Inseln. All dies Gute sollte mit einem Schlage kommen, gegründet werden. Das bisherige Leben war für Owen eine einzige bewegungslose Nacht, das neue setzt sich unvermittelt dagegen ab. Owen denkt fast völlig ungeschichtlich; das unterscheidet ihn von dem anderen großen föderativen Utopisten, von Charles Fourier. Bereits dessen erste Schrift: »Théorie des quatre mouvements«, 1808, kritisiert die Gegenwart auf geschichtlicher Grundlage. Fourier hat diese Schrift später verworfen, dennoch /(651) bleibt sie die Grundlage der anderen Hauptschriften. Sowohl »Traité de l'association domestique agricole«, 1822, wie »Le Nouveau Monde Industriel«, 1829, enthalten, gleich der ersten Schrift, Zeitkritik, Geschichte, Chöre der Zukunft zusammen. Des Näheren gibt es nach Fourier vier Epochen, von denen die frühere der jeweils späteren zustrebt und die spätere nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Die erste Epoche ist die der glücklichen urkommunistischen Instinktzeit, die zweite die der Piraterie und unmittelbaren Tauschwirtschaft, die dritte die des Patriarchats und der Entwicklung des Handels, die vierte die der Barbarei und der ökonomischen Privilegien. Letztere dauern fort in der fünften Epoche (die mit der vierten noch weithin zusammenfällt): im Zeitalter der kapitalistischen Zivilisation, welche die Gegenwart ist. Es bezeichnet die historische Kraft Fouriers, diese Gegenwart nicht wie alle früheren Utopisten aus dem Aspekt eines Idealstaats zu kritisieren, sondern als Degenerationsprodukt bereits an Ort und Stelle, als unerträgliche Zuspitzung der Barbarei. Fourier weist nach, »daß die zivilisierte Ordnung jedes Laster, welches die Barbarei auf eine einfache Weise ausübt, zu einer zusammengesetzten, doppelsinnigen, zweideutigen, heuchlerischen Daseinsweise erhebt«; er wird auf diese historisch fundierte Weise
nicht nur zum Satiriker, sondern zum Dialektiker. Obwohl Fourier sowenig wie Owen die Klasseninteressen des Proletariats im Sinn des Klassenkampfs vertritt, glaubt er nicht, daß die bürgerliche Gesellschaft als solche oder aus sich heraus verbesserbar sei. Ohne Kenntnis Hegels, über ein Menschenalter vor Marx entdeckt Fourier den außerordentlichen Satz, daß »in der Zivilisation die Armut aus dem Überfluß selbst entspringt«. Elend gilt nicht mehr (wie bei bürgerlichen Ökonomen nochJahrzehnte nachher und in Amerika heute noch) als vorübergehender Zustand, der durch das Füllhorn des wachsenden Reichtums von selbst beseitigt würde. Konträr: Elend ist die dialektisch notwendige Kehrseite des kapitalistischen Glanzes, mit ihm gesetzt, von ihm unabtrennbar, mit ihm wachsend; daher kann und wird die kapitalistische Zivilisation die Armut nie eliminieren. Die gleiche dialektische Genialität machte Fourier für die Tendenzen hellhörig, welche innerhalb der gegenwärtigen »incohérence industrielle« selbst zur Reife und zum /(652) Umschlag drängen. Was die nähere Zukunft des Kapitalismus angeht, so hat Fourier bereits 1808 das schließliche Ende der freien Konkurrenz, die Bildung von Monopolen vorhergesagt. Er prophezeite in einer Zeit, die soeben erst die Zunftschranken durchbrochen hatte und die Anfänge der freien Konkurrenz sah, mit ganz unerhörtem Durchblick den Bankrott des ökonomischen Liberalismus. Hierbei hoffte Fourier, daß bereits vor der Monopolbildung eine soziale Umwälzung die » Handelsanarchie« aufhebe und der Menschheit garantierte Existenz hinter dem Kapitalismus beschere. Auch diese Garantie sei in den Tendenzen der kapitalistischen Zivilisation angelegt, so daß Fourier definiert: »Es strebt die Zivilisation in sich selbst, nach dem Willen der Natur, dem Garantismus zu.« Ersichtlich riß hier allerdings, am Ende der Kritik, auch Prophetie, Fouriers historisch-dialektische Vermittlung ab; rein subjektive Wunschphantasie schrieb der Zukunft ihre Bilder vor. Das Ziel war genossenschaftliche Organisation der Gütererzeugung und Güterverteilung; Anfänge dazu sah Fourier merkwürdigerweise in den vorhandenen Sparkassen, in genossenschaftlichen Versicherungsgesellschaften und dergleichen bourgeoisen Karikaturen eines sozialistischen Garantismus. Obwohl Fourier spätere Stufen der Produktion vorausgesehen hat: eben die industriellen Monopolbildungen, hat er sie nur gefürchtet, nicht, wie Saint-Simon, gar Marx, als reifere Stadien begrüßt und utopisch einbezogen. Fouriers Blick und Wertung blieben hier kleinbürgerlich fixiert, überdies meldeten sich in seinem föderalistischen Garantismus anarchistische Sympathien. Wie Owen projektiert er kleine Kommunen, sogenannte Phalanstères, ja sogar - eine Anomalie in den Utopien - ohne vollkommene Abschaffung des Privateigentums. Vielmehr soll auch dem Menschen der Zukunft erlaubt sein, durch Erarbeitung eines kleinen Vermögens seine Unabhängigkeit zu erwerben; gewiß nicht zur Ausbeutung anderer (es gibt kein Eigentum an den Produktionsmitteln), wohl aber zu dem Zweck, die individuelle Nullität im Kollektiv zu verhindern. Auch die Phalanstères sind lauter individuell-autonome Gemeinwesen, übersichtlich vertraute Kommunen aus anderthalbtausend Personen oder wenig darüber; jede Phalanx wahrt in sich selbst ein sorgfältiges Gleichgewicht zwischen Individuum und Kollektiv. Auch unter- /(653) einander sind die Phalanstères lediglich assoziiert, obzwar unter einer phantastisch ausgeschmückten Weltleitung; kein anderer Sozialismus gilt hier als der personhaft-föderative. Der Agrar- und Handwerksbetrieb in den Phalanstères, die Abwesenheit großer Industrie sollte der Gemeinschaft die Süßigkeit eines Pastorale erhalten mitten in sozialistischer Front. Zwei Stunden Arbeitszeit genügen, damit die Arbeit eine Lust bleibe, ebenso ist reicher Wechsel der Beschäftigung vorgesehen - der »Schmetterlingsleidenschaft« der Menschen entsprechend und dem Zeug zu wenigstens dreißig Berufen, das nach Fourier jeder
in sich hat. An diesem Punkt wird der Utopist fast amerikanisch: die Wendigkeit und Vielseitigkeit des Pioniers wird zwar nicht in die Prärie, wohl aber in die sicheren Gartenstädte der künftigen Phalanstères eingesetzt. Auch dient, ähnlich wie bei Owen, all dies freie Wesen ohne Arbeitsteilung und diese ausgesprochene Föderativ-Utopie weniger einer üppigen Produktion als dem Sieg unserer »Grundpassion«; diese ist nach Fourier - mit plötzlichem erstaunlichem Optimismus - christliche Menschenliebe. Die kapitalistische Zivilisation hat zwar in sich bereits die Tendenz auf den neuen Gesellschaftszustand (wie jede Epoche die ihr nachfolgende in sich angelegt hat), trotz der gefürchteten Monopole, der im Keim bereits sozialistisch zu erstickenden: doch mit mehr als historischer, mit »geometrischer Notwendigkeit« erfließt Fouriers Zukunftsstaat aus dem »obersten Prinzip des Christentums«. Fourier denkt sich seine Kommune als eine Musik aus lauter christlicher Harmonie, und die Stimmen, die nach dieser höheren Föderation verlangen, sind nicht nur die einzelnen Menschen, sondern auch die einzelnen Triebe in den Menschen. Dergestalt hat Fourier sogar eine Art anthropologischen Kontrapunkts entworfen, mit zwölf Leidenschaften und nicht weniger als achtzehnhundert Charakteren; alle diese leben sich, ist die Gesellschaft reingestimmt und dissonierender Betrug beseitigt, zu allgemeiner Menschenliebe aus. Reicher Einklang insgesamt ist die Bestimmung des Menschen, für sich selbst wie im Verhältnis zur Welt. »Seine industrielle Bestimmung ist, die materielle Welt zu harmonisieren; seine soziale Bestimmung ist, die affekthaft-moralische Welt zu harmonisieren; seine intellektuelle Bestimmung ist, die Gesetze der universalen Ordnung und /(654) Harmonie zu entdecken.« Demgemäß konstruiert Fouriers Utopie lauter Verbindungen aus, worin notwendig Konsonanz herrscht; Utopie ist Medizin und Unterweisung zum Einverständnis. Ohne Armut, ohne jene Aufteilung in Berufe, die den Menschen selber tranchiert; hier ist föderative Kommune, Glücksbau fast aus einer Art frühem Walt Whitman-Amerika, jedoch ohne Kapitalismus. Zentralistische Utopien im neunzehnten Jahrhundert: Gabet, Saint-Simon Was Glück statt Elend bringt, braucht nicht selber immer freundlich zu sein. Ebenso ist der Plan, der die Härte des Lebens abzuschaffen denkt, nicht immer weich. Bei Owen und Fourier erscheint das bessere Leben als individuell und föderativ, sein Rahmen ist locker. Die Zentralisten dagegen, die jetzt auftreten, der Industrie näher, machen die Freiheit organisiert, die Solidarität mächtig. Statt in Siedlungen wird in großen Wirtschaftskomplexen gedacht, statt der »Distriktsräte« Owens taucht ein strenges Verwaltungssystem auf. Man könnte auch sagen: in der Freiheit taucht wieder strengere Ordnung auf, die Freiheit wird nicht mehr als eine ökonomisch-individuelle, sondern nur noch als eine soziale, das heißt an gemeinsamen Zielen orientierte bejaht. Es ist daher mehr als bezeichnend, es ist entscheidend, daß die zentralistischen Utopisten ihre Träume nicht mehr mit Feld, Haus und Werkstatt ausstaffieren, mit Bauern- und Handwerker-Ensemble. Sondern sie bejahen die kollektiven Produktionsmittel der Industrie, sie verneinen lediglich den «Subjektivismus«, womit diese gebraucht und verwaltet werden. Cabet war einer der ersten, der sich derart an Arbeiter wandte und als Sprecher ihrer kraftvollen Zukunft empfunden wurde. Auch er glaubte freilich, glaubte immer noch, daß die Spannung zwischen Arm und Reich auf einer Art Mißverständnis beruhe, das sich ohne Klassenkampf beheben ließe. Er vertraute zwar nicht mehr dem Zephir einer humanen Suada, wohl aber hoffte er, daß die Krisen dazu hinreichten, dem Kapitalisten, wenn nicht ins Gewissen, so in den Verstand zu reden. Doch davon
abgesehen liegt Cabets Utopie durchaus auf der strengen, unsentimentalen, organisierenden Seite. Seine «Voyage en Icarie«, 1839, liefert nur scheinbar /(655) einen neuen Insel- und Siedlungstraum; sein Ikarien war vielmehr modern und komplex. Dieses Sinns verwandte Cabet, im Programm von 1840, zuerst das Wort communiste; Heine führte die Neubildungen communiste, communisme ins Deutsche ein. Keine communités partielles sollen die Erde bedecken, Ikarien ist ein einheitliches, hochindustrielles Gebilde, getragen von einer mächtigen Arbeiternation. Cabet preist die Industrie und ihre revolutionäre Kraft: «Durch das schlichte Feuer und das einfache Wasser wird die Aristokratie in die Luft gesprengt und in die Erde geschmettert werden. Es gibt die alten vier Elemente, aber der Dampf ist ein fünftes und nicht unwichtiger als jene, denn er schafft die Welt der Zukunft, er scheidet unsere Gegenwart von der Vergangenheit.« Der Zukunftsstaat, der der organisierten Industrie entspringen sollte, war ausgedacht mit aller Eleganz und Präzision des Dezimalsystems. Ein Diktator sollte den politischen Urmeter schaffen, das Dezimalsystem selber bedeutet übersichtlichste Logik der Ordnung. Das Projekt-Land ist in hundert Provinzen geteilt, von annähernd gleicher Ausdehnung und Bevölkerung; jede dieser Provinzen zerfällt wieder in zehn Kommunen; Provinzen und Kommunen werden beherrscht vom Arbeitsgehirn ihrer Stadt, zuhöchst von Icara, dem Zentrum, einem völlig durchrationalisierten Kristall. Minutiös ist der Tag geregelt, ein Siebenstundentag der Frühaufsteher, ein Campanella-Tag, von oben bis unten besetzt mit Arbeitsuniform und Komitees. Es gibt nur Amtszeitungen und auch sonst kein Hilfsmittel einer organisierten Kritik; Ingenieure und Beamte regieren eine Fachwelt - der Kontrast zu Fouriers Phalansteres könnte nicht schärfer sein. Des Dienstes ewig gleichgestellte Uhr wurde in keiner anderen Utopie mit so wenig Überdruß totalisiert, mit so viel Vergötzung der Exaktheit. Durchgehends aber - ein Reales neben der Vergötzung herrscht sozialistische Planwirtschaft: ein Industrie-Komitee setzt im voraus die Zahl und Art der Güter fest, die im Jahr produziert werden müssen. So kommt die Produktion ohne die Krisen aus, die die Wohlfahrt vernichten und den Kapitalisten selber ihr System zur Hölle machen. Die Kapitalisten waren indessen nicht geneigt, sich von ihrer Krankheit dadurch befreien zu lassen, daß man ihnen das Leben nahm: es gibt kein /(656) freiwilliges Ikarien. So experimentierte Cabet zu schlechter Letzt, ganz gegen seine Lehre, mit Siedlungsplänen minimalster Art, genau wie Owen. Ikaria war entworfen als glanzvoller Arbeiterstaat mit Metropolis in der Mitte; zur Wirklichkeit wurde eine mühselige Kolonie, von kommunistischen Pionieren an den Missouri gesetzt. Sie ging trotz Dampfkraft, weitgehender Mechanisierung, versuchtem Musterbetrieb zugrunde, verschluckt von Sumpf und Prärie. Immerhin war Klein-Ikarien stets als Ersatz gedacht; das echte Ikaria liegt an der Seine, war gedacht als das vollendete Frankreich des Dezimalsystems und der Departements, aus dem, nach dem vielen mittelalterlichen Wust oder Durcheinander, auch die Zufälligkeiten des Privateigentums entfernt worden sind. Der Dampf warf damals rascher und gründlicher um, als geträumt worden war. Noch nicht zum Besseren, was die Arbeiter angeht, das war vorerst nur Hoffnung. Sie wurde besonders von Saint-Simon verfochten, er glüht noch mehr als Cabet vom Lob des industriellen Lebens. Dafür faßte jedoch Saint-Simon dieses Leben, als tätiges, wieder zu weit, zu ununterschieden. er utopisierte mit dem Arbeiter auch den Unternehmer. Der Zeitgenosse Fouriers hatte nicht dessen dialektischen Scharfblick; so entging ihm die Erzeugung des Elends durch den Reichtum, der Gegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie. So setzte er auf eine »arbeitende Klasse« schlechthin, als auf die »arbeitenden Glieder des Volkes«;
zu diesen zählten, weil ihr Profitinteresse immerhin nicht müßig zu sein schien, auch die Kapitalisten, Bauern, Arbeiter, Händler, Unternehmer, Ingenieure, Künstler, Wissenschaftler - alle Typen ohne ererbtes feudales Privileg gehörten bei Saint-Simon zum schaffenden Teil der Menschheit, folglich zu ihrer Zukunft. Saint-Simon durchschaute die Bourgeoisie noch nicht als eigene Klasse, daher schien ihm, obwohl er sein Leben lang auf der Seite der »Zahlreichsten und Ärmsten« zu stehen wünschte, ebenfalls ein friedlicher Ausgleich zwischen Kapital und Arbeit möglich. Was heute Demagogie ist oder harmonisierende Dummheit des hintersten Stammtisches, war damals noch Geblendetsein durch junges industrielles Up to date, durch die Modernität aller, die mit der Dampfkraft beschäftigt waren, mit Industrie und Fort- /(657) schritt. Arbeiter und Unternehmer standen gleichzeitig an der Spitze der Entwicklung; so hoben sie sich gleichmäßig ab von der verrotteten Feudalität. Selbsterworbenes Eigentum, ohne Erbrecht, war ein anderes als das überkommene der adligen Grundbesitzer, der Parasiten mit zwanzig Ahnen; Reichtums-Macht auf Grund eigener Arbeit war progressiver als Macht-Reichtum auf Grund feudaler Tradition. Bleibt das Proletariat; doch dieses, in seiner damaligen Schwäche und Unreife, erschien Saint-Simon in der «Reorganisation de la société européenne«, 1814, noch als gänzlich passiv und unmündig. »Helden der Industrie« wurden aufgerufen, die das Proletariat aus einem Objekt der Ausbeutung zum ebenso passiven der Beglückung überführen sollten - im »Fortgang der industriellen Revolution«. Saint-Simon und seine Schüler berührten sich, in diesem Glauben, mit manchem, was heute die (auch schon wieder halb verschollenen) Technokraten betreiben oder hoffen; es waren Schüler Saint-Simons, die zuerst Pläne für den Suez- wie den Panama-Kanal ausgedacht haben, und all das im Rahmen sozialer Weltverbesserung. Saint-Simon selbst rühmte an den aktiven Vertretern der aufsteigenden Bürgerklasse die »capacité administrative«; besonders die Bankiers, als Vertreter der Zentralinstitute des modernen Wirtschaftslebens, seien dazu ausersehen, ihre Hilfe dem Volk zu leihen, öffentliche Beamte der industriellen Volksgemeinschaft zu werden. Bazard, der Theoretiker der Schule, erklärte, die Bankiers könnten den Königen und feudalen Parasiten das Geld entziehen; Bankinstitute überhaupt seien die «germes organiques« des sozialen Zukunftssystems. Das alles, obwohl Bazard als erster Saint-Simonist den Glauben seines Meisters an einen einheitlichen »Industrialismus« verlassen und den Klassenkampf innerhalb der industriellen Gesellschaft geschildert hat. Louis Blanc wiederum, der späte und bedenkliche Praktiker aus Saint-Simons Schule, glaubte die kapitalistischen Einrichtungen dadurch zu sozialistischen machen zu können, daß er alle Privaten, auch die Bankinstitute, aus ihnen herauswarf und den Staat einsetzte. Der Staat soll durch seine eigene Konkurrenz die private aufheben, »Nationalwerkstätten« zur Gütererzeugung werden mit Staatskredit eröffnet werden, die Regierung selber ist die höchste Ordnerin der /(658) Produktion. Auf diese Art entsteht, nach dem verständnisvollen Ausdruck Lorenz von Steins, das Novum eines »gouvernementalen Sozialismus«. Dieser aber ist, auch im Herzen Louis Blancs, eher durch einen Staatsstreich erreichbar als durch eine Revolution. Saint-Simons Bewunderung für die »Capacité administrative« der Bankiers erschien bei Louis Blanc zu guter Letzt nicht einmal mehr als Staatssozialismus, sondern als Staatskapitalismus, mit dem paradoxen Auftrag, sozialistisch zu funktionieren. Jede Verbindung von Sozialismus mit Staatskapitalismus, als der kapitalistischen Ausbeutung auf dem Amtsweg, jede Maskierung von Staatskapitalismus mit Sozialismus geschieht auf dem Weg, den der Kompaß Louis Blancs gezeigt hat. Gewiß, auch hier »übernimmt die Gesellschaft die Produktionsmittel«, doch eben
eine, die keine soziale Revolution hinter sich hat, die auf verschärfte Weise die alte ist und das Profitsystem mittels einer Kreuzung von sozialistischen Formen und politischer Polizei widerspruchslos, streikfrei, formidabel machen möchte. Zu solchen Bedenklichkeiten verkam, unter solchen Wunderlichkeiten versteckte sich Saint-Simons großartige Einsicht - ein wahrer Frontgedanke -, daß das Großunternehmen selbst sozialistische Elemente enthalte. Weit steht Saint-Simon hinter der gleichzeitigen Gesellschaftskritik Fouriers zurück, aber weit überholt er auch den föderativen Sozialisten in der Ahnung, daß nicht Assoziation, sondern Organisation dem Sozialismus näher bringe. Dabei ist der Haß des Grafen gegen die früheren Herren, soweit sie eine eiserne Stirn haben, ebenso echt wie gesprenkelt. Nicht grundlos stellte sich Saint-Simon selber unter zwei Titeln vor, nämlich gleichzeitig als »Soldat unter Washington« und als »Nachkomme Karls des Großen«. Als der erste, als Kämpfer gegen die Lords, stellte er die Kehrseiten des industriellen Betriebs, die er nicht leugnen kann, ausschließlich als erhaltene oder erneuerte Formen der alten Leibeigenschaft dar. Hiernach hält Saint-Simon jeden ausbeuterischen Unternehmer für einen Neu-Feudalen, das heißt: nicht die Industrie ist der primäre Ursprung der Ausbeutung und Unterdrückung, sondern lediglich der feudale Habitus in der Industrie. Als solcher Habitus, geschickt verwandelt und übernommen, erscheint nach Saint-Simon sogar der ökonomische Liberalismus, jene Haltung also, /(659) die man gewohnt ist, als das äußerste Gegenteil der Zunft- und Standeswelt von einst zu betrachten. Der Liberalismus sei auch in seinen Anfängen dieses Gegenteil gewesen, er habe den Feudalismus gestürzt, aber vielfach nur zu dem Zweck, um sich mit gleich erbarmungslosen Mitteln der Unterdrückung an seine Stelle zu setzen. »Die wahre Devise der Führer dieser Partei ist: Ote-toi de là que je m'y mette«, - mit diesem Satz hat Saint-Simon in der Tat das neue Raubrittertum, auch die neufeudalen Herrschafts-Ideologien und Luxusformen des Kapitalismus im neunzehnten, gar zwanzigsten Jahrhundert vortrefflich vorausbezeichnet. Nur glaubt Saint-Simon, daß die Auswucherung des Schwachen dem »industriellen System« nicht wesentlich sei: werden daher Erbrecht und andere Herrenformen des arbeitslosen Einkommens abgeschafft, dann können die Segnungen des Industrialismus sogleich beginnen. Soweit der pure Haß gegen die Feudalität; ihr jedoch schließt sich an die zweite Gestalt dieses Hasses, nämlich die Haß- Liebe zur Feudalität, und hierzu bietet die Verdammung des Liberalismus eine erstaunliche Brücke. Der Graf Saint-Simon, der angegebene Nachkomme Karls des Großen, lebte mitten in der Restaurationszeit; bereits aus Gründen der »capacité administrative«, besonders aber des Zentralismus war er autoritären Gedanken nicht unzugänglich. So glaubte er auf der anderen Seite, gerade am vorkapitalistischen System (und dem ihm verbundenen Katholizismus) bedeutend haltbarere Elemente zu entdecken als nur Volksfeindschaft und Unterdrückung. Der Prophet der Industrie gibt dem Feudalismus nirgends Pardon, jedoch der Prophet des zentralisierten Kollektivs sieht im Mittelalter, als dem gebundenen, das bessere Europa. Saint-Simon berührt sich darin mehrfach mit den Restaurationsdenkern seiner Zeit, mit Revolutionshassern und »Traditionalisten« wie de Bonald und de Maistre, mit den reaktionären Antikapitalisten und Predigern. Man vergleiche dazu de Maistres Hoffnung: «Tout annonce que nous marchons vers une grande unité« oder die andere, aus seiner «Etude sur la Souveraineté«, ganz Heilige Allianz: «Le gouvernement est une vraie religion, il a ses dogmes, ses mystères, ses pretres.« Das ist mystifiziertes Ordnungspathos, stark in Campanellas Stil, und zu ihm hin schlägt nun auch Saint-Simon einen Bogen, mitten in /(660) der Industrie, als einer
zu organisierenden. Indem nämlich der Liberalismus die Feudalen gestürzt hat, hat er auch dort, wo er nicht in ihre Stellungen eingerückt, nur halbe Arbeit geschafft, denn sein Produkt ist negativ oder bloße Zerstörung des Gewesenen. Der ökonomische und sonstige »Subjektivismus« (enthalten im Manchesterprinzip, im laissez faire, laissez aller) hat die Gesellschaft aufgelöst und atomisiert; mitten im entfesselten Aufschwung der Industrie herrschen Chaos und Anarchie. Saint-Simons Absicht war, sie auszuscheiden und den entfesselten Produktivkräften jene »capacité administrative« vorzusetzen, die eben mit den Jakobinismen nichts gemein hat. Die vielmehr Ordnung schafft, Überblick von den Höhen eines Zentralinstituts her, ja neue Hierarchie. Das ist im Saint-Simonismus eine höchst folgenreiche, höchst paradoxe Begegnung zwischen Reaktion und Sozialismus, geeint im Haß gegen individuelle Wirtschaftsfreiheit. Es begegnet sich nicht nur die Karikatur »feudaler Sozialismus«, den das »Kommunistische Manifest« an den französischen und englischen »Legitimisten« verspottet, sondern die bösartige Kehrseite des Paradoxes wirkte fort bis in Lassalles Koketterie mit Bismarck, bis in die mannigfachen Legierungen von »Preußentum und Sozialismus«, von Staatskapital und Sozialismus. Aber der Zentralist Saint-Simon griff die illiberale Romantik gänzlich ohne Seitenblick auf reaktionären Gebrauch auf und selbstverständlich ohne reaktionären Auftrag. Er wollte den Illiberalismus umfunktionieren, um durch ihn hindurch zum Licht und Human- Wert der Gebundenheit zu gelangen. Wie Fourier war auch Saint-Simon davon überzeugt, daß keine frühere Epoche als solche wiederherstellbar sei; und wie dieser nahm er seine Überzeugung aus einem Phasensystem der Geschichte selbst. So siegt am Ende trotzdem der Soldat Washingtons über allerhand Enkel-Erbe Karls des Großen; und aus dem historischen Bewußtsein, das hier Fortschritt bedeuten will, keinesfalls Restauration: »Die Wasser der Vergangenheit haben das ritterliche Feuer ausgelöscht, und Notre Dame, eine geborene Ruine, wurde eine wirkliche.« Denn drei Stadien durchläuft hier die Geschichte: ein theologisches, das die Welt von Göttern geschaffen sein läßt, ein metaphysisches, das sie aus abstrakten Naturkräften oder Ideen deduziert, /(661) ein positives, das sie durch Zergliederung der Tatsachen und aus immanenten Ursachen begreift. Die moderne Industriegesellschaft nun ist die positive, folglich ist sie aus der religiösen und halbreligiösen Mythologie der beiden ersten Stadien völlig herausgetreten, folglich kann sie in die eigentlich religiös-metaphysische Lebensidee des Feudalismus nicht mehr zurück. Wohl aber kann sie auf der Grundlage des Wissens die soziale und geistige Bindung (Substanz) wiedergewinnen, welche früher auf der Grundlage des Glaubens vorhanden war. An Stelle der Feudalität und Kirche sind Industrie und Wissenschaft getreten, an Stelle religiöser Metaphysik Materialität; aber die Materialität selber verlangt einen Zentralbau, worin sie - und hier ist doch wieder entgiftet geglaubtes, säkularisiertes Mittelalter - eine Art intelligenter Sakramente durch die »capacité administrative« austeilen kann. Saint-Simons »Système industriel«, 1821, wie vor allem das letzte Werk »Nouveau Christianisme«, 1825, erstreben dergestalt eine streng hierarchische Gliederung der industriellen Funktionen und ein zentralisiertes Ende der dilettantischen Störungsfreiheit, der Freiheit als Anarchie. Die intellektuelle Obrigkeit, die im Mittelalter der Klerus innehatte, fällt den Forschern und Gelehrten zu; der organisierte Industriestaat wird und zwar unabsterbend, ewig - zur »Kirche der Intelligenz«. Ein sozialer Hoherpriester, eine Art Industriepapst, wird an ihrer Spitze stehen, der Geist eines verjüngten Christentums wird sie leiten. Es sind das alles Gedanken, die ein Menschenalter später in der letzten Periode von Auguste Comtes Philosophie sich
wiederholt haben, und sie füllen immer wieder die phantastischen Traumhochzeiten zwischen heiligem Sozialismus und profanem Vatikan. Protestantismus ist hier eine lax-individuelle Halbheit, Deismus eine lax-agnostische Allgemeinheit; ohne Hierarchie ist keine Religion, also auch keine der neuen Intelligenz. Der englische Naturforscher Huxley hat dergleichen Katholizismus minus Christentum genannt, und aus der Schule Comtes kam darauf eine Berichtigung, die eine Bestätigung war: die positive Zukunftsreligion sei Katholizismus plus exakter Wissenschaft. Gilt das für Comte, so freilich nicht für Saint-Simon; dessen Sozialpapismus war keinesfalls ohne Christentum gemeint. Er gründete sich nicht auf hierarchische /(662) Baukunst allein, sondern auf eine scharf gemachte, durchorganisierte christliche Humanität. Der Vorläufer all dieser Zukunfts- oder Intelligenzkirchen war trotz der antideistischen Stimmung Comtes - selbstverständlich ein Deist, und zwar im Sinn der sogenannten Naturreligion: John Toland. Dieser bereits hatte im »Pantheistikon«, 1721, nicht bloß, wie alle Deisten, eine Religion verlangt, welche unter gänzlicher Beseitigung jenseitiger Offenbarung »mit dem wissenschaftlichen Verstand übereinstimmt«. Toland errichtete auch seinem Naturgott (»dem All, aus dem alles geboren wird und zu dem alles zurückkehrt«) einen eigenen Kultus, den »der Wahrheit, Freiheit und Gesundheit, der höchsten Güter der Weisen«. Und er installierte vor allem, ganz wie Comte, neue Heilige und Kirchenväter, nämlich »die erhabenen Geister und die vorzüglichsten Schriftsteller aller Zeiten«. Hier ist bereits die »Kirche der Intelligenz«, Saint-Simon brachte im Zeitalter der Fabriken und der Romantik den Industriepapst hinzu und allerdings gewisse fortwirkende Korrespondenzen der Gebundenheit, die vordem nicht waren: die Korrespondenzen Sozialismus - Kirchenorganisation. Davon abgesehen ist bei alldem das Pathos der sozialen Organisation, das ist hier noch: einer sozialen Staatsindustrie, glänzend illiberal gefaßt. Saint-Simons Utopie steht Campanella bedeutend näher als Morus und hat in sich alle Vorteile, auch Gefahren eines Kollektivgedankens, der in der zentrierenden Organisation nicht mit demokratisch-föderativen Elementen versehen ist, ja mit ihnen nicht die Strenge der Organisation selber solidarisch erbaut. Individuelle Utopisten und die Anarchie: Stirner, Proudhon, Bakunin Wirkt nicht jenes Leben überhaupt als das beste, das gewaltfrei verläuft? Als sein eigener Herr, unabhängig, ungebunden, wildwachsend, wenigstens nach eigenem Maß wachsend. Selbst Saint-Simon sagte auf dem Sterbebett: »Mein ganzes Streben faßt sich in dem einen Gedanken zusammen, allen Menschen die freieste Entwicklung ihrer Anlagen zu sichern.« Jener Vormund, auch jener soziale, erscheint als der beste, der mit einem Schlag nicht mehr vorhanden ist. Die Anarchisten freilich, die diesen Schlag /(663) utopisch führen, tragen, alles Trotzes ungeachtet, stets ein kleinbürgerliches Betragen zur Schau. Nicht wegen ihrer überwiegend ebensolchen Herkunft, sondern wegen ihrer unvermittelten Ziele; denn diese wirken oft als aus einer rentierhaft »unabhängigen« Privatwelt. Stirner, mehr ein wilder Oberlehrer als ein Löwe, hat mit dem Ruf nach dem Ich an sich, nach dem Eigner seiner selbst begonnen. Der Eigner ist einer der Helden in Marxens »Heiliger Familie«; die merkwürdige Schrift »Der Einzige und sein Eigentum«, 1844, will den Einzelnen, sonst niemand, von den letzten »Sparren« oder »Gespenstern« befreien, die aus dem Jenseits übriggeblieben sind. Übriggeblieben sind so, vom Standpunkt des völligen Privatmanns aus, die sozialen und sittlichen Sparren. Der Einzige verschmäht es, sich weiter zu solch idealem Dienst abrichten zu lassen, zu einem Dienst am Nächsten, am Volk, an der Menschheit. Der Einzige ist bereits Mensch, er
braucht es nicht erst durch Erfüllung sogenannter allgemeiner, folglich spukhafter Pflichten zu werden. Jedes Über-Ich fällt fort und jede Forderung von ihm her: »Ich lebe so wenig nach einem Berufe, als die Blume nach einem Berufe wächst und duftet.« Das Ich ist sich selbst sein Über-Ich und auch sein utopischer Staat, es unterhält mit anderen seinesgleichen äußerstenfalls einen »Verkehr oder Verein«, und zwar so lange, wie dieser dem Selbstgenuß nützt. Sobald der Verein sich verfestigt, sobald er Gesellschaft, gar Staat zu werden droht, muß er vom Einzigen gekündigt werden. Kurz, der Einzige, der den contrat social nur für sich schließt, ist freier Außenseiter nicht bloß der vorhandenen Gesellschaft, sondern jeder denkbaren. Er zeigt freilich auch, wie sehr Außenseitertum und Gesellschaft korrelativ zusammenhängen: der Einzige ist selber nur eine gesellschaftliche Erscheinung. Stirners Individuum und sein Verein hat manches mit dem kynischen gemein, außer der Bedürfnislosigkeit; auch wurde der Kyniker vollends zum Zyniker. Das naturalistische Schauspiel hat mit Vorliebe solche Einzigen dargestellt, nur: sie gerieten nicht als ihr eigener Zukunftsstaat. Sondern als höhnisch-unglückliche Bohemiens, oder als ergreifend-bankerotte, oder eben als Zyniker der Lebenslüge (Braun in Hauptmanns »Einsame Menschen«, Ulrik Brendel in Ibsens »Rosmersholm«, Relling in der «Wildente«). Und das /(664) Pendant des Einzigen, im gleichen Kreis, ist der Philister: dessen totale Freiheit enthält, wenn sie keine andere als die der Privatsphäre ist, ebensoviel totale Begrenzung. Das losgelassene Individuum kommt auch als sozialer Traum nicht weiter als die Gesellschaft von Privatunternehmern, gar Kleinrentnern, die es entbunden hat. Der Einzige und sein Eigentum, - diese Aufschrift schmückt folgerichtig nicht nur das Wappen der Libertinage, sondern auch das Hausschild der Philisterei; das letztere nun ist ganz der Fall bei dem Anarchisten Proudhon. Ursprünglich freilich, gleichsam an seiner Wiege, klang Proudhons Gesang noch rauh, ja sein Text, sein bald so kleinbürgerlich gewordener, erschien voll Kraft, ein Angriff gegen das Eigentum, wie er vordem noch nicht ergangen war. Proudhons erste Schrift stellte bereits im Titel die Grundfrage: »Qu'est-ce que la proprieté? und beantwortete sie mit dem berühmt gewordenen Satz: Eigentum ist Diebstahl. Dies Schlagwort, so allgemein es im Grund auch gehalten war, wirkte nicht nur epatierend, sondern als Schändung des bürgerlichen Heiligtums und der Voraussetzung des bürgerlichen Individuums schlechthin. Indes gab Proudhon, das spätere Objekt in Marxens »Elend der Philosophie«, schon in seiner zweiten Denkschrift der proprieté eine sympathischere Herkunft; er sagt: »Das Eigentum hat seine Wurzel in der Natur des Menschen und in der Notwendigkeit der Dinge.« Die Grundlage des bürgerlichen Individuums bleibt also erhalten, jedoch in utopischer Breite: alle Menschen werden zu bescheidenen Besitzern erhoben, das Eigentum des Besitzers muß nur so klein gehalten werden, daß es kein Mittel zur Unterjochung anderer bildet. Auch Fourier, auch Saint-Simon haben das Privateigentum nicht ganz aufgehoben, doch diese Anomalie ist auch eine in ihrer eigenen Lehre, steht im Widerspruch zu ihr, steht darin ganzen passant. Bei Proudhon jedoch folgt Erhaltung des Eigentums aus einer Regel, aus einem Prinzipienwesen a priori, das für den Anarchismus charakteristisch ist. Es stammt aus dem abstrakten Liberalismus des achtzehnten Jahrhunderts, dem der Anarchismus so nahesteht, und erinnert merkwürdig an veraltete Deduktionen des Naturrechts, übertragen auf Utopie. Also ist Proudhons Utopie auf lauter »Axiomen« und »Prinzipien« gegründet, auf bürgerlich-revolutionären gewiß, doch /(665) auf ebenso statisch-idealistischen. Das erste Axiom setzt die Selbstherrlichkeit der Personen, mit ihr ist jede durch soziale Umstände bewirkte Ungleichheit unvereinbar. Das zweite Axiom setzt die Idee der Gerechtigkeit als die der Person
innewohnende Kraft, in jeder anderen Person die menschliche Würde zu achten und zu fördern. Soweit die Axiome, ihnen schließen sich Prinzipien an, vor allem zu historischem Gebrauch, das heißt zur Erkenntnis der Triebkräfte der Geschichte. Proudhon setzt sogar das Abstraktum, das ihm als das Prinzip oder die ökonomische Hauptkategorie einer Zeit erscheint, mit der Triebkraft in dieser Zeit gleich; er verwechselt derart Erkenntnisgrund, ja das bloße Schlagwort summarischer Zusammenfassung mit Realgrund. Dialektik kommt im Reich dieser Prinzipien zwar vor, jedoch eine mißverstandene: Proudhon betrachtet die ökonomischen Widersprüche nicht als Fermente der Veränderung, sondern er hält sie in einem schlichten statischen Gegensatz, in bloßer Zweiheit: Dialektik bezeichnet nichts anderes als die Licht- und Schattenseite jeder ökonomischen Kategorie. Soll heißen: Eigentum, Wert, Arbeitsteilung, Kredit, Monopol und so fort haben jede ihr Positivum und Negativum; das Negativum wird durch die beiden »Axiome« gerichtet und ausgeschieden. Im »Systeme des Contradictions économiques ou Philosophie de la Misere«, 1846, vor allem aber in seinem Hauptwerk »De la Justice dans la Revolution et dans l'Eglise«, 1858, entwickelt Proudhon diese seine »widerspruchslose Zukunftsharmonie«. Sie bringt ein gesellschaftliches Dasein, das seine Mitte gefunden hat, seine Mittelklasse, und darin so ruhig läuft wie ein Rad um einen Mittelpunkt; sie bringt eine Gesellschaft ohne Reibung, folglich ohne Gewalt, folglich ohne Staat. All das ist aufgebaut auf der Grundlage der beiden »Axiome«: auf der individuellen Selbständigkeit der als Kleinbauern und Kleinbürger gedachten Produzenten; auf der wechselseitigen Würdigung der Person und der daraus entspringenden mutualité oder gegenseitigen Hilfe. Das Privateigentum, das aus dem Axiom der selbstherrlichen Person ebenso abgeleitet ist, wie es diese individuelle Freiheit wieder garantiert, muß freilich geläutert werden. Es ist verunreinigt erstens durch die Erscheinung des gemünzten Gelds, zweitens durch den Zins des Leihkapitals. Beide Entheiligungen des Privat/(666) eigentums sollen mittels eines umfassenden sozialen Kredits behoben werden, eben im Geist der gegenseitigen Hilfe. Genauer: in Gestalt einer Tauschbank, welche statt Geld Zirkulationsbons ausgibt, in Höhe der eingelieferten Güter. Proudhons Utopie will derart Kapitalismus und Proletariat zugleich abschaffen, also nicht etwa zuerst den Kapitalismus (durch proletarische Aktion), und dann das Proletariat (durch Selbstaufhebung dieser letzten Klasse zur klassenlosen Gesellschaft). Sondern es geschieht Einebnung oder Harmonie der Mitte: Bourgeoisie wie Proletariat lösen sich auf in den petit propriétaire rural ou industriel. Marx spricht einmal vom Kleinbürgertum als der Schicht, worin sich die Widersprüche zweier Klassen zugleich abstumpfen: genau dieser Zustand ist in Proudhons Ideal, der entproletarisierten, entkapitalisierten Mitte, verewigt. Oder wie Marx des Spezielleren von Proudhon sagte und seiner proklamierten »Gleichheit des Besitzes«: er hebe die nationalökonomische Entfremdung innerhalb der nationalökonomischen Entfremdung auf. Wobei eben die Anarchie doch nicht alle Widersprüche aufhebt, nämlich den des bürgerlichen Asts nicht, auf dem sie sitzt und den sie zugleich absägt. Die Anarchisten verwerfen zwar die äußeren Merkmale des bürgerlichen Rechts: den staatlichen Zwang und die Gesetze, aber sein inneres Wesen: den freien Vertrag zwischen unabhängigen oder als unabhängig fingierten Produzenten lassen sie bestehen. Sehr deutlich wird das gerade bei Proudhon, als dem Theoretiker des »Einzigen und seines Vereins«; bei Bakunin oder Krapotkin ist dergleichen in der größeren Feuer- oder Liebeswelt verwischt. Proudhon, in seiner »Idee generale de la revolution«, erklärt einmal: »Ich will den Vertrag und nicht Gesetze; damit ich frei bin, muß das ganze soziale Gebäude auf Grundlage des
gegenseitigen Vertrags umgebaut werden« (p. 138). Später jedoch, wo es sich um ein dem Vertrag so von vornherein Wesentliches handelt wie die Erfüllung, muß der Anarchist im gleichen Buch hinzufügen: »Die Norm, nach der der Vertrag zu erfüllen ist, wird nicht ausschließlich in der Gerechtigkeit (dem zweiten Axiom), sondern auch in dem gemeinsamen Willen der zusammenlebenden Menschen fußen. Dieser Wille wird die Erfüllung des Vertrags im Notfall auch mit Gewalt erzwingen« (p. 293). /(667) Von Gewalt hatte kein Axiom gehandelt, nicht einmal von gemeinsamem Willen. Doch läßt sich eben keine Sozialutopie auf dem Vertrag, als dem Zentrum des bürgerlichen Zivilrechts, gründen, ohne daß die Konsequenzen der Gewaltgesellschaft wieder zum Vorschein kommen. Der Anarchismus hebt sich an diesem Widerspruch selber auf; das Individuum des freien Vertrags kommt - auch als noch so idealer Kleinbürger - nicht ohne Zwang aus. Was vom juristischen Grundinstrument der Eigentumsgesellschaft ausgeht, kann nicht in gewaltlosen Assoziationen landen. Ein amerikanischer Schüler Proudhons, der Anarchist Josia Warren, gab zwar das noch völlig Stirnersche Bekenntnis: »Every man should be his own govemment, his own law, bis own church, a system within himself!« Aber die radikalen Freiheitsworte lösen sich schließlich auf im Ideal des Familieneremiten und im Krähwinkel der Spießerei, worin er sich konform fühlt. Das Ende der Proudhonschen Utopie wäre Allmacht der Provinz, also, da als Mehrheit gerade die Mittelklasse verewigt wird, Diktatur der Mittelmäßigkeit. Diese Diktatur der Mittelmäßigkeit droht übrigens überall dort, wo eine Demokratie sich auf breite Mittelschichten stützt und zwangsläufig deren Gute-Stube-Infektion, ein Gemisch aus Ressentiment und Kulturlosigkeit, in sich aufnimmt. Es gibt dann - im Geist, obzwar nicht im Buchstaben Proudhons - eine Art von kleinbürgerlich versetztem, drapiertem Kommunismus. Proudhons Anarchie, mit ihrem philiströsen Inhalt und der Billigkeit des gesunden Menschenverstands, der diesem Inhalt entspricht, hat jedenfalls ein System Babbit-Boheme, auch Revolutionskitsch in sich. Daß Anarchie das trotzdem nicht ganz ist, daß sie als Bourgeois-Schreck erschien, vorübergehend, dies hat sie ihrem vehementesten Vertreter zu danken: Michael Bakunin. Er rief nicht Mitte auf, sondern Unbändiges, das gerade ungesichert zu leben wünscht und versteht. Er hielt das Feuer in den sogenannten Bünden oder Gewerkvereinen, lehrte eine gefährlich leere Begeisterung. Wilder Wald und freie Steppe, südrussisches Räuberleben wurden in sie zuweilen eingetragen, meist nur eingesungen. Von Bakunin stammt der abstrakte Satz, die Lust der Zerstörung sei eine schaffende Lust, und er wandte diese »Dialektik« auf die /(668) Reaktion in Deutschland an. Von hierher kam die gewalttätige Propaganda der Tat, mittels derer Einzelne durch Austilgung Einzelner den Staat vernichten wollten. Von Bakunin stammt aber auch die schreckhafte Äußerung (1868, in einem Brief an Chassin, ein Mitglied der Bakuninschen »Fraternité international«): »Unser aller großer Lehrer Proudhon sagte, die unglückseligste Kombination, die kommen könnte, sei die, daß der Sozialismus sich mit dem Absolutismus verbände: die Bestrebungen des Volkes nach ökonomischer Befreiung und materiellem Wohlstand mit der Diktatur und der Konzentration aller politischen und sozialen Gewalten im Staat. Mag uns die Zukunft schützen vor der Gunst des Despotismus; aber bewahre sie uns vor den unseligen Konsequenzen und Verdummungen des doktrinären oder Staatssozialismus... Es kann nicht Lebendiges und Menschliches gedeihen außerhalb der Freiheit, und ein Sozialismus, der sie aus seiner Mitte verstieße oder sie nicht als einziges schöpferisches Prinzip und als Basis annähme, würde uns geradewegs in die Sklaverei und die Bestialität führen.« In diesen Sätzen steckt eine ganze Monomanie von Autoritätshaß, zugleich
enthalten sie die deklamierende Verblasenheit wie das undurchdachte, in Unmittelbarkeiten sich erschöpfende Freiheitsgefühl der anarchistischen Utopie: Nicht das Kapital ist ihr das Hauptübel, sondern der Staat; auf diesen ist der Haß Bakunins primär fixiert, alles andere erscheint ein Übel zweiten Grades, ja ein abgeleitetes. Schafft man den Staat ab, so geht auch das Kapital zugrunde, denn es lebt nur von Gnaden dieses Konglomerats aus Kerkern, Soldaten und Gesetzen, ja ist angeblich von ihm, als dem ältesten Unterdrücker, abgeleitet. Nach der anarchistischen Theorie wurde der Staat einzig von Eroberern geschaffen und den Unterworfenen auferlegt, die eben dadurch erst zur Fronarbeit und zum Helotentum gebracht worden sind. Der politische Unterdrücker Staat geht hiernach zeitlich wie ursächlich der Ausbeutung voran und bleibt ihr übergeordnet. Folgerichtig diagnostiziert Bakunin den Staat, bei Marx eine bloße ökonomische Funktion, als Herd und Ursprung des gesamten Ausbeutungsverhältnisses und stellt, zum Unterschied von den Marxisten, die Abschaffung dieser Funktion ins Zentrum. Bei den Marxisten geschieht dem Staat nicht einmal die /(669) Ehre, eigens abgeschafft zu werden, er stirbt vielmehr, nach dem berühmten Satz von Engels, mit dem Verschwinden der Klassen von selber ab. Diese Auffassung ist eine ökonomischreale; nach den Anarchisten dagegen werden Profit, Börse, Akkumulation vom Staat her in Gang gesetzt, sogar, gewissermaßen, vom Jenseits her. Denn auch das Staatsinstrument wird hier immer weiter fetischisiert: Bakunins «Dieu est l'e'tat«, 1871, führt den Quell der Unterdrückung auf Gott selbst zurück; der Glaube an Gott (also ein bloßes falsches Bewußtsein) ist der Lehensherr aller Autorität, alles Erbrechts, daher alles Kapitals. An die Stelle von Staat und Kirche tritt im anarchistischen Zukunftsbild die freie, gottlose Internationale der Arbeiter, und zwar tritt sie sofort an die Stelle, nicht durch Besitzergreifung, sondern durch Zertrümmerung der Staatsmacht; ökonomische Freiheit folgt dann unmittelbar nach. Bakunin, im abstrakten Machthaß, lehnt trotz Propaganda der Tat die Macht auch dann ab, wenn sie eine revolutionäre geworden ist, eine Regierungsgewalt in den Händen des siegreichen Proletariats. Vom ersten Tag an beginnt in der neuen Gemeinschaft, durch bloße Abschaffung der Autorität, die »egalisation des dasses«, die wilde Ehe, die wilde Brüderlichkeit. Ja, sobald nur das Staatsschiff versinkt, verschwindet und versinkt gewissermaßen der ganze unwirtliche Ozean, der Ozean Heteronomie, mit seinen Haien und seiner Nacht; freiwillige Solidarität blüht unter der Sonne von Autonomie. Das ist anarchistischer Glaube, aufgebaut, wie evident, auf der Überzeugung von einer ursprünglich guten, nur durch das Herr-Knecht-Verhältnis verdorbenen Menschennatur. Im Ganzen bleibt also das anarchistische Freiheitsbild teils überalterte individualistische Ideologie des achtzehnten Jahrhunderts, teils ein Stück Zukunft in der Zukunft, zu dem nirgends gegenwärtige Voraussetzungen bestehen. Außer in Putsch, rascher Heldentat, politischem Lyrismus, der sich nicht auf die Epik und noch weniger auf die Dialektik der Geschichte versteht. So läuft Anarchie heimatlos in vitalistisch-idealistischer Schweifung, ohne Materie, ohne Detektivwissen um ökonomische Materie. Wäre allerdings einmal deren Umwälzung gelungen, dann würden gewisse anarchische Motive, als an den rechten Platz gebracht, auch marxistische. Ja, sie finden sich bereits im Marxismus, /(670) nur sinnvollerweise nicht als Gegenwartspostulate, sondern als Prophezeiungen und Konsequenzen. Hierher gehört die erwähnte Vorhersage von Engels, seine Hoffnung, daß der Staat einst absterbe, daß er aus einer Herrschaft über Menschen in eine Verwaltung von Sachen übergehe. Hierher gehört erst recht die Formel, die Lenin in »Staat und Revolution« als eine des kommunistischen Ziels zitiert: »Jeder produzierend nach seinen Fähigkeiten,
