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Wer hat nicht schon einmal davon geträumt, einen Megaseller auf den internationalen Bestsellerlisten zu landen? Doch der Buchmarkt ist heiß umkämpft, und es ist nicht nur die Zahl der Konkurrenten, die ambitionierte Autoren scheitern läßt, sondern weit häufiger die Unkenntnis oder Mißachtung grundlegender handwerklicher Techniken. Der Leser schaut gemeinsam mit Albert Zuckerman bekannten Bestsellerautoren über die Schulter und lernt auf sehr anschauliche und lebendige Weise, wie er einen spannenden Plot anlegen muß, wie die Handlung dramatisch gehalten wird, wie die Hauptpersonen beschaffen sein müssen, wie die Schauplätze zu gestalten sind - u.v.m. über Buchmarkt, Verlagsgeschäft und Marketing. 1
Dieses Buch widme ich all jenen Autoren, die eigentlich Bestsellerromane geschrieben haben, doch aus dem einen oder anderen Grunde nie die breite Anerkennung damit fanden, die sie verdient hätten. Zu ihnen gehören meine Freunde und Klienten Michael Peterson mit Eine Zeit zum Töten, Robert Shea mit Zeit der Drachen, William Cobb mit A Walk Through Fire, Ridley Pearson mit The Angel Maker und F. Paul Wilson mit Das Kastell.
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Danksagung
Schriftsteller hüten sich in der Regel, ihre mißglückten Buchanfänge und Fehler offenzulegen. Erst das fertige, bis ins letzte Detail ausgefeilte Werk wird der Öffentlichkeit präsentiert. Daß Ken Follett mir gestattete, ausführlich aus seinen Erstfassungen zu zitieren, ist daher nicht nur erstaunlich, sondern auch höchst großzügig. Ohne Kens Entgegenkommen und ohne seinen außergewöhnlichen Mut könnte das vorliegende Buch seinen erhofften Zweck nicht erfüllen, und sein potentieller Wert für Sie, die Leserinnen und Leser, wäre erheblich geringer. Eileen Goudge, meine begabte Frau, hat die Erstfassung des Manuskripts zu diesem Buch gründlich durchgesehen und kluge, einfühlsame Änderungsvorschläge gemacht. Dafür danke ich ihr ebenso wie für ihre nimmermüde moralische Unterstützung. Auch in ihrer Eigenschaft als Autorin hat sich Eileen Goudge um dieses Buch verdient gemacht. Ohne die Beispiele aus ihrem großartigen Roman Im Garten der Lügen wäre es erheblich ärmer. Großen Dank schulde ich auch Mario Puzo für die vielen trefflichen Beispiele, die mir sein Roman Der Pate lieferte, sowie Colleen McCullough, deren Dornenvögel mir den gleichen Dienst erwiesen, und last, but not least der unvergessenen Margaret Mitchell, die uns mit ihrem Roman Vom Winde verweht ein geradezu klassisches Beispiel für die handwerkliche Kunst des Romanciers hinterlassen hat. Sechs Lektoren von Dan Weiss Associates haben die Erstfassung dieses Buches kritisch durchgelesen und mit zum Teil bissigen, aber hilfreichen Anmerkungen versehen. Ich danke ihnen ebenso wie Dan Weiss selbst, der dies alles organisiert hat. Ein besonderes Wort der Anerkennung verdient Simon Lipskar. Er stellte die einleitenden Kapitel zusammen und nahm die mühselige Arbeit auf sich, alle vier Rohfassungen für den Mann aus St. Petersburg aufmerksam durchzulesen, Wiederholungen zu streichen und einzelne Partien zusammenzufassen, wodurch der Text an Stringenz gewonnen hat. Simon Lipskar gehörte überdies auch zu den kritischen Erstlesern des Manuskripts und machte eine Reihe exzellenter Verbesserungsvorschläge, für die ich ihm ebenfalls danke. Todd Wiggins, mein derzeitiger Assistent, leistete mir einen wertvollen Dienst, indem er mein handschriftliches Gekritzel entzifferte und das gesamte Manuskript abtippte. Auch von ihm kamen etliche hervorragende Kommentare und Vorschläge. Schließlich und endlich gilt mein Dank noch Jack Heffron, meinem Lektor bei Writer´s Digest Books, der meinen Text sorgfältig bearbeitet und bis zur Drucklegung betreut hat.
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Einleitung von Ken Follett Drei Dinge braucht der Erzähler: Phantasie, eine gute Schreibe und Ausdauer. Möglich, daß Sie über alle drei Eigenschaften verfügen und trotzdem ein schlechtes Buch schreiben. Ich muß es wissen, denn ich habe mehrere geschrieben. Ich war zeitlebens ein Träumer. Meine Tagträumereien gingen bis ins Detail: Wie würde ich mich als Schiffbrüchiger auf einer einsamen Insel verhalten? Wie als Millionär? Wie als Soldat an der Front? Als ich klein war, erzählte meine Mutter mir unentwegt Geschichten. Ob ich ihre Begabung einfach geerbt habe oder ob ihre Erzählungen meine Phantasie beflügelten, weiß ich nicht. Wie dem auch sei: In der Schule fiel mir das Geschichtenerfinden ebenso leicht wie das Fußballspielen. Als meine eigenen Kinder noch klein waren, erzählte ich ihnen aus dem Stegreif phantastische Geschichten. Während wir einmal an einer Bushaltestelle standen, fragte mich mein Sohn, warum manche Busse rot, andere aber grün seien. (Damals waren alle Londoner Busse knallrot und die Überlandbusse grün.) Ich gab ihm zur Antwort: »Der Bus, auf den es ankommt, ist der blaue. Der trägt dich im Nu ans Ziel deiner Wünsche – aber er kommt nur ein einziges Mal im Leben vorbei. Wenn wir ihn erwischen, möchte ich in den Wilden Westen und Billy the Kid sehen. Wohin möchtest du?« Wenn Sie so oder so ähnlich reagieren, dann haben Sie Phantasie. Aber lassen Sie sich´s nicht zu Kopfe steigen. Bedanken Sie sich bei Ihrer Mutter. Hinzu kommt, daß sich Schriftsteller überdurchschnittlich gut ausdrücken können müssen. Den meisten Leuten fällt es recht schwer, ihre Gedanken niederzuschreiben. Briefe an Freunde oder eine Aktennotiz an die Kollegen – das geht noch. Doch bittet man sie um einen vierseitigen Artikel fürs Lokalblättchen, werden sie nervös. Mir ergeht es genauso, wenn ich gebeten werde, ein Auto zu reparieren, dessen Motor nicht anspringen will: Ich habe zwar eine ungefähre Vorstellung davon, wie man das macht, aber ich brauche einen ganzen Tag dafür, während andere das Problem in fünf Minuten lösen. Ich bin nicht in einer Familie von Automechanikern großgeworden. In meiner Familie wurde gelesen. Einen guten Stil erwirbt man sich nur durch jahrelanges Lesen und Schreiben. Die meisten Schriftsteller, die ich kenne, befassen sich gern mit kniffligen Rechtschreibungsund Grammatikfragen. Gibt es in der englischen Sprache zum Beispiel einen Bedeutungsunterschied zwischen each other und one another? Manche vertreten die Auffassung, each other solle verwendet werden, wenn zwei Personen, one another dagegen, wenn drei und mehr Personen im Spiel sind. Hält sich ein Autor nicht an diese Regel, so muß er damit rechnen, daß Verlagskorrektoren ihn verbessern. Andere Sprachautoritäten bestreiten indessen die Gültigkeit dieser Regel und behaupten, zwischen den beiden Ausdrücken bestehe kein Unterschied. Gewiß ist nur eins: Die Umgangssprache kennt keinen. Sie halten diese Frage für unerheblich? Dann wird wahrscheinlich kein professioneller Schriftsteller aus Ihnen. Wörter sind unsere Werkzeuge, und sprachliche Feinheiten sind selbst dann wichtig, wenn unsere Leser sie nicht bewußt wahrnehmen. Als ich zum erstenmal mit dieser each-other/one-another-Geschichte konfrontiert wurde, geriet ich schier in Panik, weil ich fürchtete, die beiden Ausdrücke mein Leben lang falsch angewendet zu haben. Was alle Autoren fasziniert, sind Wortwitz, Sprachspielereien, unterschiedliche Schreibweisen, regionale Dialekte, neue Wortschöpfungen, Verballhornungen usw., also alles, was mit der Sprache, in der sie schreiben, zu tun hat. Sie verhalten sich dabei ähnlich wie der Maler, der sieht, wie sich die Oberfläche seiner Objekte je nach Lichteinfall 4
