Das Elfenschwert Version: v1.0
Sie kamen. Sie folgten der Spur durch den Schnee, begleitet von einem immerwährenden Wi...
29 downloads
480 Views
1008KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Das Elfenschwert Version: v1.0
Sie kamen. Sie folgten der Spur durch den Schnee, begleitet von einem immerwährenden Wispern und Raunen. Bäume und Büsche wogten heftig trotz der fast voll kommenen Windstille und wiesen in ihre Richtung. Ein auf- und abschwellendes Sirren von vielen tausend Flügeln erfüllte die Luft. Unerbittlich hol ten sie auf. Und sie entdeckten den Schatten in der Spur, ähnlich einem Wild. Doch sie waren keine Jä ger. Sie kamen, um einen Dieb zu stellen.
Was bisher geschah Durch die vampirische Magie, welche Liliths fast hundertjährigen Schlaf er möglichte und die bei ihrem Erwachen frei wurde, mutieren die australischen Schöpferwesen, die Wondjinas. Sie geben ihre Passivität auf und wollen ihre ehemalige Schöpfung zugunsten einer neuen vernichten. Mit der Hilfe Esben Storms nimmt Lilith den Kampf auf, und tatsächlich ge lingt es ihr, die apokalyptische Gefahr abzuwenden. Im Tode jedoch infiziert eines der bösen Schöpferwesen einen Tasmanischen Teufel mit dem Virus einer magischen Pest. Zwar verschwindet diese nach der Vernichtung des Nagers wieder, hinterläßt jedoch eine bizarre Nebenwirkung: Die Gefühlswelt der Ge heilten verkehrt sich ins Gegenteil; aus Sympathie werden Ekel und Haß. Auch bei Beth und ihrem Kollegen Moskowitz zeigen sich diese Symptome. Das macht Landru sich zunutze; er verbündet sich mit Beth gegen die nichtsah nende Lilith. Beth soll nachforschen, ob die Halbvampirin eine neue Spur zum Lilienkelch gefunden hat. Landru hat sich entschlossen, die verhaßte Feindin vorerst nicht zu töten, sondern sie weiter nach dem Kelch suchen zu lassen, da sie offenbar eine mächtige Verbündete hat – die Macht, die noch immer ihrem Geburtshaus innewohnt, obwohl dieses längst in der Erde versunken ist. Lilith sucht inzwischen verzweifelt nach einem Gegenmittel für die gefühls verändernden Auswirkungen der magischen Pest und erfährt von dem finni schen Seuchenexperten Frans Stålheim. Also bricht sie auf, um ihm den »ZeroPatienten« zu bringen: den Kadaver des Tasmanischen Teufels. Kaum hat sie ihn bei Stålheim abgeliefert, erreicht sie ein Anruf, der sie in tie fe Verwirrung stürzt: Ihr ehemaliger Gefährte Duncan Luther, der vor Monaten in Indien von Vampiren ermordet wurde, meldet sich aus Mauretanien! Er weiß weder von seinem Tod, noch wie er nach Afrika gelangte. Er fleht Lilith an, zu ihm zu kommen. Indem sich Lilith eilig auf den Weg macht, verpaßt sie die Ankunft eines »Kollegen« Frans Stålheims: eines Dr. Landers. Es ist niemand anderes als Landru, der bei der Suche nach dem Gegenserum »helfen« will …
Die Hauptpersonen des Romans Lilith Eden – Tochter eines Menschen und der Vampirin Creanna, dazu ge zeugt, eine geheimnisvolle Bestimmung zu erfüllen. Für 98 Jahre lag sie schla fend in einem lebenden Haus in Sydney, doch sie ist zu früh erwacht – die Zeit ist noch nicht reif. Sie muß gegen die Vampire kämpfen, die in ihr einen Ba stard sehen, bis sich ihre Bestimmung erfüllt. Dabei hilft ihr ein Symbiont. Der Symbiont – ein geheimnisvolles Wesen, das Lilith als Kleid dient, ob wohl es fast jede Form annehmen kann. Einst gehörte es Creanna und wurde von ihr an Lilith weitergereicht. Der Symbiont ernährt sich von schwarzem Vampirblut und verläßt seine Wirtin bis zu deren Tod nie mehr. Landru – Mächtigster der alten Vampire und der Mörder von Liliths Vater. Seit 267 Jahren jagt er dem verlorenen Lilienkelch nach, dem Unheiligtum der Vampire, ohne den es keinen Nachwuchs geben kann. Landru scheint irgendei ne Schuld auf sich geladen zu haben – welche, ist noch unklar. Jeff Warner – der Police Detective wurde von Polizeichef Virgil Codd – einer Dienerkreatur der Vampire – in den Garten des Hauses geschickt, wo Lilith er wachte und wo seither etliche Personen spurlos verschwanden. Doch Warner kehrte zurück – verändert. Er ist kein Mensch mehr, sondern handelt im Auf trag des Hauses. Beth MacKinsey – Journalistin bei einer Sydneyer Zeitung. Bei ihr fand Lilith Unterschlupf. Mittlerweile kennt Beth Liliths wahre Identität – und hat sich, gleichgeschlechtlich veranlagt, in die Halbvampirin verliebt. Die Dienerkreaturen – Tötet ein Vampir einen Menschen mit seinem Biß, wird dieser kein vollwertiger Blutsauger, sondern eine Kreatur, die dem Vampir be dingungslos gehorcht. Seinerseits kann eine Dienerkreatur den Vampirkeim nicht weitergeben, benötigt aber Blut zum (ewigen) Leben und wird – anders als die Ur-Vampire – mit zunehmendem Alter immer lichtempfindlicher.
Björn Olsen hetzte durch das Unterholz. Der Schnee lag fast knie hoch, vom eisigen Nordwind an manchen Stellen zu eineinhalb Me ter hohen Mauern aufgeweht. Vereiste, im Licht der tief stehenden Morgensonne glitzernde Äste schlugen dem jungen Mann ins Ge sicht, peitschten gegen seinen Körper und bogen sich ihm entgegen, als wollten sie ihn aufhalten. Ein heiseres Lachen quälte sich aus Olsens Brust. Es war keine Einbildung. Sie versuchten es tatsächlich. Zweige schlangen sich wie lebendige Wesen um seine Stiefel, brachen ab und blieben kraftlos liegen. Aber sie waren es nicht allein, die seine Flucht stoppen wollten. Ein Sirren wie von tausend feinen Messerklingen auf einem Schleif stein erfüllte die Luft. Die Verfolger unternahmen alles, um ihn ein zuholen. Ihnen gehorchte die Natur, diese verzauberte Landschaft weitab der Küsten. Es war ein Land voller Schönheit, aber auch voller Gefahren für den Menschen. Elfenland. Olsen keuchte und rang nach Atem. Er verlor seine Pelzmütze. Sie fiel in den Schnee, doch er beachtete es nicht. Ein paar Minuten hielt er auch ohne diesen Wärmeschutz aus. Bis zum zugefrorenen Bach lauf konnte es nicht mehr weit sein. Die Jagd durch den Pulverschnee kostete ihn mehr Kraft, als er vermutet hatte. Wenn dies das einzige Problem gewesen wäre, hätte er keinen Gedanken daran verschwendet. Viel schlimmer war, daß ihm die Zeit davonlief. Etwas mehr als zwei Stunden blieben ihm noch. In dieser Zeit mußte er seine Auftraggeber aufsuchen und da nach auf dem schnellsten Weg nach Ivalo zurückkehren. Er ruderte mit den Armen, um sein Gleichgewicht nicht zu verlie ren. In den Kiefern über ihm knackte es verdächtig. Er schlug einen
Haken ins freie Gelände, geriet immer tiefer in den aufgehäuften Schnee und stürzte. Atemlos blieb er für ein paar Augenblicke lie gen, während in seiner unmittelbaren Nähe schwere Äste von den Bäumen brachen und zu Boden fielen. Sie hätten ihn erschlagen, wenn er sich weiter auf seiner eigenen Spur vom Hinweg gehalten hätte. Von Ästen zur Strecke gebracht zu werden oder von diesem sir renden Hornissenschwarm hinter seinem Rücken – was machte das schon für einen Unterschied. Sie rückten langsam, aber unaufhalt sam näher. Auch sie litten unter der Kälte. Sie beeinträchtigte ihr Vorwärtskommen in der Luft ähnlich wie seines am Boden. Im Som mer hätte er keine Chance gehabt. Das Buschwerk hätte ihn über wältigt und bis zu ihrem Eintreffen festgehalten. So aber blieb ihm wenigstens der Funke einer Chance. Mühsam arbeitete er sich zur Kuppe der Schneewächte empor. Ein hastiger Blick abwärts, dann legte er die Arme an den Kopf und ließ sich abwärts rollen. Das Sirren in der Luft wurde leiser und nahm erst wieder zu, als er gegen einen abgesägten Baumstamm prallte und benommen liegenblieb. Der Bach! Das Eis leuchtete zu ihm herüber. Mühsam kam er hoch, schüttelte ein paar Kilo Schnee von seinem Parka und hastete hin über. Der scharfe Wind der letzten paar Tage hatte den Schnee vom Eis weg gegen die Böschung geweht. Björn Olsen kam es wie eine Erlösung vor. So schnell es ging, ba lancierte er über den gefrorenen Wasserlauf in Richtung Westen zu der kleinen Straße, wo sein Wagen stand. Das leise Brummen des Volvos ermutigte ihn und machte seine Verfolger vermutlich ra send. Zwei Minuten noch. Um völlig sicherzugehen, hatte er den Motor nicht abgestellt und den Wagen mit dem Ersatzschlüssel zugesperrt.
Endlich! Das schmale Band der geräumten Straße tauchte in seinem Blick feld auf. Hinter seinem Rücken schwoll das Sirren in der Luft zu ei nem bedrohlichen Orkan an. Ein kurzer Blick über die Schulter kos tete ihn fast das Gleichgewicht und zeigte ihm, daß sie trotz aller Be hinderungen durch die Kälte weiter aufholten. Zweihundert Meter höchstens bis zum Wagen. Das war zu schaffen. Wie mit etlichen Kilo Blei in den Gliedern wankte er weiter, kehrte auf seine alte Spur zurück, überwand die Böschung auf der rechten Seite des Bachlaufs und ließ sich zwischen den Büschen hindurch nach unten fallen. Die hohe Mauer des von den riesigen Raupen zur Seite geräumten Schnees ragte vor ihm auf, unüberwindlich fast in ihrer Höhe. Er fand die wenigen Stufen, die er mit den Stiefeln in das verharschte Material getreten hatte. Ein riesiger Schwarm Hornissen verdunkelte die Sonne und half ihm ungewollt. Das grelle Licht blendete ihn nicht mehr, und er setzte die Stiefel gezielt in die Stufen und kletterte hinauf. Auf der anderen Seite ließ er sich einfach nach unten rutschen. Der Parka zerriß, aber das war unwichtig. Ein paar Sprünge bis zum Wagen noch. Er riß den Handschuh von der rechten Hand und nestelte in der Hose nach dem Ersatzschlüssel. Der Schlüssel schien Fangen mit ihm zu spielen. Als er ihn endlich erwischte, tauchte der sirrende Schwarm über der Mauer auf und stürzte sich auf ihn. Das Gewisper unzähliger Stimmen steigerte sich zu einem schrillen Ka non aus Dissonanzen, der ihm einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Am ganzen Körper bekam er Gänsehaut. »Wir kriegen dich, wir haben dich. Wir hauen dich ganz tot«, ver nahm er die fast mitleidig gehauchten Worte aus Hunderten von Kehlen.
Mit letzter Kraft schob Olsen den Schlüssel ins Schloß, riß die Tür auf und warf sich hinter das Steuer. Der Motor heulte auf, die Tür fiel zu. Gleichzeitig begann der Angriff gegen den Wagen. Überall klatschte es auf das Blech. Erste der winzigen Körper rutschten vom Dach an der Windschutzscheibe herunter und klammerten sich an den Scheibenwischern fest. Björn Olsen legte den Gang ein, löste die Handbremse und gab Gas. Gleichzeitig schaltete er die Scheibenwischer auf Schnellgang. Die Elfenkörper flogen nach links und rechts davon. Der Volvo machte einen Satz nach vorn und preschte die schmale Straße ent lang, die irgendwo dort hinten in einem Bergdorf endete. Ein Schrei aus vielen winzigen Kehlen begleitete seine Flucht. Im Rückspiegel sah er, wie sich die Elfen mühsam in die Luft erhoben und seine Richtung einschlugen, ohne ihn jemals einholen zu kön nen. »Das habt ihr euch so gedacht«, flüsterte der junge Mann hinter dem Steuer grimmig. »Ich weiß schon, warum ihr jede Technik haßt. Eure Kräfte und Fähigkeiten können sich nicht mit ihr messen.« Er widmete seine Aufmerksamkeit der Straße und fragte sich gleichzeitig, woher er es wußte. In seinem bisherigen Leben hatte er Elfen immer für Hirngespinste gehalten, Ausgeburten einer Sagen welt aus einer Zeit, in der die Menschen noch jeden Baum und jeden Grashalm für einen Gott gehalten hatten. Jetzt tat er, als habe er schon immer mit diesen zwergenhaften Wesen zu tun gehabt. Das Wissen … die Informationen …? Er schüttelte heftig den Kopf und schuf damit mehr Klarheit in sei nen Gedanken. Du darfst dich jetzt nicht verrückt machen! hämmerten die Worte in seinem Kopf. Das ist alles unwichtig. Es zählt nur, daß du erfolgreich warst. Du wirst den Treffpunkt ansteuern und deine Belohnung abholen.
Belohnung! Wie er dieses Wort haßte. Seine Mutter hatte ihn ab wechselnd gestraft und belohnt. Meistens gleichzeitig oder unmittel bar nacheinander. »Ich brauche keine Belohnung«, stieß er hervor. »Wenn, dann be lohne ich mich selbst.« Er starrte auf die Straße, und je länger er fuhr und dem gleichmä ßigen Summen des Motors lauschte, desto öfter fragte er sich, wo er sich eigentlich befand und warum er unterwegs war.
* Die drei Meter hohen Schneemauern links und rechts jagten immer schneller an ihm vorbei. Olsen fuhr wie der Teufel. Ein paarmal ver lor der 264er trotz seiner Spikes-Scheren die Spur und taumelte auf der geräumten und vom Wind vereisten Piste hin und her. Die Angst vor einem Unfall und den möglichen Folgen trieb ihn dazu, den Fuß ein wenig vom Gaspedal zu nehmen. Er reduzierte sein Tempo auf siebzig Stundenkilometer, immer noch zu schnell für diese Straßenverhältnisse. Eine Viertelstunde fuhr er gleichmäßig weiter, und in seinem Kopf jagten sich die Gedanken. Was soll das alles? Was machst du? Wieso bist du hier draußen? Was für eine Belohnung solltest du erhalten? Er stierte über das Lenkrad hinweg in den Kanal, den Schneefrä sen und -pflüge geschaffen hatten, damit die Versorgungsfahrzeuge bis nach Gwællfinnstyr gelangen konnten. Von dort ging es auf Fuß pfaden und mit Motorschlitten weiter zu den abgelegenen Dörfern zwischen den Bergen. Elfenland; zwischen den Gipfeln und Wipfeln, in denen die Götter und die Geister lebten. Beseelte Natur. Eine Einheit seit dem Beginn
der Schöpfung. NUR DER MENSCH STÖRT DIE HARMONIE UND DAS GLEICHGEWICHT! »Hölle und Teufel«, flüsterte der Finne mit den feuerroten Haaren und den Sommersprossen. Woher wußte er das alles? Früher hatte er sich nie für solche Ammenmärchen interessiert. Undeutlich entstanden Bilder vor seinem geistigen Auge und lenk ten seine Aufmerksamkeit von der Straße ab. Er nahm, ohne es zu merken, den Fuß vom Gas. Eigentlich hatte er nur einen kleinen Ausflug im Morgengrauen unternehmen wollen. Aber dann waren ihm die winzigen Typen aus dem Wald begegnet, die ihm kaum bis ans Knie reichten. Jetzt, während sich seine Hände um das Lenkrad krampften, kehrte die Erinnerung an diese Begegnung Stück für Stück zurück. »Hölle und Teufel«, wiederholte er. »Sie haben mich fertigge macht.« Was genau geschehen war, vermochte er nicht zu sagen. Er erin nerte sich undeutlich, daß sie ihm einen Ort beschrieben hatten und eine Zeit. Dann war er losgestapft. Aus der morgendlichen Erholung unter dem sternenklaren Winterhimmel war eine Expedition in die Wälder unterhalb der Göttergipfel geworden. Er hatte sein Ziel er reicht und es wegen seiner Winzigkeit beinahe übersehen. Und dann … Seit Tausenden von Jahren ist es in ihrem Besitz. Sie nutzen seine Zau berkraft. Jetzt müssen sie es hergeben. Wir sind die Herren der Wälder! Die letzte Lücke in seinen Gedanken füllte sich, und gleichzeitig fühlte Björn Olsen sich innerlich wie von einem starken Druck be freit. Es gibt sie tatsächlich, schrien seine Gedanken. Sie haben dich verhext, wie sie es gern mit Menschen tun. Sie verwandeln sie in Wildschweine,
hängen ihnen Geschwüre an, töten sie sogar. Sie haben dich für ihre dunklen Ziele mißbraucht. Die Abzweigung tauchte auf. Links ging es nach Ivalo, rechts zum vereinbarten Treffpunkt. Entschlossen steuerte Olsen nach links. Deutlich stand ihm vor Augen, daß er nur Werkzeug für andere gewesen war. Wenn er sich ihnen gegenüber jetzt nicht loyal verhielt, brauchte er deswegen ganz bestimmt keine Gewissensbisse zu haben. Er nahm die rechte Hand vom Steuer und tastete in die Außenta sche des Parka. Dort steckte der knapp acht Zentimeter lange Ge genstand, kalt und heiß zugleich. Eine Miniatur von feinster saube rer Arbeit, ein handwerkliches Kleinod aus purem Gold, Platin und den hellsten, klarsten und kleinsten Diamanten, die Olsen jemals ge sehen hatte. Die Trolle wollten es in ihren Besitz bringen. Vermutlich, um dem Elfenvolk zu schaden. Egal. Das Schicksal hatte anders entschieden. Nach einer halben Stunde verbreiterte sich die Straße ein wenig. An einigen Stellen schaute der Asphalt hervor. Zeit, die Spikes-Sche ren abzunehmen. Olsen verlangsamte und suchte nach einer Stelle, wo er gefahrlos für sich und den möglichen Gegenverkehr anhalten konnte. In diesem Augenblick sah er sie. Sie hockten auf den Schneemau ern links und rechts und bildeten eine Kette quer über die Fahrbahn. Reglos, aber mit gezogenen Messern erwarteten sie ihn. Olsen trat auf die Bremse und ließ die Fensterscheibe herunter. Er steckte den Kopf ins Freie. »Verschwindet!« brüllte er. »Gebt den Weg frei, oder es geschieht ein Unglück.« Mehrere Trolle rutschten von den Schneemauern herab, warfen
sich gegen den Wagen und versuchten die Türgriffe zu erhaschen. Ein paar klammerten sich an die vordere Stoßstange, als könnten sie den Wagen dadurch bezwingen. Olsen lachte und drückte mit dem Ellenbogen den Verriegelungs knopf der Fahrertür nach unten. Die Zentralverriegelung reagierte und blockierte alle vier Türen und die Heckklappe. »Gib uns das Schwert. Es gehört uns.« »Pech für euch. Ich habe meine Erinnerung wieder. Und die sagt mir, daß derjenige den Lohn erhält, der seinen Schweiß geopfert hat.« Fast zu spät merkte er, daß sie sich mit ihren Waffen an seinen Rei fen zu schaffen machten. Hastig trat er aufs Gaspedal. Das Fahrzeug schoß nach vorn. Es gab zwei, drei Schläge am Blech der Kotflügel, dann durchbrach der Volvo die Mauer aus kleinen Leibern und be schleunigte. Im Rückspiegel erkannte Björn Olsen, daß insgesamt vier der Trolle unter die Räder gekommen waren. Die anderen be achteten es nicht. Sie erhoben wüstes Geschrei und rannten hinter dem Fahrzeug her, ohne es einholen zu können. »Tut mir leid, Jungs.« Mehr Mitleid konnte sich der Finne wirklich nicht aus der Seele quetschen. Sie hatten ihm aufgelauert und ihn verhext. Wie sie es gemacht hatten, wußte er nicht. Auf jeden Fall hatte er mehrere Stunden lang unter Hypnose gestanden. Diese Stunden hatten sein Bewußtsein verändert und seine Sicht der Welt. Sein Blick fraß sich erneut an der Straße fest. Langsam löste sich die Anspannung in ihm. Schwindel überkam ihn, und für ein paar Augenblicke sah er die Fahrbahn nicht mehr. »Ihr hattet euren Spaß«, murmelte er. »Jetzt will ich meinen Lohn.« Er fuhr wie in einem Tunnel und erwachte erst aus seinem dump fen Brüten, als seine Blicke auf ihrer hektischen Wanderung von links nach rechts und zurück an der Uhr des Armaturenbretts hän
genblieben. Noch eine halbe Stunde. Es reichte nicht bis zum kleinen Flughafen von Ivalo. Mit anderen Worten, er kam zu spät. Den schneeweißen Vogel hoch in der Luft, der ihm bereits seit län gerer Zeit folgte, bemerkte er nicht.
* In der kleinen Wartehalle des Flughafens roch es nach harzigem Holz. Die Temperatur lag knapp unter zwanzig Grad, und durch die kleinen Fenster ließ sich ab und zu ein Blick auf die Schneefräse er haschen, die draußen ihren Dienst verrichtete. Hinter einem billigen Resopal-Tresen saß eine reichlich überdi mensionierte Matrone unbestimmbaren Alters. Sie sprengte schier die dunkelblaue Jacke, die ihr als Uniformersatz diente. Reglos und mit halb geschlossenen Lidern verharrte sie auf ihrem Stuhl und tat, als sei sie in eine imaginäre Passagierliste vertieft. Plötzlich jedoch kam Bewegung in sie. Eine rote Lampe auf dem Tresen begann zu blinken, und die hünenhafte Frau griff nach ei nem schwarzen Hörer. Sie drückte sich damit das Ohr regelrecht platt und lauschte, sagte ein paar Worte auf finnisch und legte wie der auf. Ihre Gestalt straffte sich, und sie winkte mit ihrem Bleistift. Der riesige Haarknoten an ihrem Hinterkopf wackelte ergeben. »Der Flug nach Helsinki verzögert sich ein wenig, meine Damen und Herren«, erklärte sie auf englisch. »Bitte gedulden Sie sich!« Dann vertiefte sie sich wieder in das Studium ihrer Unterlagen. Die schwarzhaarige junge Frau in dem weiß und schwarz gespren kelten Pelz mit ebensolchen Stiefeln und den nackten Unterschen
keln schürzte den Mund und blickte sich unauffällig um. Die übri gen Fluggäste nahmen die Mitteilung gelassen. Wetterbedingte Ver zögerungen in dieser Jahreszeit gehörten offenbar zu den Alltäglich keiten im nordeuropäischen Winter. Dafür saß sie selber wie auf glühenden Kohlen. Der Anruf aus Mauretanien hatte sie bis ins Mark aufgerüttelt. Der Anruf Duncan Luthers! Des toten Duncan Luther! In ihrem Innern tobte ein lautloser Kampf zwischen ihren Gefüh len und ihrem Verstand. Letzterer sagte ihr klar und deutlich, daß Duncan tot war, gestorben in jener wenig hoffnungsvollen ersten Nacht im Hotel TAJ MAHAL in Delhi. Noch immer sah sie ihn auf dem Boden seines Hotelzimmers liegen, als würde er schlafen. Ein Vampir – einer aus der Sippe der indischen Hauptstadt – hatte ihm das Rückgrat gebrochen. Die andere Stimme, überaus menschlich in ihrer Emotion und ohne die vampirische Kälte und Gleichgültigkeit, flüsterte ihr ein, daß sie sich damals getäuscht haben konnte. Es gab keinen endgülti gen Beweis für seinen Tod, und die Stimme, die sie am Telefon ge hört hatte, war eindeutig die des ehemaligen Priesteranwärters, dem sie, Lilith Eden, zum Schicksal geworden war. »Ich muß dringend mit Beth telefonieren«, murmelte sie zwischen halb zusammengepreßten Lippen. »Sie soll mir Informationen ver schaffen. Ich muß wissen, was mit seiner Leiche geschah. Wo man ihn beerdigt oder verbrannt hat. Ich brauche den Beweis.« Je länger sie darüber nachdachte, desto unwahrscheinlicher erschi en es ihr, daß er damals wirklich zu Tode gekommen war. Er hatte wohl als leblos gegolten, und vermutlich hatten die Beamten ihn in irgendeine Klinik geschafft, damit ein Arzt seinen Tod feststellte. Und der hatte dann den letzten Lebensfunken erkannt und ihn ge rettet. In der Medizin war heutzutage vieles möglich. Herzverpflan zungen gehörten zur Tagesordnung. Der Austausch mehrerer Orga
ne stellte eine Routineoperation auch in großen Kliniken in Sydney dar. Und die Möglichkeiten der Reanimation gingen in die Dutzen de. Warum also nicht auch Duncan Luther? Weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte? Sie ertappte sich dabei, wie sie nach einer Telefonzelle oder einer Nische mit einem Münzapparat Ausschau hielt. Sie fand keinen und mußte ihr Vorhaben verschieben, bis sie Helsinki erreichte. Ob von dort ein Direktflug nach Mauretanien ging oder ob sie über Amster dam reisen mußte, das stand ebenso in den Sternen wie die Antwort auf die Frage, welche Umstände Duncan nach Afrika verschlagen hatten. Der Gedanke, daß er sich dort als christlicher Möchtegern-Missio nar aufhielt, erschien ihr fast noch unwahrscheinlicher als die Tatsa che seiner Lebendigkeit. Duncan ist tot, hämmerte es in ihrem Kopf. Vergiß ihn. Meide Afrika! In Australien wartete sommerliche Hitze auf sie, ein Klima, das ih rer Natur nicht eben zugute kam. Auch Afrika genoß den Ruf eines hitzeflirrenden Kontinents. Lilith fixierte den Sekundenzeiger der Wanduhr. Er bewegte sich ruckartig, zitterte nach jedem Sprung und setzte bereits wieder zum nächsten an. Endlos zogen sich die Minuten dahin, und die imagi nären Kohlen unter Liliths Hintern erhitzten sich beständig. Gleich zeitig hatte sie den Eindruck, als brenne etwas in ihrem Rücken – der Blick eines Menschen. Ein paarmal schaute sie unauffällig um sich, doch sie konnte nicht feststellen, ob es sich um eine bestimmte Person handelte, die sie ab und zu fixierte. Unter den zwanzig War tenden befanden sich sechs Frauen, Lilith eingeschlossen, und vier zehn Männer. Und garantiert starrte jeder davon sie an, sobald er sich unbeobachtet glaubte.