konsumierend nach seinen Bedürfnissen.« Wobei freilich diese so anarchisch klingende Formel - eine Quintessenz der Zwanglosigkeit - gar nicht von Anarchisten stammt, sondern merkwürdigerweise von einem Saint-Simonisten, von Louis Blane, dem sonst recht bedenklichen Erfinder der Nationalwerkstätten. In Summa kann gesagt werden: Der Traum von der herrschaftslosen Gesellschaft ist, wenn taktisch aufgefaßt, das sicherste Mittel, ihn nicht zu verwirklichen; grundsätzlich verstanden wird er, nach geschehener Aufhebung der ökonomischen Grundlagen des Staates, zur Selbstverständlichkeit. Proletarisches Luftschloß aus dem Vormärz: Weitling Kurz bevor ein Mensch erwacht, pflegt er am buntesten zu träumen. Weitling, einer der letzten rein utopischen Köpfe, gab nicht das reichste, wohl aber das sehnsüchtigste, wärmste Bild einer neuen Zeit. Er war als Proletarier geboren, das allein schon unterscheidet ihn von den anderen hier behandelten Weltverbesserern. Auch Proudhon war zwar plebejischer Herkunft, doch er schwang sich bald in die kleinbürgerliche Klasse auf und sprach aus ihr. Der Druckereibesitzer Proudhon sprach aus seinen Kreditsorgen, der Handwerksbursche Weitling sprach aus proletarischem Elend und aus dem dämmernden Bewußtsein seiner Klasse. Demgemäß fehlt auch der Ton des Mitleids, den vornehmere Utopisten so oft gegen die Ärmsten an den Tag legen; bei Weitling kommen Erbitterung und Hoffnung aus eigenem Leid. Weitling hat, wie Franz Mehring sagt, »die Schranke niedergeworfen, die die Utopisten des Westens von der Arbeiterklasse schied«; das ist sein geschichtliches Verdienst. Weitling wurde zwar kein Vorstand und Führer der deutschen Arbeiter- /(671) klasse, diese fing im Deutschland des Vormärz eben erst an, sich zu bilden. Wohl aber war hier Anschluß, mehr noch: Identität eines Mannes aus der enterbten Klasse mit ihrer damals vorhandenen Klarheit über sich selbst. Demgemäß zeigt Weitling ebenso durchdringend Echtes wie Zurückgebliebenes; sein Pathos ist dem eines anderen früh-proletarischen Sprechers verwandt, dem Babeufs. Weltling ist die früheste proletarische Stimme Deutschlands, Babeuf eine der frühesten Frankreichs, und zuverlässig vertrat er als erster nach der Abwürgung der Französischen Revolution jene Forderungen realer Gleichheit, um die der Bourgeois den Citoyen betrogen hatte. So bestehen Zusammenhänge, solche der Reinheit wie der Primitivität, zwischen dem Haupt der »Egalitaires« und Weitling. Zu Unrecht halb vergessen ist das. frühproletarische Manifest, 1795, das die »Egalitaires« ausgehen ließen; in ihrer Gefühlswelt (man könnte sagen: in ihrer verworrenen Fernsicht und Radikalität) steht auch Weitling. Man höre dazu einige Sätze des Babeufschen Manifests: »Die Französische Revolution ist nur die Vorläuferin einer viel größeren, viel ernsteren, die die letzte sein wird. Kein individuelles Eigentum des Bodens mehr, der Boden gehört niemand, wir fordern, wir wollen den gemeinsamen Genuß der Früchte der Erde, die Früchte gehören allen. Verschwindet, ihr empörenden Unterschiede zwischen Reich und Arm, zwischen Herrscher und Beherrschten. Der Augenblick ist gekommen, eine Republik der Gleichen zu bilden, das große gastliche Haus (hospice),das allen geöffnet ist.« Diese »Republik der Gleichen« konnte sich freilich, beim damaligen Stand der Produktionskräfte, nur als solche darstellen, wie der Kleinbürger während des ganzen neunzehnten Jahrhunderts sich den »Zukunftsstaat« gedacht hat: als einen des Teilens, Aufteilens, Nivellierens. Marx verspottet daher die »rohe, asketische Gleichmacherei« Babeufs; ein Spott, den er dem ebenso reinen, ebenso primitiven Auftritt Weitlings nicht angedeihen ließ. Marx war anfangs sogar geneigt, Weitling zu
überschätzen, er schrieb über dessen »Garantien der Harmonie und Freiheit«, von 1842: «Vergleicht man die nüchterne, kleinlaute Mittelmäßigkeit der deutschen Literatur mit diesem maßlosen und brillanten Debüt der deutschen Arbeiter: vergleicht man diese riesenhaften Kinderschuhe des Prole- /(672) tariats mit der Zwerghaftigkeit der ausgetretenen politischen Schuhe der Bourgeoisie, so muß man dem deutschen Aschenbrödel eine Athletengestalt prophezeien.« Später allerdings neigte Marx eher zu einer Unterschätzung: »Der utopische Dünkel Weitlings war nicht mehr zu kurieren, und so blieb nichts übrig, als der Entwicklung des Proletariats diesen Hemmschuh aus dem Weg zu räumen.« In der Tat: Weitling war Mitglied eines recht verschwärmten und unklaren »Bunds der Gerechten« geworden, Einflüsse Proudhons fehlten nicht, die Parole lautete: »Alle Menschen sind Brüder.« Der Unterschied dieser Parole zu der von Marx pointierten: «Proletarier aller Länder, vereinigt euch« ist der Unterschied des militanten Sozialismus vom immer noch lyrischen. Auch verfiel Weitling zuletzt sozialen Experimenten, in Columbia gründete er eine Gewerbeaustauschbank, dies sogar zum Zweck eines harmonischen Zusammenwirkens von Bourgeoisie und Proletariat. Immerhin dürfte dieser vorgegebene Zweck ein taktischer, wo nicht demagogischer gewesen sein; auch hat Weitling (er starb 1871) die Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung in den Vereinigten Staaten ins Werk gesetzt. Auch ist Weitling, obwohl von Proudhon beeinflußt, durchaus nicht anarchistisch; der Einfluß Saint-Simons ist größer und brachte Ordnung in die soziale Freiheit. Bereits die erste Schrift: »Die Menschheit, wie sie ist, und wie sie sein sollte«, 1838, malt eine »Konstitution des großen Familienbunds der Menschheit «,worin die Arbeitszeit genau geregelt, die Produktion dem Verbrauch genau angepaßt ist. Regelung wie Anpassung geschehen auf handwerklicher Grundlage und so, daß die »zwei wesentlichen Bedingungen des menschlichen Lebens: Arbeit und Genuß« in allgemeiner, gleicher Ordnung behandelt werden. »Die eine ist die Familienordnung oder die Ordnung des Genusses, die andere die Geschäftsordnung«; erstere besteht aus Familien unter Aufsicht der Ältesten, letztere aus dem Bauern-, Werk- und Lehrstand und der industriellen Armee. »Die künftige Gütergemeinschaft ist das gemeinschaftliche Recht der Gesellschaft, unbesorgt in dauerndem Wohlstand leben zu können; und die Mehrzahl wird nie einen Versuch machen, dieses Recht zu zerstören, weil es ihr eigenes, das Recht der Mehrzahl ist.« Das ist naive und ergreifende Volkssprache, voll von altem Urstand und christ- /(673) lichem Traum; was aber die Herbeiführung dieses Zustands angeht, so spricht der Proletarier Weitling bedeutend weniger naiv als die meisten bürgerlichen Utopisten. Er hat den Wirklichkeitssinn des geprüften Mannes, mehr noch: des kapitalistischen Opfers, er glaubt nicht mehr an sozialistische Maßnahmen »mit Hilfe« der herrschenden Klasse. Der Prolet Weitling ist insofern den bisherigen Illusionisten weit überlegen, er durchschaut die verschlagenen, kritisiert die dilettantischen Gläubigen jedes Sozialismus von oben. Das bezeugt folgender Satz: »Mißtrauen wir den mittels Kapitalien berechneten Reformen sowie den Geldmännern, von beiden haben wir das Vollkommene nicht zu erwarten, wohl aber gleiche Fallen, vor denen sich die Guten nie genug in acht nehmen können.« Hier ist eine Mahnung, auf dem Marsch zum Glücksland sich nicht durch Schlimmeres als durch falsche Propheten: durch falsche Freunde vom harten Weg abbringen zu lassen. Der Mahnung schließen sich weniger realistische Ratschläge an, alle aber ungebeugt und von einer lange nicht gehörten Christlichkeit. So im »Evangelium des armen Sünders« und besonders in den »Garantien der Harmonie und Freiheit«, 1842, einem Traumzusammenhang, der vielfach an die Hoffnungen des deutschen Bauernkriegs erinnert. Akt wie Inhalt der
sozialen Revolution werden knapp in zwei Sätzen ausgedrückt: «Die Furcht ist die Wurzel der Feigheit, und der Arbeiter soll sie ausrotten, diese schädliche Pflanze, und an ihrer Stelle den Mut und die Nächstenliebe Wurzel schlagen lassen. Die Nächstenliebe ist das erste Gebot Christi, der Wunsch und Wille und folglich das Glück und die Wohlfahrt alles Guten ist in ihm enthalten.« Auch adventistische Hoffnung klingt an, kurz vor dem «Völkerfrühling« von 1848: »Ein neuer Messias wird kommen, um die Lehre des ersten zu verwirklichen. Er wird den morschen Bau der alten gesellschaftlichen Ordnung zertrümmern, die Tränenquellen in das Meer der Vergessenheit leiten und die Erde in ein Paradies verwandeln.« Weitling war kein großer Architekt, aber sein Luftschloß hat besonders humane Maße. Etwas von der guten Hand der Frauen ist darin, ein Stück weiblich-mütterlicher Utopie, welche Krieg und Roheit, Ausbeutung und Tyrannei aus dem Grund des Herzens verabscheut. Erst recht ist ein Stück Arbeit des Zimmermannssohns in Weit- /(674) lings Bau enthalten, ein Bestandstück urchristlicher Liebe. Auch Saint-Simon hatte die Verbindung zwischen Jesus und Volkstribun wiederherzustellen versucht, doch es entstand daraus nicht so sehr ein neues Christentum als eine neue Art Kirche. Weitlings sanfterer Traum baut nirgends ins Herrentum, auch nicht ins sozialistische Saint-Simons; er ist Herzensbruder, freundlich von Natur aus, aber zum erstenmal seit langem wieder, zum letztenmal auf lange, versteht er die Bibel zu lesen, wie ein Täufer sie gelesen hatte. Im Aspekt eines unentwickelten Proletariats entstand zwar mehr das Bild einer Klein-Leute-Gesellschaft als einer klassenlosen; ja, nicht einmal die Klein-Leute-Gesellschaft könnte auf diese Weise verwirklicht werden. Aber »der große Familienbund der Menschheit«, ermöglicht durch »genossenschaftliche Geschäftsordnung«, ist trotzdem mehr als Biedermeierstil in der Utopie. Er hat die Grazie und Reinheit dieses Stils, doch es fehlt nicht grobe Größe, gründliches Erstrebnis und darin ein Problem, von dem die radikalen Bewegungen ein Jahrhundert lang absehen sollten. Es ist das Problem Zimmermannssohn und Sozialismus oder Heimkehr Christi zu den Mühseligen und Beladenen. Weitling suchte eine rote Gewerkschaft des Proleten Jesus, er meinte einen Sozialismus, der sich nicht einmal davor hütet, erbaulich zu sein. Weitlings Traum hat, mit viel Bitterkeit und Reinheit, in ein Gelobtes Land geblickt, als Marx und Engels gerade begonnen hatten, die wirklichen Zugänge dahin zu entdecken und zu eröffnen. Ein Fazit: Schwäche und Rang der rationalen Utopien Immer wieder überrascht, daß großer Haß noch zutraulich bleiben kann. In dieser Lage befanden sich viele bisher erschienene Traumdenker, sie waren zuletzt versöhnend. Die gleichen Todfeinde der Ausbeutung, welche eben erst deren erbarmungsloses Grauen geschildert haben, wenden sich an die Ausbeuter und schlagen ihnen vor, mit sich ein Ende zu machen. Aus den Herzen haben die Utopisten das Unrecht verdammt, das Rechte gewünscht, aus dem Kopf suchten sie - als abstrakte Utopisten die bessere Welt auszukonstruieren, und im Herzen wiederum /(675) hofften sie den Willen zu dieser Welt zu entzünden. Einige freundliche, auch snobistische Ausnahmen, einige Überläufer aus dem »hündischen Kommerz« wurden zur Regel gemacht; der Appell bei alldem ging an Gerechtigkeit und Vernunft. Erst um 1848 bahnte sich allgemeiner die Erfahrung an, die Herwegh so ausdrückte: »Nur der Blitz, der sie trifft, kann unsere Herren erleuchten.« Ebenso aber, wie die Unternehmer zu ihrem Gegenteil überredet werden sollten, ebenso sollte die übrige Wirklichkeit, die Gesellschaft insgesamt, zu ihrem Gegenteil gebracht werden, unvermittelt, wie durch jähe Lösung eines Banns. Obwohl einige
Utopisten, so Fourier und Saint-Simon, geschichtliche Vermittlungen, Ahnungen vorhandener Tendenzen erforschten, siegt doch auch hier die wesentlich private und abstrakte Ergründung eines von Geschichte und Gegenwart (von den »Schlacken der Gegenwart«) unabhängigen Phantasiestaats. Fourier, der einzige Dialektiker dieser Reihe, ging noch am meisten auf reale Tendenzen ein; doch auch bei ihm ist mehr Dekret als Erkenntnis, mehr abstrakte als konkrete Utopie. Die Traumlaterne scheint bei abstrakten Utopisten in einen leeren Raum, das Gegebene hat sich der Idee zu fügen. Ungeschichtlich und undialektisch, abstrakt und statisch wurden derart die konstruktiven Wunschbilder an eine Wirklichkeit herangebracht, die wenig oder nichts von ihnen wußte. Nur selten freilich ist diese Schwäche eine persönliche der Utopisten; vielmehr gerade hier kam der Gedanke nicht zur Wirklichkeit, weil die damalige Wirklichkeit nicht zum Gedanken kam. Die Industrie war unentwickelt, das Proletariat unreif, die neue Gesellschaft in der alten kaum sichtbar. Marx bemerkt darüber im »Elend der Philosophie« (zwar nur contra Proudhon, doch alle älteren Utopisten mitbezeichnend ): »Solange das Proletariat noch nicht genügend entwickelt ist, um sich als Klasse zu konstituieren, und daher der Kampf des Proletariats noch keinen politischen Charakter trägt, solange die Produktivkräfte noch im Schoß der Bourgeoisie selbst nicht genügend entwickelt sind, um die materiellen Bedingungen durchscheinen zu lassen, die notwendig sind zur Befreiung des Proletariats und zur Bildung einer neuen Gesellschaft, solange sind diese Theoretiker nur Utopisten, die, um den Bedürfnissen der unterdrückten Klasse abzuhelfen, Systeme ausdenken und /(676) nach einer regenerierenden Wissenschaft suchen. Aber in dem Maße, wie die Geschichte fortschreitet und mit ihr der Kampf des Proletariats sich deutlicher abzeichnet, haben sie nicht mehr nötig, die Wissenschaft in ihrem Kopf zu suchen; sie haben nur sich Rechenschaft abzulegen von dem, was sich vor ihren Augen abspielt, und sich zum Organ desselben zu machen. Solange sie die Wissenschaft suchen und nur Systeme machen, sehen sie im Elend nur das Elend, ohne die revolutionäre Seite darin zu erblicken, welche die alte Gesellschaft über den Haufen werfen wird. Von diesem Augenblick an wird die Wissenschaft bewußtes Erzeugnis der historischen Bewegung, und sie hat aufgehört, doktrinär zu sein, sie ist revolutionär geworden.« Und doktrinär waren die alten Utopien, weil sie ihr sonst so phantasievolles, ja phantastisches Wesen mit dem rationalistischen Denkstil des Bürgertums verbunden haben. Bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts war die Grundwissenschaft des Bürgertums Mathematik, nicht Geschichte; die Methode dieser Mathematik aber war formal, war »Erzeugung« des Gegenstands aus reinem Denken. Sie war nicht zuletzt das methodische Muster für die Ableitungen des Naturrechts, dieses strengen Vetters der Utopien. So wenig auch das utopistische Konstruieren mit dem exakt mathematischen, selbst naturrechtlichen, gemein hat, so wenig der Utopismus überhaupt eine Wissenschaft darstellt, so bewegt er sich doch zuweilen in Auskonstruktionen (bei Proudhon sogar «Axiome« zugrunde legend), als ob er ebenfalls eine Formalwissenschaft wäre. Das konstruktive Wesen wirkte so stark, daß sowohl der vorhandene Staat wie erst recht der utopische »Vernunftsstaat« als Mechanismus erscheinen konnten, und der neuere Utopist war Sozialingenieur (aus reiner Vernunft). Er wartete nicht mehr auf das gnadenhaft herabfahrende Jerusalem, er wechselte eine schlecht funktionierende Sozialmaschine durch eine vollkommene aus. Und keiner der Utopisten hat ganz verstanden, weshalb »die Welt« für seine Pläne sich nicht interessierte und weshalb sie so wenig Auftrag zur Ausführung des Neubaus gab. Dennoch haben diese Träumer einen Rang, den ihnen niemand nehmen
kann. Unzweifelhaft ist allein schon ihr Wille zum Verändern, sie sind trotz des abstrakten Gesichts niemals nur /(677) betrachtend. Das unterscheidet die Utopisten von den politischen Ökonomen ihrer Zeit, auch von den kritischsten (hinter denen sie an Wissen und Forschung so oft weit zurückstehen). Fourier sagt mit Recht, die politischen Ökonomen (etwa seine Zeitgenossen Sismondi, Ricardo) hätten das Chaos nur belichtet, er aber wolle daraus herausführen. Dieser Wille zur Praxis kam zwar fast nirgends zum Ausbruch; wegen der schwachen Beziehung zum Proletariat, wegen der geringen Analyse der objektiven Tendenzen in der vorhandenen Gesellschaft. Doch freilich auch: die vermehrte Beachtung dieser Tendenzen kann, wenn sie mechanisch vermehrt wird, wenn sie zu Ökonomismus übergeht, den Willen zur Praxis erst recht schwächen. Sie kann ihn weit gründlicher schwächen als die abstrakte Utopie, sie kann bewirken, daß der Sozialist (oder sage man genauer: der Sozialdemokrat) als völlig utopieloser Typ ein Sklave der objektiven Tendenzen wird. Objektivistische Idolatrie des objektiv Möglichen wartet dann zwinkernd ab, bis die ökonomischen Bedingungen zum Sozialismus sozusagen völlig reif geworden sind. Sie sind aber niemals völlig reif oder so perfekt, daß sie keinen Willen zum Handeln brauchten und keinen antizipierenden Traum im subjektiven Faktor dieses Willens. Lenin, wie bekannt, hat nicht abgewartet, bis die Bedingungen in Rußland überall die Erlaubnis zum Sozialismus gaben, in bequem-ferner Zeit der Kindeskinder: Lenin überholte die Bedingungen, vielmehr: er half ihrer Reife durch überholende Zielsetzungen konkret-antizipierender Art nach, welche ebenfalls zur Reife gehören. Und wenn die Erkenntnis, daß der Kapitalismus mit der Herrschaft der Monopole sein letztes Stadium, das des Sterbens und der Fäulnis, erreicht hatte, daß die Kette an ihrem schwächsten Gliede reißen mußte, wenn diese Erkenntnis auch der objektiven Bedingungen des revolutionären Sieges sicher war, wie hätte die Stunde des Großen Oktober genutzt, wie die Macht behauptet werden können ohne das überholende Zielbild Sozialismus, ohne den subjektiven Faktor in der höchstorganisierten, disziplinierten, bewußten Form der Partei? Marxismus ist Anweisung zum Handeln; wird er aber ebenso subjektlos wie zielfremd, dann entsteht fatalistischer Antimarxismus, degeneriert zur Rechtfertigung dafür, daß man nicht gehandelt hat, weil der Prozeß schon von /(678) selber seinen Weg gehe. Solcher Automatismus wird darum ein Kochbuch versäumter Gelegenheiten, ein Kommentar verpaßter Chancen, geräumter Stellungen. Marxismus aber ist nur dann eine Anweisung zum Handeln, wenn er in seinem Griff zugleich ein Vorgriff ist: das konkret-antizipierte Ziel regiert den konkreten Weg. Noch entscheidender mithin als der Wille zur Veränderung spricht das Pathos des Grundziels, das bei den alten Utopisten meist so lehrreich für ihren Rang und für die Bedeutung ist, die ihnen heute noch zukommt, ja sie zu Verbündeten macht gegen Sozialdemokratismus, dem seit Bernstein die Bewegung alles, das Ziel aber nichts bedeutet. Unbeschadet dessen, daß das Zielpathos der Utopisten, als allzu unmittelbares, ein anders Bedenkliches ist, denn es ersetzte den Weg, es überschlug ihn abstrakt. Es wirkte vor allem als statisches Pathos, als eines der bloßen Freilegung bestehender Kathedralen; es setzte gute Ordnung als fertig vorhandene, fertig entgegenzusetzende. Insofern ist im Ziel bei Utopisten sehr oft gar keine echte, historisch neue Zukunft, sondern falsche, nicht-neue; schlechte Utopisten wie Proudhon imaginierten sogar einen bloßen verklärten Kleinbürger in die Idee generale de la revolution. Und auch große Utopisten dekorierten, ja überfüllten ihren Bau mit falschem Ideal, das ist: mit inhaltlich (essentiell) genau bekanntem und fertigem, nur sozusagen noch nicht realisiertem. Aber wenn Marx statt solcher Ideale (sie stammen allesamt aus einer statischen Zweiweltentheorie) die Arbeit des
nächsten Schritts lehrt und wenig über das »Reich der Freiheit« vorherbestimmt, so bedeutet das nicht, wie bekannt, daß diese Zielgehalte bei ihm fehlten. Konträr, sie bewegen sich in der gesamten dialektischen Tendenz als ihr letzthin begeisterndes Wozu, sie fundieren den Sinn der gesamten revolutionären Arbeit. Marx hat ebenfalls Ideale als Kritik- und Wegmaß, nur eben nicht transzendent herangebrachte und fixe, sondern in Geschichte befindliche und so unabgeschlossene, das ist: Ideale konkreter Antizipation. Oben wurde das deutlich als der Wärmestrom des Marxismus ausgezeichnet (vgl. Seite 241 f.), als »Theorie-Praxis eines Nachhause-Gelangens oder des Ausgangs aus unangemessener Objektivierung«. Hätte der Marxismus nicht seinen dialektischmaterialistischen Humanismus, in historisch dämmernder, auch /(679) erbender Vorwegnahme: so könnte nie von kapitalistischer »Entfremdung «, »Entmenschlichung« gesprochen werden; Marx lehrt sogar eine »Wiederherstellung des Menschen«. Nur daß dies Menschliche oder die Weiterungen eines Reichs der Freiheit insgesamt nicht starre Genera sind, sondern Ensembles gesellschaftlicher Verhältnisse, daß sie vor allem nicht als unveränderliche Essenz hinter der Geschichte stehen, vorhanden gleich einem Goldenen Vlies, das aus vorhandenem Kolchis nur herbeizuholen wäre, nachdem es beschrieben und abgebildet ist. Das war das Vorhaben der abstrakten Utopien, jedoch eben nicht ihr einziges: die Intention auf die bessere Welt selber ist mitnichten abgegolten, sie und sie allein ist eine Haupt-Invariante in der Geschichte. Ohne solche Antizipation überhaupt gibt es keine Unenttäuschbarkeit, keinen Glauben ans Ziel, keinen austeilbaren Überfluß des Glaubens. «Und hat auch Marx den Anstoß zum neuen Leben mit Recht entscheidend auf den homo oeconomicus, auf die Beherrschung der ökonomischen Interessenpunkte gestellt, damit die allzu arkadisch vermutete hinterweltliche Paradiesordnung des rationalen, im Kern chiliastischen Sozialismus hart und mit weltklugem Kampf gegen die Welt erobert werde: so stirbt man doch nicht für ein bloßes durchorganisiertes Produktionsbudget, so kehrt doch gerade auch im bolschewistischen Vollzug des Marxismus der alte gotteskämpferische, der taborisch-joachitische Typus des radikalen Täufertums erkennbar wieder, mit einem noch verdeckten, geheimen Mythos des Wozu, als dessen Vorspiel und Korrektiv jedoch der Chiliasmus dauernd figuriert «(Ernst Bloch, Thomas Münzer als Theologe der Revolution, 1921, S.128). Das Abstrakte ist der Schaden, das Unnachläßliche und Unbedingte ist die Gewalt großer alter Utopiebücher. Und als Bedingung zu diesem Unbedingten nannten sie fast immer die gleiche: Omnia sint communia, alles sei gemeinsam. Es gereicht dem vormarxistisch-politischen Schrifttum zur Ehre, unter seinen vielen ideologischen Klugheiten diese vereinzelten und aufrührerischen Schwärmereien zu besitzen. Auch wenn sie gar keine Möglichkeit zu enthalten schienen und der nackte wie erst recht der ideologisch bekleidete Augenschein ihren Träumereien widersprach. Kam doch die darin projektierte Gesellschaft ohne Eigennutz auf Kosten des anderen aus und /(680) sollte ohne den Stachel des bürgerlichen Erwerbstriebs in Gang bleiben. Jahrtausende hindurch wurde besonders diese Hoffnung der Sozialutopien als besonders weltfremd ausgegeben und viel belacht. Bis dergleichen, statt auf einer Trauminsel, in einem riesigen Land wirklich anfing zu beginnen; worauf das Lachen verging. Es war also zuletzt doch auch Klugheit in den Schwärmereien und trotz allem recht viel Wirklichkeit: erst eine noch unreife, die die bessere Welt auf ein abstrakt ausgemaltes, unvermittelt antizipierendes System im Kopf seines Urhebers beschränkte, dann aber eine gewaltsam verhinderte, die, wenn auch mit noch so schwerer Geburt, schließlich durchbricht. Seit Marx ist der abstrakte Charakter der Utopien überwunden;
Weltverbesserung geschieht als Arbeit in und mit dem dialektischen Gesetzeszusammenhang der objektiven Welt, mit der materiellen Dialektik einer begriffenen, bewußt hergestellten Geschichte. Seit Marx ging bloßes Utopisieren, von immer noch lebendigem Teilwerk in einigen Emanzipationsbestrebungen abgesehen, zu reaktionären oder überflüssigen Spielformen über. Diese ermangeln zwar nicht der Verführung, sind mindestens zur Ablenkung brauchbar, doch eben deshalb sind sie bloße Ideologien des Bestehenden geworden, unter kritisch-utopischer Maske. Das Werk der echten Sozialträumer war anders, ehrlich und groß; so muß es verstanden und beherzigt werden, mit allen Schwächen seiner Abstraktheit und seines allzu behenden Optimismus, aber auch mit seinem unaufhörlichen Drängen auf: Friede, Freiheit, Brot. Und die Geschichte der Utopien zeigt: der Sozialismus ist so alt wie das Abendland, ja in dem ständig mitziehenden Archetyp: Goldenes Zeitalter, weit älter. III PROJEKTE UND FORTSCHRITT ZUR WISSENSCHAFT Aktueller Rest: bürgerliche Gruppenutopien Die bisherigen geselligen Träume luden nicht einzeln zu sich ein. Sie gaben sich nicht mit einer besonderen, gar kleineren Gruppe ab. Sie wollten vielmehr die ganze Gesellschaft kurieren, das Leben aller, auch dann, wenn dies eine einzelne unzufriedene /(681) Schicht besorgen sollte. Jetzt aber treten Gruppen allein auf und schälen sich, mit vermeintlicher oder echter Eigenart, aus dem Ganzen heraus, um ihr spezifisch Bestes zu suchen, vorauszumalen. Sie sondern sich in einem Längsschnitt aus, der vermeintlich durch alle Klassen gehen sollte; verbindend waren organische und nationale Eigenschaften. Und freilich unterdrückte oder verfolgte, wie Jugend, weibliches Geschlecht, gar Judentum. So entstanden hier ganz späte Sozialutopien, sozusagen neben Marx, solche einer gruppenhaften Emanzipation. Sie arbeitet als Jugendbewegung, als Frauenbewegung, als Zionismus; Abgründe liegen dazwischen, doch auch das Gemeinsame, sich auf Grund einer Eigenschaft in der vorhandenen Gesellschaft unterdrückt zu fühlen. Es ist nicht Revolution, sondern Sezession im Programm dieser Gruppen, Auszug aus mannigfachem Ghetto. Erstrebt und erträumt wird zwar ein Einfluß auf die Gesellschaft, gewissermaßen eine aus Jugend, Weiblichkeit, nationalem Judentum sich ergießende neue Tugend. So will oder wollte sie heraus aus Muff, Druck, auch dem Dunstkreis träger Skepsis. Doch fehlt der Wille zum Umbau der gesamten Gesellschaft, wie dies in den großen Sozialutopien üblich war. Trotzdem ist bemerkenswert, daß die auf Gruppen beschränkten Programme einen gewissen spezialistischen Rang haben: sie kennen sich in ihren Gruppen aus und machen dort utopische Ährenlese. Manches aus diesen spezialisierten Utopien wurde sogar marxistisch einbezogen, was mit keiner bürgerlichen Gesamtutopie nach Marx geschehen ist. Es fehlt den emanzipatorischen Plänen zwar nicht die Kurzsichtigkeit, die jedem bloßen Reformertum eignet, aber es fehlt oder fehlte ihnen der Betrug. Sie sind daher von den bürgerlichen Gesamtutopien der Gegenwart so verschieden wie der Flicken auf einem Kleid von dem Festgewand aus appretierten Lumpen. Utopische Reste, wie sie die kapitalistische Demokratie und danach der Faschismus vorsetzten, waren lauter Betrug, entweder objektiver, mit persönlicher Selbsttäuschung, oder durch und durch bewußter, überlegter. Man vergleiche nur mit dem Spezialisiert-Kurzsichtigen der angegebenen Gruppen-Utopien das
Total-Unechte der jetzt noch entsprungenen bürgerlichen Gesamtutopien. Eine Zukunft, wie sie Moeller van den Bruck in seinem »Dritten Reich«, Rosenberg im «Mythos des zwanzigsten /(682) Jahrhunderts« vorausmalten, ist Kapitalismus plus Mord. Was Ernst Jünger sich als Einheit von Arbeitertum und Soldatentum ausgedacht, ist die gleiche Demagogie im Kommandoton, die Rosenberg in Blut und Waberlohe vorgeführt hat. Was Spengler schon um 1920 »Preußentum und Sozialismus« nannte, ist ein Zukunftstraum, der mit Recht auf den Untergang des Abendlandes folgte. Noch früher hatte Kjellén, ein anderer utopistischer Reaktionär, die »Ideen von 1914« denen von 1789 als überlegen erklärt, und zwar als preußisches Heil, als »drittes Rom« in Brandenburg; so sah Gesamtutopie faschistisch aus. Bleibt die bürgerlich-demokratische Zukunft, mit H. G. Wells als erstem Champion. Sie trägt gewiß keine so martialische Totenmaske wie der Faschismus. Dafür trägt sie moralische Schminke, heuchelt Menschenrechte, als könne die kapitalistische Hure nochmals eine Jungfrau werden; an Wilsons Geschick wurde sichtbar, was herauskommt. Freiheit von Furcht kann von denen nicht gebracht werden, die den Anlaß zur Furcht selber darstellen und produzieren; Freiheit als Utopie des westlichen Kapitalismus ist Chloroform. Also stechen die kleineren oder Gruppen-Utopien noch ehrlich davon ab, sie wollten wirklich ans Licht. Nochmals ging hier ein Traum vom besseren Leben an, wenn auch mit untauglichen Mitteln, auf ganz untauglich gewordenem Boden. Immerhin bestand Anlaß zu dem Traum und ein Freiheits-Ziel; auch ist oder war wirkliche Bewegung da und dahinter, die allen bürgerlichen Gesamtutopien nach Marx fehlt. Ausgang aus Unmündigkeit, aus Puppenheim, aus Paria-Volk war in diesen Bewegungen ersehnt; dahin läuft die spezielle Utopie ihres Programms. Die Frauenbewegung enthält sogar eine eigene utopische Fragestellung: die nach der Grenze des Geschlechts, und sie hegt den Zweifel, ob überhaupt eine solche Grenze bestehe. Ein Stück Thomas Morus, ein Johannistrieb von Liberalismus geht in diesen Bewegungen zum letztenmal um. Jene »Zugluft« weht streckenweise in ihnen, die ein Ibsen noch so lebhaft-rein durchs bürgerliche Haus und Gemeinwesen schicken wollte. Die Bewegung endet aber an den bürgerlichen Schranken, die ihr gezogen sind und nur Korruption oder Abstraktheit dulden. Wie lauter Adelsmenschen, lauter Sonntagswetter sollte das Leben werden, aber man sah nicht den Zusammenhang, wonach /(683) das bürgerliche Leben nicht so ist. Damit das liberal Abstrakte aufhöre, dazu liegt auch für diese gesellschaftlichen Träume die Auskunft nur noch im Sozialismus. Beides liegt in ihm: das Ende ihrer Bewegung wie das Ende der Not, die den Anfang dieser Bewegung hervorrief. Die Partialutopien von heute zeigen mehrfach Emanzipationsträume, die nachgespieltes oder nachgereiftes achtzehntes Jahrhundert sind; obwohl oder weil dieses, von einigen Programmpunkten des Sturm und Drang abgesehen, so weitgehende Emanzipation noch gar nicht geträumt hat. Anfang, Programm der Jugendbewegung Das Kind soll nur dann sprechen, wenn es gefragt wird. Auch heranwachsend gehört es den Eltern, war stets mehr oderweniger liebenswürdig versklavt. Aber um 1900 ging unter den Jungen mit ziemlicher Breite ein Wille an, niemand zu gehören als sich selber. Jugend fühlte sich als Anfang, trug eigene Tracht, liebte Fahrt, Abkochen, war bewußt grün. Wünschte neues, eigenes Leben, verschieden vom erwachsenen und in allem besser, nämlich zwanglos und aufrichtig. Hierbei wurde der familiäre Druck im selben Maß gefühlt, wie er nachließ. Denn nur die ihrer selbst
nicht mehr sicheren Eltern, nur das selber nicht mehr feste Haus hatten Kinder, die ihnen aufkündigten und sich mit ihresgleichen zu einem anderen Anfang verbanden. Das frühere bürgerliche Haus ebenso wie die ihm entsprechende Schule gab immerhin noch einen Halt, der nicht nur mit Zwang zusammenfiel oder mit leerer Gewohnheit. Die Väter gaben noch ein Vorbild, die Lehrer waren kraft der Strenge gegen sich selbst und der Kenntnis ihrer Stoffe so beschaffen, daß Jugend ihnen vertraute und sich führen ließ. Es war erst möglich, in Breite respektlos zu werden und eigene Ziele zu setzen, als die Alten nur noch zu unterdrücken und zu lügen, nicht mehr zu leiten verstanden. Als vor allem neue Wege aufzugehen schienen, auf denen die unsicheren Alten sich nicht zurechtfanden. Ein offenes Feld lag da, es schien nur der Jugend betretbar, ja sichtbar zu sein. Erst Knaben, dann auch Mädchen schlossen sich zusammen, wanderten gleichsam aus. Grün, das war die bejahte Farbe, um frisch zu beginnen. Um /(684) frisch zu bleiben und nicht zu verholzen, auch nicht als späterer Mann. Pfadfinder war jeder, die Führer bildeten sich aus dem Kreis heraus. Jugendbewegung, in diesem Gegensatz zu den Alten, ist geschichtlich neu. Einzig die Burschenschaft des Vormärz mag sich damit berühren, war aber politisch deutlicher, das ist, von ihren älteren Freiheitsmännern, mit Vollbart, nicht abgetrennt. Auch die bündische Form ist alt, sogar sehr alt, man hat sie neben die urtümliche Gemeinschaft gestellt, neben die sogenannte organische, von Bräuchen erfüllte, von Überlieferung getragene und zusammengehaltene. Aber die früheren Bünde waren gerade, wenn sie Jugend enthielten, Zwischenformen, sie bereiteten aufs erwachsene Leben vor. Wie das in gebundener Gesellschaft selbstverständlich, erst recht in der Horde, im primitiven Stamm. So sorgfältig auch die ursprünglichen Männerbünde von älteren Jahrgängen abgeschlossen waren, ehelose Jugend unter sich, so führte von hier doch kein Weg aus dem Brauch der Alten heraus, noch wurde er gesucht. Auch waren die Junggesellen des Männerbunds keineswegs immer junge Männer; erst um das vierzigste Jahr heiratet der Primitive, das Jungvolk von damals war also stark mit gesetzten Typen gemischt. Ganz anders ist die Spannung, worin sich die modernen Jugendbünde und ihre utopischen Ziele zur älteren Welt fühlten. Von dieser Spannung kamen die Begeisterungen im Krieg gegen die zweckrationale Gesellschaft, oft rauschhafte, aus dem »Herzen« oder der «Seele« quellende Ströme des Liebens oder Hassens. Das in Formen allerdings, die die Gesellschaft, gegen die man protestierte, vielfach nachmachten, ja ihr nachhalfen. War doch eben die Gesellschaft selber nicht mehr solide, die Würde liebte sich jung zu schminken, ihr erschien sogar rebellische Jugend, als verworren-rebellische, langsam ganz brauchbar. Der bündisch emotionale Nebel, in dem Jugend vorher focht, ohne den richtigen Gegner zu sehen, ließ sich mit dem faschistischen Rauschnebel verbinden. SA wurde lange geduldet und in den Wald gelassen, bevor man sie zusammenrief und benutzte, bevor man sie nicht mehr wandern, sondern marschieren ließ. Es ist der Wandervogel nicht nur eine deutsche, sondern vor allem eine kleinbürgerliche Erscheinung, von daher das klassenmäßig wie inhaltlich Verwehte seines Traums. Diese Art Unschärfe ist anders /(685) als das jugendliche Ichweißnichtwie, sie hängt auch mit erstrebter Offenheit, mit Burschentum, Haß gegen Alltag, Sehnsucht nach urtümlichem, ungebrochenem Leben nur ungefähr zusammen. Ein besonderer Anlaß zu ihr lag vor allem darin, daß Jugend nicht bloß als Zustand gefühlt wurde, sondern fälschlich als eigene Klasse. Oder auch: es wurde ein rein organischer Längsschnitt durch alle Klassen geführt: was auf die Jugendseite fiel, schien dadurch bereits eigene Inhalte zu haben, nicht nur eigenes Tempo. Schultz-Hencke, einer der damaligen Führer, sprach so von einer »Überwindung der Parteien durch
die Jugend«.Kleinbürgerlicher Sinn für Eintracht, kleinbürgerliche Abstumpfung gab sich derart als jungdeutsch, als freideutsch, als «Vortrupp«, gar als «Quickborn« oder was sonst. Daher konnte die Jugendbewegung so leicht eingefangen werden, es gab konfessionelle Bünde, wieder im Einklang mit der Familie, besonders wo die Mutter selber Ohrenschnecken trug, der Vater selber Laute zupfte. Die Sehnsucht nach einer Gemeinschaft, wie sie unter Erwachsenen nicht vorhanden, hörte schließlich auf Hitler; denn gab es gegen die Alten keine neuen Inhalte, so gab es doch neue brennend-blasend-verblasene Worte, und es gab gegen die Alten, die noch nicht von Blutdurst glühten, Macht. Statt der Spannung Vater - Sohn und dem Aufbegehren des Sohnes gegen den drückenden Vater kam die Angst der Eltern vor dem Hitlerjungen. Mit ihm tritt die scheinbar sich ändernde Gesellschaft ins Haus; Verhältnisse, die durch die bürgerliche Unsicherheit schon lange schwankten, wurden nun gänzlich und höchst bedrohlich umgekehrt. Daß das Vater-Ich, wogegen der Jugendtraum anging, nur durch das viel härtere eines Todesstaats ersetzt worden war, kam nicht zu Bewußtsein. Der junge Kleinbürger wurde offensichtlich durch seine Jugend allein, durch die Lebensreform, die mit Grünlicht durch alle Klassen ziehen sollte, nicht selber auf den Weg gebracht, der ihm hilft. Schlick, Schlamm, Muff, Betrieb wurden durch Abkochen im Wald und das Freiland, das dahinter schien, wenig berührt; der Traumtopf wurde mit noch mehr Schlamm, zuletzt mit dem eigenen Blut gefüllt. Obwohl das Freiland gewiß ursprünglich liberal gemeint war, mit nicht alltäglichen Menschen als Führern zu ihm und keinem Alltag in ihm. Der Wandervogel hatte überdies ein gewisses Nest /(686) in neuen Schulen gefunden, ebenfalls längs durch die Klassen, für Töchter und Söhne liberaler Familien gegründet. Es waren Waldschulen, Wynekens freie Schulgemeinde, auch ein Bund entschiedener Schulreformer gehörte hierher, vertreten durch Danziger und Kawerau. Das Erzieherische kam nicht mehr von oben herab, Pflege des individuellen Lebens, Gemeinschaftsgeist wurden in diesen betonten Jugendschulen versucht. Edle allgemeine Ziele umschwebten das Picknick wie die abendlich versammelnde Lampe, Kameradschaft, selbst Mut wurden gepflegt. Auch Liebe zum Vers; nur das Leben selber, das hernach bevorstand, blieb ungereimt. Es lag hinter einem Schimmer, der nicht länger anhielt als die Jugend, die ihn schuf. Was nicht hinderte, daß diese Jugend sich sehr aufsässig fühlte. Zumal, vom Lagerfeuer her gesehen, die Stadt besonders verderbt und verkümmert wirkte. Das Wort Bürger erhielt in der Jugendbewegung einen eigenen Klang, Blüher sprach von den Untaten des bürgerlichen Typus. Er galt primär als der ältliche und vergreiste, nur von hierher wurde sein Sparsames, Wirtschaftliches, Rechenhaftes, Schwungloses abgeleitet und ebenso die Spießerherde: bürgerliche Gesellschaft. Von Ausbeutung war weit weniger die Rede, ja, die andere Seite des Bourgeois, die auch von Sombart so liebevoll herausgearbeitete: die des Unternehmers, Riskierers, Eroberers - fand Verständnis. Die Feindschaft zum Bürger war also durchaus keine proletarische oder proletarisch angenäherte; der Bürger galt vielmehr als Gegenstück zur eigenen Boheme, zu der aus Rittern. Die von dieser Art Jugend erträumte Gesellschaft sollte letzthin innig und streng, anarchistisch und ständisch zugleich sein. Trotzdem gab und gibt es auch proletarische Jugendbewegung, nur nicht als selbständige, mit eigenem Kinderland. Der junge Arbeiter fühlt sich sowenig von Erwachsenen als solchen benachteiligt wie die Arbeiterin von Männern als solchen. Beider Feind ist der Arbeitgeber, ihre Vorstellung vom Bürger betrifft primär den Kapitalisten, nicht den bösartigen Spießer. Auch fehlt in der Arbeiterfamilie die Spannung zwischen Vater und Sohn oder ist stark verringert; denn während der Bürger in seinem Sohn nur den Erben sieht, erzieht der klassenbewußte Prolet den
seinen zum Genossen. Die bürgerliche Jugend glaubte unbürgerlich zu sein, indem sie nach /(687) dem Jahrgang tranchierte, indem sie sich als Wangenrot gegen erwachsene Blässe absetzte; wonach wenig mehr Gemeinsames herauskam als frische Haut und allgemein Märzhaftes. Die proletarische Jugend dagegen schafft keinen fiktiven Gegensatz zu ihrer Klasse, sondern identifiziert sich mit ihr. Sie sieht diese genauso jung und zukunfthaft wie sich selbst, und genauso mit Morgen des Lebens, mit dem Leben von morgen beschäftigt. Was sie ihr hinzubringt, ist folglich kein eigenes Ziel, sondern ungebrochene Stoßkraft zum proletarisch gemeinsamen. Trauer dagegen, Größe, Edelmut, alles naiv und hochgewölbt, machen allein keine Zukunft. Um seine Jugend nicht betrogen sein, dies Gute gelingt erst, wenn nirgends mehr betrogen und entrechtet werden kann. Kampf ums neue Weib, Programm der Frauenbewegung Das Weib liegt unten, es wird seit langem dazu abgerichtet. Ist immer greifbar, immer gebrauchsfähig, ist die Schwächere und ans Haus gefesselt. Dienen und der Zwang zu gefallen sind im weiblichen Leben verwandt, denn das Gefallen macht gleichfalls dienstbar. Das Mädchen mußte durch Ehe versorgt werden, so saß es auf der Stange, hatte auf den Mann zu warten. Oder fing mit List und sich selber als Köder Männer ein, blieb auch dann unmündig, ohne Jagdschein. Gelang der Fang nicht, oder war die Jungfrau zu wählerisch, dann kam zum Schaden ein dürrer Spott: das Weib rangierte als alte Jungfer. Sexuelles Leben, wenn vorhanden, wie meist, durfte nicht gezeigt werden. Beruf galt bis in untere kleinbürgerliche Schichten hinab als anstößig. Aber beherzte Mädchen und Frauen zogen einen anderen Schluß, Träume begannen vom neuen Weib. Um 1900, ein wenig vorher und nachher, flackerte hier ein Licht auf, das seinen Reiz behält. Das freie Mädchen meldete sich an, ebenso aber auch die Männliche, beide nicht mehr geneigt, unterdrückt oder auch unverstanden zu sein. Der beginnende Zerfall des bürgerlichen Hauses, der wachsende Bedarf an Angestellten erleichterten oder begründeten diesen Weg ins Freie. Neue Liebe, neues Leben wurden verlangt, die Liebe durchaus als selbstgewählte, auch unabgestempelte. Aber wichtiger, sicher stärker bestätigend schien der /(688) Zugang zum öffentlichen Leben, zum Beruf. Die Sehnsucht war, sich auszuleben, glückliche Vergluckung war nicht mehr das Ziel. Dieses lag vielmehr außerhalb der familiären Grenze, außerhalb jeder, die das Weib bisher bestimmt hatte, indem sie es eingeengt hatte. Das bürgerliche Mädchen, das seinen Unterhalt noch nicht zu verdienen brauchte, war hierbei von den ärmeren wie den kühneren Weibern verschieden. Letztere hatten mit der Familie meist gänzlich gebrochen und trugen die Folge; sie bezogen die männliche Linie, die des Berufsmenschen, ganz. Die höheren Töchter, die es nicht mehr sein wollten, überspannten sich nur, doch anders ging die Männliche vor, die Führende von damals, die beginnende Stimmrechtlerin. Absicht dieser Protestlerin war unbewußt und sehr oft bewußt: aus der Art zu schlagen, männliche Überlegenheit zu erlangen. Ein unleugbarer Männerhaß setzte sich hier sonderbar zusammen: aus Haß der Unterdrückten und widerwilliger Anerkennung zugleich; von daher der Neid, die Nacheiferung, ja der groteske Wille, zu überbieten. Leiden am eigenen Geschlecht machte dafür anfällig, und das eigene Geschlecht wiederum sollte zum Sieg geführt werden, gegen sich selbst. Dieser gebrochene Wunsch hinderte nicht, daß die Protestlerin von damals dem Ruf nach dem neuen Weib die Kühnheit gab und erhielt. Auch das freie Mädchen loderte nun, wie sonst nur Jünglinge, und die Männliche schärfte, in ihrem neuen Schnitt, durchaus den Traum, auf andere Art
Weib zu sein. Es zeigte sich aber, das aufsässige Leben blieb nicht lange frisch. Je mehr Arbeitskräfte gebraucht wurden, desto weniger hatte das sogenannte freie Mädchen Platz, desto weniger hatte die Protestlerin Anlaß, es zu sein. Die bürgerliche Jungfrau kam als erwerbstätige auf die eigenen Füße, doch sie wurde dadurch nur scheinbar unabhängiger. Statt Recht auf selbstgewählte Liebe, freies Leben kam die Öde des Büros, meist mit untergeordneter Stellung dazu. Kaum war das Stimmrecht errungen, so hatte das Parlament weniger zu sagen als je zuvor; kaum gingen den Frauen die Hörsäle auf, so begann die Krise der bürgerlichen Wissenschaft. Zugleich war das Kapital, wenn es den Frauen »Berufe erschloß«, daran interessiert, alles Freiheitslustige zu beseitigen, gar alle Nachbarschaft zur gründlichen Emanzipation, zur sozialistischen. Da standen nun die zahmeren Führerinnen /(689) auf: Helene Lange, Marie Stritt, zuletzt Gertrud Bäumer, alle für Bewegung ohne »Auswüchse«. Die Auswüchse waren um 1900 die sezessionistischen gewesen, der Haß gegen juste milieu. Das neue Weib hatte damals seine Wasserrosen- und Sonnenblumen-Utopie zusammen mit dem Jugendstil-Mann; es war eine bohémehaft-literarische, doch eben deshalb keine zahme. Der Hintergrund erträumter Frauenzukunft war mit festlich dionysischen Revolutionsbildern erfüllt, von denen ein Menschenalter später wenig mehr als die Befreiung vom Korsett und das Recht zu rauchen, zu wählen und zu studieren übrigblieb. Als Bebel 1899 »Die Frau und der Sozialismus« schrieb, erkannte er das Weib als die erste Unterdrückte, früher unterdrückt als der männliche Sklave, und die Frauenfrage war noch aufrührerisch und epatant. Doch bald danach, als die Löffel erobert waren, fehlte der Hirsebrei; und die bürgerliche Frauenbewegung vertrat nun das Recht, sich vom Sozialismus rein zu halten. Helene Lange kämpfte für das Ziel, daß die Leitung der höheren Mädchenschule einer Frau übergeben werden sollte. Marie Stritt war zufrieden mit »Frauenbildung« - Frauenstudium überhaupt, Gertrud Bäumer sah die Erfüllung des neuen Weibs im Staatsbürgertum der Weimarer Republik. All das war der Bewegung nicht an der Wiege gesungen worden, weder von den Suffragetten noch auch von den frühesten Champions des zweiten Geschlechts. Ist doch die Bewegung, welche die organischen wie politischen Grenzen des Weibs utopisch vorrücken will, wirklich so alt wie der Freiheitskampf selbst. Statt auf den Jugendstil beschränkt zu sein, reicht diese Bewegung von den athenischen Ekklesiazusen, die Aristophanes verspottet hat, in die ottonische Zeit, in die Renaissance und ihre virago, in die Programme des Sturm und Drang, ins Junge Deutschland des Vormärz. Die leidenschaftliche Mary Wollstonecraft hatte 1792 ein Grundbuch über Frauenrechte veröffentlicht, das die Menschenrechte von damals radikal aufs Weib anwandte. George Sand hatte die Juli-Revolution von 1830 mit der Frau in Verbindung gesetzt, ja ein Satz aus ihrem Roman »Le meunier d'Angibault» setzt, anders als die »Töchter der amerikanischen Revolution« (die zur reaktionärsten Gruppe Amerikas gehören und nicht auf Amerika beschränkt sind), auch der Frauenbewegung Umsturz an den Hori- /(690) zont: »Die gewaltige, furchtbare Erschütterung aller egoistischen Interessen muß die Notwendigkeit einer allgemeinen Veränderung gebären.« Ganz erstaunlich ist eine deutsche Pionierin aus dem Vormärz: Luise Otto, eine rote Demokratin. Sie war es, die 1848, als die Revolutionskämpfe ausbrachen, die erste deutsche Frauenzeitschrift gegründet hat, mit dem Motto: »Dem Reich der Freiheit werb ich Bürgerinnen.« Die erste Nummer erklärt diesen Bürgerinnen: »Wenn die Zeiten gewaltsam laut werden, so kann es nicht fehlen, daß auch die Frauen ihre Stimme vernehmen und ihr gehorchen.» 1865 rief Luise Otto die erste Frauenkonferenz nach Leipzig, gründete den Allgemeinen