verändert. Wer seine Sprache nicht liebt, wird nie ein Schriftsteller. Und schließlich brauchen Sie noch eine gehörige Portion Ausdauer. Die meisten Leute, die es sich in den Kopf gesetzt haben, einen Roman zu schreiben, bringen ihn nie zu Ende. Am Anfang hält einen die Neuartigkeit des Prozesses bei der Stange: Es ist schon etwas Besonderes, sich Personen und eine Handlung auszudenken. Doch hat man erst einmal fünfzig oder hundert Seiten geschrieben, dann wird einem irgendwann klar, daß man noch ein weiteres halbes oder ganzes Jahr daran zu arbeiten haben wird. Man denkt plötzlich an all die Filme und Fernsehsendungen, die man deswegen nicht sehen wird, an all die netten Abende in der Stammkneipe, die einem nun entgehen, an all die kleinen Reparaturen und Hausarbeiten, um die sich sonst keiner kümmert. Und wofür das alles? Für einen Roman, den aller Wahrscheinlichkeit nach nie jemand lesen will? An diesem Punkt geben die meisten auf. Einige jedoch halten durch. »Mir egal, wenn´s niemand lesen will. Was ich angefangen habe, führe ich auch zu Ende, basta.« Jeder, der über die drei erwähnten Eigenschaften verfügt, kann einen Roman schreiben. Wenn Sie allerdings einen erfolgreichen Roman schreiben wollen, dann brauchen Sie mehr. Dann brauchen Sie dieses Buch. Mein erstes Buch war kein Bestseller. Die Originalausgabe erschien als Taschenbuch, und zwar in England, den Vereinigten Staaten und in Deutschland. In den Staaten ist es immer noch erhältlich. Es heißt The Big Needle, und der einzige Grund, warum es sich noch immer verkauft, ist der, daß die Leute es mit meinem späteren Roman Die Nadel (Eye of the Needle) verwechseln. Wenn Sie das Buch lesen, dann wissen Sie, was dabei herauskommt, wenn jemand schreibt, der zwar über die genannten Eigenschaften verfügt, dem jedoch das handwerkliche Können fehlt. Al Zuckerman, der Autor des Buches, das Sie gerade in der Hand halten, hat mich auf meinem Weg von The Big Needle bis zu Eye of the Needle begleitet. Zuerst hielt ich Al für einen Besserwisser. Immer hatte er etwas an meinen Romanideen, meinen Exposés und meinen Entwürfen herumzumäkeln. In England wurden meine Bücher veröffentlicht, doch an amerikanische Verlage konnte Al nach The Big Needle nichts mehr von dem, was ich schrieb, verkaufen. Und jedesmal hatte er irgendeine dämliche Ausrede dafür. Ich schickte ihm einen Entwurf oder ein Konzept, und zurück kam eine Belehrung. Sie begann unweigerlich mit den Worten: »Dieses Buch kann ich nicht in den USA verkaufen, weil ...« Was darauf folgte, klang wie ein Kommentar zum amerikanischen Verlagswesen, war aber in Wirklichkeit eine Lektion im Schreiben von Bestsellern: Einmal fehlte eine Figur, mit der sich die Leser problemlos identifizieren konnten, ein andermal sollte ich die Handlung nicht in einem ärmlichen britischen Arbeiterviertel ansiedeln, sondern in einem Milieu, das dem Leser mehr zusagen würde. Dann wieder fehlte die große, dramatische Thematik, die den Leser von der ersten bis zur letzten Seite in ihren Bann ziehen sollte. Aber was wußte Al schon? Als Agent war er bloß ein Dünnbrettbohrer. Zwar hatte er selber zwei Romane geschrieben, doch erfolgreicher als meine waren die auch nicht. Das dumme war nur, daß ich, egal, wie dünn Als Bretter auch sein mochten, letzten Endes immer einsah, daß er recht hatte. Peu à peu nahm ich seine Ratschläge an und lernte daraus. »Die Personen deiner Geschichte haben keine Vergangenheit«, bemerkte er einmal, und von Stund an versah ich jede meiner Hauptfiguren mit einer Mutter, einem Vater, einer Kindheit, schmerzlichen Erinnerungen an die Pubertät und so weiter. Als ich meinen Entwurf für jene Geschichte zu Papier brachte, aus der später Die Säulen der Erde werden sollte, lautete sein Kommentar: »Das ist ein großer Bilderbogen über das Leben im Mittelalter, aber was ich brauche, ist eine Kette dramatischer, miteinander verwobener Schicksale.« Genau das – dramatische, miteinander verwobene Schicksale – lieferte ich ihm Jahre später, und die Leser waren begeistert. Es gibt nun sehr wenige Menschen, die solche Ratschläge erteilen können, und niemand kann 5
das so gut wie Al Zuckerman. Er hat mir nie ganz allein gehört. Doch nun, da er dieses Buch geschrieben hat, werde ich ihn wohl mit Tausenden anderer Autoren teilen müssen. Da überkommt mich, ehrlich gesagt, denn doch so etwas wie Eifersucht. Aber ich will nicht egoistisch sein. Hier ist sein Buch nun. Viel Vergnügen bei der Lektüre! Lernen Sie von Al, denn er ist der Beste seines Fachs. Und viel Glück beim Schreiben!
1 Wie man anfängt Dieses Buch ist für Schreibende gedacht – für Erzähler, die bereits einen, vielleicht auch mehrere Romane veröffentlicht haben; für Autoren, die glauben, sich lange genug mit den handwerklichen Grundvoraussetzungen des Gewerbes herumgeschlagen zu haben und sie inzwischen auch zu beherrschen, denen jedoch der Durchbruch ins Hardcover-Geschäft nicht gelingen will; für Autoren, deren Bücher von der Kritik gepriesen und sogar mit Preisen bedacht wurden, die aber trotzdem nicht von ihrer Arbeit leben können – und schließlich für Autoren, die meinen, ihre Vorschüsse und Tantiemen beliefen sich nur auf einen Bruchteil dessen, was ihnen eigentlich zustünde. Auch Anfänger und schreiberfahrene Senioren, die noch auf ihre erste Veröffentlichung warten, werden von diesem Buch profitieren. Sollten Sie zu einer dieser beiden Gruppen gehören, so bedenken Sie stets eines: Auch Rom wurde nicht an einem Tag erbaut. Ein Anfänger, der meint, er müsse sofort einen Bestseller vorlegen, läßt sich mit einem AKlassen-Fußballer vergleichen, der sich bereits für bundesligareif hält, oder mit einem Klaviereleven, der sich nach einem Jahr Unterricht berufen fühlt, mit den New Yorker Philharmonikern Beethovens 5. Klavierkonzert in Es-Dur aufzuführen. Gewiß, dergleichen kommt bisweilen vor, aber normalerweise sind die Chancen für die Veröffentlichung Ihres Erstlings günstiger, wenn Sie etwas bescheidener anfangen, vielleicht mit einem einfachen Liebes- oder Kriminalroman. Es gibt aber auch Autoren, an die sich dieses Buch nicht wendet: an Schriftsteller, die neue Wege in der Literatur einschlagen und anspruchsvolle Leser mit zeitgenössischen Äquivalenten zu Proust, Joyce, Kafka oder Faulkner betören wollen oder die sich an Erfolgen jüngerer »literarischer« Bestseller wie Das weiße Hotel, Der Name der Rose oder Obsession orientieren. Solchen Autoren wird dieses Buch keine Hilfe sein. Hier soll vielmehr untersucht und erklärt werden, was im heutigen Verlagsgewerbe als »kommerzieller Bestseller« gilt. 6
Soll ein Roman Millionen Leser auf der ganzen Welt begeistern, so muß er jene unbeschreibliche Magie besitzen, die gewisse Saiten der menschlichen Seele zum Klingen bringt. Das Wunder der göttlichen Schöpfung oder der Evolution führte zur Entstehung eines menschlichen Körpers, der aus unzähligen Einzelorganen, Drüsen, Knochen, Adern und Gewebe besteht, die alle abgehorcht, mit Ultraschall oder unter dem Mikroskop untersucht werden können. Die Wissenschaft kann jene Eigenschaften erkennen, die den Kranken vom Gesunden, den Schwachen vom Starken unterscheiden. Ähnlich verhält es sich mit der Unterhaltungsliteratur. Wer einen kritischen Blick unter die Oberfläche aus Einzelwörtern wirft, erkennt, wie ein Erfolgsroman aufgebaut ist: aus einer Vielzahl miteinander verbundener Bestandteile, die, wie bei einer Uhr, ineinandergreifen und sich gegenseitig in Bewegung halten. In den beliebtesten Romanen sind diese Bestandteile einerseits einzigartig und individuell, andererseits scheinen sie ganz bestimmten Regeln zu folgen. Wenn Sie den Ehrgeiz haben, Ihren Namen auf der Belletristik-Bestsellerliste zu sehen, so sind Sie wahrscheinlich mit den Namen jener Autoren vertraut, die sich des öfteren dort finden. Der Name Albert Zuckerman gehört nicht dazu. Wer ist das eigentlich? werden Sie sich fragen. Welche Qualifikation hat dieser Bursche? Und was gibt ihm die Berechtigung, mit einem Wissen zu prahlen, von dem viele, die erfolgreich im Verlagsgewerbe tätig sind – Autoren, Lektoren, Agenten –, offen eingestehen, daß sie es nicht besitzen? Die Antwort ist einfach: Ich habe bei über einem Dutzend von Welterfolgen gewissermaßen Hebamme gespielt – bei Büchern, die auf die Bestsellerliste der New York Times kamen, in den Buchgemeinschaften zu Hauptvorschlagsbänden avancierten, in die Auswahlliste von Reader´s Digest aufgenommen wurden, als Filmvorlagen dienten und den Stoff für Vorabendserien im Fernsehen bildeten. Ich habe die ersten unfertigen Entwürfe, den Aufbau und Umbau der Handlung (oder des »Plots«, wie man heute sagt) sowie die Entwicklung und Prägung der Charaktere und ihrer Beziehungen untereinander von der ersten Stunde an in enger Zusammenarbeit mit den jeweiligen Autorinnen und Autoren