Lilith genoß die bewundernden Blicke der Männerwelt, die ihr überall zuteil wurden. Sie erzeugten Leichtigkeit in ihr und ließen sie innerlich schweben. Sich nicht immer alles mit Hilfe von Hypno se erkaufen zu müssen, sondern etwas freiwillig zu erhalten, das war es. Eine halbe Stunde des Gefühls, ständig angestarrt zu werden, ver ging, dann bewegte sich die zur Leblosigkeit erstarrte Matrone hin ter dem Tresen erneut. Ein zweiter Griff zum Hörer, eine flüchtige Bestätigung und dann ein durchdringender Blick auf die Passagiere. »Bitte kommen Sie jetzt zur Gepäckkontrolle«, erklärte die Frau freundlich-schroff. »Eine reine Routinemaßnahme, da es sich um einen Inlandsflug handelt. Sie wissen ja, wir sind verpflichtet, auch bei den Zubringermaschinen zu den internationalen Flügen nach Bomben, Waffen sowie nach Waren zu suchen, die nicht exportiert werden dürfen.« Die Fluggäste erhoben sich und bildeten eine Reihe. Lilith wartete eine Weile und stellte sich hinten an. Sie verschaffte sich einen Über blick über die Passagiere und musterte sie der Reihe nach. Sie wollte herausfinden, welcher davon sich so brennend für sie interessierte. Der junge Mann verriet sich in dem Augenblick, als er an die Rei he kam und einen hastigen Blick zu ihr nach hinten warf. Er war groß, gut einen Meter neunzig, und das blonde Haar trug er lang und füllig. Seine wasserblauen Augen streiften ihre Gestalt – oder nur ihren Pelz? – und glitten nach kurzem Zögern weiter. »Öffnen Sie bitte das Bordcase«, klang die Stimme der Kontrolleu se auf. »Danke. Eine gute Reise.« Lilith wartete geduldig, bis sie an die Reihe kam. Die Matrone mit dem strengen Haarknoten trug ein dazu passendes strenges Parfüm und musterte sie stirnrunzelnd. »Nanu, kein Gepäck?«
»Nein. Tut mir leid, wenn ich Sie enttäusche.« »Würden Sie trotzdem Ihren Mantel öffnen?« »Das könnte etwas problematisch werden.« Mit einem bezaubernden Lächeln ließ Lilith den Pelzmantel auf klaffen und zeigte ihren nackten Körper darunter. Voller Genugtu ung nahm sie zur Kenntnis, daß die Frau rot anlief und sie hastig durchwinkte. »Hat man da noch Töne?« hörte Lilith sie husten. »Und das bei diesen Temperaturen!«
* »Er entwischt!« Gaffelstyr hüpfte hin und her und schlug mit seinem winzigen De gen um sich. In der kalten Luft erzeugte die Klinge pfeifende Ge räusche. »Das darf nicht geschehen. Ihr seid schuld!« Er trat gegen den Körper, der neben ihm auf der Straße lag. Drei Skogsrå waren tot und platt wie zerquetschte Kröten, der vierte schwerverletzt. Er wimmerte leise vor sich hin und schrie vor Schmerz auf, als der Fußtritt des Anführers ihn traf. »Die Pest soll sie holen, die ganze Menschenbrut. Die verfluchte Technik hat den Bann gebrochen, mit dem wir ihn belegt hatten. Er wird das Kleinod für sich behalten oder außer Landes bringen. Los, los, was steht ihr da und glotzt? An die Arbeit. Es gibt zu tun. Ruft die Wildschweine und Rentiere! Wir stoßen zu unseren Brüdern, ehe es zu spät ist.« Er versetzte dem Schwerverletzten den Gnadenstoß, dann steckte er den Degen in den Gürtel und half, die Toten von der Straße zu
schaffen und im Gebüsch hinter der Schneemauer zu verstecken. Später würden sie sie abholen und im Wald vergraben. Die Skogsrå schnallten handgefertigte Schneeschuhe an, mit denen sie über den Pulverschnee eilten und gleichzeitig ihre Spuren ver wischten. In sicherer Entfernung von der Straße bliesen sie in ihre Tierpfeifen und warteten. Ein paar Atemzüge dauerte es nur, dann wurde es am Waldrand lebendig. Erste Hirschkühe streckten ihre Köpfe aus der Deckung und witterten. Sie vernahmen die vertraute Musik aus den Pfeifen und rochen die Skogsrå. Innerhalb kurzer Zeit versammelten sich über ein Dutzend Rentiere und fünf Schwarzkittel. Das Gebalge um die besten Sitzplätze begann. Die Skogsrå voll führten ein ewig gleiches Zeremoniell, und sie taten es mit der gebo tenen Vorsicht, um die Tiere nicht zu verscheuchen. Keine hastige Bewegung, kein schriller Laut. Das Zischen aus Gaffelstyrs Mund rief sie zur Ordnung. Sie kletterten auf die Rücken der Wildschwei ne und bauten mit den Händen Treppchen zum Besteigen der Hirschkühe. Den letzten zogen sie jeweils mit vereinten Kräften em por, und los ging es in wildem Galopp. Gaffelstyr lenkte die Leitkuh mit Hilfe seiner Pfeife und der Schen kel. Es gab kein Rentier und kein Wildschwein im Waldland, das nicht schon einmal geritten worden war. Allerdings nahm die Zahl der eingerittenen Tiere mit jeder Jagdsaison empfindlich ab, und die Skogsrå glichen das Defizit regelmäßig damit aus, daß sie Farmen der Menschen heimsuchten und von dort Tiere stahlen. Allein der Ekel, den der Menschengeruch ihnen verursachte, hielt sie davon ab, jedesmal ein Strafgericht zu exerzieren. Langsam stieg die Sonne höher, kroch zwischen den gefrorenen Ästen der Bäume hindurch und schickte ein paar Lichtstrahlen in die Richtung, in der ihr Ziel lag. Längst war das Dröhnen des ble chernen Ungeheuers in der Ferne verklungen, doch die Skogsrå lie
ßen sich dadurch nicht beirren. Eine Straße führte immer nur in zwei Richtungen, und sie beschrieb nie den direkten Weg zu einem Ziel. Diesen schlugen die Reiter jetzt ein, und sie duckten sich über dem Rücken der Tiere. Es krachte und prasselte im Unterholz. Die Schwarzkittel rannten vorne weg und schufen eine Schneise für die Karawane. Einmal entdeckte Gaffelstyr in der Ferne einen glitzernden Punkt, der sich bewegte. Vermutlich handelte es sich um das Fahrzeug des Menschen. Der Skogsrå lachte meckernd. »Sie halten sich für die Krone der Schöpfung und sind doch nur ein schlechtes Abziehbild des ursprünglichen Plans. Je höher sie steigen, desto tiefer werden sie eines Tages fallen.« Wie alle Skogsrå hoffte er, daß dieser Tag bald kam.
* Es begann zu schneien. Die Maschine wartete auf dem geräumten Teil des Rollfeldes. Es handelte sich um eine Turboprop-Maschine mit zwei Triebwerken und insgesamt vierundzwanzig Plätzen. FJORD AIR stand in baro cken Buchstaben auf dem Rumpf. Die Gesellschaft stand dem Flugzeug an Exotik in nichts nach. Fast tänzerisch bewegte sich Lilith über den leicht vereisten As phalt. Kein Gepäck hinderte sie, und sie breitete die Arme aus, nahm Anlauf und schlitterte wie ein kleines Kind vorwärts. Dabei tat sie, als sei sie voll mit dieser Spielerei beschäftigt. Aus den Au genwinkeln nahm sie wahr, wie der große Blonde die kurze Gang way hinaufstieg und einen Blick zu ihr herüberwarf, ehe er endgül
tig in der Maschine verschwand. Die Tochter einer Vampirin und eines Menschen leckte sich in der Vorfreude genußvoll die Lippen. Nicht erst jetzt machte sich Durst bei ihr bemerkbar. In der Baracke und zuvor im Bus hatte sich bloß keine Gelegenheit geboten. In der Maschine jedoch … Wenn ihre Informationen stimmten, dann befand sich der Frachtraum bei diesen Kleinflugzeugen grundsätzlich hinter der Passagierkabine. Die Vorfreude brachte sie richtig in Stimmung. Jetzt konnte sie es kaum erwarten, daß dieses Wunderwerk der Technik endlich seine Flughöhe erreichte und die Passagiere ihre Gurte lösen durften. Die Gedanken an Beth und Duncan verblaßten und nisteten sich irgend wo im Hintergrund ein, ohne aber verlorenzugehen. Lilith drängelte die Gangway empor und betrat die Kabine. Der blonde Hüne stand unschlüssig an einem der Doppelsitze und ver staute sein Bordcase in der Box über seinem Kopf. Wieder traf ein Blick Lilith, und sie hielt zielstrebig auf ihn zu und blieb hinter ihm stehen. »Entschuldigung, ist dieser Platz noch frei?« Sie deutete auf das Fenster. Zum Glück trug er warme Winterkleidung. Sie verbarg schamhaft, was er zu verbergen hatte. »Selbstverständlich. Bitte gern.« Er rückte zur Seite und ließ sie durch. »Möchten Sie …?« Er streckte ihr die offenen Hände entgegen, um ihr den Mantel ab zunehmen. Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, danke. Ich behalte ihn lieber an. Er ist ein Unikat.«
»Ich verstehe Sie vollkommen.« Er setzte sich neben sie und tat gelangweilt. In Wirklichkeit suchte er krampfhaft nach einem guten Gedanken, das Gespräch fortzuset zen. Typisch Männer, dachte Lilith. Sie schlug die Beine übereinander und schob dabei den Pelzmantel ein Stück zur Seite, so daß er ihr Knie und einen beträchtlichen Teil des Oberschenkels bewundern konnte. »Haben Sie oft in Ivalo zu tun?« fragte sie und blickte ihn unge niert an. »Ja … Ich bin Manager einer Hotelkette und verhandle mit den hiesigen Behörden über ein Touristenzentrum.« »Interessant. Ich kann mir nicht vorstellen, daß es hier im Sommer jemals warm wird.« »Doch, doch, natürlich. Aber die Hauptsaison ist jetzt im Winter. Was fehlt, sind die Anlagen für den Wintersport.« Lilith starrte durch das Bullauge hinaus auf die mageren Ausläu fer der Stadt. »Und die wollen Sie bauen, zusammen mit einem Hotel?« »Ein Tausend-Betten-Hotel, ja. Drei bis vier Projekte dieser Art führen mich Jahr für Jahr in viele Teile der Welt. Ein anstrengender Job, kann ich Ihnen sagen.« »Auch nach Australien?« Er sah sie überrascht an. »Nein, bisher noch nicht. Aber der Gedanke hat etwas für sich. Warum fragen Sie?« »Ich bin Australierin.« »Oh. Ich hielt Sie eher für eine Südamerikanerin.« »Wie man sich irren kann. Aber Sie sind ein waschechter Nordeu
ropäer, oder?« »Ole Svensson. Aus Göteborg.« »Lilith Eden. Seit meiner Geburt lebe ich in Sydney.« Daß das eine ganz schön lange Zeit war, nämlich achtundneunzig Jahre, verschwieg sie ihm. Er hätte es nicht kapiert und sie für ver rückt gehalten. »Sie sind nicht etwa von einem Konkurrenzunternehmen?« lachte er. Es klang weniger selbstsicher. »Nein, keine Angst. Ich bin nur zu meinem Vergnügen hier.« Um ihre Worte zu unterstreichen, legte sie die rechte Hand auf sein Knie und ließ sie langsam am Oberschenkel emporwandern. Dabei musterte sie unverwandt sein Gesicht. Erst schluckte er, dann begannen seine Augen zu leuchten. Als ihre Fingerspitzen die Schwellung unter dem Stoff berührten, ging es wie ein elektrischer Schlag durch seinen Körper. Sie spürte den Pulsschlag in seinem Glied und beugte sich zu ihm hinüber. »Sobald wir in der Luft sind, will ich dich«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Mit Haut und Haaren.« »Ich kann es kaum erwarten«, lautete seine ebenfalls gehauchte Antwort.
* Die Telefonzelle stand hinter der Baracke, die als Abfertigungsge bäude diente. Ein wenig schief ragte sie in die Landschaft. Der Qua lität der Verbindung tat dies allerdings keinen Abbruch. Der Mann, der die Zelle betrat, schien das genau zu wissen. Er zog ein kleines Adreßbuch aus der Jacke, blätterte kurz darin und nickte zufrieden. Er hob den Hörer ab, steckte seine Scheckkarte in den Ap
parat und wählte dann eine ziemlich lange Nummer. Achtmal tutete es in der Leitung, ehe jemand das Gespräch entgegennahm. »Mister Goedevert? – Ah, Sie erkennen mich an der Stimme, das ist gut. – Sie haben vollkommen recht, mein Anruf ist außergewöhn lich. Es geht um ein sehr wertvolles Objekt. Verhandlungsbasis zwei Millionen Dollar. – Nein, ich scherze ganz und gar nicht. Der wahre Wert liegt vermutlich noch um einiges höher. – Ja, ich treffe heute nachmittag in Amsterdam ein. – Sehr gut. Auf Wiedersehen, Mister Goedevert.«
* Hendrik Svædhin fluchte wie ein Rohrspatz. »Die Fjordgeister sollen ihn holen«, giftete er ins Mikrofon. »Die Trolle sollen ihn mit allen Krankheiten verhexen, die es gibt.« »Hier Tower. Vielleicht haben sie das ja schon getan«, klang die Antwort aus dem Lautsprecher zwischen den Kontrollanzeigen. »Beruhigen Sie sich erst einmal, Svædhin. Er wird schon noch kom men. Ich sehe in der Ferne einen Wagen über die Landstraße rasen. Vielleicht ist er das.« »Dem werde ich was husten. Er ist über eine halbe Stunde zu spät dran. Nicht aus dem Bett gekommen, der Kerl. Die ganzen Säcke mit der Post und dem Behördenkram durfte ich allein in die Maschine tragen. Mir zittern jetzt noch die Hände von der Anstrengung.« »Er ist es. Der Wagen biegt auf die Zufahrt zum Flughafen ein, gibt mit der Lichthupe Zeichen.« »Roger.« Übergangslos vergaß der Kapitän der kleinen Maschine den persönlichen Ärger. »Fangen wir mit dem Wettercheck an.« »Roger. Nach Süden hin ist es stark bewölkt. Bis in tausend Meter
Höhe Schneetreiben. Temperatur in der regulären Flughöhe von zweitausenddreihundert Metern minus achtunddreißig Grad.« »Ekelhaft. Zum Glück befinden wir uns nicht auf dem Weg zu ei ner Fallschirmspringer-Übung.« »Das nicht. Aber Sie haben eine rassige Schönheit an Bord, Svæd hin. Ein echter Feger, kann ich Ihnen sagen.« »Einen Augenblick.« Er griff nach seiner Mütze und erhob sich. Mit zwei Schritten stand er an der schallgedämmten Tür zur Passagierkabine. Er öffne te sie und ließ seine Augen schweifen. Holtjevar im Tower hatte recht. Zwar sah er nicht viel mehr als ih ren Kopf über den hohen Sitzlehnen. Aber das reichte aus. »Meine Damen und Herren«, sagte er auf englisch. »Leider haben wir eine kleine Verzögerung. Unser Kopilot und Bordingenieur ist noch nicht eingetroffen. Er befindet sich jedoch auf dem Weg hier her. Es dauert nur noch wenige Minuten bis zum Start. Vielen Dank für Ihr Verständnis.« Rückwärts verschwand er im Cockpit und schloß die Tür. Hastig kehrte er in seinen Sessel zurück. »Mann o Mann, Sie haben recht«, sagte er in das Mikrofon. »Eine solch rassige Schönheit ist mir im ganzen Leben noch nicht über den Weg gelaufen.« »Passen Sie nur gut auf sie auf. Man kann nie wissen. Vielleicht haben Sie Glück.« »Wohl kaum. Der Typ neben ihr scheint zu ihr zu gehören. Er glotzt so selig. Fast wie die Putten im Dom von Stavanger.« »Guter Witz, Kollege. Ihr Kopilot ist da. Jetzt telefoniert er. Kann sich also nur noch um Stunden handeln.« »Roger. Machen wir weiter. Gibt es telefonische Meldungen aus
Helsinki?« »Keine. Alles normal. Ein paar Flüge aus Frankreich und Deutsch land sind abgesagt. Wegen Nebels. Die Maschinen dort konnten nicht starten.« Das bedeutete, daß auch die Rückflüge mit diesen Maschinen aus fielen. »Amsterdam ist frei?« erkundigte sich Svædhin. »Ist frei. Derzeit läuft so gut wie alles über Amsterdam und Wien. Frankfurt und München können Sie vergessen.« »Ist mir sowieso egal. Ich gebe Olsen noch zwei Minuten.« »Das schafft er lässig. Er ist auf dem Weg zur Maschine.« »Und er hat keine Angst, mir zwischen die Finger zu geraten?« »Offensichtlich nicht.« Augenblicke später ging die Tür, und Björn Olsen betrat das Cock pit. Svædhin lag eine geharnischte Begrüßung auf der Zunge. Beim Anblick des Kollegen aber blieb ihm die Schelte im Hals stecken. »Was ist denn mit dir passiert?« Olsens Gesicht trug die schmerzhaften und teilweise blutigen Spu ren von gefrorenen Ästen und Zweigen im Gesicht. Er zuckte mit den Schultern. »Ein Unfall«, murmelte er. »Im Badezimmer.« »Und du bist okay? Keine Gehirnerschütterung?« »Keine. Was denkst du denn?« »Gut. Dann fang mit den Systemchecks an.«
* Die Sitze in der kleinen Turboprop standen ziemlich eng. Es hatte
den Vorteil, daß sie schlecht einsehbar waren. Lilith öffnete die Bei ne und forderte ihren Sitznachbarn damit auf, seine vornehme Zu rückhaltung endgültig aufzugeben. Er beugte sich über sie, als wolle er aus dem Fenster sehen. Dabei glitten seine Finger zielbewußt zwi schen ihre Schenkel und wanderten weiter empor. Seine Fingerspitzen zuckten leicht, als er die Wahrheit entdeckte: daß sie nämlich unter ihrem Mantel rein gar nichts trug, nicht ein mal einen Slip. Mit dem Zeigefinger beschrieb er verschlungene Pfa de in ihrem Haar, ehe er ein bißchen tiefer glitt und sanft über ihre Scham strich. Vorsichtig drückte er sie ein wenig auseinander. Lilith schloß die Augen und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Er machte das gut, sehr gut sogar. Ein wohliger Schauer durchrieselte sie. Plötzlich aber riß sie ihre Augen wieder auf. Ein Mann betrat die Maschine. Er trug Uniform. Ohne Zweifel handelte es sich um den verspäteten Kopiloten und Bordingenieur. Sein Gesicht sah ausge sprochen ramponiert aus, und beim Anblick dieses Mannes über kam Lilith ein merkwürdiges Gefühl. Sie achtete nicht mehr auf die liebkosenden Finger Ole Svenssons. »Warte«, flüsterte sie ihm zu und schob seinen Arm zur Seite. »Magst du das nicht?« hauchte er ihr ins Ohr. »Doch. Aber da ist etwas … Ich weiß nicht …« Der Typ mit dem verunzierten Gesicht verschwand im Cockpit, doch dieses Gefühl blieb und verstärkte sich mit jedem Atemzug. Es bereitete ihr Unbehagen, das sich langsam, aber sicher zum Unwohl sein steigerte. Es begann den Durst zu überlagern, den sie empfand. Sie schloß die Augen und spürte ihren Empfindungen nach. Ähnli ches hatte sie bisher nur in ganz seltenen Fällen wahrgenommen, etwa im Marillion-Hochhaus in Sydney und bei den Wagen der Fre ak-Show in Corris Uchaf, Wales.
Magie. Dämonische Magie. Hier allerdings blieb sie merkwürdig unausgegoren, nicht zwanghaft und damit vermutlich ungefährlich. Dennoch ließ die Überzeugung sie nicht mehr los, daß mit dem Ko piloten der Maschine etwas nicht stimmte. Einen Augenblick lang spielte sie mit dem Gedanken, die Maschi ne zu verlassen und auf dem Landweg nach Helsinki zu reisen. Aber diese Überlegung verwarf sie rasch wieder. Alles in ihr dräng te danach, endlich in Mauretanien anzukommen und Gewißheit über das Schicksal von Duncan Luther zu erhalten. Außerdem war tete auf dem Flug ein Liebesabenteuer auf sie, dessen Wegfall sie sich nie verziehen hätte. »Meine Damen und Herren, bitte schnallen Sie sich an«, unter brach die Stimme des Kapitäns ihre Gedanken. »Wir starten in Kür ze.« Lilith warf Ole Svensson einen beruhigenden Blick zu. »Es ist nichts«, sagte sie. »Mir war ein paar Augenblicke lang et was komisch. Aber das habe ich öfter, wenn ich fliege. Vielleicht un terdrückte Flugangst oder so ähnlich. Das gibt sich, wenn wir erst einmal oben sind.« Sie nahm seine Hand und schob sie dahin, wo es ihr am meisten Spaß machte. Svensson wirkte erleichtert, und sie genoß seine Be rührungen. Den Start bekam sie nur am Rande mit. Ole Svensson beugte sich unablässig in Richtung Fenster und schien von dem, was draußen zu erkennen war, gar nicht genug zu bekommen.
* Arvid Hårling spuckte verächtlich aus und versetzte dem Reifen einen Tritt. In letzter Zeit kam das häufiger vor, und es lag an seiner
Alten. Immer wenn er daheim mit ihr Ärger hatte, ließ er seine Wut am bearbeiteten Kautschuk aus. Jedesmal war es derselbe Reifen auf der rechten Seite der Turboprop-Maschine. Und er wollte verdammt sein, wenn das nicht eines Tages Auswirkungen hatte. Klöfter, der Wirt der Kneipe, schärfte es ihm immer wieder ein. Spätestens beim tausendsten Tritt war er durch und steckte mit dem Stiefel im Gum mi fest. »Ach, hol’s der Teufel«, brummte Arvid und wischte sich die Triefnase am Jackenärmel ab. Drei Jahre noch bis Mitte Sechzig, und dann sah alles anders aus. Dann ging er in den wohlverdienten Ru hestand. Die reguläre Wartung der Maschine erfolgte sowieso in Helsinki. Er stellte lediglich so etwas wie einen verlorenen Außenposten dar. Luftdruck prüfen, Öldruck messen. Ohne den richtigen Druck funk tionierten die Ruder am Heck nicht perfekt, und das konnte sich bei der beißenden Kälte schnell als Bumerang für die Maschine erwei sen. Und natürlich für ihn. Gefeuert ohne Rentenanspruch. Also immer schön brav und fleißig den Druckmesser anschließen, die Werte aufzeichnen und anschließend in der Wärme der Baracke den Ausdruck machen. Wie dieses Teufelszeug funktionierte, war ihm sowieso ein Rätsel. Er hielt einen Prügel in der Hand, nicht viel größer als ein Hammer. Dieser stand über Funk mit dem Computer in der Baracke in Ver bindung. Dort lauerte eine riesige Masse an Software, verteilt auf zwei Platten, darauf, endlich Daten zur Auswertung zu erhalten. Nicht einmal ein Stromausfall nutzte etwas. Dann sprang automa tisch das Notaggregat an. Und dieser klobige Kasten mit dem Auf druck eines renommierten Herstellers funktionierte stur und un menschlich weiter.
Druckmesser festschrauben, die Werte ablesen und den Prügel später zur Baracke tragen, das war es eigentlich schon. Einer speziel len Ausbildung bedurfte es nicht. Arvid hatte irgendwann eine drei tägige Schulung in der Hauptstadt mitgemacht. Wann genau, wußte er nicht mehr. Ihn beseelte nur ein einziger Gedanke. Aushalten. Durchhalten. Diese drei Jahre noch. Gedankenverloren starrte er hinüber zum Ende des Rollfeldes, wo der Wald begann. Arvid Hårling hielt die Luft an und ließ den Prügel fallen. Rentiere und Wildschweine starrten ihn an. Wie an einer Schnur aufgereiht, schauten sie zwischen den Bäumen hervor. Keine zwan zig Meter entfernt. Das fehlte gerade noch. Wild am Rollfeld. Er begann mit den Ar men zu fuchteln und stieß ein gefährliches Brummen aus. An dem Panorama änderte sich nichts, und der Techniker suchte nach Halt am Rumpf der Maschine. Aus weiter Ferne antwortete ihm Indianergeheul, doch die Staubwolke und die Horde auf ihren Pferden blieb aus. Aus den Augenwinkeln heraus nahm er eine Bewegung wahr. Zwischen den aufgereihten Köpfen der Wildschweine und Hirsch kühe bewegten sich Kinder. Der Größe nach befanden sie sich im Säuglingsalter. Sie lösten sich aus dem Schatten der Bäume und rannten auf ihn und die Maschine zu. Etwas flog durch die Luft, und er streckte den Kopf nach vorn und versuchte, das Ding zu er kennen. Da traf es ihn auch schon an der Stirn, und er ging mit ei nem Seufzer in die Knie. Fassungslos starrte er auf den kleinen Eis brocken. »Na wartet. Bankerte. Euch werde ich helfen.« Er ballte die Fäuste und fixierte die Rasselbande. Es waren etliche Dutzend. Endlich begriff er, daß das Indianergeheul von ihnen
stammte und sich viel schlimmer anhörte als eine Horde Sioux beim Angriff. Arvid Hårling riß die Augen noch weiter auf als bisher. »Halt!« rief er. »Hier ist Endstation.« Sein Verstand weigerte sich, die Wahrheit zu akzeptieren. Das wa ren keine Kinder. Alles andere, Bestien, Blutsauger, Dämonen, aber keine Kinder. Wie Schuppen fiel es ihm von den Augen. Trolle! Wesen aus den Märchen und Sagen dieser Gegend! Die Winzlinge mißachteten seine Anweisung aufs gröbste. Schreckliches Gejaule brandete ihm entgegen, ziemlich dünn, aber dafür gräßlich und nervtötend. Ehe der Techniker sich versah, sprangen sie ihn an und zerrten an seinen Beinen. Er fiel nach hinten gegen die offene Luke im Rumpf und blieb darin stecken. Die Trolle klammerten sich an seine Hose und kletterten an seinem Körper auf wärts wie an einem schief gewachsenen Baum. Sie packten ihn an der Jacke und traten ihm ins Gesicht. Ehe er sich von seinem Schreck erholte, hüpften sie durch die Luke ins Innere der Maschine. Ein Ge sicht, alt und runzlig, tauchte vor ihm auf. »Ihhh, du Schwein«, piepste das alte Männlein mit dem Körper ei nes Kleinkindes. »Du stinkst aber schwer nach Fusel. Wann kratzt du eigentlich ab? Hast du nicht Lust auf jetzt gleich? Ich kann dir be hilflich sein!« Arvid stieß einen Schrei aus. Er riß sich los, fuchtelte mit den Ar men und suchte mit den Augen nach dem Tower. Er befand sich auf der anderen Seite der Turboprop, unsichtbar für ihn. Zwei, drei Me ter über dem Boden näherte sich eine Schnee-Eule der Maschine und hielt auf die hintere Luke zum Frachtraum zu. »He!« schrie eine Stimme. »Mach die Tür zu, es zieht!« Hårling fuhr herum. Er war allein. An der Frachtluke rührte sich
nichts, obwohl er da gerade noch … Er warf den Kopf nach links und rechts und starrte zum Waldrand. Außer Bäumen und Büschen war da nichts. Keine Tiere, keine Kinder, keine Schnee-Eule. Nichts. Du solltest wirklich weniger saufen, Arvid, redete er sich ein. Langsam wird es gefährlich. Er betastete seinen Kopf und spürte die Beule von dem Schlag. Für eine Halluzination schwoll sie ziemlich stark an und glühte wie Feu er. Hastig schloß der Techniker die Luken und Klappen der Maschi ne, hob den Prügel auf, kroch unter der Tragfläche hindurch und klopfte dreimal laut gegen den Rumpf. Das hörten sie drinnen und wußten, daß er seine Arbeit beendet hatte. Augenblicke später sprangen die Motoren an. So schnell ihn seine Beine trugen, rannte Hårling hinüber in die Baracke und verkroch sich in der Ecke neben dem Holzofen. Nach einer Weile fiel ein großer Schatten auf ihn. Khauli, die Di cke, stand vor ihm. Sie wuchs buchstäblich über sich selbst hinaus, wenn sie ihren Platz hinter dem Resopal-Tresen verließ. »Du säufst dich um deinen Verstand. Mach nur so weiter«, säusel te sie. Irgendwie erinnerte sie ihn an seine Frau. »Ich habe sie gesehen. Sie sind da. Sie sind in der Maschine.« »Wer?« »Trolle. Ein ganzes Heer von Trollen. Sie haben die Turboprop ge stürmt. Die Maschine darf nicht starten, hörst du?« »Du bist ja sturzbesoffen, Arvid Hårling. Trolle sind Sagengestal ten. Es gibt sie nicht wirklich.« »Sag dem Tower Bescheid, schnell. Sie darf nicht …« Er wollte aufstehen, aber sie schob ihn auf die Bank zurück. »Wenn du so weitermachst, dann steckst du spätestens in zwei
Wochen in einer Heilanstalt. Deine Frau wird sich freuen, wenn sie endlich ihre Ruhe hat.« Arvid schwieg. Es hatte keinen Sinn, mit Khauli zu diskutieren. Es hatte noch nie Sinn gehabt. »Ich habe sie gesehen. Mitsamt ihren Reittieren. Glaube, was du willst.« Man sah es ihm noch nicht an, aber von diesem Tag an trank Ar vid Hårling keinen einzigen Schluck Alkohol mehr.