Deutschen Frauenverein und setzte durch, daß auch die Vertretung der Arbeiterinnen und ihrer Rechte zum Programmpunkt wurde. Aber der bürgerliche Freisinn, vor 1871 noch so hitzig, wurde im Kaiserreich sehr bald staatserhaltend; ein Verein der Frauen, die wußten, was sich ziemt, ermäßigte sich besonders. Das Reich der Freiheit fand als politisches unter den Bürgerinnen wenig Bürgerinnen, die Freiheit zerbrach ihnen nicht an der Geschlechts-, sondern an der Klassenschranke. Die Klassenschranke zeigte sich deutlich 1896, mithin im Frühlicht des neuen Weibs und seines Freiheitskampfs, sie zeigte sich beim Streik der Berliner Konfektionsarbeiterinnen. Der Frau war die Beteiligung an politischen Verbänden gesetzlich verboten; eine Entrechtung, gegen die die radikalen bürgerlichen Frauen an erster Stelle vorgingen. Aber die gleichen bürgerlichen Frauen nahmen damals dieses Gesetz als Handhabe, um die streikenden Arbeiterinnen im Stich zu lassen; die Klassenschranke durchschnitt die Ansprüche des Herzens oder der scheinbar allgemein-weiblichen Solidarität. Also ist die Frauenfrage eine Funktion der sozialen Frage; wie dies bereits der George Sand im Sinn lag. So auch fast allen früheren Utopisten: Thomas Morus verlangte völlige Gleichstellung, Fourier lehrte, der Grad der weiblichen Emanzipation sei das natürliche Maß der allgemeinen Emanzipation in einer Gesellschaft. Ein Staat, der nach unten als Papua auftritt, wird auch die Weiber von der Unmündigkeit nicht ausnehmen können, nicht einmal von der vergoldeten in der herrschenden Schicht. Zu fragen bleibt bei alledem, was sich in dem weiblichen Auf- /(691) bruch bewegt. Eben das Geschlecht bewegt sich darin, jedoch als eines, das sozial vortritt und bestimmt sein will. Falsch ist selbstverständlich, daß nur die alte Jungfer oder auch die Männliche aufbegehrt hätten. Es war überwiegend weibliche Jugend, die in den neunziger Jahren von der merkwürdigen Bewegung ergriffen worden ist. Alte Jungfern und Männliche hat es jederzeit gegeben, aber viele Jahrhunderte lang schwieg das Weib in der Gemeinde. Und die Frauenrevolte; obwohl sie dazwischen immer wieder vorfiel, hatte bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts keine Breite. Sie gewann erst Anhang, auch durchaus soziale Utopie, als eben der kapitalistische Bedarf an Produktionskräften ihr Freipaß gab; als das Interesse an Freizügigkeit auch diese Art Leibeigene löste. Nach dem, was sich im weiblichen Aufbruch bewegt, nach den verschütteten oder fern-möglichen Inhalten des Geschlechts, wurde hierbei allerdings sowenig gefragt, wie das Kapital insgesamt nach den unverwertbaren Qualitäten seiner Angestellten fragt. Gemessen wurde nach Leistungen, vom Weib kam schließlich nur noch die Schmiegsamkeit in Betracht, die schon vor dieser sogenannten Emanzipation im Männerrecht vorhanden und geschätzt war. Sie taugte zu schlecht bezahlten Posten, zu freiwilliger Subalternität; die Frauenbewegung wurde auch von daher platt. Ja, eine unleugbare Nüchternheit des Weibs, die der Marienkult so gewaltig nicht wahrhaben wollte und die auch utopisch nicht vorbestimmt ist, wurde durch die kapitalistische Versachlichung prämiiert. Und politisch hat sich durchs Frauenstimmrecht in der Tat nichts geändert, als daß die Stimmen aller bisherigen Parteien sich verdoppelt haben. Die Reaktion erhielt sogar etwas mehr als Verdoppelung; von explosiven oder auch nur sonderlich humanen Impulsen durchs politische Weib ist bürgerlich nichts verspürbar. Die Bürovorsteherin hat so besiegt, was der Liebhaber nicht ohne Grund an den ersten gedichteten, variierten Frauenbildern der Emanzipation sah, an Ibsens Nora, Hauptmanns Anna Mahr (»Einsame Menschen«), Wedekinds Franziska. Also wurden in der bürgerlichen Frauenbewegung allerdings nicht die Inhalte des Geschlechts manifest: und doch waren sie von Anfang an gemeint wie vorher nie, und doch wurden sie von den Gegnern der Emanzipation abgelehnt, als ginge die
Bewegung nicht auf die Bürostunde, worin sie /(692) umkam, sondern als wäre sie eine Erinnerung an Carmen hier, an Antigone dort, ja eine utopische Beschwörung der Hetärenzeit hier, des Matriarchats dort; und vor allem als wäre die Frauenbewegung diejenige einer spezifischen menschlichen Ganzheit und Fülle, welche sich doch ebendeshalb, in ihren fern-möglichen Inhalten, mit dem seelenlosen kapitalistischen Betrieb, als dem Todfeind von Kunst wie Frau, nicht verträgt. Der bürgerlich-männliche Haß gegen die Frauenbewegung zeigt all diese Motive immer wieder e contrario, entwertend, an; und sowohl am billigsten als auch am ambivalentesten wirkte hierbei die Entwertung der Frau zur Hetäre, mit gleichzeitiger Reduzierung darauf, Stabilisierung darin. Völlig besessen ging in dieser Richtung Weininger vor (Geschlecht und Charakter, 1903): W, das Weibliche, ist danach die ichlose, gedächtnislose, treulose Geilheit schlechthin, die völlige Gegenrasse zu Jesus im Menschen oder der Reinheit. Carmen erscheint so als ein echtes Weibwesen, das in Kultur nicht laut geworden und in gekommener Sitte nicht zu Hause ist: »Das Bedürfnis, selbst koitiert zu werden, ist das heftigste Bedürfnis der Frau, aber es ist nur ein Spezialfall ihres tiefsten, ihres einzig vitalen Interesses, das nach dem Koitus überhaupt geht: des Wunsches, daß möglichst viel, von wem immer, wo immer, wann immer koitiert werde ... Und diese Eigenschaft des Weibs, Gesandte, Mandatarin des Koitusgedankens zu sein, ist auch die einzige, welche in allen Lebensaltern da ist und selbst das Klimaktenum überdauert: das alte Weib verkuppelt weiter, nicht mehr sich, sondern die anderen« (1. c., S.351ff.). Und noch wilder: »Die Erziehung des Weibs muß dem Weibe, die Erziehung der ganzen Menschheit der Mutter entzogenwerden« (1. c., S.471); denn nur die Frau als Hetäre ist die Wahrheit, die Frau als Madonna ist eine Schöpfung des Manns, nichts entspricht ihr in der Wirklichkeit. Soweit der vehementeste Frauenhaß, den die Geschichte kennt, eine einzige Anti-Utopie des Weibs, mitten in der Sezessionszeit, auchwährend der beginnenden Verharmlosung zur grauen Reformschwester. Eben an diesem Abgrund der Verneinung erhellt aber zugleich, was in der Frauenbewegung an Unbekanntem, Unversachlichtem sich bewegt. War sie doch selber als Emanzipation der Menschheit vom Weib gedacht, das ist: vom bisher lautgewordenen Weib. /(693) Ihre Grundfrage war allemal die nach den Grenzen des Geschlechts, und ob es überhaupt diese Grenzen gebe; ob das Weib die Geschlechtsschranke, wenn nicht übersprungen, so zur Staffel machen könne, die zu versteckt-unbetretenen Inhalten der Menschheit selber führt. Überspannte Träume zweifellos, auf ein Erwachen der halben Erde abgezielt, doch mit historisch sozialem Tiefgang, mit eben jenem, den Weiningers Hetärenhaß wider Willen gewittert hat. Grundsätzlich, ihrer erweisbaren Utopie nach hielt die Frauenbewegung in der Tat Carmen, also erinnertes Hetärentum in Gang, jedoch dazu eben das Wesen Antigone, die zweite Primitive vor der Männerzeit: erinnertes Matriarchat. Beide Lebensformen liefen ja der patriarchalischen voraus: die regellose Vermischung der Geschlechter, welche der Sammler- und Jägerstufe entsprach, das Mutterrecht mit dem Prinzipat der Frau und Erde, welches der Ackerbaustufe entsprach. Beide Erinnerungen lebten in der Frauenbewegung, ausgesprochen wie unausgesprochen,wiederauf,besetzten archaisch utopisch unausgefüllte Phantasie. Die hetärische Zeit wurde von Bachofen aus mythisch-ornamentalen Sumpfsymbolen (Schilfrohr, Dschungel) gedeutet, die matriarchalische aus Nacht- und Erdsymbolen (Mond, Höhle, Ähre). Die hetärische Zeit, mit austauschbarer Weiber- und Männergemeinschaft, lag vor der Ehe, die matriarchalische setzte Ehe mit der Zuordnung der Familie, ja der gesamten Gemeinschaft zur Mutter. Indem Bachofen diese Verhältnisse entdeckte und sie,
über das historisch Erweisliche hinaus, zweifellos verklärte, sprach er nur aus, was der darauffolgenden Frauenbewegung als archaische Utopie vordämmerte: dionysisches Leben hier, Wiedergewinnung der Demeter-Nacht dort. Beide Lebensformen sind einer »Sprache des Schoßes «zugeordnet, welche in derWelt des Männerrechts später nicht mehr laut wurde, es sei denn in mänadenhaften Durchbrüchen oder in Tributen des strengen Herrenrechts ans ebenso ältere wie mildere der Bona Dea. Mythos der Liebhaberin klingt daher hei Bachofen so: »Ihr ist Helena, die nicht darum so reich ausgestattet, daß sie, nur Einem zu ausschließlichem Besitz dahingegeben, verwelke, das große Vorbild jedes sterblichen Weibs, das Sinnbild jeder dionysischen Frau.« Und Mythos, besser: archaische Utopie der Frau als Walterin meldet sich bei Bachofen /(694) so: »Dasjenige Verhältnis, an welchem die Menschheit zuerst zur Gesittung emporwächst, das der Entwicklung jeder Tugend, der Ausbildung jeder edleren Seite des Daseins zum Ausgang dient, ist der Zauber des Muttertums, der inmitten eines gewalterfüllten Lebens als das göttliche Prinzip der Liebe, der Einigung, des Friedens wirksam wird« (Vorrede zum Mutterrecht). Geschlecht ganz unbeendeter Art, eines, das nicht-kapitalistisch erinnert und sozialutopisch weiter bestimmt sein wollte, bewegte sich also in der Frauenbewegung durchaus, sie war nicht auf alte Jungfern und Männliche beschränkt. Sie war voll unversachlichter, in den bisherigen Sachlichkeiten nicht mehr und noch nicht lautgewordener Erwartung. Die Frau hatte, nach so langer Unmündigkeit, die feine Anmaßung, eine vergangene wie nie gewordene Insel der großen Mutter ins Patriarchat einsetzen zu wollen. Die Bewegung ist zugleich veraltet, ersetzt und vertagt, alles mit Grund. Sie ist veraltet, weil sie bürgerlich offene Türen aufgestoßen hat, hinter denen dann doch nichts war. Die geschlechtslose Arbeitsbiene ist nicht das Ziel, zu dem man angelaufen ist, bürgerlich geht nun nichts mehr weiter. Es ist belanglos, ob das Weib dem Mann gleichwertig ist, wenn beide Angestellte eines Betriebes sind, der sie überhaupt nicht wertet, sondern auspreßt. Die Bewegung ist ersetzt, weil ein Kampf gegen die Geschlechtsschranke armselig wird ohne Kampf gegen die Klassenschranke. Die Arbeiterin fühlt sich nicht von den Männern ihrer Schicht benachteiligt, sowenig wie der jugendliche Arbeiter von Erwachsenen als solchen; in der proletarischen Frauenbewegung wiederholt sich so ein wichtiges Moment der proletarischen Jugendbewegung. Der halbkoloniale Status des Weibs im allgemeinen kann von denen nicht eigens beweint werden, die, wie der Arbeitermann, selber, wenn nicht noch mehr, als Kulis gehalten werden. Die Arbeiterin mißt sich mit den armen Arbeitern vereinigt an den reichen Frauen und Männern, und die alte Sozialdemokratie vertrat bereits den Programmsatz: »Die Frauenfrage fällt zusammen mit der Arbeiterfrage.« Die Sowjetunion kennt keine Frauenfrage mehr, weil sie die Arbeiterfrage gelöst hat; wo Herr und Knecht aufhören, verschwindet auch die Unterschicht: Weib. Zum dritten freilich besteht, als eigenes Inhalts- /(695) problem, das Geschlecht fort, das die Frau weitläufiger, aber auch unentschiedener bestimmt als den Mann (Gottfried Keller sprach von der »unergründlichen Halbheit des Weibes«). Dies macht, daß die Frauenbewegung, auch wo sie durch die proletarische ersetzt ist, doch nur vertagt ist. Soll heißen: das in den bisherigen Männergesellschaften so wenig geklärte, sowenig über die bloße Familie hinaus bestimmte Geschlechtswesen Weib tritt als Problem auch hinter der ökonomisch-sozialen Befreiung wieder hervor. Gerade der Untergang der weiblichen Unterdrückung schafft, per se ipsum, nicht den Untergang des weiblichen Inhalts. Liebhaberin, Mutter, gar versachlichtes Arbeitswesen haben diesen Inhalt noch nirgends ausgeformt oder gar in seinen utopischen Möglichkeiten erschöpft. Er ist
auch in den noch so poetisch verdichtetsten Kategorien Liebhaberin und Mutter nicht ausgeformt; um von neuen, bisher unbekannten und doch möglichen Kategorien zu schweigen. Die Nivellierung der Geschlechtsunterschiede, die in der Sowjetunion während des ersten dringend-allgemeinen Aufbaus erschien, ging nicht sehr tief. Gerade wo es auf weniger reglementierten Einsatz ankam, haben sich dort spezifisch weibliche Haltungen und Energien gezeigt und bewähren sich immer wieder. Die Mutter, wie sie Gorki in seinem realistischen Roman vorführt, hat ihre revolutionäre Arbeit anders zu tun verstanden als die männlichen Genossen; die Art ihrer Güte, ihres Hasses wie ihres Verstands war durch einen Mann unersetzbar. Insgesamt liegt der Unterschied der Geschlechter auf einem anderen Feld als die künstlichen Unterschiede, welche die Klassengesellschaft produziert hat; so verschwindet er mit dieser nicht. Der Geschlechtsunterschied verschwindet so wenig, daß das Weibhafte erst im Sozialismus offenbar werden kann. Genug davon bleibt auf jeden Fall übrig, um es in seinem Inhalt aufzuarbeiten, um es als Eva zu haben, die ihre Form sucht. Das weithin Vieldeutige bleibt übrig, das gärend hallt -entschiedene, falsch-entschiedene, unentschiedene Durcheinander und Ineinander am Weib, wie es die bisherige Gesellschaft in eine kommende einliefert. Es ist Sanftes und Wildes, Zerstörendes und Erbarmendes, ist die Blume, die Hexe, die hochmütige Bronze und die tüchtige Seele des Geschäfts. Ist die Mänade und die waltende Demeter, ist die reife /(696) Juno, die kühle Artemis und die musische Minerva und was noch alles. Ist das musikalische Capriccioso (Violinsolo in Straußens »Heldenleben«) und das Urbild des Lento, der Ruhe. Ist schließlich, mit einem Bogen, den kein Mann kennt, die Spannung Venus und Maria. Das alles ist unvereinbar, aber es läßt sich mit einem Federstrich durchs Inhaltproblem Weib nicht berichtigen, gar abschaffen. Wie wenig erst das am Weib bisher noch nicht Lautgewordene, jenes Utopisch-Unbestimmte, das überhaupt erst die große Verschiedenheit der bisherigen Bestimmungen bewirkt hat. Als wären sie bloße Versuche und Namens-Experimente, in denen die Hauptsache noch keineswegs genannt und herausgebracht ist. Lange nicht so herausgebracht ist wie beim Mann und seinen Prädikaten; obwohl dieser doch ebenfalls, mit geschichtlichen Leittypen wie Krieger, Mönch, Citoyen und so fort, recht Differenzierendes, recht Unabgeschlossenes hinter sich hat. Die Frauenbewegung reicht also immer noch dazu aus, eine partiale Utopie zu bilden, so wie sie in den bisherigen Gesamtutopien eine gebildet hat. Dies spezifisch Angemeldete und Erhoffte wird auch in der klassenlosen Gesellschaft noch zu raten und zu taten aufgeben, als eigenes Problem-Erbe aus Geschichte und Vorzeit. Man beachte die hetärischen Züge in der kynischen, streckenweise auch in der libertinistisch-anarchistischen Utopie; sie sind nicht erledigt. Man beachte die matriarchalischen Züge in der stoischen Sozialutopie und ihren Nachwirkungen, bis zum Naturrecht und der gütigen Natur Rousseaus; sie sind nicht zum Ende gebracht. So haben Elemente aus der weiblichen Partialutopie bisherigen Gesamtutopien durchaus schon einen Beitrag gegeben, einen der Unruhe wie der Sammlung, auch des fernhinziehenden Ideals (für Goethe, nach seinem Wort, »immer in weiblicher Form konzipiert«). Und Duft, Fülle, Melodie dieser Gattung wirken, mutatis mutandis, in der Utopie, die zur Wissenschaft fortgeschritten ist, weiter; so bleibt ein eigener Zuschuß des weiblich-utopischen Inhalts zum Reich der Freiheit. Die Lust, sich aus der Enge zu befreien, ist bürgerlich beendet, kommt nur klassenlos wieder. Erst hier gibt es auch für eine Frauenbewegung neue Flut, offene Fahrt, richtig gestellte Order. Welche utopischen Kräfte und Werte damit beginnen, /(697) das kann, wie der klassenlose Mensch insgesamt, nur der Richtung, nicht
dem unausgeschöpften Inhalt nach angesagt werden. Es ist eine Richtung, welche aus der bisherigen schlechtenBreite, aus dem unvereinbaren Durcheinander der weiblichen Typen herausführt. Auf eine Existenz hinausführt, wo die unergründliche Halbheit, auch unvisierte Experimentierkunst verschwindet, die den falschen Reichtum an weiblichen Prädikaten und Typen eben erst ermöglicht hat. Einen Reichtum, dessen Falschheit und Unbestimmtheit schon an dem raschen Übergang der einen Type und ihrer Haltung in eine andere, ganz unvereinbare, erkennbar ist. Indem am vorhandenen Weib das Blumenhafte zum «Zünd an, zünd an!« der Hexe werden kann, indem die tüchtige Seele des Geschäfts fast mühelos zur Mänade, ja selbst Venus zu Maria übergeht, zeigen sich diese einzelnen Bestimmtheiten oft so vorläufig, als wären sie nicht einmal ungeregelte Experimente des weiblichen Seins, sondern bloße Masken. »Die keusche Luna launet grillenhaft«, dieser Satz, von Mephisto eingeblasen, zeigt, was es mit hysterischem Reichtum, falscher Variationsbreite auf sich hat. Weibliche Emanzipation konkreter Art visiert statt dessen echte Proben aufs utopischwesenhafte Exempel; sie arbeitet aus dem Durcheinander der Typen den wirklichen Reichtum der weiblichen Natur innerhalb der menschlichen heraus. Desto sicherer, als die mannigfachen und entfremdenden Warenkategorien, Herrschaftskategorien, welche die bisher erschienenen Frauentypen, vorab im Kapitalismus, mitmodelliert haben, in einer klassenlos werdenden Gesellschaft wegfallen. Dann geht ein reelles Erbe an den bisherigen, so vielfach verstellten und abgelenkten Prädikaten der Weiblichkeit auf, kann daraus aufgehen. Das real Mögliche ist am Weib ungestalteter als am Mann, doch auch seit alters, in allen Traumbildern weiblicher Vollendung, als verheißungsvoller intendiert; es greift stärker in fundierte Phantasie. So wie das Musikalische verheißungsvoller ist als das Poetische, das durch seine präzise Aussage bereits gemünzt ist. Und wie Musikalisches, wo es bereits gestaltet ist, tiefer gehen kann als selbst viel Poetisches der Worte, so bedeutet Utopisches am Weib, wo es wertvoll vorerscheint, ein Gesicht zentraler menschlicher Tiefe und einer trostreichen. Das Sanfte wie das Erbarmende /(698) wirken in der weiblichen Ausgabe des Menschen intensiver; das unter Artemis einmal Gedachte hat an reiner Kühle unter Jünglingsgestalten nicht seinesgleichen; die Heilige zeigt einen christlichen Zustand in vollem Karat. Von solchen Möglichkeiten oder dem, was ihnen unter neuen Zeichen entsprechen mag, machte die bürgerliche Frauenbewegung, als bürgerliche, allerdings wenig oder nichts kenntlich; sie kam über entgegengesetzte Trivialitäten wie freie Liebe und Suffragette kaum hinaus. Beginnt mit der klassenlosen Gesellschaft menschlicher Frühling, so auch Aussicht für die Überschreitung einer nicht ausgemachten Geschlechtsschranke, für die Aufhebung gefrorener Undeutlichkeit. Eine Gesellschaft ohne zuweisbare Schattenseite des Lebens gibt der Weiblichkeit zweifellos erst Bewährung wie Freibrief. Und die Frau als Genossin wird derjenige Teil der Gesellschaft sein, der sie in jedem Bezug subjektvoll und unversachlicht erhält. Altneuland, Programm des Zionismus Es gibt kein Leid, das dem jüdischen zu vergleichen wäre. Auch andere kleine Völker wurden zerstreut, von ihrem Boden weggeführt, doch dann gingen sie rasch unter. Die anderen Stämme, welche an den Nil zur Arbeit verschleppt worden waren, sind nicht einmal dem Namen nach überliefert. Die Juden haben sich nicht fressen lassen, wie bekannt, obwohl sie ständig zwischen den Zähnen ihrer Wirtsvölker waren. Dem Handel und der Schrift ergeben, retteten sie ihr angstvolles Dasein
durch Totschlag ohne Zahl hindurch, bis nach langen Jahrhunderten die Luft außerhalb des Ghettos ein wenig ungefährlicher schien. Der Jude ward nur mehr geschlagen, verachtet, nicht mehr verbrannt. Das Gönnerische stieg weiter an, im Lauf der bürgerlichen Befreiung, der gelbe Fleck wurde vom Kaftan abgetrennt, auch dieser verschwand, um 1800 entstand im Westen der jüdische Mitbürger. Er trat sein neues Amt vertrauensvoll an, und da draußen ohnehin Handel und Wandel herrschten, auch die mehr ritterlichen der staatsmäßigen Berufe weiter verschlossen blieben;-war der Start in der Mehrzahl kaufmännisch. Man trat in die vorhandene kapitalistische Gesellschaft ein, nicht mehr, wie /(699) zur spanischen Blütezeit, in eine feudale und kirchlich gelehrte. Das macht Unterschiede, sie fallen nicht nur jenen Juden zur Last, die so smart ins allgemeine Geschäftsleben einstiegen, auch die Station ist wichtig, an der der lange Leidensweg endlich hält. Diese Station war aus dem gleichen Grund, aus dem sie die vorläufig befreiende war, die kapitalistische: freier Wettbewerb verlangt rechtliche Gleichheit seiner Partner. Unter diesen Partnern kam nicht immer das beste Jüdische zum Vorschein, sowenig wie das beste Deutsche oder Französische. Die Börse wirkt von allen Seiten nicht schön, und es waren die Spalten der liberalen Presse, aus denen der Atem der Zeit am heißesten entgegenschlug. Jüdischer Geist kam in einen hinein, der alles zerschwätzte, der nur noch für den Markt erzeugte, und tat sich darin hervor. Nur wurde dergleichen am Anfang, als die Befreiung kam, noch nicht sichtbar. Der Fall der Mauern, die so viel Bedrückung und freilich auch so viel Ernst und fromme Strenge umgeben hatten, wirkte selber biblisch. Es war ein erstes Morgenrot, das der Anpassung; dahinter wurde lauter demokratisches Glück vermutet, neues Leben nach langer Lähmung. Aber nicht nur die Juden, sondern auch die Nichtjuden haben bekanntlich nicht ganz erfüllt, was in der Befreiung erhofft war. Gleichheit der Juden mit anderen, wenn sie je vorlag, war eine vorübergehende Ausnahme, sie wurde keine Regel. Zuletzt kam wieder, verstärkt wieder, was nur den Narren eines leer rollenden Fortschritts undenkbar schien: Ausrottung. Der liberale Bürger stand daneben, Gewehr bei Fuß, soweit er es nicht selber auf Juden im Anschlag hatte. Nichts anderes schien oder scheint noch übrig, als sich von lebensgefährlichen Mitbürgern endgültig zu trennen, Heimstätte leuchtet auf. Diese war schon lange ersehnt, selbst als die Anpassung blühte. Viele hätten es sich zwar nicht ausgesucht, Jude zu sein, aber nun, wo nichts mehr zu ändern, gaben sie vor, stolz darauf zu sein. Es war dies ein unechter Stolz, und das Gelobte Land wurde nur mit den Lippen berufen. So wie viele Juden jetzt ausgesprochenermaßen zionistisch geworden sind, die aus dem Land, wo es ihnen erträglich geht, gar nicht auswandern wollen. Sie sind zionistisch teils aus Mitgefühl für vertriebene Rassegenossen, teils aus der Leidenschaft, womit man sonst eine /(700) Unfallversicherung eingeht. Und die orthodoxen Juden sprechen seit zweitausend Jahren den Gebetswunsch: das nächste Jahr in Jerusalem; obwohl gerade aus diesen Kreisen starke Abneigung gegen wirkliche Rückkehr kam. Der Traum vom erneuerten Davidreich war trotzdem politisch nie ganz erloschen; es gab militärische Abenteurer wie David Reübeni (um 1530), der das von Waffen so lange entwöhnte Volk zu einer Art jüdischem Kreuzzug gegen die Türken aufrief. Es gab den falschen Messias Sabbatai Zewi (um 1640), der im Zug der Erlösung Israel zuerst nach Jerusalem heimrufen wollte. Vorausgesetzt, daß ein Volk sich noch als ein solches fühlt und im Zusammenhang steht, so schien es schwer, ihm die Erinnerung an den Boden zu nehmen, wo es wurzelte und, in vielfach täuschender Erinnerung, glücklich war. Selbst die vertriebenen spanischen Juden verzehrten sich in Sehnsucht, wenn auch nicht nach Palästina, so nach Spanien, und haben die
Namen längst verschwundener Straßen, längst eingefallener Häuser, in denen ihre Vorfahren als Senores gewohnt hatten, oft bis heute behalten. Also verhinderte auch wirkliche Einbürgerung, als der bürgerliche Himmel noch freundlich dreinsah, nicht bei allen Rückkehrwünsche, dieses Falls ohne Lippendienst, sogar leidenschaftlich echte. Erstaunlicherweise verhinderte das nicht einmal eine vielfältige, führende, lehrende Verbindung mit der internationalen Arbeiterbewegung. Im Gegenteil: der Sozialist Moses Heß, der ehemalige Freund und Vorgänger von Marx und Engels, der spätere Freund Lassalles, ein freilich daaurnd idealistischer Dialektiker, schrieb in »Rom und Jerusalem«, 1862, das ergreifendste zionistische Traumbuch. Dazu verhalf ihm die gleichzeitig warme und vernebelte Art, womit er an beseelende Rasse glaubte. Heß war ein aufrechter Revolutionär bis zuletzt, gehörte trotzdem zur «Hirnweberei« der linken Hegelschule. Er gehörte zum »wahren Sozialismus«, dessen ökonomische Unwissenheit, spekulatives Spinnweb, praktische Naivität das »Kommunistische Manifest« hernach so scharf kritisiert hat. Heß blieb in der idealistischen Dialektik, obwohl, ja weil er Hegels Selbstbewegung der Vernunft mit der »der Kraft und des Willens« durchsetzen wollte. Er ging mit dieser »Philosophie der Tat« viel mehr auf Fichtes Tathandlung zurück als /(701) zur Erfassung der ökonomisch-materiellen Faktoren der Geschichte voran. Er nahm die ökonomischmaterialistische Geschichtsauffassung Marxens an, warf aber fast gleichzeitig Marx und Engels vor, sie hätten »den nebelhaften Standpunkt der deutschen Philosophie mit dem engen und kleinlichen Standpunkt der englischen Ökonomie vertauscht«. Ökonomie wurde von Heß also selber im engen Sinn definiert, nicht in dem gesellschaftlich totalen Marxens; sie galt ihm als die typische Klassenwissenschaft des Bürgertums. Folglich wurden auch »Kraft und Wille«, die von Heß aktivistisch eingesetzten Motore der Dialektik, nicht primär ökonomisch umwälzend gefaßt, sondern ethisch, in Annäherung an Fichtes Tathandlung, und zuletzt eben rassentheoretisch. Neben dem Proletariat, das nach wie vor als reales Subjekt der umwälzenden Praxis gefeiert ist, stand für den späteren Moses Heß die Rasse als geschichtsbildende Kraft. Gewiß, auch Marx und Engels sprachen von Rasse, als einer Art innerer Naturseite, das mag erinnert werden. Engels gab in einem Brief von 1894 die Rasse »als ökonomischen Faktor« zu, Marx erklärte ökonomische Entwicklung auch »als abhängig von der Gunst der Umstände, dem Rassencharakter«. Es gebe Völker mit mehr oder weniger »Temperament und Dispositionen zur kapitalistischen Produktion«, Marx nennt unter den weniger disponierten die Türken. Aber Marx und Engels haben Rasse weder zu einem wesenhaft bestimmenden Faktor gemacht noch zu einem konstanten innerhalb der Geschichte; rassenfetischistische Vorstellung wird völlig zerschlagen. Auch die Disposition Rasse wird bei Marx durch die Arbeitstätigkeit des Menschen geschichtlich immer wieder umdisponiert: »Indem er durch diese Bewegung auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigene Natur.« Anders eben bei Moses Heß, deshalb anders, weil Rasse bei ihm außer als ökonomischer Faktor auch als selbständig ideologiebildender erscheint, selbst bei gleichem ökonomischem Unterbau: und die stärkste geistige Rasse ist und bleibt ihm jüdisch. Kleine vorderasiatische Völker mit ziemlich gleichartiger Agrarwirtschaft und politischer Verfassung hat es mehrere gegeben, aber, fügt Moses Heß hinzu, »nur die Juden haben das Banner getragen, dem heute die Völker nachziehen«. /(703) Es ist das sittlich-prophetische Banner, und nur ihm zuliebe, der Aufschrift: Zion zuliebe, sollen Juden wieder in den alten Boden eingepflanzt werden. Das also wollte Zionismus von Zion her sein und nicht von einem zufälligen Aufenthalt her, den die Juden vor zweitausend Jahren in Palästina gehabt haben: »Trage dein
Banner hoch, mein Volk«, fordert Heß in »Rom und Jerusalem« - »In dir ist das lebendige Korn aufbewahrt, welches, wie die Saatkörner in den ägyptischen Mumien, Jahrtausende geschlummert, aber seine Keimkraft nicht verloren hat... Nur aus der nationalen Wiedergeburt wird das religiöse Genie derJuden, gleich dem Riesen, der die Muttererde berührt, neue Kräfte ziehen und vom heiligen Geiste der Propheten wieder beseelt werden.« Inhalt dieser pathetischen Wendungen oder Sendungen aber, dieser etwas weitläufigen Erbaulichkeit, bleibt dem Revolutionär Heß einzig der Sozialismus: als einer der ersten hat er das Judentum, wie er es aus den Propheten las, auf die Sache des revolutionären Proletariats bezogen. Sozialismus wird für Heß »Sieg der jüdischen Mission im Geist der Propheten«; nur zu diesem Ende plante dieser internationale Sozialist »ein Aktionszentrum in Palästina, worin der Geist der jüdischen Rasse wieder auferstehen kann«. Allerdings mit Hilfe Frankreichs, doch nicht des imperialistischen, sondern des Frankreich der großen Revolution, die ließ in ihm fortwirkend dachte. »Einmal wieder auf eigenem Boden, einmal wieder ins Geleis der Weltgeschichte gehoben«, sollte das jüdische Volk das Haus Rothschild in Erstaunen versetzen: »Das soziale Tierreich, welches von der gegenseitigen Ausbeutung der Menschen lebt, geht zu Ende.« Soweit die zionistische Utopie des Moses Heß, geträumt und entworfen als eine ab ovo, von den Propheten her, sozialistische. Doch die westlichen Juden waren meist bürgerlich, es gab nicht viele Arbeiter unter ihnen. Einfluß auf diesen Mittelstand gewannen die zionistischen Träume darum erst als nicht mehr sozialistisch klingende, als gemäßigt-freisinnige. Lange nach Heß, ein Menschenalter später, trat Theodor Herzl auf, der Urheber des einzig wirksam gewordenen zionistischen Programms, vielleicht mit Jeremia, aber ohne Jesajas. Das aus zwei Gründen, einem politischen und einem ideologischen, beide der /(704) Situation eines jüdischen Bürgertums entsprechend, auf das der Zionismus, sehr ohne Sozialismus, überging. Politisch war, im Gefolge der Mittelstandskrisen, die dünne liberale Judenliebe der Umwelt rasch wieder durchlöchert worden. Ideologisch wollte das liberale Judentum selber recht wenig von der parteilichen Liebe hören, von der revolutionären, die seine Propheten gepredigt hatten und die mehr Geld gekostet hätte, als der bloßen Wohltätigkeit recht war. Politisch beförderte es Herzls Erfolg, daß eine sogenannte Antisemitenliga entstanden war, Ritualmordprozesse drangen aus Rußland und Rumänien nach Ungarn und Deutschland vor. Herzl sah im Dreyfusprozeß, daß selbst das klassische Bürgerland der Menschenrechte nicht mehr das alte geblieben war, und er zog daraus keine Schlüsse auf die Bürger selber, denen er verschworen blieb, sondern auf sie als Nichtjuden. Ideologisch entscheidend für Herzls Einfluß auf jüdische Bourgeoisie war eben die bourgeoise Entspannung, war das liberale Aufklärungsniveau, das hier dem Zionstraum gegeben wurde. Vor allem entfernte Herzl jede Verbindung mit dem sozialen Radikalismus der Propheten, mit sozialistischer Mission und anderen sogenannten Verstiegenheiten des Moses Heß; Zionismus wurde so eingängig für liberale jüdische Bourgeoisie. Das Modell nun zum eigenen Judenstaat fand Herzl in der mannigfachen Irredenta, als die sich die österreichisch-ungarische Monarchie darstellte; gleich Tschechen, Polen, Ruthenen, Rumänen, Serben, Italienern sollten auch die Juden in den eigenen Nationalstaat heimgelangen. Nicht einmal der uralte Goldklang Jerusalem kam ursprünglich vor; Herzls Utopie schwankte anfangs, in der Suche nach dem Zukunftsland, zwischen Argentinien und Palästina. Und die Wege nach Kanaan waren realpolitisch-diplomatisch, unter kluger Berücksichtigung vorhandener Schiebungen und imperialistischer Interessen einiger Großmächte: »Die Judenfrage ist eine
nationale Frage; um sie zu lösen, müssen wir sie vor allem zu einer Weltfrage machen, die im Rate der Kulturvölker zu lösen sein wird.« Auch Moses Heß hatte, wie gesehen, an weltpolitische Hilfe gedacht, an die Frankreichs; aber was bei Heß Naivität oder eine Art Romantik war, von 1789 her, wurde bei Herzl zu kapitalistischem Einverständnis. Einzige Alternative fürs Judentum schien Aussterben /(704) durch Mischheirat oder nationale Wiedergeburt: Herzl predigte letztere, doch in Gestalt eines kapitalistisch-demokratischen Duodezstaats von Englands oder auch Deutschlands Gnaden; unter Souveränität des Sultans. So erschien »Der Judenstaat«, 1896, in ziemlichem Detail als Schema ausgearbeitet, kooperativer Privatkapitalismus mit Bodenreform, das Land ist öffentliches Eigentum, wird nur auf fünfzig Jahre jeweils verpachtet. Die gesamte Zivilisation der Jahrhundertwende ist transferiert: »Wenn wir wieder aus Ägypten ziehen, werden wir die Fleischtöpfe nicht vergessen.« Dermaßen wird, wenn die Juden wollen, »das Märchen wahr«, ein utopischer Roman »Altneuland«, 1900, malte das bürgerliche Fortschrittsland weiter aus, das Sitzen im eigenen Zelt, unter eigenem Weinstock, wie zuvor zu Hause, sozusagen, in Europa, aber nun unter sich. Der geringen ökonomischen Veränderung im jüdischen Musterstaat entsprechend, wird diese Utopie nicht weit in die Zukunft verlegt: sie gibt sich als Bericht aus dem Jahr 1920. Schon im »Judenstaat« hatten Kritiker wie Achad Haam wenig Jüdisches gefunden, fast keines, das sich vom westlichen Zivilisationsbetrieb anders unterschieden hätte als durch die freilich unschätzbare Sekurität, womit dieser Betrieb nun auf eigenem Boden, in eigenen Großstädten fortgesetzt werden sollte. In neuhebräischer Sprache, gewiß auch mit erhoffter »Entkomplizierung « durch Ackerbau, Molkereigenossenschaft und andere Rückkehr zum Land, wie jeder Bankdirektor sie seriös findet. Herzls Zion war so eine Utopie des unmittelbar Erreichbaren, mit kapitalistisch-demokratischem Hintergrund; festgewurzelt auf dem Boden, dem einzigen, was sie noch nicht hatte, jagte sie keinen Phantomen nach. Empfahl sie sich so dem spezifischen Idealismus des jüdischen Geschäftsmanns, auch Rechtsanwalts, so machte sie doch, was das Nationale angeht, einen sehr harten Schnitt durch die Assimilation, einen weit härteren als Moses Heß; Stolz, nicht Sendung substanzuerte nach Herzl jüdisches Nationalbewußtsein. Die Diaspora mit ihren tausend Verkrümmungen und Paria-Formen sollte rückgängig gemacht werden, aber auch Moses Mendelssohn oder die Assimilation, als ein falsches Morgenrot, in dem die Diaspora nicht gelichtet, sondern bejaht worden war. Statt dessen schien mit Zionismus oder /(705) Anti-Mendelssohn nun das zweite und wahre Morgenrot anzugehen: »öffentlich-rechtlich gesicherte Heimstätte des jüdischen Volkes in Palästina«. Ungeachtet dessen, daß mindestens die investierungsfrohen Einwanderer und ganz sicher die Fleischtöpfe Ägyptens eine starke Assimilation voraussetzen und benutzen. Die Chassidim hätten kein Tel Aviv gegründet, das Talmudstudium hätte kein Einstein-Manuskript in der UniversitätJerusalem deponiert, und es gäbe dort keine Professoren der Kabbala, sondern Kabbalisten. Gar jüdischer Faschismus, als eine Konsequenz des übernommenen kapitalistisch-demokra tischen Gegenwartsstaats, wäre ohne solche Übernahme völlig unbekannt. Herzls Utopie ist in nuce selber mehr Assimilation als die scheinbar viel assimiliertere des romantischen Zionisten Moses Heß. Dieser war viel näher mit dem alten Messianismus verbunden, ein Gläubiger ans soziale Zion, der in der Arbeiterbewegung bis zu seinem Tod kämpfte, der gerade in seiner Verbindung mit der internationalen Arbeiterbewegung den Geist der Propheten zu aktivieren glaubte. Wie Heß im Unterschied von Herzl zu zeigen versuchte, gibt es offenbar einen Zionismus, dem das Erbbegräbnis weniger wichtig ist als die
Auferstehung. Wenn nicht die des jüdischen Nationalbewußtseins der Bourgeoisie, so die eines sehr alten, vielfach verschütteten Glaubens. Suchte dieser Glaube, weil er immer noch Utopie ist, auch ein »Aktionszentrum in Palästina«, so war dies Zentrum offenbar als ausstrahlend gedacht, als Ruf in die Welt und nicht als Duodezstaat. Was an sozialer Sendung und prophetischem Erbe im Judentum fortwirkt und es einzig wichtig macht, hat Moses Heß fern von Palästina verkündet, Marx gar in völliger Entfremdung von Palästina gegenwärtig gemacht. Zion war ihnen überall dort, wo das »soziale Tierreich« zerbricht und die Diaspora aufhört: die aller Ausgebeuteten. Als der Traum durch Herzl verbürgerlicht war, fing er sogleich zu arbeiten an. Er wurde zweifellos geschickt aufgezogen, von 1897 an fanden in Basel regelmäßig Zionistenkongresse statt. Die Bewegung wuchs, eine freiwillige Verpfianzung von Minderheiten, wie sie bisher noch nicht vorgekommen war. Auch gab es immer wieder Annäherung an Erfolg, und das auf Grund einer völlig unsentimentalen Strömung, die auch unter /(706) Nichtjuden dem entgegenkam. Hatte es unter Nichtjuden doch sogar sentimentale Strömungen zum Zionismus hin gegeben, so bei den Millenariern in der englischen Revolution und bei anderen adventistischen Sekten, immer wieder. Doch dergleichen war machtlos, vorübergehend und mystisch, die herrschende Klasse erwartet nicht Elias. Dagegen war die englische schon lange an der Sicherung des Überlandwegs nach Indien interessiert, und Palästina lag richtig. Hollingworth, ein politischer Schriftsteller, schlug noch früher als Heß, gar Herzl an dieser Stelle einen Judenstaat vor (Jews in Palestine, 1852). Die Lords Palmerston, Beaconsfield (dieser freilich mit hocherlauchtem israelitischem Stammesgefühl kokettierend), Salisbury verhandelten bereits mit der Pforte wegen der Konzession. Es ist wahr, England hatte nicht nur am Überlandweg Interesse, es offerierte Herzl 1903 auch Land in Ostafrika, zu dem ihm die Kolonisten fehlten und das man nicht mit Sträflingen besetzen wollte wie einst Australien. Ferner war nicht allein England an Palästina interessiert, auch Wilhelm II. und der deutsche Imperialismus fühlten zionistisch; der Kaiser diskutierte mit Herzl 1898 ein jüdisches Palästina unter deutschem Schutz und türkischer Oberhoheit. Anlaß dazu war das sprichwörtlich gewordene Interesse der Deutschen Bank an der Bagdadbahn und was damit zusammenhing, war die gesamte deutsche Erbschleicherei um den kranken Mann Türkei. So wurde der Zionismus allerdings nach mehreren Seiten »dem Rat der Kulturvölker« anheimgegeben, wie Herzl gesagt hatte, ein Stein auf dem Spielbrett imperialistischer Politik. Als aber der deutsche Imperialismus das Spiel verlor und die Türkei ohne diesen »Schirmherrn des Islam« dastand, wurde 1917 proklamiert, was schon so lange in den Akten des Foreign Office auf seinen Tag gewartet hatte: die Balfour-Declaration. Ein britisches Mandat Palästina wurde deklariert als öffentlich-rechtliche Heimstätte für das jüdische Volk. Teile von Herzls Programm kamen dadurch dem imperialistischen England, hochherzig wie stets, zupaß, und die Verwirklichung, wenn sich so sagen läßt, des zionistischen Traums kam noch rechtzeitig, um späteren Opfern des Faschismus ein Asyl einzurichten. Vielmehr: sie wäre rechtzeitig gekommen, wer in das England, das die Heimstätte öffnete, sie nicht im /(707) Augenblick, da man ihrer am dringendsten bedurfte, geschlossen hätte. So aber erschien 1939, dem richtigen Jahr, ein White Paper des Inhalts: Die nächsten fünf Jahre werden maximal 75000 Juden zugelassen, später keine mehr ohne arabische Zustimmung, also wirklich keine mehr. Ruhige Geschäftslage im arabischen Ägypten, mohammedanischen Indien lag den englischen Menschenfreunden ohne weiteres näher am Herzen als die Lebensrettung der europäischen Juden; - »and«, sagte Churchill, »the logic in doing
so is simple«. Sie hat nur mehrere Millionen Juden den Nazis zur Abschlachtung überlassen, ja, durch verhinderte Landung in Palästina, erneut zugetrieben; England leistete Beihilfe zu dem Mord, den es, moralisch wie stets, so warm verurteilte. Die Heimstätte aus der Zeit der Balfour-Declaration wurde stracks als »arabischer Staat« interpretiert, seine jüdische Bevölkerung durfte nicht mehr betragen als ein Drittel der arabischen. Herzls Judenstaat hatte es derart zu einem numerus clausus des jüdischen Wohnrechts gebracht, wie er vor dem Judenstaat in keinem Land, außer dem zaristischen Rußland, bekannt war. Herzls Mitteln der Verwirklichung entspricht demnach die gekommene Wirklichkeit: das Judenland wurde eines, aus dem politisch unbequeme Juden sogar als lästige Ausländer deportiert werden können. Gewiß, Mittel ruinieren nicht immer den Zweck, hier gilt nicht das Verhältnis Ursache -Wirkung, wo causa aequat effectum, sondern auch andersartige Mittel können gegebenenfalls zu einem guten Zweck führen; doch dann muß der Zweck selber ein mächtiger sein und kein bettelnder. Ist er nicht mächtig, dann gebraucht nicht er das Mittel, sondern das Mittel gebraucht ihn, und ist er genau so kapitalistisch-demokratisch gebaut wie das England, dessen Imperialismus er als Mittel benutzt, dann muß das Interesse des stärkeren Kapitals über die Programme des schwächeren siegen. So wurde denn Zion ein Bruchteil der im englischen Empire zu besorgenden Geschäfte, ja die jüdische Sezession wurde, indem sie als Invasion geschah, zu einem Haßobjekt der arabisch-nationalrevolutionären Bewegung, die ihrerseits wiederum eine Karte im Spiel des britischen Imperialismus darstellt. Nun haben die Juden, die dem Faschismus oder auch nur der gesellschaftlichen Zurücksetzung entronnen sind, mit den Arabern den /(708) neuen Konflikt, und der geplante Judenstaat ist prekärer daran als, bis zu Hitler, je eine Assimilation. Die Schwierigkeiten erscheinen hierbei keineswegs als vorübergehende, es sei denn, der geographische Zionismus wird selber wieder zum bloßen Programm, das heißt, nach Ende des Hitlerfaschismus verlangt wieder nur eine Handvoll Juden aus kapitalistischen Ländern Zulassung nach Palästina. Oder weit gründlicher: die Schwierigkeiten lassen nach, weil eine allgemeine soziale Umwälzung auch diese bluttriefenden Duodezfragen löst. Und die Umwälzung kommt dann nicht aufs Konto des Juden Herzl von der Neuen Freien Presse, sondern des Juden Marx, der nicht bloß kein Zionist war, sondern nur wurde, was er ist, und tun konnte, was er tat, weil er keiner war. Gerade der ursprünglich bessere, der subjektiv reine, wenn auch falsche Wille im Anfang der zionistischen Begeisterung: der eines wirklichen Neubeginns in Palästina, mit ganz anderem nervus rerum wie bisher, kommt nicht mit, erst recht nicht aus Herzls Segen. Ungeheurer Enthusiasmus strömte mit jüdischer Jugend in die Bebauung der alten Erde, agrarische Kommunen haben sich gebildet, der Intention nach mit denen Owens oder Cabets in Nordamerika verwandt, ja streckenweise versuchte Kolchosen; sehr fern jedenfalls von Tel Aviv, dem zeitgenössischen Realausdruck der Bourgeoisie und Spekulation. Doch all das hat nur befördert, daß der Staat Israel, durch die Flucht vor dem Faschismus bevölkert, selber ein faschistischer geworden ist. Und an diesem bitteren Ende, dem auch bei Herzl noch nicht an der Wiege gesungenen, wurde Israel sogar der - nicht einmal gut gehaltene - Köter des amerikanischen Imperialismus in Vorderasien. Der Archetyp: Moses, der andere: Ägypten - Küste - Kanaan, beide haben in Revolutionen eine andere Gewalt und Hoffnung entfaltet. Aber der Judenstaat sieht aus, als wären dem Judentum selber diese seine Archetypen fremd geworden; was doch, wie das Beispiel Marx lehrt, nicht immer der Fall. Das Fazit bleibt auch hier: es gibt keine isolierte Lösung irgendeines Minoritäten-oder Nationalitätenproblems ansich. Das bedeutet: es gibt