begleitet – bis hin zum Umbau von Szenen und ganzen Kapiteln, zu Ergänzungen, nochmaligem Ab- und Umschreiben und dem Feinschliff der zweiten und dritten Fassung, bis die Verlage schließlich das Endprodukt erhielten. Ken Follett nennt mich generös den »besten Lektor der Welt«. Das ist ein großes Kompliment, trifft aber möglicherweise den Falschen. Sicher bin ich mir allerdings, daß meine Arbeit mit ihm nicht unwesentlich dazu beigetragen hat, daß von seinen Büchern über fünfunddreißig Millionen Exemplare verkauft wurden. Besonders aufregend ist es für mich immer, wenn ich mit einem bislang unveröffentlichten Autor zusammenarbeiten und den Preis für sein Manuskript in astronomische Höhen treiben kann. Das erste derartige Erlebnis hatte ich 1982, als Anne Tolstoi Wallach für Women´s Work 850000 Dollar Vorschuß erhielt, damals der absolute Rekord für einen Erstlingsroman. Eileen Goudge, meine begabte Frau, setzte sich 1986, nachdem sie eine Reihe von Liebesromanen für Teenager verfaßt hatte, an einen Frauenroman, bei dem ich ihr hilfreich zur Seite stand. Im Garten der Lügen, Teil eines Vertrags über zwei Bücher, brachte ihr fast eine Million Dollar Vorschuß ein, stand neunzehn Wochen lang auf den Bestsellerlisten der New York Times (Hardcover und Taschenbuch) und wurde in sechzehn Sprachen übersetzt. Derartige Summen erhöhen den Bekanntheitsgrad eines neuen Autors und spornen die Verlage zu einem entsprechenden Werbeeinsatz an. Der Umkehrschluß, ein geringerer Vorschuß führe automatisch zu niedrigen Auflagen und baldiger Vergessenheit, wäre allerdings falsch. Der weiße Hai zum Beispiel trug seinem Autor Peter Benchley einschließlich der Filmrechte um die zehn Millionen Dollar ein, obwohl das Garantiehonorar vom Verlag Doubleday nur 7500 Dollar betrug. Mario Puzo erhielt für seinen Roman Der Pate von Putnam lediglich 5000 Dollar Vorschuß. Paramount zahlte nach Vorlage eines Exposés und von vier Kapiteln immerhin 25000 Dollar für die Option auf die Filmrechte. Ohne dieses Geld hätte Puzo es sich gar nicht leisten können, das Buch zu Ende zu schreiben. 7
Kein amerikanischer Verleger war, als ich das Exposé dazu vorlegte, bereit, Die Nadel zu kaufen. Mitte der siebziger Jahre hatte Ken Follett eine Familie mit zwei kleinen Kindern zu ernähren und lebte von der Hand in den Mund. Er schrieb wie am Fließband Romanhefte und war um jede Auftragsarbeit froh. Immerhin brachte er – wenn auch für einen Hungerlohn – Die Nadel als Originaltaschenbuch bei einem englischen Verlag unter. In den Staaten rührte sich nichts; das Exposé rief seitens der Verleger nur das große Gähnen hervor. Aber als ich im Frühjahr 1977 die Erstfassung des Manuskripts erhielt, packte es mich: Endlich ein heißer Thriller, der das Zeug hatte, ein Bestseller zu werden! Doch einen unbekannten Autor durchzusetzen ist mehr als harte Arbeit – es ist der reinste Mord. Alles hing jetzt davon ab, wie und wo das Buch publiziert wurde. Ich war damals erst drei Jahre lang als Agent tätig und hatte zwar schon eine ganze Reihe von Büchern bei Verlagen untergebracht, aber noch keines, das so erfolgversprechend war wie Die Nadel. Ich wollte mir diese Chance nicht entgehen lassen und zerbrach mir daher eine ganze Weile den Kopf über die beste Vorgehensweise. Der traditionelle Weg bestand darin, Kopien des Manuskripts an die zehn bis fünfzehn größten Verlagshäuser zu schicken und schließlich dem höchsten Bieter den Zuschlag zu erteilen. Doch darin lag auch eine gewisse Gefahr. Die Großverlage, die am ehesten bereit sind, einen saftigen Vorschuß springen zu lassen, hatten und haben in der Regel bereits bekannte Autoren unter Vertrag, deren Werken der Vorrang vor dem Buch eines unbekannten Autors eingeräumt wird. Was mir vorschwebte, war ein Verleger, der sich für Follett und seine Nadel nach allen Regeln der Kunst ins Zeug legen und das Buch zum Spitzentitel seines Programms machen würde. Arbor House war ein engagierter kleiner Verlag, der mit cleverer Werbung und guter Buchausstattung aus einer nicht eben brillanten Biographie über den Schauspieler Montgomery Clift einen mittleren Bestseller gemacht hatte. Der Verlag hatte das Manuskript, das vorher von neununddreißig anderen Verlegern abgelehnt worden war, für ganze 5000 Dollar Vorschuß von mir erworben. Was könnte dieser kleine Verlag aus einem wirklich guten Buch machen? fragte ich mich. Arbor konnte oder wollte nicht mehr als 20 000 Dollar Vorschuß zahlen. Ich erklärte Follett, daß wahrscheinlich bessere Einstiegsverträge zu haben seien, riet ihm aber dennoch zu einem Abschluß mit Arbor. Er war einverstanden. Die Nadel, deren englischer Originaltitel Storm Island lautete, erhielt für die amerikanische Ausgabe den phantasievolleren Titel Eye of the Needle, wurde sorgfältig ediert, mit einem passenden, ins Auge fallenden Schutzumschlag versehen und ebenso brillant wie phantasievoll beworben. Das Buch stand über dreißig Wochen auf der Hardcover-Bestsellerliste, erzielte allein mit der Taschenbuchausgabe 700000 Dollar, wurde alsbald verfilmt – und machte den armen jungen Autor Ken Follett quasi über Nacht zu einem reichen Mann. Aber man muß immer mit einer Ablehnung rechnen. Wappnen Sie sich dagegen. Überwinden Sie sich, bleiben Sie am Ball, lassen Sie nicht locker, bis Sie es geschafft haben. Vor der Nadel hatte Follett bereits sechs Romane geschrieben, die er in England in Kleinauflagen unter die Leute brachte, die ich in Amerika aber samt und sonders nicht hatte unterbringen können. Auch Im Garten der Lügen war keineswegs das erste Buch von Eileen Goudge: Nach Dutzenden von Zeitschriftenartikeln hatte sie bereits mehrere Romane geschrieben, bis es ihr endlich gelang, einen von ihnen unterzubringen. Er erschien als Taschenbuch und brachte ihr ganze 1500 Dollar ein. Danach schrieb sie Liebesgeschichten für Teenager, von denen sie an die zwanzig Stück verfaßte, bisweilen mit haarsträubend knappen Abgabeterminen, die ihr kaum mehr als zwei oder drei Wochen Zeit ließen. Aber dabei lernte sie das Handwerk gleichsam von der Pike auf. Nachdem sie sich auf diese Weise eine gewisse finanzielle Basis geschaffen hatte, war sie soweit, sich einen langgehegten Traum zu erfüllen und einen Roman für Erwachsene zu schreiben. Ich riet ihr, das Buch nicht auf der Basis eines Exposés und einiger Probekapitel im voraus anzubieten, sondern es erst einmal fertigzuschreiben. Eileen war damit jedoch nicht 8
einverstanden. Mit einem Vertrag in der Tasche würde sie sich finanziell und psychisch sicherer fühlen, meinte sie, und entsprechend gestärkt an die Arbeit gehen können, auch wenn sie sich mit einem Vorschuß zufriedengeben müßte, der wahrscheinlich erheblich geringer war als der, den ihr der Verkauf eines fertigen Manuskripts einbringen würde. Mit Hilfe eines ausführlichen Exposés und dreier Probekapitel – insgesamt etwa 150 Seiten – vermittelte ich ihr einen Vorschuß von 75 000 Dollar bei Atheneum, dem einzigen Verlag, dem ich das Projekt angeboten hatte. Unsere Wahl war auf Atheneum gefallen, weil damals, 1987, Susan Ginsburg dort Cheflektorin war. Eileen mochte sie, vertraute ihr und wollte gern mit ihr zusammenarbeiten. Aber mit Lektorinnen und Lektoren ist das so eine Sache – sie werden entlassen, suchen sich einen besser bezahlten Posten, machen ein Zweitstudium, wechseln den Beruf oder bleiben zu Hause und ziehen ihre Kinder groß. Ich vertrete Autoren, die zwischen Vertragsabschluß und Erscheinungstermin von bis zu fünf verschiedenen Lektoren betreut wurden. Zwei oder drei sind durchaus keine Seltenheit. Bei den Vertragsverhandlungen bestand ich daher auf der Aufnahme einer »Lektorenklausel« folgenden Inhalts: Sollte Susan Ginsburg, aus welchem Grund auch immer, zum Zeitpunkt der Manuskriptabgabe nicht mehr bei Atheneum angestellt sein, so stand es Eileen frei, die Rechte an ihrem Werk zurückzukaufen. Sie mußte dann lediglich das bereits erhaltene Geld (in diesem Fall 25000 Dollar) zurückzahlen. Prompt verließ Susan Ginsburg in dem Jahr zwischen Vertragsabschluß und der Fertigstellung des Manuskripts den Verlag. Ohne sie war Atheneum nach unserer gemeinsamen Überzeugung nicht mehr die richtige Adresse für Im Garten der