* Tief unter dem Flugzeug hingen dicke Schneewolken. Laut Wetter bericht schneite es über ganz Skandinavien. Fünf Minuten war es her, daß die Turboprop ihre maximale Flughöhe erreicht hatte. Lilith löste ihren Sicherheitsgurt und wandte sich an ihren Neben mann. »Haben Sie auch dieses Rumpeln im Frachtraum gehört?« Ole Svensson nickte. »Da muß etwas umgefallen sein.« »Hoffentlich war es nicht der Käfig mit meinem Kanarienvogel. Dürfte ich Sie um einen Gefallen bitten?« »Aber gern.« »Würden Sie mit mir nach hinten gehen und nachsehen?« »Selbstverständlich. Kommen Sie.« Er erhob sich und schritt zwischen den Sitzreihen hindurch. Lilith folgte ihm. Der Schwede öffnete leise die Tür und stieg über die Schwelle nach hinten in den Frachtraum. Er machte eine einladende Bewegung. Lilith huschte an ihm vorbei, und er schob die Tür zu.
Übergangslos wich der dumpfe Druck ein wenig von ihr. Für menschliche Verhältnisse war es ziemlich dunkel hier. Links und rechts brannten zwei kleine gelbe Lampen. Ole Svensson stol perte über einen Postsack und seufzte verhalten. »Warte«, flüsterte Lilith. »Die Augen gewöhnen sich recht bald an die Umstellung.« Sie selbst hatte überhaupt keine Probleme damit. Ihre Umgebung erhielt einen leichten Rotstich, die Konturen verloren ein wenig an Schärfe. Dafür vermochte sie in jeden Winkel zu blicken, als sei es taghell. Sie griff nach der Hand ihres Begleiters und zog ihn nach links hinüber. Mehrere Matten aus Schaumstoff lagen dort herum. Sie dienten vermutlich als Polsterung für empfindliches Transportgut. Diesmal hatte die Maschine außer Postsäcken, Koffern sowie ein paar Kisten nichts geladen. Lilith zog Ole zu sich herab auf die Matratzen und begann, die Knöpfe seines Hemdes zu öffnen. Er half ihr dabei. Sein Atem ging heftig, er konnte es kaum erwarten. Ein paar Augenblicke, und er lag nackt neben ihr. »Nun zu dir, mein Täubchen«, flüsterte er und biß ihr leicht ins Ohr. Sie warf den Kopf zurück und öffnete den Mantel, so gut es ging. Der Symbiont reagierte und zog sich zurück. Sie schlüpfte aus den Ärmeln und tat, als schiebe sie den Pelz einfach unter ihr Be cken. Oles Fingerkuppen begannen eine heftige Entdeckungreise über ihren Körper. Lilith genoß es. So gut es ging, schob sie den Zeit punkt hinaus, an dem sie ihren Durst nicht mehr würde zurückhal ten können. Svensson drehte sich neben ihr, bis er verkehrt herum lag. Mit Mund und Nase tauchte er zwischen ihre Schenkel.
Lilith stieß leise Schreie aus. Sie stachelten ihn an, und sein Glied wuchs zu imponierender Größe. Sanft spielten ihre Lippen mit ihm. Sie spürte, wie sein Körper bebte, und gab ihn wieder frei. »Nimm mich jetzt«, hauchte sie. Seine Zunge glitt an ihrem Bauch empor, während er sich drehte. Dann drang er mit seiner ganzen Männlichkeit in sie ein. Sie bog ihm das Becken entgegen und verschränkte die Beine hinter seinem Rücken. Während er sie umfaßte und ihren Körper an sich drückte, begann er sich mit immer stärker werdenden Stößen in ihr zu bewe gen. Lilith warf den Kopf zurück und zog mit den Fingerspitzen an ihren Brustwarzen. Was für ein Mann! Sie schloß die Augen. Wie kein anderer ver stand er es, mit allen Sinnen auf die Signale ihres Körpers zu lau schen. Wenn der Flug nicht so kurz gewesen wäre, eine gute halbe Stunde nur, dann hätte sie bis zum nächsten Morgen mit ihm wei termachen mögen. Zärtlich begann sie seinen Hals zu liebkosen. Sie krümmte das Be cken stärker und kam ihm entgegen. Er stöhnte. Sein Körper bäumte sich auf und verstärkte das Tem po. Lilith öffnete weit den Mund und fixierte die Schlagader an sei nem Hals, die jetzt deutlich hervortrat. Gegenseitig schaukelten sie sich auf und näherten sich dem ge meinsamen Höhepunkt. Liliths Schoß glühte wie ein Vulkan, und Ole genoß es ebenso wie sie. Sein Blick ging verklärt ins Leere. Er kam. Und wie er kam. Wie ein Tsunami rollte er über das Meer und eilte auf die Küste zu. Er würde alles unter sich begraben. Irgendwo im Frachtraum krachte es. Einen Augenblick später brach um sie herum die Hölle los. Lilith schob Ole Svensson von sich herunter und richtete sich ruck artig auf. Ihre Augen durchdrangen mühelos das Halbdunkel. Über
all im Frachtraum bewegten sich Kinder. Nein – keine Kinder, korri gierte sie sich. Es handelte sich um alte Männer von Kindergröße. »Macht diesem liederlichen Treiben ein Ende!« klang eine helle Stimme auf. »Hier steht der tapfere Gaffelstyr. Auf sie mit Gebrüll. Mir nach, Brüder!« »Was ist …« Ole Svensson lauschte der Stimme nach und sah zu, daß er so schnell wie möglich in seine Unterwäsche kam. Lilith trug bereits wieder ihren Pelzmantel und die Stiefel. Sie zerrte ihren Lieb haber zur Tür. »Schnell!« Etwas schlug gegen ihre Beine. Die Symbiontenstiefel federten den Schlag ab. Sie riß die Tür auf und stieß den halb bekleideten Schwe den hinaus in die Passagierkabine. Dann duckte sie sich. »Was wollt ihr? Vor allem, wer seid ihr?« Statt einer Antwort warfen sie sich ihr wie ein Mann entgegen. Aus allen Ecken und Winkeln kletterten sie und sprangen sie an. Von oben, wo wichtige Leitungen entlangführten, ließen sie sich wie Zecken auf ihren Kopf und ihren Nacken fallen. Ihr Verhalten erin nerte Lilith an das der Pestratten von Sydney. Sie schüttelte sich wie ein wunder Stier, schleuderte das aufsässige Pack von sich und schuf einen Sicherheitsabstand, indem sie unter die Tür trat. Die übrigen Passagiere verfolgten teils hämisch, teils verblüfft, wie Ole Svensson in seine Hosen schlüpfte und hastig das Hemd unter den Gürtel stopfte. Die ersten reagierten auf den Lärm im Frachtraum. »Das ist aber kein Kanarienvogel«, sagte jemand auf englisch. Lilith hörte nicht hin. Sie starrte auf die Winzlinge. »Gebt Ruhe und hört mit dem Unsinn auf!« rief sie. Wildes Gelächter brandete ihr entgegen. Es kam nicht nur aus dem
Frachtraum, sondern auch aus der Passagierkabine. Mit lautem Kra chen öffneten sich mehrere der Gepäckboxen. Handgepäck fiel auf die Passagiere herab. Dann folgten bis an die Zähne bewaffnete Mi nimenschen, die sich auf die Männer und Frauen warfen. »Skogsrå, Skogsrå«, schrie es aus über hundert Kehlen. Die Winz linge krallten sich in die Haare der Passagiere, würgten sie oder schlugen sie mit den flachen Seiten ihrer winzigen Waffen. Nicht alle stellten sich dabei geschickt an. Es gab leichte Schnittwunden, Blut floß. Etwas schnellte sich Lilith entgegen. Geistesgegenwärtig warf sie den Kopf zurück. Die Klinge blitzte im Kabinenlicht und verfehlte sie nur knapp. Der Schreihals namens Gaffelstyr saß auf den Schultern eines Art genossen und schwang seinen Spielzeugdegen. »Du verwandelst dich ja gar nicht in einen Wolf!« brüllte er. Der Lärm seiner Artgenossen übertönte es, aber Liliths empfindliche Oh ren verstanden es dennoch. »Du riechst meilenweit gegen den Wind, Blutsauger. Geh uns aus dem Weg, wenn du dein schändli ches Leben retten willst.« Endlich dämmerte Lilith, mit wem sie es zu tun hatte. Skogsrå war die schwedische Bezeichnung für Waldtrolle. Nicht, daß ihr diese Erkenntnis etwas nutzte. Die Walze aus Dut zenden von Leibern setzte sich in Bewegung, warf Lilith einfach um und überrollte sie. Sie wehrte sich wie eine Katze, krümmte sich zu sammen, schlug und trat um sich. Insgeheim wartete sie darauf, daß ihr vampirisches Naturell durchbrach und sie zu einem blutigen Ge genangriff überging. Aber es geschah nicht. Irgendeine Sperre in ihrer Psyche verhin derte, daß sie diese Wesen von Kindergröße angriff. Kleine Stiefel trampelten auf ihr herum und benutzten den Symbi
onten als Fußabstreifer. Er ließ es geschehen, also hielt auch Lilith die paar Sekunden still, in denen die Trolle über sie hinweg in die Passagierkabine stürmten. Sie zerfetzten die Sitzlehnen, versetzten den Passagieren Tritte und wälzten sich wie eine homogene Lawine in Richtung Cockpit. »Haltet sie auf!« rief Lilith in Ole Svenssons Richtung. Dieser saß reglos in seinem Sitz und starrte mit offenem Mund auf das Gewu sel. Vermutlich hatte er den Schock seines Lebens. Die Passagierkabine verwandelte sich innerhalb kürzester Zeit in ein Tollhaus. Lilith kam taumelnd auf die Beine. Das alles konnte nur ein schlechter Traum sein. »Hallo. Pscht!« machte es hinter ihr. Sie drehte sich um und blickte durch die offene Tür in den Frachtraum hinein. Ein etwas zu groß geratener Schmetterling schwebte vor ihr in der Luft und winkte ihr zu. »Süßes Weib, edle Vampirin«, säuselte eine angenehme Stimme. »Freundschaft, ey? Wächterin des Schwertes grüßt große Schwester. Würdest du deine Hände öffnen und waagrecht vor dich halten?« »Ja, ja, natürlich … Wozu eigentlich?« »Damit ich bequem landen kann, große Schwester. Er bumst gut, dein Freund. Und du duftest echt verführerisch, ey. Laß mich dei nen Nektar schlürfen. Doch vorher hilf mir.«
* Hendrik Svædhin verschluckte sich fast, als der Höhenmesser plötz lich pendelte, auf zwölfhundert Meter sank und dann auf siebzehn hundert hochschnellte. Björn Olsen bekam es ebenfalls mit. Die bei
den Männer starrten sich an. »Das ist …«, begann der Kopilot. »Das darf doch nicht wahr sein.« Der Öldruckmesser spielte jetzt ebenfalls verrückt. Weitere Anzei gen für die hydraulischen Systeme begannen ihre Werte zu ändern, und Augenblicke später blinkte eine Warnlampe auf und meldete, daß sie soeben das – allerdings eingefahrene – Fahrwerk verloren hatten. »Verdammte Kiste«, fluchte Svædhin. »Jetzt ist sie endgültig im Eimer.« So etwas war ihm noch nie vorgekommen, und er flog bereits seit zehn Jahren auf dieser Route und sammelte schon mit der dritten Generation dieser Turboprop-Maschinen Erfahrung. Der Flug auf der Route Ivalo-Helsinki-Ivalo zählte zu den entspan nendsten Stunden im Leben eines Piloten. Fast keine Fallwinde über den Fjorden und eine Piste, die so eben war wie eine Eisbahn. Abge sehen von dem Umstand, daß sie sich in Ivalo im Winter nicht von einer Eisbann unterschied, gab es wirklich nichts, was den Pendel verkehr jeden zweiten Wochentag zu einem Problem gemacht hätte. Heute jedoch schien alles anders als in den vergangenen zehn und den nächsten dreißig Jahren. Svædhin musterte das verkniffene Gesicht seines Kollegen. Olsen sah aus, als sei eine Horde wildgewordener Schlittschuhläufer über sein Gesicht gefahren. Er ließ sich nichts anmerken, aber während er verschiedene Checks durchführte, betastete er die Striemen, als wol le er sich vergewissern, daß sie noch da waren. »Es sind Schwankungen in der Energieversorgung«, stieß Svædhin nach der zweiten Durchmusterung hervor. »Irgendwo im Frachtraum. Die Kälte muß … Nein, das ist ausgeschlossen.« Stumm starrte er auf das kleine Display oberhalb des Steuerknüp pels. Die Werte für das Höhenruder zeigten eine Lage an, die nie
mals mit der Position der Maschine übereinstimmte. Wenn es da nach ging, befand sie sich in fast senkrechtem Steigflug. Er drückte den Knopf am Funkgerät. »Flug sechzehn sechsunddreißig an Bodenkontrolle«, meldete der Kapitän. »Wir haben ein Problem.« »Roger. Wir hören Sie. Beschreiben Sie das Problem.« »Vermutlich handelt es sich um eine beschädigte Energieleitung. Die Instrumente spielen verrückt.« »Versuchen Sie, den Fehler zu beheben.« »Natürlich. Was sonst.« Durch die schallgedämmte Tür des Cockpits vernahmen sie un deutlich Lärm in der Kabine. Fast gleichzeitig stellte Hendrik Svæd hin fest, daß die Steuerung des Höhenruders beschädigt war. Sie reagierte nicht mehr richtig. Obwohl er in den Sinkflug übergehen wollte, flog die Turboprop weiter geradeaus. Eine zweite Warnlampe blinkte und zeigte an, daß einer der Seil züge gerissen war, die das Höhenruder bewegten. Der Ort des Scha dens lag irgendwo hinter der Wandverkleidung des Frachtraums. Svædhin starrte Olsen an. »Da ist ein Saboteur am Werk«, schrie er. »Ein Selbstmörder. Ein Terrorist. Sieh nach, was los ist.« Björn Olsen zauberte einen Revolver hervor, entsicherte ihn und machte sich auf den Weg. »Flug sechzehn sechsunddreißig an Bodenkontrolle. Vermutlich haben wir einen Saboteur in der Maschine.« »Roger. Versuchen Sie, mit ihm zu verhandeln. Vermeiden Sie al les, was zum Nachteil der Passagiere sein könnte.« »Roger. Olsen sieht bereits nach, was los ist.« Der Kopilot öffnete die Tür. Lärm brandete ihm entgegen und flu
tete in das Cockpit. Das Geklirr von Waffen aus einer mittelalterli chen Schlacht war zu hören. Dem Geschrei nach befanden sich min destens dreimal soviel Passagiere an Bord, als eingecheckt hatten. Und eine riesige Kinderschar obendrein. Svædhin saß wie festgenagelt in seinem Sessel. Seine Sinne weiger ten sich zu glauben, was sie wahrnahmen. Der Kapitän schaltete den Autopiloten ab und übernahm die Maschine in Handsteuerung. So sehr er sich auch um das Höhenruder bemühte, es funktionierte feh lerhaft und mit einer Verzögerung von gut und gern zwanzig bis dreißig Sekunden. Olsen schrie irgend etwas, was Svædhin nicht verstand, und schloß die Tür. Ein schwerer Körper fiel dagegen. Der Kapitän arbeitete fieberhaft mit der Steuerung. Irgendwie mußte er es schaffen, den Vogel herunterzubekommen. Drunten lag die einzige Hoffnung. »Olsen?« fragte er über Lautsprecher. »Melden Sie sich!« Eine halbe Minute dauerte die Ungewißheit. Erneut polterte es. Svædhin fuhr herum. Jemand riß die Tür auf – Olsen. Er stürzte her ein, schlug die Tür zu und lehnte sich dagegen. »Sie … sie …«, würgte er. »Es ist furchtbar.« »Was ist los, verdammt noch mal?« schrie Svædhin seinen Kopilo ten an. »Rede!« »Die Trolle! Sie sind da. Auf irgendeine Weise sind sie in die Ma schine gelangt.« Er eilte nach vorn. »Runter mit dem Ding. Los, mach schon. Wir müssen runter, be vor sie die Maschine völlig auseinandernehmen.« »Trolle? Hast du den Höhenkoller?« fragte Sveedhin ärgerlich. »Was ist da hinten wirklich los?«
Statt einer Antwort packte Olsen seinen Kollegen am Kragen und riß ihn aus dem Sitz. »Sieh gefälligst selbst nach, Trottel.« Er ließ von ihm ab, warf sich in seinen Sessel und griff zum Steuer knüppel. Widerwillig und erst nach längerer Bedenkzeit neigte sich die Nase der Maschine steil nach unten; die Turboprop ging in Sturzflug über. Geistesgegenwärtig riß der Kapitän das Bordsprech-Mikrofon aus der Halterung. »Meine Damen und Herren, schnallen Sie sich bitte sofort an«, brachte er in einer halbwegs normalen Stimmlage hervor. Dann ließ er das Mikro fallen und warf sich auf Olsen. Mit dem de fekten Höhenruder würde er die Maschine nicht mehr rechtzeitig in eine waagrechte Position bringen, wenn er nicht sofort handelte … Die beiden Männer rangen miteinander. Die Maschine richtete sich wieder ein wenig auf. Der Lärm in der Passagierkabine nahm zu, mehrere Personen schlugen mit Gegenständen auf die Tür ein. »Der Teufel soll sie holen«, fluchte Björn Olsen. Es knirschte, als sich die Tür verbog und schließlich aufsprang. Eine Horde kleiner Gestalten ergoß sich in das Cockpit. Zwerge mit runzligen Gesichtern und Buckeln. »Hochziehen!« schrie Olsen. »Schnell!« Svædhin stellte unter Beweis, daß er seit seiner Zeit bei der Luft waffe nichts verlernt hatte. Angesichts der zwergenhaften Wesen fragte er nicht lange, sondern handelte. Er riß den Knüppel an sich und betete inständig, daß das Höhenruder wenigstens zu dreißig Prozent funktionierte. Gleichzeitig ließ er die Maschine über die rechte Tragfläche abkippen. Die Eindringlinge verloren das Gleichgewicht und purzelten durcheinander. Ein paar von ihnen gelang es, sich am Mobiliar fest zuklammern. Die anderen stürzten wie loses Gepäck in die Passa
gierkabine zurück. Olsen legte an. Zwei Schüsse aus seinem 38er peitschten, zwei hel le Stimmen schrien auf. Dann herrschte plötzlich Totenstille. Und in das Schweigen hinein erklang es dumpf von irgendwo hinter der Wandverkleidung: »Dein Leben für das meiner Brüder.« »Nicht schießen!« schrie Svædhin, doch sein Ruf kam zu spät. Ol sen durchlöcherte die Wandverkleidung. Die Kugeln durchschlugen die Außenwand. Augenblicklich entstand ein leichter, kaum wahr nehmbarer Luftsog. »Mayday, Mayday!« rief der Kapitän ins Mikrofon. »Wir sind ge entert! Die Maschine ist beschädigt! Versuche Notlandung!« Mit zwei raschen Griffen schnallte er sich an. Dann zwang er die Turboprop in eine Taumelbewegung abwärts, eine enge Spirale, wie er sie unter normalen Umständen höchstens einer Düsenmaschine zugemutet hätte. Es bestand keine Chance, die Lage in der Maschine unter Kontrolle zu bringen. Also mußten sie hinunter, so schnell es ging. Olsen klammerte sich fest, rutschte ab und löste dabei einen weite ren Schuß aus. Er durchschlug die Decke und traf eine der Verbin dungsleitungen. Mehrere Instrumente fielen aus. Endlich gelang es dem Kopiloten, sich an seinem Sessel festzuhal ten, sich hineinzuziehen und ebenfalls anzuschnallen. Durch die zerstörte Tür purzelte ein Dutzend Trolle herein. Sie kullerten bis nach vorn zur Kanzel, klammerten sich an allem fest, was sie zu fassen bekamen, und rissen mehrere Kabel aus ihren Hal terungen. Lose Kontakte berührten sich. Es zischte, als es zu Kurz schlüssen an den Kabelenden kam. Das Cockpit begann nach Ozon zu stinken. Einer der Trolle krümmte seinen Körper zusammen und schnellte sich dem Kapitän entgegen. Er bekam den metallenen Stab des Steu
erknüppels zu fassen und riß daran. Svædhin schlug ihm die Faust ins Gesicht. Der Troll quietschte und japste nach Luft. Mit seinem Gesicht ging eine erschreckende Veränderung vor. Es zerlief, als be stünde es aus erhitztem Wachs, und die übelriechende Flüssigkeit tropfte auf den Boden und die Verkleidung der Instrumente. Hendrik Svædhin stieß einen unartikulierten Schrei aus. Nur am Rande nahm er wahr, daß Olsen mit zwei dieser Wesen kämpfte, die an seiner Jacke zerrten. Der Kopilot packte sie und schleuderte sie zu Boden. Dort, wo sie mit den Instrumenten und anderen techni schen Geräten in Berührung kamen, kam es zu diesem gespensti schen Prozeß: Die Trolle zerflossen. Dem Kapitän wurde speiübel. Er lehnte sich zur Seite und erbrach sich. Es lag nicht so sehr am Anblick der in Auflösung befindlichen Wesen, sondern am Gestank, den der Vorgang mit sich brachte. Auf dem Boden bildeten sich dampfende rotbraune Lachen und breiteten sich rasch aus. Als kein Material mehr nachfloß, trockneten sie rasch ab und blieben als dunkle Staubschicht liegen. Die hereindrängenden Trolle erkannten die Gefahr und zogen sich hastig zurück. Sie klammerten sich an den Türrahmen und stießen wüste Drohungen aus. »Wir erwischen dich überall, verfluchter Dieb. Du entkommst uns nicht. Wir machen dich fertig und schneiden dich in tausend Teile. Fliehe nur. Du hast keine Chance!« Svædhin löste seine Konzentration für einen Moment von den Kontrollen und blickte zu seinem Kopiloten hinüber. »Was hat das zu bedeuten, Olsen?« stieß er hervor. »Haben wir dir all das zu ver danken?« Olsens Antwort machte ihm klar, daß sein Begleiter endgültig den Bezug zur Realität verloren hatte. »Keine Sorge«, ließ Olsen sich vernehmen. »Wir sind in Sicherheit.
Du hast ja gesehen, was passiert, wenn die Trolle mit moderner Technik in Berührung kommen.« In Sicherheit? Die kreischenden Motoren und die näherstürzende verschneite Landschaft tief unter ihnen ließen den Begriff höchst relativ erschei nen.
* Für Lilith war es ein merkwürdiges Erlebnis. Sowohl die Trolle als auch das winzige Wesen auf ihren Händen erkannten sie ohne Zö gern als Vampirin, obwohl dies nur die halbe Wahrheit war. Irgend etwas hatte sie folglich an sich, das sie verriet. Die Zwerge taten nicht einmal, als sei das etwas Besonderes. Umgekehrt erging es ihr ähnlich. Sie akzeptierte es von einem Au genblick auf den anderen, daß ihr bisheriges Weltbild um eine we sentliche Erfahrung reicher wurde. Lilith ließ den winzigen Schmetterling in ihrer Hand fallen und klammerte sich an die beiden Sessel links und rechts, so gut es ging. Das zarte Wesen flatterte aufwärts und lachte glucksend. »Ist das aufregend, ey!« Die Turboprop ging in den Sturzflug über, und endlich wich auch die anfängliche Lähmung von den Passagieren. Frauen kreischten, Männer brüllten. Gemeinsam begannen sie auf die Trolle einzu schlagen. Ohne Vorwarnung war das Chaos über sie gekommen. Sie hatten gar keine Zeit, sich darüber klarzuwerden, daß sie es mit leib haftigen Fabelwesen zu tun hatten. Sie gingen zum Gegenangriff über. Mit bloßen Händen schlugen sie auf die Zwerge ein, und in ihr Gebrüll mischte sich das Gekeife
der Trolle, die das natürlich nicht hinnahmen und eifrig zurück schlugen. Lilith versuchte sich einen Überblick in dem allgemeinen Durch einander zu verschaffen. Weitere Gepäckfächer öffneten sich. Hand gepäck stürzte auf die Menschen herab und riß auch ein paar Trolle mit. Einige der Zwerge erreichten den vorderen Ausstieg und mach ten sich daran zu schaffen. Wenn sie ihn öffneten … »Halt dich gut fest«, zischte Lilith dem zarten Elfenwesen zu, das wieder vom Boden hochgeflattert war. »Was sonst, große Schwester.« Das winzige Wesen näherte sich ihrer Schulter, wo es sich am Symbionten festklammerte, der nach wie vor einen dichten, flauschi gen Pelz simulierte. Lilith bahnte sich einen Weg durch das Getümmel. Die Trolle, ganz auf die Passagiere und das Cockpit fixiert, achteten kaum auf sie. Drei warfen sich gegen ihre Beine, doch sie hielt sich rasch fest und wirbelte die Trolle mit einem kräftigen Tritt davon. Verbissen kämpfte sie sich zum Ausstieg durch, wo sich die Trolle vergeblich abmühten. Zum Glück hatten sie keine Ahnung, wie man eine Türsicherung entfernte, und Lilith verspürte auch keinerlei Lust, es ihnen in über zweitausend Metern Höhe zu zeigen. »Packt sie!« brüllte der Unhold namens Gaffelstyr aus einem der Gepäckfächer. Lilith fuhr herum und schleuderte in der Bewegung ein halbes Dutzend Angreifer von sich. »Trolle sind dumm«, quietschte das winzige Wesen neben ihrem Ohr und klammerte sich an ihren Haaren fest. »He, große Schwes ter, wieso machst du nicht auf und läßt sie fliegen? Trolle wissen nicht, wie das ist. Gönne ihnen ein einziges Mal in ihrem Leben das Vergnügen.« Lilith schüttelte energisch den Kopf.