keine Lösung der sogenannten Judenfrage, soweit sie besteht, ohne Gesamtlösung der ökonomisch-sozialen. Nicht einmal in Palästina ist Zionismus ohne solche Bereinigung möglich; es gibt keine pax Britan- /(709) nica mehr, erst recht keine pax Americana. Und der Antisemitismus, ein hartnäckiges und auffälliges Phänomen, mag noch so viele psychologische, anthropologische oder auch mythologische Nebenursachen haben, seine Basis ist die prekäre Wirtschaft. Fühlte doch gerade ein russischer Zionist zur Zeit Lenins sich zur Beobachtung veranlaßt, der Bolschewismus beginne zu realisieren, was die alten Propheten gepredigt hätten; das sowjetische Ziel sei biblisch, ob man es wisse oder nicht. Ist dem so, dann ist das Judentum im Sinn von Moses Heß erhalten und hat Neues zu tun, auch ohne eigenen Duodezstaat. Die zionistische Utopie pflegte ja nicht nur das Besondere, verklärte Vergangenheit und erhoffte Zukunft zugleich zu sein; das pflegen andere National- und Minoritätsutopien auch. So die Wenden in Preußen, die Tschechen, die Polen vor 1918, sie hatten alle einen traditionell-utopischen Traum von Auferstehung; auch die Deutschen hatten ihn, im Kaisertraum zwischen 1806 und 1871, in dessen mannigfachen patriotischen Phantasien. Bloße Irredenta also unterscheidet die zionistische Gruppenutopie nicht von anderen oder zeichnet sie aus; wenn auch die Juden dort nur als Ahasvers betrachtet wurden, wo die Polen unter drei Kaiserreiche aufgeteilt, immerhin zu Hause waren. Dagegen ist das Einzigartige der jüdischen Utopie die mit ihr gesetzte, von Moses Heß nicht zum erstenmal betonte Verpflichtung, gemäß der Intention der Propheten zu handeln; und diese Verpflichtung braucht infolge der revolutionären Situation, die seit den Tagen von Moses Heß in Europa herangereift ist, gewiß kein »Aktionszentrum in Palästina« mehr. Sie braucht keinen geographischen Zionismus;in einer umfassenden Freiheitsbewegung haben die Juden jederzeit Platz, das letzte Ghetto überflüssig zu machen. In Reih und Glied mit der Bewegung zum Licht zu stehen, in jedem Land, zu dem man gehört, das scheint echtjüdische Heimat. Sofern Judentum nicht nur eine mehr oder minder anthropologische Eigenschaft darstellt, sondern einen gewissen messianischen Affekt, einen für das echte Kanaan, der nicht mehr national beschränkt ist; Thomas Münzer, »mit dem Schwert Gideonis«, zeigte ihn, das Haus Rothschild zeigte ihn nicht. Es trifft meist das Rechte, Haß von vornherein wirtschaftlich zu erklären. Das gerade Greifbare, öfter das Fremde, noch besser /(710) das Schwache gibt nur die Anlässe, ihn abzuführen. Am bequemsten war es seit alters, Haß und Wut an Juden auszulassen, an armen so gut und noch besser als an reichen; am einfachsten bleibt es, Unheil auf sie abzuschieben. Sie sind nicht so auffällig wie die Zigeuner, gar Neger, aber sie sind, gerade wegen ihrer gleichsam vertrauten Fremdheit, als Sündenbock beliebter. Bis die Nazis kamen, wurde ihnen nicht so Ungeheuerliches zur Last gelegt wie einst den Hexen, doch dafür sind sie als Schadenstifter einem gleichsam aufgeklärten Pöbel glaubhafter. Es gibt Wünsche und Unwünsche, Bilder, auf die das Gewünschte, Bilder, auf die das Ungewünschte entäußert wurde, und die Juden haben, wie Musil einmal trefflich sagt, das Unwunschbild gestellt, das früher der Fetisch war, den der Zauberer dem Kranken aus dem Hals zog. Die menschliche Lust am Prügelknaben kam also zur wirtschaftlichen Not zweifellos hinzu, eine sehr alte und hartnäckige Lust. Das alles ist wahr, und trotzdem hätte es ohne Hungersnot, ohne feine Herren und Ablenker nicht diese Sündenbockmast gegeben. Die Motivierung des Judenhasses hat im Lauf der Zeit dreimal gewechselt, auch seine Stärke war jeweils verschieden, sein Grundzug bleibt bei alledem erkennbar. In der Antike galt der angebliche Hochmut als provozierend, womit die Juden sich von den Heiden absonderten, eigene Speisegesetze, eigene Festtage hielten und
anderes mehr. Der Jude Philo behauptete sogar, daß Platon sein Bestes dem Moses verdanke, was zweifellos zu weit ging, und besonders in einem Rom, das sich noch wenig orientalisiert hatte. Im Mittelalter gab Judas dem Judenhaß das Motiv ab, ungeachtet dessen, daß auch alle anderen Jünger Juden waren, gleich Jesus selbst. Im Zeitalter des Faschismus wiederum machen Rassentheorie und die Weisen von Zion das antisemitische Geschäft; denn die Kreuzigung des Juden Jesus wirkt auf Faschisten gar nicht mehr erbitternd, sie wirkt eher sympathisch, ja, mit seinem Blut soll das Blut der ganzen Judenschaft auslaufen, damit der Arier endlich erlöst sei. Unvereinbare Motive ersichtlich und trotzdem, wie die Antisemiten sagen, im Instinkt gegen den Juden verbunden. So daß der Jude dem falschen Bewußtsein und der Ideologie um wirtschaftliche Pogromgründe herum immerhin einen einzigartigen Ansatz bot. Als läge wirklich in /(711) dieser Menschengruppe etwas, das sie seit zweitausend Jahren dazu verdammt, sich bei jeder Schwierigkeit als schuldige Ursache behandeln zu lassen. Diese breite Verwendbarkeit der Juden zum Zweck des Popanz stellt fast ein Gegenstück dar zur breiten Verwendbarkeit, welche in der ganzen weißen Rasse die Bibel gefunden hat zum Zweck der Erbauung. Und es ist ohne Beispiel, daß man die Autorschaft der gleichen Bibel den Juden zwar zubilligt, sie jedoch um die Ehre daraus betrügt. Man kann dies auch poetisch ausdrücken, wie Beer-Hofmann in »Jaakobs Traum« getan hat, wo der Teufel prophezeit: »Wohl neigt man deinem Wort sich / Doch blutig schlägt den Mund man, der es sprach: / Volk wirst du, draus sich alle Beute holen.« Dieser doppelte Blick aufs Judentum, diese beispiellose Bewußtseinsspaltung in der Apperzeption des Judentums zeigt zweifellos einen unheimlichen, fast autark gewordenen Objekthaß an, innerhalb dessen die wirtschaftlichen Ablenkungsmanöver erst gelingen konnten. Auch das nun ist alles wahr, genauso wahr wie die Lust am Prügelknaben, und doch hätte selbst der wenig rationale Stein des Anstoßes, den das jüdische Objekt darstellen mag, ohne Profitwirtschaft nie gewirkt. Es bleibt dabei: die ökonomisch-soziale Revolution wischt die Judenfrage mit einem Nu unter den Tisch. Antisemitismus ist keine ewige Einrichtung, wie die Zionisten glauben machen wollen, und wäre er eine, so würde er nicht durch die Invasion eines arabischen Landes gemildert, mit neuen Friktionen, neuem Schutzjudentum, sondern einzig durch Selbstverbannung der Juden auf eine wüste Insel, ohne Fenster und Türen. Was weder kapitalistisch-demokratisch wäre, im Sinn Theodor Herzls, noch gar sozialistisch, im großen Sinn des Moses Heß; dieser würde sein gemeintes Jerusalem, im Zeitalter der Sowjetunion und der Bewegung zu Sowjetunionen, jetzt nicht mehr nach Jerusalem verlegen. Ein Ende des Tunnels ist in Sicht, gewiß nicht von Palästina her, aber von Moskau; - ubi Lenin, ibi Jerusalem. Es steht nicht zur Frage, ob die Juden noch eine Nation sind oder nicht; hätten sie aufgehört, eine Nation zu sein, wie das in Westeuropa völlig der Fall, dann ließe sich das verlorene allerdings durch erneute Aussonderung wiederbringen, und in Palästina ist Derartiges bei der dort geborenen hebräisch sprechenden Generation offenbar gelungen. /(712) Das mag vom national-jüdischen Standpunkt her erfreulich, ja notwendig sein, ist aber nicht ergreifender als die Erhaltung anderer Kleinvölker auch. Das Judentum prätendiert in seiner Bibel jedenfalls noch ein bestimmteres Pathos seines Daseins; ohne welches Pathos sein Dasein gleichgültig würde. Zur Frage steht also einzig dieses: haben die Juden, ob Nation oder nicht, noch als solche ein Bewußtsein von dem, was der Exodusgott zu seinem Knecht Israel sagte, nicht als Versprechen, sondern als Aufgabe: »Ich habe ihm meinen Geist gegeben, er wird das Recht unter die Heiden bringen« (Jes. 42, 1). Mit der Apostrophe an das Volk, dem selber Elend vorhergesagt ist und das besser als
irgendeines erfahren hat, was es damit auf sich hat: »Du sollst die Augen der Blinden öffnen und die Gefangenen aus dem Gefängnis führen und die sitzen in der Finsternis aus dem Kerker« (Jes. 42, 7). Auch die Juden haben derart Mission getrieben, wenn auch nicht annähernd im christlichen oder mohammedanischen Ausmaß. Nubische Stämme nahmen das Gesetz an, im zweiten nachchristlichen Jahrhundert ist jüdische Religion nach China gedrungen, im achten Jahrhundert trat das Chazarenreich, mit der Hauptstadt Astrachan, zum Judentum über. Das alles geschah allerdings spät und wahrscheinlich nicht auf Grund einer eigentlichen Agitation; auch wurde die Diasporat immer weniger einladend. Und fast sämtliche Schrifttexte gehen an Mission nur heran als an jene messianische Tendenz und die Zukunft ihrer Ausbreitung, die durch Juden offengehalten werden soll: »Man wird nirgends verletzen noch verderben auf meinem heiligen Berg; denn das Land ist voll Erkenntnis des Herrn wie mit Wasser des Meers bedeckt« (Jes. 11, 9). Die Erinnerung an solche Tendenzen kann bei Juden, die nicht im mindesten zionistisches Nationalbewußtsein haben, so brennend sein wie bei Joachim di Fiore. Sie kann umgekehrt bei Juden völlig fehlen, die lediglich das Zeitalter eines höchst-gesteigerten Nationalismus auf sich anwenden und jede zukünftige Internationale mit dem Kosmopolitismus der Geschäftsreisenden verwechseln. Oder mit der Meinung, die Internationale werde nichts sein als sämtliche Nationalflaggen zusammengenäht; da wäre es denn freilich wichtig, auch eine blau-weiß-zionistische im Konzern zu haben. Ist aber das Judentum eine prophetische /(713) Bewegung, das ist, eine Bewegung zu dem seit dreitausend Jahren unter Zion Gedachten, so gehört sie durchaus unter die Völker und nicht in ein englisches Protektorat am Ostwinkel des Mittelmeers. Worin zwar nicht die Füchse und Wölfe einander gute Nacht sagen, aber Suezkanal und Mossulöl, arabische Spannung und britisches Kraftfeld, sinkendes Empire und amerikanisches Monster einander guten Tag. Dergleichen ist etwas zu wenig für die Idee des Moses Heß, oder zu viel. Ist noch eine jüdische Nation vorhanden, so fällt ihre Befreiung mit der sozialen zusammen, oder ihr Staat ist eine Erfindung, an der sich der britische Aufkäufer nicht mehr so interessiert gezeigt hat wie 1917, wie in der solventen Zeit des Empire, und die jetzt Amerika zum Atomkrieg überführt. Ist eine jüdische Nation nicht mehr vorhanden, so hält sich bei den besten Juden, erfahrungsgemäß, eine alte Verwandtschaft mit allem, was Untergang der großen Babel meint und New World. Dieser Traum hat sein Aktionszentrum dort, wo das Vaterland der Geburt und Erziehung ist, wo er an dessen Sprache, Geschichte, Kultur mitbaut, wo er am Kampf um eine neue Erde so patriotisch wie sachkundig teilnimmt. Hic Rhodus, hic salta, überall ist Zion nach der Intention der Propheten, und der Lokalberg in Palästina ist längst ein Symbol geworden. Nazideutschland war sein stärkster Gegenschlag, die Sowjetunion hat den Gegenschlag besiegt, für alle Unterdrückten der Welt, einschließlich der Juden, im Einklang mit der universalistischen Hoffnung der Propheten. In Summa, diese partiale Bewegung könnte aufhören, ohne daß eine jüdische Komponente selber aufhörte, sei es als Volk, sei es - in bedeutend wahrerer Weise - als Zeuge und Zeugnis messianischer Gesinnung; Zionismus mündet im Sozialismus, oder er mündet überhaupt nicht. /(714)
Zukunftsromane und Gesamtutopien nach Marx: Bellany, William Morris, Carlyle,Henry George
Es war einige Wochen später, Mitte November, und Mr. Britling saß
in seinen dicken Schlafrock und sein dickes Pyjama gehüllt die Nacht am Schreibtisch und arbeitete wieder an einem Aufsatz, einem Aufsatz, der lächerlichen Ehrgeiz verriet; denn sein Titel war: »Die bessere Regierung der Welt». H.G. Wells, Mr. Britlings Weg zur Erkenntnis Da bürgerlich alles schlechter wird, hört auch hier der Traum nicht auf. Aber halbwegs frisch ist er eben nur dann, wenn er sich in einer Gruppe und für sie nachträglich anmeldet. Wird ein Morgen dagegen im Ganzen ausgemalt, so wird das spätbürgerlich meist Betrug, bestenfalls wird es Spiel oder romantisch. Über diese beiden letzten Arten ist allenfalls noch zu sprechen, sie haben utopische Neigung wenigstens flott gehalten. Prophezeiender Unterhaltungsroman besorgte dergleichen unter nichtproletarischen Schichten, in neugierigem Kleinbürgertum. Hierher gehören Hertzkas »Eine Reise nach Freiland«, 1889, mit einem freiländischen Mädchen darin, mild bodenreformend. Sogar ein privatkapitalistisches Staatsmärchen wagte sich vor, schon in alten Zeiten selten, heute sozusagen kühn: Thirions »Neustrias«, 1901, einer neuen Gironde gewidmet. Besser wurde die kapitalistische Zukunft gesehen in Tardes «Underground Man«, 1905: an der Vergangenheit gehen Bilder der versuchten Wiederherstellung auf, an der Zukunft einzig solche der unterirdischen Flucht. Luft, Licht und Sonne dagegen sollen zu Hause die Schäden heilen in Ebenezer Howards «Tomorrow«, 1898, auch in seinen «Garden Cities of Tomorrow«, 1902. Die erste Gartenstadt ist darin ausgemalt, eingeteilt nach lauter «social functions wovon der Schornstein raucht, wird weniger klar. Schwach an Einsicht, reich an Einfällen, solch ein Verein soll gestiftet werden und reüssieren. Und wie üblich wird überhaupt nicht klar, durch welche Mittel sich das Leben zu schönerem umwälzt. Am sympathischsten erscheint hier noch der Amerikaner Bellamy mit seinem berühmt gewesenen Buch »Looking Backward«, 1888, deutsch bei Dietz /(715) erschienen als »Ein Rückblick aus dem Jahr 2000«. Die Einkleidung ist bewährte Kolportage: Ein reicher Bostoner, Mr. Julius West, wird kurz vor seiner Hochzeit verschüttet, nachdem er in magnetischen Schlaf gesunken war, wird im Jahre 2000 ausgegraben, der magnetische Schlaf hat seinen Körper konserviert, Mr. West wird Citizen des unterdes entstandenen amerikanischen Idealstaats. Der Leser kann nun dies Zukunftsgebilde wie durch ein Opernglas betrachten; mehr als in irgendeiner Utopie bisher erscheint das Geträumte als fabulöse Gegenwart. So befriedigt Bellamy die von Marxisten abgelehnte Forderung, eine Malerei der Zukunftsgesellschaft zu geben; sein Sensationsroman ist, bei aller Seichtheit und zivilisatorischen Äußerlichkeit, nicht ohne bewegliche sozialistische Phantasie. Er halluziniert, Marx höchstens vom Hörensagen kennend, eine gleichheitliche Organisation des Wirtschaftslebens, ohne Slums, Banken, Börsen, Gerichte; Amerika (!) gilt hierbei als »Pionier der allgemeinen Umwälzung«. Es gibt kein Geld mehr, nur noch Waren und Kreditscheine für die geleistete Arbeit. Nicht höherer Lohn, sondern sozialer Wetteifer im Dienst der Nation und Grade der Auszeichnung geben den Antrieb im allgemeinen Arbeitsheer ab. Wie die Arbeitszeit ist die Beamtenschar erstaunlich reduziert, überall herrscht vereinfachte, übersichtliche, großzügige Verwaltung, eine Art Kartothek der Güterverteilung ist angelegt, eine Statistik des Bedarfs. Bereits am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, erzählt Bellamy, war das Kapital aus den Händen weniger, worin es zusammengeballt war, auf den Staat übergegangen, und zwar »ohne alle Gewalttätigkeit«. Entstanden ist
seitdem Staatssozialismus, das heißt, der Staat hat sich zu einem großen Geschäftsverband verwandelt, dessen Gewinn und Ersparnis allen Bürgern gleichmäßig zukommt. So propagiert Bellamy eine Art zentralistischen Sozialismus, wenn auch ziemlich im Rahmen der Babbit-Wünsche. Bellamys Utopie liegt sprunglos in der Verlängerungslinie der heutigen Welt, sie ist au fond mit dem Habitus der kapitalistischen Zivilisation zufrieden. Die Vergesellschaftung des Privateigentums nimmt aus dem jetzigen Zustand nur die sozialen Schäden und Hemmungen heraus, aber sie verändert nicht den allgemeinen Zuschnitt. Die Erde wird ein gigantisches Boston oder noch eher Chicago /(716) mit etwas Landwirtschaft dazwischen; das Gebiet der letzteren nannte man früher Natur. So technisiert, doch im üblen Sinn, sahen übrigens viele »gute Europäer« Amerika ohnehin, und zwar bereits das vorhandene; so daß Bellamys Utopie eine Flut anderer, entgegengesetzter hervorrief und gegen den Geschäftsverbandssozialismus des Amerikaners sozusagen das alte Europa aufstand, mit romantischem Gegenzug. Nicht nur die Börse soll dann verschwinden, sondern Stahl und Eisen selber, mit denen sie handelt. Die bedeutendste Gegenschrift zu Bellamys Dampf-Verband hieß »News from Nowhere«, 1891, und war verfaßt von William Morris, dem großen Erneuerer des englischen Kunsthandwerks, dem Freund Ruskins und romantischen Antikapitalisten. Morris, Architekt und Zeichner, Glasmacher und Keramiker, Erzeuger von Möbeln, Stoffen, Teppichen, Tapeten, war mit Ruskin darin einig: nur Handarbeit mache gut, Maschine sei die Hölle. Hier treibt also nicht Mitleid mit den Armen, Erbitterung gegen die Reichen, sondern ein bisher unbekannter Ton klingt sozial-utopisch an: Morris ist ein kunstgewerblicher, ein Homespun-Sozialist. »News from Nowhere« sind also nicht bloß eine Kontrastutopie zu Bellamy, sie sind ein Feldzug gegen die gesamte Mechanisierung des Daseins. Die Profitwelt läßt nicht nur moralisch, sie läßt auch ästhetisch viel zu wünschen übrig, und das war es, was hier gegen das Kapital aufbrachte. Oder wie der Architekt van der Velde in seinem Ruskin-Essav sich ausdrückt: »Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts lag es so, daß wir unter der Last der Häßlichkeit der Dinge erstickten. Niemals, in keinem Augenblick der Weltgeschichte, war der Verfall des Geschmacks, die Schwächlichkeit der Einfälle und die Gleichgültigkeit gegenüber Arbeit und Material auf einem so niederen Niveau angelangt.« Also wird von Morris der Kapitalismus nicht so sehr wegen seiner Unmenschlichkeit als wegen seiner Häßlichkeit bekämpft, und diese wird am alten Handwerk gemessen. So kommt es, daß »News from Nowhere« zwar keine Profitmacherei mehr kennen, keine unwürdige und unbeseelte Arbeit, ja kein Geld und keinen Lohn; doch ebenso wichtig ist hier, daß unter keinem Hausziegel ein Figurenfries aus Terrakotta fehlen darf. Morris prophezeit die Revolution als Frucht und Selbstzerstörung des /(717) »unnatürlichen« Industrialismus, und er bejaht die Revolution, er bejaht sie freilich nur als Akt der Vernichtung. Denn hat sie ausgetobt, so sind nicht nur die Kapitalisten, auch die Fabriken sind zerstört, ja die gesamte Zivilisationspest der Neuzeit hat sich weggehoben. Revolution also erscheint diesem Maschinenstürmer als pure Rückdrehung der Geschichte oder als Abtragung; hat sie ihr Werk getan, so kommt die Welt des Handwerks wieder, so stehen die Menschen - nach verschwundenes Neuzeit - auf dem bunten Grund der heimischen, in der englischen Renaissance nur verkleideten Gotik. Soll heißen der sozialistisch angeblickten Fachwerkhäuser, der alten Marktplätze und Gasthöfe, mit mächtigen Kaminen und ihrem Rauchfang, der Landschlösser und Oxford-Kollegien. Auf verwandtem Grund nun erträumt Morris' Utopie im einundzwanzigsten Jahrhundert einen neuen Aufbau,
er erfolgt in der Richtung mittelalterlicher Tendenzen, doch entfeudalisiert und entkirchlicht. Die Städte zerstreuen sich in deutlicher Reagrierung, ein ländliches Leben inmitten der Natur verzichtet auf die lärmenden und unnatürlichen, die wahrhaft diabolischen Maschinen, die das Glück der Menschen ersticken und die Schönheit töten. Die Neuzeit war die Zeit der verkleinerten Menschen, der regulierten und in Mietskasernen wie in Ameisenhaufen eingeschachtelten: diese Insektenzeit ging im einundzwanzigsten Jahrhundert vorüber, als wäre sie nie gewesen. Also ist die Erde von Fabriken und Stadtungeheuern befreit, Kapitalismus und Industrialismus sind abgeschafft, ganze Menschen, altes Handwerk blühen statt der Maschinengreuel wieder auf. Es erinnert diese rückwärts gewandte Utopie an die Sehnsüchte zur Zeit der Restauration, an die romantische Vergaffung ins Mittelalter und den Wunsch, es aus der Zukunft wieder auf sich zukommen zu sehen. Aber der konservative politische Auftrag, den die Romantiker vor über hundert Jahren hatten, fehlt; Ruskins, Morris' Utopie nach rückwärts war nicht politisch-reaktionär gemeint. Sie wollte Fortschritt von einem verlassenen Standort her, agrarisch-handwerkliche Reaktion um eines umstürzenden Neubeginns willen. Der alten Romantik hatte noch die agrarisch-handwerkliche Sehnsucht gefehlt; dazu war unter der Fülle wohlerhaltener Landstädte, ruhiger Lebensschönheit noch kein Anlaß. Selten ist /(718) eine utopische Homespun-City geschmackvoller erschienen als bei William Morris, selten aber auch hat sie sich, mit der gleichzeitig naiven und sentimentalischen Intellektuellen-Mischung von Neugotik und Revolution, an einen so kleinen Kreis gewandt. Der Kreis hat sich allerdings gemehrt, seit die Neugotik gestrichen wurde und der Überdruß an der Hast, Entnervung und Künstlichkeit des Maschinenlebens mit diesem gewachsen ist. Seit gar die verlorenen Güter einer ruhigeren Vorzeit von allerhand gesprenkelter Reaktion in redressiertem Kapitalismus gesucht worden sind, statt in überstandenem, zum Umschlag getriebenem. Die bürgerlichen Utopien enden nun, Morris gab mit seinem neugotischen Arkadien das letzte originale, obzwar gegenstandslose Motiv. Es sei denn, man beachte noch Carlyle und die Sucht nach Helden, die er beschwor. Das ebenfalls gegen die industrielle Welt, doch nur scheinbar, indem dieser Aufrufer weniger von rückwärts, als von oben herab ins graue Elend sah. Seine puritanische Predigt des Arbeitens und Nichtverzweifelns verband sich genau mit der imperialistischen, welche keinesfalls die Fabriken, aber den Klassenkampf stillegen will. Auch dieser Plan gehört noch hierher; hat Carlyle, in Verbindung mit Nietzsche, doch gerade nach Marx viel zu einem utopischen, dann entsetzlichen Führerkult beigetragen. Gewiß, Carlyle ist noch rein, ist sehr eine sittliche Person, wie man das nennt, ein Individualist und später durchaus ein Patriarchalist. Er suchte »das Glück, dem alles Leben entströmt«, durchaus nur in Einzelnen, aber in schön zusammenwirkenden. Er litt wie Ruskin an der neuen Fabrikzivilisation, er prägte das zweifellos antikapitalistische Wort, die Barzahlung sei das einzige Bindeglied der modernen Gesellschaft. Er haßte den manchesterlichen Liberalismus, schilderte das englische Arbeiterelend und nicht nur die Häßlichkeit der Fabrikgebäude, utopisierte eine Welt, die »nicht mehr von dem kalten allgemeinen Laissez faire umschlossen ist«. Er verstand die Französische Revolution als Durchbruch des Industriezeitalters und seiner Anarchie, aber er wertete sie zum Unterschied von Ruskin und Morris nicht nur negativ, auch positiv, ohne Sehnsucht nach abgestandenem Mittelalter: »Die Französische Revolution ist die offene, gewaltsame Empörung, der Sieg der Anarchie über /(719) die verdorbene, abgelebte Feudalwelt.« Vor allem kann die Macht der Industrie durch nichts mehr beseitigt werden; Carlyle, in seinem puritanischen Arbeitsethos, spart
nicht mit Verachtung für »die faule und Phantomaristokratie seit Ende des Mittelalters«. Trotzdem hat derselbe Freund der Industrieopfer, derselbe Feind von Liberalismus und Feudalismus zugleich, aus flammender Unwissenheit eine der reaktionärsten Spätutopien zustande gebracht; sofern dergleichen noch Utopie, gar »Eutopie«, Glücksland, heißen kann. Carlyle setzte als erster das Führer-Gefolgschafts-Verhältnis, also den industriellen Neufeudalismus, der bereits vor dem Faschismus schlau grassiert hat und in ihm so systematisch wie gewalttätig aufgegangen ist. Er setzte den »Captain of Industry« als erster; trotz Saint-Simon, der das Proletariat unterschätzt und ebenfalls dafür gehalten hatte, die großen Arbeitgeber sollten die Führer des Volks werden. Aber zur Zeit Saint-Simons konnte noch an die Schwäche der Arbeiterklasse geglaubt werden, während Carlyle mitten in der Zeit sozialer Kämpfe lebte und geschärften proletarischen Klassenbewußtseins. Sodann hielt Saint-Simon die Ausbeutung durch Arbeitgeber für einen Rest aus der eigentlichen und einzigen, aus der feudalen Unterdrückungszeit, der mit fortschreitender politischer Befreiung aus der Industrie verschwindet, während Carlyle gerade den Liberalismus als Wurzel alles Übels zu erkennen glaubte und deshalb - Feudalismus auf ihn anwandte. Faschistische Elitetheorie (der gut verdienende Halbgott) wurde so vorbereitet: Carlyle faßt sein Führertum wie sein proletarisches Vasallentum durchaus individuell; so entstand das Paradox eines individualistischen Neufeudalismus. Besonders seine späteren Schriften (»Past and Present«, 1843, »The History of Friedrich II. of Prussia«, 1858) geben aufgeklärtem Industriedespotismus utopischen Raum. In »Past and Present« wird der edle Arbeitgeber an die Wand gemalt, wird vom »eselohrigen Mammonismus weg zum Vorbild und Heldensinn gerufen, der sich an Propheten, Dichtern, Staatsmännern entflammt«. Wohlfahrtseinrichtungen sind prophezeit, vergnügt-gemeinsame Abende des Unternehmer-Patriarchen mit seinen Arbeiter-Kindern; das Ende ist bekannt. Schon Carlyle selber hegte hinsichtlich solch ethisierenden Arbeitsverhältnisses keine zu große Er- /(720) wartung; er schreibt in seiner »French Revolution«, und er schreibt das nicht nur als Puritaner: »An ein Schlaraffenland der Glückseligkeit, des Wohlwollens, des von jeder Häßlichkeit geheilten Lasters glaubt um Gottes willen nicht, meine Freunde.« Wintersanfang fällt so in die bürgerliche Utopie, zum erstenmal, seit es eine gab, und ein Schlaraffenland ist in der Tat mit ihr nicht gekommen. Der Appell an die Philanthropie der Ausbeuter, dieser allen vormarxistischen Weltverbesserungsplänen gemeinsame, hat auch die Weltverbesserung ruiniert; aus Schlaraffenland wurde nicht nur keines, sondern Hölle. Soviel über Carlyle, als eine Seitenutopie zu Ruskins Neugotik und zu den Altneubildungen von Morris. Alle anderen Nachzügler, nach Morris, gehen in Utopien bekannte Wege, ausgetretene, sind - soweit sie immerhin noch Liberalismus bleiben - verdünnte Modernisierung von Thomas Morus. In der Fabrikation dieser Guckkastenbilder in bessere Zukunft steht im zwanzigsten Jahrhundert H. G. Wells an der Spitze. Ein halbes Dutzend Traumzüge, Zeitmaschinen, Mr. Britlings, die bis zum Morgengrauen schreiben, wurden von Wells in die Zukunft abgeschickt und haben Aufnahmen zurückgebracht. Wobei charakteristisch ist, daß kaum eine dieser Aufnahmen verwandte Landschaften zeigt, außer dem liberalen Lila; und selbst das ist in der technisch-utopisch interessanten »Time Engine« sarkastisch durchbrochen. Unter anderem schrieb Wells das griechisch ausgeschmückte Zukunftsidyll »Men like Gods«, 1923, ein Leben und Treiben wie von nackten Klavierlehrern in Arkadien. Bürgerliche Utopien gehen so in Allotria aus, auch die Phantasie ist verschwunden, sogenannte Edelzukunft, die auf Grund ihrer Verschwommenheit wie erst recht ihrer
bürgerlichen Ersatz-Sozialismen dem Marxismus ausweicht, wird kurios oder epigonal. Am Ende blieben so Dilettiererei und Spreu; das Korn der Sozialutopien ist aus ihnen mit dem Marxismus heraus. Selbst Sozialismus wird dann, wie Engels spottet, nichts anderes »als die bestehende Gesellschaftsordnung ohne ihre Mißstände«; dergestalt freilich macht bürgerlich-liberales Utopisieren immer noch Schule. Anders wäre es ja überhaupt nicht denkbar, die Wirtschaft besonders läppisch, also üblichweise verbessern zu wollen. Wobei sich all dergleichen, auch wenn es sich besonders englisch-ameri- /(721) kanisch-naiv macht, an einen der bedenklichsten Utopisten anschließt, an Proudhon. Zum Vorschein kamen auf diese Weise zwerghaft-komische Gebilde wie die Freigeld- und Schwundgeld-Utopie, auf bloße Zahlungsmittel Sozialismus bauend. Das Kapital wird in Silvio Gesells Freigold-Traum durch eine Art gesetzmäßige Inflation »abgeschafft«; so heckt es keinen Zins mehr. Ähnlich wird gegen die Grundrente vorgegangen, Beziehungen von »Freigeld-Freiland« zur älteren Bodenreform-Utopie gehen auf. Henry George war dazu der Rufer, er lehrte in seinem einflußreichen Buch »Progress and Poverty«, 1879, die Zunahme der Massenarmut wie die industriellen Krisen seien primär einzig durch den Privatbesitz an Grund und Boden bedingt. Den Grundbesitzern gebe die Bodenrente die Macht, das Leben ins Unerträgliche zu verteuern; George fordert, um das Paradies der Armen herzustellen, Einziehung dieser Rente, ja »Nationalisierung« des Bodens, bei unangefochtenem Gewinn aus Industrie- und Kaufmanuskapital. Indem so nur das Bodenkapital bekämpft wurde, nicht das Produktivkapital, konnten sich besonders in England Fabrikanten mit der Arbeiterklasse auf der Basis Henry Georges verbinden. Das englische Proletariat, das ohnehin in seiner Mehrheit so wenig klassenbewußte und marxistisch ungeschulte, wurde derart von seinen direkten Ausbeutern weiter abgelenkt. 1887 nahm der Kongreß der englischen Gewerkvereine eine Resolution an, die sich für die Nationalisierung des Bodens erklärte; als Effekt kam nicht mehr als eine stärkere Besteuerung der Grundrente zustande. Folgender lehrreiche Satz John Stuart Mills steht einem Kapitel des Georgeschen Buchs voran (spottet seiner selbst und weiß nicht wie): »Wenn es sich darum handelt, den Zustand eines Volks dauernd zu heben, so bringen kleine Ursachen nicht nur kleine Wirkungen hervor, sie haben überhaupt keine Wirkung.« Es ist das in der Tat ein Motto gegen den gesamten Reformismus und seine Utopie. Der angelsächsische Sozialismus im Ganzen kam aber überhaupt nur sehr teilweise dazu, in der englischen, gar amerikanischen Ökonomie, der so lange fortgeschrittensten, die Konsequenzen auch nur zu verstehen, geschweige zu praktizieren, die Marx aus eben dieser Ökonomie gezogen hat. Der Sinn für delay, compromise, appeasement im englischen Geschäftsleben /(722) und seiner Politik, der gerissene Evolutionismus, mit dem die herrschende Klasse jedem revolutionären Willen, sofern er überhaupt vorhanden war, zuvorkam und ihn entspannte, dies Zaudern und Fabiertum, mitsamt der bisherigen Labour Party, vor allem aber das täuschende Dasein einer Arbeiteraristokratie, auf Grund der kolonialen Ausbeutung: all das konservierte, im gleichen Akt, Kapitalismus und ein vormarxistisches Utopisieren, als ob wissenschaftlicher Sozialismus gar nicht vorhanden wäre. Das sind die Folgen, wenn Sozialutopie hinter Marx zurückbleibt, sie bleibt dann sogar noch hinter Owen zurück, ja hinter Thomas Morus, sie fällt völlig außerhalb der angestammten sozialistischen Reihe. Wie gar erst, wenn die ewig Schwankenden, als Privatiers, oder wenn künstlich Gestrige, als Renegaten, wenn diese unglücklichen oder ausgehaltenen Liebhaber. einer sogenannten »third force«, »gegen Faschismus wie
Bolschewismus«, »gegen jede Diktatur, komme sie von recht oder links«, sich eine nachgeholte Lincoln-Utopie vormachen oder sich erbärmlich lange Zeit atlantisch vormachen ließen, um dadurch den mörderischen Sowjethaß auch noch mit «Freiheit« anzuheizen, um jedenfalls der Betäubung ihres Gewissens und einem »Herzenssozialismus« (über den selbst Bellamy schon verächtlich spottete) zugleich zu frönen. Der Reformismus vom Typ Henry George ist, gegen all das gehalten, noch völlig unschuldig, es sei denn, das kleinbürgerliche Flickwerk insgesamt enthält die Betrugselemente, die nicht nur den antisowjetischen Philister oder Snob-Renegaten aufbauen, sondern die bis zum SA-Faschismus führten, der unter dem Namen Sozialismus, bis zum USA-Faschismus, der unter dem Namen Freiheit ausgemalt wie eingeführt wurde und wird. Reformismus im engeren bleibt aber allemal die Kunst, Widersprüche zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Exportzwang und Frieden nicht wahrhaben zu wollen, und sein Verführungsort ist eben die Mittelschicht, in der sich immer noch, nach Marx, die Widersprüche und die Interessen zweier Klassen zugleich abstumpfen. So geht utopische »Synthese« auf zwischen dem Zeitalter des kleinen Manns und der großen Profite, zwischen Überproduktion und garantierter Beschäftigung, zwischen Atombombe und geeinter Welt. Der archimedische Punkt, von dem her Furcht und Mangel, Tyrannei und /(723) das Katakombenleben der Wahrheit zu beheben wären, ist mittlerweile längst entdeckt, es bedürfte gar keiner Extravaganzen. Aber wurde die Position dieses Punktes von den Spielerei-Utopisten nach Marx umgangen, als ob sie sie nicht sähen, so wird sie von den Ersatz-Utopisten umgangen, weil sie sie sehen. Mit der hier gleichfalls schon eingetretenen Gefahr, daß das Hoffnungsgebäude, bewohnt von Gedanken an Besserwerden, völlig zusammenbricht. Als Rest bleibt dann der Nihilismus, damit er den Verirrten und Betrogenen auch noch die Rettung verschlingen soll. Sozialutopie ohne Spielerei und Abweg arbeitet nur noch als konkrete, als der Fortschritt von ihr zur Wissenschaft, mit dem unbetrügbaren Auftrag des revolutionären Proletariats hinter ihr. Das ist das Resultat aus der Geschichte der Utopien vor Marx, gar aus ihrer Zerfalls-, schließlich Opiumgeschichte nach ihm. Progreß geht erst dann gegen Poverty, wenn nicht mehr reformierender Progreß die Poverty erzeugt, sondern aktive Poverty den Progreß. Marxismus und konkrete Antizipation Sich ins Rechte denken, dieser Wille hat mehr als je zu bleiben. Da er so stark in den früheren, den wirklich blühenden Träumen nach vorwärts lebendig war, verdienen diese, mit Bedeutung erinnert zu sein. Desto freundlicher erinnert, als der Fortschritt des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft ja längst ein entschiedener ist. Die sentimentale wie die abstrakte Weltverbesserung hat ausgespielt, an ihre Stelle ist geschulte Arbeit in und mit wirklichen Tendenzen getreten. Das vorhandene Elend wird nicht bejammert und dabei belassen, sondern es erscheint, wenn es sich seiner und seiner Ursachen bewußt wird, als revolutionäre Macht, sich ursächlich aufzuheben. Ebenso hat Marx seiner subjektiven Empörung nie gestattet, daß sie sich als objektiven Faktor ausgebe und so sich über die wirklich vorhandenen revolutionären Faktoren täusche. Er hat nie, wie Owen und Proudhon, auch wie Rodbertus und gar Lassalle, gelehrt: weil die Arbeiter in der kapitalistischen Gesellschaft einen ungerechten Lohn erhalten, deshalb müsse eine neue Gesellschaft geschaffen werden, etwa mit gerechtem Lohn. Sondern das von Marx /(724) entdeckte Muß ist von dem der herangebrachten moralischen Forderung ganz verschieden. Es steckt in den ökonomisch-immanenten
Erscheinungen der kapitalistischen Gesellschaft selbst und läßt diese nur immanent-dialektisch zusammenbrechen. Der subjektive Faktor ihres Untergangs steckt im Proletariat, das von der kapitalistischen Gesellschaft als ihr Widerspruch mitproduziert ist und sich als Widerspruch bewußt wird. Der objektive Faktor ihres Untergangs steckt in der Akkumulation und Konzentration des Kapitals, in der Monopolisierung, in der Überflußkrise, die dem Widerspruch zwischen erlangter kollektiver Herstellungsweise und beibehaltener privater Aneignungsform entstammt. Solches sind die neuen Grundzüge einer immanenten Wirtschaftskritik; sie fehlen der älteren Utopie fast ganz, sie sind bezeichnend für Marx. Die Marxsche Kritik zeigt keine Falten des Herzens, wie Hegel sagen würde, sie zeigt desto schärfer die aufgenommenen Falten, Risse, Sprünge, Gegensätze in der objektiv vorhandenen Ökonomie. Ebendeshalb findet sich auch, was den sogenannten Zunftsstaat angeht, keine privat, von außen, ante rem, herangebrachte Detaillierung abstrakt-antizipierender Art, wie in den alten Utopien. Die abstrakten Utopien hatten neun Zehntel ihres Raums dem Gemälde des Zukunftsstaatsgewidmet und nur ein Zehntel der kritischen, der oft nur negativen Beachtung des Jetzt. Dadurch wurde zwar das Ziel bunt und lebhaft gehalten, doch der Weg zu ihm, soweit er in den gegebenen Verhältnissen liegen konnte, blieb versteckt. Marx setzte mehr als neun Zehntel seines Schrifttums an die kritische Analyse des Jetzt, und einen verhältnismäßig geringen Platz räumte er Bezeichnungen der Zukunft ein. Daher nannte Marx, wie mit Recht bemerkt worden ist, sein Werk »Das Kapital« und nicht etwa »Aufruf zum Sozialismus«. Es enthält Gesamtanschauung des ökonomischen Lebens, zum erstenmal wieder seit Quesnays »Tableau économique«, und auf wieviel höherer Stufe. Es malt kein Paradies auf Erden aus, es enthüllt das Geheimnis der Profitmacherei und das fast kompliziertere der Profitverteilung. Marx wendet Ricardos Wertgesetz auf die Ware Arbeitskraft an, er entdeckt die Dialektik der Ware auf dem Weg des Tauschwerts und in ihm, er entdeckt den Profit als ausgepreßten Mehrwert und die merkwürdige Durchschnittsprofitrate als Basis für /(725) die Klassensolidarität der Kapitalisten. Er fundiert auf diese Weise die Dialektik der Geschichte, die zu Spannungen, Utopien, Revolutionen führt, erst als materielle. Er begründet und berichtigt die Antizipationen der Utopie durch Ökonomie, durch die immanenten Umwälzungen der Produktions- und Austauschweise, er hebt dadurch den verdinglichten Dualismus zwischen Sein und Sollen, zwischen Empirie und Utopie auf. Er kämpft dergestalt ebenso gegen klebenden Empirismus wie gegenüberfliegenden Utopismus. Was statt dessen gilt, ist aktiv-bewußte Teilnahme am historisch-immanenten Prozeß revolutionärer Umbildung der Gesellschaft. All das als Realismus voll Zukunft, in den einläßlichsten Untersuchungen, mit hinreißender Schärfe und Breite, zum Zweck der wirklichen Revolution, als ihr Generalstabswerk und Arsenal zugleich. Und wie vom erlangten Realismus her kein Recht mehr zu den romanhaften Zielbildern der alten Utopien bestand, so bestand damals noch kein Anlaß, den sozialistischen Aufbau bereits konkret-prozeßhaft zu detaillieren. Die humanen Verhältnisse hinter der Vergesellschaftung der Produktionsmittel werden, bei aller Totalität der Untersuchungsweise, noch kaum erst angedeutet. Engels spricht allgemein vom Reich der Freiheit, Marx setzt wenig mehr als den kargen, wenn auch gewaltig vom Bisherigen abgrenzenden Begriff klassenlose Gesellschaft. Eigentliche Bezeichnungen der Zukunft fehlen überlegt, wie bemerkt, und gerade deshalb fehlen sie überlegt, weil Marxens ganzes Werk der Zukunft dient, ja überhaupt nur im Horizont der Zukunft begriffen und getan werden kann, jedoch als einer nicht utopisch-abstrakt ausgemalten. Sondern als einer, die in und aus der Vergangenheit
wie Gegenwart, aus den wirkenden, weiterwirkenden Tendenzen also, historisch-materialistisch erleuchtet wird, um so erst eine wissend-gestaltbare zu sein. Nichts war notwendiger als dieser unterstrichene Unterschied zu den ausgedachten Phalansteres oder New Harmonies; als die Absage gegen alle Phantastiken des sogenannten Zukunftsstaats; als die Aussparung des künftigen Felds, mitsamt dem verhaltenen Stil, der ihr entspricht. Aber: diese Aussparung geschah eben einzig um der Zukunft willen, als einer begriffenen, in die endlich mit Landkarte und Kompaß zu fahren war; die Aussparung geschah gewiß nicht um der Revi- /(726) sionisten willen, die Konkretheit mit Empirismus verwechselten, weil sie überhaupt nicht fahren wollten. Bei ihnen freilich wurde das Piano der Ziel-Bezeichnungen zu einem des Ziels selber gemacht, und die erwünschte Aussparung - bei Marx wesenhaft Offenhaltung-verlor in einer Zeit, die ohnehin nicht von Traum bedroht war, sondern einem platten Empirismus sich hingab, auch noch ihre kritischen Valeurs. Die Bewegung wurde den Reformisten, wie bemerkt, alles, das Ziel nichts; und der Weg selber hörte dadurch auf. Ja, die Berührung der Extreme brachte es sogar mit sich, daß scheinradikales Sektierertum ebenfalls in Empirismus verfällt, also dem Marxismus gerade den Reichtum und das Leben der Tiefe entzieht, die es nicht versteht. Aber Marx hatte, als er die Dialektik auf die Füße stellte und die Wolkenbildungen am Himmel seiner noch durch und durch idealistischen Zeit bekämpfte, zuverlässig nicht Empirismus und die ihm analoge Mechanistik (halbierte Welt) verkündet. Zuweilen trat so eine Unterernährung der revolutionären Phantasie ein und eine bequeme, nämlich schematisch-praktizistische Verringerung der Totalität; trotz des Rufs Lenins, diese Totalität sowohl im subjektiven wie im objektiven Faktor sich gegenwärtig zu halten. So erschien zuweilen ein allzu großer Fortschritt des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, dergestalt, daß mit der Wolke auch die Feuersäule der Utopie liquidiert werden konnte, das Mächtig-Vorherziehende. Stattdessen muß wiederholt werden: Marxismus ist nicht keine Antizipation (utopische Funktion), sondern das Novum einer prozeßhaft- konkreten. Item, zum Marxismus gehört es gerade von daher, daß Begeisterung und Nüchternheit, Bewußtsein des Ziels und Analyse der Gegebenheiten Hand in Hand gehen. Wenn der junge Marx dazu aufrief, endlich zu denken, zu handeln »wie ein enttäuschter, zu Verstand gekommener Mensch«, so nicht, um die Begeisterung des Ziels zu dämpfen, sondern um sie zu schärfen. Mit all dem wurde und wird erst dasjenige vollziehbar, was Marx als »kategorischen Imperativ« statuiert hatte: nämlich »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein Verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«; das Beste der Utopie erhält Boden, Hand und Fuß. Von Marx ab erläutert sich so die Einreihung des kühnsten Intendierens in die /(727) geschehende Welt, die Einheit von Hoffnung und Prozeßkenntnis, kurz, der Realismus. Alles Erhitzte im Traum nach vorwärts ist dadurch ebenso ausgeschieden wie alles Stockfleckige in der Nüchternheit. Desto unverwechselbarer macht sich der konkrete Traum solid und geltend, desto schlagkräftiger geriet sein getaner, arbeitet sein ungetaner Inhalt in der Wirklichkeit. Sich ins Rechte denken, dieser Wille hat mehr als je zu wirken. Der solide Traum schließt sich tätig an das an, was geschichtlich fällig und in mehr oder minder verhindertem Gang ist. Konkreter Utopie kommt es also darauf an, den Traum von ihrer Sache, der in der geschichtlichen Bewegung selbst steckt, genau zu verstehen. Es kommt ihr, als einer mit dem Prozeß vermittelten, darauf an, die Formen und Inhalte zu entbinden, die sich im Schoß der gegenwärtigen Gesellschaft bereits entwickelt haben. Utopie in diesem nicht mehr abstrakten Sinn ist derart das gleiche
wie realistische Antizipation des Guten; was klar geworden sein dürfte. Prozeßhaft-konkrete Utopie ist in den beiden Grundelementen der marxistisch erkannten Wirklichkeit: in ihrer Tendenz, als der Spannung des verhindert Fälligen, in ihrer Latenz, als dem Korrelat der noch nicht verwirklichten objektiv-realen Möglichkeiten in der Welt. Überall, wo dermaßen ins Vermittelt-Blaue gebaut wird, ist utopischer Grund vorausgesetzt; wäre er nicht vorhanden, so könnte nichts von Wert geschaffen werden. Jeder Traum vom besseren, vom höheren, vom erfüllten Leben wäre auf eine eigene, innere, schmale, ja ganz rätselhaft vereinsamte Enklave beschränkt. Aber es geht ein großes Meinen und ein Intendieren auf das noch Ungekommene durch die ganze Welt: konkrete Utopie ist die wichtigste Theorie-Praxis dieser Tendenz. Sinngemäß ist utopische Intention weder auf die bloße innere Traum-Enklave noch aber auch auf die Probleme der besten Gesellschaftsverfassung beschränkt. Ihr Feld ist vielmehr gesellschaftlich breit, hat sämtliche Gegenstandswelten der menschlichen Arbeit für sich, es dehnt sich - wie in Erinnerung zu bringen ist und der Fortgang zu zeigen hat - nicht minder in Technik und Architektur, in Malerei, Dichtung und Musik, in Moral wie Religion. Es gibt technische Wunschbilder so gut wie soziale, sie stehen an Kühnheit hinter diesen nicht zurück, waren, als Zurückdrängung der Naturschranke, ja /(728) als Bildung einer Welt für uns, stets mit ihnen verschlungen. Und jedes Kunstwerk, jede zentrale Philosophie hatte und hat ein utopisches Fenster, worin eine Landschaft liegt, die sich erst bildet. Selbst Naturgestalten stellen außer dem, was sie als gewordene sind, eine Chiffer dar, worin ein Noch-Nicht-Gewordenes, ein objekthaft Utopisches umgeht, das nur erst als Latenz-Gestalt präsent ist; Naturschönheit, auch Naturmythologie gaben und geben zu diesen real-utopischen Chiffern einen Zugang. Wie in der menschlichen Seele Noch-Nicht-Bewußtes dämmert, das noch nie bewußt war, so in der Welt Noch-Nicht-Gewordenes: an der Spitze des Weltprozesses und Weltganzen ist diese Front und die ungeheure, noch so wenig begriffene Kategorie Novum. Deren Inhalte sind nicht bloß die unerschienenen, sondern die unentschiedenen, sie dämmern in bloßer realer Möglichkeit, haben die Gefahr des möglichen Unheils in sich, aber auch die Hoffnung des möglichen, noch immer nicht vereitelten, durch Menschen entscheidbaren Glücks. So weit reicht Utopie, so kräftig teilt sich dieser Grundstoff allen menschlichen Tätigkeiten mit, so wesenhaft muß ihn jede Menschen- und Weltkunde enthalten. Es gibt keinen Realismus, der einer wäre, wenn er von diesem stärksten Element in der Wirklichkeit, als einer unfertigen, abstrahiert. Wobei gewiß erst die gesellschaftlich gelingende Utopie, im Bund mit der technisch gelingenden, jenen Vor-Schein in der Kunst, gar Religion präzisieren läßt, der nicht Illusion, gar Aberglaube ist. Marxismus aber ist die erste Tür zu dem Zustand, der Ausbeutung und Abhängigkeit ursächlich ausscheidet, folglich zu einem beginnenden Sein wie Utopie. Er setzt Befreiung vom blinden Schicksal, von der undurchschauten Notwendigkeit, im Bund mit der konkreten Zurückdrängung der Naturschranke. Indem Menschen hier zum erstenmal bewußt Geschichte machen, verschwindet der Schein jenes Schicksals, das von Menschen, in der Klassengesellschaft, selbst produziert und unwissend fetischisiert worden ist. Schicksal ist undurchschaute, unbeherrschte Notwendigkeit, Freiheit ist beherrschte, aus der die Entfremdung verschwunden ist und wirkliche Ordnung aufgeht, eben als das Reich der Freiheit. Konkret gewordene Utopie gibt den Schlüssel dazu, zur unentfremdeten Ordnung in der besten aller möglichen Gesellschaften. Homo homini homo: das /(729) also meinen die Grundrisse einer besseren Welt, was die Gesellschaft angeht. Und nur, wenn das zwischenmenschliche Verhältnis geziemend in Ordnung gekommen ist, das
Verhältnis zum Menschen, dem Gewaltigsten, was lebt, kann auch eine wirklich konkrete Vermittlung beginnen mit dem Gewaltigsten, was nicht lebt: mit den Kräften der anorganischen Natur.