Lügen, das ich für einen potentiellen Bestseller hielt. Aufgeregt rief ich die Leiterin eines großen Verlagshauses an, eine der einflußreichsten Frauen in diesem Gewerbe, und erzählte ihr, ich hätte einen tollen, fertigen Roman vorliegen. Sie bat mich, ihr das Manuskript per Boten in ihre Wohnung schicken zu lassen, was ich umgehend tat. Eine Woche später lehnte sie dankend ab. Kein Interesse. Ein wenig enttäuscht, aber immer noch begeistert von dem Buch, setzte ich mich mit dem Cheflektor eines anderen großen Verlagshauses in Verbindung, einem Mann, den ich schätze und respektiere. Wir hatten schon viele Verträge miteinander ausgehandelt, und beide Seiten waren gut damit gefahren. Auch er erklärte sich bereit, das Buch umgehend zu lesen – und lehnte es ebenso umgehend ab. Was nun? Ich verhehle nicht, daß mich ein wenig der Mut verließ. Doch harte Erfahrung hatte mich gelehrt, daß sich ein guter Agent auf sein eigenes Urteil verlassen muß und seinen Glauben an ein bestimmtes Buch nicht verlieren darf. Wenn Verleger ein Manuskript nicht ablehnen, dann versuchen sie, selbst wenn sie von dem Text begeistert sind, die Garantiesumme so weit wie möglich zu drücken. Autoren schätzen den kommerziellen Wert ihrer Werke, also die voraussichtlich verkäufliche Auflage, dagegen meist unrealistisch hoch ein. Der Agent muß einen geraden Kurs zwischen diesen beiden Polen steuern. Er darf sich weder von der einen noch von der anderen Seite aus der Bahn werfen lassen, sonst verliert er nur allzu rasch seine Position als starker, echter Interessenvertreter des Autors. Ich ließ also Im Garten der Lügen den noch verbliebenen etwa zwölf Verlagen zukommen, die regelmäßig Unterhaltungsromane für eine überwiegend weibliche Leserschaft publizieren. Über die Hälfte von ihnen lehnte das Manuskript postwendend ab. Doch zwei waren, Gott sei´s gedankt, begeistert. Sie überboten sich gegenseitig im Preis für die Rechte, was der Autorin einen hohen Vorschuß einbrachte. Der Witz bei der Sache war, daß dieses schließlich sehr erfolgreiche Buch von fast allen Verlegern nur deshalb abgelehnt wurde, weil die Autorin keinen bekannten Namen hatte. Es ist immer wieder die gleiche Geschichte: In New York City wimmelt es von Verlegern, die es bitter bereuen – und sich nur ungern daran erinnern lassen –, daß sie John Grishams Die Firma abgelehnt haben, ein Buch, das ein sensationeller Hit wurde. Auf der anderen Seite braucht ein Autor nur einen einzigen guten Verleger, der sich für sein Buch einsetzt – und 9
diese beiden Manuskripte fanden einen. Die Sachkenntnis, die mir bei der Beratung Ken Folletts, Eileen Goudges und anderer vielgelesener Autoren wie F. Paul Wilson, Olivia Goldsmith, Michael Peterson, Ridley Pearson und Robert Shea zugute kam, hatte ich mir in sechzehnjähriger Tätigkeit als Bühnenund Fernsehautor, Romanschriftsteller und Dozent erworben. 1964 wurde mir der Stanley Drama Award für das beste abendfüllende Erstlingsstück verliehen. Dutzende meiner Fernsehskripte für die Serien The Edge of Night, Love of Life und Somerset wurden verfilmt und ausgestrahlt. Zwei Romane von mir erschienen bei Doubleday and Dell, und fünf Jahre lang brachte ich als Dozent an der Yale School of Drama Studenten bei, wie man Stücke schreibt. Am meisten haben Sie von dem vorliegenden Buch, wenn Sie es in Verbindung mit anderen Büchern lesen. Je mehr aktuelle Bestseller Sie kennen, desto besser. Außerdem werden Sie bald feststellen, daß die folgenden Kapitel mit Zitaten und Beispielen aus fünf Romanen gespickt sind: Der Pate von Mario Puzo, Vom Winde verweht von Margaret Mitchell, Dornenvögel von Colleen McCullough, Der Mann aus St. Petersburg von Ken Follett und Im Garten der Lügen von Eileen Goudge. Die ersten drei sind nach meinem Dafürhalten sowohl Klassiker der modernen Unterhaltungsliteratur als auch Mega-Bestseller. Die beiden letztgenannten, ebenfalls sehr erfolgreichen Werke haben den Vorteil, daß ich, da unmittelbar beteiligt, ihre Entstehung und Entwicklung erläutern kann, ohne auf Spekulationen angewiesen zu sein. Die Kenntnis der genannten Romane kann Ihnen bei der Umsetzung der von mir geschilderten Techniken und Vorgehensweisen in Ihre eigene Arbeit behilflich sein. Sie sollten sie auf jeden Fall in Reichweite haben. Haben Sie bisher keinen dieser Romane gelesen, so schlage ich vor, daß Sie mein Buch am Ende des zweiten Kapitels erst einmal beiseite legen und sich den Mann aus St. Petersburg vornehmen. Sie kennen ihn schon? Was halten Sie von der Idee, die Erinnerung ein wenig aufzufrischen und das Buch noch einmal zu lesen? Im Anschluß an das dritte Kapitel sollten Sie sich dann mit den anderen vier Romanen befassen. Ich werde im folgenden ausführlich auf die Grundbausteine und die Funktionsmechanismen dieser fünf Bücher eingehen. Sie profitieren daher am meisten von meinem Buch, wenn Sie mit den erwähnten Romanen gut vertraut sind. Nun zu einigen Vorbehalten: Es gibt eine lautstarke Denkschule, die nach wie vor auf dem Standpunkt steht, daß das Schreiben von Romanen nicht gelehrt werden kann. Dennoch bieten die meisten Colleges und Universitäten in den Vereinigten Staaten serienweise Schreibkurse an. An manchen Instituten wird Schreiben sogar als Hauptfach gelehrt, und einige von ihnen – wie etwa die Universität lowa – haben schon Dutzende von achtbaren Autoren hervorgebracht, darunter sogar mehrere Pulitzer-Preisträger. Offensichtlich lassen sich bestimmte Grundelemente des Schreibens also sehr wohl vermitteln. Ich kann das beurteilen, weil ich selbst der Vermittler und sowohl am finanziellen als auch am emotionalen Gewinn beteiligt war. Doch ebenso, wie aus einem Gehörlosen nur schwerlich ein Musiker wird, gibt es hochbegabte Leute, die sich noch so viel Mühe geben können und doch niemals Romanautoren werden. Es gibt eben auch einige entscheidende Aspekte der Schreibkunst und des Schreibhandwerks, die extrem schwierig zu vermitteln und zu erlernen sind. Vergessen Sie nie, daß das Schreibenlernen ein fortlaufender Prozeß ist. Es bedarf dazu einer Menge Zeit und unendlichen Fleißes. Ebenso, wie man nach ein paar Monaten Violinunterricht noch kein Konzertgeiger sein kann, verhält es sich mit dem Schreiben von Romanen: Wenn die Schriftstellerleidenschaft in Ihnen brennt, müssen Sie sich auf lange Lehrjahre einstellen, in denen Sie Ihre Fehler erkennen und vermeiden lernen und sich selbst beweisen können, daß Sie über die notwendigen Fähigkeiten verfügen. Die besten Schriftsteller verfügen über eine Eigenart, die ich für weitgehend angeboren halte, die sich einige Autoren aber auch über einen längeren Zeitraum hinweg erworben haben. Ich meine das, was die Verleger und Kritiker als den »eigenen Ton« eines Autors bezeichnen. J. 10
D. Salingers Der Fänger im Roggen hat Zeile für Zeile einen anderen Klang als die Texte aller anderen Autoren. Stephen Kings Ruf scheint dagegen bei all jenen, die seine Bücher nicht kennen, vor allem auf den bizarren und übersinnlichen Plots zu beruhen. Tatsächlich besitzt er aber auch ein feines Gehör für die Kadenzen und Nuancen der Idiome amerikanischer Kleinstädter und versteht es wie kein anderer, deren grobe und feinere Töne und Rhythmen wiederzugeben. Seine Kunstfertigkeit erinnert mich an Mozart oder van Gogh. Der Stil von Susan Isaacs´ In heikler Lage ist von beißendem Witz durchdrungen, einer typischen New Yorker Schlagfertigkeit, die zu ihrem Markenzeichen geworden ist. Andere bekannte Romanschriftsteller, deren persönlicher Stil schon nach einer Seite oder bereits nach wenigen Zeilen erkennbar ist, sind Tom Wolfe, Anne Tyler, Pat Conroy und Norman Mailer, um nur einige zu nennen. Die Liste könnte endlos fortgesetzt werden. Wenn Sie das vorliegende Buch aufmerksam durcharbeiten, werden Sie eine Menge darüber erfahren, wie Bestseller konstruiert sind. Doch der Ton, Ihr eigener Stil, muß, sofern Sie ihn nicht bereits gefunden haben, Ihrem ureigenen, persönlichen Sprachgefühl entspringen, Ihrem ureigenen, persönlichen und stets ein wenig schiefen Weltbild, den Rhythmen, Tönen und Nuancen, die Sie wahrnehmen und im Geiste zu Dialogen verarbeiten. Aber lassen Sie sich darüber keine grauen Haare wachsen: Ein