»Menschen können auch nicht fliegen. Wenn wir die Luke öffnen, dann reißt der Sog alle in den Tod.« Die Wand neben ihr kippte mitsamt dem Fußboden um ein paar Grad mehr zur Seite, und Lilith verlor die Balance. Über die Fenster reihe – die nun den Fußboden bildete – robbte sie in Richtung Frachtraum zurück. Die Trolle blieben nun respektvoll auf Distanz. Statt sie zu atta ckieren, schnitten sie ihr Grimassen, streckten die Zungen heraus oder drehten ihr lange Nasen. Bis eine davon plötzlich tatsächlich zu wachsen begann und länger und länger wurde. Der kleine Kerl stieß ein Gebrüll aus, als werde er am Spieß gebraten. Er umklammerte sein enormes Riechorgan, ließ sich zu Boden fallen, und sein Gejam mer ging im Lärm der anderen unter. »Lange Nasen machen, das sind feine Sachen. Ey, große Schwes ter, wie gefällt dir das? Bin ich nicht gut?« »Super, ey«, zischte Lilith zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, darum bemüht, durch die kopfstehende Maschine nicht wie der zum Cockpit zurückzurutschen. »Halte uns die Bande vom Leib, wenn du kannst.« Viele der Passagiere bluteten aus mehr oder minder tiefen Schnitt wunden, die ihnen die Trolle mit ihren kleinen Waffen beigebracht hatten, aber noch keiner hatte ernsthaften Schaden genommen. Bis jetzt. Die Skogsrå schnitzten in selbstmörderischer Manier an den Gummiabdichtungen der Kabinenfenster herum. Wahrschein lich wußten sie gar nicht, was ein Druckabfall war und welche Fol gen er hatte. »Wo willst du hin, große Schwester?« Lilith kämpfte sich durch die Frachtraumtür, schloß und verriegel te sie und kletterte an der rechten Seite des Frachtraums weiter auf wärts.
»Weg hier. Die Maschine stürzt ab.« »Nein, nein, nein. Du hast versprochen, mir zu helfen.« »Habe ich das?« »Aber ja!« »Und wie?« »Das Schwert. Das Elfenschwert. Wir müssen es in Sicherheit brin gen. Er hat es!« Langsam dämmerten Lilith die Zusammenhänge. »Der Kopilot hat es gestohlen. Der mit den Striemen im Gesicht, richtig?« »Aye. Im Auftrag der Trolle. Aber etwas ging schief. Er hat es für sich behalten und in die Maschine gebracht.« »Ein magisches Schwert.« »Natürlich, was sonst, ey.« Es war also die magische Aura des Schwertes gewesen, die ihr Un wohlsein verursacht hatte. »Es geht nicht verloren, solange es in der Maschine ist. Halte dich gut fest.« »Was tust du?« »Aussteigen.« »Ich bleibe hier.« »Nein.« Lilith schielte zum kleinen Bullauge der Frachtluke hinaus. Die Landschaft kam immer näher und vollführte kreiselnde Bewegun gen. Die Maschine schraubte sich steil nach unten und machte keine Anstalten, ihren Flug zu stabilisieren. Entschlossen riß Lilith den Sicherungsbügel auf und legte den ro ten Schalter um. Eine Warnlampe leuchtete auf, doch sie achtete
nicht darauf. Entschlossen drehte sie den Türgriff nach rechts. Die Verriegelung löste sich. Der Abstand zum Boden betrug keine tausend Meter mehr. »Gut festhalten«, zischte sie. Dann stieß sie mit dem rechten Fuß die Luke nach draußen. Das zwei mal einen Meter große Geviert klappte auf, knirschte und brach durch den starken Flugwind umge hend aus der Verankerung. Die Luke taumelte davon. Lilith hielt sich mit beiden Armen am Türrahmen fest, während der Sturm auch an ihr zu zerren begann. Erst jetzt kam ihr so recht zu Bewußtsein, daß es zweierlei Dinge waren, aus einem Hochhaus zu springen oder aus einem abstürzen den Flugzeug. Aber es war zu spät, einen Rückzieher zu machen. Guten Flug, dachte sie noch, dann warf sie sich ins Bodenlose.
* Beim ersten Mal war es ihr wie ein Traum vorgekommen, und als sie daraus erwachte, hatte sie ihren Fledermauskörper kaum zu handhaben vermocht. Mit Mühe nur hatte sie den tödlichen Absturz verhindern können. Inzwischen ging es ganz leicht. Es bedurfte nicht einmal einer be sonderen geistigen Anstrengung. Schwereloses Fallen vermittelte ihr ein Gefühl von unendlicher Leichtigkeit, und während sie dem Erd boden entgegenstürzte, schloß sie die Augen und setzte einfach ih ren Wunsch zu fliegen in die Tat um. Ihr Körper verwandelte sich auf gespenstische Weise, änderte sei ne Proportionen und sein Knochenskelett. Dichter Pelz bedeckte ihn, und mit Hilfe des natürlichen Sonars bestimmte sie den Abstand zum Untergrund und richtete sich danach.
Wohl hörte sie die Schreie der zarten Elfe in ihrem Nacken, doch sie konnte ihr jetzt nicht helfen. Die Kleine litt gewiß unter Atemnot; kein Wunder bei der Geschwindigkeit, mit der Lilith in die Tiefe stürzte. Sie beschrieb einen weiten Bogen. Ihre Sinne erfaßten die ab schmierende Maschine, die nach Norden raste, zurück in jene Ge gend, aus der sie gekommen war. Der Pilot hatte sein Flugzeug noch immer nicht unter Kontrolle, und das Jaulen der Propeller unter der Überbelastung ließ wenig Hoffnung für das Schicksal der Insassen. Lilith folgte der Turboprop, so schnell es ging, und sank dabei langsam dem Boden entgegen. Flüchtig dachte sie an Ole Svensson. Er war ihr ein guter Liebhaber gewesen, und sie hatte sogar Sympa thie für den gutaussehenden Norweger empfunden, doch helfen konnte sie ihm in dieser Situation nicht. Nur sich selbst und dem Winzling auf ihrem Rücken, der sich in ihr dichtes Fledermausfell kauerte. Der Symbiont bildete eine Art Windabweiser in der Mitte ihres Rückens und verhinderte so, daß der eiskalte Wind den Schmetterling in Menschengestalt davonriß. In dieser Höhe und bei dieser Kälte halfen die kleinen, empfindlichen Flügel nichts. Ein Glück, daß sie dieses Abenteuer allein bestritt und nicht in Be gleitung von Beth. Ihr hätte sie unter allen Umständen geholfen, selbst um den Preis, daß sie sich beide ungespitzt irgendwo dort un ten in den Boden gebohrt hätten. Lilith ließ die Maschine nicht aus dem natürlichen Sonar. Die Tur boprop legte sich auf die Seite, kam vorn mühsam hoch und voll führte dann ein gewagtes Manöver. Der Pilot stellte die Maschine fast senkrecht gegen die Flugrichtung und bremste mit dem Rumpf ab. Ein paar Sekunden hielt er das durch. Rechtzeitig, bevor das Ge wicht den stählernen Vogel unwiderstehlich abwärts zog, senkte sich die Schnauze in die Waagrechte. Das Jaulen der gepeinigten Motoren ließ nach und wich einem gleichmäßig heiseren Brummen.
Lilith spürte, wie ihre Schwingen allmählich lahm wurden. Die Jagd hinter der Turboprop her kostete sie alle Kraft, und schließlich verschwand das Flugzeug hinter einem Hügel und damit aus ihrem Blickfeld. Fast gleichzeitig dröhnte der Boden, als die Turboprop aufschlug. Nur kurze Zeit später grub sich auch Liliths Fledermauskörper mit seinen kurzen, klauenbewehrten Füßen in den schneebedeckten Un tergrund hinter dem Hügel. Lilith stieß einen Seufzer aus, der als schriller Schrei das Maul der Fledermaus verließ. Im nächsten Moment erhob sich schwankend eine junge Frau aus der Schneewehe und blickte an sich herab. Sie trug wieder die Pelz stiefel und den Mantel. Wieder einmal entpuppte sich der Symbiont als schweigender und blitzartig handelnder Sofortumschalter, der nicht fragte, sondern Fakten schuf. Aus den Augenwinkeln nahm sie Bewegung wahr, winzige Bein chen, die aus dem Schnee ragten und wild zappelten. Hastig legte sie ein paar Schritte zurück, faßte vorsichtig nach dem Winzling und zog ihn ans Tageslicht. Die Elfe zappelte noch immer. Grazile Finger wischten den Schnee aus dem Gesicht. »Da bist du ja, große Schwester«, prustete das helle Stimmchen. »War ‘n toller Ritt, ey. Bitte trag mich dort hinüber zu den Seiden schwanz-Büschen. Muß das Feuer entzünden. Es ist dringend. Die Wächterin des Schwertes darf die Spur nicht verlieren. Sonst ist sie des Todes.« Lilith spürte, daß das kleine Wesen es ausgesprochen ernst meinte. Sie fragte nicht lange, sondern stapfte durch den fast hüfthohen Schnee und setzte die Elfe vor den Büschen ab. »Fang an, große Schwester!« rief die kleine Gestalt. »Da ist eine kleine Höhlung unter den Wurzeln.«
Lilith begann zu graben und legte die Höhle unter dem Wurzel werk frei. Ihre »kleine Schwester« verschwand darin und kehrte nach wenigen Atemzügen mit einem Stück Wurzelholz und ein we nig Sand zurück. Sie glättete ein Stück Schnee, legte das Holz darauf und rieb den Sand darüber, so wie man Käse über einen Auflauf rieb. Winzige Funken sprühten, das Holz flammte grell auf und be gann dann auf ganzer Länge zu glimmen. Lilith verstand weder den Zauber, den die kleine Elfe hier voll führte, noch den tieferen Sinn dahinter. Sie wußte nur, daß die Zeit drängte, wenn sie den Passagieren noch helfen wollte. »Laß uns lieber aufbrechen«, warf sie deshalb ein. »Falls es Überle bende gibt, sind sie auf uns angewiesen. Bis Hilfe von außen ein trifft, kann es Stunden dauern.« »Hat Zeit und ist gefährlich«, entgegnete die Elfe knapp. »Wegen der Trolle. Sie erhalten gewiß bald Verstärkung. Dies ist Trolland. Es gibt hier nur wenige Verstecke für Elfen wie diese Höhle mit dem magischen Feuer. Setz dich, große Schwester.« Lilith tat ihr den Gefallen. »Du kannst mich Lilith nennen.« »Phantastisch, ey. Ich bin Svåntje. Die Wächterin des Schwertes. Sieh nur, das magische Feuer entwickelt seine Kraft. Es leuchtet. Das Schwert ist in der Nähe, solange das Holz grünes Licht verbreitet.« »Wir sollten uns dennoch auf den Weg machen«, mahnte Lilith. »Wir müssen den Trollen zuvor-« »Bist du kirre?« fauchte die Elfe. »Nur solange das magische Feuer brennt, darf ich dir berichten. Danach ist mein Mund verschlossen wie zuvor.«
*
Der Teufel mochte wissen, woher Olsen den Revolver hatte. Zu sei ner Uniform gehörte er nicht, soviel stand fest. Hendrik Svædhin war auch noch nie aufgefallen, daß sein Kopilot eine Waffe mit sich führte. Auf der Route, die sie jeden zweiten Tag beflogen, war es so gut wie ausgeschlossen, daß jemand die Maschi ne entführte. Diesmal war es anders. Ganz anders. Björn Olsen keuchte, lud hastig ein Ersatzmagazin nach und entsi cherte die Waffe erneut. »Ich halte dir den Rücken frei«, sagte er mit rauher Stimme. Sein Gesicht war von der Aufregung gerötet, die Striemen hatten sich bläulich verfärbt. »Sieh zu, daß du den Vogel heil runterkriegst.« Svædhin nickte mechanisch. Seine Augen brannten. Er starrte un entwegt auf die Instrumente, zog den Steuerknüppel zu sich heran und kämpfte zum ungezählten Mal mit dem Höhenruder. Indem er die Maschine mit der Schnauze steil in den Wind stellte, bremste der Kapitän den Sinkflug ab. Der Staub, die eingetrockneten Reste der Trolle, trieb durch das Cockpit und setzte sich auf der Innenseite der Fenster ab. »Was ist mit der Zwischentür zum Frachtraum?« preßte Svædhin hervor. Olsen gab zwei Schüsse auf die nachdrängenden Trolle ab und verrenkte sich, um einen Blick ans hintere Ende der Passagierkabine zu erhaschen. Die Instrumente hatten angezeigt, daß die Heckluke geöffnet worden war. Dies bedeutete höchste Gefahr für die Passa giere. Wenn die Zwischentür nicht hielt, riß der Sog einen Teil von ihnen ins Bodenlose. »Sie hält. Noch.« »Wir sind bald unten.«
Erste Wipfel tauchten unter ihnen auf. Die Turboprop schmierte mit leichter Seitenlage ab, wurde abgefangen und hielt mit leichtem Aufwärtswinkel auf die verschneite Oberfläche zu. Das Höhenruder funktionierte einigermaßen, aber mit dem Verstellen haperte es. Wenigstens ließen sich die Landeklappen an den Tragflächen nor mal regulieren. »Was ist denn los bei euch?« hörte Hendrik Svædhin den Mann von der Bodenkontrolle aus dem Lautsprecher. »Warum meldet ihr euch nicht mehr?« »Warum wohl? Habe alle Hände voll zu tun«, knurrte der Kapi tän. »Höhe noch zweihundert Meter, fallend. Wir haben außer den Passagieren noch einen ganzen Haufen …«, er zögerte, »… nun, etli che Trolle an Bord.« »Haben Sie getrunken, Svædhin? Was ist los bei Ihnen? Wir haben Sie nicht mehr auf dem Radar.« »Haben Sie nicht verstanden, Sie gottverdammter Idiot? Wir ste hen kurz vor einer Notlandung! Wenn die Hilfskräfte noch nicht un terwegs sind, wird unsere Lage noch verzweifelter!« Er zwang sich zur Ruhe und gab die Koordinaten durch. »Wir sind irgendwo süd lich des Tanhua. Sollten wir heil runterkommen, setzen wir eine Bo je. Over.« Die Landschaft unter ihnen raste heran. Svædhin fuhr die Umdre hungszahl der Propeller zurück. Mit einer Düsenmaschine wären sie nie heil heruntergekommen. So aber bremste er durch gezielte Dros selung der Motoren ab. Der Tacho zeigte über zweihundertfünfzig Stundenkilometer an. Das war immer noch zu schnell. Bis zum Bodenkontakt dauerte es vielleicht noch zwanzig Sekunden. Erneut fing Hendrik Svædhin die durchsackende Maschine durch Aufrichten gegen die Flugrichtung ab. Acht Sekunden lang. Mehr
konnte er nicht tun. Der Höhenmesser zeigte zwanzig Meter über Grund. Der Schnee blendete, dennoch glaubte Svædhin zu erkennen, daß der Untergrund einigermaßen eben war. »Festhalten jetzt!« schrie er. Olsen reagierte wie der Blitz. Soeben hatte er noch weitere Schüsse auf die nachdrängenden Trolle abgegeben. Jetzt ließ er sich in den Sessel fallen. Seine Gurte schnappten ein. Er ließ die Waffe fallen und krümmte den Oberkörper nach vorn, steckte den Kopf zwi schen die Beine und legte die Arme in den Nacken. Hendrik Svædhin wartete noch. Im letzten Augenblick ließ er den Steuerknüppel los und riß die Arme hoch. Ein letzter Blick auf den Tachometer zeigte ihm, daß sich die Maschine mit hundertachtzig km/h in den Schnee grub. Ein relativ sanfter Ruck ging durch den Rumpf. Die Turboprop durchpflügte das Schneefeld und raste auf eine leichte Bodenerhe bung zu. Ein weiterer, viel heftigerer Schlag traf die Maschine. Die beiden Männer in ihren Sitzen wurden nach vorn in die Gurte gerissen. Die leichten Körper der Trolle flogen wie Geschosse an ihnen vorbei und zerschellten in den Instrumenten und an den Fensterscheiben. Plötz lich war alles voller Schleim und Blut. Erneut ging ein Ruck durch die Maschine. Ihre Nase bohrte sich in das leicht ansteigende Gelände, dann lag sie still. Roter Regen tropfte von der Kanzel herab. Es begann nach ver schmorten Kabeln zu stinken. Pilot und Kopilot sahen sich an. »Nichts wie raus«, ächzte Olsen. »Bist du in Ordnung?« Svædhin nickte. »Es geht.«
Sie lösten die Gurte und stiegen über die Überreste der Trolle hin weg. Fast zwanzig von ihnen hatte Björn Olsen verletzt oder getötet. Die anderen lagen verteilt in der Passagierkabine. Björn Olsen spurtete zum Ausstieg und öffnete ihn. »Verlassen Sie sofort die Maschine!« wandte sich Hendrik Svæd hin an die Passagiere. »Es besteht Explosionsgefahr. Bringen Sie sich in Sicherheit.« Er trat zu einer Frau und löste deren Gurte. Als Kapitän war es sei ne Pflicht, die Maschine als letzter zu verlassen. Olsen dagegen war schon draußen. Er hörte ihn durch den Schnee keuchen. Wildes Ge schrei in einer fremden, unverständlichen Sprache brandete auf, dann huschten mehrere kleine Schemen hinter Olsen her durch die Luke. Hendrik Svædhin konnte sich nicht darum kümmern. Er versorgte die Verletzten, löste die Gurte der Passagiere und riß sie aus den Sit zen. Viele waren apathisch. Trübe Augen starrten ihn an, Mundwin kel zuckten. Sie begriffen nicht, was er von ihnen wollte. Wie er es dennoch schaffte, mit Hilfe von vier Männern und einer Frau alle ins Freie zu schaffen und sich dann selbst in Sicherheit zu bringen, vermochte er hinterher nicht zu sagen. Er trieb sie vor sich her durch den hüfthohen Schnee. Viele wollten nach ein paar Dut zend Schritten schon aufgeben, doch er ließ es nicht zu. Erst zwei hundert Meter vom Wrack entfernt gab er sein Okay für eine Rast. Seine Augen hielten nach Olsen Ausschau, aber er fand nur dessen Spur – und daneben die von vielen kleinen Füßen. Die Trolle folgten Olsen. Und noch immer wußte der Kapitän nicht, warum. »Legt euch dort hinter den Hügel«, wies er die Passagiere an. »Ich sehe Feuer an der Maschine. Sie wird explodieren.« Die Männer und Frauen befolgten seine Anweisung umgehend.
Svædhin aber eilte weiter.
* Andere Länder, andere Sitten, dachte Lilith und betrachtete die Elfe. Svåntje tanzte über dem Feuer, seufzte wohlig in der Hitze und und strich genüßlich über ihre kleinen Brüste. Erstmals nahm Lilith sich Zeit, die Elfenfrau genau zu betrachten. Svåntje besaß langes goldenes Haar, das ihr bis zur Hüfte reichte. An den Schläfen trug sie es zu Zöpfen geflochten. Ihren makellosen Körper zeigte sie ohne Scheu in seiner ganzen Nacktheit. Lediglich die Spitzen der Brüste wurden von zwei Kappen aus Gold bedeckt, unterlegt mit rotem Stoff. Der winzige Slip aus demselben Material hing an einer dünnen Kordel und enthüllte mehr, als er verbarg. Um den Hals trug die Elfe ein Band aus silbernen Fäden, deren beide Teile sich zwischen den Brüsten zu einem einzigen Band vereinig ten, das nach unten führte und im Slip verschwand. Jetzt begann Svåntje bei ihrem flatternden Tanz über dem magi schen Feuer den Slip abzustreifen. Sie tat es mit herausfordernder Pose. Sie warf ihn Lilith zu, legte sich mit dem Rücken auf das Holz und das Feuer, ohne daß es sie verletzte, räkelte sich und stieß ein lustvolles Stöhnen aus. Die silbernen Fäden des Bandes endeten in kleinen Ringen an den winzigen Schamlippen, vermutlich ein Sym bol der verschlossenen Scham als Zeichen der Jungfräulichkeit der Wächterin. Noch einmal streckte sich Svåntje genüßlich, dann flatterte sie von dem glimmenden Ast hoch, drehte sich einige Male in der Luft und ließ sich schließlich auf Liliths Knie nieder, die auf einem dicken Wurzelstrang neben dem magischen Feuer hockte. »Viele tausend Jahre ist es her«, begann Svåntje zu erzählen, »da
schmiedete ein Magier ein mächtiges Schwert und machte es den El fen des Hügelvolkes zum Geschenk. Es wurde fortan zu einem Ge fäß für die Seelen aller verstorbenen Elfen und deren Lebensenergie. Dereinst, wenn sich diese Welt ihrem Ende zuneigt, wird das Schwert die Zeit des Nichts überdauern und mit der neuen Welt wiederauferstehen. Und mit ihr werden alle Elfen wiedergeboren.« Sie zupfte ein wenig an dem silbernen Band, schüttelte ihre Haar pracht und fuhr in ihrer Erzählung fort. Mit dem Schwert war es den Elfen vor Jahrhunderten gelungen, die Menschen zu vertreiben, die in die Regionen des Nordens vordrangen und diese zerstörten und ausbeuteten. Das Schwert raubte den Menschen die Seelen. Von Panik und Entsetzen erfüllt, nahmen die Überlebenden Reißaus. Ein weiser Elfenkönig jedoch, der zu dieser Zeit regierte, sah die Gefahren eines sich endlos hinziehenden Krieges mit den Menschen voraus, den diese schlußendlich durch ihre überlegene Technik ge wonnen hätten. Er verbarg das Schwert an einem geheimen Ort, wo es von nun an die Elfen des Porsangerfjords bewachten, jenes Glet schergebietes nahe des Nordkaps. »Die Trolle versuchen seit jeher, das Schwert in ihre dicken Wurst finger zu bekommen«, schimpfte Svåntje und schloß ihre Schenkel. »Nie gelang es ihnen, das Versteck ausfindig zu machen. Erst vor kurzem und, wie gesagt, nach Tausenden von Jahren schafften sie es in ihrer Tumbheit doch noch. Feige und verschlagen, wie sie sind, suchten sie sich ein menschliches Opfer, belegten es mit einem Bann und schickten es los, den Diebstahl auszuführen. Sie selbst wären nie in der Lage gewesen, den magischen Bannkreis zu durchdrin gen. Doch sie hatten die Rechnung ohne den Menschen gemacht. Of fenbar erlangte er unter dem Einfluß seines technischen Fortbewe gungsmittels schneller die Erinnerung zurück, als ihnen lieb sein konnte. Er brachte das Schwert nicht zum Treffpunkt, sondern be
hielt es für sich. Jetzt haben sie es doch noch bekommen. Hilfst du mir, es zurückzuholen?« »Ich verspreche es dir, kleine Schwester. Aber wir hätten es längst, wenn wir nicht hier unsere Zeit vergeuden würden.« »Vergeuden? Du bist verrückt. Tausendmal verrückt.« Der Donner einer Explosion ließ beide zusammenzucken. Einen Augenblick später stieg ein gigantischer Feuerball in den Himmel, gefolgt von einer schwarzen Rauchwolke. »Es ist explodiert, ey. Technik taugt nichts.« »Damit kannst du dein Schwert zu den Sagen des Altertums le gen«, seufzte Lilith. »Jetzt ist alles zu spät.« Das winzige Wesen beachtete sie nicht. Es starrte unverwandt auf das glühende Holz. Die grüne Farbe des Lichts blieb erhalten. »Siehst du, ey? Es ist ein magisches Schwert. Man kann es nicht zerstören.« Fröhlich hüpfte die Elfe um das Holz herum. »Aber du hast recht. Wir sollten jetzt aufbrechen.« Svåntje hob das Holz auf und brachte es in die Höhle zurück. Li lith schob Schnee vor die Öffnung, dann nahm sie die Elfe auf, setzte sie auf ihre Schulter und stapfte hinüber zum Hügel. Droben auf der Kuppe sahen sie in der Ferne das Wrack lodern. »Wir wären in jedem Fall zu spät gekommen«, säuselte Svåntje. Li lith nickte stumm. Sie hoffte, daß sich in der Nähe des Wracks noch Überlebende aufhielten. So grausam es sich anhören mochte, aber sie hatte fürchterlichen Durst. Und sie vermochte nicht zu sagen, was mit ihr geschah, wenn sie innerlich zu sehr austrocknete. Natür lich war die Blutmenge in Svåntje viel zu gering, um sie zu sättigen. Doch würde sie das hindern?
*
Unerbittlich kamen sie näher. Mindestens vierzig Trolle verfolgten ihn. Zwei Kilometer vom Wrack entfernt kreisten sie ihn ein und lie ßen ihm keine Möglichkeit zu entkommen. Olsen wußte längst, daß es ein Fehler gewesen war, die Gruppe der Menschen zu verlassen. Gegen die leichtfüßigen Trolle hätte er nicht einmal im Sommer eine Chance gehabt. Und ein Pavo Nurmi war er nicht, der zehntausend Meter in Rekordzeit gelaufen war. Die Trolle umkreisten ihn wie ein Wolfsrudel seine Beute. In ihren Augen leuchtete nackte Gier. Gaffelstyr befand sich unter ihnen. Er hinkte leicht, und der linke Ärmel seiner Jacke war blutgetränkt. »Das ist die Zeit der Abrechnung, Mensch!« schrie er. »Du hast versucht, uns unser Eigentum vorzuenthalten. Jetzt bekommst du unseren Zorn zu spüren.« »Eigentum? Daß ich nicht lache, ihr verschrumpelten Mißgebur ten.« Olsen atmete wild. Jetzt, am Ende seines Weges, war ihm alles egal. »Eigentümer sind die, denen ich es gestohlen habe. Elfen also.« »Es gibt keine Elfen und Trolle. Wir sind alle nur Sagengestalten«, kreischte Gaffelstyr. »Du siehst uns nicht wirklich. Wir sind Hirnge spinste, leben nur in deiner Phantasie. Oder glaubst du etwa an uns?« »Ich sehe euch. Das genügt mir. Ihr seid Realität.« »Bedauerlich, daß deine Weisheit von so kurzer Dauer ist«, höhnte der Troll. Björn Olsen schwante Übles. Der Donner einer Explosion zerriß die Stille. Eine Druckwelle fegte über sie hinweg. Gleichzeitig stach eine Flamme grell in den diesi gen Himmel hinauf. Das Flugzeug war explodiert. Als wäre dies ein geheimes Signal gewesen, warfen sich die Trolle auf Olsen. Er teilte verzweifelte Tritte aus und ließ die Fäuste wir beln, doch die Trolle wichen ihm geschickt aus. Als er sich herum
warf und seine Flucht fortsetzte, setzten sie ihm nach. Ein paar Me ter nur schaffte er, dann hatten sie ihn an den Hosenbeinen und brachten ihn zu Fall. Das Schwert! durchzuckte ihn ein Gedanke. Benutze es! Ein Schlag traf ihn am Kopf. Sekundenlang sah er Sterne. Er wälz te sich herum und richtete sich auf. Seine Hand fuhr in die Jackenta sche, wo er das Elfenschwert wußte. Mit einem Ruck zog er es her aus und schlug damit um sich. »Er hat es, er hat es!« brüllten die Trolle. Angesichts des Schwertes ließen sie jede Vorsicht fahren. Vierzig kleine Körper warfen sich auf ihn und begruben ihn endgültig unter sich. Olsen bekam keine Luft mehr. Er verfluchte sich und den Augen blick, an dem er sich entschlossen hatte, die morgendliche Wande rung zu unternehmen. Wäre er ihnen nicht über den Weg gelaufen, hätten sie einen anderen verhext. Dann wäre der Flug nach Helsinki verlaufen wie immer. Er ahnte, daß sein Schicksal sich jetzt erfüllte. Der Anführer der Trolle stellte sich über seinen Kopf und ließ langsam das Schwert sinken. »Was soll das? Nimm das Ding weg!« Gaffelstyr lachte lauthals. Er hüpfte auf und ab und schuf auf die se Weise eine Kuhle im hohen Schnee. »Du weißt es nicht, he, he? Das Schwert richtet sich gegen dich. Du hast uns betrogen. Und hier in der Einsamkeit kann dir deine Mo torkutsche nicht helfen.« »Mein Wagen?« »Genau der. Die verfluchte Technik stört unsere Magie. Wir hatten dich verhext, aber der Bann wich früher als erwartet.«
Gaffelstyr reichte das Schwert einem seiner Nebenmänner, setzte sich auf Olsens Bauch und grinste ihn unverschämt an. »Es ist unser Schwert. Nie darf es den Menschen in die Hände ge raten. Den Elfen gehörte es, und wenn wir Lust haben, geben wir es ihnen eines Tages sogar zurück. Vorher aber wird es dich richten.« »Ich habe nichts getan. Ihr dürft mich nicht töten!« »Ho, ho, wer redet denn vom Töten, Menschenwurm? Wir töten dich doch nicht. In diesem Schwert leben die Seelen aller Elfen, die seit seiner Erschaffung gestorben sind. Jetzt erhalten sie Gesell schaft.« Er sprang auf und schrie: »Haltet ihn fest!« Die Trolle drückten Olsen mit aller Kraft zu Boden. Gaffelstyr nahm das Schwert wieder an sich und hob es wie zum tödlichen Streich. Doch der Hieb blieb aus. Statt dessen strich die Spitze des Schwerts über die Schläfe des Liegenden, berührte sanft seine Stirn und begann in Augenhöhe zu kreisen. Etwas geschah. Ein leichtes energetisches Flirren bildete sich um den Schwertknauf. Winzige Blitze zuckten hin und her, dann sprüh te eine Energiekaskade aus der Schwertspitze und legte sich wie ein weißliches, halb durchscheinendes Spinnennetz um den Kopf des Menschen. Björn Olsen schrie voller Erkenntnis und Qual auf. Der Schrei wollte kein Ende nehmen, auch dann nicht, als das Netz sich zusam menzog und in der Klinge verschwand, wo es hergekommen war. Die Blitze und das Flirren hörten auf, und Gaffelstyr erhob sich. »Das war’s wohl«, sagte er, aber es klang nicht besonders über zeugt. »Hat einer was bemerkt? Ist seine Seele jetzt im Schwert ge fangen, oder hat sie sich verflüchtigt?« Keiner wußte eine Antwort, und Gaffelstyr versetzte dem Liegen den zum Abschied einen Tritt und warf den freien Arm in die Luft.