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WILLE UND NATUR, DIE TECHNISCHEN UTOPIEN
Wohltätig ist des Feuers Macht, Wenn sie der Mensch bezähmt, bewacht. Schiller Besser jedoch so: Erhabener Geist, du gabst mir, gabst mir alles, Worum ich bat. Du hast mir nicht umsonst Dein Angesicht im Feuer zugewendet. Gabst mir die herrliche Natur zum Königreich, Kraft, Sie zu fühlen, zu genießen. Nicht Kalt sttaunenden Besuch erlaubst du nur, Vergönnest mir in ihre tiefe Brust Wie in den Busen eines Freunds zu schauen. Goethe In der Sprache der alten Sagen bestand die Aufgabe des Menschen an der Natur in nichts Geringerem als in der Fortpflanzung und Ausbreitung eines Paradieses über seine Erde; mit anderen Worten, des Menschen als eines himmlischen Gestirn der Erde Beruf war kein geringerer, als dieser Erde himmlische Früchte und Gestalten hervorbringen zu helfen und somit ihr einen ähnlichen Dienst, nur in einem höheren Sinn, zu leisten, wie ihn das äußere Gestirn, die Sonne, ihr leistet: welche gleichfalls die verschlossenen Erdkräfte nicht nur von ihren Banden - gleich den verschwundenen und gefesselten Geistern der Fabel - lösend befreit, sondern ihnen auch die zum Wachstum, zur Blüte und Fruchtbringung nötige Ergänzung gibt. Wie im Aufgang des äußeren Sonnenbild der ganze äußere Organismus sich entfaltet, so sollte im Aufgang des Gottesbilds im Menschen diese äußere Natur zur Entfaltung und Auswirkung eines inneren, höheren Organismus befähigt und bekräftigt werden. Franz von Baader, Über die Begründung der Ethik durch die Physik /(730) Es ist charakteristisch für die Ideologie einer verfaulenden Klasse, daß sie nicht imstande ist, sich die Harmonie zwischen den Menschen und dem Weltall vorzustellen. Die Widersprüche des Systems widersetzen sich der bewußten Meisterung der Kräfte der Natur. Die Welt scheint einer Gesellschaft, die durch innere Unordnung gelähmt ist, feindlich gesinnt zu sein. Roger Garaudy Das menschliche Wesen der Natur ist erst da für den gesellschaftlichen Menschen;
denn erst hier ist sie für ihn da als Band mit dem Menschen, als Dasein für die Anderen und der Anderen für ihn; erst hier ist sie da als die Grundlage eines menschlichen Daseins. Erst hier ist ihm sein natürliches Dasein, sein menschliches Dasein und die Natur für ihn zum Menschen geworden. Also die Gesellschaft ist die vollendete Wesenseinheit der Menschen mit der Natur, die wahre Resurrektion der Natur, der durchgeführte Naturalismus des Menschen und der durchgeführte Humanismus der Natur. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte
I MAGISCHE VERGANGENHEIT Ins Elend gestürzt Die nackte Haut zwingt uns durchaus, zu erfinden. Der Mensch an sich ist wunderlich hilflos, bereits gegen Wetter. Er kommt nur in gleichmäßig warmen Gegenden fort, könnte nicht einen einzigen Winter überstehen. Erlaubt der Süden zwar, nackt zu gehen, so doch nicht, unbewaffnet zu gehen. Das Gebiß der Affen trat beim Urmenschen zurück, noch die männlichste Faust taugt kaum gegen einen einzigen Wolf. Zum Schutz und Angriff muß sie weiterwachsen, zu etwas, das nicht an ihr wuchs, zur Keule, zum Steinmesser. Wunderlich, solange diese noch nicht erfunden waren, daß überhaupt Menschen am Leben geblieben sind. Seitdem jedenfalls erhalten sie sich nur, indem ein Ding bearbeitet, ein besseres geplant wird. /(731)
Feuer und neue Rüstung
Die Blöße ist nun gedeckt, nicht aus eigenem, nur von außen her. Das fremde Fell ist umgelegt, statt der Höhle, woraus mitunter Bär und Löwe erst vertrieben werden mußten, kam das Haus, aus Holz oder Feldsteinen. Auch die Vögel bauen ein Nest, doch es dient nur zur Aufzucht der Brut, nicht zur erweiternden Befestigung des Leibs wie die menschlichen Werkzeuge und Häuser. Die Ameise, die Biene, der Dachs, gar der Biber, sie alle fertigen Bauten und zum Teil bereits wirklich wie ihr erweiterter Leib, wie eine künstliche Muschel als Festung, doch es fehlt alles, was erst technisches Erfinden macht: Werkzeuge und ihr bewußter Gebrauch. Erst der Mensch ist das werkzeugmachende Tier, hat den Nagel zur Feile, die Faust zum Hammer, die Zähne zum Messer gesteigert. Erst Selfmademan machte sich das Feuer dienstbar, das den Fraß kocht, das Erz ausschmilzt und jedes Raubtier abschreckt. Und noch schneller als die erbeuteten Rohstoffe mehrte sich die Kunst, etwas, das nie vorhanden war, aus ihnen zu machen. Erfinden bedeutet seitdem, sich aus organischen oder toten Beständen außerhalb des Leibs durch Verarbeitung zusätzliche Kraft oder Bequemlichkeit zu schaffen. Wobei, nachdem das Heer der Gebrauchsgüter entstanden ist, der Erfindung wesentlich wird, daß sie auch diesen ein Neues hinzubringt, das unter ihnen bisher nicht vorkam. Das deutsche Patentblatt von 1880 definiert dieses Sinns hinreichend zusätzlich: »Erfindung ist Herstellung einer neuen Art oder eine neue Art der Herstellung von Gebrauchsgegenständen.« Das erste kann etwa der Reißverschluß sein, das zweite ein vom bisherigen verschiedenes Verfahren der Befestigung des Absatzes an der
Sohle. Das ganze Leben ist derart von einem Gürtel künstlicher, vorher nicht dagewesener Geschöpfe umgeben. Mit ihnen wird das menschliche Haus ungeheuer erweitert, es wird immer bequemer und abenteuerlicher. Irrsinn und Aladins Märchen Geträumt war auf diesem Feld fast alles, was seitdem vorhanden ist. Und mehr dazu, schon deshalb, weil die feurige Eule des /(732) Wahns besonders erfinderisch ist. Einem der Irren flüsterte sie zu, ein Bett zu erfinden, das zugleich eine Küche und ein See zum Baden ist. Ein schizophrener Schneider verwahrte in einem Fingerhut »mit Kindlichkeit durchsetztes Wasser«, das im Nu die Teller spülte, die Anzüge reinigte. Fleckwasser ist beliebt, das über das Reinigen hinaus Baumwolle in Seide verwandelt. Ein Jäger, der an Paranoia litt, erfand sogar eine Lampe, mittels derer er Adler aus Hühnereiern ausbrütete. Doch alle diese Narrenstreiche werden von einer Gegend her geführt, die, wie bei ärztlichen und staatlichen Wunschträumen gesehen war, vom Märchen lange besetzt ist, und zwar im Technischen besonders ausführlich besetzt. Märchenerfindung ohnegleichen ist die Nadel, die von selber näht, ist der Topf, der von allein das Essen aufsetzt und kocht. Ist die Mühle, die aus dem Korn sogar selber wächst, es drischt und mahlt, ist das Hutzelbrot, das immer nachwächst, sofern nur ein kleiner Ranft von ihm übriggelassen, und das alle anderen Speisen ersetzt. Daher erläutert Grimm das Märchen vom Schlaraffenland in seinem Sozialen auch technisch: »Die menschliche Einbildungskraft befriedigt hier das Verlangen, das große, alle Schranken zerschneidende Messer einmal mit voller Freiheit zu handhaben.« Aus der Familie des Schlaraffenmessers stammen das Wunschhütlein, die Tarnkappe und so viel anderes aus dem Hexenschatz, stammen das Tischleindeckdich, die Siebenmeilenstiefel, der Knüppelausdemsack und der alehymische Esel Bricklebrit, der guten Endes Gold von sich gibt. Said in Hauffs Märchen bläst das silberne Pfeifchen, das ihm die Fee als Angebinde gab, und die Wellen glätten sich augenblicklich; das Holz, woran sich der Schiffbrüchige festhält, wird zum Delphin, der ans Land trägt. Auch das Tischleindeckdich taucht erneut hier auf, diesmal aus den Wogen, doch so trocken, als hätte es achtTage in der Sonne gestanden, und bestellt mit den köstlichsten Speisen. Saids Pfeifchen hat vornehme Verwandte, sie sind alle nicht nur musikalisch begabt, sondern magisch-technisch: Rolands Horn im Tal von Ronceval gehört bereits halb dazu, vor allem die Zauberflöte und Oberons Horn. Der volle Glanz technischer Wunschbilder bricht, dem luxuriöseren Bedürfnis entsprechend, im orientalischen Märchen aus. Dort sind die Zauberdinge sogar verhältnismäßig rationalisiert und zu einer /(733) technischen Schatzkammer gesammelt. Das Märchen vom Prinzen Ahmad und der Fee Peri-Banu enthält ein elfenbeinernes Rohr, durch das sichtbar wird, was immer man zu sehen wünscht, und sei das Gewünschte Hunderte von Meilen entfernt. Das Märchen enthält den fliegendenTeppich, der seinen Besitzer, wenn er auch nur in Gedanken seinen Wunsch ausspricht, im Augenblick zum Ziel trägt, das das elfenbeinerne Rohr vor Augen stellt. Das Märchen enthält Flügelriesen, die nicht bloß im Blitz über unermeßliche Fernen tragen, sondern auch Schätze, so reich, daß kaum ein Wunsch sich an sie wagte, aus dem Unterirdischen heraufschaffen, ja, wie bei Aladin und der Wunderlampe, aus dem Nichts. Unmöglich Erscheinendes, fast absichtlich als unmöglich Ausgemachtes wird derart spielend geschafft, vor allem auch durch erträumte Instrumente. Schwierigkeiten fallen nach allen Seiten, nichts hört sich in solchen Märchen phantastisch, alles plausibel an. Riesenkräfte der
Natur, als Geister ausgemalt,.stehen Aladin, dem Herrn des Rings und der Lampe, augenblicklich und willenlos zu Diensten. Oder Hassan dem Basoriten, dem Herrn der magischen Rute, er schlägt mit ihr den Boden: »Da klaffte die Erde auseinander, und heraus kamen zehn Ifriden, deren Beine noch in den Eingeweiden der Erde staken, während ihre Köpfe schon weit über den Wolken ragten« (Tausendundeine Nacht, Insel, X, S.65). Das Märchen vom Ebenholzpferd halluziniert technische Wunschbilder sogar nüchtern sozusagen, bis ins Detail: das Zauberpferd hat einen Aufstiegs- und Abstiegswirbel, es ist lenkbar, je nach der Wendung, die man dem Kopfe gibt, und zu jedem Gebrauch so wohl staffiert, daß der Reiter die Königstochter aus dem unzugänglichen Schloß entführt oder daß er aus den Reihen seiner Feinde aufsteigt und entflieht. Ein chinesisches Märchen wiederum, genannt «Das Blätterkleids, berückt mit der Magie eines beliebig verwandelten Rohstoffes, fast so unendlich verwertbar wie das oben erwähnte Gesamtkunstbett des Irren. Die Fee schneidert hier ihrem menschlichen Liebhaber aus Bananenblättern ein Kleid von grüner Seide, aus dem gleichen Laub werden Kuchen gebacken, ein Huhn, ein Fisch geschnitten und gekocht, zuletzt Reitesel geschnitzt, auf denen der Liebhaber mit den unterdes entstandenen Kindern in die Heimat zieht. Es ist wiederum eine Fee (der /(734) Wunsch nach übermenschlichen, noch übermenschlichen Kräften), welche in einem Märchen der Lagerlöf mit Neuschöpfung begabt. So daß ein Schmied mit Erfolg darangeht, eine andere Sonne, mitten im nordischen Winter, herzustellen; eine, welche die Menschen nicht wie die himmlische ein halbes Jahr verläßt. Tischleindeckdich, Aladins Lampe, Wünschelrute überall, dazu in den Sagen Medeenkessel, Fortunatshütchen, Oberonshörner und so viel mehr; aus dem Lauf der Dinge wird wünschend-magisch das Hindernis herausgenommen. Die schleppende Zeit wird überholt, der schwere Stoff soll sich leicht und durchsichtig um alle Wünsche legen. Der populärste, zugleich nicht mehr märchenhaft-unwahrscheinliche Ausdruck dessen war in Jules Vernes Romanen, zum Teil in denen von Kurt Laßwitz. Die »Reise um die Welt in achtzigTagen« ist bereits weit überholt, die in das Innere der Erde und nach dem Mond steht noch aus. Aber all dergleichen, sei es tolles Gezeug, sei es ein noch tollerer Erfolg damit, ist, wie es auf barocken Titelblättern hieß, nicht nur angenehm, sondern nützlich zu lesen. Ist bisweilen Zukunft des menschlichen Könnens, vorgegeben und dargestellt, als wäre sie schon jetzt. »Professor Mystos« und die Erfindung Hinzu kommen nun jene Vögel im Kopf, welche andere, auch sich selbst verführten. Oft betrügerisch, zuweilen besessen und dann nicht ganz fähig, ihren verdächtigen Handel zu erkennen. Gauner und Träumer sind darunter, Prahler insgesamt, mit vollen Händen ungelegte Eier spendend. An der Spitze standen hier früher die Goldmacher, im großen ganzen bessere Menschen als die Quacksalber von heutzutage. Denn ringsum glaubten auch gelehrte Männer an Geister, an rufbares Etwas, was oben hin flattert, unten hin gräbt, und vor allem an den Stein der Weisen. Wurde hierbei ganz zufällig das Porzellan erfunden, auch das Rubinglas, so waren die Finder, die Hofadepten Böttger und Kunckel, den Stein der Weisen im Sinne, sozusagen ehrlich enttäuscht. Der Alchymist Brand stellte 1674 aus Menschenhaar zuerst den Phosphor dar, statt des Steins der Weisen; Brand aber war es, als hätte er eine Eselin gefunden statt des geglaubten /(735) Königreichs. Selbst der Schwindler Cagliostro hat in seinem, ja keineswegs wissenschaftlichen, Bewußtsein einige der Goldmacher- und Geisterseher-Mären geglaubt, die ihm ein gieriger,
korrupter, gelangweilter Adel so gerne abnahm. Auch die gleichzeitigen gleichsam liberal okkulten Freimaurer trieben so viel grillenhaftes Wesen, mit Särgen, Lichtern, hermetischen Künsten, daß Cagliostro, ihr angeblicher »Großkophta«, geradezu wie ein Ernstfall unter bloßen Dekorateuren auftreten konnte. Seltsam ist es überhaupt, wie damals im mannigfach erfinderischen Magiertum zwei, ja drei Linien nebeneinander und auch ineinander gehen konnten: Einmal die aufsteigende bürgerliche Tendenz auf Beförderung der technischen Produktivkräfte, dann aber die obskurantische Wundersucht der untergehenden Feudalklasse, wie sie - an den Rasputin des Zarenhofs erinnernd eben Cagliostros Auftritt hervorgebracht hat. Dazu tritt aber als dritte Komponente die gerade wieder von der Renaissance, von ihren Hexenküchen und Beschwörungen noch nachwirkende Kabbalisterei. Waren auch die Hexenbrände selber seit kurzem seltener geworden, so nicht der Glaube an dienstbare Geister; ein Anti-Spukbuch wie Balthasar Beckers »Verzauberte Welt«, das den Teufelspakt leugnete, wirkte noch um 1690 und nachher, außerhalb der höchsten gelehrten Welt, als kühn, fast als paradox. Die magische Renaissance und das theosophische siebzehnte Jahrhundert lebten so lange nach; zwischen Freimaurerei und Rosenkreuzern war die Grenze noch oft verwischt. Swedenborg, tief in der Aufklärungszeit, zeigt am besten, welch wunderlicher, zu Wundereien offener Hintergrund der Ratio noch geblieben war. Ja, die Mechanik selber hatte damals zuweilen noch einen eigenen Spuk, einen nicht einmal so weit hergeholten. Er schloß sich an den alten um die Uhr an, um dies merkwürdige, Leben vortäuschende Wesen, um die Turmuhr vor allem und ihre einsam finstere Beschäftigung. Um das Knacken und Rücken der Räder droben im Gehäuse, um das ganze mechanische Todesleben und seine Aura. So blicken uns Zahnräder, Übersetzungen, Flaschenzüge aus Holzschnitten dieser Zeit entgegen, alles natürlich, alles wie aus der Glockenstube, alles nicht geheuer. Sogar L'Homme machine, das materialistische Stichwort La Mettries, das um 1750 so gründlich zu entzaubern schien, zeitigte für die /(736) mannigfach ungleichzeitige Bizarrerie, die sich auch während der bürgerlichen Aufklärung erhielt, neuen Schauder, einen bis dahin sogar ungekannten. In ihm mischte sich ein Stück Golemsage mit dem Uhrengleichnis, von dem das Barock voll ist, besonders in seinen Dramen: Hallmanns »Marianne» spricht vom Leib als »gangbar Uhrwerk«, Lohenstein liest die Räder zusammen von seiner gestürzten »Agrippina«, der Tyrannin, »die in Gedanken stand, ihr Uhrwerk des Gehirnes / Sei mächtig umzudrehen den Umkreis des Gestirnes«.Doch eben das Neue kam hinzu als der Schauer der Entblößung, gerade in Mechanik: daß der lebende Mensch ein Uhrwerk sei, das sich selber aufzieht. Dergleichen schien sichtbar zu werden in den damals entstehenden Automaten: in der singenden Nachtigall, dem mechanischen Violinspieler, dem Rechenkünstler, alles aus Wachs und innen nur Uhrwerk, aber alles gleichsam lebend. Charakteristisch war, daß das Uhrwerk nicht verhüllt wurde, es war mit Rokokokleidern oder reicher türkischer Tracht bloß drapiert und so doppelt sichtbar. Geradezu kokett trat bei allen Figuren das Räderwerk vor, der von den Rädern zurückgezogene Rock oder Vorhang zeigte die Mechanik gerade als neuen magischen Abgrund. Ein Nachklang davon ist in dem Taburettkrämer aus »Hoffmanns Erzählungen«: mit Barometer, Hygrometer, Brillen, wer durch sie blickt, sieht alles Tote als lebendig; erst recht im Doktor Spallanzani, dem Physiker, der Automaten heckt. Ein Nachklang ist noch in der Reklame-Darstellung modern chemischer Laboratorien: gerade das blitzende Glas, das helle mechanistische Licht greift in alte, merkwürdig vermehrte Phantasie. Auf jeden Fall: auch die Mechanik schien Geheimes zu zeigen, ein Abenteuer- und Hybrisland über den Grenzen,
mitten in Nüchternheit. Auch dort lag der Golem, nicht nur in der vormechanischen Gegend, in der der Rabbi Löb als Kabbalist Schöpfung machen wollte, mit Lehmkloß und magischem Zettel. Also waren die mannigfaltigen Cagliostros sogar durch Aufklärung nicht ganz unmöglich gemacht, besonders wenn sie sich außer der magischen mechanisch-technischer Sprache bedienten. Weiter wird ja auch heute noch gesagt, daß ein Lügner etwas »erfinde«. Der merkwürdige, schlechte wie gute Doppelsinn dieses Worts machte damals, unter bankrotten wie gelangweilten /(737) Fürsten, besonders Schule. Und es war die Zeit des aufsteigenden Bürgertums, des an gewinnbringenden Erfindungen wohlinteressierten. Aber Erfinden war noch bizarr, also lief es im Bewußtsein als eines à la Münchhausen und als technisches zum Teil unkritisch ineinander. Folgerichtig zogen auch Abenteurer von der Art, die man im Barock »Projektanten» nannte, in die Technik ein; mit soviel Wunsch- wie Schwindel- und Schauergrund. Diese Projektemacher oder » donneurs d'avis « wechselten damals von dem Gebiet der Staatsfinanzen, wo sie um keine »Erfindung» verlegen waren, mühelos auf das Gebiet der Technik herüber, wieder mit einer oft schwierigen Mischung aus Gimpelfang und überzeugtem Enthusiasmus. Derselbe Typ, der ökonomische Patentlösungen ausbrütete, oft mit großem Gewinn (für sich selbst) verkaufte, hatte auch technische Arkana feil. Einer dieser Projektemacher, er hieß Beßler, nannte sich später, wohl mit Kreuzung aus Orpheus und Zephyr, Orphyréi, auch Dr. Orfyreus, brachte sich erst als Drechsler, Uhrmacher, Schleifer fort, wechselte über zum Quacksalber, Sterndeuter, Goldmacher, verband dann diese Vielseitigkeit im Geschäft des Ingenieur-Charlatans. Als solcher kreierte er die »kuriose und wohlbestellte Lauff-Perle, genannt Orfyrei Perpetuum mobile«. Darum herum schrieb er 1720 eine technische Kolportage, mit dem Jahrmarktstitel: »Die acht verborgenen Kammern des Naturgebäudes«. Das war nun wie eines jener Märchenschlösser dargestellt, worin eine Kammer, mit sonderlicher Kostbarkeit, nicht betreten werden durfte. Das Naturgebäude des Dr. Orfyreus hatte gleich acht solcher Kammern, sie enthielten Kuriosa und utopische Vorrichtungen, in der einen Kammer befand sich die Quadratur des Kreises, in der anderen der hyperbolische Spiegel, in der dritten die Lösung der Aufgabe, aus einem Teich einen Wasserstrahl ohne Röhren emporsteigen zu lassen. In der vierten war das unverlöschliche Feuer, und so hindurch bis zur letzten, wo das Modell des besagten Perpetuum mobile stand. Eben dieses will Orfyreus seiner Naturkammer entwendet haben, er stellte es, »nach eingehender Prüfung des Werks«, erst in Gera, dann in einem Lustschloß des Landgrafen von Hessen-Kassel auf. Dort soll die Maschine längere Zeit »in perfektem Lauf« zu sehen gewesen sein und sogar »Arbeit verrichtet haben«. Ein /(738) unbekannter Trick half der Illusion nach, und die Illusion drückte dem Publikum die Augen zu. Vielleicht steckte in dem unmöglichen Gegenstand ein buckliger, also besonders leicht verpackbarer Zwerg wie in einem gleichzeitigen berühmten Automaten, dem unüberwindlichen Schachspieler. Interessant war jedes Perpetuum mobile ohnehin; denn es erfüllte am radikalsten den Auftrag des begonnenen Kapitalismus: verbilligte Produktion. Derselbe Orfyreus, er wurde auch Professor Mystos genannt, plante, Orchestrions mit Windmühlenflügeln auf hohe Türme zu stellen, und bei Sturm brauste ein Orgelkonzert in fortissimo über die Stadt. Ein Plan, der zeigt, daß die feurige Eule, wenn sie sich Windmühlenflügel beilegt, ganz großartig, fast amerikanisch wirkt. Wurden gar Siebenmeilenstiefel zum Erfolg technisch versprochen und ausgestellt, dann kam stets Orfyreus-Stil, mit und ohne Doktortitel. Unsterblich blieben besonders die immer wieder entdeckten, wenngleich stets verschieden benannten »Kosmischen Universalkräfte«. Das
»Fluidum« des alten Mesmer wurde ohnehin neu belebt, als es sich die naturwissenschaftliche Sprache, die Elektrizität des neunzehnten Jahrhunderts beilegen konnte. Und den Übergang zum heutigen, erst recht belebten »Strahlungs-Magnetismus« stellte ein sonst recht tüchtiger Naturforscher mit ebenso tüchtigem Spleen dar, der Chemiker Reichenbach, der Entdecker des Paraffins und Kreosots; er gab den Übergang durch die gleichfalls von ihm getätigte »Entdeckung« des «Welt-Od». Das war nun die gesuchte, bald auch spiritistisch verwertbare Urstrahlkraft (»Physikalisch-physiologische Untersuchungen über die Dynamide des Magnetismus, der Elektrizität, des Lichts usw. in ihren Beziehungen zur Lebenskraft«, 1845); sie reicht vom Protoplasma und dem Betriebsstoff golemartig beseelter, nachtwandlerisch funktionierender Maschinen bis zur »Ursache« des Heiligenscheins. Und zum neuesten Bombast des «Fluidums«, zu einem, der nun sogar auf psychoanalytischem Umweg sein Perpetuum mobile wieder macht, gehört eines W. Reich sogenanntes «Orgon«. Das ist: ein saftiges «Welt-Od», aus der Brautnacht des Seins, oder die biologisch-kosmische Potenzund Orgasmuskraft par excellence. Diese Orgasmuskraft ist zudem sichtbar, sie erscheint so gut in der «blauen Färbung der Frösche während des Coitus» wie im /(739) St.-Elms-Feuer auf Schiffsrahen, wie im ebenfalls bläulichen Funkeln der Sterne. «Orgon« und noch mehrererlei desgleichen (lauter kosmische Über-Vitamine für jene Art Hoffnung, die nicht alle wird) hat Amerika auch in «Akkumulatoren« gesammelt, die den unschätzbaren, doch verkäuflichen Stoff aus der Luft ziehen, wonach er jede Art von Entkräftung abstellt, sexuelle, seelische, soziale, kosmische zugleich. All das ist Cagliostro- und Orfyre aus-Stil, hineingestellt ins Epigonenlicht des blauen Weltdunstes. Trotzdem gehört das Cagliostrische auch noch in der kleinbürgerlichen Humbuggestalt von heutzutage zu der technischen Traumgegend; es macht ihre alten Zauberreste aus, wenn auch ihre grotesk-verkommenen. Aber wie gotische Kapitäle oft kleine Groteskfiguren zeigen, mit dem Kopf zwischen den gespreizten Beinen durchblickend oder in anderer Grimasse, so haben auch die immer wiederkehrenden Professores Mystos genau diesen angestammten Platz im technisch-utopischen Bau. Und zum bleibenden Attribut dieser Art Erfinder gehört außer dem erwähnten »Weltfluidum« nicht zuletzt die alte Goldmacherei, in des Worts eingängigster Bedeutung. Um mit zuviel Dreifüßen im modernisierten Trödelladen nicht zu ermüden, sei nur noch ein neues Motiv der uralten Alchymie kenntlich gemacht. Typisch für den weiteerwirkenden Reiz billiger Hexenküche war die Betätigung des Goldmachers Franz Tausend, eines der letzten aus der Zucht. Mit einer Unzahl Menschen hinter sich, bis in die »höchsten Kreise«, bis in den deutschen Generalstab, die in das Geschäft Kapital investierten, damit es, wenn auch kein Ende, doch wieder einmal seinen Anfang nahm. Tausend brachte allerdings eine besonders akustische Lockung in den alten Zauber, nämlich eine Art musikalische Reform. Die Goldkocherei wurde nämlich aus ihrem angestammten Ofen zu den Stimmgabeln gebracht, ja durch bloßen Wechsel der Tonarten zustande gebracht. Denn nach Tausend ist jedes Element durch eine ihm eigentümliche Schwingungszahl gebildet; daher kann es mittels chemischmusikalischer Modulation von seiner ursprünglichen ElementTonart ohne weiteres in eine andere verwandelt werden. Corriger la fortune: das eint die Falschspieler mit den alten gravitätischen Hofadepten und ihren kitsch-pythagoreischen Nachfahren bis zuletzt. Das Korrigieren wäre schon gut, wenn auch nur die /(740) Mittel so gut wären, die untauglichen Mittel zum Erfinden von so nicht möglichen Dingen. Andreäs »Chymische Hochzeit Christiani Rosenkreutz anno 1459«
Am einladendsten blieb es, Geld aus dem Dreck zu backen, der herumliegt. Ist jeder seines Glückes Schmied, dann wird es am besten an seinem metallenen Ursprung geschmiedet. Tausende und aber Tausende haben vor dem Ofen gearbeitet, mit abstrusen Mitteln zu einem sehr gemeinverständlichen Zweck. Und weiter, das Seltenere, Interessantere, heute meist Übersehene: wollten die meisten Schwarzkünstler nur Gold, so wollten mehrere andere außer diesem noch mehr: Weltverwandlung. 1616 erschien die «Chymische Hochzeit Christiani Rosenkreutz anno 1459«, sie geht auf breitere »Reinigung« als die des schlechten Metalls zu Gold. Verfasser der anonym erschienenen Schrift ist so gut wie sicher Johann Valentin Andreä, schwäbischer Dichter, Kirchenmann, Theosoph, Utopist. Die Schrift wendet sich scharf gegen die schlechten Goldkocher, sie kann stellenweise sogar als Verspottung des gesamten hermetischen Gewerbes aufgefaßt werden. Wesentlicher als eine unleugbar vorhandene Satire wirkt die feierliche Bedeutung, welche die »Chymische Hochzeit« dem Goldweg gibt und dem allegorischen Ritter, der ihn geht. In zwei früheren Schriften, der «Fama Fraternitatis« und der «Confessio Fraternitatis«, hatte Andreä bereits einen Ordensgründer Rosenkreutz erfunden und eingeführt. 1388 geboren, zieht dieser als Jüngling ins Morgenland, wird dort in die geheimen Wissenschaften eingeweiht und in eine «Reformation«, von der die Verwandlung der Metalle nur der Anfang ist. Die »Chymische Hochzeit« zeigt den gleichen Rosenkreutz als alten Mann, auf neuer Reise begriffen, am Vorabend des Ostertags, hin zur Königsburg, wo ein Hochzeitsfest gefeiert werden soll. Er wird in das geheimnisvolle Schloß eingelassen, besteht eine Art Wasser - und Feuerprobe, nimmt danach, mit dem Goldenen Vlies geschmückt, als erster unter den Gästen am siebentägigen Hochzeitsfest teil, erblickt den Tod und danach die Auferstehung des königlichen Paars. Die Gäste werden zu Rittern des goldenen Steins /(741) geschlagen, Christian Rosenkreutz aber, als er in eine Kammer eingedrungen war, wo er Frau Venus schlafend fand, wird, als das Hochzeitsfest in vollem Gang ist, dazu bestimmt, als Türhüter oder als Petrus im Schloß zu bleiben. Die »Alchymia« ist auf der Hochzeit Brautführerin oder das »Parergon beim Ergon der sieben Tage«. Insgesamt ist der alchymistische Sinn in Andreäs Allegorie offenbar, doch eben nicht als einer, der sich in Metallurgie erschöpft. Wird er darauf beschränkt, dann zeigt die »Chymische Hochzeit« keine oder nur sehr wenig Beziehung zur Goldkocherei. Wird dagegen Alchymie als Brautführerin einer Weltverwandlung oder »Generalreformation « gefaßt, dann ist es verständlich, daß gläubige Zeitgenossen in dem Roman, auch wenn er bezeichnenderweise ein Fragment ist, die erhabenste Allegorie fürs »Werk der Perfektion« erblickt haben, für die Gewinnung des philosophischen Golds. Ein Rosenkreuzer namens Brotoffer gab 1617 eine Auslegung heraus: »Elucidarius major oder Synopsis der chymischen Hochzeit F. R. C., darin praeparatio lapidis aurei sehr artlich beschrieben wird.« Diese Auslegung erklärt die sieben Tage der Hochzeit unverhohlen als die sieben Stationen des alchymistischen Werks, an den geistigen Tag gebracht: als destillatio, solutio, purefactio, nigredo, .albedo, fermentatio und projectio medicinae (Goldtinktur). Richtig ist sogar, daß die »Chymische Hochzeit« nicht nur als Allegorie, sondern als Symbolik in umfassend-letzten Sinn intendiert war, das ist: als Bildbezug auf letzthinnige Unitas, auf das gärende goldene Pan. Das also sollte im Alchymischen dieser Art die oben angesagte feierliche Bedeutung sein: die eines phantastisch zu schaffenden Ostertags contra Eis und Banden. Der bürgerliche Antrieb zur nicht gekommenen »Freiheit des Christenmenschen nahm nun in den sogenannten hermetischen Gesellschaften des deutschen Barock und ihrer
angegebenen Symbolik solche seltsamen Wege und naturgeschmückten Verkleidungen. Gemeint war ein Weckruf, der durch die ganze irdene Schicht schallen sollte, ein »Wach auf, gefrorener Christ«, durch Blei, Kreatur, Gesellschaft und die übrige Alteritas hindurch. Goldbereitung und Beförderung der Humanität gehen im Rosenkreuzertum von da an durcheinander, machen das Eigentümliche seiner Mischphantastik aus. 1622 wurde im Haag die seitdem bekannte /(742) Rosenkreuzergesellschaft gegründet, der Ordensname selbst ist allerdings älter als die Fama und Confessio, die Andreä von ihm geliefert hat. Paracelsus gibt eine Rosenkreuzerloge 1530 in Basel an, nicht ganz zweifelsfreie Manuskripte berichten aus dem Anfang des zwölften Jahrhunderts von Logen dieses Namens in Deutschland. Nicht zufrieden damit, behaupteten Rosenkreuzer aus Andreäs und noch aus der Zauberflöte-Zeit, jene «veram sapientiam« seit Jahrtausenden zu bewahren, «quae olim ab Aegyptiis et Persus magia, hodie vero a venerabili fraternitate Roseae Crucis Pansophia recte vocatur«. Wie alt aber auch der Rosenkreuzername sei und wie weit das Emblem in utopisierende oder utopisierte Mythen zurückgehen mag: erst Andreä hat ihm mit der «Chymischen Hochzeit« den als aufsteigend oder human behaupteten Sinn der »höheren Alchymie« gegeben. Man muß sogar noch weitergehen, in den eigentümlichen Zusammenhang, der durch Andreäs Bindeglied: »Generalreformation« zwischen etwas so Abergläubischem besteht wie der AIchymie und etwas so Sonnenhaftem, Sonnenklarem wie der Aufklärung, diesem Lichtkampf gegen Aberglauben. Denn das Lichtpathos selber, als die »Geburt«, als der fortschreitende »Prozeß« des Lichts (Golds), kommt aus der Alchymie her: »Aufklärung« selbst ist ursprünglich ein alchymischer Begriff, genauso wie »Prozeß« und sein »Resultat«. Umgekehrt freilich entsteht von hier aus die merkwürdige Verbindung von Freimaurertum, ja Aufklärung mit Okkultismus; Andreä bereits hat seine Brüderlichkeiten mit Magie-Riten gemischt. Der Goldtraum einer Societas humana fand so in Deutschland, doch auch in dem merkwürdig theosophischen England durchs ganze siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert seine alchymistisch-philanthropischen Konventikel. Es gab eine geheime Gesellschaft Antilia, eine andere Makaria, eine »Bruderschaft des himmlischen Rades zur Wiederherstellung der hermetischen Medizin und Philosophie«. Es gab, mit sozial-kosmologischem Mischtraum, das Collegium lucis, das kein Geringerer als der Andreä-Jünger Comenius gegründet hat; und alle diese Sektionen pflanzten das Rosenkreuz auf oder die »höhere Alchymies«. Alle wollten den Lauf der Gesellschaft wie der Natur nach dem paradiesischen Urstand hinkehren, wo soziale Gleichheit und ungefallene oder /(743) Goldnatur in Einem waren. Der Traum dieser Sekten-Alchymie blieb so überall Generalreformation im Sinn der Wiederherstellung des paradiesischen Urstands, vor allem der Überführung der gefallenen Welt zu Christus; weshalb die Rosenkreuzer von ihren damaligen Feinden auch stets mit den Wiedertäufern verglichen wurden. Das Goldkochen wurde chiliastisch oder, wie eine damalige Gegenschrift es denunzierte: »Umkehrung der ganzen Welt vor dem Jüngsten Tag zu einem irdischen Paradies, wie es Adam vor dem Fall innegehabt und Restitution aller Künste und Weisheit, als Adam, nach dem Fall, Enoch, Salomon gehabt haben.« Alchymie und Chiliasmus zusammen liefen so in die hermetischen Sekten ein, mit Metallverwandlung als Vorspiel zum »wahren« Homunculus oder zur Geburt des neuen Menschen. Ein spätes Nachbild davon findet sich noch in Goethes Fragment »Die Geheimnisse«, chemischen Reichstraum betreffend. Der »Wanderer, ermüdet von des Tages langer Reise, / Die auf erhabnen Antrieb er getan«, sieht hier auf der Klosterpforte ein geheimnisvolles Bild, sieht das Kreuz mit Rosen umschlungen, »und leichte Silber-
Himmelswolken schweben, / Mit Kreuz und Rosen sich emporzuschwingen«. Dreizehn Stühle stehen im Klostersaal, ihnen zu Häupten hängen dreizehn Schilde, mit unverkennbar alchymistischen Allegorien: »Hier sieht er einen feuerfarbnen Drachen, / Der seinen Durst in wilden Flammen stillt; / Hier einen Arm in eines Bären Rachen, / Von dem das Blut in heißen Strömen quillt.« Die Schildbilder bedeuten in dieser Ordnung dreizehn Stationen der Goldwerdung, so sind sie der Ahnensaal, von dem der Klostergreis zu dem Wanderer spricht. Aber der Weise nun, der so vielfältige Ahnen hinter sich hat, heißt in dem seltsamen Goethe-Gedicht Humanus; dies eben ist auch im Rosenkreuzertum des Andreä als der letzte Name und Inhalt behauptet worden, der aus den Metall- und Weltverwandlungen aufgeht. Kreuz und Rose, das erste das Zeichen des Schmerzes und der Auflösung, das zweite das Zeichen der Liebe und des Lebens, gingen im »Werk der Perfektion« derart allegorisch zusammen. »Und ein französischer Philosoph«, berichtet Gottfried Arnolds Ketzerhistorie von 1741, im Kapitel von den Rosenkreuzern, »hat das Geheimnis des Goldmachens in dem Namen selbst gesucht und gemeint, Rosen käme von ros /(744) oder Tau, und crux hieße bei ihnen lux, welcher Dinge sich die Alchymisten am meisten bedienten.« Immer wieder lief so die Rosenkreuzerei auf eine Art zweites Stockwerk der Alchymie heraus; der Stein der Weisen in der Chymischen Hochzeit war zugleich der Eckstein Christus. Für Blei wie Mensch wie für die ganze Welt: »Vita Christi, mors Adami, Mors Christi, vita Adami«, lautete die Grabschrift des Rosenkreuzers und Jakob Böhme Freunds Abraham von Franckenberg. Oder wie der gleiche Franckenberg, im Anschluß an die Chymische Hochzeit, gelehrt hatte: Alchymie sei »Erneuerung der himmlischen Lichter, Zeiten, Menschen, Tiere, Bäume, Kräuter, Metalle und aller Dinge der Welt«. Überdies richtete sich dergleichen gegen jeden Zwang oder Bann durch die vorhandenen himmlischen Lichter, folglich trotz einiger Verschränkung gegen die Schicksalsmythologie von damals: die Astrologie. Einige Verschränkung bestand zwar, alle Metalle trugen Planetenzeichen und umgekehrt, der Planetenstand wurde bei der Goldkocherei stets berücksichtigt. Dennoch hat sich der Aberglauben der Alchymie gegen den der Astrologie stets ein Apartes, ja Konträres vorbehalten, eben den Eingriff, die Mischung, den verändernden Prozeß; all das sollte sich eben gegen den »gefrorenen Himmel« richten. Gegen das Horoskop des Anfangs, das sich ebenso zugleich als Grabschrift schon am Anfang gibt, als unveränderbare, unentrinnbare. Gerade die Planetenzeichen, in Metallen wie am Himmel, sollten »chemische Überwindung« finden, nämlich zur Sonne oder dem Gold. Daher denn Franckenbergs » Oculus sidenus« von 1643 auf dieses hinausläuft: »Angesehen man lange genug in dem umzirkelten Käfig oder übertünchten Imaginationsgewölbe des gefrorenen Himmels gesteckt und einander mit allerhand phantasierlichen Traum- und Sternbildern geäfft, daß nunmehr not, den siebenzeitigen Schlaf auf einmal aus den Augen zu reiben. « Es wurde bereits bei Thomas Morus und seiner liberalen Utopie auf die darin versteckt wirkende Alchymie hingewiesen, als auf die »Mythologie der Befreiung« (vgl. Seite 613). Das zum Unterschied von der Astrologie, dem charakteristischen Leitwesen in Campanellas autoritärer Utopie; Astrologie ist einzig Magie von oben herunter, nicht, wie Alchymie, von unten ins Bessere hinauf. Goldwerdung insgesamt war und blieb für Andreä und /(745) seine NachfolgerWeltverwandlung und die Metallurgie ein bloßer stellvertretender Versuch dieser »Technik«. Am Ende sollte die Welt, aus dem wirklich geahnten Pan, nochmals gebaut werden, durch »Pansophie« und Humanität. Die Wege dazu waren ersichtlich verworren, und in bekannterer Gegend
wurden sie auffallend kurz. 1619, drei Jahre nach der anonymen «Chymischen Hochzeit«, hat Andreä auch eine Sozialutopie herausgegeben: «Rei publicae Christianopolis descriptio«. Sie ist außerhalb des eben gesehenen Hintergrunds nicht sonderlich wichtig und jedenfalls unselbständig; deshalb wird sie auch jetzt erst, im Zusammenhang mit den Rosenkreuzern, spruchreif. Der Goldorden ist hier eine Art durchchristete Handwerker- und Schulstadt geworden, eine Insel-City mit Kreistempel in der Mitte, mit einer Markt-, Gymnastik- und Vergnügungszone darum herum, mit Äckern und Werkstätten am Stadtrand. Von Alchymie ist zwar nicht einmal im Lehrplan der utopischen Schule die Rede, selbst die unzweifelhafte Auflockerung der Stadt ist von einer Art planetarischer Kreisform umgeben, fast nach Art der etwas späteren «Civitas solis« Campanellas. Dennoch arbeitet an dieser Sozialutopie, wie schon bei der des Morus, ein alchymistisches Bewußtsein, konträr zum astrologischen; denn Christianopolis hebt sich betont antithetisch, wie herausprozessiert, aus »den Schlacken der verkehrten, grundverderbten Welt«. Und die Wissenschaft ihrer Weisen, in drei Stufen geteilt, ist nicht statisch und abgeschlossen, wie bei Campanella, sondern das letzte Lehrstück in der Oberklasse heißt: »Weissagung des letzten Status«, »prophetische Theologie«. Mit diesem ist der Bogen zur »Generalreformation« wieder geschlagen, zum Rosenkreuzertum, das auf so seltsame Weise Aberglauben mit Licht, »Pansophie« mit Jüngstem Tag verband. Und am Ende hat noch der bedeutendste JüngerAndreäs: Comenius, der Begründer des Anschauungsunterrichts, aber auch einer »Ecclesiaphiladelphica«,das Vorhaben der Rosenkreuzer-Alchymie zusammengefaßt. Ganz wie Andreä spricht Comenius auch ironisch, nicht nur begeistert über sie, aber noch die Ironie teilt den Aberglauben-Glauben, den sie verspottet. Im »Labyrinth der Welt und Paradies des Herzens«, 1631, wird »unter Trompetenschall« über die Rosenkreuzer berichtet: »Das Goldmachen /(746) sei unter hundert anderen Dingen das Geringste, was sie leisten könnten; denn da die ganze Natur vor ihren Augen liege, so seien sie imstande, einem jeden Dinge nach Belieben eine bestimmte Form zu geben und alles zu wissen, was in dem ganzen Umkreise der alten Welt und in der neuen Welt geschehe, zumal sie miteinander selbst auf eine Entfernung von tausend Meilen sprechen könnten. Sodann besitzen sie den Stein der Weisen, mit dessen Hilfe sie alle Krankheiten heilten und Langlebigkeit verliehen ... und nachdem sie sich so viele Jahrhunderte verborgen gehalten und in aller Stille an der Vervollkommnung der Philosophie gearbeitet hätten, so seien sie gewillt, zumal nunmehr alles in Ordnung sei und ihrer Meinung nach der Welt eine gewaltige Umwälzung bevorstehe, jetzt nicht mehr im Verborgenen zu bleiben, sondern offen hervorzutreten, bereit, einem jeden, der ihrer würdig sei, ihre kostbarsten Geheimnisse mitzuteilen« (»Das Labyrinth der Welt und das Paradies des Herzens«, deutsch 1908, S. 115). Die »kostbaren Geheimnisse« sind hier allemal dieselben wie die Geheimwege, um die verkehrte Welt umzukehren, damit das Gold aus ihr hervorkommt. Eben das Gold, das außer dem, was es ist, den sehr symbolischen ökonomisch-technischen Schwärmern von damals auch das Sonnenzeichen fürs Aufgeblühte, Abgerundete, Lichthafte war. Nochmals Alchymie: mutatio specierum (Umwandlung der anorganischen Arten) und ihr Brutofen Der Schüler mußte sich selbst erst läutern, bevor er draußen dergleichen anfing. Auch wo der Antrieb, Gold zu machen, noch so nüchtern und geschäftlich war, sollte der Goldacker andächtig bearbeitet werden. Sonst, wurde gesagt (und hierin sind
sich alle noch so verworrenen Schriften einig), darf kein Adept angenommen, noch weniger darf ihm ein Stück aus der Kunst »verraten« werden. Oft wurden Fasten, sexuelle Enthaltsamkeit und andere feierliche Überweisungen verlangt; dadurch kam der Schüler jedenfalls in einen nicht alltäglichen, in einen gläubig-geduldigen Zustand. Und es blieb, bei einem Geschäft, das ohnehin kein Ende nehmen konnte, allemal die Möglichkeit, den Mißerfolg auf die eigene Unreinheit, auf die mangelhafte innere Bereitung /(747) zurückzuführen. Zudem spielte die Furcht vor bösen Geistern mit, in einer Zeit, wo drei Schritte vom Talglicht und Herdfeuer schon die undurchdringliche, die dämonisch bewohnte Nacht anfing; wo ein höllisches Etwas in allen dunklen Ecken quakte, stöhnte, drohte, schwebte oder tappte. So schien es ratsam, daß der beginnende Adept selber sauber, sozusagen unangreifbar dastand; das fromme Herz galt als Amulett. Aber so abergläubisch das alles war. einige dieser innerlichen Ratschläge muten bei alldem merkwürdig naturnahe, gleichsam unterirdisch-naturnahe an. Der Alchymist veränderte die Bewußtseinslage des Schülers auch dahin, daß er eine unbewußte Verbindung mit den Werkstoffen erlangen sollte. Der beginnende Adept hatte also nicht nur gerecht und rein von Begierden, er hatte auch materialgerecht zu werden, mit Feuer, Blei, Antimon, Dehnbarkeit, Glanz so verbunden, als wären sie »im Grund« ein Stück von ihm. Sodann war »Imagination« des Golds vorausgesetzt, faktisch wohl meist eine sehr eindeutig gewesene, eine des sehr eingängigen Tauschwerts, doch der idealischen Vorschrift nach eine, die auf Gold, Weihrauch und Myrrhen, also fast auf die Geburt des Herrn bezogen war. Dergleichen ist weniger blasphemisch oder auch nur ideologisch, als es angesichts der üblichen Gold-, also Geldmacherei klingt; denn es gehörte, nach dem Glauben der Kunst, zum technischen Verfahren selbst. Um von tieferen Anspielungen und Absichten, wie sie bei den Rosenkreuzern sichtbar geworden, hier vorerst ganz abzusehen. Das Gold sollte jedenfalls mit dem Willensbild seiner selbst erregt und gerufen werden, mit der Bereitung eines inneren Steins der Weisen, bevor der »große Metallklang« hervorgerufen werden konnte. Einige Vorschriften, diese »Imagination« betreffend, wirken, als ob gerade das ganze leidenschaftliche Willenssubjekt in die Natur einzusteigen habe, mit deren eigenem Innern oder Quellpunkt, wie durch einen unterirdischen Gang, »sympathetisch« verbunden. Psychische, religiöse und Natur-Kategorien haben sich in der Alchymie häufig genauso verschlungen wie in den gleichzeitigen Kosmologien des Paracelsus und Böhmes. Dieser Zustand ist naturwissenschaftlich kaum mehr nacherfahrbar, wo gerade die Unabhängigkeit vom erlebenden und auffassenden Subjekt als Kriterium der Erkenntnis gilt. Vor allem überliefern auch die /(748) erhaltenen Lebensbilder von Alchymisten zwar ein zähes und zielstrebiges Wesen, aber seltener eines, das soeben das Abendmahl genommen zu haben scheint oder auch soeben aus der Höhle des Erdgeistes gekommen ist. Männer wie Raimundus Lullus, auch mehrere der späteren Rosenkreuzer, machen freilich eine deutliche Ausnahme, und diese zählt. Mitten in dem Wust seiner Küche, seiner uferlosen Rezepte und unendlichen Irrwege wurde vom beginnenden Adepten »Henosis« verlangt, nach dem neuplatonischen Ausdruck, das ist Vereinfachung seiner selbst, Konzentration auf Wirkungskraft und Samen. Auffallenderweise waren sogar die hauptsächlichen Dinge, die der Schüler wissen mußte, nicht allzu verwickelt. Das, obwohl die vielen Betrüger das Geschäft absichtlich verdunkelten, um nicht sagen zu müssen, was sie nicht wußten. Und obwohl auch in den subjektiv-ehrlichen Büchern die Rezepte und die Bilder oft unvereinbar hintereinanderstehen, dazu in ganz fremdartig gewordener Sprache. Trotzdem bewegen sich in dem Faltenwurf gewisse einheitliche, fast wohlgeformte
Grundbegriffe, sie sind überdies nicht zahlreich. Das Ganze ist ein pures Suchen, Probieren, auch ungewisses Nachprobieren fremder Versuche, mit ungeheurer Betriebsamkeit zehn und mehr Jahrhunderte hindurch. Vielleicht reicht der alchymistische Traum bis in die Bronzezeit zurück, wo die erste Legierung zu einem goldglänzenden Metall gelungen ist, und zuverlässig war er, seit etwa 700 n.Chr., in allen Kulturen verbreitet. Es gibt nicht nur arabische und europäische Alchymie, sondern ebenso indische, chinesische, siamesische; und auch hier sind die Grundzüge nicht einmal so sehr verschieden. Allemal geht diese Kunst damit um, ein Gewordenes in den Dingen wieder zu lösen, ein in ihnen Gemischtes zu verschieben. Gesucht in ihnen, vor allem in den selber schon »elementar« zerfallenen, war zunächst ein noch völlig eigenschaftsloser Stoff an sich, der jungfräuliche Anfang. Alles Vorhandene wurde daraufhin durchprobiert, je matter oder auch je abgebauter, ausgelaugter es erschien, desto besser: Regenwasser, Harn, Kot waren vielversprechend, um die »materia prima «,das »Ferment« in ihnen zu finden. Die Metalle selber sollten außer diesem passiven Urstoff aus drei Grundbestandteilen, in wechselndem Verhältnis, gemischt sein: aus Merkur (Quecksilber), /(749) Sulphur (Schwefel), Sal (Salz). Die drei fallen nicht mit dem vorkommenden Quecksilber, Schwefel, Salz zusammen, sie verhalten sich zu ihnen ungefähr so, wie sich Kohlenstoff zur Kohle verhält, oder besser: sie sind, in einem magisiert scholastischen Sinn, deren »Essenz«. Als wesentlichster Metallbestand galt Merkur, die Quecksilberessenz; sie besteht aus Wasser und Erde, ermöglicht die Dehnbarkeit und Schmelzbarkeit. Wegen dieser passiven Eigenschaften galt Merkur als weibliche Potenz, so steht diese der »materia prima« am nächsten. Sulphur oder Schwefelessenz besteht aus Luft und Feuer, ein männlich-aktives Wesen, es gibt den Metallen die Färbung, vor allem die Brennbarkeit und Verwandelbarkeit. Sal schließlich, die Salzessenz, bewirkt die Einäscherbarkeit, auch die Härte und Sprödigkeit der Metalle; sehr alte, auch im Neuen Testament gestreifte magische Hochwertungen (»Salz der Erde«) rückten »Sal philosophicum« zuweilen schon in die Nähe des Steins der Weisen (vgl. das heilsame Pulver »mit entschieden alkalischem Geschmack« in Goethes »Dichtung und Wahrheit«, achtes Buch). Entscheidender aber als all dieses war der Glaube, daß mit der »materia prima« und mit dem Gemisch der drei übrigen Grundbestandteile die Metalle noch nicht erschöpft seien, noch nicht am Ende ihres Seins. Die Chemie selber hat bis gegen das Ende des achtzehnten Jahrhunderts an die drei angegebenen Grundbestandteile der Metalle geglaubt (auch das »Phlogiston« oder der »Wärmestoff«, den erst Lavoisier beseitigte, hat Sulphur noch als einen seiner Ahnen); nur: es fiel in sie nicht der Blitz oder das Irrlicht des Golds. So fügte die Alchymie zu den drei Grundbestandteilen noch die höchste »Essenz« oder den Goldkeim hinzu, der in allen gewöhnlichen Metallen drängt, am Wachstum verhindert, eine »Entelechie«,die noch nicht aktualisiert ist. Wie die eigenschaftslose »materia prima« griff auch der Gedanke von der »Entelechie des Golds« auf Aristoteles zurück, in freilich ungeheuerlicher Überrennung aller anderen naturhaften Art- und Gattungs-Entelechien. Aristoteles hatte einzig die Bewegung eine »unvollendete Entelechie« genannt, doch steckte bei ihm gerade in der Materie die Möglichkeit zu jeder jeweils nächsthöheren Form; nun aber ist »jede Materie in potentia Gold, wie das Ei ein unausgebrüteter Vogel«. Befördert und befreit werden sollte diese /(750) Gold-Entelechie durch den »roten Leu«, die »rote Tinktur«, das »große Elixier«, das »Magisterium magnum«, welche allesamt dasselbe bedeuten wie der Stein der Weisen. Wellings »Opus mago-cabalisticum« von 1735 (das gleiche, das der jungeGoethe mit Fräulein von Klettenberg, der »schönen Seele
«,gelesen hat) sagt hierzu folgendes: »Der Stein der Weisen ist ein Körper, welcher durch Kunst aus einem höchst gereinigten animierten Mercurio und seinem lebendigen Gold zusammengesetzt und durch ein langwieriges Feuer also zusammen verbunden, daß er nimmermehr wieder zu trennen ist, in welcher Gestalt er die übrigen Metalle augenblicklich also zeitigen, reinigen und tingieren kann, daß sie in die Natur des reinsten Goldes erhöht werden.« Vorhanden sind wenigstens Beschreibungen dieses fabulösen Steins, und zwar von sehr berühmten Männern; die Beschreibungen stimmen einigermaßen überein, gleich als ob jede spätere auf den Schultern der früheren stünde. Raimundus Lullus vergleicht den Stein mit einem Karfunkel; Paracelsus, in der »Signatura rerum naturalium«, gibt an, der Stein sei schwer, in Masse lebhaft rot wie ein Rubin, durchsichtig wie ein Kristall, aber auch biegsam wie Harz und doch zerbrechlich wie Glas; Helmont, Chemiker und Paracelsianer, erzählt, der Stein, wie er ihn in Händen gehabt habe, sei ein schweres safranfarbiges Pulver gewesen, schimmernd wie nicht ganz fein zerstoßenes Glas (vgl. Kopp, Die Alchymie, 1886, I, S. 82). Sowohl Silber wie Quecksilber als auch die »unreifen « Metalle, namentlich Blei, Zinn, Kupfer und Eisen, als auch spröde wie Antimon, Wismut, Zink und so fort sollen, von der Tinktur, dem Stein durchdrungen, zu Gold werden. Diese Veredlung wird bewirkt durch »Projektion«,das heißt durch Aufwerfen der Tinktur auf das im Fluß stehende Metall, dergestalt, daß die Tinktur, je nach erlangter Reinheit, unedles Metall bis zu dreißigtausendfachem Gewicht ihrer selbst verwandeln kann (vgl. Schmiedes, Geschichte der Alchymie, 1832, S.2). Jederzeit aber wird von den Alchymisten über dieses utopische, allzu utopische Kleinod mit einer Ehrfurcht gesprochen, die weit über solch lukrative Metallwunder hinausgeht und auch des Näheren Frohbotschafts-Anspielungen auf einen anderen Eckstein und Heiland nicht unterläßt. Wie die »materia prima«, näher Mercurius der Jungfrau Maria ver- /(751) glichen werden, so der Stein dem Sohn. Da gibt es einen »Empfang des gebenedeiten Steins«, da nennt ihn Robert Fludd »den Grundstein des inneren Tempels, damit das ganze Werk der Sonne getan werde«. Da preist ihn Jakob Böhme als die »Wurzel eines Reichs, worin kein anderes Element mehr ist als der Menschensohn«. Wie denn Böhme insgesamt die Grundlinien seiner Theosophie und Theogonie in Übereinstimmung mit den alchymistischen Operationen ausgearbeitet hat; als tue der Mensch im alchymistischen Prozeß nur, was Gott in ähnlicher oder gleicher Weise im Kreaturleben der anorganischen Natur tut (vgl. Harleß, Jakob Böhme und die Alchymisten, 1870, S. 46ff.). Angelus Silesius, in der Fülle seiner Allegorien, verschmäht die alchymisch-messianischen am wenigsten: »Ich selbst bin das Metall, der Geist ist Feuer und Herd, / Messias die Tinktur, die Leib und Seel verklärt« (Cherubinischer Wandersmann I., Sinnreim 103). Das Stichwort zu all dieser Vergötterung des Steins und dessen, was er bringt, hat aber Marsilio Ficino gegeben, der Neuplatoniker der Renaissance; bei ihm finden sich alle die späteren Allusionen und Transparenzen zuerst. So noch zögernd verhüllt in einer halb gnostischen »Theologia Platonica «,so offen im Traktat »De arte chimica«, wie folgt: »Die Jungfrau ist Mercurius, von hier wird uns der Sohn geboren, das ist der Stein, durch dessen Blut die berührten unteren Körper in den goldenen Himmel unversehrt zurückgeführt werden. « Zugleich werden durch diesen Text, wie er wörtlich oder barock ausgeschmückt in zahlreichen alchymistischen Rosenkreuzerschriften wiederkehrt, der Stein, das philosophische Gold, der goldene Himmel in Eines gesetzt. Sagt also Andreä: »Die rote Tinktur ist der purpurne Mantel um den erscheinenden König«, so ist der König sowohl der Stein wie das himmlisch-irdische Gold selber, das er aus der Welt herausführt. Chemischer