unverwechselbarer persönlicher Stil ist zwar für literarische Texte sehr wichtig, ja oftmals sogar entscheidend, für Bestsellerromane jedoch keineswegs von gleicher Bedeutung. Im Gegenteil. Eine Vielzahl von Erfolgsromanen wurde in einem Stil verfaßt, der sich kaum einem bestimmten Autor zuordnen läßt und keinesfalls als einzigartig bezeichnet werden kann. Spitzenautoren besitzen ein weiteres Talent, das eher angeboren denn erworben ist: den instinktiven Blick fürs Detail. Beileibe nicht für alle Details – nur für die wichtigsten und aussagekräftigsten. Große Erzähler verfügen über eine Genauigkeit der Wahrnehmung, die ebenso scharf ist wie die eines visuellen Künstlers, und sie können aus Worten Musik machen. Das schlägt sich nicht nur in ihren Dialogen nieder, sondern auch in der Schilderung der Gedanken und Gefühle ihrer Charaktere, in der Beschreibung von Vorstellungen, Geräuschen und Gerüchen, sensuellen Empfindungen und inneren Reaktionen. Manche Menschen kommen mit einem literarischen Adlerauge und dem absoluten Sprachgefühl auf die Welt. Einige wenige sind imstande, sich diese Eigenschaften anzutrainieren und weiterzuentwickeln. Andere schaffen es nie. Einem gefühlskalten Menschen, einem in der Wolle gefärbten Zyniker, einem Misanthropen oder Frauenfeind, kurzum, jedem Mann oder jeder Frau, die für keinen einzigen Mitmenschen eine tiefe Liebe oder Bewunderung empfinden, wird es sehr schwerfallen, wenn nicht gar unmöglich sein, Charaktere mit innigen zwischenmenschlichen Beziehungen zu erfinden. Der Leser aber erwärmt sich nur für solche Charaktere. Und wenn ein Roman berühmt werden und die Zeit überdauern soll, dann ist er auf unsere, der Leser, Gunst angewiesen. Noch Jahre, nachdem die vielfältigen Irrungen und Wirrungen einer so herrlichen Geschichte wie Vom Winde verweht in unserer Erinnerung verblaßt sind, wissen wir, wer Scarlett O´Hara war, und entsinnen uns ihrer unstillbaren Leidenschaft. Anton Tschechow schrieb Novellen, Romane und vier große Bühnenstücke: Die Möwe, Drei Schwestern, Onkel Wanja und Der Kirschgarten. Großfamilien aus Müttern, Schwestern, Tanten, Kusinen und Schwägerinnen bevölkern diese Stücke – doch in keinem einzigen kommt ein Vater vor. Tschechow, der seinen eigenen Vater haßte, erkannte, daß er eine Vaterfigur nicht sympathisch gestalten konnte, und entschied sich dafür, sie einfach wegzulassen. Energie, Willensstärke und Mut sind ebenfalls Eigenschaften, die einem Romanautor nicht beigebracht werden können. Wer immer sich einbildet, das Schreiben sei der bequemste Weg zum schnellen Geld, irrt sich gewaltig. Ohne Durchhaltevermögen und Entschlossenheit geht überhaupt nichts. Nicht ein einzelner Berg will erklommen werden, sondern Gipfel um Gipfel, einer steiler als der andere, eine ganze Bergkette. Nur mit solch sturer Hartnäckigkeit läßt sich ein Bestsellerroman vollenden. Ein Autor, dem es nicht gelingt, ein fertiges Rohmanuskript 11
von fünf- oder achthundert Seiten beiseite zu legen und nochmals bei Seite eins anzufangen, der nicht bereit ist, ganze Szenen und Kapitel zu streichen, Beziehungen, Personen und Schauplätze zu ändern oder farbiger zu gestalten sowie Konflikte und Höhepunkte dramatisch zuzuspitzen, der schafft es wahrscheinlich auch nicht, jenen Spannungsbogen zu erreichen, der in den meisten Bestsellern von der ersten bis zur letzten Seite durchgehalten wird. Auch Autoren, die zäh an ihren eigenen Handlungsvorgaben festhalten, die sich von Erstentwürfen, exzentrischen Figuren, Lieblingsszenen, Bonmots usw. nicht trennen können, wird nur selten der Aufstieg in die Bestsellerränge gelingen. Fast alle Erfolgsautoren sind für die konstruktive Kritik von Lektoren, Agenten und Kollegen ihres Vertrauens stets offen und dankbar. Die Entscheidung aber, welchen Vorschlägen zu folgen ist und welche besser zurückgewiesen werden sollten, erfordert einen kritischen Geist und Fingerspitzengefühl. Gleichzeitig muß der Autor sein eigener schärfster Kritiker sein, rücksichtslos die eigenen Texte analysieren und ständig versuchen, sie zu verbessern. Ein letztes und – zumindest in einem Buch wie dem vorliegenden – nicht zu vermittelndes Element aus dem Werkzeugkasten des erfolgreichen Romanciers ist Kultur, das heißt, eine fundierte Allgemeinbildung und reiche Lebenserfahrung auf den verschiedensten Gebieten. Ein Autor, der mit den Werken von Platon, Shakespeare, Tolstoj, Dostojewski, Proust und Hemingway – um nur einige wenige zu nennen – vertraut ist, kann auf einen ungeheuren Schatz an Plots, dramatischen Situationen, Charakterisierungen, Einblicken in die menschliche Natur, auf glänzende Metaphern und andere sprachliche Glanzlichter zurückgreifen. Historisches und politisches Wissen, Vertrautheit mit den Sitten und Gebräuchen der Reichen und Berühmten, der Gangster, Sportler und Cowboys; Kenntnisse über Hotels, Restaurants, Geschäfte und Clubs der großen Weltstädte, über die internen Strukturen von Großkonzernen, Krankenhäusern, Anwaltskanzleien, Behörden, militärischen Einrichtungen und High-TechWaffensystemen versetzen den Autor in die Lage, einen in sich stimmigen Hintergrund aus belegbaren Fakten zu erschaffen, der wesentlich dazu beitragen kann, das Mißtrauen des Lesers zu zerstreuen und einer Phantasiewelt Authentizität zu verleihen. Im Mittelpunkt eines jeden Romans jedoch stehen die Gefühle. Die Lebensader des Schriftstellers – der Quell seiner Inspiration, wenn Sie so wollen – sind die Empfindungen, Passionen, Leiden und Freuden, die er selbst erlebt hat und die er durch seine Romanpersonen lebendig werden läßt. Bonjour, tristesse ist vermutlich der bekannteste Roman für junge Erwachsene in diesem Jahrhundert. Als Françoise Sagan ihn schrieb, war sie selbst noch ein Teenager. Mit feinem Gespür schilderte sie die Ängste, Nöte und die Zärtlichkeit dieses schwierigen Lebensabschnitts. Hätte sie in diesem jugendlichen Alter allerdings die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind oder die Empfindungen eines Mannes gegenüber seiner sterbenden Frau einfangen wollen, wäre sie wahrscheinlich weniger gut gefahren. In Ken Folletts Die Säulen der Erde besteht eine sehr schöne Nebenhandlung in der Schilderung der Eifersüchteleien und Konflikte in der Familie eines neuvermählten Paares. Beide Partner haben Kinder aus einer früheren Verbindung mit in die Ehe gebracht. In den sechs früheren Bestsellern Folletts findet sich solch ein Element nicht. Doch als er Die Säulen der Erde schrieb, war er, selbst Vater von zwei Kindern, bereits seit einiger Zeit in zweiter Ehe mit einer Mutter von drei Kindern verheiratet. Ich bin sicher, daß er sich nie bewußt vorgenommen hat, diesen Aspekt seiner persönlichen Lebenserfahrung in den Roman einfließen zu lassen. Doch die tägliche Konfrontation mit familiären Spannungen und Konflikten dieser Art führte dazu, daß sie buchstäblich zu einem Teil von ihm selbst wurden. Und genau durch diese Verinnerlichung verwandeln sich Alltagsgefühle zur unbewußten Quelle, aus der jeder Romanautor schöpfen muß. Vereinfacht läßt sich sagen, daß Frauen im allgemeinen Geburtswehen besser schildern können als Männer, während männliche Autoren sich besser auf Kriegs- und Schlachtenszenen verstehen. Und die gleichzeitige Darstellung sowohl von Erwachsenen als auch von Jugendlichen gelingt meistens den Autoren am besten, die die Vierzig bereits überschritten 12
haben. Ich habe Sie nun auf einige Faktoren hingewiesen – mögen sie nun auf Sie persönlich zutreffen oder nicht – sowie verschiedene Aspekte des Schriftstellerhandwerks angesprochen, von denen ich glaube, daß sie weder problemlos vermittelbar noch über Nacht erlernbar sind. Entmutigen lassen sollten Sie sich davon nicht. Die meisten unter Ihnen, die dieses Buch zur Hand nehmen, besitzen wahrscheinlich bereits einige der genannten Eigenschaften, wenn nicht schon alle. Und wenn dem nicht so ist: Wer oder was sollte Sie daran hindern, sie sich Schritt für Schritt anzueignen? Aber unabhängig davon, wie weit Sie in Ihrer schriftstellerischen Entwicklung fortgeschritten sind: Die Techniken und Ansätze, die ich in den folgenden Kapiteln beschreibe, werden Ihnen in jedem Fall von Nutzen sein.