»Mir nach, tapfere Helden unseres Volkes. Wir haben die Trophäe in unseren Besitz gebracht. Von nun an sind wir unbesiegbar.« In breiter Front machten sie sich auf den Weg nach Norden, wo sich ihre Heimat befand. Abwechselnd trugen sie das Schwert, und ihre Spuren verloren sich im fast undurchdringlichen Wald.
* Hendrik Svædhin hörte den Lärm, aber er kam zu spät. Als er die Gestalt im Schnee entdeckte, verschwanden die Trolle gerade hinter der übernächsten Bodenwelle. Der Kapitän bückte sich und untersuchte seinen Kopiloten. Olsen wies keine äußeren Verletzungen auf. Aber er lag da wie tot und rührte sich erst, als Sveedhin ihn berührte. Er stieß ein Geräusch aus, das wie das Winseln eines Hundes klang. Er schlug die Augen auf und starrte den Kollegen an. Hendrik Svædhin wurde abwechselnd heiß und kalt. Olsens Au gen besaßen kein Leben. Sie blickten stumpf und ausdruckslos. Der Kapitän zog den Kopiloten empor und stützte ihn. Olsen wankte und machte unsichere Schritte vorwärts. Er fiel auf die Knie und grub mit den Händen im Schnee. Er stopfte sich den Schnee in den Mund und kaute darauf herum. »Was ist mit dir?« fragte Svædhin leise. »Hast du Durst? Komm, laß uns zu den anderen zurückkehren.« Björn Olsen stieß einen Knurrlaut aus und schlug nach seinem Helfer. Dann begann er, auf allen vieren hinter den Trollen herzu kriechen. Hendrik Svædhin griff ein. Er richtete Olsen erneut auf, legte den Arm um seinen Oberkörper und animierte ihn dazu, seine Beine zu
gebrauchen. Olsen stolperte bei jedem zweiten Schritt, aber irgend wie gelangten sie doch zu den anderen zurück. »Da ist der Kapitän!« rief jemand, als sie in Sicht kamen. Ein Teil der Passagiere lief ihnen entgegen und half Svædhin, Ol sen zu tragen. Es mochte ihre erste sinnvolle Handlung seit der Not landung sein. »Es waren Trolle!« ließ sich ein älterer Mann vernehmen. »Sie sa hen genauso aus, wie es in den Sagen unserer Heimat geschrieben steht.« Andere Passagiere verneinten lautstark. Ihr Verstand weigerte sich, das Erlebte zu akzeptieren. »Und es waren Trolle, so wahr ich hier stehe«, murmelte der Kapi tän. »Ich weiß schließlich, was ich mit meinen eigenen Augen gese hen habe.« Der Feuerschein der explodierten Maschine erlosch allmählich, und Svædhin stellte aufatmend fest, daß sich unter den Passagieren ein Arzt befand. Er kümmerte sich um die kritischen Fälle. »Niemand von der Flugleitstelle wird mir glauben«, fuhr Svædhin fort. »Alle werden denken, daß ich betrunken war. Das Beste wird sein, ich bestehe auf einer sofortigen Alkoholkontrolle.« Er rief den Arzt zu sich. Es handelte sich um einen Chirurgen aus Helsinki, der sich ein paar Tage zum Skilaufen in Ivalo aufgehalten hatte. »Es gibt keine größeren Verletzungen bei den Passagieren«, teilte er Svædhin mit. »Wenn da nicht der Schock wäre …« »Sie haben die Trolle auch gesehen?« »Wir alle haben sie gesehen. Bei vielen weigert sich der Verstand noch, das Gesehene zu akzeptieren. Es wird einer behutsamen Be treuung durch gute Psychologen bedürfen.«
»Wenn man uns nicht vorher einsperrt, weil man uns für verrückt hält.« »Massenpsychose, ja, das wäre eine Erklärung. Ich werde mir überlegen, ob es nicht besser ist, bei unseren Aussagen genau darauf abzuzielen.« »Sie haben vermutlich recht, Doktor. Würden Sie sich um meinen Kopiloten kümmern?« »Aber natürlich. Was ist mit ihm?« »Er ist den Trollen in die Hände gefallen. Weiß der Himmel, warum.« Der Arzt versuchte erfolglos, Björn Olsen anzusprechen. In dessen Augen spiegelte sich keinerlei Erkennen oder Verständnis ab. Ein paar Reaktionstests erbrachten den Beweis, daß sich der Mann in vollständiger Apathie befand. »Es sieht aus, als habe er den Verstand verloren«, meinte der Chir urg. »Wir können nur hoffen, daß es sich um eine vorübergehende Erscheinung handelt.« Ein merkwürdiges Sirren in der Luft ließ sie nach oben blicken. Zwischen den Büschen und Bäumen entdeckten sie riesige bunte Schmetterlinge. Schmetterlinge? Hier, in Eis und Schnee? Es mußten Hunderte sein, vielleicht sogar Tausende. Sie näherten sich mit hoher Geschwindigkeit und teilten sich in einzelne Grup pen auf. »Es geht schon wieder los«, flüsterte Hendrik Svædhin. Ein dicker Kloß bildete sich in seinem Hals. Er brachte kein Wort mehr hervor. Reglos verfolgte er, wie die Gruppen der Schmetterlinge auf die Köpfe der Männer und Frauen herabsanken und sie einhüllten. Auch zu ihm kamen sie. Jetzt sah er, daß es sich um winzige menschliche Körper mit Flügeln handelte.
»Hallo, du«, flüsterten leise und helle Stimmen. »Du hast Schlim mes erlebt, ja, ja. Wir sind Heiler. Wir helfen euch, ey. Gleich, gleich ist es vorbei.« Eine winzige Hand berührte seine Stirn und strich daran entlang. Hendrik Svædhin spürte Wärme und eine unendliche Leichtigkeit in sich. Er schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter und setzte zu einer Antwort an. Sein Mund bewegte sich nur langsam, und seine Augen starrten in einen leeren Himmel. Fassungslos wandte er sich um. »Wa- was ist …«, begann er. Außer den Passagieren und dem ausgebrannten Wrack war da nichts, was es zu sehen gab. Sollte es denn etwas geben, das er sehen mußte? Der Gedanke verflog so schnell, wie er gekommen war. Natürlich nicht! Sie waren allein und völlig auf sich gestellt. Und sie fragten sich, was eigentlich geschehen war zwischen ih rem Start in Ivalo und der Notlandung an der Hardangervidda.
* »Sie sind da, ey!« Die beiden so ungleichen Wesen standen auf der Hügelkuppe und blickten über die weite Landschaft. In Sichtweite lag das Wrack. Es hatte aufgehört zu brennen und bildete einen schwarzen, unansehn lichen Fleck in der ansonsten unberührten weißen Landschaft. »Wovon sprichst du?« fragte Lilith. »Siehst du sie denn nicht? Meine Brüder und Schwestern sind ein getroffen. Sie haben die Trolle entdeckt und kümmern sich jetzt um die Menschen. Kommst du nach, ja? Ich habe es eilig.«
Svåntje stieß sich von Liliths Schulter ab und flatterte davon. Nach einer Weile verschmolz der winzige Körper mit dem wolkenverhan genen Himmel. Lilith zuckte die Schultern und machte sich an den Abstieg. Bei den verräterischen Spuren im Schnee Fledermausgestalt anzuneh men war zu riskant. Was würden die Passagiere wohl sagen, wenn sie entdeckten, daß Liliths Fährte keinen Anfang besaß? Eine halbe Stunde benötigte sie, um das ebene Gelände vor dem nächsten Hügel zu erreichen. Weiter drüben, in sicherer Entfernung von dem Wrack, standen die Passagiere und die beiden Piloten. Sie bewegten sich kaum von der Stelle und warteten vermutlich auf die Rettungsmannschaften. Ein leises Sirren in der Luft kündigte die Rückkehr Svåntjes an. Die Elfe hielt auf Liliths Gesicht zu und blieb dicht vor ihr in der Luft hängen. »Da bist du endlich«, beschwerte sie sich. »Wie lange soll ich noch warten?« »Wofür hältst du mich? Für einen Schneehasen?« »Entschuldige. War nicht so gemeint. Meine Schwestern lassen schön grüßen. Sie haben sich in den Schutz des Waldes zurückgezo gen und werden unsere Wanderung aus der Ferne beobachten. So bald ich mein Volk rufe, wird es uns zu Hilfe eilen.« »Mit einer solchen Streitmacht im Rücken fühle ich mich schon wesentlich wohler«, erwiderte Lilith. Svåntje schien den ironischen Unterton nicht zu bemerken oder überhörte ihn einfach. »Das darfst du glauben. Wir wenden uns in diese Richtung.« Die Elfe deutete weit an der Gruppe der Passagiere vorbei. »Wir wollten uns um die Männer und Frauen aus der Maschine kümmern«, erinnerte Lilith sie. Svåntje setzte sich auf ihre Schulter und schüttelte energisch den Kopf.
»Das geht nicht. Du kannst ihnen nicht helfen. Meine Schwestern haben ihnen die Erinnerung an die Begegnung mit Trollen und El fen genommen. Weißt du, man wischt einfach über ihre Stirn, und schon ist alles weg. Mehr blieb nicht zu tun. Und dem Striemen mann kannst du schon gar nicht helfen. Die Trolle haben dem Dieb die Seele geraubt. Hättest du die Güte, ey, und würdest dich auf die Spur der buckligen Dicksäcke setzen? Unser Ziel ist das Schwert, große Schwester.« Lilith verzog das Gesicht und schluckte eine geharnischte Antwort hinunter. Wortlos machte sie sich auf den Weg.
* Gunnar Lofotten räkelte sich genüßlich auf seiner Strohmatratze und schob die Hand hinüber unter Noras Bettdecke. »Aufwachen, Liebling«, flüsterte er. »Es ist Zeit.« Nora gähnte herzhaft und schlüpfte zu ihm unter das Deckbett. Sie drängte sich eng an ihn, und sie begannen sich wie immer gegensei tig zu liebkosen. Es war die beste Therapie, langsam und voller Frohsinn wach zu werden und nach einer halben Stunde dann end lich aufzustehen. Draußen keimte das erste Licht der Morgendämmerung, und drü ben im Stall krähte Fyrfyx, der Hahn aller Hähne, wie Gunnar ihn stolz zu nennen pflegte. Gunnar tastete mit der Hand nach dem Saum von Noras Nacht hemd, fand ihn und schob ihn langsam nach oben. Seine rauhen Fin gerkuppen fanden die weichen Brüste seiner Frau und strichen be hutsam über die Brustwarzen. Das zeigte Wirkung. Die Warzen
richteten sich auf und wurden hart. »Ahh, was für ein Morgen«, stöhnte Nora und drängte sich ihm entgegen. »Ja, so ist es gut …« Sie biß ihn zärtlich ins Ohrläppchen, und Gunnar wußte, daß es mit dem Aufstehen wohl noch etwas später werden würde. Seine Hände glitten abwärts und begannen die Lenden seiner Frau zu streicheln. Nora seufzte und wand sich mit schlangenhaften Be wegungen aus dem Nachthemd, während er an ihrem Slip zerrte und ihn über die Knie hinab und die Füße irgendwo hinter die Bett lade beförderte. Doch dann wurde er in seinem Bemühen gestört. Er wußte das Ge fühl erst gar nicht in Gedanken zu fassen, doch irgend etwas hatte sich verändert. Draußen. Der Bauer aus dem einsamen Weiler in den Bergen hob ein wenig den Kopf und lauschte. Fyrfyx krähte noch immer, und er tat es hastig und aufgeregt. Die Hühner gackerten unentwegt, und Gunnar Lofotten stieß eine halb laute Verwünschung aus. »Was ist?« hauchte Nora neben seinem Ohr. »Willst du nicht?« »Hörst du den Lärm, den die Hühner machen? Da ist ein Fuchs im Stall. Oder noch schlimmer, ein Wolf.« »Dann geh besser nachschauen. Ich warte hier auf dich.« »Klar.« Er schlüpfte aus dem Bett, deckte ihren nackten Körper gut zu und zog sich an. Draußen im Flur stieg er in die Stiefel, warf sich in den Pelzmantel und nahm die doppelläufige Bockflinte vom Haken. Er vergewisserte sich, daß sie durchgeladen war, dann öffnete er leise die Hintertür und blickte über den Hof. Alles war still, aber Gunnar sah Spuren im Schnee, eine ganz Men
ge Spuren, als sei ein ganzes Rudel gefräßiger Hühnerdiebe einmar schiert. Er brachte das Gewehr in Anschlag, ging über den Hof und folgte den Spuren zur hinteren Stalltür, wo sie endeten. Sie stamm ten nicht von Wild, sondern von kleinen … Kinderschuhen? Lofotten blieb stehen. Es konnte nicht sein. Kleine Kinder gab es hier nicht, und bis zum nächsten Dorf waren es gut drei Stunden Fußweg. Undenkbar, daß sich um diese Uhrzeit eine Schulklasse in die Gegend verirrte. Der Bauer lauschte. Im Hühnerstall war es ruhig geworden. Nicht einmal Fyrfyx gab jetzt noch einen Laut von sich. Nur eine der sie ben Kühe brummte leise und zufrieden. Entschlossen zog Gunnar Lofotten die Taschenlampe aus der Man teltasche und schaltete sie ein. Dann stieß er die Tür auf. Als erstes sah er im grellen Lichtkegel den Hahn. Fyrfyx lag keine drei Schritte von ihm entfernt am Boden und rührte sich nicht. Ein paar Hühner leisteten ihm ebenso leblos Gesellschaft. Weiter im Hintergrund, wo die Kühe standen, vernahm der Bauer das typische Geräusch, wenn eine Kuh gemolken wurde und die Milch in den noch leeren Blecheimer spritzte. All das konnte nicht sein, es sei denn … »Wer auch immer du bist, komm heraus«, rief er. »Ich bin geladen und mein Gewehr auch.« Von irgendwoher drang ein Wispern und Flüstern an seine Ohren, so als unterhielten sich mehrere Personen leise miteinander. Ein un terdrücktes Lachen folgte. »Ich bin nicht zum Scherzen aufgelegt!« fügte er hinzu. Nichts geschah. Das Flüstern erstarb, nur das Melkgeräusch blieb. Gunnar leuchtete den gesamten Stall ab, doch er konnte nirgend wo jemanden erkennen. Eine innere Stimme sagte ihm, daß es hier nicht mit rechten Dingen zuging. Am liebsten wäre er umgekehrt,
aber dann fiel sein Blick wieder auf Fyrfyx, den Stolz des Weilers. Entschlossen schritt er weiter, an den leeren Stangen der Hühner vorüber zu den Boxen mit den Kühen. Weiße Federn tauchten in sei nem Blickfeld auf, ganze Büschel davon. Zwei tote, gerupfte Hühner lagen unmittelbar neben einer Kuh, und zwischen deren Hinterbei nen bewegte sich jemand. Winzige, flinke Hände schickten sich an, das Euter zu massieren und die Kuh zum Melken vorzubereiten. Der Bauer zuckte zurück. Seine Augen wollten ihm aus dem Kopf treten. Fast wäre ihm die Taschenlampe aus der Hand gefallen. Er streckte das Gewehr nach vorn und schrie: »Komm raus da!« Der fremde Eindringling tat ihm den Gefallen. Er trat zwischen den Hinterbeinen der Kuh hervor und verschränkte die Arme. »Was störst du mich?« krähte er und blickte frech zu Gunnar em por. »Ich mag es nicht, wenn man mich beim Melken meiner Kühe stört.« »Dei … ner … Kü … he …«, stammelte der Bauer. Seine Knie ga ben nach, und er suchte krampfhaft nach einem Halt. »Das – sind – meine – Kühe!« Langsam begann sein Gehirn zu verarbeiten, was er da sah. Der Zwerg vor seinen Augen konnte nicht wirklich existieren. Er war eine Erscheinung, eine Halluzination. Solche Wesen gab es in den Sagen, sonst nirgends. »Gewesen, gewesen.« Der Zwerg hüpfte auf und nieder. »Jetzt sind es meine und die meiner Brüder.« Lofotten stöhnte. Er wollte schreien und nach Nora rufen. Nur ein heiseres Krächzen kam über seine Lippen. »Brü … der«, brachte er endlich hervor. Die Spukgestalt deutete über die Schulter nach hinten, wo das Heu lag.
Gunnar Lofotten spürte, wie alles in ihm sich gegen die Erkenntnis wehrte, als er endlich begriff, daß er nicht wieder neben Nora einge schlafen war und träumte, sondern daß es sich um ein wirkliches Er lebnis handelte. Der Strahl seiner Lampe wanderte an den Kühen vorbei zum Heu lager. Vom Heu war nicht mehr viel zu sehen. Dafür wimmelte es von kleinen Gestalten mit alten Gesichtern und Buckeln. Sie trugen graue Kluft und dazu bizarre Hüte und Kappen, und sie schlürften frische Hühnereier und tranken aus Eimern warme Kuhmilch. »He, Bauer!« schrie einer mit heller Stimme. »Was glotzt du so? Hast du noch nie Trolle gesehen?« Gunnar Lofotten spürte, wie sein Verstand sich auf den Abgang vorbereitete. Wieder brachte er das Gewehr in Anschlag. »Wer immer ihr seid, verschwindet sofort aus meinem Stall.« Er bekreuzigte sich und begann ein Vaterunser zu beten. Lästerliche Flüche brandeten ihm entgegen. Etwas flog herbei und traf ihn an der Schulter. Es war ein leerer Milcheimer. Der Bauer schoß. Er hielt einfach drauf und zog nacheinander bei de Abzüge durch. Zweimal knallte es scharf. Zwei der gespensti schen Gestalten schlugen Purzelbäume und blieben reglos liegen. Auf ihren Körpern breiteten sich rote Lachen aus. »Das wirst du uns büßen!« schrie die Horde, vergaß Eier und Milch und stürzte sich auf ihn. Sie rissen ihn zu Boden, schlugen ihn mit seinem Gewehr, stießen ihm den Lauf in die Magengegend und packten seinen Kopf, bis er reglos wie in einem Schraubstock klemmte. Eine der Spukgestalten hüpfte ihm auf die Schenkel und schwang ein winziges Schwert. »Nie mehr wirst du einen von uns töten. Wir nehmen dir das Wertvollste, was du besitzt. Deine Seele!«
Er begann das Schwert vor seiner Stirn zu bewegen, und Gunnar Lofotten spürte plötzlich die Hitze, die von der winzigen Waffe aus ging. Etwas sprang auf ihn über und schnürte seinen Verstand ein. Ich träume! schrie sein Bewußtsein. Das ist alles nicht wahr! Nicht wahr, nicht wahr! erreichte ihn sein eigenes Echo. Eine unge heure Kraft preßte sein Inneres zusammen und trieb etwas aus ihm hinaus. Es wurde dunkel um Gunnar Lofotten, finster und still. Nur ein merkwürdiges Rauschen blieb, das mit der Zeit verklang. Alles war leer. Sein Inneres und die Welt um ihn herum. Hohl. Ausgelaugt. Nichts.
* »Was hast du, ey?« Lilith konnte sich kaum noch auf den Beinen halten, aber daran war weniger die Anstrengung schuld. Seit dem Nachmittag mar schierten sie, und inzwischen war die Nacht hereingebrochen. Der Himmel hatte ein wenig aufgeklart. Zwischen hohen, dünnen Wol ken leuchtete der Halbmond und warf fahles Licht über die ver schneite Landschaft. Grimmig kalt war es, und der Symbiont hatte ein wenig von seiner Substanz abgezweigt und Unterwäsche für Li lith geschaffen, die sie wärmte und nahtlos in die Stiefel überging. »Ich habe Durst«, stöhnte Lilith. »Es ist kaum mehr zum Aushal ten.« »Iß Schnee, große Schwester.«
»Nein, das ist es nicht. Ich brauche Blut.« »Verstehe. Natürlich brauchst du Blut. Ohne Blut ist eine Vampi rin verloren.« »Ja, und ich wäre vermutlich längst gestorben, wenn ich kein Mischling wäre. Meine Mutter war Vampirin, mein Vater Mensch.« »Ein Bastard? Entschuldige, ey, das Wort ist nicht böse gemeint. Ist so etwas überhaupt möglich?« »Schau mich an. Es ist möglich.« »Nun gut. Ich glaube dir. Morgen wird das Wetter besser, das schwöre ich dir. Und bis zu den Höhlen der Trolle ist es noch weit. Wir holen sie garantiert ein. Versprochen, ey. Dieses armselige Volk wird sich nicht lange brüsten, das Elfenschwert gestohlen zu haben, unseren kostbarsten Besitz.« Die Elfe besaß eine unverbesserliche Art, stundenlang über alle möglichen Dinge zu plappern, meist belangloses Zeug. Wenn Lilith gezielte Fragen stellte, so wich sie meist aus und trieb zur Eile an. »Ich könnte dir ein paar Tropfen Blut aus meinem Finger anbieten«, fuhr Svåntje etwas leiser fort und setzte sich auf Liliths Schulter zurecht. Sie lehnte ab. »Das würde mich nur rasend machen. Ich benötige mehr, um we nigstens den stärksten Durst zu stillen. Ein, zwei Menschen und von jedem einen Viertelliter, dann ginge es mir schon wesentlich besser.« »Säuferin. Wieviel Blut hat ein Mensch?« »Etwa sieben Liter. Laß uns rasten. Ich kann nicht mehr.« Wo sie stand, ließ sie sich in den Schnee fallen. Die kalten Kristalle kühlten ihr heißes Gesicht. In den Augenwinkeln klebte Sekret, und die Lippen schmeckten salzig. Sie hustete und aß dann tatsächlich etwas Schnee, um ihren Mund auszuspülen.