Chiliasmus ist durchaus ein solcher geworden, worin Scheidekunst, rote Tinktur, Gold, Paradies am Ende der Tage zusammenzufallen scheinen, ja das Werk der Transmutation gilt, in vollerHybris, als »laboratorium Dei«. Es ist nicht erstaunlich, daß nun auch alle anderen Mythen, sooft nur Metamorphose in ihnen vorkam, auf Alchymie deutbar schienen. Kirke wie der Argonautenzug, der Zug durchs Rote Meer wie die Taten des Herkules, König Midas wie der Garten /(752) der Hesperiden, der Mosesstab, bitteres Wasser in süßes verwandelnd, wie die Hochzeit zu Kana: das alles und noch viel mehr mußte der Stein-Anbetung zum Besten dienen. Mythische Wandlungs-Archetypen haben in der üppigen Allegorik der Alchymie sich am stärksten erhalten, und wenn die olympischen Götter in der Tat erst im achtzehnten Jahrhundert als Metallzeichen, Metallseelen ihr Leben ausgehaucht haben, so lebte der persisch-jüdische Messiasglaube in solch sonderbarer Metallurgie nicht nur säkularisiert fort. Auch nicht nur allegorisch, sondern symbolisch; denn es fehlt der Verwandlung zur Essenz die von einer Alteritas zur anderen schickende Mehrdeutigkeit, es eignen ihr in ihrem Zielpunkt Eindeutigkeit und unleugbarer Fanatismus des Überhaupt. Das Gold, das Glück, das ewige Leben befinden sich im Bleigefängnis; der gefangengehaltene Christus, die Gold-Entelechie aller Dinge und Wesen, muß durch die Generalreformation, deren die Alchymie ein Gleichnis ist, aus dem Kerker des Status herausgeführt werden. Geschichtsverbesserung und Weltverklärung verschränkten sich dadurch ebenso, wie sie ein organisch- anorganisches Heilandsmotiv in sich einbrachten. Nicht grundlos machte sich derart Andreä einen Leitspruch zu eigen, der wahrscheinlich schon dem Renaissance-Phantasten der Alchymie, dem Neuplatoniker Ficino, lehrreich war; einen alten Leitspruch aus den messianischen «Oden Salomonis «,von Philon herrührend oder von seiner Schule. Er lautet: »Nur der Reine, verwandelt durch eigene Umkehr, besitzt die totenerweckende Kraft, die gleich Blei in das Chaos gesunkenen Stoffe aufzulösen, zu erneuern und zu wecken. Durch das heilige Wasser, den Logos spermatikos, gibt er sie dem Dasein zurück und führt sie geläutert empor, bis alles Untere in die Höhe verwandelt ist.« Durch diesen Satz wird alchymistische Utopie-die kühnste und mythologischste, die in der Technik überhaupt möglich war wirklich in toto bezeichnet; noch über den »Christus der unreifen Metalle« hinaus. Bezeichnend ist schließlich, daß der Reine oder Katharer, der in den «Oden Salomonis« vorkam und der der arabischen wie christlichen Alchymie des Mittelalters fehlt, in der Reformationszeit ebenso wieder vortritt wie das «Reichshafte« innerhalb der Essenz. Der Reine wird bei Paracelsus zu einem chemischen Elias, zu »Elias Artista«, das Werk der Alchy- /(753) mie insgesamt wird zu dem des »großen Mai« oder eben des »Reichs«. Daher denn Paracelsus (Buch Paragranum, Kap. 3) von der Natur so messianisch wie chemisch-chiliastisch sagt: »Sie gibt nichts an den Tag, das auf seiner Stätte vollendet sei, sondern der Mensch muß es vollenden, diese Vollendung heißt Alchymia«; - das ist dies septimus oder Sonntag der Welt, vom Menschen geschaffen. Nicht zuletzt ist der Einfluß Joachims von Fiore und seines »Dritten Reichs« bei jeder Steinmystik während der Reformation und des Barock sichtbar; er und Ficino zusammen ergeben erst dies vielverschlungene alchymistische Rosenkreuzertum. Die Nebel wie die Weiterungen um die übliche Goldgier könnten so kaum bunter und vertrackter sein. Damit aber auch an diesem Ende das letzthin Unverwickelte, letzthin Eindeutige des alchymistischen Wunschtraums hervortrete, sei noch auf zwei deutlich joachitische Mutationsbücher aus dem Barock ( der Blütezeit der Alchymie) verwiesen; auf Sperbers »Traktat von den drei seculis«,
1660 publiziert, und auf die Schrift des Nolhus »Theoria philosophiae hermeticae«, 1617. Sperber, einer der echtesten Chiliasten, will nicht nur dartun, »daß noch eine güldene als die dritte und letzte Zeit hinterstellig ist, und was derselben Zustand sein wird«, er verheißt auch: »Das dritte Evangelium und die Kunst Alchymia werden zusammen hervorkommen.« Nolhus, ein systematischer Jünger des Paracelsus und verfolgter Rosenkreuzer, gab dem »Werk der Perfektion« eine völlige Klimax, auf die Generalreformation bezogen; der Stein der Weisen wird hier selber stufenhaft, wie seine Herstellung, er wird zur Himmelstreppe der Natur. Die chemische Klimax zum Endreich lautet: »Verus Hermes, Portae hermeticae sapientiae, Silentium hermeticum, Axiomata hermetica, De generatione verum naturalium« und zuletzt: «De renovatione«. Item, der Goldtraum war außer der Metallurgie, in die er technisch versenkt war, überall wirklich eine Art Befreiungsmythologie zugleich. Er war nie mehr als, bestenfalls, eine Mythologie, aber auch selten weniger als eine der Befreiung. So etwas wie Katharsis der Gegenstände, zugleich mit der der Seelen, hat seinen alchymistischen Hauptsinn vom späten Mittelalter bis in die Gleichnisse der Klassik, gar Romantik nicht verloren. Auch Goethe, in der /(754) Geschichte der Farbenlehre, bei Gelegenheit der Alchymisten, spielt noch auf diese Zusammenhänge an; er interpretiert sie sogar durch eine Art Kantianismus: »Hat man jene drei erhabenen, untereinander im innigsten Bezug stehenden Ideen, Gott, Tugend und Unsterblichkeit, die höchsten Forderungen der Vernunft genannt, so gibt es offenbar drei ihnen entsprechende Forderungen der höheren Sinnlichkeit: Gold, Gesundheit und langes Leben.« Die Alchymie hat gewiß kein Gold gefunden, hat dieses Ziel bei den phantastischen Prozeßmitteln auch nicht finden können. Trotzdem ist sie nicht nur als Vorläuferin der modernen Chemie zu entschuldigen, und auch ihr näherer Plan: die Umwandlung der Metalle (Elemente) als Plan selber, klingt in der Zeit der Atomzertrümmerung, der Elektronverlagerung der Elemente keineswegs mehr grotesk. Grotesk war vielmehr, daß man im vorigen Jahrhundert, im Darwin-Jahrhundert der »Umwandlung der Arten«, die anorganischen Elemente selber als unverrückbar ansah und den ganz identischen Ausdruck: »mutatio specierum« (er kommt zum erstenmal in der Alchymie vor) überhaupt nicht verstand. Vor allem aber ist, wie ersichtlich geworden, das Vorhaben der Alchymie mit partialen Umwandlungen überhaupt nicht erschöpft, wenigstens nicht im Jahrhundert kurz vor der Aufklärung. Die Inschrift auf dem Tor dieses verrufenen technischen Wunschtraums lautete vielmehr recht total: Jehi Or, Es werde Licht; - das also lag im Horizont der phantastischen Mutationen. Der überwiegende Teil der Goldkocher suchte zweifellos nichts anderes als einen immer gefüllten Beutel, machte hierbei weder sich noch anderen viel Höheres vor. Die Schwärmer dieser Gegend jedoch, vor dem gleichen Ofen sitzend, auch der Aussicht auf beliebig viel Dukaten durchweg zugeneigt, hatten außerdem noch eine Verklärung der Natur als Metamorphosen-Ziel im Sinn. Ungeregelte Erfindungen und »Propositiones« im Barock Ins bloß Blaue hinein ließ sich jederzeit beliebig, auch windig planen. Aber solidere technische Träume und auf Erweiterung der Werkzeuge gerichtete treten vor 1506 nur spärlich auf. So bemerkenswert auch römische Wasserleitungen sind, chinesi/(755) sches Papier und Pulver (nur für Feuerwerk verwendet), ägyptische Krane: erst kapitalistisch kamen mit dem Auftrag auch größere technische Entwürfe in Gang. Zwar finden sich um 550 in Byzanz bereits Pläne eines Schiffs mit Schaufelrädern, die durch Ochsen am Göpel bewegt werden; doch es blieb bei dem
Plan. Miniaturen zur mittelalterlichen Alexandersage zeigen bereits eine Art Unterseeboot, worin Alexander in die Tiefe sinkt und ihre Ungeheuer betrachtet; doch nur diese Seetiefe interessierte die Zeit, nicht das gläserne Unterseeboot. Eine vereinsamte Ausnahme stellt im dreizehnten Jahrhundert Roger Baco dar, der empirische und naturwissenschaftliche Franziskaner. Er hat in seiner »Epistola de secretis operibus artis« Wagen prophezeit, die ohne Hilfe von Tieren bewegt werden, »mit unglaublicher Geschwindigkeit«, auch Flugmaschinen, »in denen ein Mann, der bequem sitzt und über alles nachdenkt, die Luft nach Weise der Vögel schlägt«. Doch fand Roger Baco mit diesen Erfindungsträumen in einer Gesellschaft kein Interesse, die ebenso ständisch-statisch wie voll Mißtrauen gegen die Natur war. Erst in der Renaissance also, erst mit dem Geschäftsinteresse und Gewinnstreben des damals beginnenden Kapitalismus wurde die technische Phantasie öffentlich anerkannt und befördert. Renaissance und Barock sind sowohl das Zeitalter der technischen Windmacher à la Dr. Orfyréus, denen wir oben begegnet sind, wie vor allem der praktisch-tüchtigen Entwerfer. Es waren vielseitig herumbastelnde, allseitig herumprobierende Dilettanten, ohne zureichend mechanische Kenntnisse, doch überfließend von patentfähigen Einfällen. An der Spitze stand Joachim Becher (1635-1682), eine Prachtgestalt, die Sombart wieder kenntlich gemacht hat (vgl. »Die Technik im Zeitalter des Frühkapitalismus«, Archiv für Sozialwissenschaft, Bd. 34, Seite 721 ff.), ein Sonntagskind der Erfinderei: Becher hat dutzendweise Vorlagen in die Welt gesetzt, neue Webstühle, Wasserräder, Uhrwerke, ein Thermoskop, ein Verfahren, aus Steinkohle Teer zu gewinnen, und so fort. Sein Buch »Närrische Weisheit und weise Narrheit oder ein Hundert so Politische als physikalische / mechanische und merkantilische Concepta und Propositiones«, 1686, rast geradezu im Reich der unbegrenzten, der durchmathematisch-mechanische Sachkenntnis nicht erschwerten /(756) Möglichkeiten. Diese seltsame Beziehung zwischen Dilettantismus und Technik hat übrigens von der Renaissance noch bis weit ins achtzehnte Jahrhundert angehalten. Ein Arzt, ein Student der Theologie, ein Ägyptologe, ein Arbeiterjunge haben damals den Asphalt, die Strickmaschine, die Laterna magica, die Steuerung der Dampfmaschine erfunden, während die großen Naturforscher, wie Kepler, Newton, selbst Galilei, an Technik mehr nebenher interessiert waren und nur zwei Forscher: Guericke, als Erfinder der Luftpumpe, Huygens, als Erfinder der Pendeluhr, in der Geschichte der Physik und Technik gleich stark vorkommen. Der kapitalistische Auftrag war für Technik und Wissenschaft der gleiche, aber lange hing die Technik noch mit dem Handwerk zusammen, und fast nur bei Agricola( De remetallica, 1530) galt die praktische Beschäftigung der theoretischen im Rang gleich. Ein anderes kommt hinzu, das die Mehrzahl der damaligen Erfinder von mathematisch-mechanischen Kenntnissen ihrerseits fernhielt. Denn der magische Naturhintergrund war ihnen noch keineswegs eingestürzt; die Welt des Paracelsus hat sich gerade in den technologischen Büchern festgesetzt und lange erhalten. Vor allem in den mit Bergwerk beschäftigten; der Erdgeist oder ein Spukleben in der Tiefe hat damals so naiv auf die Technologen eingewirkt, wie es so viel später, in der Romantik, die Dichter und Naturphilosophen sentimentalisch wieder ergriff. Die Wetter waren Dämonen, die dem Bergmann nach dem Leben trachten, die steigenden Wasser der Tiefe hatten einen lebendigen Quell-Geist in sich, während die fallenden, die gehoben werden müssen, deshalb als tote Wasser galten, kurz, auch nach dieser Seite hin lebte die Technologie, nicht nur die Alchymie, in einer qualitativ-magischen, nicht in einer quantitativ-mechanischen Welt. Fast einzig in Italien, als dem damals kapitalistisch fortgeschrittensten Land, war Erfindung mit
frühem Kalkül verbunden. Um 1470 zeichnete der Ingenieur Valturio ein Auto, »Sturmwagen« genannt, mit Windmühlenflügeln an der Seite, der Antrieb wurde durch Zahnräder auf die Wagenräder übertragen, die Skizze war mathematisch durchgearbeitet. Und als Brunelleschi die Maschinen zum Bau seiner Florentiner Domkuppel selber zusammenstellte, waren es kombinierte Hebel und schiefe Ebenen in mathematisch überlegter Konstruktion. /(757) Was gar den kühnen Techniker Leonardo da Vinci angeht, so ist er der erste rein immanente, auf Kausalität (»Notwendigkeit«) basierende Erfinder und Forscher überhaupt. Scharfe Beobachtung, sorgfältige Berechnung standen seinen vielseitigen Plänen zur Seite; zuweilen mit den Fehlern des Pioniers, doch ohne allen Dilettantismus. So entwarf er den ersten Fallschirm, die erste Turbine (als Skizze erhalten: »Schraubenrad in einem Wasserkanal«), die erste Überführungsanlage (gleichfalls als Skizze erhalten: »Entwurf zu Straßenzügen, die übereinander liegen«). Er studierte den Vogelflug, um den menschlichen Flugtraum zu erfüllen, das älteste unter den technischen Wunschbildern überhaupt: »Ich beabsichtige, den großen künstlichen Vogel den ersten Flug nehmen zu lassen; er soll das Universum mit Verblüffung, alle Schriften mit seinem Ruhm erfüllen; ewige Glorie wird dem Nest werden, wo er geboren ist.« Der Vogel sollte sich in Florenz erheben, doch blieb es bei dem Plan, Ikarus stürzte nicht einmal, so wenig erhob er sich vom Boden. Und allerdings wurde die mathematische Mechanik, die Leonardo seinen Erfindungen zugrunde legen wollte, erst nach seinem Tod ausgebildet. Und weiter trat selbst Leonardo, trotz des mathematisch-konstruktiven Sinns, der ihn so charakteristisch auszeichnet, aus dem organischen Naturbild der Renaissance nicht ganz heraus. Im Gegenteil: «Die See des Bluts, so um das Herz herumliegt, ist das ozeanische Meer, ihr Atem und das Wachsen und Abnehmen des Bluts durch die Pulse ist bei der Erde die Ebbe und Flut des Meers, und die Wärme der Seele der Welt ist das Feuer, so der Erde innewohnt, und der Aufenthalt der vegetativen Seele sind die Feuer, die aus verschiedenen Orten der Erde in Bäder hauchen« (Richter, Literary works of Lionardo da Vinci, 1883, S.1000). Selbst noch Leonardo hat sich derart mehr «sympathetisch« als quantitativ zur Natur verhalten, obwohl, ja weil er sie bereits in Zahlen geschrieben glaubte. Der Erfinderwille in Renaissance und Barock insgesamt bleibt doch wesentlich im Impromptu, mit dem Glauben, daß Erfinden ein geheimnisvoller Vorgang sei, so wie letzthin die Natur, in die es sich begibt. Joachim Becher, der seiner Zeit als das größte Erfindergenie galt, spricht selber ergriffen von der ihm zuteil gewordenen, unerwerbbaren Gabe, dem »Donum inventionis«. Es ist für Becher /(758) nicht an professionelle Kenntnis gebunden: »Hier ist kein Ansehen der Person noch Profession; Könige und Bauern, Gelehrte und Ungelehrte, Heiden und Christen, Fromme und Böse sind damit begabt worden. » Die Erfinderei baute lange noch ins Unbekannte und machte es dadurch erst bekannt, sie erzeugte die nie dagewesene, zusätzliche Arbeitskraft der Maschine, oft aber ohne mehr Anschluß ans Vorhandene haben zu wollen als den der Gabe, der glücklichen Hand und des Zufalls, der für die Gabe zum Glück wird. Bacons Ars invenicndi; Fortleben der Lullischen Kunst Bewußt erfinden, auch das trat zuerst nur als Traum und Planen auf. So bei Francis Bacon, in seinem »Novum Organon scientiarum», 1620, und den dort noch recht allgemein erteilten induktiven Angaben. Gefordert werden Experimente, operatives Wissen um Naturgesetze, Abkehr vom Mythos, Vorsicht gegenüber teleologischen Erklärungen. Handwerk-Tricks fallen weg, auch Handwerk-Geheimnisse, auf bloß
manueller Geschicklichkeit oder Zufallsrezepten beruhend, erst recht magisch-theosophische Hintergründe. Bacon spricht zwar in seiner postumen Schrift »Sylva sylvarum or a Natural Historv» nicht unfreundlich von Alchymie, er hält Goldmachen für möglich, als Reifung der »leichteren Metalle«, doch er verspottet die angewandten Methoden, besonders die erstrebte »Projektion« mit dem Stein der Weisen, diesen »paar Tropfen Elixier«. Er verspottet das wie alles Jähe und Wunderbare; deshalb sind auch die oft behaupteten Beziehungen Bacons zu den Rosenkreuzern fragwürdig. Einzig Bacons Abzielung auf ein »regnum hominis« berührt sich mit der »höheren Alchymie«, doch das regnum war als Naturbeherrschung gedacht, nicht als Naturverklärung oder als Joachims »Drittes Reich«. Gar die »Ars inveniendi« im »Novum Organon scientiarum« will das theoretische Finden wie das praktische Erfinden gänzlich auf Erfahrung gründen (statt auf Hintersinnliches) und auf geregelte Induktion (statt auf wortgläubige Deduktionen). Nur durch Beobachtung und Zerlegung seien die »beständigen Eigenschaften», die »primitiven Formen« aller Dinge erkennbar; nur so gelinge das Ziel des Wissens: /(759) »Hervorbringung von Artefakten«. Auch Kenntnis der früheren Erfindungsträume soll hierzu nützlich sein, doch wesentlich so, daß an ihnen hervorgehoben wird, was den Menschen als vermessen oder als unmöglich schien und was ihnen trotzdem im technischen Traum lag. Das Register der verwirklichten, besonders der unverwirklichten Pläne gebe auch nützliche Winke zu Erfindungsideen, die bisher »jenseits der Säulen des Herkules« lagen: doch nur das Schiff wirklicher Experimentierkunst werde die goldenen Gärten der Hesperiden erreichen. Nur auf diese Art werden nach Bacon die alten Märchen wahr, sie verwirklichen sich nicht, indem sie immer geschwätziger, immer epigonaler auf der alten Stelle tretend forterzählt werden. Und genauso wie das ungeregelte Antizipieren mache der zänkische Wort- und Deduzierungskram unfruchtbar: »Die bisherigen Wissenschaften haben eine wahrhaft sprechende Ähnlichkeit mit jener fabelhaften Scylla, die von Gesicht eine Jungfrau war, am Leib aber in bellende Untiere überging. Oben nämlich im Gesichte, das ist: in ihren allgemeinen Sätzen betrachtet, haben sie wohl ein schönes und verführerisches Aussehen, aber wie man auf die besonderen Sätze kommt, die gewissermaßen die Zeugungsorgane der Wissenschaft bilden, so findet man, daß sie zuletzt in bloße Wortstreitigkeiten enden, wie der Leib der Scylla in bellenden Hunden« (Novum Organon, Vorrede). Wissen ist Macht, auch als Macht, die alten Erfinderträume, ja die der Magie zu erfüllen, wo nicht in Kühnheit zu überbieten: »Wenn sich die Magie mit der Wissenschaft vereinigt, wird diese natürliche Magie Taten vollbringen, die sich zu den früheren abergläubischen Experimenten verhalten wie die wirklichen Taten Cäsars zu den eingebildeten Arturs von der Tafelrunde, das heißt, wie Taten zu Märchen, die dazu noch Geringeres träumen, als jene ausführen.« Der Ausdruck »Magia naturalis« stammt von einer Schrift des Neuaristotelikers della Porta aus der Renaissance und war bei diesem bereits gegen die damaligen Kabbalisten und Zaubergläubigen gerichtet. Im Einzelnen freilich zeigt Bacon mehr die Lücken des bisherigen Wissens, als daß er sie füllt, gibt er selber mehr Desiderate, als daß er die »natürliche Magie« aufbaut. Auch ist seine Induktionstechnik, auf die Auffindung der »primitiven Formen« gerichtet, noch selber weit mehr schola- /(760) stisch als naturwissenschaftlich. Auch hat er, was den Zeitgenossen geradezu als rückständig an diesem »Novum Organon«, dieser »Nova instauratio scientiarum« erschien, die Mathematik als bloßen Anhang zur Physik und keineswegs als deren methodische Grundlage betrachtet. Das freilich mit der noch ganz organisch-naturphilosophischen Begründung, daß »die Mathematiker die Physik verderben«, weil diese es mit dem
»Qualitativen zu tun habe» (zum Beispiel mit der »Form der Wärme«). Doch hat Bacon in riesiger Voraussicht, wenn nicht die Wege, so die verschiedenen, damals noch ganz unbetretenen Kader und Räume gezeigt, worin sich gerade die moderne Naturwissenschaft, mit rein kausal-mechanischer Technik, entwickeln sollte. Geregelt erfinden, das setzt hier also den Gang vom Einzelnen zum Allgemeinen voraus. Aber so sehr der induktive Schluß solide ist, so wenig will und kann er doch über einen mehr oder minder hohen Grad von Wahrscheinlichkeit hinaus. Er ist im strengen Sinn gültig nur für die Summe der beobachteten Einzelfälle, doch nicht für alle die anderen, unbeobachteten, auf die das gewonnene allgemeine Gesetz nun ausgedehnt wird. Wogegen gerade die von Bacon abgelehnte Deduktion Notwendigkeit mit sich führt, wenigstens formallogisch: wenn alle Menschen laut Obersatz sterblich sind, so muß Cajus als Mensch nicht nur wahrscheinlich, sondern notwendig sterben. Und was diese Art der Wissenschaftsvermehrung angeht, so hat es, wie von Bacon selbst erinnert, bereits im Mittelalter, also in ziemlicher Nähe zu Arturs Tafelrunde, eine Ars inveniendi gegeben, die sogar als Maschine auftrat. Es war die sogenannte Lullische Kunst oder der technisch hergestellte Siebenmeilenstiefel des deduktiven Begriffs, des Syllogismus. An solchen Werkzeugen: als denen der Erkenntnis, nicht der Veränderung, hatte auch das technisch so wenig lebhafte Mittelalter Interesse. Der seltsam rationalistische Scholastiker Raimundus Lullus hatte um 1300 einen Apparat hergestellt, mittels dessen jede Art von deduktiver Ableitung entdeckt und nachgeprüft werden sollte. Der Apparat (»Instrumentum ad omnis scibilis demonstrationem«) bestand aus einem System konzentrischer Kreise, auf deren jedem eine Begriffsgruppe fächerartig aufgetragen war. Durch Verschiebung dieser Kreise sollten alle überhaupt nur möglichen Kombinationen /(761) zwischen Subjekt und Prädikat zustande gebracht werden; wobei die Zahl der möglichen Subjekte wie die der möglichen Grundprädikate (Prädikabilien), folglich die Anzahl der Scheiben feststand. Es gab derart eine Figura Dei, welche die ganzeTheologie, eine Figura animae, welche die ganze Psychologie »enthielt«, eine Figura virtutum mit den sieben Tugenden und Todsünden in abwechselnd blauen und roten Kammern (s. die Einzelheiten bei J. E. Erdmann, Grundriß der Geschichte der Philosophie 1, § 206, 4-12; Tafel bei Stöckl, Geschichte der Philosophie des Mittelalters II, 1865,S.936). Die Lullische Kunst wollte so eine Anleitung geben zur Auffindung des an jedem Gegenstand kategorial Bestimmbaren, wissenschaftlich Unterscheidbaren, Verbindbaren, Beweisbaren. Und die Hoffnung des Lullus eben war: die Kombinationsmaschine des Wissens umzirkelt und erschöpft jede überhaupt nur sinnvoll mögliche Abwandlung der Erkenntnis. Sie demonstriert buchstäblich ad oculos, dergestalt, daß der Wißbegierige die erzrationalistische Ableitung der Einzelbestimmungen aus Ideen auch sehen, nicht nur einsehen kann. Dies alles in abgekürztester Deduktionsweise, gegründet auf die Aristotelische Topik, freilich auch nicht ohne Zusammenhang mit der Plotinischen, ja kabbalistischen Emanationslehre der Welt aus Ideen. In facto jedenfalls kam die erstaunlichste Maschine zustande, die einer »Ars magna« als Ars inveniendi und Ars demonstrandi zugleich, dargestellt in Zeichen, Kreisen, Tafeln, in den Reduktionen einer Art logischer Logarithmenuhr. Giordano Bruno suchte die Lullische Kunst durch Verringerung der Kreise zu verbessern, Pico della Mirandola setzte sie zum erstenmal mit der pythagoreischen Zahlenlehre in Verbindung. Dem Bedürfnis des bürgerlichen Kalküls nach einer rechnerischen Universalableitung alles Gegebenen aus wenigen logischen Elementen oder Prinzipien (»ersten Wahrheiten«) mußte die Lullische Kunst ohnehin unvergeßlich bleiben, mindestens ihrer Intention nach.
Leibniz begann seine Laufbahn mit der Schrift »De arte combinatoria«, 1666, worin er im Anschluß an Lullus und Bruno die Verbindungsweisen der Begriffe als berechenbare behandelte; so daß man einen Denkfehler mit derselben Klarheit und Zweifellosigkeit wie einen Rechenfehler werde aufzeigen können. Sein Leben lang forschte Leibniz der gültigen Kombinatorik aus /(762) einem »Alphabet der Gedanken« nach, wonach sich neue Wahrheiten gleichsam mechanisch finden lassen. Äußerst elementarisiert lebt diese «Ars combinatoria« sogar in den mannigfachen Rechenmaschinen fort; allerdings nicht, um neue Wahrheiten zu finden, sondern um, wie im sogenannten Maniac (Mechanical and Numerical Integrator and Calculator) gelungen, zwei zehnstellige Zahlen in weniger als einer tausendstel Sekunde zu multiplizieren. Pascal hatte den ersten mechanischen Kalkulator konstruiert, mit rotierenden Rädern, heute ist aus dem arithmetisierten Lullus-Traum eine ganze Denkindustrie geworden, mit Geschwindigkeit als Hexerei. Auch das neueste amerikanische Maschinenwesen, das in Norbert Wieners «Kybernetik« vorerst kulminiert, führt noch ein Stück vom mechanischen Einfall des Lullus mit sich. Auf solche Automatismen ging dessen Plan allerdings nirgends, selbst ein mathematisches «Alphabet der Gedanken« lag der Lullischen Kunst, dem Zeitpunkt ihrer Entstehung nach, noch hinter dem Horizont. Lullus hatte mit seiner Maschine, von Haus aus, vielmehr eine - missionierende Absicht; die Erfindung war geplant als eine Art deduktiver Glaubensapostel. Dergestalt hatte Lullus beabsichtigt, durch die unwiderlegbaren, von jedem Denkfehler freien Demonstrationen seiner Maschine alle Ungläubigen von der Wahrheit der christlichen Religion zu überzeugen. Dieser Zweck ist freilich auch von Francis Bacon und seiner »natürlichen Magie« so fern wie möglich, noch ferner als von Leibniz. Bacon spricht daher fast verächtlich von Lullus, und das nicht nur wegen der scholastischen Mythologie selber, sondern auch wegen der abenteuerlichen Deduktion und Subsumtion, in denen ihr Räderwerk sich bewegt. Trotzdem hätte wegen der Technizität die Lullische Erfindung auch in Bacons «Ars inveniendi« ganz gute Figur gemacht, wie sehr erst in seinem utopischen Instrumentensaal (Theatrum mechanicum). Nicht einmal der leidenschaftliche Preis der Induktion steht dem im Wege; denn auch Bacons Induktion will ja noch »die Grundform der Sachen« erforschen und läßt am Ende, obwohl das Wort Deduktion geflissentlich fehlt, »Herabsteigen« zu, nämlich vom Gesetz der Formen zum Experiment ihrer erscheinenden Selbstanwendung. Darin erst vollendet sich, zum Unterschied von rein empirisch-planem Fortgang, für Bacon /(763) geregelte Erfinderkunst: »Unser Verfahren ist daher nicht dieses, daß aus Experimenten die Ursachen und Gesetze (causae etaxiomata) und aus Ursachen und Gesetzen wieder neue Experimente gezogen werden. Diese Methode liegt nicht in einerEbene (neque in plano via sita est), sondern im Aufsteigen und Herabsteigen, im Aufsteigen erst zu Gesetzen, dann im Herabsteigen zu den Experimenten« (Novum Organon I,Aph. 103). In diesem adescendendo ad operas war für Bacon die «Ars inveniendis ebenfalls ein Stück Lullische «Ars magna«; gerichtet gegen das Probier-, Fehlschlags-, erneute Probier-Verfahren (trying and error method) der Banausen, - nicht bloß der abergläubischen. Das Wissensziel aber war für den englischen Projektanten nicht Wissen um seiner selbst willen, sondern - ganz in der Art des Marloweschen Faust Macht durch Wissen, ein neues Atlantis, wo alles dem Menschen dient, zum Besten dient. Nova Atlantis, das utopische Laboratorium
Und wenn vielleicht in hundert Jahren Ein Luftschiff hoch mit Griechenwein Durchs Morgenrot käm' hergefahren Wer möchte da nicht Fährmann sein? Gottfried Keller Doch der Herd liegt noch weit weg, auf dem die neuen nützlichen Dinge geraten. Schiffbrüchige erreichen in Bacons Ferntraum eine Insel in der Südsee, werden dort mit Erfinden, wie es sein soll, bekannt gemacht. Was anderswo zögernd und regellos begonnen, wird auf der »klugen Insel« beendet; ein eigener naturforschender Stand schafft dort Unerhörtes. Bacons »Nova Atlantis «, 1623, erschienen gleichzeitig mit Campanellas »Civitas solis«, sollte nach dem Plan des Urhebers zwei Fragen beantworten: die nach dem besten Forschungsinstitut, die nach dem besten Staat. Die unvollendete Schrift beantwortet nur die erste Frage, sie stellt ein «Haus Salomonis« dar, weit, hell und breit. Was der weise König magisich wußte und konnte, der Sage nach, wird hier wirklich ausgeführt, soweit es in menschlichem Vermögen und Nutzen liegt. Die Stimme der Vögel wird nicht verstanden, Geister werden keine zitiert, desto besser wird der Ysop gekannt, /(764) der auf der Mauer wächst. Auch die sagenhaften Kenntnisse der Atlantier sind erinnert, die Platon im Kritias berichtet, mit ihren Kanal- und Bronzekünsten. Aber bei Bacon geht es nicht um verschollene, sondern um utopische Pracht, nicht um vormykenische, sondern um nachgotische Zeit. In seiner neuen Atlantis läßt Bacon Erfindungen gelungen sein, die zum Teil immer noch bevorstehen, er deutet sie in verblüffender Antizipation an. Wenn auch in bloßer des Resultats, nicht etwa der Wege zu ihm hin, wie sie der Autor eines »Novum Organon« intendiert hat. Mißachtung der Mathematik verhinderte Bacon an der Vision der Erzeugung, die Vision der Früchte ist desto reicher. Die technische Prophetie Bacons ist einzigartig; sein «Desiderienbuch« enthält so ziemlich die moderne Technik in Wunschandeutung und geht darüber hinaus. »Wir haben Mittel«, erklärt der Chef des Salomonischen Hauses, »um künstlichen Regen oder auch Schnee herzustellen und künstliche Höhenluft. Wir züchten in Treibhäusern neue Pflanzen- und Obstarten, wir verkürzen den Reifevorgang, mischen die Tierarten nach unserem Bedarf, mineralisieren unsere Bäder, erzeugen künstliche Mineralien und Baustoffe.« Vivisektion fehlt nicht: »Wir versuchen alle Gifte und Heilmittel erst an Tieren, sowohl pharmazeutisch wie chirurgisch.« Die Atlantier kennen das Telefon und nicht minder das Unterseeboot: «Wir haben Mittel, um den Schall durch Rohre und pfeifen auf weite Entfernung und in gewundenen (dirigierten?) Richtungen zu übertragen (to convey sounds in trunks and pipes, ad magnam distantiam et in lineis tortuosis).Wir haben Schiffe und Boote, die unter Wasser tauchen und so die gröbste See aushalten.« Auch das Mikrophon fehlt nicht: «Wir verwandeln leise Töne in laute, ebenso laute in abgeschwächte und schmale«; Atlantis kennt sogar, incredibile dictu, die modernste Vierteltontechnik: «Wir haben Harmonien aus Vierteltönen (quarter-sounds, quadrantes sonorum) und noch geringeren Gleittönen. « Es gibt Fernrohr und Mikroskop: «Wir haben Gläser und Vorrichtungen, um kleine und winzige Körper vollkommen und deutlich zu sehen, so die Formen und Farben kleiner Fliegen und Würmer, Körnchen und Risse in Edelsteinen; auch Betrachtungen im Urin und Blut finden dadurch statt, die auf normale Weise nicht möglich sind.« Das Haus Salomonis /(765) birgt weiter Flugzeuge, Dampfmaschinen, Wasserturbinen und noch andere »Magnalia naturae«,
»Großtaten der Natur«, mit ihr und über sie hinaus. So ist »Nova Atlantis« nicht bloß die erste technisch-reflektierte Utopie, ja, d'Alembert nannte diese Schrift (so die Wunschmodelle der Märchen selber überbietend) «un catalogue immense de ce qui reste à découvrir«. Bacons Schrift ist auch in der Folge die einzige Utopie klassischen Rangs, welche den technischen Produktivkräften des besseren Lebens entscheidenden Rang gibt. Anders jedenfalls als im wirklichen Lebenwaren in Utopien die Maschinenwelt und die ökonomischsoziale nicht immer verbunden. Hier hätte Bacons »NovaAtlantis« Nachfolge verdient, eine der technischen Entwicklung und ihren immanenten Möglichkeiten ernsthaft entsprechende. Außer daß die technische Komponente in keinem Staatsroman anders denn als Zierwerk auftrat, standen Sozialutopien, wie bei Owen ersichtlich, oft sogar hinter dem erreichten technischen Stand ihrer Zeit zurück. Neben Bacon macht hier höchstens Campanella eine Ausnahme, sofern auch er, wenngleich ohne Bacons mächtigen Witz, von ungeborener Technik träumt, ja von ungeborener Architektur. Fast so erfindungsfreudig wie Bacon verheißt er in der «Civitas solis«, daß »die Entwicklung der Druckpresse und des Magnetismus die kommenden Jahrhunderte mit mehr Geschichte füllen wird, als die Welt in viertausend Jahren vorhersah«. Aber Campanellas Utopie könnte auch ohne diese Durchbrüche durch die vorhandene Natur bestehen, sie widerspricht ihnen sogar in ihrer astrologisch-statischen Gestalt. Wogegen »Nova Atlantis« in jedem Betracht hinter den Säulen des Herkules liegen will, das ist: über die Einbindung durch gegebene Natur hinaus. Bacons Fragment, in seinem technischen Optimismus, kennt nicht einmal mehr Katastrophen, es gibt in dem beherrschten Erdreich kein schlagendes Wetter mehr. Von den schlagenden Wettern, die nicht die Natur, sondern die unbeherrschte menschliche Geschichte erfüllen, von den verschiedenen brennendenTrojas ist freilich nicht die Rede. Das Schicksal erscheint rein technisch so zurückgedrängt, daß das Haus Salomonis mit ihm bereits fertig zu sein scheint, bevor der Staat Salomonis sich auch nur entwickelt. Die Frage, was die Menschen mit ihrer knowledge and power anfangen, innerhalb der sozia- /(766) len Natur, die Bacon, der gestürzte Staatskanzler, doch nicht ganz ohne Katastrophen gefunden hatte, stellt Bacon, der Philosoph, in diesem seinem Fragment noch nicht; kurz vor der Frage nach dem besten Staat bricht ja »Nova Atlantis« ab. Doch lassen sich die Linien der ungeschriebenen Fortsetzung, Salomonis Reich betreffend, aus den übrigen Schriften des Philosophen durchaus erraten. Im Gegensatz zu einem verabsolutierten Technizismus erraten; denn Bacon ist, entgegen der landläufigen Meinung, weder ein purer Utilitarier noch ein purer Empirist. So sehr er auch das tätig erfindende Leben preist, so setzt er doch das denkende vorher: »Das Lichtbringende geht dem Fruchtbringenden vorauf und ist deshalb wertvoller.« Richtig und heilsam erscheint dem Träumer der »Nova Atlantis« nur ein Gleichgewicht des kontemplativen und des tätigen Lebens: »Am besten ist eine Verbindung, die der Konjunktion der beiden höchsten Planeten gleicht, des Saturn als Fürsten der ruhigen Beschauung, des Jupiter als Fürsten des tätigen Lebens.« Das Haus Salomonis aber ist eingebaut in ein schließlich ruhiges Reich: Die Naturbeherrschung (in der der Mangel und die Katastrophen aufhören) dient bei Bacon der Aufrichtung eines »regnum hominis«. Dieses Reich und Wissensziel ist bei Bacon mit den Hoffnungen erfüllt, die der frühe Kapitalismus durch die Entfesselung der Produktivkräfte noch für die Menschheit hegen konnte: »Zweck der Wissenschaft ist daher nicht Befriedigung der Neugierde oder auch die Fertigkeit, Geld und Brot zu verschaffen. Die Wissenschaft soll nicht ein Ruhebett sein für den von Neugier gequälten Geist oder ein Spaziergang zum Vergnügen oder ein hoher Turm, von dem man verächtlich herabblickt, oder eine Burg und Schanze für Streit
und Hader oder eine Werkstatt für die Gewinnsucht und den Wucher, sondern ein reicher Warenbehälter, eine Schatzkammer zur Ehre des Werkmeisters aller Dinge und zum Heil der Menschheit« (Novum Organon I, Aph. 81). Aus einerWelt voll Seuchen, Mangelkrise, Unterproduktion, aus einer Welt, der Bacons bewunderter Montaigne zugerufen hatte: Grace à l'homme, sollte zu dem Überfluß herausgetreten werden, der früheren Utopien einzig durch ihre Verlegung in eine »paradiesische Natur« erreichbar schien, zu dem Überfluß, der dem regnum hominis vorhergeht wie das Essen dem Tanz. Der Plan des /(767) »Hauses Salomonis« ist durch Technische Hochschulen und Laboratorien unterdessen erfüllt worden, über Bacons Träume hinaus; mit dem regnum hominis hat es noch gute Wege. Und auch die »Hervorbringung von Artefakten« in Bacons Sinn, die nicht nur prometheische, sondern auch künstliche Hervorbringung hat in der Folge die Katastrophen in der Technik nicht abgeschafft. In der gekommenen bürgerlichen Ökonomie und Gesellschaft blieb zwar der Kontakt mit der Natur, doch er blieb abstrakt und unvermittelt genug. Bacons großer Grundsatz: »Natura parendo vincitur«, Natur wird durch Gehorchen besiegt, blieb lebendig, doch er wurde durch das Interesse einer »Ausbeutung« der Natur durchkreuzt, durch ein Interesse also, das mit der natura naturans, die Bacon noch kennt und als »causacausarum» auszeichnet, nichts mehr zu tun hat, geschweige daß es mit ihr verbündet wäre. Auf diese Art entstand, neben allen Segnungen, ein so eigentümlich artifiziell-abstraktes Wesen an der bürgerlichen Technik, daß sie wohl auch, in manchen ihrer listigen Erfindungen, als noch »unnatürlich» fundiert wirken kann und nicht nur als noch unmenschlich verwaltet. Das »Haus Salomonis«, so scheint es, kommt doch nicht ohne Salomo aus, das ist ohne Naturweisheit. Sie enthält, wie jede Weisheit, Bezug zu ihrem Gegenüber, der Natur; das doch auch in ihr, nicht bloß über ihr erreichte regnum hominis hätte es dann leichter. II NICHT-EUKLIDISCHE GEGENWART UND ZUKUNFT, TECHNISCHES ANSCHLUSSPROBLEM Auch Pläne müssen angetrieben werden Es gibt keinen inwendigen Drang an sich, etwas zu erfinden. Immer ist ein Auftrag dazu nötig, der Wasser auf die geplanten Räder gießt. Jedes Werkzeug setzt genaue Bedürfnisse voraus und hat den präzisen Zweck, sie zu befriedigen; sonst wäre es nicht da. Der Hunger hat gerade hier alles begonnen, die frühesten Werkzeuge sind die zur Jagd und zum Fischfang, erstere dienten zugleich als Waffen. Der Pflug, die Erfindung des Spinnens und Webens, die Töpferei: auch wenn einiges davon mit /(768) Schmuck bedeckt worden ist, so war dieser doch nirgends primär, oder er diente, als geglaubtes magisches Zeichen, selber einem nützlichen Zweck. Und bis heute ist der Erfinder, auch als Träumer, ein praktischer Mann. Zugleich ist er mehr als jeder andere geistige Hersteller sich dessen bewußt, kein aus sich rollendes Rad zu sein. Wären die englischen Bergwerke nicht in Gefahr gewesen zu ersaufen, so hätte Watt vergebens, wie so viele andere vorher, den zischenden Teekessel, den ohnehin sagenhaften, beobachtet. Und ohne gesellschaftlichen Auftrag wäre im Geist keines Erfinders, etwa aus innerer Berufung, das Bild der Strickmaschine oder der Kettenschiffahrt aufgeblitzt. Sowenig wäre es ohne Auftrag aufgeblitzt wie heute das Erfinden von künstlichen Rohstoffen oder gar von Atombomben. Verkannte Erfinder sind daher, in besonders klarer
Weise, solche, welche zu früh kommen oder auch, wie heute im stockenden Westgeschäft, zu spät. Hier gibt es nur zwei Arten von Einfällen, solche, welche abgenommen, und solche, welche nicht abgenommen werden können; letztere sind auch als Entwürfe nicht recht da. Ein Erfinder kann nichts Überflüssiges tun, noch hat einer je im Sinn gehabt, es zu planen. Spätbürgerliche Drosselung der Technik, abgesehen von der militärischen Der bürgerliche Auftrag, zu erfinden, läßt seit längerem bezeichnend nach. Vor der letzten Krise wurde zuviel produziert, als daß das Kapital es bewältigen konnte. Hungersnot begann, keine wegen Mißernte wie in früheren Zeiten, sondern weil die Speicher zu voll waren. Wie augenscheinlich und bekannt, ist die privatkapitalistische Wirtschaft der Produktion, die sie einst entfesselt hat, selber zur Fessel geworden. Nur noch neue Todesmittel sind interessant, kurz vor und während des Krieges, die Kriegstechnik blüht, die friedliche hängt ihr an. Und auch ein zweites Motiv kommt zu dieser Drosselung hinzu, eines aus ganz entgegengesetzter, nämlich sozialistischer Gegend. Der Sozialismus ist in gegenwärtiger Zeit dringender an der Veränderung der zurückgebliebenen Gesellschaft interessiert als an der einer ohnehin fortgeschrittenen, ohne weiteres übernehmbaren Technik. /(769) Die Technik ist bereits kollektiv: aus der individuellen Werkstatt, worin der Meister mit seinen paar Gesellen noch mitarbeitet, ist längst die Fabrik der Hunderte und Tausende geworden. Aber der Privatbesitzer der Fabrik, der an der Produktion nicht mitarbeitet, ist noch individuell durchaus aus gesellschaftlichen, nicht aus technischen Gründen. Es ist ja gerade der Widerspruch zwischen der Reife, auch der längst kollektiven Form der Produktion und der veralteten privatkapitalistischen Aneignungsform, welcher den Nonsens der kapitalistischen Wirtschaft besonders kenntlich macht. Die Technik ist, sofern sie Lebensmittel-, nichtTodesmittel-Technik darstellt, cum grano salis selber schon sozialistisch; sie braucht mithin weniger Zukunftspläne als die Gesellschaft. All das kommt zusammen, um technische Utopien lange nicht so aufregend zu machen wie noch zur Zeit Jules Vernes. Nicht bloß weil der Himmel von falschen Vögeln wimmelt, mittels derer die Erde bedeutend kürzer als in achtzig Tagen umreist werden kann, sondern vor allem eben, weil auch utopisch ein zeitweiliges Moratorium der Technik gekommen ist. Der Ausdruck Moratorium der Technik stammt aus der langen Krisenzeit vor dem zweiten Weltkrieg und ist insofern weit sachlicher als der Produktionsjubel, den ein sogenanntes Wirtschaftswunder infolge des zweiten Weltkriegs, das danach ist, flüchtig angeregt hat. Surpluskrise, das mehr als zyklische Schicksal des Monopolkapitalismus, steht dem Grünlicht immer wieder entgegen, dem Auftrag, den das Kapital, in seiner progressiven Zeit, technischem Wagemut gegeben hatte. Der Unterschied zum Erfindungstempo von 1750 bis 1914 ist und bleibt schneidend; keine Investierung von heute fühlt auch nur annähernd sich so noch elektrisiert. Ganz wider eiligen Anschein und Propaganda geht das gerühmte technische Tempo, Veränderungen des Zivillebens betreffend, eher wie das einer Postkutsche voran, verglichen mit dem der industriellen Revolution und dem neunzehnten Jahrhundert. Was war einmal aus dem alten Papinschen Topf geworden, als das Kapital daran interessiert war, den Dampf Arbeit leisten zu lassen. Und welcher Weg in kurzer Zeit von der Newcombschen Dampfmaschine, die kaum dazu ausreichte, ein Bergwerk zu entwässern, zur Dampfmaschine Watts, mit Schieber, Exzenter, Schwungrad und den industriellen Folgen. /(770) Was war einmal aus dem geriebenen Bernstein von einst geworden
und aus dem Magneten, als das Interesse an elektrischer Arbeitskraft dem am Dampf zur Seite trat. Welch mächtiger Korpus wurde der Magnet in der Dynamomaschine, welche Veränderungen hat dieses induktionselektrische Wesen reißend in die Welt gebracht, in eine, die die Produktivkräfte noch entfesseln wollte. Dreißig Jahre nach Eröffnung der ersten Eisenbahnstrecke war Europa kreuz und quer mit Schienen belegt, und nicht einmal so viel Zeit verstrich nach der Erfindung der ersten induktionselektrischen Apparate, bis kaum ein Dorf ohne Telefon war und keine Stadt ohne Elektrizitätswerk. Dagegen die neue, die riesige Entdeckung unserer Zeit: die Atomenergie, sicher umwälzender als Dampfkraft und Elektrizität zusammen, wurde außerhalb der Atombombe von amerikanischen technischen Zeitschriften lediglich als »the next century's power« bezeichnet. Da zur Zeit dieser Prophezeiung das jetzige Jahrhundert nicht zur Hälfte abgelaufen war, wird die Revolution durch die neue Produktivkraft nicht einmal auf die Kinder, sondern auf die Urenkel abgeschoben: die Sowjetunion hat dagegen das erste Atomkraftwerk errichtet. An Amerikas Zaudern ist keineswegs sachliche Schwierigkeit beteiligt, denn die Atombombe, diese hat es ja, kraft des imperialistischen Auftrags, am frühsten hergestellt. Beteiligt bleibt vielmehr ein Gesellschaftszustand, der die Ruhmesblätter der Technik, wie man im neunzehnten Jahrhundert sagte, nicht mehr leicht erträgt. Trotz der Ablenkung, die der technische Fortschritt oder besser: die Anpreisung des technischen Fortschritts ideologisch leistet. Trotz der Möglichkeit, daß auch das Öl- und Kohlenkapital sich Atomenergie beibiegt, damit sie kapitalistisch schlecht und recht kanalisiert werden kann, solange es nur geht. Durch Furcht vor weiterer Überproduktion wird selbst der Fortgang längst eingeleiteter Erfindungen erstaunlich verlangsamt, wenn er auch nicht verhindert werden kann. Die Chemie setzt zwar die Erfindung von Ersatz fort, wie das neunzehnte Jahrhundert ihn mit künstlichem Indigo begonnen hatte. Sie bringt Gummi, Öl, Textilien synthetisch zustande, sie bricht sogar in Stahl und Zement ein, aus dem neuen Material »Plastic« lassen sich vermutlich ganze Autos pressen, Hebekrane, Eisenbahnen, Mietskasernen, Wolkenkratzer backen. /(771) Hinter dem Flugzeug droht oder fasziniert der abenteuerliche Raketenantrieb, mit »Versorgungsraketen«, »Mehrstufenraketen«, »Außenstation« (künstlichem Erdmond); das desto unaufhaltsamer, als gerade dergleichen imperialistische Kriegsinteressen einladet. Aber trotzdem fehlt das Installations- und Industrialisierungstempo des vorigen Jahrhunderts; der Sprung von der Postkutsche zur Eisenbahn war in der Veränderung der Lebensverhältnisse unvergleichlich größer als der von der Eisenbahn zum Flugzeug. Wobei nicht einmal an den Bombenhagel gedacht zu werden braucht, unter dem das Flugzeug den meisten begegnet ist, sie wohl auch befördert hat, ins Jenseits. Der latente Maschinensturm des Spätkapitals wirkt der Fortbewegung des Edisonhaften überall entgegen, obwohl es, einmal in Gang gekommen, nicht so leicht zu stoppen ist. Insgesamt aber: Erfindung hat erst dann wieder wirkliche Utopie im Leibe, wenn Bedarfswirtschaft statt Profitwirtschaft betrieben wird. Wenn endlich das Gesetz des Sozialismus: maximale Bedarfsdeckung auf dem Stand der höchsten Technik, das Gesetz des Kapitalismus: maximalen Profit, abgelöst hat. Wenn der Konsum imstande ist, alle Produkte aufzunehmen, und die Technik, ohne Rücksicht auf Risiko und private Rentabilität, wieder zur Kühnheit, ohne alle imperialistisch beförderte Dämonie, beauftragt wird. Entorganisierung der Maschine Atomenergie, nicht-euklidische Technik
Das liegt desto näher, als unter der jetzigen Kruste sich ein anderer Zug regt. Weit über Ersatzstoffe hinaus, so sehr es auch in deren Gebiet liegen mag, nämlich im nicht mehr gewachsenen, künstlichen oder allzu künstlichen. Das Ungewachsene fing bereits an, als die Menschen das Rad erfanden, das an ihrem Leib ja nicht vorkommt. Sonst waren, wie bekannt, Werkzeuge und Maschinen durch Nachahmung von Leibgliedern entstanden, der Hammer ist die Faust, der Meißel der Nagel, die Säge die Zahnreihe und so fort. Aber großer Fortschritt geschah erst, als dergleichen aufgegeben wurde, als die Maschine ihre Aufgabe mit eigenen Mitteln löste. Die Nähmaschine arbeitet nicht wie Handnaht, die Setzmaschine nicht wie Handsatz; das Flugzeug /(772) ist kein nachgeahmter Vogel, seine Tragfläche steht im Gegenteil unbeweglich, und sein Propeller ist kein Flügel. Nur in der Dampfmaschine und Lokomotive wirkt noch ein Anschein aus der alten organischen Reihe weiter. Zischend, kochend, atmend, mit Pleuelstangen wie Armen an der Seite; spielende Kinder sind so noch veranlaßt, Lokomotiven nachzuahmen. Und wie organisch-vertraut kann noch die Beschreibung sein, die Josef Conrad im »Taifun« dem Schiffsmaschinenraum angedeihen läßt, den blassen, länglichen Flammen auf dem hellpolierten Metall, den ungeheuren Kurbeln, aus dem Boden auftauchend, wieder nach unten sinkend, den stark gelenkigen Kurbelstangen, an die Glieder eines Skeletts erinnernd, die die Kurbeln hinunterstürzen lassen, wieder emporziehen: »Und tiefer im Halbdunkel glitten andere Stangen bedächtig hin und her, Kreuzköpfe nickten, Metallscheiben neben die glatten Flächen aneinander, langsam und sanft, in einem wunderbaren Gemisch von Licht und Schatten.« Dergleichen sieht in seinen ausdrucksvollen und unfehlbaren Bewegungen noch wie künstlicher Organismus oder auch wie gewachsener Mechanismus aus. Aber die Technik, die im jetzigen Jahrhundert sich entwickelt hat, weist immer geringere Ähnlichkeit mit menschlichen Gliedern und Maßen auf, und die Dampfmaschine gibt nur einen letzten Gruß, selber nur den Anschein eines Grußes an die alte organoide Reihe. Die Retorte ist kein Mischkrug mehr oder Backtrog, worin vorhanden gegebene Stoffe zu wenig davon entfernten Gebilden kombiniert und umgebildet werden; und die Großmaschine stößt die letzte Organähnlichkeit ab. Waren doch bereits Stange, Welle, Lager, Kugellager, Rad, Zahnrad, Transmission und alle anderen Maschinenelemente das Entorganisierte im Beginn, erst recht ist es deren Kombination, der Arbeitstransformator Maschine. Ja nicht bloß die organische Leitlinie ist in ihr umgebrochen, auch noch ein anderer Bruch oder Zwang stellt hier um, einer in der physikalischen Leitlinie selber. Maschine insgesamt, so definierte Reuleaux, »ist eineVerbindung von widerstandsfähigen Körpern, welche so eingerichtet sind, daß mittels ihrer mechanische Kräfte genötigt werden, unter bestimmten Voraussetzungen zu wirken«. Obwohl diese Definition, der Denkweise des neunzehnten Jahrhunderts gemäß, jede menschliche Finalbezeichnung aus/(773) läßt, also den gesellschaftlichen, unnaturhaften Zweck, zu dessen Bewirkung mechanische Kräfte genötigt werden, so erhellt doch: Maschinerie selber ist bereits ein unnaturhaftes Vorkommnis, eine Art unnatürliche Physik. Und innerhalb ihrer wächst die Abstoßung vom gegeben Naturhaften immer noch weiter; Organprojektion wird wachsend verlassen oder transzendiert. Die elektrische Lokomotive ist ein Koloß aus Niemandsland, und das Raketenflugzeug, das durch die Stratosphäre schießt, verhält sich zum Vogel nicht einmal so wie der Propeller mit Tragfläche, sondern wie ein Meteor. Wie nun gar erst die mögliche Technik aus den bisher entferntesten Kraftantrieben: den subatomaren, und aus den Transformatoren, in welche diese geleitet werden. Mit ihr wird nicht bloß die Organprojektion verlassen, sondern zum Teil das Reich der immerhin