2 Was ist ein »großer Wurf«? Was stimmt denn bloß nicht mit meinem Buch?« pflegt mich hier und da ein verzweifelter Autor anzuraunzen. »Wenn mich der blöde Verleger doch bloß auf Lesetour in ein paar Großstädte schicken und ein paar ordentliche Anzeigen schalten würde, dann ginge es bestimmt weg wie warme Semmeln. Sehen Sie sich doch mal diese Kritiken an! ›Der beste Krimi, den ich in diesem Jahr gelesen habe.‹ Oder hier: ›Erinnert mich stark an John D. MacDonald zu seinen besten Zeiten ...‹ Und hier: ›... ein überzeugendes Ende, Nervenkitzel bis zum Schluß.‹« Meine Antwort in solchen Fällen lautet dann ungefähr so: »Immer mit der Ruhe. Ihr Buch ist vollkommen in Ordnung. Es ist wirklich ein schönes, ausgereiftes Werk. Nur vom verlegerischen Standpunkt aus gesehen ist es kein Erfolgsbuch.« »Erfolgsbuch, Erfolgsbuch, was soll das heißen? Ein gutes Buch ist ein gutes Buch, basta! Das sollte doch wohl reichen!« Autoren müssen leider immer wieder erleben, daß ein Buch, auch wenn es wirklich gut ist und von der Kritik und urteilsfähigen Lesern gelobt wird, deshalb noch keineswegs auch beim breiten Publikum ankommt. Selbst von einem Roman, der mit dem National Book Award oder dem Pulitzerpreis ausgezeichnet wurde, lassen sich mitunter nur ein paar tausend Exemplare verkaufen. Die Verlage mit ihren vielen Managern, Lektoren, Vertriebs- und Werbeleuten, Herstellern, Lagerarbeitern und Buchhaltern haben enorme Fixkosten. Wenn sie nicht jedes Jahr mindestens zwei oder drei ihrer Titel in Auflagen von mehreren Hunderttausend verkaufen, können sie sich keine Neuerscheinungen mehr leisten und sind bald weg vom Fenster. Nicht selten reagieren Schriftsteller, die sich durch jahrelange harte Arbeit einen guten literarischen Ruf erworben haben, mit Verachtung oder gar Wut, wenn sie erfahren, daß ein junger Autor für seinen Erstlingsroman eine halbe Million Dollar Vorschuß erhält. Oder daß ein anderer, dessen Name für eine bestimmte Masche bürgt, die Dollars gleich millionenweise scheffelt. Die meisten Autoren halten Verleger grundsätzlich für ausgemachte Geizkragen. Tatsächlich aber fühlen sich Verleger oft wohler und glücklicher mit einem Vertrag über eine Garantiesumme von einer Million Dollar als mit einem über zehntausend Dollar. Denn für die siebenstellige Summe erwerben sie aller Voraussicht nach ein Buch, dessen Autor in TalkShows interviewt wird, das der Buchhandel in seinen Schaufenstern ausstellt, das stapelweise in Supermärkten, Warenhäusern und Flughafenkiosken verkauft wird, um das sich die Filmund Fernsehproduzenten reißen und das trotz der enormen Konkurrenz durch Film, 13
Fernsehen, Sport und andere Freizeitangebote den Durchbruch schafft und ins Bewußtsein einer breiten Öffentlichkeit dringt. Solch ein Buch ist ein Erfolgsbuch, ein »großer Wurf«. Lektoren und Verleger sind unentwegt auf der Suche nach Manuskripten, Ideen und natürlich auch nach Autoren mit einem entsprechenden Potential und liefern sich dabei erbarmungslose Konkurrenzkämpfe. Aber woraus genau besteht dieses Potential? Ich werde versuchen, in diesem Kapitel die wichtigsten Merkmale des »großen Wurfs« herauszuarbeiten. Auf Detailfragen gehe ich in späteren Kapiteln ein. Es geht ums Ganze Das erste, was an einem großen Roman auffällt, ist, daß es ums Ganze geht – für eine Person, eine Familie, mitunter für ein ganzes Volk. Gewöhnlich steht das Leben zumindest einer Hauptperson auf dem Spiel. Dabei steht das gefährdete Individuum in dieser Art von Büchern niemals nur für sich allein, sondern es vertritt eine Gemeinde, eine Stadt oder ein ganzes Land. Felix im Mann aus St. Petersburg ist Jäger und Gejagter zugleich. Hat er, in seiner Eigenschaft als Jäger, mit seinen Attentatsplänen Erfolg, dann verhindert er mit diesem Mord an einem einzelnen eine russisch-englische Allianz gegen Deutschland und erspart damit Millionen seiner jungen Landsleute den Tod auf den Schlachtfeldern eines wahnsinnigen Krieges. Für Lord Walden und die britischen Agenten, die Felix auf der Spur sind, geht es ebenfalls ums Ganze: Gelingt es ihnen, die Ermordung des bedrohten russischen Fürsten zu verhindern, so retten sie nicht nur ein einzelnes Menschenleben, sondern, weil dann die Allianz mit dem Zaren erhalten bleibt, zugleich ihr geliebtes England vor einer schmählichen Niederlage gegen das wilhelminische Deutschland. In vielen großen Frauenromanen geht es dagegen nicht um Leben und Tod, sondern um persönliche Erfüllung – man denke nur an Scarlett in Vom Winde verweht oder an Meggie in Dornenvögel. Der Kern der Geschichte – die Erfüllung oder Nichterfüllung einer Liebe – kommt einem an sich banal und alltäglich vor, doch verstehen die Autorinnen Sehnsucht, Lust und Leidenschaft ihrer Heldinnen mit solch vehementer, eindringlicher Intensität darzustellen, daß ihr Schicksal die Leser ebenso bewegt wie Chaos, Mordbrennerei oder nationale Katastrophen. Ausnahmeerscheinungen Ein zweites Hauptcharakteristikum des Mega-Bestsellers sind Ausnahmecharaktere, »überlebensgroße Gestalten« oder »larger-than-life characters«, wie es im Englischen heißt. Romangestalten definieren sich, wie im richtigen Leben, durch das, was sie tun, und in großen Romanen tun die Hauptpersonen ganz außergewöhnliche Dinge. Im Paten läßt Don Corleone wissen, daß er für seinen Patensohn die Hauptrolle in einem großen Hollywood-Film beansprucht. Der Studioboß, wütend über die damit verbundene subtile Drohung, lehnt das Ansinnen ab. Um seine Macht zu demonstrieren und zu zeigen, daß er es ernst meint, läßt der Don daraufhin den kostbarsten Besitz des Mannes, ein sündhaft teures Vollblut-Rennpferd, schlachten und den abgeschlagenen Kopf des Tieres aufs Bett des Filmmoguls legen. Puzo stellt Corleone als Menschen außerhalb der Gesetze, als selbsternannten Regenten einer eigenständigen Nation dar, der mit praktisch unbegrenzter Macht über Verwandte, Gefolgsleute, Angestellte und ein riesiges illegales Geschäftsimperium herrscht. In den Anfangskapiteln von Vom Winde verweht wird Scarlett als eigenwillige, launische, unerträglich kokette und selbstsüchtige Göre gezeichnet. Doch als sich später im Roman das Kriegsglück gegen die Konföderierten wendet und Atlanta sich während der Eroberung durch feindliche Unionstruppen in ein brüllendes, flammendes Inferno verwandelt, da ist es Scarlett, die ohne jede Vorkenntnis und Erfahrung Melanie von ihrem Baby entbindet. Dann wagt sie sich in die von Bombenhagel und Kanonenschüssen erfüllte Nacht hinaus, um ohne jeden Schutz, begleitet allein von der bewußtlosen Melanie mit ihrem Neugeborenen und der in Panik verfallenen Prissy, zu fliehen. Auf Tara findet sie trostlose Zustände vor: Die Mutter ist tot, der Vater im Begriff, den 14
Verstand zu verlieren, die Schwestern kränkeln, die Plantage ist verwüstet. Es gibt weder Geld noch Lebensmittel. In dieser Situation bringt Scarlett, die in ihrem bisherigen Leben nie auch nur einen Handschlag getan hat, die Kraft und den Mut auf, die Äcker zu pflügen, die rebellierende Dienerschaft zur Ordnung zu rufen und sogar ihre Schwestern zur Mitarbeit zu bewegen. Als sich dann ein marodierender Yankee-Soldat ins Haus schleicht, ist die entsetzte junge Frau, die bisher nie das schrille Quieken der Schweine beim Schlachten ertragen konnte, so geistesgegenwärtig, sich davonzustehlen, um sich eine Pistole zu besorgen und den Dieb zu erschießen. Als ihr geliebtes Tara wegen Steuerschulden zur Versteigerung ansteht, sieht sie nur eine Rettung: Sie muß Rhett Butler dazu bringen, daß er sie heiratet. Aber sie wird nicht wie eine Bettlerin vor ihn treten, o nein! Trotz Mammys wütender Proteste schneidet sie die Samtvorhänge ihrer Mutter entzwei, um sich daraus ein neues Kleid nähen zu lassen und Rhett Butler gegenüber wie eine Königin auftreten zu können, die ihm eine Gunst gewährt. Die dramatische Frage Die Plots großer Romane wirken auf den ersten Blick oft hoch kompliziert. Eine detaillierte Übersicht über die verschiedenen Handlungsstränge in Vom Winde verweht wäre lang und verwickelt. Bei näherer Betrachtung entdeckt man allerdings, daß der Hauptstrang des Buches – der zentrale Konflikt der Handlung, der alle Hauptpersonen und ihre Beziehungen untereinander steuert sowie die vielen, vielen Szenen vorantreibt und miteinander verknüpft – denkbar einfach und klar umrissen ist. Dieser Hauptstrang des Romans ist der Spannungsfaktor, den ich die »dramatische Frage« nenne. In Vom Winde verweht gibt es gleich drei solcher Fragen: Wird Scarlett Ashley dazu bewegen können, ihre Liebe zu erwidern? Und später, als feststeht, daß Ashley gar nicht der Richtige für sie ist: Wird sie erkennen, daß sie in Wirklichkeit Rhett liebt? Und wird es Rhett gelingen, ihre Liebe zu gewinnen? In einem Thriller ist die dramatische Frage in ihrer Eigenschaft als organisatorisches Grundelement noch deutlicher erkennbar als in breitangelegten Werken wie Vom Winde verweht oder Der Pate. In Ken Folletts Die Nadel lautet sie: Wird es der Nadel gelingen, mit den geheimen Invasionsplänen der Alliierten nach Deutschland zu entkommen? Oder ist der britische Geheimdienst schneller? Frederick Forsyths berühmtestes Buch Der