»Wie wäre es, wenn du fliegen würdest? Das geht schneller.« »Ich habe nicht mehr genug Kraft, die Verwandlung zu vollziehen. Wir müssen zu Fuß gehen. Es sei denn, du fliegst los und organi sierst ein Fahrzeug.« »Iiiiiih! Glaubst du im Ernst, die Wächterin des Schwertes würde sich mit Menschentechnik abgeben? Wenn etwas richtig funktio niert, dann ist es Magie. Komm schon, stell dich nicht so an, große Schwester. Wir wollen die Spur nicht verlieren.« Sie stapften weiter durch die Nacht. Svåntje verfügte über ähnliche Nachtsichtfähigkeiten wie Lilith und kannte sich in dieser Gegend bestens aus. Je näher Mitternacht rückte, desto stiller verhielt sich die Elfe. Sie wechselte die Schulter und vollführte ein paar Turn übungen in Liliths Nacken. Schließlich hielt sie sich an ihrem Ohr fest. »He, süße Schwester. Wie war das mit dem Nektar?« »Ich dachte, erst sollte ich dir helfen? Ich bin nämlich überhaupt nicht in Stimmung.« »Egal. Andere Dinge sind wichtiger. Hörst du das Summen?« Sosehr Lilith ihr feines und empfindliches Gehör anstrengte, sie vernahm nichts. Stumm schüttelte sie den Kopf. »Meine Schwestern singen. Sie informieren meine Brüder.« »Dein Volk ist in der Nähe?« »Alle, die sich am Ort des Absturzes befunden haben, folgen der Spur der Trolle. Sie sind tapfer wie sonst keiner. Aber sie halten Ab stand zum Waldvolk. Mit dem Schwert sind die Skogsrå unbesiegbar.« »Du sagtest, die Trolle stammen nicht von hier, sondern aus Schweden?« »Ja. Vor ein paar tausend Jahren sind sie hier eingewandert. Sie
haben sich mit dem ursprünglichen Waldvolk vermischt und es auf gesogen. Niemand gab ihnen das Recht, hier zu wohnen. Sie sind Diebe und Mörder. Du wirst das Schwert zurückholen und sie da mit verjagen!« »Meiner Hilfe scheinen keine Grenzen gesetzt zu sein.« »Du sagst es, ey.« Die nächsten Stunden legten sie schweigend zurück. Irgendwann kletterte die Elfe am Pelzkragen abwärts, schlüpfte unter den Mantel und schmiegte sich zwischen Liliths Brüste. Wenig später war sie eingeschlafen, und aus dem Mantel drang leises Schnarchen. Lilith beachtete es nicht. Sie mußte mit ihren Kraftreserven haus halten und konzentrierte sich ganz auf ihren Körper. Stunden ver rannen auf diese Weise, und im Osten hellte sich der Himmel auf und kündete den neuen Tag an. Eine Stunde hielt sie noch durch, dann sank sie in den Schnee und legte sich auf den Rücken. Sie merkte nicht, wie die Elfe unter dem Pelzmantel hervorkroch und zu einem Rundflug startete. Ihr Bewußtsein schaltete ab, ihr Körper forderte die dringend nötige Erholung. Als ihr etwas Nasses ins Gesicht schlug, merkte sie es lange Zeit nicht. Erst ein Kitzeln in der Nase holte sie aus den Tiefen der Erschöpfung ins Wachsein zu rück. »Los, los«, vernahm sie die aufgeregte Stimme Svåntjes neben ih rem Ohr. »In Sichtweite liegt ein Schloß. Ein Palast wartet auf uns. Darin wohnt ein König, der dich heiraten will. – Wieso schaust du so beknackt? Ich habe jemanden gegen deinen Durst gefunden!« Langsam stand Lilith auf. Sie schwankte ein wenig und hatte Mühe, der davonfliegenden Elfe zu folgen. »Wo? Ich sehe nichts.« »Dort vorn, auf der großen Lichtung!« »Das sind vier Gehöfte. Und wo ist das Schloß?«
»Svåntje hat dich an der Nase herumgeführt wie einen dummen Troll, ey. Bist aber nicht böse, he? Dort drüben gibt es Menschen. Ganz bestimmt. Ich höre Kühe brüllen. Und wo Stallvieh ist, sind auch Stallmenschen. Durst, Durst! Komm, komm und trink, große Schwester!« Die fünfhundert Meter bis an ihr Ziel legte sie mehr schlecht als recht zurück. Inzwischen war es heller Tag geworden. Lilith muster te den kleinen Weiler und hielt nach den Bewohnern Ausschau. Schließlich klopfte sie entschlossen an eine der Türen. Sie stand of fen, und als sie zögernd eintrat, erblickte sie einen Halbwüchsigen unter der Zimmertür. Er war nackt, und seine Augen blickten ins Leere. Lilith bewegte einen Zeigefinger vor seiner Nase hin und her. Er reagierte nicht. Zwar war er wach, und doch schien es, als wäre er in einem Traum gefangen. Lilith schauderte. Das mußte ein Opfer der Trolle sein! Ein Mensch, dem sie die Seele geraubt hatten! Sie zögerte. Der Durst brannte in ihren Eingeweiden, doch sie konnte sich nicht überwinden, ihn zu stillen. Nicht an einem Seelen losen. Die Scheu hielt nur wenige Augenblicke vor. Es half alles nichts. Wenn sie nicht sein Blut trank, würde sie sterben. Entschlossen trat sie auf ihn zu, bog seinen Kopf zurück und biß ihn in den Hals. Das Blut schmeckte fad, doch es vermochte sie zu sättigen. Als sie sich gestärkt hatte, wartete sie ein paar Augenbli cke, bis sie sicher war, daß sich die beiden Bißwunden schlossen und sofort vernarbten. Der Jüngling reagierte noch immer nicht. Lilith faßte ihn an der Hand, suchte seine Schlafkammer und legte ihn ins Bett. Auf diese Weise erkältete er sich wenigstens nicht. Für einen Moment strich
ihr Blick wehmütig über seinen nackten Körper, bevor sie die schwere Decke darüberzog. Wäre er doch bei Bewußtsein gewesen … Im Obergeschoß fand sie zwei Erwachsene. Sie lagen in ihren Bet ten und rührten sich nicht. Die Trolle hatten sie im Schlaf ihrer See len beraubt. Lilith trat aus dem Haus. Svåntje saß gegenüber am Dachrand und winkte aufgeregt. »Sie haben im Stall Eier gegessen und Milch getrunken. Der Bauer sieht aus wie tot.« Lilith eilte den vielen Spuren nach und fand einen Mann mittleren Alters. Er lag am Boden neben den Kühen und reagierte nicht auf ihre Berührungen. Sie richtete ihn auf und zog ihn mit sich. Die to ten Hühner ließ sie unbeachtet. Dafür trank sie am Hals des Bauern und führte ihn zurück ins Haus zu seiner Frau, die nackt und eben so apathisch neben dem Bett lag. Die Elfe flog herein und ließ sich auf einem der Bettpfosten nieder. »Die Spuren sind ganz frisch, eine knappe Stunde alt. Wir halten gut mit. Beeilung, große Schwester. Die Katastrophe muß verhindert werden.« »Ich verstehe«, murmelte Lilith und nahm sich den Hals der Bäue rin vor. Eine Sättigung stellte sich nur langsam ein. Sie benötigte viel mehr Blut als sonst. Svåntje wechselte den Bettpfosten und sah inter essiert zu. »Macht’s Spaß?« »Überhaupt nicht. Spaß macht es nur, wenn das Blut in Wallung ist. In den Augenblicken nach dem Orgasmus schmeckt es am bes ten. Das hier ist nur ein Notbehelf.« »Schade.« Sie untersuchten alle vier Anwesen gründlich. Sechzehn Personen
fanden sie, und alle vegetierten in dem bedauernswerten Zustand dahin. Die Trolle hatten ganze Arbeit geleistet. »Für einen Menschen sind es bis zum nächsten Dorf drei Stunden Fußweg!« rief die Elfe und flog ins Freie. »Die Spuren der Trolle füh ren eindeutig dorthin. Schnell, schnell!« Lilith eilte ihr hinterher und folgte der Richtung, die Svåntje ihr wies. Sie entdeckte eine einzelne Spur von kleinen Füßen mit Schneeschuhen. Die Muster im Schnee waren frisch, vielleicht eine Viertelstunde alt. Die Spuren der Horde verliefen weiter drüben. Ihre Ränder waren schon eingefallen und teilweise verharscht. »Einer der Trolle war hier und hat uns beobachtet«, folgerte sie. »Wir sollten vorsichtig sein.« »Keine Bange. Sie sind dumm«, entgegnete die Elfe. »Aber auch gerissen. Jetzt brechen sie einen Kleinkrieg gegen die Menschen vom Ast. Sie fangen die Menschenseelen mit dem Schwert ein und lassen seelenlose Hüllen zurück, die nicht mehr lebensfähig sind.« »Warum tun sie das?« fragte Lilith. »Sie hassen die Menschen. Es genügt ihnen nicht, ihren eigenen Lebensraum gegen die aufsässigen Riesen abzugrenzen, wie wir das tun. Bisher jedoch war ihre Macht begrenzt, und ihre Aktionen wa ren selten erfolgreich. Jetzt aber besitzen sie das Schwert.« »Irgendwann wird das Schwert keine weiteren Seelen mehr auf nehmen können und seine Wirkung verlieren, oder?« »He, du bist immer noch nicht völlig klar, große Schwester. Das Schwert wird wachsen, so lange, bis keiner es mehr tragen kann, höchstens noch ein Mensch. Aber dazu darf es nicht kommen, ey. Menschenseelen haben nichts darin verloren. Sie stören die Einheit meiner Ahnen, machen sie vielleicht verrückt. Das darf nicht sein. Wir müssen die Menschen warnen.«
* »Keine Toten?« Dr. Fjällo Rokkevadn schüttelte verwundert den Kopf. »Das ist ein Wunder. Ein wirkliches Wunder.« Der Einsatzleiter deutete hinüber zu den drei Hubschraubern, de ren Rotoren inzwischen zur Ruhe gekommen waren. Die Sanitäter begannen soeben damit, die Passagiere der explodierten Turboprop in die Krankenwagen zu führen. »Der Umsicht von Kapitän Svædhin ist es zu verdanken, daß es nicht zu einer Katastrophe kam. Er evakuierte die notgelandete Ma schine rechtzeitig, bevor sie in die Luft flog. Aber Sie haben recht. Es ist ein Wunder. Nach ersten Meldungen Svædhins versagte das Hö henruder und wenig später auch ein Teil der Elektronik. Was im einzelnen zum Absturz führte, weiß er selbst nicht genau. Verständ lich ist das ja. Er schaltete auf manuelle Steuerung um und hatte alle Hände voll zu tun, die Maschine einigermaßen heil herunterzubrin gen. Merkwürdig ist nur der allgemeine Zustand der Passagiere.« »Was wollen Sie damit sagen?« »Es gibt keine Unterschiede. Sie wissen doch, jeder Mensch rea giert anders. Der eine steckt eine Katastrophe leichter weg als der andere, oder der Schock macht sich erst nach Tagen richtig bemerk bar. Bei den neunzehn Männern und Frauen gibt es keinen Unter schied. Sie verhalten sich alle in gleichem Maß apathisch und ir gendwie geistig abwesend. Sie erinnern sich einhellig, daß sie das Flugzeug bestiegen und es startete. Was dann später in der Luft ge schah, können sie nicht sagen. Es ist, als hätten alle geschlafen. Kei ner hat etwas mitbekommen. Am schlimmsten jedoch scheint es den Kopiloten getroffen zu haben. Der ist überhaupt zu keiner Regung mehr fähig.« Das Gesicht des Arztes wurde nachdenklich.
»Ich danke Ihnen«, sagte er. »Dies ist in der Tat sehr merkwürdig. Ich werde mich darum kümmern.« »Tun Sie das, tun Sie das. Ein Teil meiner Männer ist noch vor Ort und setzt die Suche fort.« »Warum das?« »Es fehlt ein Passagier. Eine Frau. Nach Aussage der Kontrolleuse am Flugplatz Ivalo trug sie einen Pelzmantel – und nichts darunter.« »Oh«, machte der Arzt. »Das ist äußerst ungewöhnlich in dieser Jahreszeit.« »Sie sagen es. Jedenfalls hat sie sich von den anderen getrennt, ver mutlich unter Schockeinwirkung. Eine einzelne Spur führt nach Norden. – Das wär’s vorerst. Wir halten Sie auf dem laufenden, Doktor.« »Danke. Bis später.« Der Arzt eilte davon und bestieg eines der Sanitätsfahrzeuge. Die Insassen starrten ihn erschrocken an. Er lächelte. »Sie brauchen keine Angst zu haben. Ich bin Doktor Rokkevadn, Ihr Betreuer für die nächsten Stunden. Es ist alles in Ordnung. Sie haben die Havarie gut überstanden, wie ich sehe.« »Wo sind wir?« fragte jemand. »In Sicherheit. Wir bringen Sie ins Krankenhaus von Luirojoki zur Untersuchung. Das ist der nächstgelegene Ort. Keine Sorge, es wird nicht lange dauern.« Die Männer und Frauen saßen mit gesenkten Köpfen da. Keiner redete über das, was passiert war. Die Eindrücke waren wohl noch zu frisch, und der Arzt paßte sich der allgemeinen Stimmung an und hob sich eine eingehende Befragung für später auf. Nach anderthalb Stunden Fahrt erreichten die Wagen die kleine Stadt. Fjällo Rokkevadn organisierte die Betreuung der unter Schock
stehenden Menschen, ließ ihnen Getränke und eine Mahlzeit servie ren und wies ihnen dann ihre Unterkünfte zu, freistehende Kran kenzimmer in verschiedenen Etagen des Gebäudes. Anschließend ließ er sie von seinen Assistenten in einen Therapieraum bringen und setzte sich zu ihnen. »Sie haben es überstanden«, begann er. »Außer ein paar Prellun gen und Schnittwunden ist Ihnen nichts geschehen. Dank der Um sicht des Flugkapitäns konnte eine Katastrophe vermieden werden.« »Was ist geschehen?« Mehrfach stellten die Passagiere die Frage. Der Arzt wiegte den Kopf hin und her und hob leicht die Schultern an. »Wenn Sie es als Insassen der Unglücksmaschine nicht wissen, wer sollte dann Auskunft geben?« Draußen auf dem Korridor erklang das Getrappel von kleinen Schritten. Es näherte sich. Dr. Rokkevadn sah, wie die Männer und Frauen zusammenzuckten und ängstlich zur Tür starrten. Als sie aufschwang und zwei Kinder hereinstürmten, ging ein Raunen der Erleichterung durch die Versammelten. Der Arzt hatte die Reaktion wohl bemerkt, konnte sich aber keinen Reim darauf machen. Er lächelte den Kleinen zu. »Ich glaube, ihr seid hier verkehrt«, meinte er. Die beiden Kinder nickten und traten überhastet den Rückzug an. Die Tür fiel ins Schloß, und Rokkevadn widmete seine Aufmerk samkeit wieder den Passagieren. Sie beruhigten sich sichtlich. Rok kevadn hingegen fragte sich besorgt, was mit ihnen los war. Warum nur hatten sie in dieser Weise reagiert? Oder war es bloß der Lärm, der ihre gequälten Nerven malträtiert hatte? Er wandte sich seinen Assistenten zu. »Wir behalten alle Passagiere für mindestens vier Tage bei uns«, erklärte er. »Bitte informieren Sie die Polizei, damit sie Kontakt mit
den Angehörigen aufnimmt und die Angelegenheit klärt. Besuche sind in dieser Zeit nicht erlaubt.« Er schob seinen Stuhl zu einem der Männer in der ersten Reihe, reichte ihm die Hand und stellte sich ihm vor. »Erzählen Sie mir ein bißchen über sich«, bat er. »Was machen Sie beruflich? Haben Sie Familie?« Stockend und ziemlich unzusammenhängend begann der Mann zu erzählen. Der Arzt lenkte ihn behutsam auf die Ereignisse der letzten Tage und den Flug. An den Start in Ivalo konnte er sich erin nern und auch an einen Teil des Fluges. Dann jedoch herrschte Lee re, die erst eine ganze Weile nach der Notlandung wieder endete, als die Maschine längst explodiert war. Der Arzt fand heraus, daß alle diese Gedächtnislücke besaßen, ein schließlich des Kapitäns. Blieb nur noch der besonders schwere Fall des Kopiloten, eines jungen Mannes Mitte Zwanzig mit feuerroten Haaren. Ihn nahm sich der Arzt zuletzt vor, als die anderen bereits zu Bett gegangen waren. Björn Olsen saß unter Aufsicht eines muskulösen Pflegers in einem Zimmer des Erdgeschosses und starrte unentwegt in eine der Ecken. Fjällo Rokkevadn zog die Stirn in Falten und sah den Pfleger fra gend an. »Zwecklos«, sagte dieser. »Er spricht nicht, und er nimmt nichts wahr. Seine organischen Funktionen sind in Ordnung. Vor einer hal ben Stunde zum Beispiel hat er in die Hose gepinkelt. Ich habe ihn gereinigt und ihm neue Wäsche verpaßt. Er trinkt, wenn man ihm zu trinken gibt. Mit dem Essen dürfte es ähnlich sein. Aus eigenem Antrieb ist er zu nichts fähig.« Der Arzt versuchte ein Gespräch mit Olsen. Er gab es bald auf. Der junge Mann war nicht ansprechbar und wirkte in der Umgebung
des Zimmers wie ein Fremdkörper. Auf den Arzt machte er einen Eindruck wie ein Körper ohne Inhalt. Wie eine Hülle ohne Lebensa tem, ohne Seele. Daß er damit genau richtig lag, ahnte Dr. Fjällo Rokkevadn nicht.
* »Sie sind da. Toffeltyr und die anderen sind angekommen.« Die Horde der Skogsrå sprang auf. Sie schubsten und drängten, und die hinter dem Holzgitter gefangene Spinne geriet in Panik. Hastig brachten die Skogsrå die Strecke bis zum Abgrund hinter sich. Panslufer, der Wächter, sprang wie blöd umher und warf die Arme in die Luft. Er grunzte und blökte und starrte immerfort in die Tiefe. Gaffelstyr schubste ihn zur Seite, so daß er kopfüber in den Schnee fiel und ein jämmerliches Gekreische anfing. Vorsichtig spähte der Anführer der Horde in die Schlucht hinab. Gestalten bewegten sich dort. Sie bildeten einen Zug von gut vierzig Fuß Länge. In ihrer Mitte führten sie eine Sänfte mit sich, überdacht von einem roten Baldachin. Überall an dem Gestell bimmelten klei ne Glöckchen. »Sie sind es tatsächlich«, geckerte Gaffelstyr. »Das wird ein Spaß.« Er trat an den Abgrund und beugte sich ein Stück vor. Seine Hän de formten einen schiefen Trichter um den Mund herum. Er stieß ein schauriges Geheul aus, das an eine Mischung aus Wolf und Eule erinnerte und zu ihren geheimen Verabredungszeichen gehörte. Die Karawane hielt an. Unter dem Baldachin wogte es, und dann streckte Toffeltyr den kahlen Schwabbelkopf ins Freie. Suchend glit ten die riesigen Augen an den Felswänden entlang, bis sie den Art
genossen ausmachten. Ein Grollen entwich dem wulstigen Mund. Toffeltyr entblößte zwei Reihen blendend gelber Zähne und streckte die Zunge heraus. »Welch ein Anblick. He, Rauhbein, wo finden wir den Weg zu dir hinauf?« »Immer geradeaus und dann unseren Spuren nach«, bellte Gaffels tyr. Er zog das wertvolle Diebesgut aus dem Gürtel und hielt es in die Luft. »Wir hatten Erfolg. Die Skogsrå in ihrem wilden Lauf hal ten weder Ochs noch Esel auf.« Der kahle Schwabbelkopf verschwand. Er blubberte ein paar Be fehle an die Träger der Sänfte, und diese murrten im Akkord und nahmen ihre Arbeit widerwillig auf. Toffeltyr begann in schrillem Diskant zu säuseln, versprach ihnen Himmel und Erde sowie die grausamsten Strafen, wenn sie sich nicht beeilten. Mühsam quälte sich die Karawane weiter und erreichte nach schier endlosem Marsch das Plateau vor der Höhle. Gaffelstyr war tete mit verschränkten Armen. Er stand auf einem schneeverwehten Felsen und musterte die Ankömmlinge. Der größte Teil von ihnen verschwand sofort nach drinnen, um ein paar Stunden zu ruhen. Die Sänftenträger ließen ihre Stangen fallen. Es krachte und knirsch te. Das Gestell der Sänfte wankte, und sein Insasse fiel mehr heraus, als er trat. Der wuchtige Körper suchte nach einem Gleichgewicht, das es nicht gab. Augenblicke später gab er die Suche auf und ließ sich einfach in den Schnee fallen. Der Anführer der Skogsrå trat zu ihm und beugte sich über den schwabbelnden Körper in seiner grünen Robe. »Gefahr«, flüsterte er. »Wir sind einer Vampirin begegnet. Sie ge fährdet unseren Plan. Sie hilft der Wächterin der Elfen und will das Schwert zurückholen. Wir haben keine Chance gegen sie. Fremde Magie. Daher sind wir hierher über die Schlucht ausgewichen. Um
das Dorf kümmern wir uns morgen. Bis dahin muß alles getan sein, damit die Dorfbewohner die Vampirin gepfählt oder sonstwie aus dem Verkehr gezogen haben. Wellnixdvar wird dich mit den Einzel heiten vertraut machen.« »Arbeit, immer Arbeit. Warum läßt man mich nicht in Ruhe?« plapperte Toffeltyr und bewegte seinen feisten Kahlkopf. »Macht euren Dreck selber. Wo sind meine Pfleger? Ich wünsche ein Bad.« »Das bekommst du nach der Arbeit, Los jetzt. In die Büsche mit dir.« Auf Gaffelstyrs Wink eilte ein Dutzend Trolle herbei, packte Tof feltyr und schleifte ihn durch den Schnee bis zu dem ihm vorbe stimmten Ort. Der Anführer der Skogsrå nickte Wellnixdvar zu. Der Spion trat zu Toffeltyr und ließ sich neben ihm nieder. »Liebster Toffeltyr, verehrter Härra Alleskönner«, flüsterte er. »Hör mir genau zu. Jedes Detail ist wichtig.«
* Gero Loovainen fiel fast aus dem Fenster. Die Straße herab kam eine Frau, wie er sie in seinem ganzen Leben noch nie gesehen hatte. Sie gehörte nicht zu den knapp über fünfhundert Einwohnern von No reysgvard. Die kannte er alle. Also war sie eine Touristin. Welch eine Seltenheit in diesem Kaff am Ende der Eiszeit. Ihre langen schwarzen Haare und der bleiche Teint bildeten einen schier unauf löslichen Gegensatz. Sie trug einen weiß-schwarz gesprenkelten Pelzmantel und ebensolche Stiefel. Scheinbar gelangweilt blieb sie immer wieder stehen und musterte die niedrigen Häuser und Katen. Gero schloß das Fenster und eilte zur Treppe. Mit ein paar Sätzen
war er drunten an der Haustür. Betont gemächlich öffnete er und trat hinaus auf die Straße. Aus den Augenwinkeln beobachtete er die Frau. Sie bewegte sich langsam und mit herausfordernder Gra zie. Kein Zweifel, das war eine rassige, glutäugige Südländerin. Loovainen tat unbeteiligt und schnupperte die Luft des Nachmit tags. Die Fremde hielt sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite und schien weiterhin in die Betrachtung der mickrigen Bauwerke vertieft. Plötzlich aber warf sie den Kopf nach hinten, schüttelte ihre prächtige Mähne und blickte sich um. Sie entdeckte ihn vor seinem Haus und steuerte mit zielstrebigen Schritten auf ihn zu. »Guten Tag. Ist das nicht ein wundervolles Wetter?« fragte sie. Gero Loovainen hörte irgendwo Engel singen und hatte Mühe, auf dem schneebedeckten Boden seiner Heimat zu bleiben. Er befeuch tete hastig die Lippen und versuchte, nicht in den unergründlich tie fen Augen dieser Frau zu versinken. »Ja, ja, natürlich. Sie haben vollkommen recht. Nach all dem Schnee der letzten Zeit ist es eine richtige Erholung.« »Gibt es hier einen Gasthof?« Er lachte und stellte fest, daß sie deutlich merkte, was mit ihm los war. Der winzige Wurm in seiner Hose wuchs sich allmählich zu ei nem deutlich sichtbaren Pflock aus. »Nein, nein. Wir sind ohne Ausnahme Bauern. Es ist selten, daß sich jemand in diese Gegend verirrt. Und wenn, dann handelt es sich um Beamte der Distriktbehörde, die den Viehbestand prüfen oder überfällige Steuern eintreiben.« »Das ist schade.« Die Stimme der Frau klang verführerisch, und sie signalisierte ihm eindeutige Absichten. »Ich hatte vor, ein paar Tage zu bleiben.« »Das läßt sich arrangieren. In den größeren Häusern wie meinem gibt es vereinzelt Gästezimmer.«
»Würden Sie mir ein Zimmer vermieten?« »Aber gern. Kommen Sie nur herein. Soll ich Ihr Gepäck irgendwo abholen lassen?« »Nein, danke.« Sie lächelte ihn betörend an. »Mein Gepäck lagert in Helsinki. Alles, was ich brauche, trage ich bei mir.« Und das ist genug, dachte er bei sich. Laut sagte er: »Willkommen. Treten Sie ein in mein bescheidenes Heim.« Loovainen gab sich keinen Illusionen hin. Eine Frau wie diese würde nie ihr Leben in der Einöde dieses Landes verbringen. Ein paar Tage eben, und dann adieu. Für einen Junggesellen wie ihn, der sich seit Jahren auf Brautschau befand, keine Chance. Er führte sie hinein in das Wohnzimmer und bot ihr einen Tee an. Wie ein Wasserfall sprudelte sie ihre persönlichen Anforderungen an einen Tee hervor, und er machte sich hastig an die Verwirkli chung. Nach zwei Minuten hielt sie die Tasse mit der Kräutermi schung in der Hand. »Heißes Wasser kommt sofort«, sagte er. Sie stellte die Tasse ab. »Brauche ich nicht. Komm her.« Fassungslos starrte er sie an. Ihre Hände öffneten langsam den Pelzmantel und legten ihn ab. Mit spielerischer Leichtigkeit schlüpf te sie aus den Stiefeln und stand vor ihm, wie die Natur sie geschaf fen hatte. Die festen Brüste lockten, und sie bewegte rhythmisch ihr Becken hin und her. »Du machst mich fertig«, keuchte er. Seine Hose wollte platzen vor Gier. »Komm endlich. Nimm mich«, hauchte sie und ließ sich rückwärts über den Sessel sinken. Er riß sich buchstäblich die Kleider vom Leib und stand dann splitternackt vor ihr. Sie leckte sich die Lippen.
»Laß deiner Phantasie freien Lauf«, zwitscherte sie. »Ich bin für al les zu haben. Los, probier mich endlich aus.« Er warf sich auf sie, und sie gingen gemeinsam zu Boden. Vorsich tig und dann immer kräftiger drang er in sie ein. Sie wälzte sich un ter ihm und stöhnte. Mit den Zähnen zupfte er an ihren Brustwar zen, während sich ihre Fingernägel in seinen Rücken krallten. Fingernägel? Loovainen riß den Kopf zurück und schrie auf. Fingerlange Klau en fetzten ihm das Fleisch von den Rippen. Er brüllte wie am Spieß und warf sich zur Seite. Er versuchte die Knie an den Leib zu ziehen und sie von sich wegzustoßen. Der Versuch mißlang, die Frau ent wickelte Bärenkräfte. In ihrer – jetzt wieder normalen – rechten Hand entdeckte er das kleine Messer und machte eine verzweifelte Abwehrbewegung. Das Messer zuckte auf ihn herab und traf.
* Söre Eklund vernahm Stimmen und stellte die Schaufel zur Seite. Je mand war angekommen. Eine Frau. Sie unterhielt sich mit Inger, sei ner Schwiegermutter. Die beiden Frauen gingen ins Haus, und der Bauer zuckte mit den Schultern und nahm seine Arbeit wieder auf. Schaufel um Schaufel befreite er den Platz vor dem Stall vom Schnee. Diesen Winter wollte es mit der weißen Pracht gar nicht auf hören. Etliche Dörfer droben in den Bergen waren bereits von der Umwelt abgeschnitten und wurden vom Hubschrauber aus ver sorgt. Wenn es so weiterging, dann drohte Noreysgvard bald dassel be Schicksal. Nun ja, wenigstens heute schien die Sonne vom strahlend blauen Himmel. Doch für die Nacht hatte der Rundfunk bereits neue Schneefälle vorhergesagt.
Was wollte diese Frau von Inger? Die Stimme kam ihm nicht be kannt vor, aber da täuschte er sich wohl. Woher sollte in dieser Jah reszeit eine Fremde kommen? Er schaufelte bis zum Stall, dann sah er nach den Schweinen und Kühen. Sie lagen oder standen ruhig und begnügten sich mit dem kargen Heu, das er ihnen zu bieten hatte. Die Tenne war noch voll davon. Wenigstens hier würde nicht so schnell eine Hungersnot ausbrechen. Ein gräßlicher Schrei aus dem Haus ließ ihn herumfahren. Er um klammerte die Schaufel und rannte mit langen Schritten hinaus und über den Hof. Er riß die Hintertür auf und stürmte durch den Flur. Die Haustür fiel gerade ins Schloß, und er eilte zu dem kleinen Fens ter daneben und starrte hinaus. Er sah die Frau, die wegrannte und zwischen den benachbarten Häusern verschwand. Sie trug einen teuren Pelz, und er wußte genau, daß er sie noch nie gesehen hatte. »Inger?« Keine Antwort. Mit bösen Ahnungen betrat er die Wohnstube. Die Schaufel fiel aus seiner Hand. Er starrte auf seine Schwiegermutter. Sie lag am Boden in einer riesigen Blutlache. An ihrem Hals leuchte ten zwei daumendicke Wunden, aus denen immer langsamer und weniger Blut sickerte. Während der Bauer sich über sie beugte, hörte der Blutfluß vollständig auf. Fassungslos stand Söre Eklund über der Toten. »Inger!« Er fuhr herum, riß die Schaufel an sich und stürzte aus dem Haus. Er versuchte die Fremde einzuholen, aber sie war spurlos ver schwunden. Entschlossen wandte Söre sich zum Haus seines Nach barn Kweyn Ogström. Er klopfte und trat ein. Ogström fiel ihm buchstäblich entgegen. Er lag halb an der Wand. An seinem Hals klafften zwei identische Wundmale, und es genügte ein Blick, daß
der Nachbar tot war. Vom Grauen geschüttelt, hetzte der Bauer davon, rannte die Stra ße hinab zum Büro des einzigen Polizisten von Noreysgvard und fiel fast durch dessen Tür. Tomas Kvasund saß hinter seinem Schreibtisch und hob erstaunt den Kopf. »Nanu, Söre, was ist in dich gefahren?« Hastig und noch immer fassungslos berichtete der Bauer, was er soeben gesehen hatte. Kvasund sah ihn stirnrunzelnd an. »Söre, Söre, ich kenne dich als rechtschaffenen Menschen mit ei nem klaren Kopf. Wenn es ein anderer wäre, würde ich denken, er hätte einen über den Durst …« »Komm endlich!« brüllte Eklund. »In unserem Dorf treibt sich eine Mörderin herum!« Endlich kam Leben in den Beamten. Er sprang auf, warf dabei den Stuhl um und griff nach seinem Koppel. Im Hinausgehen schnallte er es um und prüfte, ob die Pistole auch ordnungsgemäß geladen war. Aus einem Haus an der Hauptstraße hörten sie Schreie des Entset zens. Kvasund wurde bleich. Zwei Minuten später stand er vor der nackten Leiche Gero Loovai nens und rang um seine Fassung. »Eine Massenmörderin«, ächzte der Bauer an seiner Seite. »Wir müssen sie so schnell wie möglich zur Strecke bringen.«
* Aus der Deckung eines Nadelgehölzes heraus beobachteten sie das
Dorf. Sie entdeckten nichts Ungewöhnliches, und Lilith atmete un willkürlich auf. »Wir kommen gerade noch rechtzeitig«, flüsterte sie. »Würdest du mir einen Gefallen tun und nach den Trollen Ausschau halten?« »Aber gern, große Schwester. Siehst du dort drüben die Kiefern schonung aufragen? Dort wirst du mich finden. Zuoberst im vor dersten Baum. Sollte ich die Skogsrå entdecken, werde ich deine Nähe suchen. Bleibe ich unsichtbar, besteht keinerlei Gefahr. Und jetzt geh und warne deine Beute.« Lilith legte den Kopf zur Seite und starrte die Elfe an. »Menschen sind für mich keine Beute«, schärfte sie dem winzigen Wesen ein, das schmetterlingsgleich auf ihrer Schulter hockte. »Ich bin halb Mensch, halb Vampir. Das bedeutet, daß ich mich zwar von Menschenblut ernähre, aber ich töte meine Opfer nicht und mache sie auch nicht zu meinen Sklaven.« »Riesig, ey. Geh trotzdem, bevor die Skogsrå den Menschen die Seelen stehlen.« Svåntje schnellte sich empor in die Luft, bewegte ihre vier Flügel und flog davon. »Und nicht vergessen, große Schwester. Wir treffen uns drüben bei den Kiefern.« Lilith umrundete das Gehölz und marschierte durch den hohen Schnee hinüber zu dem schmalen, geräumten Weg, der das Dorf mit dem nächsten und dem übernächsten verband. In der Ferne arbeite te eine Schneefräse und beseitigte die Verwehungen. Die Maschine bewegte sich langsam Richtung Dorf und würde es in ein paar Stun den erreicht haben. Sie entdeckte eine einzelne Spur, ähnlich der ihren, nur viel klei ner. Sie führte vom Dorf weg nach Norden, und sie stammte mit Si cherheit von einem Troll mit Schneeschuhen.