dreidimensional-mechanischen Welt, worin elektrische Lokomotive, Dieselmotor, Raketenflugzeug sich noch befinden. Die anschaulich-klassische Mechanik selber wird damit verlassen: im Elektron »sieht es überhaupt nicht mehr aus«, Elektronen und Protonen sind nicht mehr der Stoff der alten physischen Welt. Auch wenn sie keineswegs, wie ihre idealistischen Interpreten sagen, »mathematisch-logische Strukturen« sind, so ist doch der ehemalige Äther, der so lange Gasvorstellungen mit sich führte, ein Synonym von n-dimensionalem Feld geworden, von elektromagnetischem Strukturfeld. Sollte eine wirkliche Strahlungsindustrie entstehen, noch innerhalb des Kapitalismus, oder, wie sich jetzt schon zu friedlichen Zwecken abzeichnet, in der Sowjetunion, dann eben kommt zur aufgegebenen Organprojektion noch ein großes Stück Abschied von der klassischen Mechanik und ihrer Projektion hinzu. Die klassische Mechanik war und ist die unseres mesokosmischen Anschauungsraums, zwischen dem unmenschlichen »vierdimensionalen Weltkontinuum« und dem unmenschlich verwirklichten Abgrund des »Atomraums«. Indem aber die künftige Technik sich wesentlich aus subatomaren Impulsen, folglich aus eben diesem grotesk dimensionierten Atominneren speisen dürfte, verhält sie sich zur bisherigen als eine, die eine ganz andere Welt gebraucht, in sie übersetzt und versetzt ist. Die erwartbareTechnik verhält sich nicht nur wie die drahtlose Telegraphie zur akustischen Tischglocke, sondern es können durch Zerstrahlung beliebige Teile /(774) der irdischen Materie in den Zustand der Fixsternmaterie verwandelt werden: es ist, als ob Fabriken unmittelbar über den Energieorgien der Sonne oder des Sirius stünden. Der synthetischen Chemie, welche Rohstoffe herstellt, wie die Erde sie nicht trägt, billigere und zuweilen bessere, tritt in der Atomphysik eine Art analytischer Gewinn von Energie zur Seite, wie sie überhaupt nicht von dieser Erde ist, als der bisher vertrauten. Eine Gesellschaft freilich ist vorausgesetzt, welche diese Umwälzung der Produktivkräfte ertragen kann, und diejenige Art Natur gehört dazu, welche noch die alte Gesellschaft aus dem Boden der Natur heraufgerufen hat. Der noch nicht geheure Weg begann, als es gelungen war, Stoffe zu zerstrahlen. Schon lange war vermutet, daß der gasförmige Zustand eines Körpers nicht sein letzter sei. Faraday gab diesem von ihm geahnten, jedoch experimentell nicht bewiesenen Zustand den Namen »strahlende Materie«. Die Reihe erstaunlicher Entdeckungen ist bekannt, die von den Kathodenstrahlen zu den X-Strahlen, zu den Becquerelstrahlen führte und von da zu den sogenannten radioaktiven Strahlen, ausgesandt durch den Selbstzerfall eines sehr schweren Elements, des Urans. 1919 gelang Rutherford die erste Atomzertrümmerung, so wurde Zerstrahlungsenergie auf künstlichem Weg frei gemacht, wenn auch noch in verschwindend geringer Menge. Rutherford glaubte noch nicht, daß aus dem Atomzerfall eine praktische Energiequelle zu gewinnen sei, doch war die gewinnbare Energie theoretisch bereits bekannt: ein Gramm Radium-Emanation enthält 160 Millionen PS Arbeitsfähigkeit, mithin eine Kraft, die ausreicht, ein Schiff mit tausend Tonnen Ladung sechshundert Seemeilen weit zu treiben. Nach der Relativitätstheorie ist die Energie eines ruhenden Körpers von der Masse m Gramm: E = m mal c hoch zwei, wobei c die Lichtgeschwindigkeit bedeutet, in Kilometerstunden ausgedrückt: es ist also c eine ungeheuer große Zahl, und ihre Multiplikation bereits mit der kleinstenGramm-Masse enthüllt gebundene Energiemengen kosmischen Ausmaßes in jedem Feldstein. So zeigte die gelungene Praxis der Atombombe, des so schändlich pervertierten Vorläufers subatomarer Produktivkräfte, die gleiche Grundenergie, die das Weltall baut, in Gang erhält und zerstören kann. Die Neutrons in der explodierenden /(775) Uranbombe hatten die
Sekundengeschwindigkeit von 6210 englischen Meilen; ein vollkommen unirdischer Hurrikan an der Grundbasis der Welt, und ein von Menschen abgelassener. Für die Elemente 95 und 96, die vorläufig der Fabrikation der Atombombe dienen, wurden die Namen »Pandämonium» und »Delirium» vorgeschlagen, als welche unterdessen durch die Namen »Americium» und »Curium» ersetzt sind; das Delirium in der Kettenreaktion ist ja einzig ein imperialistisches. Wie die Kettenreaktionen auf der Sonne uns Wärme, Licht und Leben bringen, so schafft die Atomenergie, in anderer Maschinerie als der der Bombe, in der blauen Atmosphäre des Friedens, aus Wüste Fruchtland, aus Eis Frühling. Einige hundert Pfund Uranium und Thorium würden ausreichen, die Sahara und die Wüste Gobi verschwinden zu lassen, Sibirien und Nordkanada, Grönland und die Antarktis zur Riviera zu verwandeln. Sie würden ausreichen, um der Menschheit die Energie, die sonst in Millionen von Arbeitsstunden gewonnen werden mußte, in schmalen Büchsen, höchstkonzentriert, zum Gebrauch fertig darzubieten. Mit alldem wäre zugleich die Entorganisierung der Technik, der nicht mehr euklidischen, bis ins Entlegenste vollkommen; sie hinge aus unserer mesokosmischen Welt in eine unermeßlich andere über, nicht nur in eine subatomare, sondern auch in eine makrokosmische. Eine nahe Zukunft, die sich die Quantentheorie und das Haltbare an der Relativitätstheorie, neuen Gravitationstheorie aufs beste, nämlich durch die Praxis, auch anschaulich machen kann, hebt die Möglichkeiten einer nicht-euklidischen Technik, wie sie in der Strahlungsindustrie beschritten wird, aus der Phantasterei in fast solide, fast schon abzeichenbare Aussichten. Wäre es gar denkbar, die Raum-Zeit-Verhältnisse der Einstein-Welt auf unsere zu übertragen, dann kämen Paradoxien zum Vorschein, die nicht nur jede technische Romanvision überbieten, sondern fast die Modellbücher alter Magie. Außerhalb unserer dreidimensionalen Welt, allgemeiner: in allen Räumen mit gerader Dimensionszahl würden Räume hell bleiben, auch wenn die Lichtquelle verschwunden ist; was aus der Wellengleichung des Lichts erschließbar sein soll, sobald sie auf n-dimensionalen Raum übertragen wird (vgl. Herm.Weyl, Philos. der Mathematik und Naturwissenschaft, 1927,S.99). Die Gleich- /(776) gültigkeit mathematisch-physikalischer Gesetze gegen die Dimensionszahl hört in einer tieferen Schicht auf; ein in der dreidimensional-klassischen Mechanik Unmögliches kann derart gültig sein, technisch möglich werden. Letzteres auf eine wenigstens nicht mehr absolut ausgeschlossene Weise; die begonnene Utopie einer nicht-euklidischen Technik hat bereits außerordentlich weit vorgeschobene Grenzen. Dafür allerdings auch die angegebene Gefahr immer größerer Künstlichkeit, immer weiteren Überhangs in vermathematisiertes Niemandsland. Und diese Künstlichkeit eben ist zugleich das am Ende immer deutlicher hervortretende Negativum im Bruch der anschaulich-physikalischen Leitlinie selber. Als ein Negativum, das an diesem Ende ebenso einen künftigen Umschlag in der an sich so hochwichtigen, so hochprogressiven Erweiterung des technischen Raums anzeigt. Nur wird dieser Umschlag nicht mehr auf dem Boden der bürgerlichen Beziehung zu Menschen und zur Natur geschehen können, das heißt innerhalb jener Komponente der Naturbeziehung, die zur bürgerlichen Ideologie gehört und so die übrige Abstraktheit (Fremdheit) der bürgerlichen Materialbeziehung teilt. Sondern eine nicht mehr imperialistische Gesellschaft wird, wie sie die Atomenergien human verwaltet, so sich dieses, wie immer auch nicht-euklidische, Material als eines ohne letzthinnige Fremdheit vermitteln. Mit der Abstraktheit hängt auch das eigentümliche Pathos der Unanschaulichkeit zusammen, das alle nicht-euklidische Physik bis jetzt erfüllt. Gemeint ist damit nicht die Unanschaulichkeit im schlichten Sinn, nämlich die selbstverständliche, die allen Vorkommnissen außerhalb des dreidimensionalen
Anschauungsraumes eignet. Sondern jene andere Unanschaulichkeit ist gemeint, die das gleiche ist wie Unvermitteltheit des unabhängigen Objekts mit dem denkenden Subjekt, des denkenden Subjekts mit dem unabhängigen Objekt. Soweit noch eine nicht-euklidische Physik, trotz beständigen Rekurses auf Beobachtung, ihre Welt als bloße Verdinglichung mathematischer Symbole aufbaut, ist die Abstraktheit so groß geworden, daß Subjekt und Objekt überhaupt nicht mehr zusammenkommen, ja daß das nicht-euklidische Objekt gerade als reale Bewegungsmaterie völlig. ausfällt. Derart erscheint hier vollends Unvermitteltheit mit dem Inhalt - ein ideologisches Analogon zum /(777) völlig entfremdeten, entwirklichten Funktionsbetrieb der spätkapitalistischen Gesellschaft, projiziert in die Natur. Ein methodischer Idealismus vermehrt so noch dasjenige, wodurch eben auch eine nicht-euklidische Technik noch so eigentümlich ins Unvermittelte, zur konkreten Vermittlung schlechthin Disparate hineinragt. Sicher ist die ideologische Komponente nur die eine an der entmenschlichten Physik, und die andere, durch Ideologie-Analyse unangreifbare, ist das Diktat beobachteter Natur, ihr theoretisch gerecht zu werden. Doch weder sind beide Komponenten bereits scharf trennbar noch ist in dem gesamten pointierten Abstraktwesen eine auch real drohende Vermittlungslosigkeit übersehbar. Indes ruft nun gerade der Triumph der nicht-euklidischen Praxis, den die Zerstrahlungstechnik darstellt, heilsame Antizipationen aus dem Bild einer nicht mehr verapparatlichten Gesellschaft auf den Plan. Diese konkret-utopischen Linien entspringen in der Technik besonders deutlich aus der Aufgabe einer konkreten Subjekt-Objekt-Beziehung. Dergestalt, daß das Subjekt mit dem Naturobjekt, das Naturobjekt mit dem Subjekt vermittelt werden und beide sich nicht mehr zueinander verhalten als zu einem Fremden. Entorganisierung, die das Organische und schließlich das Mesokosmische gänzlich verläßt, darf nicht den Zusammenhang mit dem menschlichen Subjekt verlieren, das gerade in der Technik, nach dem schönen Wort von Engels, die Dinge an sich in Dinge für uns verwandeln will. Und Entorganisierung muß aus dem gleichen Grund den Abbild-Kontakt mit dem Objekt bewähren, mit seiner realen dialektischen Gesetzmäßigkeit, wie sie Natur und Geschichte im gleichen Zusammenhang verbindet, aber auch - wovon sogleich - mit jener Kern- und Agens-Immanenz des eigentlich naturhaften Objektzusammenhangs, die halb-mythisch einmal als »natura naturans» oder auch hypothetisch als »Subjekt der Natur» bezeichnet wurde und die mit dem Fragwürdigen (doch auch der Frage Würdigen) dieser Bezeichnungen gewiß noch nicht erledigt ist. Es ergab sich jedenfalls, bei aller Progressivität, wieviel Abstraktheit noch in der Entorganisierung steckt und welcher Abgrund an unbeherrschter Disparatheit. Entorganisierung wird erst Segen, wenn sie außer sozialer Ordnung auch die letzte Antizipation »natürlicher Magie», nach Bacons Ausdruck, für sich /(778) hat: Vermittlung der Natur mit dem menschlichen Willen regnum hominis in und mit der Natur. Subjekt, Rohstoffe, Gesetze und Anschluß in der Entorganisierung Das bürgerliche Denken insgesamt hat sich von den Stoffen, von denen es handelt, entfernt. Ihm liegt eine Wirtschaft zugrunde, die sich, wie Brecht sagt, nirgends für Reis interessiert, sondern nur für seinen Preis. Der Übergang von Gebrauch in Tausch ist alt, aber erst kapitalistisch kam die Verwandlung aller Tauschgüter in abstrakte Waren und der Ware in Kapital. Dem entspricht ein nicht nur von den Menschen, sondern auch von den Dingen entfremdeter Kalkül, ein zu ihrem Inhalt gleichgültiger. So breitet sich ein nicht-organischer, ein entqualifizierender Sinn
schon seit dem Ende der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals, also seit konzentrierter Warenerzeugung und entsprechendem Ware-Denken. Vom siebzehnten Jahrhundert an verschwinden die qualitativen Naturbegriffe, wie sie Giordano Bruno, stellenweise selbst Bacon noch gepflegt hatten. Galilei, Descartes, Kant sind in dem Gedanken vereint: Nur was mathematisch erzeugt ist, ist erkennbar, nur was mechanisch begriffen ist, ist wissenschaftlich verstanden. Aber die abstrakte Ware Zucker ist ein anderes als die Sache Zucker, und die abstrakten Gesetze der mechanistischen Naturwissenschaft sind ein anderes als das inhaltliche Substrat, zu dem diese Gesetze keinen Bezug unterhalten. Was für die Theorie gilt, gilt erst recht für die technische Praxis, sie begnügt sich mit Gesetzen über lauter Zufall. Poincaré, der überhaupt nur noch an Konventionen, nicht an materielle Gesetze glaubte, bemerkte einmal, man könne sich der Überraschung nicht erwehren, zu sehen, wie wenig ein Mensch von der Natur zu wissen brauche, damit er sie bändige und seinem Willen dienstbar mache. Dampf, Elektrizität erscheinen einzig als Quantitäten von Arbeitskraft, die nach physikalisch-technischen Maßeinheiten und nach Herstellungskosten bestimmt werden. So steht gerade die bürgerliche Technik in einem reinen Waren-Bezug, einem von Haus entfremdeten, zu den Naturkräften, mit denen sie von außen operiert. Und eben der inhalt- /(779) liche Bezug wird desto geringer, je weiter die Technik von der Anschirrung des organischen Pferds zum Explosionsmotor hinausgeschritten ist oder am ultraviolettenVulkan der Atomenergie Fuß faßt. Ohnehin schon verhält sich die bürgerliche Gesellschaft zum Substrat der Dinge, die ihr Denken und Handeln betreffen, abstrakt. Also bleibt auch ein arbeitendes Substrat der Natur, das an ihr, was sonst Wirkungskraft und Samen genannt worden ist, außer Bezug. Es ist aber dieses Bezugsproblem für jede konkret werdende Technik das dringendste; denn es ist das der technischen Hoffnung selber. Wobei lehrreich bleibt und immer lehrreicher werden wird, daß auch das noch so abstrakte technische Erzeugungswesen die völlige Anschlußlosigkeit Münchhausens nicht erreicht oder erreichen will, der sich an seinem eigenen Zopf aus dem Sumpf zieht. Sondern auch die vollendete Künstlichkeit verwendet, trotz alles technischen Nihilismus, durchaus noch Natur, kommt um diesen Anhalt von draußen nicht herum. Nehme man erstens die Rohstoffe, so kann selbst die größte List des Ersatzes nicht im luftleeren Raum gelingen. Stellt die synthetische Chemie andere Rohstoffe oder vorhandene anders her, so macht sie zwar von dem natürlichen Vorkommen oder Wachstum dieser Stoffe unabhängig, doch nicht von natürlichen Bezugselementen überhaupt. Sie gewinnt Farben aus Teer, Benzin aus Kohle, Düngemittel aus Thomasschlacke, Gummi aus Getreide, Kartoffeln oder anderen kohlehydratreichen Grundstoffen; sie erzeugt Textilien aus Milch, warum nicht Butter aus dem Stickstoff in der Luft. Doch nur die Grund- oder Ausgangsstoffe haben sich dadurch verändert, und nur das Verfahren ist ein anderes als das langsam bildende der Natur. Nur der Ausgangsort ist zurückverschoben, nur immer weniger »Fertigfabrikate« der Natur werden als Rohstoffe verwendet. Doch selbst bei noch so kühner Neubildung bleiben mindestens Wasser, Luft und Erde unumgänglich. Auch einer noch so synthetischen Chemie wächst kein Kornfeld auf der flachen Hand, soll heißen: Verbindung mit Vorgewaltetem, das nur mit ihm selbst im Bunde besser verwaltet werden kann, hört hier trotzdem nicht auf. Erst recht gilt das für den Versuch, der noch weit prekärer als synthetische Chemie vorstößt: für die mögliche Strahlungstechnik; für das Problem, wie die klassische /(780) Mechanik auch technisch zu verlassen sei, wie Maschinen am nicht-euklidischen Rand anzusiedeln seien. Auch dann noch bleiben die verwendeten Kräfte aus Natur hergeleitet, obzwar aus einem besonders
unheimlichen Fonds: und das Verfahren, wonach neue Arbeitstransformatoren zu bisher ungeahnten Nutzeffekten und Wunderwerken gebaut werden, kann zu der Impulsmaterie im nicht-euklidischen Natursegment keinesfalls disparat bleiben. Zweitens gar: noch falscher als eine abstrakte Auslassung der Rohstoffe ist eine des anders Vorgewalteten: der natürlichen Gesetze. Rein subjektivistisch geht es zu, wenn die Gesetze bloß als » Gedankendinge « betrachtet werden, gar als fiktive »Modelle«, nach denen eine Abfolge oder ein Zugleich von Wahrnehmungen «denkökonomisch« zurechtgelegt wird. Dieser Fideismus eröffnet dann freilich, in allen seinen Abarten, eine besonders großmäulige und scheinbare Freiheit im wegidealisierten Objektraum. Eine Freiheit à la Simmel gegenüber der Geschichte, indem «ihr der Geist selbst ihre Ufer und ihren Wellenrhythmus vorzeichnet«. Dann aber auch eine Freiheit à la Bertrand Russel gegenüber der Natur und ihren Gesetzen, als angeblich «rein logischen Strukturen, die aus Ereignissen, das heißt Wahrnehmungen bestehen«; wonach diese Gesetze erst recht nichts Reales widerspiegelten, das unabhängig vom methodischen Bewußtsein besteht. Die Folge für die Technik wäre danach, daß die Entorganisierung, die ohnehin noch gefährlichunanschaulich überhängende, nun völlig ins Niemandsland geriete. Wahr dagegen ist: Alle erkannten Gesetze spiegeln objektiv-reale Bedingungszusammenhänge zwischen Prozessen wider, und die Menschen sind in dieses von ihrem Bewußtsein und Willen Unabhängige, doch mit ihrem Bewußtsein und Willen Vermittelbare durchaus eingebettet. Alle Theoretiker haben auf diesen so ununterschlagbaren wie hilfreichen Objektivcharakter der Gesetze hingewiesen: der ökonomischen des konkreten Aufbaus, aber auch der naturhaften der ihm dienenden Technik. Das nicht, damit die Menschen zu Sklaven dieser Gesetze werden und sie fetischisieren, wohl aber, damit auch marxistisch, gerade marxistisch, kein Leichtnehmen, Äußerlichnehmen dieser Notwendigkeiten Platz greife. Daher wurde zu diesem Punkt nicht mit Unrecht gesagt, wenn auch zu einseitig fast alles auf die /(781) Objektseite werfend: «Der Marxismus faßt die Gesetze der Wissenschaft - ganz gleich, ob es sich um Gesetze der Naturwissenschaft oder der politischen Ökonomie handelt - als solche objektiver, unabhängig vom Willen der Menschen vor sich gehender Prozesse auf. Die Menschen können diese Gesetze entdecken, sie erkennen, sie erforschen, sie in ihrem Handeln berücksichtigen, sie im Interesse der Gesellschaft ausnutzen..., den zerstörenden Wirkungen mancher Gesetze eine andere Richtung geben, ihren Wirkungsbereich einschränken, anderen Gesetzen, die zum Durchbruch drängen, freie Bahn schaffen, aber sie können diese Gesetze nicht umstoßen« (Stalin, Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR, Dietz, 1952, S.4 f.). Sonst entstehenPutschismus oder Abenteurertum, als jene Übertreibungen des subjektiven Faktors, die die Veränderung der Verhältnisse mit der Überspringung des Gesetzesrahmens verwechseln, innerhalb dessen diese Veränderungen einzig konkret-segensreiche, konkret-reale sein können. Es entsteht vor allem auch, indem die Notwendigkeit einzig als äußere, mit dem subjektiven Faktor unvermittelte, ja ihm entgegengeltende aufgefaßt wird, eine mögliche Feindschaft gegen die Notwendigkeit, also gegen den objektiv-realen Gesetzesfahrplan überhaupt. Und damit erscheint diese Notwendigkeit dem Bewußtsein, so weit es sonst auch vom bürgerlich-abstrakten entfernt sein mag, nicht als eine wesenhaft zu erkennende und so zu beherrschende, sondern wegen der Fremdheit - einzig als eine zu sprengende. Das trotz der Engelsschen Weisung: «Nicht in der geträumten Unabhängigkeit von den Naturgesetzen liegt die Freiheit, sondern in der Erkenntnis dieser Gesetze und in der damit gegebenen Möglichkeit, sie planmäßig zu bestimmten Zwecken wirken zu lassen« (Anti-Dühring, Dietz,
1948,S. 138). In diese Richtung wies bereits die Einsicht Hegels, freilich so, daß dessen unleugbare Naturfeindschaft, das heißt seine relative Ablehnung einer auch inneren Notwendigkeit in den Naturbewegungen, nun gerade wieder die Beherrschung der Naturgesetze ebenso und mehr im Sinn der List als in dem des konkreten Eingedrungenseins in den Stoff verstand. Wonach ein früher Hegelsatz der technischen Notwendigkeit zwar entlangläuft, ihr aber doch buchstäblich nur entlangläuft, also wieder nicht Kontakt mit ihrem inhalt- /(782) lichen Substrat sucht. Derart vereint die Hegelstelle das Richtige, das die Natur zum Mitarbeiter macht, und das Falsche, das mit der Natur nur durch die Abstraktion der Fremdheit, gleichsam der kolonialen List, technisch verkehrt; sie vereint das folgendermaßen: »Die Passivität« (des Menschen, der die Natur für sich arbeiten läßt) »verwandelt sich in Tätigkeit, ... daß die eigene Tätigkeit der Natur, Elastizität der Uhrfeder, Wasser, Wind angewendet wird, um in ihrem sinnlichen Dasein etwas ganz anderes zu tun, als sie tun wollten, daß ihr blindes Tun zu einem zweckmäßigen gemacht wird, zum Gegenteil ihrer selbst... Der Natur selbst geschieht nichts, einzelne Zwecke des natürlichen Seins werden zu einem Allgemeinen. Hier tritt der Trieb ganz aus der Arbeit zurück, er läßt die Natur sich abreiben, sieht ruhig zu und regiert nur mit leichter Mühe das Ganze: List. Die breite Seite der Gewalt wird von der Spitze der List angegriffen. Es ist die Ehre der List gegen die Macht, die blinde Macht an einer Seite anzufassen, daß sie sich gegen sich selbst richtet, sie anzugreifen, sie als Bestimmtheit zu fassen, gegen diese tätig zu sein oder sie als Bewegung eben in sich selbst zurückgehen zu machen, sich aufzuheben« (Hegel, Jenenser Realphilosophie, Meiner, II, S.198 f.). Und dasselbe noch mehr im Stil einer Fallgrube, die der Natur gelegt wird, einer Tretmühle, in die die übertölpelte gebracht wird: »Die List besteht überhaupt in der vermittelnden Tätigkeit, welche, indem sie die Objekte ihrer eigenen Natur gemäß aufeinander einwirken und sich aneinander abarbeiten läßt, ohne sich unmittelbar in diesen Prozeß einzumischen, gleichwohl nur ihren Zweck zur Ausführung bringt» (Hegel, Werke Vl, S.382). Spitze der List also ist hier der ebenso scharfsinnige wie abstrakt-unvollständige Terminus für die technische Beziehung zur Natur, zu dieser Grundlage der menschlichen Tätigkeit. Die List verhält sich zur Natur in dieser Hegelstelle wie Schillers Mensch zum Feuer: »Wohltätig ist des Feuers Macht, wenn sie der Mensch bezähmt, bewacht.« Die Hegelstelle verhält sich nicht wie Faust zum Feuer: »Erhabener Geist, du gabst mir, gabst mir alles, worum ich bat. Du hast mir nicht umsonst dein Angesicht im Feuer zugewendet.« Die Goethische Wendung ist die eines aufschlagenden Naturvertrauens, am Ende den Busen eines Freunds erwartend; die Schillersche Wendung ist nicht ohne jene /(783) Gewaltsamkeit, welche aus der Natur, gleich einer gezähmten, bewachten Kolonie, nur unter der Bedingung der Herrschaft Wohltat zieht. Der kapitalistische Begriff der Technik insgesamt (und Schiller wie Hegel reagieren in diesem Punkt kapitalistischer als Goethe mit der älteren, der Renaissancelinie Fausts) zeigt dergestalt mehr von Domination als von Befreundung, mehr von Sklavenaufseher und Ostindischer Kompanie als vom Busen eines Freunds. Drittens und letzthin also könnte erst die volle Eindringung in die wesenhafte Notwendigkeit der Prozesse auch die Entorganisierung vor dem Nicht-Bezug zum »Feuer« des Natur-Agens bewahren. Des Sinns, daß immer mehr an Stelle der bloß äußeren Notwendigkeit, gar des agnostischen Modells extra rem, das Herstellende auch in der Natur verspürt, aufgespürt, begriffen wird. Mit der Renaissance-Dimension, wie sie Leonardo nicht nur malerisch überliefert: »Die Gesetze der Natur zwingen den Maler, sich in den Geist der Natur zu verwandeln und sich zum Vermittler zwischen Natur und Kunst zu machen.« Mit der
Renaissance-Dimension, an die gerade Marx, wie selber immer wieder erinnert werden mag, in der »Heiligen Familie» erinnert: »Unter den der Materie eingeborenen Eigenschaften ist die Bewegung die erste und vorzüglichste, nicht nur als mechanische und mathematische Bewegung, sondern mehr noch als Trieb, Lebensgeist, Spannkraft, als Qual - um den Ausdruck Jakob Böhmes zu gebrauchen - der Materie.« Das bei aller Vorsicht gegen die zahlreichen mythischen Reste im Begriff eines quellenden Substrats, ja gegen einen pantheistischen Vitzliputzli, wie er wohl ebenfalls im Begriff einer natura naturans noch spuken konnte. Sei es in dessen schlecht gereinigten Zugängen und Vorhöfen, sei es auf Grund der »theologischen Inkonsequenzen«, von denen Marx an der angegebenen Stelle, sogar Bacon betreffend, gleichfalls spricht. Trotzdem ist der Unterschied zwischen bürgerlich-technischer Naturfremdheit, gar Weltlosigkeit und wahlverwandter Natureinwohnung sonnenklar: Natura naturans läßt sich auf die Füße stellen, der physikalische Nihilismus durchaus nicht. So wird das Problem eines zentralvermittelten Bezugs zur Natur das dringendste; die Tage des bloßen Ausbeuters, des Überlisters, des bloßen Wahrnehmers von Chancen sind auch technisch gezählt. Die bürgerliche Technik war insge- /(784) samt ein Überlister-Typ, und die sogenannte Ausbeutung der Naturkräfte war genausowenig wie die der Menschen primär aufs konkrete Material des Ausgebeuteten bezogen oder daran interessiert, in ihm einheimisch zu sein. Gerade Aktivität übers Gewordene hinaus, dieser in der Technik so wunderbar starke Impuls, braucht aber Anschluß an die objektiv-konkreten Kräfte und Tendenzen; es ist die technisch intendierte «Übernaturierung« der Natur selber, weiche Einwohnerschaft in der Natur verlangt. Prometheus, als er das Feuer vom Himmel holte, um seine Menschen damit zu beleben, hat - nach einer aufs Ganze gehenden Wendung Platons im »Protagoras« - nicht nur das Feuer entwendet, sondern »die kunstreiche Weisheit des Hephästos und der Athene«, um sie mit dem Feuer gemeinsam den Menschen zu schenken. Und je mehr Technik die letzten Reste ihrer alten Bodenständigkeit verliert, vielmehr, je mehr sie überall, wo sie nur will, neue Bodenständigkeit gewinnt, in synthetischer Rohstofferzeugung, in Strahlungsindustrie und was noch sonst in herrlicher Hybris: desto intimer wie zentraler muß die Vermittlung mit dem eingeschalteten Naturwesen geraten. Dann erst können die Dinge auch tief ursächlich verändert werden, statt nur von außen verschoben. Jeder technische Eingriff enthält Wille zum Verändern, ohne daß jedoch dem bloßen Überlister das X des zu Verändernden bekannt, ja auch nur vorhanden sein müßte. Ein Agens der Erscheinungen wird zwar zugegeben, doch nur als ein schlechthin uns unverwandtes, entfremdetes, und als eines ohne Subjekt. Kinder und Primitive fügen noch ein Subjekt, ihrem eigenen Ich entsprechend, ohne weiteres in physische Vorgänge ein. Und weniger naiv, weniger unmittelbar dem eigenen Ich analog findet sich ein Subjekt auch in späteren nicht-animistischen Naturauffassungen, sofern sie nur keine quantitativen sind. So bereits bei Thales, wenn er dem Magneten eine Seele zuschreibt, so großen Stils in allen panvitalen Naturbildern, bei Leonardo, Bruno, beim frühen Schelling. Doch Subjekt, im empirisch-organischen Sinn, fehlt - und das war gegenüber jedem Animismus zunächst ein großer Fortschritt grundsätzlich im quantitativen Weltbild, also auch in der klassischen Mechanik. Es fehlt dort vollends, wo das quantitative Denken völlig in beziehungstheoretisches, funktionstheoretisches /(785) übergeht: in der nicht-euklidischen Mechanik wird Natur ein schlechthin freischwebender Zusammenhang von (relativierten) Gesetzen. Kant legte dem physischen Gesetzeszusammenhang zwar ein »transzendentales« Subjekt zugrunde, wie jeder
Verknüpfung (»Das Ich denke muß alle meine Vorstellungen begleiten können«); und damit wäre zwar nicht in die Mechanik der Natur ein Subjekt eingebracht, wohl aber ein heilloses in die mechanischen Begriffe von der Natur. Indes letzteres Subjekt ist als sogenannt transzendentales am wenigsten ein empirischorganisches; Natur ist hier vielmehr etwas, wozu ein empirischorganisches Subjekt nur hinzu gedacht werden kann, allerdings hinzu gedacht werden kann; das heißt: die äußerste »Objektivität«, zu der es die Newtonsche Naturwissenschaft gebracht hat, erschöpft bei Kant Natur nicht so, daß nicht auch Grundbegriffe weniger entfremdeter Art im Naturbild Platz hätten, wenngleich nur einen denkbaren Platz, einen regulativen, keinen wissenschaftlich-konstitutiven. Diese Grundbegriffe sind vor allem «die eines inneren Naturzwecks, mit dem Endzweck eines Reichs vernünftiger Wesen«; das aber führt, mit zweifellos noch trüber Teleologie, ein denkbares Natursubjekt ein. Die Kausalerklärung soll so supplementiert werden durch die unvermeidliche, obzwar nur regulative Bestimmung nach einem der Natur immanenten Vermögen, das seine Ursachen als Zweckursachen verfolgen könnte. Was in Analogie zur menschlichen Willensart ergibt, daß wir »die Natur als durch eigenes Vermögen technisch denken; wogegen, wenn wir ihr nicht eine solche Wirkungsart beilegen, ihre Kausalität als blinder Mechanismus vorgestellt werden müßte« (Kritik der Urteilskraft, Werke, Hartenstein, V., Seite 372). Kant hatte noch keine oder sehr geringe technische Gesichtspunkte, deshalb gingen die angeführten Als-Ob-Bestimmungen auch weit mehr auf die organische als auf die anorganische Natur. Aber sobald das Problem auftaucht, ob die eminenten Zweckhaftigkeiten der menschlichen Technik einen Anschluß an die Produktion der physischen Vorgänge haben können oder nicht: in diesem Augenblick tritt das Problem eines mit uns vermittelbaren Natursubjekts aus der bloßen regulativen Hinzufügung zur Mechanik heraus. Die Bestimmung wird zwar auch dann nicht so streng wie die Mechanik, aber ernster als diese: /(786) denn das Problem einer konkreten Technik besteht ja gerade darin, die Entorganisierung und ihre Folgen nicht auf ein Nichts sich beziehen zu lassen. So fragwürdig es bleibt, ob ein Subjekt der Natur bereits als verwirklicht vorhanden ist, so sicher muß dieses als treibende Anlage offengehalten werden, und zwar als eine, die durchaus in alle ihre Verwirklichungen hineinwirkt. An dieser Stelle aber taucht nun - ohne alles Kantisch-Regulative, wo nicht theologisierende »Hinzudenken« - das Leibnizsche Energie-Problem auf: die von ihm sogenannte »inquiétude poussante «.Leibniz setzt sie als Kern-Intensität aller Monaden und zugleich als Explizierungstendenz dieses ihres Kerns selbst. Damit vereint sich die Schärfe der Leibnizschen Gleichung von Energie und jener »Inwendigkeit« der Monaden, die Subjektheit im objektiven Sinn als dynamische Naturbestimmtheit bedeutet. Das Subjektproblem der Natur ist bei Leibniz zwar in eine Unzahl von Individualmonaden pluralisiert, aber in dieser Unzahl ist die Urform von alldem: die alte natura naturans., noch deutlich erkennbar. Animismus bleibe hierbei gänzlich fern und nicht minder auch das »Psychische« in den Leibnizschen Individualpunkten des Subjektproblems. Daß aber die Leibnizsche Gleichung Energie - Subjektheit ihren relativen Sinn behält, auch wenn die grundfalsche Verbindung von Energie und Psychischem wegfällt, das zeigt gerade Lenin in einer außergewöhnlich tiefdringenden Bemerkung an: »Im Begriff Energie steckt in der Tat ein subjektives Moment, das zum Beispiel im Begriff Bewegung nicht vorhanden ist« (Aus dem philosophischen Nachlaß, Dietz, 1949, Seite 308). Bereits als verwirklicht vorhanden ist freilich nicht einmal das so unzweifelhafte Subjekt der menschlichen Geschichte, obwohl es als der arbeitende Mensch empirisch-organisch, vor allem empirisch-sozial sich wachsend manifestiert. Wieviel mehr also mag das als
Natur- Subjekt hypothetisch Bezeichnete noch Anlage und Latenz sein müssen; denn der Begriff eines dynamischen Subjekts in der Natur ist in letzter Instanz ein Synonym für den noch nicht manifestierten Daß-Antrieb (das immanenteste materielle Agens) im Realen überhaupt (vgl. Seite 358). In dieser Schicht also, in der materiell immanentesten, die es überhaupt gibt, liegt die Wahrheit des als Subjekt der Natur /(787) Bezeichneten. Wie denn der alte Begriff natura naturans, der zuallererst ein Subjekt der Natur bedeutet hat, zwar wie bemerkt, noch halbmythisch ist, aber in nichts (auf idealistische Weise) ein Psychisches als Prius vor natura naturata setzt. Konträr, der Begriff natura naturans war von Anfang an, von seinem Urheber, dem »Naturalisten« Averroes an, auf schöpferische Materie bezogen. Wenn auch die angegebenen Restbestände der Mythologie nicht fehlen, die als pantheistischer Vitzliputzli wiederkehren mochten, die das Subjektproblem Natur mindestens als säkularisierte Isis lange begleitet haben. Dennoch nur begleitet, nicht erschöpft und ausgemacht haben; wogegen ein bloßes Ansich der Natur, an dem weder Subjekt noch auch Objekt statthaben, eher zu Sartre führt, das ist: der Welt als disparater Steinwand um die Menschen, als zum Marxismus. Item: An Stelle des Technikers als bloßen Überlisters oder Ausbeuters steht konkret das gesellschaftlich mit sich selbst vermittelte Subjekt, das sich mit dem Problem des Natursubjekts wachsend vermittelt. Wie der Marxismus im arbeitenden Menschen das sich real erzeugende Subjekt der Geschichte entdeckt hat, wie er es sozialistisch erst vollends entdecken, sich verwirklichen läßt, so ist es wahrscheinlich, daß Marxismus in der Technik auch zum unbekannten, in sich selbst noch nicht manifestierten Subjekt der Naturvorgänge vordringt: die Menschen mit ihm, es mit den Menschen, sich mit sich vermittelnd. Der Wille, der in allen technisch-physischenGebilden haust und sie gebaut hat, muß gleichzeitig sowohl ein gesellschaftlich erfaßtes Subjekt hinter sich haben: zum konstituierenden Eingriff, jenseits des bloß abstrakt-äußerlichen, wie ein damit vermitteltes Subjekt vor sich: zur Mitwirkung, zum konstitutiven Anschluß an den Eingriff. Und schließlich: vom ersten Subjekt, als dem der menschlichen Macht, kann nicht einflußreich genug gedacht werden; vom zweiten Subjekt, als der Wurzel natura naturans, ja supernaturans, nicht tief und vermittelt genug. Willenstechnik und konkrete Allianz mit dem Herd der Naturerscheinungen und ihrer Gesetze, das Elektron des menschlichen Subjekts und die vermittelte Mitproduktivität eines möglichen Natursubjekts: beide zusammen verhindern, daß in der Entorganisierung bürgerliche Verdinglichung fortgesetzt wird. Beide zusammen legen die konkrete Utopie der Technik nahe, wie sie /(788) der konkreten Utopie der Gesellschaft sich anschließt und mit ihr verbunden ist. Elektron des menschlichen Subjekts, der Willenstechnik Es gibt eine innere Kraft, die bisher nicht rein angesetzt worden ist. Sie macht die sogenannte Stärke im Menschen aus, fällt mit seinem bekannten Willen nicht ganz zusammen. Sie wirkt als Macht, die den Körper über die Ermüdung hinausreißt, ihn als Werkzeug scharf macht und erstaunlich befähigt. Sie wirkt ebenso als Macht nach außen, als Einfluß oder Gewicht der Person, oder wie dies eigentümlich harte Wesen sonst bezeichnet worden ist. Seine üblichste Zucht ist militärisch, spartanisch, als ein freiwilliger, äußerst männlicher Triebverzicht, der im Gehorchen den Beginn zum Befehlen übt. Jedes Kriegsvolk trägt spartanische Züge, sie sind unverwechselbar, wo immer sie erscheinen; knappe Kraft, Befehlsgewalt prägen sie aus. Doch diese Schärfung des energischen Vermögens auf eine Art Lanzenhaltung
und Lanzenspitze seiner selbst ist erst ein Anfang dessen, was Subjektkraft sich zugetraut hat. In der spartanisch-militärischen Haltung bleibt der Wille gleichsam nur abstrakt geschliffen, er ist zwar auch hier mit geglaubten Bildern und Vorstellungen verbündet, doch meist auf äußerliche, mindestens nicht auf notwendige Weise. Daher konnte der abstrakt-spartanisch gebildete Wille oft für Beliebiges kämpfen oder sich exekutiv einsetzen: Offiziere, im Barock auch Beamte, dienten im fremden Dienst, ein Freund-Feind-Verhältnis besteht zwar, aber seine Inhalte sind hier noch auswechselbar. Selbst die Lehnstreue des Ritters war formal, sie riß geschieden bleibende Willensrichtungen (ma coeur à dame, au Dieu mon ame, ma vie au roi, l'honneur pour moi) noch nicht zu einer unwiderstehlichen Einheit zusammen. Dieses vermochte erst der Glaubenskrieg, also der Eintritt eines inhaltlichen, objekthaften, ja objekthaft fordernden Ziels in den militärisch geschärften Willen. Der Wille mit geglaubten Vorstellungen wird nun zu keinem fremden, das heißt ihm inhaltlich gleichgültigen Dienst mehr transportierbar. Er wird vielmehr streng fixiert, was bedeutet, er wird fanatisch; und es ist dieser Fanatismus, der nun erst, wo er eintritt, die ungeheuerlichste /(789) Kraftvermehrung oder Kraftanfachung im Menschen hervorbringt. Zur puren Befehlskraft tritt jetzt die vorstellungsmäßig fixierende Stärke einer idée-force; sie erst überwindet vor dem Unübersteigbares. Die eindrucksvollste Prägung von idée-force gab Loyola, überdies im gebliebenen Zusammenhang mit militärischer Zucht. Die »Exercitia spiritualia« des ehemaligen Offiziers, visionär fanatischen Ordensgründers sind Willenstechnik im bisher höchsten europäisch erreichten Grad; Pünktlichkeit, Gehorsam, Befehlsgewalt, grausame Gewalt des Glaubens werden darin eines. Kommandierte Einbildungskraft tritt hinzu, vom Dienst Christi erhitzt, vom Höllen- und Himmelsbild, geöffnet und abstellbar auf die Minute. Was die Ketzersekten an Mut und Besessenheit ins Feld getragen hatten, das wurde nun aufgeholt gegen die Ketzer selber. Vor allem fehlten auf dem spanischen Boden mohammedanische Einflüsse nicht: der Fanatismus, der einmal die Halluzinations- und Mördersekte der Assasinen hervorgebracht hatte, der wurde eingesetzt gegen die anders Ungläubigen, gegen die Giaurs des Protestantismus. Erreicht wurde durch solche Schulung, durch eine oft fast mechanisch rationalisierte, daß Menschen als Willensmaschinen auftraten, für sich selber willenlos, doch geladen mit der Energie eines Auftrags und geglaubten Ziels. Das Freund-Feind-Verhältnis wurde völlig inhaltlich, als Verhältnis zum Reich Christi hier, zum Reich des Teufels dort, und die Entscheidung wurde fanatisch durch beides. Doch ist das alles freilich noch Europa, also - gemessen an der weit älteren, weit radikaleren Willenstechnik Asiens - fast noch Dilettantismus. Wenigstens dann, wenn die innere Kraft, die von den dortigen Trainern geübt wird, mit dem europäischen Willen verglichen werden kann, und vor allem dann, wenn auch nur zwei Worte in den Berichten wahr sind, die über unfaßliche innere Kraftsteigerung in dem so wenig energischen Indien seit alters umlaufen. Auch kommen in Indien nur die früheren Yogis in Betracht, nicht die Gaukler und Fakire von heutzutage, als welche teils rohe Epigonen, teils Fremdenindustrie sind; freilich gibt es für vergangene Effekte keine Nachprüfung. Die rein ideologische Rolle des Yogi ist klar: er hatte Ruhe als erste Pflicht vorzuleben; er hatte »höhere Erkenntnisse« als ebenso unkontrollierbar vornehm zu machen. Davon abgesehen liegt aber subjektiv echte /(790) Trance geschultester Art vor, in einer Gestalt, wie sie trotz der jesuitischen Exerzitien Europäern noch unzugänglich ist (vgl. Ruben, Geschichte der indischen Philosophie, 1954, S.210). Zuverlässig wahr sind die Intention und der methodische Ernst der früheren Yogis, so unprüfbar, ja für den aufgeklärten Europäer undiskutierbar auch die überlieferten haarsträubenden Effekte sind. Formt
doch die Yogatechnik einen Willensglauben, der nun wirkliche Berge zu versetzen meint, nicht nur Berge von Schwierigkeiten; so bildet sie seit alters je das Zentrum utopischer idée-force. Und die Intention wird hier völlig monomanisch, sie ist besessen von der extremsten Willensutopie: der des materiellen Eingriffs durch puren Entschluß. Beherrschung des Atems wurde der Hauptweg dieser Exerzitien: denn im Menschen wie in der Natur gilt prana, der Atem, als der Allesbeweger oder göttliche Lebenswind. Beherrschung des Atems im Leib soll nun den äußeren Zeitrhythmus, die Abhängigkeit vom Gang der Gestirne aufheben; der Yogi fühlt sich in der kleinen Welt seines Leibs zum Weltatem selbst geworden. Der Abstraktion vom Leib dienen die geschulten Muskelkontraktionen, die »Prägungen« oder Figuren der Haltung; deren gibt es zehn. Die »Leuchte des Hatha Yoga« lehrt, daß sie wachsend Alter und Tod vernichten, in dem doppelten Sinn, daß sie vollkommene Gesundheit verleihen, daß sie vor allem aber die Adepten ins »Besitztum des Todlosen« setzen, das in ihnen selbst verborgen ist (vgl. auch Zimmer, Indische Sphären, 1932,S.111). Dauernd merkwürdig bleibt hierbei die äußere Technizität, das ist die Wendung von der Selbstkontrolle zur Dingkontrolle, womit solch konzentrierter Wille dem Anspruch nach auftritt. Ihm scheint jede physisch gesetzte und geordnete Schranke, ja jede Naturmacht zu einem Ohnmächtigen, Unselbständigen und Verschwindenden herabgesetzt. Allerdings mittels einer mythischen Zauber-Allianz, welche zum Willen, in seiner übermenschlichen Steigerung, hinzukommt: der Yogi erlangt überschwengliche Macht von der Art, wie Krischna in der Bhagavad-Gita sie sich selbst zuschreibt: als Vibhuti oderAttribut der Gottwerdung. Der Adept geheimerWeltkräfte ist so nicht bloß schauend, mit »Sinnesorganen der Seele« oder »Lotosblumen«, die den Verkehr mit einer »Geisterwelt« vermitteln, wie das eine indisierende Theosophie für Europa /(791) zurechtklischiert hat. Sondern über der sogenannten Hellseherei sollte eben die alte magische Technik lebendig gehalten sein, mit Konzentration, die den Weltkräften gebietet und ihre Ordnung begreift, dadurch durchbricht. Der Yogi ist nun nicht mehr ihr Untertan, Konzentration des beherrschten Atems, hinein ins Zentrum des Weltatems, sollte den Punkt markieren, von dem her die Welt regiert, also mitregiert und umgelenkt werden kann. Das ist indische Technik in Brahma; die Ananke oder Naturgesetzlichkeit schien dem indischen Bewußtsein, dem jede Bestimmtheit und jeder Gesetzbegriff fremd sind, ohnehin nicht lückenlos, am wenigsten dem zusammenhängenden Willen überlegen. Viel Haarsträubendes wurde berichtet über die Effekte dieser von Yogis erlangbaren Macht: über Fernsehen, Fernwirken und sogar Levitation. ÜberVersetzung des Körpers an einen beliebig fernen Ort, außerhalb des Zeitmaßes, also in einem Augenblick; über Frühlingsluft um die Yogis des Himalaja, mitten in der Schneeregion; über die nachwirkende Kraft von Fluch und Segen. Was hierbei exotisches Ammenmärchen, was täuschend entwickelte Kraft, zu der europäische Meditation nie gelangt ist oder gelangen wollte: dies zu entscheiden, dazu reichen weder die sonst so bewährten Instanzen der europäischen Erfahrung aus (gar wenn sie sich zu negativem Dogmatismus a priori verdichten) noch eben das vorhandene Material. Auch unsere Kenntnis von den wirklichen Weiterungen geschulter Willenskraft reicht dazu nicht aus; möglicherweise steht sie noch auf der elektrotechnischen Stufe der Griechen, die von der gesamten Elektrizität nur den geriebenen Bernstein kannten und keine Dynamomaschine. Ja, was Elektron, der Bernstein, in der Vorgeschichte der Elektrizität bedeutet, ein dem Verwandtes könnte - in utopischer Verlängerungslinie ein indisch aufgefundenes Elektron des Willenssubjekts in der vor uns stehenden Geschichte der Willenstechnik bedeuten. Es ist zwar wahr, keine Macht des
indischen Gemüts ist bisher der Kugel eines einzigen englischen Infanteriegewehrs Meister geworden; die indische Magie wirkt nur als Privat- oder Friedensware. Trotzdem könnte gerade dieses in ihrem Wesen liegen, auch setzt jede Magie die alte Umwelt voraus, in der und für die sie ausgebildet worden ist, in der sie Kraft hat. So ungeheuerlich auch die Zumutungen sind, die indi- /(792) sche Überlieferung an den Verstand stellt, und so viel Gebrauch bloße Phantasterei von der Maya- oder Illusionswelt machen mag, zu der die meiste indische Philosophie alles empirisch, gar mechanisch Gegebene verflüchtigt hat. Doch kann das wie eine Hilfskonstruktion wirken, um der psychischen Energie überhaupt nur Raum zu verschaffen, den Mut eines Wirkungsraums; und die ausgeführte Yoga-Lehre, vor allem die des Patanjali, will paradoxerweise aus ihrer Verachtung der Materie selber eine materielle Kraft ziehen. Wogegen das gleiche Subjektwesen, dem diese Kraft zugeschrieben wird, doch gerade im mechanisch-materialistischen Europa nur als spirituelles gilt und so untechnisiert bleibt. Kurzum, das Ziel im »Tempel des Erwachens« mag das abenteuerlichste sein, aber es ist ein Abenteuerliches technischer Macht, nicht spiritueller Selbstpflege, wie im sonst so materiell-aktiven Europa. Es ist das Ziel von Allmacht in dem phantastischen Sinn, daß jedes gewünscht-vorgestellte Ereignis kraft der Fernwirkung des geschulten Willens sich verwirklichen lasse und kraft der Einbildung, die den Schleier der Maya wegzuwehen oder verschieben zu können glaubt, wann immer sie will. Selbst Buddha, dem ein ganz anderes »Erblühen der Lotosblume« am Herzen liegt, spricht vom magischen Wunsch als einem erlaubten und von der Technik seiner Erfüllung: »Wünscht sich, ihr Mönche, ein Mönch: >Gelänge es mir doch, auf mannigfaltige Weise Machtentfaltung zu erfahren: als nur einer etwa vielfach zu werden und vielfach geworden wieder einer zu sein oder sichtbar und unsichtbar zu werden; auch durch Mauern, Wälle, Felsen hindurch zu schweben wie durch die Luft; oder auf der Erde auf- und unterzutauchen wie im Wasser; auch auf dem Wasser zu wandeln ohne unterzusinken wie auf der Erde; oder auch durch die Luft sitzend dahinzufahren wie der Vogel mit seinen Fittichen; auch etwa diesen Mond und diese Sonne, die so mächtigen, so gewaltigen, mit der Hand zu befühlen und zu berühren, etwa gar bis zu den Brahmawelten den Körper in meiner Gewalt zu habenreinen TheorieWerther
Wenn wir jetzt nur ein gebratenes Würstlein dazu hättenVergiß das Beste nicht!< hatte der Alte gesagt«, aber dies Unscheinbare, tief Versteckte, Ungeheure ist nirgends entdeckt, nirgends gehoben, es kündigt sich eben nur in solchen Symbolintentionen an, »zwischen Subjekt und Objekt, beide in durchdringender Betroffenheit auf einen Augenblick identifizierend» (Seite 337 f.). Alles dergleichen lebt an religiöser Grenze, auch die Symbolintentionen des absoluten Staunens leben daran, trotz ihres Orts im Alltag; aber es überholt zugleich die prunkvollen Hypostasen, die Mächte, Herrlichkeiten, Throne, Glanzhimmel, mit denen die Religions-Mythologie das Beste oder Höchste ausstaffiert hat. Tendenz wie Latenz des Verweile doch, aufs höchste Gut bezogen, leben eben dadurch am Grenzbegriff des Unum, Verum, Bonum, das die Mystik so lange gehütet hat. Zusammen mit dem Bezug auf den Augenblick gehütet hat, wie gezeigt werden konnte: das Nune stans der Mystik ist Koexistenz, ja aufgeschlagene Identität aller Augenblickswelten in der Vergegenwärtigung des höchsten Guts. Und wie Nunc stans dem Zustand des Verweile-doch die radikalste Formel gab, so geben Dauer, Einheit, Endzweck dieser Formel genau noch die Grundbestimmungen des höchsten Guts hinzu. Wobei in der Einheit das Unum, im Endzweck das Verum als Bonum notwendig ist, sofern immer Wahrheit in Ansehung des Endzwecks mit einem Sinn des Endzwecks zusammenfällt. Dieser Sinn - ein in der Wahrheit und Wirklichkeit des bisher gewordenen zwar durchaus noch unvorhandener und ungarantierter, aber ebenso noch nicht vereitelter - ist einzig dadurch Sinn eines Endzwecks, daß das Was des Daß, der Inhalt des alles heraus prozessierenden dynamisch-materiellen Weltkerns einer des erfüllenden Alles und keiner des vereitelnden Nichts wird. Das erfüllende Alles aber ist als Adäquation, folglich Anlangung der Daß-Intention, der Grund-Tendenz an ihrem eigensten und eigentlichsten Inhalt genau im höchsten Gut gedacht, in diesem Polarstern jeder Utopie und erst recht der konkreten, der über die Welt und den /(1565) weltprozeß geschehenden. Derart ergibt sich das höchste Gut von dieser Stelle aus also nicht nur als Leitbild aller menschlichen Leitbilder, sondern zugleich als das Problem eines Leitbilds im Weltprozeß, eines noch auf Sinn hin betrieben-betreibbaren. Die Hypostasen der Religions-Mythologie haben diesen Welt-Endzweck als das gesehen, was er am wenigsten ist: als fertiges Da-Sein in einem als Ens realissimum gesetzten Himmel. Auch Tolstois Fürst Andrej blickt so in die Sterne: doch wenn er ins Leben wieder zurückkehrt, ins wenig veränderte, so zeigt sich das Ens perfectissimum der Größe dort oben zwar nicht als Illusion, aber als Antizipation; Ens perfectissimum bleibt Ahnung und Erlebnis, keine erreichte Wirklichkeit. Das unter dem höchsten Gut Gedachte bleibt nicht immer so Ahnung und Erlebnis, also auf Subjektivität beschränkt, doch es kommt gerade aus dieser nur heraus, indem seine Mystik als Geschehnis auf der Höhe des Weltprozesses begriffen wird und nicht als eines innerhalb eines Olymps, also einer fertigen Ewigkeit von Anfang an, ja ohne Anfang und Ende. Das höchste Gut, wie es unter Gott gedacht worden ist, steht auch für sich selbst im real Unentschiedenen oder an der Front. Es ist in seinem weder durch Dauer noch Einheit, noch Endzweck irgend bereits angebbaren Inhalt - selber ein Problem, als ein objektiv-reales, nicht nur für den unzulänglichen Menschengeist vorhandenes Realproblem. Als in sich selbst noch ungelöstes, als eine im Kern wie an der Front des Weltprozesses arbeitende Realgestalt der absoluten Frage. Die Grundbestimmungen Dauer, Einheit, Endzweck geben so dem prozessualen Leitbild nur seinen Gegensatz zum Flüchtigen, zur Vielheit des Chaos, zum Umsonst oder Nihilismus, aber sie geben noch keinerlei Entschiedenheit des positiven Inhalts. Dafür freilich geben sie unnachlaßliche Invarianz der Richtung auf einen Inhalt: auf den eines Da-Seins, das dem verschlossenen