Schakal dreht sich um einen Attentatsversuch auf Charles de Gaulle. Hier lautet die dramatische Frage ganz einfach: Gelingt dem Schakal der Mord am französischen Staatspräsidenten oder wird ihm der Polizei-Inspektor, der ihm hart auf den Fersen ist, noch rechtzeitig einen Strich durch die Rechnung machen? Nicht nur große Romane, sondern auch Genrebücher wie Krimis und Liebesromane bauen auf unkomplizierten dramatischen Fragen auf: Kann der Detektiv den Mörder fangen? Werden die Heldin und der Mann ihrer Träume am Ende zueinanderfinden? Diesen Büchern fehlen zwar die anderen Qualitäten eines großen Wurfs, doch sind Autorinnen und Autoren wie Danielle Steele, Dick Francis oder Tony Hillerman, die sich zunächst auf dem Taschenbuchmarkt etablierten und deren Popularität mit jedem Buch wuchs, lebende Beweise dafür, daß es noch andere Wege zum schriftstellerischen Ruhm gibt als den »großen Wurf«. Anspruchsvolle Konzeption Verbinden Sie eine »anspruchsvolle Konzeption« mit einer starken dramatischen Frage, dann erhöht sich Ihre Chance, einen großen Wurf zu landen. Unter »anspruchsvoller Konzeption« versteht man im wesentlichen eine extreme oder sogar leicht abwegige Ausgangssituation. Nehmen Sie eine nach außen hin hochrespektable Anwaltskanzlei, die insgeheim als Geldwaschanlage der Mafia füngiert. Ein junger Rechtsanwalt möchte sich aus der Verstrickung lösen. Wird ihm das gelingen, obwohl die Killer der Mafia jeden Anwalt umbringen, der auch nur davon spricht, eventuell aus der Kanzlei ausscheiden zu wollen? Hier haben Sie, in drei Sätzen, die dramatische Frage und die anspruchsvolle Konzeption von John Grishams Roman Die Firma. 15
In Olivia Goldsmiths Der Club der Teufelinnen werden drei Frauen mittleren Alters von ihren Ehemännern – gefühllosen Multimillionären, die sich allesamt jüngere Frauen zulegen – abserviert. Die schäbig behandelten Ex-Frauen werden geradezu provoziert, Rachepläne zu schmieden. Die Frage ist, ob sie sie tatsächlich ausführen können. Der Spannungsfaktor, der die drei Schicksale verbindet, springt sofort ins Auge. Wichtiger ist jedoch der ungewöhnliche Plot und seine Aktualität. Das Thema trifft den Nerv der Zeit. Da es für große Bosse und Tycoons heutzutage schon fast zur Routine gehört, sich mit jungen Schönheiten wie mit Trophäen zu schmücken, kann es kaum verwundern, daß Sherry Lansing, 1991 Produzentin bei Paramount, von diesem Stoff höchst angetan war und sich, noch ehe ich das Buch beim Verlag Poseidon/Simon & Schuster unterbringen konnte, für eine erkleckliche Summe die Filmrechte sicherte. Auch Im Garten der Lügen baut auf einer anspruchsvollen Konzeption auf. Mehreren Verlagen, denen ich das Manuskript anbot, erschien sie zu weit hergeholt. Sylvie, ein armes Mädchen, das einen reichen Mann geheiratet hat, bringt, während ihr Mann auf Geschäftsreise ist, ein Kind zur Welt. Die dunkle Haut- und Haarfarbe des Säuglings verrät nur allzu deutlich, daß Sylvies griechischer Liebhaber der Vater ist, nicht ihr hellhäutiger Mann, der ohnehin schon argwöhnt, daß sie ein Verhältnis mit dem Griechen hat. Noch in der Nacht der Geburt bricht ein Feuer in der Klinik aus. Sylvie rettet in dem darauffolgenden Durcheinander ein blondes Baby, dessen Mutter in den Flammen umkommt. Die Nonnen merken nichts von der Verwechslung. Um ihre Ehe zu retten, beschließt Sylvie, das blonde Mädchen zu behalten und ihr eigenes Baby einem ungewissen Schicksal zu überlassen. Ähnlich weit hergeholt und mit unwahrscheinlichen Zufällen überfrachtet wirkt im folgenden die Geschichte der ausgetauschten Kinder. Sylvies leibliche Tochter Rose, die eigentlich in eine reiche jüdische Familie hineingeboren wurde, wächst in Armut auf, ohne Eltern, aber mit zwei Schwestern, und wird von einer grausamen, fanatisch katholischen Großmutter erzogen. Rachel dagegen, das geraubte Kind, wächst in dem luxuriösen jüdischen Haushalt heran und wird Ärztin. Im Vietnamkrieg rettet sie einem jungen Mann das Leben, den sie später auch heiratet. Es ist niemand anderes als Roses über alles geliebter Verlobter. Später wird Rose, was noch unwahrscheinlicher klingt, Rechtsanwältin und verteidigt Rachel in einem dramatischen Kunstfehlerprozeß. Der springende Punkt dabei ist, daß Erfolgsromane auf hochdramatischen Ausgangssituationen aufbauen müssen und daß bizarre, unerwartete Wendungen des Handlungsverlaufs gefordert sind, die zu immer neuen, ausgeprägten Konflikten führen. Im realen Leben jagen sich die Ereignisse natürlich nicht mit so krasser und doch wohlgeordneter Unwahrscheinlichkeit. Oder kennt jemand etwa einen jungen Mann, der bei seiner Rückkehr vom Studium feststellen muß, daß sein Onkel seinen Vater umgebracht und seine Mutter geheiratet hat? Doch Shakespeares Charakterstudien, seine subtile Kenntnis familiärer Beziehungsgeflechte, sein Wissen um junge Liebe, politische Machtkämpfe und Theatertraditionen, verbunden mit seiner magischen Sprache, kurzum die Gesamtheit seiner literarischen Fähigkeiten bewirkt, daß wir bereitwillig an Hamlet und das Dilemma, in dem er steckt, glauben. Eileen Goudge macht auf ihre Weise dasselbe mit den beiden vertauschten Kindern, die sich immer wieder zufällig über den Weg laufen. Kein anderer Autor verkauft so viele Bücher wie Stephen King, und keiner kommt auf so ausgefallene Plots wie er. Doch seine besondere Qualifikation, ja seine Genialität liegt – und dies hat er mit den meisten Spitzenautoren der Unterhaltungsbranche gemeinsam – zum einen in der lebendigen Umsetzung von Alltagsdialogen und –details und zum anderen in der Handlung, die auf einem derart hohen Spannungsniveau durchkomponiert ist, daß wir Leser, trotz der eingeflochtenen Fantasy-Elemente, ohne weiteres bereit sind, unsere Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Geschehens zurückzustellen. Unterschiedliche Perspektiven Eine weitere wichtige Komponente des Erfolgsromans besteht darin, daß der Leser mit mehr 16
als einer der handelnden Personen mitfühlen kann. Die Geschichte wird meist nicht von einem allwissenden Autor oder von einer Romanfigur in der Ichform erzählt. Sie basiert vielmehr auf der Schilderung der Gefühle, Gedanken und Empfindungen einiger weniger Hauptfiguren. Nicht die unbeteiligte Stimme des Erzählers macht uns mit der Szenerie und einzelnen Details vertraut, sondern wir erleben die für diesen Roman erschaffene Welt mit den Sinnen der handelnden Personen. Ihre Gefühle und Emotionen sind das bisweilen etwas verzerrte, aber immer sehr bunte Licht, in dem wir sie und die anderen Romancharaktere sehen. Ein gutes Beispiel dafür bietet Ken Folletts Roman Der Mann aus St. Petersburg. Jedes Kapitel ist entweder zur Gänze oder zu einem wesentlichen Teil aus der Perspektive einer der vier Hauptpersonen erzählt. Folletts Handlung hält ihre Spannung, weil wir jede Szene aus der Sicht desjenigen Charakters erleben, der in der betreffenden Situation emotional am stärksten beteiligt ist oder der am meisten zu verlieren hat. Als Felix quer durch London verfolgt wird und entsetzliche Angst vor seiner Gefangennahme hat, erleben wir seine wilde Flucht aus seiner Perspektive mit, und nicht etwa aus der seines Verfolgers. Daß sich die Romanhandlung aus der Darstellung der innersten Gefühle, Hoffnungen und Sehnsüchte von zwei Männern und zwei Frauen entwickelt, die sich durch Alter, Herkunft und Nationalität stark voneinander unterscheiden, verleiht diesem Buch eine psychologische Komplexität, Tiefe und Farbigkeit, die ein Detektiv- oder Liebesroman, der aus der Perspektive einer einzigen Person erzählt wird, nicht bieten kann. Beim Mann aus St. Petersburg hat man manchmal fast das Gefühl, Ken Follett habe vier separate Romane geschrieben, die in dramatischen Schlüsselszenen immer wieder aufeinandertreffen. Der szenische Hintergrund Die letzte Komponente eines großen Wurfs, auf die ich hier eingehen will, ist der szenische Hintergrund. Leser von Unterhaltungsliteratur versetzen sich gern in die Gedanken, Gefühle und wechselvollen Lebensumstände fiktiver Charaktere und lassen sich mit Vergnügen in ein neues, ungewohntes, ja exotisches Ambiente entführen. Arthur Haileys Romane Hotel und Airport sind mit zahlreichen Interna aus dem Betrieb eines großen Hotels bzw. eines Großflughafens durchsetzt. Viele von uns benutzen diese Einrichtungen mehr oder minder regelmäßig, doch über das, was hinter den Kulissen vor sich geht, über die Alltagsprobleme und technischen Raffinessen, wissen wir so gut wie nichts. Verbunden mit einer spannenden Geschichte, können geballte Informationen dieser Art durchaus lehrreich sein – und Leser sind im großen und ganzen Menschen, die gern noch etwas dazulernen. Ein Beispiel jüngeren Datums ist Tom Clancys Thriller Jagd auf Roter Oktober. Das Buch enthält wahrscheinlich mehr technische Einzelheiten über U-Boote und Untersee-Kriegführung als manches Fachbuch der Marine-Akademie. James Michener verdankt seine enorme Popularität der Tatsache, daß es ihm gelungen ist, seine schriftstellerischen Fähigkeiten mit einer geschickten Verwendung historischer Details zu verbinden. Große Romanwerke wie Hawaii, Die Bucht und Mazurka entstanden aus der Verknüpfung einer fiktiven Handlung mit dramatischen geschichtlichen Ereignissen und Schilderungen von Verhaltens- und Denkweisen, von Menschen und Landschaften. Einem Autor, der sich heute in den Kopf setzt, einen Superbestseller zu schreiben, würde ich allerdings nicht unbedingt empfehlen, einen historischen Hintergrund zu wählen. Ein etablierter Autor kann sich das schon eher mal leisten – so wie es Ken Follett mit seiner Mittelaltersaga Die Säulen der Erde getan hat. Doch generell machen die amerikanischen Buchgemeinschaften heutzutage nur relativ selten historische Romane zu Hauptvorschlagsbänden. Und die Buchgemeinschaften sind es, die den Geschmack jener Leserschaft widerspiegeln, die Hardcover-Romane kauft. Es ist eine gutsituierte Leserschaft – was bei Hardcover-Preisen zwischen 38 und 58 Mark nicht überrascht –, die insgesamt aber nur drei Prozent der amerikanischen Bevölkerung umfaßt. Und unter den Leserinnen und Lesern dieser Zielgruppe gibt es eine deutliche Vorliebe für Romane, die in der Welt der 17