Er war also hier und hat sich umgesehen, überlegte Lilith. Vermutlich sucht er seine Komplizen auf und teilt ihnen mit, daß die Luft rein ist und die Dorfbewohner arglos sind. Mit ausholenden Schritten näherte sie sich dem Dorf und hielt nach Menschen Ausschau. Endlich entdeckte sie eine Frau. Sie trug einen Arm voll Holz zum Haus. »Guten Tag!« rief Lilith ihr zu. »Können Sie mir sagen, wo ich die Polizeistation finde?« Die Frau blieb stehen und starrte sie an. Dann ließ sie das Holz fal len und rannte ins Haus. Mit lautem Krachen schlug die Tür zu. Li lith hörte gerade noch, wie die Frau den Riegel vorlegte und wie von Sinnen nach ihrem Mann schrie. Irritiert ging Lilith weiter. Sie fragte sich, ob die Menschen in die sem abgelegenen Dorf noch nie einen Fremden gesehen hatten. Die Frau hatte reagiert, als sei sie dem Leibhaftigen begegnet. Lilith lauschte in sich hinein. Sie vermochte nichts Ungewöhnli ches festzustellen. Keine dämonische Ausstrahlung oder etwas Ähn liches. Alles hier war friedlich. Es blieb nur eine mögliche Schlußfol gerung: Sie mußte die Reaktion der Frau auf sich selbst beziehen. Lag es am Pelz? An seiner Farbe? Sie überlegte, ob sie den Symbi onten veranlassen sollte, die Kleidung zu verändern. Der Pelz und die Stiefel wärmten, aber die Unterwäsche juckte leicht. Sie befahl dem Symbionten, sie zurückzuziehen. Hinter den Häusern erklangen laute Stimmen und Rufe. Sie pflanzten sich schneller fort, als Lilith sich bewegte. An einem der Häuser entdeckte sie ein Schild mit dem Hinweis, daß sich hier das Büro des Dorfpolizisten befand. Sie steuerte darauf zu und blieb einen Augenblick lang vor dem Eingang stehen. Es war das beste, wenn sie sich direkt an die zuständige Behörde wandte. Entschlossen drückte sie die Klinke nach unten und trat ein. Ein
kleines Büro mit karger Möblierung tat sich vor ihr auf. Ein Schreib tisch und zwei Stühle sowie ein paar Aktenschränke vermittelten so etwas wie ein behördliches Fluidum. In den meisten Schränken stan den jedoch Zierpflanzen in Blumentöpfen. Die Tür zu einem angren zenden Raum stand halb offen, und im Hintergrund erkannte Lilith die Gitterstäbe einer Gefängniszelle. Sie schloß die Tür und sagte: »Hallo?« In diesem Augenblick spürte sie die Anwesenheit eines Menschen im Zimmer. Sie fuhr herum und zuckte zusammen, als sie in die Mündung einer Pistole blickte. Sie hatte nie ausprobiert, ob ihr Körper gegen Metallgeschosse im mun war. Und sie hatte auch keinerlei Lust, es gerade jetzt zu testen. Die Gestalt hinter der Waffe trug eine Uniform. Lilith hob leicht die Arme und zeigte die leeren Handflächen. »Rühren Sie sich nicht«, zischte der Polizist. »Nehmen Sie das Messer aus der Tasche, und werfen Sie es dort drüben auf den Bo den.« »Was für ein Messer? Ich habe kein Messer. Und auch keine Ta sche.« Der Mann maß ungefähr einen Meter neunzig und besaß eine kräf tige, durchtrainierte Figur. Unter dem Hemd zeichneten sich dicke Muskelpakete ab. Da es in diesem abgelegenen Teil der Welt wohl kaum ein Fitneßstudio gab, lag es an der harten körperlichen Arbeit, die das Leben hier mit sich brachte. »Sie haben es also weggeworfen«, stellte der Beamte fest. »Halt, rühren Sie sich nicht, sonst schieße ich. Legen Sie den Mantel ab.« Angesichts der eindeutig schußbereiten Waffe blieb ihr nichts an deres übrig, als wenigstens so zu tun, als ob. Sie öffnete den Pelz mantel und streifte ihn bis über die Schultern zurück. Die Pupillen des Polizisten weiteten sich. Er hatte deutliche Mühe, sich zu beherr
schen. »Ich führe nichts bei mir, was irgendwie gefährlich sein könnte«, versuchte Lilith ihm klarzumachen. »Das werden wir sehen. Stützen Sie sich mit den Händen an der Wand ab. Beine breit!« Er tastete den Mantel nach Waffen ab. Zu Liliths Bedauern ver mied er es peinlichst, ihrer Scham und ihren Brüsten auch nur nahe zu kommen. »Gut, umdrehen«, kommandierte er. »Jetzt wollen wir erst einmal Ihre Personalien festhalten. Ihren Paß bitte. Sie sind keine Finnin, nehme ich an. Folglich führen Sie einen Reisepaß mit sich.« »Das ist prinzipiell richtig, Mister. Allerdings befindet er sich bei meinem Gepäck, und das liegt in der Aufbewahrung am Helsinkier Flughafen.« »Ach ja? Und wie heißen Sie?« »Lilith. Lilith Eden aus Sydney, Australien.« »Nicht zufällig gar vom Südpol? Ich glaube Ihnen kein Wort. Kraft meiner Vollmachten als Polizist und der unzweifelhaften Zeugen aussagen mehrerer Bewohner dieses Dorfes nehme ich Sie hiermit fest. Sie sind verdächtig, innerhalb der vergangenen Stunden insge samt sechs Einwohner bestialisch getötet zu haben.« »Was? Das ist absurd! Ich bin gerade erst angekommen.« »Das kann jeder sagen. Haben Sie Zeugen?« »Nicht im eigentlichen Sinn. Außerdem bin ich nicht gekommen, um mir dummes Zeug anzuhören, sondern um die Bewohner des Dorfes zu warnen. Es steht ein Überfall bevor.« »Hört, hört. Ich schätze, er hat schon stattgefunden.« »Wohl kaum. Irgendwo dort draußen rottet sich eine Horde Trolle zusammen. Sie wollen den Menschen hier ihre Seelen stehlen.«
Die Waffe des Polizisten ruckte ein wenig nach vorn. »Das wird ja immer schöner. Trolle also. Kleine possierliche Sagen gestalten, die allerlei Schabernack treiben und uns jetzt unserer See len berauben wollen.« »So ist es. Es handelt sich um Skogsrå, einen schwedischen Stamm, der seit Tausenden von Jahren in den Wäldern dieser Gegend wohnt.« Der Beamte winkte sie ein Stück zur Seite und deutete zum Fens ter hinaus. »Das da draußen ist die Wirklichkeit. Ein paar Dutzend aufge brachte Bauern mit Mistgabeln, Äxten und anderen Gerätschaften. Sie wollen Sie lynchen, und ich bin leider dazu gezwungen, Sie vor ihnen zu schützen, damit Sie vor ein ordentliches Gericht gestellt werden können. Los, in die Zelle mit Ihnen.« Er dirigierte sie ins Hinterzimmer. Hastig warf er die Gittertür zu und schloß ab. Den Schlüssel steckte er in seine Hosentasche. »Trolle«, fauchte er sie an. Noch immer deutete die Mündung der Waffe auf ihren Brustkorb. »Hören Sie, wenn Sie denken, Sie könn ten hier auf unzurechnungsfähig machen, dann haben Sie sich aber getäuscht.« Er wandte sich ab und suchte sein Büro auf. Die Verbindungstür schloß er ab. Lilith ließ sich auf die harte Pritsche an der Wand sinken und stützte das Kinn auf den Handrücken. Es war eine Schnapsidee gewesen, die Bewohner vor einer Gefahr warnen zu wollen, an die sie nicht glauben konnten. Trolle und El fen. Sagengestalten. Da hast du mir was Schönes eingebrockt, kleiner Schmetterling, dachte sie. Zum Glück habe ich keine Probleme, hier wieder rauszukommen.
Lärm kam auf. Die ersten Männer drängten in das Büro des Poli zisten und verschafften sich lautstark Gehör. Es kam zu heftigen Wortwechseln. Jemand rüttelte an der Verbindungstür und versuch te sie einzutreten. Endlich, nach über einer Viertelstunde, trat Ruhe ein. Der Beamte öffnete die Tür und führte einen Mann mit tränenüberströmtem Ge sicht herein. »Ist sie das?« fragte der Polizist. Der Mann nickte. »Du hast sie von vorn gesehen?« »Nein, nur von hinten. Aber ihre Haare, der Mantel, die Stiefel, al les stimmt. Sie ist es.« »Du hast Glück, Söre Eklund. Es gibt zwei Männer, die auch ihr Gesicht gesehen haben. Du kannst gehen, ich danke dir.« Zwei weitere Gegenüberstellungen mußte Lilith über sich ergehen lassen. Sie kam sich vor wie ein gefangener Tiger. Es bereitete ihr Unbehagen, ständig von Männern wie diesen angestarrt zu werden und nichts dagegen unternehmen zu können. »Die Kerle lügen«, sagte sie, als der letzte gegangen war. »Ich habe niemanden umgebracht, und ich bin erst seit einer halben Stunde in diesem Dorf.« »Aber natürlich. Und die Zeugen leiden unter Halluzinationen. In Ordnung, Lady, Sie bleiben hier, bis der Wagen aus der Stadt Sie ab holt und in ein ordentliches Gefängnis bringt. Bis dahin verhalten Sie sich ruhig und machen Sie keine Schwierigkeiten.« Lilith lehnte sich an das kalte Gemäuer in ihrem Rücken und seufzte. Irgendwann in den nächsten Stunden würden sich die Trol le über das Dorf hermachen. Und draußen saß Svåntje in ihrer Kiefer und wartete vergeblich auf Liliths Rückkehr.
Sie mußte hier raus. Umgehend. Lilith sah dem Beamten in die Augen. »Sie werden jetzt aufschließen und mich hinauslassen«, befahl sie ihm mit aller Suggestivkraft, derer sie fähig war. Der Mann lachte und tippte sich an die Stirn. »Sie sind wohl verrückt«, erwiderte er, wandte sich um und kehrte in sein Büro zurück. Lilith biß sich auf die Lippen. Verdammt! Ausgerechnet dieser Bursche gehörte zu den wenigen Menschen, die nicht auf ihre sug gestiven Impulse reagierten. Nun saß sie ganz schön in der Klemme und konnte nur hoffen, daß Svåntje bald auftauchte und den Mann von der Existenz der El fen und Trolle überzeugte.
* »He, wo willst du hin?« Die Stimme der Elfe klang wie ein Wind hauch von dem Baum herüber. »Jetzt bleib schon stehen.« »Ach, dort oben bist du? Ich habe nicht damit gerechnet. Hast du hier auf mich gewartet?« »Natürlich, was sonst? Komm herüber.« Svåntje beobachtete, wie Lilith den Trampelpfad verließ und durch den Schnee zu der Kiefernschonung stapfte. Unmittelbar un ter dem Baum blieb sie stehen und winkte. »Steig endlich herunter. Ich bringe Neuigkeiten.« Die Elfe schwebte herab und setzte sich auf Liliths Schulter. »Bin ganz Ohr, große Schwester. Iiih, pfui, man riecht es, daß du dich unter Menschen aufgehalten hast. Du verströmst einen merk
würdigen Gestank.« »Ich mußte mich gegen sie zur Wehr setzen. Sie haben mir den Troll entrissen, den ich in der Mangel hatte.« »Ein Kampf, ein Kräftemessen, ey«, jubelte Svåntje. »Warum war ich nicht dabei? Der Lärm aus dem Dorf drang bis zu mir. Aber ich blieb auf meinem Posten, das war wichtiger.« »Natürlich.« Lilith lächelte. »Was wäre ich ohne dich, mein Klei nes. Es gelang mir, einen einzelnen Troll aufzuspüren. Er hatte sich hinter einem Holzhaufen versteckt und beobachtete mich. Es gelang mir, ihn in Todesangst zu versetzen und alle Informationen zu er halten, die wir brauchen. Es gibt ganz in der Nähe eine Höhle. Dort haben sie das Schwert versteckt bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie es brauchen. Wenn wir uns beeilen …« »Wir sind schon unterwegs. Lauf, große Schwester. Verlieren wir keine Zeit.« Das ungleiche Paar verschwand in der Kiefernschonung und ge langte an den Rand einer Schlucht. Von dort führten Fußspuren steil aufwärts. Sie folgten ihnen und erreichten ein Plateau. Hinter ein paar Büschen und Bäumen fanden sie Deckung. »Dort drüben, siehst du?« flüsterte Lilith. »Dort am Felsen befindet sich der Eingang zur Höhle. Der Troll hat nicht gelogen.« »Der Eingang ist ziemlich klein«, stellte Svåntje fest. »Wie willst du da hineingelangen?« »Überhaupt nicht. Du mußt es tun. Finde das Schwert und bringe es heraus. Ich komme dann und helfe dir tragen.« »Auch eine Lösung, ey. Aber eigentlich habe ich mir das Ganze an ders vorgestellt. Die Wächterin des Schwertes ist kein Dienstbote.« »Das weiß ich, meine Elfenschwester«, säuselte Lilith zuckersüß. »Es läßt sich aber nun mal nicht ändern.«
»Also gut. Du hast mich überzeugt. Bis gleich.« Sie löste sich von Liliths Schulter und schwirrte davon. Über dem Felsblock beschrieb sie einen Bogen und landete dann unmittelbar neben dem Eingang. Sie warf einen kurzen Blick hinüber zum Ver steck, konnte Lilith aber nicht ausmachen. Vorsichtig lugte Svåntje durch die Öffnung. Leichter Rauch drang in ihre Nase. Drinnen brannten zwei Fackeln und erhellten die Höhle einigermaßen. Ein gleichmäßiger Chor schnarchender Trolle empfing sie, als sie ihre Flügel am Rücken zusammenfaltete und auf Zehenspitzen ein drang. Den Körper gegen den kühlen Fels gedrückt, verharrte sie und lauschte mit angehaltenem Atem. Die Trolle schliefen tief und fest. Sie hatten nicht einmal einen Wächter aufgestellt und vertrauten offensichtlich auf die Rückkehr des Spions, der sie rechtzeitig wecken würde. Der Blick der Elfe glitt weiter und entdeckte das Holzgitter, das den hinteren Teil der Höhle abschloß. Hinter dem Gitter lauerte eine gefräßige Vogelspinne, und unmittelbar vor dem schützenden Ver schlag hing dicht über dem Boden das Schwert. Svåntje zögerte einen Atemzug lang, dann löste sie sich vom Fel sen und begann, zwischen den schlafenden Skogsrå hindurch zu schreiten. Ein paarmal blieb sie lauschend stehen. Nichts rührte sich. Die Trolle lagen fett und faul da und ratzten um die Wette. Die Elfe machte vier, fünf Schritte und ließ die Schlafenden hinter sich. Die Vogelspinne bewegte sich und kletterte an dem Holzgitter nach unten. Offensichtlich witterte sie Beute. Svåntje grinste. Solange das Gitter geschlossen und sie auf der richtigen Seite war … Zwei Schritte noch. Das Schwert befand sich jetzt unmittelbar vor ihr. Einen letzten Blick warf die Elfe zurück, um sich zu vergewis sern. Dann streckte sie die Arme aus und faßte nach dem Schwert.
Sie wollte daran ziehen und den dünnen Spinnfaden einfach abrei ßen, an dem es hing. Whhhuschhhh machte es. Das Schwert sauste an seinem Faden in die Höhe, und gleichzeitig brach in der Höhle ohrenbetäubendes Gelächter aus. Die Trolle stellten sich nicht weiter schlafend. Sie sprangen auf und trampelten vor Begeisterung auf dem Boden her um. Die Spinne zog sich bei diesem Lärm hastig in den hintersten Winkel ihres Gefängnisses zurück. Svåntje erkannte, daß die Trolle ihr eine Falle gestellt hatten. Der Spion hatte sich von Lilith vermutlich absichtlich fangen lassen. Die Elfe dachte jetzt nur an eines: Sie mußte Lilith warnen. Hastig stieß sie sich vom Boden ab und flog dicht unter der Decke zum Aus gang. Die Trolle verstummten und blickten ihr in gespannter Erwar tung nach. Unter dem Höhlenausgang prallte die Elfe mit einem ziemlich weichen Hindernis zusammen. Es handelte sich um einen Troll von beachtlicher Größe. Er war größer und fetter als alle Skogsrå, die das Hügelvolk der Elfen jemals zu Gesicht bekommen hatte. Er war nackt, und sein Kopf und der ganze Körper schwabbelten hin und her. Mit einer Bewegung seines Arms warf er Svåntje zu Boden. So fort stürzten sich die anderen Trolle auf sie und hielten sie fest. Sie zerrten an ihrem Körperschmuck und stießen abfällige Bemerkun gen aus. »Pflückt ihre Flügel, daß sie nie mehr fliegen kann«, schrie einer. »Reißt ihr das Silber vom Leib. Dann hat sie nie mehr Macht über das Schwert.« »Nein!« Das war Gaffelstyr. »Laßt sie in Ruhe. Bringt sie hinaus. Toffeltyr will ihr etwas zeigen.« Toffeltyr, das war der Fleischberg unter dem Eingang. Er zog sich ins Freie zurück und lachte scheppernd.
»Du kleines dummes Ding«, rief er. »Bist nicht einmal mißtrauisch geworden, obwohl ich ein paar Fehler gemacht habe? Elfen verdie nen es nicht anders, als ständig an der Nase herumgeführt zu wer den.« Der nackte Körper begann zu verschwimmen. Er zog sich in die Länge bis auf Menschengröße, verfestigte seine Körpermasse und nahm innerhalb weniger Augenblicke das Aussehen einer Frau an. Lilith! Der Troll namens Toffeltyr sah plötzlich aus wie Lilith. Svåntje seufzte. Sie hätte es wissen müssen. Die Skogsrå hatten einen Changeling bei sich, einen ihrer seltenen Wechselbälge. Trolle mit diesen Fähigkeiten vermochten jede Art von Gestalt nachzuah men bis hin zur Menschengröße. Die echte Lilith befand sich ver mutlich noch im Dorf oder suchte bereits verzweifelt nach ihr. »Ich werde diesen Körper vorläufig beibehalten«, sagte Toffeltyr mit Liliths Stimme und spielte an den vollen Brüsten herum. »Er macht mir Spaß. Er steckt voller Zonen exzessiver Reize und Überra schungen.« Er wandte sich ab und bückte sich im Schnee, hob den Mantel und die Stiefel auf, die denen Liliths zum Verwechseln ähnelten. Die Trolle zerrten Svåntje zurück in die Höhle. Sie öffneten das Holzgitter und stießen die Elfe hinein zu der Vogelspinne. »Jetzt zeige, was dein Silber wert ist!« rief Gaffelstyr und krümmte sich vor Lachen. »Was taugt deine Magie ohne das Schwert? Nichts. Gar nichts und abermal nichts. Siehst du, wie die Spinnenaugen leuchten? Sie hat Hunger. Hunger auf kleine, knackige Elfen.«
*
Der Gedanke an die Trolle ging Lilith nicht aus dem Kopf. Längst war sie überzeugt, daß die einzelne Spur, die vom Dorf wegführte, etwas mit ihrer Verhaftung zu tun hatte. Die Trolle mußten eine Möglichkeit gefunden haben, die Einwohner zu hypnotisieren. In ihrer derzeitigen Situation half ihr die Erkenntnis allerdings nicht weiter. Trolle gab es nach menschlichem Ermessen nur in alten Sagen. Man würde ihr niemals glauben, was auch immer sie erzähl te. Am späten Nachmittag brachte ihr der Beamte einen Krug Wasser und vergewisserte sich nochmals, daß die Zelle fest verschlossen war. »Mein Dienst endet jetzt. Aber keine Sorge; mein Stellvertreter ge hört nicht zu denen, die ein Opfer zu beklagen haben. Ein Glück für Sie.« Mit diesen Worten ließ er sie sitzen. Lilith wartete ungeduldig. Über eine Viertelstunde dauerte es, bis sich der andere endlich blicken ließ. Er mochte Mitte Zwanzig sein und trug gewöhnliche Straßenkleidung sowie ein Schulterhalfter. Es war allerdings leer. »Sie sehen gar nicht wie eine Mörderin aus«, stellte er nach kurzer Musterung fest. »Eher wie eine Edelnutte. Aber meist sind die Gren zen dazwischen fließend.« »Ich bin weder das eine, noch das andere«, flüsterte Lilith und schenkte ihm einen Blick aus ihren unergründlich tiefen Augen. »Ich hätte nichts dagegen, wenn wir uns ein wenig unterhalten würden. Hätten Sie die Freundlichkeit, die Zelle aufzuschließen?« Aufatmend registrierte sie, daß er nicht immun war. Er holte den Schlüssel und setzte sich zu ihr in die Zelle. Zwei Minuten später wälzten sie sich auf dem Boden. Liliths Symbiont hatte sich in eine weiche und warme Decke auf den kalten Steinen verwandelt.
Naturmenschen lieben oftmals unbefangener als Städter. Sie rich ten sich nicht nach engen Konventionen hellhöriger Mietswohnun gen. Der Kerl, dessen Namen sie nicht einmal kannte, nahm sie un gestüm und mit wild leuchtenden Augen. Sie lockerte ein wenig die Fessel, mit der sie ihn einschnürte, und ließ seiner Phantasie freien Lauf. Er peitschte sie mit den Riemen des Schulterhalfters, und sie stachelte ihn mit kurzen, spitzen Schreien an. Die Zeit rann ihr da von, und sie bemühte sich, ihr eigenes Verlangen zu zügeln. Mehr als ein Quickie war nicht drin. Sie nahm die Sache in die eigene Hand – und das wortwörtlich. Er kam, noch ehe er überhaupt daran denken konnte, in sie einzudrin gen. Lilith nahm kurz Maß, verstärkte die hypnotische Fessel und biß dann herzhaft zu. Wie glühende Lava floß das Blut aus der Hals schlagader, und sie trank sich zum ersten Mal seit etlichen Tagen richtig satt. Als sie zurücksank, schlossen sich die beiden Bißwun den bereits. Der Symbiont stellte den alten Zustand der Kleidung wieder her, und Augenblicke später öffnete Lilith mit Hilfe des amtlichen Schlüsselbundes die Hintertür des Gebäudes und schlüpfte ins Freie. Der arme Kerl in seiner Zelle würde sich später nicht daran er innern können, wie er in diese Lage kam und wer ihn eingesperrt hatte. Aber so, wie er dalag, würde er gewiß zum Stadtgespräch werden, wenn man ihn fand. Lilith warf den Schlüsselbund in hohem Bogen in den Schnee und eilte davon. Geduckt huschte sie zwischen den Katen und Häusern entlang und hielt direkt auf die Kiefernschonung zu. Sie rief leise nach der Elfe, aber Svåntje gab keine Antwort. Lilith richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Spuren zweier Füße im Schnee. Diesmal stammten sie der Größe nach von einem Menschen in Stiefeln. Da sie unter der Kiefer einen Kreis beschrieben, der Ver ursacher also nicht einfach nur vorübergegangen war, lag ein Zu
sammenhang mit dem Verschwinden der Elfe auf der Hand. Mit einem flauen Gefühl im Magen folgte Lilith der Spur. Sie führ te an der Kiefernschonung entlang und danach aufwärts zu einem etwa einen Kilometer entfernten Plateau, das an seinem vorderen Rand in eine tiefe Schlucht abfiel. Auf dem teils verharschten Schnee wimmelte es nur so von kleinen Fußspuren und den Abdrücken kleiner Schneeschuhe. Lilith duckte sich auf halbem Weg hinter die Büsche und beobach tete. Droben auf dem Plateau gab es mehrere Baumgruppen. Am hinteren Ende der Hochfläche ragte ein hoher Felsblock empor, und an dessen Fuß entdeckte sie eine kleine dunkle Öffnung. Davor hockten zwei Trolle und übten sich lauthals im Zählen. »Eins, zwei, Kartoffelbrei. Drei, vier, noch ein Bier.« Sie grölten und taten, als seien sie betrunken. Ein scharfer Pfiff brachte sie in Habacht-Stellung. Die ganze Horde tauchte auf und verließ das Ver steck. In Zweierreihen machten sie sich auf den Weg, und es gab keinen Zweifel, wo das Ziel ihres Ausflugs lag. Die Trolle huschten das leicht abschüssige Gelände herab und has teten an Lilith vorbei. Der vorderste von ihnen, an seinem Hut ein deutig als der großmaulige Gaffelstyr erkennbar, trug das Elfen schwert und hielt es wie ein Dach über seinen Kopf. »Heute tanzen wir, heute schwanzen wir«, murmelten sie im Chor. »Diesmal seid ihr alle dran, diesmal ist es wohlgetan. Werden euch recht quälen, nehmen eure Seelen.« Lilith lauschte dem Klang ihrer rauhen und dennoch kindlichen Stimmen nach. Sie wartete, bis die Prozession den Waldrand er reichte und im Halbdunkel zwischen den zugeschneiten Bäumen verschwand. Entschlossen wandte sie sich in Richtung der Höhle – und blieb wie angefroren stehen. Sie sah in einen Spiegel. Unsichtbar ragte er mitten in der Land
schaft empor. Sosehr sie sich auch anstrengte, sie nahm seine Umris se nicht wahr. Aber er war da, denn Lilith sah sich selbst. Keine zwanzig Schritte entfernt stand ihr Spiegelbild und grinste sie an. Es ist kein Spiegel! schrien ihre Gedanken. Sieh dich vor! Im selben Augenblick begriff sie, daß es sich nicht um eine Illusion handelte. Das Geschöpf dort war Realität. Lilith, die andere Lilith, setzte sich in Bewegung und kam ihr ent gegen. Das war die Mörderin der Dorfbewohner! Lilith duckte sich und erwartete das unmittelbare Zusammentref fen mit der Doppelgängerin. Gleichzeitig kehrten die Trolle aus dem Wald zurück und verteilten sich schweigend nach beiden Seiten. Sie bildeten einen weiten Halbkreis um die beiden identischen Gestal ten. Eine Arena. Lilith verstand, daß sie in eine Falle gelaufen war. Die Trolle hat ten damit gerechnet, daß sie hier aufkreuzte. Das Dumme an der Situation war, daß Lilith keine Ahnung hatte, was sie von ihrer Doppelgängerin halten sollte. Sie spürte keine dä monische Ausstrahlung und wußte nur, daß dieses Wesen kein Vampir war. Vermutlich etwas anderes, Schlimmeres. Lilith II warf sich auf das Original.