Sein des Wesens bis zur Identität adäquat geworden, also ohne Anderheit und Entfremdung sein könnte. Das Realproblem dieses Da-Seins lebt aber nur innerhalb des Prozesses, der es betreibt, ja: es gäbe gar keinen Prozeß, ,wenn dieses sein Realproblem nicht wäre, und es gäbe nicht dieses Realproblem, wenn kein Prozeß wäre. Das Daß, das im Menschen, aber auch im problematischen Subjekt der Natur zur absoluten Bedarfsdeckung, also zum höchsten /(1566) Gut gelangen will, setzt kraft dieses objektiven Leit-Realproblems erst die Zukunft, in die die unerfüllte Augenblickswelt immer weiter treibt, mit intendiertem Endziel. Und es setzt ebenso erst die Vergangenheit, in die die Augenblickswelt immer wieder versinkt, weil noch nichts Erschienenes, zur Erscheinung Gelöstes dem intendierten Endziel oder höchsten Gut entspricht. Das höchste Gut ist selber dieses noch nicht gebildete, in der Tendenz des Prozesses letzthin bedeutete, in der Latenz des Prozesses letzthin realmögliche Ziel. So erscheint eine utopisch-kosmische Perspektive mitten in der subjektiv- und intensiv-existentiellen, wenn statuiert werden kann: Das unter dem höchsten Gut Gedachte, das früher Gott hieß, dann Reich Gottes, und schließlich das Reich der Freiheit ist, macht nicht nur das Zweckideal der menschlichen Geschichte aus, sondern auch das metaphysische Latenzproblem der Natur. Nochmals Trieb und Speise oder Subjektivität, Objektivität der Güter, der Werte und des höchsten Guts Aber wieweit ist das als gut Empfundene nur empfunden, wieweit ist es draußen? Naheliegt, zu meinen, daß es vor allem draußen liegt, unter den farbigen, angenehmen Dingen. Daß Wein genauso an sich selber wohlschmeckend sei, wie er an sich selber gelb oder flüssig ist. Aber während es lange dauerte, bis man die Farbe des Weins, die Wärme des Ofens und so fort als bloße Sinnesempfindung aus gab, wurde die dingliche Eigenschaft des Wohlschmeckenden oder Angenehmen früh bezweifelt. Es kommt dem naiven Bewußtsein hart an, daß Farbe, Wärme, Ton nur subjektiv vorhanden sein sollen. Aber weit leichter fällt ihm die Annahme, daß Gutes, Böses und seine verschiedenen Abwandlungen lediglich subjektiv, nicht objektiv vorkommen. Wonach also eine Sache nur deshalb gut genannt werden kann, weil sie begehrt, willenhaft bejaht wird und darum als Gut erscheint. Zu dieser subjektivistischen Ansicht hat zweifellos die Vielheit, mit ihr die Verschiedenheit der jeweiligen Bejahungen sehr beigetragen. Was dem einen seine Eule, ist dem anderen seine Nachtigall, oder wie ein anderes Sprichwort sagt, eines, das nicht erst auf Skeptiker zu warten hatte: über den Geschmack läßt sich /(1567) nicht streiten. So gilt jedes sogenannte Werturteil, mindestens was das Angenehme, Wohlgefällige und dieser Art Gute angeht, auch in der populären Ansicht seit langem als subjektiv. Was freilich nicht besagt, daß es lediglich als privat gilt, im völlig relativistischen Sinn des »De gustibus non est disputandum«. Kaum hatten die Sophisten den Menschen zum Maß aller Dinge gemacht, so setzte das Sokratische Problem des Allgemeingültigen ein. Nicht fürs Angenehme, Wohlgefällige und dergleichen, für jene noch wertfreien Bejahungen des Begehrens, über die nach wie vor sowenig ein verbindliches Urteil abgegeben werden kann wie über eine Lieblingsspeise. Wohl aber gibt es eine Rechtsfrage über das Rechte selber, über das sittlich Gute vor allem, eine Wertung des Wertens; nur daß auch diese, bei Sokrates wie bei Kant, den Wertmaßstab im Menschen sucht, in seinem Gewissen oder seiner allgemeinen Vernunft, nicht in objektiv wertvollen Gegenständen selbst. Das ist die eine Seite des Problems, die subjektive; mit ihr jedoch untrennbar, in Wechselwirkung verbunden ist die objektive Seite, die durch allen Willensprimat nicht ausschaltbare. Denn wird auch eine Sache nur deshalb gut genannt, weil sie begehrt wird, so wird sie eben nur begehrt, weil sie gegenständlich begebrenswert ist. Weil sie sich im Wein als wohlschmeckend darstellt, weil ein als gut Empfundenes genau in diesem Stoff oder in dieser Menschenart vorgefunden wird und in keiner anderen. Selbst der Geschmack, über den subjektiv nicht gestritten werden kann, wird einhellig, sobald ihm Steine statt Brot, Caccatum statt Pictum vorgeführt werden. Und was dem einen seine Eule, wird auch dem anderen nicht zur Nachtigall, wenn es sich um die Werthaltung gegenüber Pestbazillen handelt oder gegenüber dem einhelligen Nicht-Gut des Tods. Werturteile sittlicher Art waren zwar durch die verschiedenen Zeiten und Gesellschaften hindurch nie gleichartig, sie waren stets von der wechselnden gesellschaftlichen Basis abhängig, doch ebendeshalb wurden sie stets nach Maßgabe eines jeweils gemeinsamen Leitbilds gefällt, eines typischen, und darin, darüber hinaus, was die Hauptsache: eines gegenständlich-inhaltlichen. Der allgemeingültige Maßstab liegt hier also keineswegs nur im Gewissen oder in einer normgebenden Vernunft überhaupt, er liegt in der objektiven Sache selbst. /(1568) Er braucht deshalb keinen Sokrates oder Kant, um durch einen Kanon der Triebfedern gefunden zu werden. Wertung ist hier nicht nur auf ein wie immer geklärtes und normatives Bewußtsein ihrer selbst gerichtet, sondern gerade auf Gegenstände, die der Wertung materiellen Inhalt geben. So reicht also in das als gut Empfundene durchaus materieller Stoff herein, ja er differenziert erst die
Güter und Werte, so daß sie eine Rangstufung haben können. Gäbe es nicht die verschiedenen materiellen Gegenstände, die zur Bedarfsdeckung, Wertbildung tauglich mitwirken, so gäbe es nur einen einzigen, rein in der isolierten Subjektivität bleibenden Wert, und zwar notwendig inhaltloser, also formaler Art; Sokrates nennt ihn Tugend schlechthin, Kant guten Willen. Es gäbe wie folgerichtig bei Sokrates und Kant weder eine Mehrheit noch eine zweckinhaltliche Staffelung, es gäbe keine wirtschaftlich, erotisch, moralisch, ästhetisch, religiös spezifischen Werte, bis hin zum letzten, dem höchsten Gut. Erst Arbeit plus Rohstoff und Stoffgehalt erzeugt alle Werte; es gibt keine Werterzeugung, vor allem auch in höherer Klimax, durch isolierte Subjektseite ohne hereinwirkende Wertmaterien. Allerdings - und das gibt der objektiven Seite die Begrenzung-, allerdings enthält die Objektivität Werthaftes durchaus nicht als an und für sich vorhandene Eigenschaft, im naiv-realistischen Sinn. Dergestalt, daß, wie Scheler in seiner Wertwesenslehre behauptet hatte, etwa die Liebe, die unverengerte Sympathie nur dazu nötig seien, um die ontische Wertfülle der Welt an sich lediglich zu empfangen. Statt dieser objektivistischen Überspannung zeigt sich: die Sachwelt ist zwar durchaus imstande, Träger eines Guts, ja der einzige Praxis-Ort aller Güter und Werte zu sein, jedoch so, daß der größte Teil der Werte doch erst durch menschliche Arbeit am Rohstoff erzeugt und so in ihm erweckt wird; wonach die Sachwelt ihre mögliche Werteigenschaft einzig als eine des alliierten Potentials in Wertmaterie besitzt. Die Objektseite gibt das Material zum Wert, samt allen Differenzierungen, die das Material in die Wertwelt hereinschickt; sie enthält aber den Wert nicht bereits als irgendeine objekthaft fertige, in sich selber ruhende Ausgestaltung. Die Welt enthält vor allem in ihren nicht durch Arbeit erzeugten Werten: als Naturschönheit, auch als mythisch bezeichnete Naturtiefe, erfaßbare Wertqualitäten, /(1569) die keineswegs erst durchs Subjekt hineingelegt worden sind; aber diese Qualitäten - meist Wert-Bedeutungen - sind einzig Chiffern eines noch realutopischen Inhalts; sie sind keine ontisch vorgeordneten Realitäten, denen die Subjektivität lediglich als empfangende Teilnahme zugeordnet wäre, statt als gemeinsamer Weckruf. Denn die Welt ist auch in Ansehung ihres objektiven Wert-Materials kein Museum und noch keine Kathedrale; sie ist ein Prozeß. Gerade die vorhandene Wertstaffelung, bezogen auf den Zielwert des höchsten Guts, ist keine Klimax im Sinn einer letzthin Thomistischen Seinshierarchie, sondern einzig die einer zeithaft-prozessualen, einer Mensch und Prozeß sich erst wertgemäß entwickelnden Ziel perspektive. Soviel hier über die objektive Seite der Werterfahrung, sie ist so sicher vorhanden wie die subjektive, aber sie enthält ebenso nur die differenzierende Tauglichkeit und das fundierende Material zum Wert, wie die subjektive Seite den Begehrungs- und Arbeitsfaktor zur Entwicklung dieses Materials enthält. Lediglich in Wechselwirkung kommen beide Seiten vor, nicht in inhaltlicher Autarkie hier, in formalwillenshafter dort. Wobei in letzter Instanz freilich der Willens- oder Subjektivitäts-Primat selbst ihr objektiven Potential des Werts sehr lange bewahrt bleibt. Sämtliche Güter, bis hinauf zum höchsten Gut, wo Gut und allgemeinst gültiger Wert völlig zusammenfallen, sind auf den Willen bezogen, der sie will, zu dessen Leitung, letzthin Befriedigung (Glück) sie tauglich sind. Das Bedürfnis des Willens erweckt erst das Potential der außerhalb des Willens befindlichen Güter und Werte, so wie erst die auf die Bedürfnisbefriedigung gerichtete Arbeit den objektiven Materialwert der bearbeiteten Stoffe und Sujets herausschlägt. Am deutlichsten zeigt sich der Willensbezug in der Gebietskategorie, die den Begriff der Güter und Werte überhaupt umfaßt: im Zweck. Jeder Zweck setzt den Bezug auf eine bewußte, äußerstenfalls unbewußte Absicht voraus, und Zwecktätigkeit (zum Unterschied von der mechanischen) hat als Ursache (causa finalis) einzig diese Absicht. Die menschliche Geschichte ist gerade als Geschichte der Bedürfnisbefriedigung wesentlich von Zwecktätigkeiten durchzogen, dergestalt, daß nur die Kategorie des Zwecks auf den menschlichen Willen bewegend, gegebenenfalls (in Form des Ziels) leitend wirkt. Daher /(1570) mußte eben der mechanische Materialismus die menschliche Geschichte aus sich auslassen, während der historische Materialismus genau deshalb ein historischer sein kann, weil in ihm lauter »Interessen«, also lauter Willenszwecke Platz finden. So stark ist die Zweckkategorie subjekthaft bezogen, daß sie ja gerade dort ein Problem wurde, ja geleugnet worden ist, wo die historische Menschenwelt aufhört. So bereits in der Biologie, so - seit Galilei und Newton - in der Physik, so - bei Bacon wie Spinoza - in der Philosophie: Beurteilung der Dinge nach Werten, nach Teleologie insgesamt erscheint danach als pure Vermenschlichung (vgl. Spinozas Ethik I, Anhang). In der Tat setzt die »Anwendung« der Zweckkategorie auf die außermenschliche, gar anorganische Natur nicht nur eine tendierende Anlage, sondern eben wieder eine Art Subjektivität, obzwar als durchaus objekthafte Bestimmung, voraus. Wird dieser willenshafte Kern geleugnet, wie bei Spinoza, so gibt es folgerichtig keine objektive Zweckmäßigkeit; wird er aber der Natur supponiert, dann ist ihr Teleologie objektiv immanent. Ja selbst die täglich vor Augen liegende Tauglichkeit der meisten umgebenden Naturdinge, Träger für menschliche Güter, Werte, Zwecke zu sein: selbst diese Art Zweckdienlichkeit (unterschieden von objektiv-immanenter Zweckmäßigkeit) setzt, wenn kein Subjekt der Natur, so jene Art von Verwandtschaft in der riesigen Natur-Äußerlichkeit voraus, welche eine
ökonomisch-technisch-kulturelle Vermittlung mit der Subjektivität der menschlichen Bedürfnisse erlaubt. Dergestalt, daß der ausgesprochen subjekthaft-finale Teil der Natur, den man Menschenwelt nennt, mit dem subjekthaft-final unausgesprochenen Teil in ständigem praktischem Austausch steht und stehen kann. Bis zu der fundierten Hoffnung hin, daß auch die - gleich ihrem Subjekt - noch unausgesprochene Tendenz-Latenz der anorganischen Natur zu der der Menschenwelt so wenig disparat ist, daß sie mit ihr identisch werden kann. Überall geht so der Wert auf ein Begehren zurück, samt dessen subjektiv intendiertem, objektiv konkretisierbarem Wert-Zweck-Inhalt. Ist ein Ding gegeben, so ist es immer jemandem gegeben. Dieser jemand ist hierzu nötig, als einer, der nimmt und das Dargereichte, Vorliegende, vor ihm Liegende wahrnimmt. Wie /(1571) erst, wenn das Gegebene ein Gut ist, ein nahrhaftes, ein angenehmes, schließlich ein allgemein wertvolles. Und wie erst, wenn, wie in diesem Fall, das so Gegebene nicht nur genommen, sondern vorher erzeugt, mindestens herausgearbeitet werden muß. Dann gehen ihm sowohl menschliches Bedürfnis wie menschliche Arbeit unweigerlich voraus. Daß über den Geschmack nicht zu streiten sei, dieser Grundsatz hatte die Eigenschaft Gut auf rezeptive Weise subjektiviert. Aber mit dem Beginn der bürgerlichenNeuzeit trat nun auch die aktive Subjektivierung hinzu: durch den bürgerlichen Menschen als homo faber. Wert im allemal ursprünglichen Sinn ist das Maß, nach dem ein wirtschaftliches Gut zur Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse geeignet ist, beziehungsweise für geeignet gehalten wird. Aus diesem Gebrauchswert und nur aus diesem stammt sein gesellschaftlicher Tauschwert, sowohl im einfachen Tausch sein unmittelbarer, wie im Kauf und Verkauf sein vermittelter, der durchs abstrakte Geldmedium im Preis ausgedrückt wird. Nun aber verstärkte das Aufkommen der bürgerlichen Wirtschaft die ohnehin subjektiven Züge dieses ökonomischen Werts ganz entscheidend. Die Entobjektivierung der übrigen Werte folgte sinngemäß nach; sehr zum Unterschied von der Werttheorie der mittelalterlichen Gesellschaft. Das ging so weit, daß der Wert sogar völlig psychologisiert, folglich objektiv verabschiedet wurde. Dort nämlich, wo ausschließlich vom Konsumenten ausgegangen wird; hier werden der Gebrauchswert, erst recht der Tauschwert eines Guts lediglich von seiner Schätzung abgeleitet (am schärfsten in der Grenznutzentheorie). Wird freilich vom Produzenten ausgegangen, dann bleibt zwar der subjektive Ursprung des Wirtschaftswerts, aber mitnichten mehr als psychologistischer: Wert ist nicht Schätzung, sondern Arbeit. Man kann diese Definition eine objektiv-subjekthafte nennen, und sie hat zugleich einen Kampfakzent gegen die früher feudale, später bürgerliche Schicht der Drohnen. Adam Smith hatte grundlegend die in den Gütern enthaltene Arbeitsmenge als ihren «natürlichen« Wert bestimmt. Objektiv-subjekthaft ist dieser Art auch die Vollendung der Smithschen Arbeitswerttheorie durch Ricardo und vor allem, mit der entscheidenden Entdeckung des ausgepreßten Mehrwerts, durch Marx: Wert ist /(1572) »verdichtete Arbeit«, Maß des Werts ist die »gesellschaftlich (das heißt unter den gesellschaftlich-normalen Produktionsverhältnissen) notwendige Arbeitszeit«. Nur die »in den Waren vergegenständlichte menschliche Arbeit « ist bei Marx die Macht, welche »den vorgefundenen Naturprodukten einen Wert im ökonomischen Sinne gibt«. Sinngemäß freilich bezieht sich diese Definition nur auf den Warenwert, also ökonomischen Tauschwert, nicht auf den Gebrauchswert, und Marx hat sie vor allem auf die kapitalistische Wirtschaft bezogen (deren Reichtum aus Waren besteht). Die Werttheorie der mittelalterlichen Gesellschaft, als eine ohne homo faber und mit verhältnismäßig unentwickeltem Tauschverkehr, war daher bezeichnenderweise fast rein objektivistisch. Heute noch wird vom Heizwert der Kohle, vom Nährwert des Getreides gesprochen, doch nicht, als gehöre der Nährwert zur Botanik, der Heizwert (von der Verbrennungstemperatur verschieden) zur Mineralogie. Für Thomas dagegen ist diese »utilitas« wirklich eine objektive Eigenschaft: Gott hat sie in seiner Schöpfung den Dingen mitgeteilt, im Hinblick auf den Gebrauch durch Menschen. Ein Subjektives des Werts liegt hier einzig in der Preisbildung, und zwar ein Subjektives der bloßen Normung im Kauf und Verkauf. Und auch diese Norm war von Gott eingeschrieben, als »pretium justum«, mit einem Gesolltsein: der gerechte Preis ist so hoch wie die handwerkliche Arbeit und ihre Kosten, die für die Herstellung des Produkts aufgewandten. Aber der eigentliche Wert selbst, der Gebrauchswert, lag objektiv fundiert in den Früchten der Erde; auf der Subjektseite des Werts lag dann wenig mehr als seine Hinnahme, seine durch etwas handwerkliche Nachhilfe ermöglichte »fruitio». Und das alles in bruchloser Staffelung bis zur Teilhabe, zur nicht mehr ökonomischen Teilhabe an immer höheren Werten, hinauf bis zum göttlichen Urquell aller Werte, als dem höchsten Wert und Gut. Eine fast rein objektiveZweckwelt liegt hier also vor, zugleich eine, die als so objektiv-real ausgegeben und hypostasiert wird, daß die Menschen sie wesentlich nur zu empfangen, nicht erst zu erarbeiten oder auch nur herauszuarbeiten haben. Wie letzteres eben dem bürgerlichen Menschen der Neuzeit so selbstverständlich war, dem homo faber mit immer weiter entfesselten Produktivkräften. Ja, die /(1573) Reduktion auf das erzeugende Moment (in der Arbeit) verhalf und brachte dazu, noch mehr als den Tauschwert, nämlich alle Qualitäten, auf die subjektive Seite zu schlagen. Qualität insgesamt galt als
subjektiv, die vom Menschen unabhängige Außenwelt wurde wertfrei quantifiziert. In der Welt Galileis und Newtons, vor allem Keplers bleibt gewiß noch eine Art Wertglaube an objektive Schönheit und Harmonie, aber Finalität war nicht mehr in dieser Harmonie, folglich auch keine objektiven, auf einen Endzweck von Mensch und Welt hingeordneten Werte. Rebellionen gegen die totale Mechanik fehlten nicht, vor allem nicht in Deutschland, das ökonomisch-sozial wie ideologisch viel länger und tiefer als Italien, Frankreich, England dem Mittelalter verbunden blieb: Leibniz wie Hegel haben ihr Weltbild durchaus werthaft und objektivteleologisch aufgebaut. Aber beide Male, charakteristischerweise, nur noch als Arbeits-Weltprozeß, nicht mehr wie bei Thomas als eine gestaffelte Güter-Auslage oder Wert-Kathedrale, in die die Menschen gleich Teilnehmern und Beschenkten eintreten. Die Wendung zum homo faber zeigte allerdings in der Folge für ihn selber zweierlei Aspekte auf seine Stellung in der Welt: einen negativ-verarmenden, einen positiv-enthusiastischen. Und beides in Ansehung der bewußt gewordenen Arbeit und ihrer Werterzeugung, weit über den Begriff der bloßen Tauschwerte hinaus. Der negative Aspekt zeigt: es wird den Menschen nichts geschenkt, sie müssen sich alle Güter erst erarbeiten, es ist ihnen kein auch nur halbwegs fertiger Tisch gedeckt. Sie sind zwar in der Welt nicht allein, im Gegenteil, gerade die Erzeugung von wirtschaftlichen Gütern geschieht im notwendigen Stoffwechsel und Austausch mit der Natur, aber das Dasein der Rohstoffe und ihrer Tauglichkeit zur Verarbeitung wirkt nicht mehr vorgesehen, sondern mehr als glücklicher Zufall. Dies Einsamkeitsgefühl kann sich in den philosophischen Weiterungen einer subjektivistischen Wertlehre ganz gewaltig steigern, nämlich bis zum Riß zwischen menschlichen Zweckreihen und eben einer als völlig zweckfrei gedachten Natur. Die menschlichen Strebungen fallen dann außerhalb ihres eigenen kleinen Kreises ins Nichts; das wirkt, wie Voltaire einmal sagte, als würde einem Schwimmer im Ozean zugerufen, es gäbe kein Festland. Oder wie Nietzsche diese völlige Anschluß- /(1574) losigkeit der Wertwelt ausdrückte: »In irgendeinem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Tiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmütigste und verlogenste Minute der >WeltgeschichteSelbstbewußtsein< oder den >Geist< setzt.« Zwar tritt in späteren Schriften von Marx der Terminus Entfremdung, also die negative Folie zum Humanum, etwas zurück, doch nur als Terminus tritt die Entfremdung zurück und nicht als die vom Humanum gerichtete Sache. Das Humanum bleibt gerade in den späteren Analysen des proletarischen Arbeitstags und all des übrigen «Ensembles der gesellschaftlichen Verhältnisse «,wie sie dem Proletariat geworden sind, als Richtmaß, Gerichtsmaß. Statt der vielen vorhandenen Beispiele sei nur ein besonders spätes und ebenso besonders schlagendes kenntlich gemacht: »Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also in der Natur der Sache jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion« (Das Kapital III, Dietz, S. 873).Und die »Entfesselung des Reichtums der menschlichen Natur«, auf dem Boden der beherrschten Notwendigkeit aufblühend: damit ist zweifellos »realer Humanismus« nicht zurückgedrängt, sondern genau als realer und nicht formeller erst auf die Füße gestellt. Menschlichkeit erlangt Platz in wirklich ermöglichter Demokratie; so wie diese selber den ersten humanen Wohnort darstellt. Also ist das Humanum, gerade auch als Fernziel in der gesellschaftlichen Tendenz, hier schlechthin regierend. Marxismus, recht betrieben, vom bösen Nachbarn tunlichst sich befreiend und entlastend, ist seit Anfang humanity in action, Menschengesicht in Verwirklichung. Er sucht, schlägt und befolgt den einzigen objektiv echten Weg dazu; so ist nur seine Zukunft gleichzeitig unvermeidlich und heimatlich. /(1609)
Säkularisierung und die Kraft, auf die Füße zu stellen
Menschliches muß an frische und starke Luft gebracht werden. Damit es gehe und aus der bloß inneren, lang und vergebens genug gepredigten Weise endlich heraustrete. Aber nun wird zuweilen gemeint, obzwar an mehr als verdächtigen Orten, daß dergleichen nicht Heraustreten, sondern Herabsinken sei. Was auf die Füße gestellt wird, ist dann sozusagen nur vom Gaul auf den Esel, dann auf den plebejischen Fußgänger gekommen. Gar es wurde von einem geweihten Raum respektlos heruntergebracht und »verweltlicht«. Letzteres wird nach seinem geschichtlichen Vorkommen auch Säkularisieren genannt, wiewohl dann in weniger abwertendem Sinn. So hat der Staat geistliche Länder, Güter und Rechte zu weltlichen umgewandelt; in Deutschland 1648, vollständiger 1803, in Frankreich 1789 und zuletzt 1906. Doch das Säkularisieren ist abwertend durchaus geworden, wenn eine reaktionäre Mode es nun auf Marx bezieht, weil er mancherlei auf die Füße gestellt hat. Auch dergleichen soll trotz der gehenden Füße nichts als second hand sein, wie die Amerikaner sagen, die es ja wissen müssen. Der Mensch etwa oder gar sein seliges Leben: kam das nicht vor Marx schon bedeutend erhöhter, erhabener vor, und hat Marx das nicht entspannt? Wurde aus
dem seligen Leben nicht ein bloß glückliches und gar eines mit nur materiellen Gütern im Sinn? Verkauft also Marx, so fragen Bankangestellte der Idee, nicht ehemals hohe Werte zu sehr herabgesetztem, den Viel-zu-Vielen erschwinglichem Preis, und das Erlangte ist auch danach? Solch ein Verschleuderer, wenn er Ausverkauf hält, muß dann erleichternderweise vom Warenkenner, gleichsam Friedenswaren-Kenner gar nicht mehr eigens an Ort und Stelle beachtet werden. Sondern der wahre Liebhaber des Menschen und seines Heils geht zu den wirklichen Bezugsquellen zurück und findet sie dort, wo politisch Lied überhaupt noch nicht getönt, gar mißgetönt zu haben scheint. So schafft man sich Marx vornehm vom Hals und doch mit Sinn für Morgenrot, für Neubeginn. Nur hat dieses Morgenrot dann in tunlichst weit Vergangenem gebrannt, und der Neubeginn liegt hinter heiligem Rauch statt in der sogenannten unfruchtbaren Spätzeit von heute. Marx selber soll /(1610) dann geradezu dekadent aussehen, mindestens wird er zivilisatorisch im üblen Sinn. Wie einmal mit reaktionärer Absicht Dichter von Schriftstellern unterschieden wurden, indem letztere vergleichsweise trivial zu gelten hatten, so asphalthaft gilt dann auch der säkularisierende Marx. All das deshalb, weil der Mensch und mehrerlei groß Verwandtes hier auf die Füße gestellt worden sind. Dabei ist dies Herabsetzen der eigenen Zeit gewiß auch sonst bürgerlich weit verbreitet. Es ist insofern nicht nur auf Marx beschränkt, den freilich besonders gern verkleinerten Helden. Die Müdigkeit einer untergehenden Klasse traut sich auch selber wenig mehr zu; das allgemeinste Stichwort gab hierfür einmal Spengler. Nun ist jetzt »Spätzeit« und sonst nichts, sterile »Wachheit« statt der einst jung gewesenen »kulturträgerischen Seele«. Das geht bei Toynbee ähnlich in Bausch und Bogen weiter, die eigene »Demokratie und Wissenschaft« selber als säkularisierte darstellend. Wonach auch diese nur »eine fast bedeutungslose Repetition von Dingen ist, die die Griechen und Römer schon vor uns, und zwar außerordentlich gut, gemacht haben« (Civilization onTrial, 1948, S. 237).Jedoch alle Zurücknahme des eigenen, wenn auch historisch gewordenen bürgerlichen Werts käme ja ihrem gesellschaftlichen Auftrag nicht nach, wenn sie nicht sowohl die liberale Vergangenheit abbaute als vor allem den Beruf unserer Zeit zur Zukunft. Wie tröstlich, wenn auch der Marxismus, und gerade dieser, schon rein chronologisch, nach seinem Stellenwert im allgemeinen Herbst der Kultur, nichts Nennenswertes, ganz Zukunftshaltiges sein kann. Und wie entmutigend ist das gedacht für eine sozialistisch anfällige oder inklinierende Jugend. Da ist Marx nicht nur »tiefstes neunzehntes Jahrhundert«, wie die Nazis sagten, sondern auch wenn er das zwanzigste wäre und ausspräche, hätte er nur Vergangenheit in sich, keine Zukunft. Und eben, das Geschäft der antiquarischen Marxtöterei ist damit noch nicht erschöpft; denn die Herabsetzung der eigenen Zeit wäre ja nicht komplett ohne die Idolatrie der mondbeglänzten Zaubernächte von einst. Der »Aufstand der Massen«, die »Herrschaft der Minderwertigen«, der »Pöbellärm« am Ende aller Kulturkonzerte stünde nicht so armselig da, wenn nicht selbst seine Musik - in dem, worin sie /(1611) llingen mag - als bloßes Derivat besserer Zeiten auszugeben wäre, geistiger, idealistischer, spekulativer. Ohne solchen Vergangenheitston wäre die Redressierung nicht vollkommen, das totale Säkularisierungs-Geschäft nicht in dem vernichtend, worauf es doch kapitalistisch ankommt. Marx hatte im Nachwort zur zweiten Auflage des »Kapital« mit bekannten Sätzen das Auf-die-Füße-Stellen eines Vergangenen zuerst kenntlich gemacht, und zwar im Hinblick auf die Hegelsche Dialektik, die auf dem Kopf stehe: »Man muß sie umstülpen, um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken.« Wurde das freilich, mitsamt der ebenfalls bekannten marxistischen Ahnentafel in der deutschen klassischen Philosophie, nicht als «Herüberretten«, sondern gleichsam als Zurückretten verstanden, nämlich in eine angeblich einzig klassische Herkunft, dann entstanden die ehemals üblichen «Verbesserungen« Marxens durch einen Marburger Kant oder auch (bedeutend schwächer) durch einen neuhegelianischen Hegel. Immerhin wurde hier noch nicht irrationalisiert, sondern eben idealisiert, das heißt, der Marxismus wurde - ohne Ansehung seiner eigensten, proletarischrevolutionären Quelle - auf wenigstens noch rationelle, obzwar entschieden nicht-materialistische Lehren zurückgeschraubt. Nun aber trat im Spätbürgertum, vor allem im deutschen, wachsend die Irrationalisierung vor; dadurch konnte nun die Verkleinerung Marxens durch die Ausspielung von geradezu mythischen Originalen gegen angebliche Nachäffung vor sich gehen. Infolgedessen schob sich an die Stelle der einstigen Kantianisierung oder auch Hegelianisierung Marxens ein radikaler Vernichtungsversuch durch eine Art Plagiatanzeige. So blüht hier denn eine ganz unsägliche Art von Quellenfetischismus zurück von Marx zu Joachim di Fiore oder Augustin oder schließlich zu den mythischen Heilserwartungen der Urzeit. Der große Ketzer und Zukunftsträumer Joachim di Fiore passiert zwar noch, obwohl er doch auch nur so eine Art Jesajas des dreizehnten Jahrhunderts war, aber Marx, weil er der Ernstfall ist, wird angehalten und als soi disant - Kirchenräuber entlarvt. All das erst recht im Decrescendo der Säkularisierung, dazu einer mit dem Ludergeruch der Revolution behafteten. Menschlichkeit ist danach nichts als trivialisierter Menschensohn, proletarische Solidarität /(1612) lediglich die Kitschausgabe des urchristlichen Liebeskommunismus, das Reich der Freiheit lediglich das Reich der Kinder Gottes - auf dem Niveau des
gottlosen Aufklärichts. Das sind so die «Adventures of Ideas«, nach Whiteheads bezeichnendem Ausdruck, wobei die Ideen keinen Schuß Pulver mehr taugen, ihn wohl aber verdienen sollen, wenn sie aufhören, spirituelle zu sein. Bezeichnend hierfür ist etwa Löwiths Sippenforschung nach der mythologischen Großmutter; dies mindestens mit dem Nebenzweck, den Enkel als einen darzustellen, der altes Tempelgut im doppelten Sinn des Worts verwirtschaftet. Da ist Ausbeutung »Vorgeschichte« oder, biblisch gesprochen, die «Erbsünde dieses Äon«. Da ist der historische Materialismus insgesamt »Heilsgeschichte in der Sprache der Nationalökonomie« und »der kommunistische Glaube eine Pseudomorphose des jüdisch-christlichen Messianismus« (Weltgeschichte und Heilsgeschehen, S. 47ff.). Ja der Skandal überrascht nicht, bei einem dermaßen tief eingetauchten, restlos als Plagiat entlarvten, magisch aufgelösten Marxismus, daß gesagt werden kann: »Mit Marx verglichen ist Hegels Philosophie realistisch« (1. c., S.54). Solches also kommt heraus, wenn die Kraft, auf die Füße zu stellen, rationellen Kern zu retten, ausschließlich als Säkularisierung erscheint. Als eine, die die Anhänger und Nachweiser geistlicher Fürstentümer ohnehin nicht heiter stimmt. Gar nachdem sich herausstellen wird, daß eine Gesellschaft ohne Herr und Knecht dasjenige ist, was unter dem Namen Humanisierung so lange vergeblich gesucht worden ist. Und ebenso genau dasselbe, was so lange durch die Klassengesellschaft durchkreuzt oder verhindert war, samt dem Stoff der Hoffnung, der sich erst bildet. Ist doch gerade ein guter Gehalt nicht geschwächt, wenn er berichtigt worden ist. Während die wirklichen Nachkäuer allerdings nur matt und matter vor sich haben, was einmal bessere, mindestens neuere Speise war. Zu diesen Nachkäuern aber gehören gerade diejenigen Gestalten, die Riesen vorwerfen, daß sie ja auch schon Eltern von Wuchs gehabt haben müßten. Merkwürdig nur, daß sie nicht auch Piloten vorwerfen, epigonal zu sein, weil bereits Elias durch die Lüfte gefahren sei, sogar viel weiter. Dagegen sind die Säkularisierer selber in der Tat epigonal /(1613) und das sozusagen echt; denn sie schreiben sich alle von der halb oder ganz reaktionären Romantik her. Damals erschien Männern wie Greuzer, gar Welcker die Mythologie insgesamt als erster Ursprung aller Wissenschaft, gleichsam als Hellsehen vor dem bloßen Gehirntag. Ja sie sollte das unerreicht Ganze eines unvordenklichen Wissens gewesen sein, und alles Spätere, das etwas angibt (so etwa Platons Ideenlehre), sei von daher ein Abklang, also gleichfalls säkularisiert. Marx aber schrieb einmal an Ruge 1843: »Es wird sich. . . zeigen, daß die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von dem sie nur das Bewußtsein besitzen muß, um sie wirklich zu besitzen. Es wird sich dann zeigen, daß es sich nicht um einen großen Gedankenstrich zwischen Vergangenheit und Zukunft handelt, sondern um die Vollziehung der Gedanken der Vergangenheit.« Nach Weise der Säkularisierer wäre dann solch ein Satz selber aus dem romantischen Original säkularisiert, wogegen er selbstverständlich ein Originales in Person darstellt. Nämlich einen völlig neuen Standort gerade im Blick auf die Vergangenheit, oder genauer, wie Marx sagt: mit »Analysierung des mythischen, sich selbst unklaren Bewußtseins« in ihr, und freilich nicht mit abstraktem Abbruch von ihr. Also ist ein guter Gehalt in der Tat nicht geschwächt, wenn er berichtigt wird, und noch selbstverständlicher ist er nicht säkularisiert, wenn er, als auf die Füße gestellt, verwirklicht wird. Es erübrigt sich hier, das vollkommen Neue zu betonen, das Marx - mit proletarisch-revolutionärem Auftrag hinter sich - finden mußte, um gute Gedanken der Vergangenheit überhaupt erst zu vollziehen. Das bahnbrechend Neue in der Erkenntnis des Mehrwerts, in der ökonomischdialektischen Geschichtsauffassung, in der Theorie-Praxis-Beziehung: - wenn die Säkularisierer das nicht verstehen, aus bourgeoisem Interesse nicht verstehen wollen, aus Unkenntnis nicht verstehen können, so sagt das bloß über ihre eigene restaurative Gesinnung etwas aus, gar nichts aber über den Marxismus. Und am wenigsten besagt diese Zurückgebliebenheit etwas über die neue Menschlichkeit, Aktivität, Weltveränderung, den berichtigten Traum nach vorwärts im allemal offenen Marxismus. Da ist keinerlei ci-devant-Mythos, der gesprungen und ausgekältet wäre, wohl aber teilt sich ein Flor, kommt stets gemeintes Licht. /(1614) Blicke man dazu, um sogar noch außerhalb des marxistischen Auf-die-Füße-Stellens zu bleiben, die Sittlichkeit an. Ist sie geringer geworden, wenn sie nicht mehr um einer jenseitigen Belohnung willen geschieht, oder wurde sie nicht umgekehrt reiner? Blicke man das Christentum selber an: Ist es von Thomas Münzer entspannt worden, wenn es nicht mehr quietistisch genommen wurde, auch nicht mehr im läßlich-jenseitigen Sinn des »Zechens auf Christi Kreide« ? Wurde es nicht umgekehrt gerade echter und eine wirkliche Ausschüttung seiner durch das Hereintreiben in Aktivität, in diesseitige Zeitgeschichte, Revolution und jene andere »Fleischwerdung Christi«, die den Täufern wie vorher den Hussiten als mystische Demokratie erschien? Blicke man die Geschichte der Wissenschaft an, die ohnehin bei den Griechen im Bruch mit dem Mythos entstandene, auch wenn dieser noch so oft, mit wechselndem Gewicht, in die Aufklärung des Begriffs eingehängt war. Sind Philosophie und Wissenschaft ärmer geworden oder nicht umgekehrt um Nie-Gesehenes, Nie-Bedachtes vermehrt, wenn sie Sokrates vom Himmel auf die Erde bringen wollte, wenn Demokrits »Ananke« die mythische »Moira» oder Schicksalsgöttin keineswegs
säkularisiert hat? Oder wenn Aristoteles in dem ontologischen Begriffspaar »Dynamis-Entelechie«, »Materie-Form« den mythischen Weib-Mann-Hypostasen, außer der entzaubernden Verwendung, ein durchaus Neues, Verantwortliches, »in Wahrheit« Vertretbares hinzubrachte? Gewiß gibt es ein wahres Intendieren in mythischer oder in mystischer Hülle, eines, das in Menschlichkeit, in Dialektik (die es bereits im chinesischen Mythos gibt) durchaus auf ein Lichtwesen in künftigem Aufgang gerichtet sein will; so vor allem in messianischen Durchbruchsblitzen des Mythos. Und gerade ein Freund echter Aufklärung wird solchen Ahnungen seine tiefe, auch dankbar lernende Betroffenheit schwerlich versagen. Aber ein Berichtigendes, Vermehrendes, die Welt aus ihr selber Erhellendes geht allemal erst auf dem wissenschaftlich errungenen Standort des Bewußtseins auf, freilich als einem noch bewohnten. In einer Gesellschaft kann es nicht mehr aufgehen und verstanden werden, worin, wie Eduard Spranger referierte. nur noch zwei Philosophien vorhanden sind: eine der Verzweiflung, die alles aufgibt, und eine des Spinnwebs, die aus längst /(1615) hinter uns liegenden, mittelalterlich-scholastischen Auskünften der Weisheit klerikalen Schluß machen will. Nur der schöpferische Marxismus ist unsere Zeit, in Gedanken gefaßt, als einer schaffenden, erbenden, verwirklichenden zugleich. Wo auch die Menschlichkeit nicht mehr im Herzen oder in idealen Ermunterungen bleibt (und kein Pfennig wurde dabei ausgegeben). Wo wirklich die Erde im Begriff sein kann, die Welt zu durchragen, ohne daß dergleichen ein mythisches Bild bleibt, woran die »gedichtete Güte« verbaler Mythos-Wiederkäuung von heutzutage sich anempfindet. Wie anders sieht die Verwirklichung des als recht Erkannten drein, seine Durchführung in marxistisch begriffener Tendenz, nach Maßgabe realer Möglichkeit und ihrer Perspektive. Diese Praxis ist am wenigsten Säkularisierung der Höhe, wenn sie alles Oben wegnimmt, in dem der Mensch nicht vorkommt. Es sei denn, man nehme Säkularisierung in einem selber neuen, erst marxistischen Sinn, wie er der Theorie-Praxis entspricht. Dann geschieht, in guter Ironie, sogar eine Rettung des so tückisch gemachten, abwertenden Worts, auf eine Art, woran die Halbwisser unter seinen Verächtern freilich am wenigsten gedacht haben. Nachdem sich nämlich alle großen Denker vor Marx wesentlich nur mit einem Philosophischwerden der Welt im Buch begnügt haben, beginnt im Horizont der marxistischen Menschlichkeit nun wirklich, suo modo, eine Verweltlichung der Philosophie. Dergestalt, daß sie eben ganz auf die Füße gestellt wird und sich so zum Umbau des Sterns Erde ebenso berufen wie geschickt zeigt. Das aber gerade ohne Abstrich an den wahrhaft großen Gedanken der Vergangenheit, vielmehr gedankenvoll und ebendeshalb nicht tatenarm. »Oder kommt, wie der Strahl aus dem Gewölke kommt, / Aus Gedanken die Tat? Leben die Bücher bald?« - so lautet die Marxsche Frage in Hölderlins Gedicht »An die Deutschen«. Was dermaßen rein und entschieden als Aufgabe hervortritt, läßt die begriffene Hoffnung am wenigsten zuschanden werden. /(1616)
Traum nach vorwärts, Nüchternheit, Enthusiasmus und ihre Einheit
Kein Träumen darf stehenbleiben, das tut nicht gut. Aber wird es eines nach vorwärts, dann sieht seine Sache ganz anders zehrend aus. Auch das Matte, Schwächende, das der bloßen Sehnsucht eignen kann, fällt dann weg; diese zeigt vielmehr, was sie wirklich kann. Seit je wird den Menschen zugemutet, sich nach der Decke zu strecken, sie lernten das, nur eben ihre Wünsche und Träume gehorchten nicht. Hierin sind so gut wie alle Menschen zukünftig, übersteigen das ihnen gewordene Leben. Sofern sie unzufrieden sind, halten sie sich eines besseren Lebens für wert, sei dieses selbst platt und selbstsüchtig ausgemalt, nehmen Unangemessenes als Schranke wahr und nicht nur als Gewohnheit. Insofern ist sogar das privateste und unwissendste wishful thinking dem bewußtlosen Gänsemarsch vorzuziehen; denn es kann informiert werden. Es ist des revolutionären Bewußtseins fähig, es kann in den Wagen der Geschichte einsteigen, ohne daß das Gute am Träumen dabei zurückgelassen werden muß. Ganz im Gegenteil, der Wagen ist nicht so eng wie dürre, dürftige oder unwissende Zeiten sich das vorstellen oder für sich passend finden. Der gesellschaftliche Fortschritt verlangt zwar durchaus, gegebenenfalls auf derbe Weise, daß Vorurteile, falsches Bewußtsein, Aberglaube hinausgeworfen werden und zurückbleiben, doch ebendeshalb verlangt er nie, daß Träume nach vorwärts zurückbleiben. Das objektiv Mögliche, an das der Traum sich halten muß, wenn er etwas taugen soll, hält in vorordnender Weise auch ihn. Der objektiv vermittelte und gerade deshalb nicht entsagende Wachtraum vom vollkommenen Leben überwindet so seine Anfälligkeit zum Betrogenwerden wie die Traumlosigkeit selber. Letztere, mit An-sich-Halten oder mit einem Realismus verbunden, der nur noch als resignierter einer zu sein scheint, ist ja gerade der überwiegende Zustand viel denkender, doch wenig erkennender Menschen in einer perspektivenlosen Gesellschaft (samt dem Reichtum aus Ungenauigkeit). Sie alle haben eine Unlust gegen vorwärts und den Durchblick nach vorwärts, wenn auch in verschiedenen Maßen und verschieden strömender Scheu. Halb griechische Demut, halb /(1617) positivistische Vorsicht werden strapaziert, um aus dem Fakt, daß man nicht um die Ecke sehen könne, ein sozusagen
antimarxistisches Gleichnis zu machen - alles, um bei der interessierten Traumlosigkeit zu bleiben. Wobei sogar die simple Wahrheit des Fakts, nicht um die Ecke sehen zu können, noch schal wird, sobald ein Spiegel verwendet wird, und vor allem: es läßt sich sehr wohl um die Ecke - hören, es läßt sich der Tendenz abhören, wohin sie sich wenden mag hinter der nächsten Wegbiegung, es läßt sich diese dialektische Wendung aktiv befördern, und gerade die Vernunft hat einen akustischen Bedeutungssinn, der macht, daß sie bereits im Wort vom Vernehmen herkommt. Aber die Traumlosigkeit als Schicksal hemmt noch weiter, indem die Ecke, vielmehr ihr unangenehm vorwirkendes unbürgerliches Dahinter, geradezu als eschatologisch vorkommt und sich demgemäß die griechische Demut gegen den christlichen Vorwitz zur Wehr setzt. Oder vielmehr nicht gegen diesen als die Stimme von Patmos, sondern nur gegen die Eschatologie, als welche hier wieder der - Marxismus ausgegeben ist. Gleich als wäre er eine Überwelt voll törichter Verzückung und nicht sehr eindringlich diese Welt selber, in bohrender Analyse ihrer Antriebe, in beherrschender Antizipation ihrer möglichen guten Früchte. Doch es ist gerade dieses Eindringliche, in Ansehung seiner störenden Diagnose und Vorhersage, welches nicht nur als durchdringend, sondern geradezu als penetrant erscheinen mag; dann eben, wenn Reichtum aus Ungenauigkeit und auch ein anderer aus offensichtlich makabrem Außenglanz die Leere des eigenen Abends, die - wie immer hart aufgehende Fülle des anderen Morgens verdeckt. Da ist denn die Traumlosigkeit nach vorwärts ein gleichsam philosophisch erscheinender und doch so wenig wahrhaft philosophischer Schutz; der Dinge nicht gewärtig, die da kommen sollen. So steht in dieser freiwillig-unfreiwilligen Skepsis statt Hoffnung Furcht, statt des Erfassens der Zukunft als der größeren Dimension der Gegenwart, wie Leibniz sagt, ein Anti-Finale; bis hin zum Scheiden, wo nicht Scheitern mit abgewendetem Blick. Besonders die Furcht, sagt Sartre, ist ein Zustand, der den Menschen aufhebt; sinngemäß gilt von der Hoffnung subjektiv wie erst recht objektiv das belebend Umgekehrte. Und wenn es auch beim Bau /(1618) bloßer Luftschlösser auf ein Mehr oder Weniger an Unkosten wenig ankommt, woraus dann eben die fehlgeleiteten, schließlich betrügerisch gebrauchten Wunschträume resultieren, so ist die Hoffnung mit Plan und mit Anschluß ans Fällig-Mögliche doch das Stärkste wie Beste, was es gibt. Und wenn auch Hoffnung den Horizont nur übersteigt, während erst Erkenntnis des Realen mittels der Praxis ihn auf solide Weise verschiebt, so ist es doch sie wieder allein, welche das anfeuernde und tröstende Weltverständnis, zu dem sie leitet, zugleich als das solideste und tendenzhaft-konkreteste gewinnen läßt. Zweifellos, der Trost dieses Weltverständnisses muß angestrengt mitgebildet werden. Noch leichter wäre Rom an einem Tag zu erbauen gewesen als Athen, und welch schwieriger, oft Schritt für Schritt verlangender Weg dehnt sich bis zum Richtfest des regnum humanum. »Der sozialistische Realismus muß aber eine Perspektive haben«, wie auch Lukács zur beförderten Wegtendenz sagt, »sonst kann er nicht sozialistisch sein.« Die Vernunft kann nicht blühen ohne Hoffnung, die Hoffnung nicht sprechen ohne Vernunft, beides in marxistischer Einheit - andere Wissenschaft hat keine Zukunft, andere Zukunft keine Wissenschaft. Aufrechter Gang, er zeichnet vor den Tieren aus, und man hat ihn noch nicht. Er selber ist nur erst als Wunsch da, als der, ohne Ausbeutung und Herrn zu leben. Hier vor allem schwebte, so dauernd wie notwendig, Tagtraum über der bisherigen Gewordenheit, der ungelungenen, zog ihr vor. Und jeweilige Sucher des aufrechten Gangs zogen ihr vor, des mahnenden Sinns, den Ludwig Börne, in »Fragmenten und Aphorismen«, mit Recht so ausdrückte: »Ehe eine Zeit aufbricht und weiterzieht, schickt sie immer fähige und vertraute Menschen voraus, ihr das neue Lager abzustecken. Ließe man diese Boten ihren Weg gehen, folgte man ihnen und beobachtete sie, erführe man bald, wo die Zeit hinauswill. Aber das tut man nicht, man nennt jene Vorläufer Unruhstifter, Verführer und Schwärmer und hält sie mit Gewalt zurück. Aber die Zeit rückt doch weiter mit ihrem ganzen Troß, und weil sie nichts bestellt und angeordnet findet, wohnt sie sich ein, wo es ihr beliebt, und nimmt und zerstört mehr, als sie gebraucht und verlangt.« Das ist seit Marx, vielmehr in denjenigen Ländern, wo der Marxismus /(1619) Macht wurde, gewiß anders geworden - der Zukunft wird hier Quartier gemacht. Und auch der Wachtraum vom regnum humanum steht hier nicht mehr in der Luft oder am Himmel oder bloß so in Kunstwerken, daß die Wege dahin nur als Fluchtwege genommen werden und jene Resignation auf ihnen geht, der das Schöne nur im Gesang blüht. An Stelle der Walpurgisnacht also, »wo man mit Erstaunen sieht, / Wie im Berg der Mammon glüht«, ist gewiß nun einem anderen Gold Gelegenheit gegeben, sich aus bisherigem Utopie-Ideologie-Gemenge niederzuschlagen. Doch das Antizipierende freilich hat zu blühen, hat weiter sein Amt, gerade auch wenn es in Nüchternheit geschieht statt in Schwärmerei und Wolken. Ebenso steht Enthusiasmus der Nüchternheit bei, damit sie nicht die Perspektive abstrakt-unmittelbar verkürze, statt sie auf dem Globus der konkreten Möglichkeit zu halten. Enthusiasmus ist Phantasie in Aktion, und die Säure Nüchternheit muß hier eher das kostbarste als das allgemein-billigste Ingrediens werden. Nichts ist der echten, eben marxistisch geübten Nüchternheit ferner als der common sense, als jenes gar nicht so Gesunde, gar nicht so Menschliche des sogenannten gesunden
Menschenverstands, welches vielmehr voll kleinbürgerlicher Vorurteile sein mag; aber nichts ist ihr wiederum näher als jener vom common sense so verschiedene bon sens, wie er sich genau auch im marxistisch geübten Enthusiasmus findet. Der common sense, der typisch undialektische, statuiert, daß die Menschen immer Menschen bleiben, er wird, wenn er in Zentralafrika sein Leben verbringt, es für absurd halten, daß Wasser auch fest vorkomme, er hat es für ausgeschlossen erklärt, daß China jemals Republik sein kann; der bon sens dagegen, dies Gütezeichen, Füllezeichen wirklich gesunder Nüchternheit, schließt keine Perspektive aus und ab, außer derjenigen, die zu Dingen führen könnte, an denen kein Segen ist. Und nun ist dieses gerade für den Marxismus, als den angegebenen Quartiermacher der Zukunft, bezeichnend: er behebt die festgefrorene Antithese: Nüchternheit-Enthusiasmus, indem er beide auf ein Neues bringt und beide darin miteinander arbeiten läßt - für exakte Antizipation, konkrete Utopie. Die Nüchternheit ist nicht dazu da, die Phantasie schlechterdings zu scheren, als fiele die Aufklärung mit Gottsched, gar mit /(1620) Nicolai zusammen, und der Enthusiasmus, gerade als Phantasie in Aktion, ist nicht dazu da, mit lauter Absolutem einzuheizen, als fiele die revolutionäre Romantik mit Quichottene zusammen. Item, um den Stundenzeiger zu stellen, muß man den Minutenzeiger drehen, und ebenso muß umgekehrt das Totum eines großen Schiffs auf weiter Fahrt in jeder revolutionären Kleinarbeit aufleuchtbar sein. Also ist es gleich unweise und dem Marxismus fremd, mit nichts als Nüchternheit unter die Wirklichkeit zu greifen, wie mit nichts als Enthusiasmus über sie; getroffen wird das Reale, gerade als das der Tendenz, nur durch die ständige Oszillation beider Aspekte, geeint in geschulter Perspektive. So schrieb Lenin zum vierten Jahrestag der Oktoberrevolution: »Nicht auf Grund des Enthusiasmus unmittelbar, sondern mit Unterstützung des aus der großen Revolution geborenen Enthusiasmus, auf Grund des persönlichen Interesses, der persönlichen Interessiertheit, des Rentabilitätsprinzips sollt ihr euch mühen, zuerst die festen Stege zu bauen, die in einem kleinbürgerlichen Lande über den Staatskapitalismus zum Sozialismus führen, anders werdet ihr nicht zum Kommunismus gelangen, anders werdet ihr die Dutzende und aber Dutzende von Menschen nicht zum Kommunismus führen« (Ausgewählte Werke II, S.890). Mit diesem kühlen Realismus aber eng verschränkt ist und bleibt der sachlich-hingerissene, den Lenin in der Schrift über den »Linken Radikalismus« kenntlich macht, als angemessen zum Elan (und nicht etwa zur Bremsung) im Wirklichen selber: »Die Geschichte im allgemeinen, die Geschichte der Revolutionen im besonderen ist stets inhaltsreicher, mannigfaltiger, vielseitiger, lebendiger, >schlauer