* Lilith wich im letzten Augenblick zur Seite. Die Angreiferin stürzte
an ihr vorbei, überschlug sich im Schnee und kam sofort wieder auf die Beine. Sie stieß ein häßliches Lachen aus. Es klang nicht mensch lich, auch nicht vampirisch. »Du hast keine Chance, mir zu entkommen«, zischte Lilith II. »Auf diesen Augenblick habe ich gewartet. Wieso haben sie dich laufen gelassen? Das war nicht vorgesehen. Eine vielfache Mörderin setzt man nicht auf freien Fuß. Man hängt sie auf!« Wieder griff sie an, und diesmal täuschte Lilith den Ausfallschritt lediglich vor. Sie drehte ihren Körper ein wenig und federte den Aufprall der anderen mit den Unterarmen ab. Gleichzeitig zog sie ein Bein an und stieß das Knie in den Bauch der Doppelgängerin. Diese schrie auf, krümmte sich und brachte sich hastig außer Reich weite. »Du vergißt, daß ich keine Mörderin bin«, zischte Lilith. Sie über legte fieberhaft. Der Angriff des Wesens erfolgte allein mit dem Kör per. Da gab es keinen Versuch, ihr mit hypnotischer Gewalt etwas aufzuzwingen. Das Wesen vor ihr besaß keine geistige Macht und verfügte allem Anschein nach lediglich über gestaltwandlerische Fä higkeiten. Plötzlich hielt die andere ein kleines Messer in der Hand, wie die Trolle es benutzten. Sie bewegte sich um Lilith herum und kam ihr dabei langsam näher. »Vampirin, Drecksbestie!« schrillte sie. »Mit dir werde ich es ma chen wie mit den Menschen im Dorf. Ich werde dir zwei Löcher in die Halsschlagader bohren, damit du jämmerlich verblutest.« Lilith lachte. Das Wesen hatte keine Ahnung. Es wußte weder über Vampire Bescheid noch über Mischwesen. Sie bog den Hals zurück und bot ihn der Widersacherin dar. »Tu es. Ich bin aus Stahl!« Lilith II trat mit dem Fuß zu. Lilith achtete nicht auf das Ablen
kungsmanöver und den Schlag an ihrem Oberschenkel, sondern hef tete ihren Blick auf das winzige Messer. Der Arm, der es führte, stieß von oben herab in Richtung ihres Halses. Lilith schlug mit der Handkante dagegen und stellte zufrieden fest, daß das Messer an Hals und Schulter vorbei nach unten fuhr. Sie trat mit dem Fuß nach und krallte gleichzeitig ihre Hände in das Haar der anderen. Das Messer flog davon und versank im Schnee. Die Doppelgänge rin schrie auf, als Lilith ihr den Ellenbogen in die Magengrube rammte. Sie rollte zur Seite und stellte Lilith ein Bein. Die Halbvam pirin stürzte in den Schnee. Die Trolle begannen ihre Kandidatin anzufeuern und klatschten gleichmäßig in die Hände. Der Rhythmus besaß etwas Lähmendes und legte sich über Liliths Geist. Sie hatte vorübergehend Mühe, sich zu konzentrieren, und ihre Widersacherin nutzte die Chance und warf sich auf sie. Ineinander verkrallt rollten sie durch den Schnee. Die Trolle verloren den Überblick und fragten einander, wer jetzt wer war. Lilith erwischte den Pelz ihrer Widersacherin und zerrte mit aller Gewalt daran. Ein paar Nähte rissen. Es gab ein häßliches Geräusch, als die Doppelgängerin einen Teil ihrer Kleidung verlor. Ihre Brüste lagen frei und wogten hin und her. Auch Lilith II krallte sich in Liliths vermeintlichen Pelz, doch er glitt einfach aus ihren Händen. Lilith nutzte die Verblüffung ihrer Gegnerin und schlug ihr die geballte Faust auf den Mund. Blut rann über das Gesicht. »Das wirst du mir büßen, Hure«, keuchte Lilith II. Die Wut verlieh ihr neue Kräfte. Liliths Abwehr kam zu spät. Die Hände des gestaltwandlerischen Wesens schlossen sich um ihren Hals und drückten brutal zu. Lilith begann Sterne zu sehen. Sie trat um sich, versuchte mit den
Knien den Körper der anderen von sich zu stoßen. Es gelang ihr nicht. Sie umklammerte die Oberarme der Doppelgängerin und ver suchte die Klammer um ihren Hals zu lösen. Vergebens. Plötzlich spürte sie einen spitzen Gegenstand unter ihrem Rücken. Mit letzter Anstrengung ließ sie einen Arm los, griff unter sich – und bekam das Messer zu fassen. Sie riß es empor und stieß drei-, vier mal zu, ehe die Hände um ihren Hals erlahmten. Ihr Ebenbild sah sie aus großen Augen an. In Zeitlupe neigte sich ihr Körper zur Seite. Blut bildete sich auf dem Pelz. Es lief aus ihrer Brust und aus der Seite. Einer der Stiche saß in der Lende. Dorthin glitt eine Hand und preßte sich auf die Wunde. Die Augen der Widersacherin verdrehten sich, und Lilith wußte, daß sie von diesem Wesen keinen Angriff mehr zu erwarten hatte. Vorsichtig nahm sie das Messer zur Seite und schob sich unter dem blutenden Körper hervor. »Toffeltyr?« riefen die Trolle zaghaft. »Bist du das?« Lilith nickte. »Ja, ich bin es.« Sie schritt auf die Bande zu. »Aber es war nicht leicht, glaubt mir das. Ein zweites Mal mache ich das nicht.« Gaffelstyr trat zu der Verwundeten. »Sie lebt noch. Ich versetze ihr den Gnadenstoß.« »Laß mich das tun!« warf Lilith ein und entriß ihm das Elfen schwert. Sie hatte als erste bemerkt, daß sich der Körper der Doppel gängerin zu verwandeln begann. Er zog sich zusammen und erhielt die Konturen eines schwabbeligen, monströsen Trolls. Gaffelstyr stieß einen Schrei aus und fuhr herum. Er wollte Lilith festhalten, aber sie riß sich los und rannte den Hang hinauf zur Schlucht. Am Abgrund hielt sie an. »Das Schwert, das Schwert!« Die Trolle nahmen schreiend und ze ternd die Verfolgung auf.
Svåntje, wo bist du? dachte Lilith und warf sich in die Schlucht. Ihr Körper verwandelte sich, und die kurzen Fledermaus-Klauen klam merten sich um das Elfenschwert. Lilith nutzte den Auftrieb und flatterte aus der Schlucht heraus in den Himmel hinein. Ihre hochempfindlichen Ohren empfingen den Hilferuf der Elfe aus der Höhle im Felsblock unmittelbar unter ihr. Lilith ging in Sturzflug über. Sie mußte den Trollen zuvorkom men, egal, wie.
* Der Biß einer Vogelspinne war absolut tödlich für eine zarte Elfe wie Svåntje. Als Wächterin des Schwertes hatte sie bisher lediglich Er fahrungen mit Libellen, Ameisen und anderem Getier gemacht, das neugierig zu erproben versuchte, ob es sich bei einer Elfe um ein brauchbares Opfer handelte. Vogelspinnen galten als gefräßig und räuberisch. Unter Baumwur zeln und hinter Felsen lauerten sie auf Beute, die zwei- bis dreimal so groß wie sie selbst sein konnte. Die ersten tastenden Versuche der mörderischen Kieferzangen gingen ins Leere. Svåntje kletterte behende an dem Gitter empor und besah sich die Lage von oben. Die Spinne zögerte. Der Lärm und die Erfahrungen mit den Skogs rå machten sie vorsichtig. Sie zog sich ein Stück zurück und wartete ab, wie sich die Beute verhielt. Svåntje hütete sich, unbedacht hin und her zu flattern. Sie ließ ihre Flügel am Rücken gefaltet, um nicht den Eindruck eines leicht zu er haschenden Insekts zu erwecken. Statt dessen stieß sie grunzende und brummende Laute aus und bemühte sich, ihre Stimme so tief
wie möglich klingen zu lassen. Gleichzeitig streckte sie ihren Körper und machte sich groß. Eine ganze Weile reagierte die Vogelspinne abwartend, vielleicht sogar ein wenig eingeschüchtert. Gleichzeitig machte sie die Tatsa che, eingesperrt zu sein, nervös und unberechenbar. Die Trolle zogen ab und schlugen den Weg ins Dorf ein. Seelen-Einkaufsbummel, wie Gaffelstyr es großsprecherisch nann te. »Guten Hunger!« riefen sie von draußen und ließen keinen Zwei fel daran, wen sie meinten. »Brüder und Schwestern!« rief Svåntje laut. »Wenn ihr mich hört, dann helft mir!« Es war aussichtslos. Die Elfen des Hügelvolkes befanden sich vor dem Dorf und warteten darauf, daß sie ihnen ein Zeichen gab. Die Spinne schoß plötzlich vorwärts. Svåntje erkannte die Gefahr rechtzeitig und rutschte am Holzgitter hinunter. Sie sauste zwischen den haarigen Spinnenbeinen hindurch, prallte gegen den Felsboden und rannte in den hinteren Teil der Höhle. Hastig zwängte sie sich zwischen zwei vorstehende Felsbrocken. Die Vogelspinne betastete das Gitter und drehte ihren Körper um ständlich herum. Sie nahm erneut Witterung auf. Die Tatsache, daß sich ihre Beute dort befand, wo sie soeben hergekommen war, schi en sie zu irritieren. Aber dieser Zustand dauerte lediglich ein paar Atemzüge. Große, dunkle Facettenaugen fixierten Svåntje. Die Elfe erkannte, daß sie so gut wie in der Falle saß. Egal, in wel che Richtung sie jetzt auswich, die Spinne bekam sie überall zu fas sen. Svåntje begann aus vollem Hals zu schreien. Sie rief nach Lilith
und nach ihren Artgenossen, aber noch immer erhielt sie keine Ant wort. Es war auch zu spät dazu. Die Spinne krümmte sich zum Sprung.
* Es gab einen dumpfen Schlag, als Lilith auf den Boden prallte. Ihr Körper hatte sich unmittelbar vor der Landung zurückverwandelt. Das Schwert entfiel ihren Händen und flog bis dicht vor die Öff nung der Höhle. Einen Augenblick blieb Lilith benommen liegen. Dann hörte sie die Elfe schreien. Sie riß die Waffe an sich, eilte zum Eingang und spähte in die Dunkelheit der Höhle hinein. Sofort änderte sich ihr Sehverhalten. Durch einen roten Schleier erkannte sie zwei Körper von starker Wärmeausstrahlung: die Elfe und eine Spinne. »Ich bin da, Svåntje!« rief sie. »Ich helfe dir.« »Lilith!« schrillte die Elfe. »Beeil dich! Ich halte nicht mehr lange durch.« Lilith streckte den Arm in die Höhlenöffnung hinein. Er reichte nicht bis zum Gitter, und die Öffnung war zu klein, als daß sie den Oberkörper hätte hineinschieben können. Einen Augenblick blieb sie hilflos liegen. »Nimm die Beine!« rief Svåntje. »Versuche es wenigstens.« Lilith drehte sich um und steckte ihr linkes Bein durch die Öff nung. Es reichte gerade bis an das Gitter. Sie trat dagegen, aber da durch drückte sie die Holzkonstruktion nur noch mehr fest. »Hilfe!« schrie die Elfe. »Sie frißt mich.«
Fluchend zog Lilith das Bein heraus und entledigte sich des Stie fels. Wieder ließ sie ihr Bein in die Höhle gleiten. Mit dem großen Zeh gelang es ihr, eine der Öffnungen zu ertasten. Sie steckte den Zeh hindurch und hoffte inständig, daß die Spinne ihn nicht als Leckerbissen betrachtete. Mit aller Kraft zerrte sie an dem Gitter – und riß es endlich aus der Verankerung. Lärm brandete gegen das Plateau und den Felsblock. Die Trolle kamen! Als sie Lilith im Schnee vor ihrer Höhle liegen sahen, schwangen sie johlend ihre Waffen. Lilith zog hastig ihr Bein zurück und beugte sich wieder zur Öff nung hinab. »Achtung, das Schwert kommt!« Sie legte das winzige Elfenschwert zwischen Zeige- und Mittelfin ger der linken Hand und schnippte es mit der Rechten in die Höhle hinein. Wie ein Pfeil schoß es davon. Es folgte ein dumpfes, schmat zendes Geräusch. Svåntje ließ ein fürchterliches Geheul hören, und Lilith spürte, wie das Blut aus ihrem Gesicht wich. Ihr wurde schlecht. Im nächsten Augenblick aber tauchte die Elfe unter dem Höhleneingang auf. »Das war ein Volltreffer, ey. Du hast sie glatt durchbohrt. Eine Meisterleistung, große Schwester.« Sie schleppte das verschmierte Schwert hinter sich her, wuchtete es am Felsblock in die Höhe und stellte sich direkt darunter. Die Trolle waren inzwischen bis auf wenige Schritte herangekom men. Lilith rappelte sich auf und wappnete sich für ihren Angriff. Da legte Svåntje den Kopf in den Nacken und stieß einen lauten, singenden Schrei aus. Die Frequenz war so hoch, daß sie in Liliths Ohren schmerzte. Auch den Trollen schien der Ton nicht zu bekom men, denn sie stockten in ihrem Angriff, warfen sich zu Boden und steckten ihre Köpfe so tief wie möglich in den Schnee. Lilith preßte sich die Hände auf die Ohren. Sie fragte sich, woher
die Elfe die Luft für diesen nicht enden wollenden Schrei nahm. Der verschnörkelte Knauf des Elfenschwertes begann zu glühen. Ein helles Flirren entstand und löste sich aus dem Schwert, stieg em por und in den blauen Himmel hinein. Undeutlich erkannte Lilith, daß es sich in viele einzelne Spiralen aufspaltete, die sich wie an ei ner unsichtbaren Schnur über den Himmel verteilten. Ein Regenbo gen von überirdischer Schönheit flammte auf, nahm seinen Anfang im Knauf des Schwertes und endete irgendwo hinter der Sonne. Svåntjes Singschrei brach übergangslos ab. »Eilt!« rief die Elfe. »Eilt nach Hause. Ihr werdet erwartet.« Sie streichelte das Schwert, und der Regenbogen erlosch. »Was hast du gemacht?« fragte Lilith. Sie mußte fast schreien, um ihre eigene Stimme durch das taube Gefühl in ihren Ohren zu ver nehmen. »Ich habe die Seelen heimgeschickt«, entgegnete Svåntje. »Men schenseelen sind nicht gut für das Elfenschwert.« Die ersten Trolle zogen ihre Köpfe aus dem Schnee und prüften die Lage. »Auf sie mit Gebrüll!« rief Gaffelstyr, aber es klang nicht so nach drücklich wie früher. »Das Schwert ist unser!« Er stürmte an Lilith vorbei und riß die Waffe an sich. Gemeinsam mit drei anderen Trollen begann er, sie davonzuschleppen. Die Elfe ließ sie gewähren. Sie verließ ihren Platz neben dem Höh leneingang und flog zu Liliths Schulter empor, wo sie sich in ge wohnter Weise niederließ. »Laß sie schleppen«, kicherte sie. »Weit kommen sie nicht. Mein Volk wird bald hier sein. Sie haben den Regenbogen gesehen und werden ihm folgen.«
* »Kommen Sie schnell, Doktor. Es ist dringend!« Der Pfleger zog den Arzt am Arm. Dr. Fjällo Rokkevadn schüttelte den Kopf. »So dringend wird es nicht sein«, meinte er und streifte die Hand des Mannes ab. »Bisher hat sich im Zustand der Passagiere nichts geändert.« »Das nicht. Aber bei Olsen!« »Was?« Der Arzt eilte davon, der Pfleger hinterher. Sie erreichten das Erd geschoß, und Dr. Fjällo Rokkevadn riß die Tür des Zimmers auf, in dem sie den Kopiloten untergebracht hatten. Björn Olsen stand am Fenster und beobachtete den Verkehr drun ten auf der Straße. Als die Tür ging, wandte er sich um. Ein fragen der Blick traf den Arzt. »Guten Morgen«, sagte er. »Sind Sie der verantwortliche Arzt? Können Sie mir verraten, wo ich hier bin?« »Sie erinnern sich nicht?« »Nein.« »Dies ist das Krankenhaus von Luirojoki. Sie hatten eine Havarie mit der Maschine.« »Daran erinnere ich mich. Wir starteten und hatten einen norma len Flug. Was dann passierte, daran kann ich mich allerdings nicht erinnern. Ich weiß nur, wie wir Schutz suchten und das Flugzeug explodierte.« »Und dann?« »Keine Ahnung. Ich weiß nicht, wie ich hierher gekommen bin.
Aber irgendwie habe ich das Gefühl, die ganze Zeit über nicht allein gewesen zu sein.« »Natürlich nicht. Wir haben Sie hier betreut. Sie sind jetzt den zweiten Tag bei uns. Alle Passagiere sind wohlauf mit Ausnahme ei ner Frau. Sie ist verschwunden. Wir konnten sie bislang nicht fin den.« »Vielleicht ist sie in der Maschine …« »Nein. Sie ist nicht verbrannt, wenn Sie das meinen. Die Spezialis ten des Katastrophenschutzes hätten ihre Überreste gefunden. Es sind noch Hubschrauber unterwegs.« »Wie … wie geht es Hendrik Svædhin?« »Gut. Auch er kann sich nicht mehr an den Absturz erinnern. Die Aufzeichnungen des Funkverkehrs mit dem Tower von Helsinki wurden von der Polizei beschlagnahmt. Wir wissen nichts darüber. Wollen Sie ihn besuchen? Er freut sich bestimmt.« »Gern, Doktor. Würden Sie mich zu ihm bringen?« »Mit dem größten Vergnügen.« Gemeinsam lieferten sie Olsen bei Svjedhin ab und ließen die bei den allein. »Mir fällt ein Stein vom Herzen«, seufzte Dr. Rokkevadn. »Bleibt nur zu hoffen, daß die Teilamnesie aller Beteiligten bald abklingt. Das untersuchende Dezernat macht mir deswegen schon die Hölle heiß.« »Möglich ist alles.« Der Pfleger zuckte mit den Schultern. »Aber ganz ehrlich, Doktor, vielleicht wäre es das beste, wenn sie die Erin nerung an die Umstände des Absturzes nie mehr zurückerhielten.«
*
Lilith starrte verblüfft in den Himmel hinauf. Svåntjes Volk erschien. Als dunkle Wolke zeichnete es sich gegen den azurblauen Himmel ab. Die Elfen folgten der Bahn des längst erloschenen Regenbogens. Ein Sirren und Rauschen erfüllte die Luft und schwoll zu einem gewaltigen Orkan an. Die Trolle hielten inne. Sie starrten nach oben und begannen dann zu rennen, so schnell es ihre Füße oder Schneeschuhe zuließen. Sie versuchten den Wald zu erreichen, doch die Elfen schnitten ihnen den Weg ab. Die riesige Wolke breitete sich aus und verwandelte sich in einen dünnen Vorhang, der fast die Hälfte des Himmels be deckte. Aus der Luft nahmen die Schwestern und Bruder Svåntjes den Kampf mit den Skogsrå auf. Lange Fäden sirrten durch die Luft, ver gleichbar mit einem Spinnfaden. Sie klatschten gegen die Köpfe und Leiber der Trolle und blieben daran kleben. Mehrere Dutzend Elfen schnappten sich je einen Faden und zogen ihn mitsamt der daran hängenden Last in die Luft empor. Die Trolle strampelten und schrien. Durch das Gezappel machten sie es nicht besser. Nur ein paar Gewitzte, die den Faden mit dem Messer durchschnitten, entgingen dem drohenden Schicksal und plumpsten aus geringer Höhe in den Schnee zurück. Mit den ande ren ging die Fahrt rasend schnell aufwärts – und droben, in viel leicht hundert Metern Höhe, ließen die Elfen die Fäden einfach los. Die Trolle stürzten zum Boden zurück und brachen sich alle Kno chen. Die meisten blieben reglos liegen, ein paar Glückliche krochen davon, dem Schutz des Waldes entgegen. »Dies ist die Strafe für den Frevel des Diebstahls«, verkündete Svåntje. »Nie wieder soll ein Skogsrå sich anmaßen, das Schwert der Elfen stehlen zu wollen. Selbst wenn ein Mensch es schafft, die Ma gie des Verstecks zu zerstören, den Skogsrå wird das Schwert kein
Glück bringen. Wir Elfen werden es immer wieder zurückholen und die Diebe schrecklich bestrafen.« Wieder stürzte sich die Wolke aus Elfen zum Boden herab. Im Überflug rissen sie den restlichen Trollen die Hüte vom Kopf und Übergossen sie mit einem halb durchsichtigen, dunkelbraunen Saft. Er überzog die plumpen Körper wie Harz. Die Skogsrå wandten sich endgültig zur Flucht. Gaffelstyr warf, von Panik erfüllt, das Schwert beiseite und hüpfte in grotesken Sprüngen dem Waldrand entgegen. Die Elfen blieben zurück. Nur Svåntje nahm die Verfolgung auf. In sicherer Höhe holte sie die Gruppe. »Tapferer der Tapfersten«, höhnte sie, »lieblicher Gaffelstyr. Du hast sehr zur Erheiterung meines Volkes beigetragen. Tue dies in Zukunft auch bei den Skogsrå« Gesagt, getan. Dem Troll wuchsen in Sekundenschnelle riesige Ohren von wahrhaftigem Thronfolger-Format. Gaffelstyr schrie ge peinigt auf, versuchte die Riesenohren mit seinen Pranken zu verde cken und rannte laut heulend davon. Unter dem Gelächter des Elfenvolkes verschwanden die Trolle im Wald. Svåntje kehrte zu Lilith zurück und führte sie vom Felsblock weg zur Mitte des Plateaus. Dort umschwärmten die Elfen sie und sangen ihren Dank bis kurz vor Sonnenuntergang. Eine Gruppe aus vielleicht hundert Elfen sponn das Schwert in einen Transportkokon ein. An dünnen Fäden hoben sie den magischen Gegenstand in die Luft und flogen davon, begleitet von einer Eskorte aus über tausend Artgenossen. »Du hast uns geholfen und dein Versprechen gehalten«, säuselte Svåntje dicht vor Liliths Gesicht. »Das ist bei Menschen nicht alltäg lich. Aber du bist zum Glück ja nur ein halber Mensch, ey. Wer weiß, große Schwester, vielleicht begegnen wir uns eines Tages wie
der. Komm jetzt mit uns. Meine Schwestern werden ein Zeichen am Himmel setzen und das Technik-Monster herlocken, das noch im mer nach dir sucht.« »Der Nektar …«, begann Lilith. Svåntje lachte. »Ist das jetzt noch wichtig? Nein. Siehst du, ey. Beim nächsten Mal.« Sie näherte sich ihrer Stirn und streckte den Arm aus. Lilith wich hastig aus. »Nicht … Ich möchte meine Erinnerung behalten.« »Auch gut. Wenn du meinst. Ich dachte, so wäre es leichter für dich. Aber wahrscheinlich kann ich dir die Erinnerung gar nicht nehmen. Leb also wohl, große Schwester.« »Leb wohl, kleine Schwester.« Die Gruppe der Elfen stieg hoch in den Himmel auf und erzeugte ein gleißendes, rot-grünes Licht, fast wie eine Signalrakete. Wenig später vernahm Lilith das Geknatter eines Hubschraubers. Sie wink te den Elfen zu und lachte hinter Svåntje her, die mit neckisch ge spreizten Beinen davonflog und ihr lauthals ihren Dank sang. Und dann war es plötzlich, als ziehe jemand einen Vorhang zur Seite. Der Zauber verging. Die Elfen verschwanden, und die Maschi ne tauchte auf. Sie kam am Rand der Schlucht entlang, und Lilith breitete die Arme aus und winkte, was das Zeug hielt. Der Pilot entdeckte sie und lenkte den Hubschrauber zum Plateau. Ein paar Augenblicke später kämpfte sie sich gegen den Sturmwind der Rotoren bis zur Maschine durch. Hilfreiche Hände streckten sich ihr entgegen. Man zog sie ins Innere, und ein Arzt kümmerte sich sofort um sie. Verblüfft stellte er fest, daß ihr Körper nicht unter kühlt war und sie auch nicht an Hunger oder Durst litt. Ihr Puls fühlte sich normal an, und ihr Atem ging ohne Störungen. Der Arzt schüttelte den Kopf.
»Wissen Sie eigentlich, wie viele Kilometer Sie seit gestern zurück gelegt haben?« fragte er. Sie schüttelte den Kopf. »Ich will es gar nicht wissen.« Ein Mann in Uniform trat neben den Arzt. »Laut Passagierliste sind Sie Lilith Eden. Ist das richtig?« Sie nickte abwesend. »Erinnern Sie sich, was geschehen ist?« Lilith seufzte so überzeugend wie möglich und hoffte, daß man ihr die Lüge nicht ansah. »Ich weiß nur, daß ich in die Maschine nach Helsinki stieg. Wie ich hierher komme – keine Ahnung.« Die beiden Männer warfen sich einen bezeichnenden Blick zu. »Dasselbe Phänomen wie bei allen anderen«, murmelte der Arzt, und der Uniformierte fragte: »Haben Sie einen Paß oder Ausweis bei sich?« Lilith schüttelte erneut und heftig den Kopf. »Er muß in der Maschine geblieben sein.« »Dann ist er verbrannt. Das Flugzeug ist explodiert. Wir stellen Ih nen auf alle Fälle provisorische Dokumente aus. Wissen Sie wenigs tens noch, wohin Sie wollten? Helsinki – und weiter?« »Afrika«, hauchte sie. Mit Macht kam die Erinnerung an Duncan Luther zurück. »Ich will nach Mauretanien. Wenn Sie sich bitte beei len würden?« ENDE
Wolfsmond von Adrian Doyle Lebt Duncan Luther tatsächlich noch? Oder … ist er wieder am Le ben? Dann wäre er mit Sicherheit eine Dienerkreatur der Vampire, mit dem Auftrag, die verhaßte Halbvampirin in eine Falle zu locken! Lilith ist auf alles gefaßt, als sie in Mauretanien anlangt. Und gerät doch in ein Abenteuer, das sie nie erwartet hätte. Dafür sorgen ein geheimnisvoller Magier namens El Nabhai und eine Wölfin, die schon früher Liliths Weg kreuzte. Duncan Luther dagegen ist unauffindbar. Doch seine Spur weist zu einer Oase inmitten der hitzeflirrenden Wüste. Eine Oase, wo sich das Schicksal zweier Kampfgefährten entscheiden soll.