Reichen und Mächtigen spielen. Romane über Sträflinge, Kleinbauern, Fabrikarbeiter, Sozialhilfeempfänger, ja sogar über »Durchschnittsfamilien« aus der Mittelklasse, werden dagegen eher abgelehnt. Eine abschließende Einschränkung Bevor wir uns nun endgültig in medias res begeben und auf die Techniken und Arbeitsmethoden des Schriftstellers zu sprechen kommen, eine abschließende Einschränkung: Die Belletristik ist eine Kunst, und Kunst ist keine Mathematik. Ich kann und werde zwar recht ausführlich auf die Komponenten, Techniken und Strukturen eingehen, die den meisten großen Bestsellern zugrunde liegen. Doch letzten Endes folgt die Kunstform Roman keinen festen Regeln. Ist ein Autor so brillant, daß sein Buch das gewisse Etwas besitzt, dann kann er sogar auf das eine oder andere wichtige Element verzichten, das nach landläufiger Meinung für einen Bestseller unerläßlich ist, und der Erfolg wird trotzdem nicht ausbleiben. Daß der eine oder andere von mir für sehr wichtig gehaltene Bestseller-Baustein in diesem oder jenem großen Erfolgsroman fehlt, wird Ihnen bald selber auffallen. Sie brauchen nur in Ihren Lieblingsromanen nachzusehen: Dort werden Sie immer wieder Beispiele dafür finden, daß sich der Autor oder die Autorin nicht an eine der von mir empfohlenen Richtlinien gehalten hat. So schlage ich, wie im sechsten Kapitel ausführlich begründet, zum Beispiel vor, mehrere Hauptpersonen mit unterschiedlichen Standpunkten einzuführen, und zwar mindestens drei. Dennoch sind zwei der schönsten und erfolgreichsten Bücher der vergangenen Jahre – Scott Turows Aus Mangel an Beweisen und Die Bürde der Wahrheit – ausschließlich aus der Perspektive einer einzigen Person geschrieben worden. Ein Autor, der auf den großen Erfolg spekuliert, sollte tunlichst keinen Entwicklungsroman schreiben. Und doch war von allen Büchern Philip Roths ausgerechnet Portnoys Beschwerden das bei weitem erfolgreichste, und J. D. Salinger ist uns vierzig Jahre nach Erscheinen des Buches noch immer vor allem als Autor seines Erfolgsromans Der Fänger im Roggen gegenwärtig. Auch bin ich nach wie vor der Meinung, daß sich der Leser bei einem Roman, der erfolgreich sein will, mit einer oder sogar zwei oder drei der Hauptpersonen identifizieren können muß. Oder besser noch: Er muß mitleiden und mitfiebern können. Da mögen Sie zu Recht fragen: Und wie war das mit dem Fegefeuer der Eitelkeiten von Tom Wolfe? Nun, in diesem Buch steckt jede einzelne Zeile voller Witz und Andeutungen, die Sprache ist erfrischend und brillant, der Plot ein kompliziertes, raffiniertes Gewebe, und die Geschichte spielt, angereichert mit einer Fülle bezugsträchtiger Einzelheiten, in den achtziger Jahren, deren Exzesse sie geradezu verkörpert. Das ist Satire vom Feinsten – und die Regeln der Kunst sind in diesem Fall ganz einfach außer Kraft gesetzt. Doch Ihre Chancen, sich einen Platz auf der Bestsellerliste zu erobern – und diese sind, seien Sie auch noch so begabt und gewissenhaft, äußerst gering –, werden steigen, wenn Sie sich folgende Fragen stellen: Ist das, worum es in meinem Roman geht, auch wichtig genug, zumindest für meine Hauptperson? Habe ich ein oder zwei Charaktere geschaffen, die auf irgendeine Weise aus der Masse herausragen, ja sogar Ausnahmeerscheinungen darstellen? Kann der Kern meines Romans in einer einfachen, aber starken dramatischen Frage wiedergegeben werden? Hat mein Plot eine anspruchsvolle Konzeption, wie man sie in beinahe jedem Buch von Sidney Sheldon oder Michael Crichton findet? Kann ich eine Person (besser noch: zwei oder mehr) erfinden und entwickeln, mit der sich der Leser emotional identifizieren kann? Stelle ich meine Figuren in eine Umgebung, die in irgendeiner Weise ungewöhnlich oder aufregend ist, so daß der Leser den Eindruck bekommt, er beträte eine ihm weitgehend unbekannte, neue Welt? Die folgenden Kapitel werden Ihnen zeigen, wie solche Aufgaben zu bewerkstelligen sind. Erwarten Sie jedoch nicht von mir, daß ich Sie bei der Hand nehme und Schritt für Schritt zum Bestsellererfolg geleite (schon gar nicht zum garantierten). Davon ausgehend, daß Sie bereits etwas geschrieben haben, an dem Sie arbeiten können, werde ich Sie an Beispielen 18
lernen lassen. Ich werde aufzeigen, wie fünf verschiedene Autorinnen und Autoren jene spezifischen Techniken eingesetzt haben, die ihre Bücher so erfolgreich machten. Wenn es Ihnen gelingt, diese Methoden auf Ihre eigene schriftstellerische Arbeit zu übertragen und gleichzeitig Ihre ganz persönliche Note zu bewahren, dann ist es durchaus denkbar, daß Sie schon die ersten Schritte auf dem Weg zum Erfolgsautor zurückgelegt haben.
3 Schauplatz, Milieu und Zeit Wir lesen Romane, weil wir unterhalten werden wollen. Doch die meisten Leser erwarten sich von einem Buch mehr als nur den kurzen, vorübergehenden Nervenkitzel, wie ihn zum Beispiel ein sportlicher Wettkampf oder auch ein Kinofilm bieten. Es gefällt ihnen, sich in die Konflikte und Empfindungen von Romanfiguren einzuleben, die so ganz anders sind als sie selbst und die eigenen Probleme. Auch lassen sie sich gern in eine exotische Umgebung entführen, in der sie fast wie ein Tourist oder Student über Sitten, Gebräuche und Rituale, über Kleider- und Protokollfragen, über gesellschaftliche und geschäftliche Gepflogenheiten informiert werden, die mit den Verhältnissen in ihrem eigenen Lebensumfeld wenig oder nichts zu tun haben. Der Schauplatz und das Milieu eines Romans können die für den Aufbau des Plots und die Festlegung der Charaktere entscheidenden Faktoren sein. Im Mann aus St. Petersburg erleben wir Lord Walden in seinen verschwenderisch ausgestatteten Domizilen auf dem Land und in der Stadt, in seinen Londoner Clubs und in seiner Position bei Hofe. Er hat so viele Bedienstete, daß er sie gar nicht alle beim Namen kennt. So, wie Ken Follett ihn schildert, verkörpert er das britische Weltreich in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Als literarische Figur gewinnt er zusätzlich an Glaubwürdigkeit und Tiefe dadurch, daß wir ihn in seinem Alltagsleben beobachten: wie er ißt und sich kleidet, öffentliche Aufgaben wahrnimmt und sich bemüht, ein guter Ehemann und Vater zu sein. Follett präsentiert uns all das aus der Perspektive eines Mannes aus Waldens Zeit und aus Waldens gehobener gesellschaftlicher Position. Und was den Plot des Romans betrifft, so spielen sich alle Handlungen vor dem drohenden Hintergrund des bevorstehenden Krieges mit Deutschland ab. In Vom Winde verweht stehen die Umwälzungen, die mit dem amerikanischen Bürgerkrieg einhergehen, sowie dessen Auswirkungen auf Clayton County und den Bundesstaat Georgia am Beginn der Handlung. Auch im folgenden bedient sich Margaret Mitchell historischer Schlachten und realer Vorgänge während der anschließenden Wiederaufbauperiode, in die sie ihre Geschichte einbettet. Die Einnahme Atlantas durch Yankee-Truppen dient ihr, um nur ein Beispiel zu nennen, als Hintergrund, vor dem die Flucht Scarletts mit Melanie und deren neugeborenem Baby erst die entscheidende Dramatik gewinnt. Manche Erfolgsromane wirken einfacher und weniger abgehoben als Werke wie Vom Winde verweht, weil es in ihnen um die Befriedigung elementarer Grundbedürfnisse geht, um den Kampf ums nackte Überleben, um Nahrung, Kleidung, Unterkunft, um Liebe und Mitmenschlichkeit. Wenn sie gut und farbig geschrieben und mit dem besonderen Flair und intimen Details einer kaum bekannten Welt angereichert sind, können sie ungemein erfolgreich werden. Denken Sie zum Beispiel an die eiszeitlichen Jäger und Sammler in Jean Auels Der Clan des Bären, an die hungernden chinesischen Bauern in Pearl S. Bucks Die gute 19
Erde oder an die heimatlos umherziehenden Oakies aus den dreißiger Jahren in John Steinbecks Früchte des Zorns. Die Romane von Arthur Hailey (Airport, Hotel, Hochspannung, Räder, Die Bankiers), James Michener (Alaska, Die Bucht, Mazurka, Hawaii, Texas) und James Clavell (Tai-Pan, Noble House Hongkong, Shogun) gehören zu den besten Beispielen für Erfolgsromane, in denen ein interessantes Milieu dominiert. Hailey sucht sich Nischen in der amerikanischen Gegenwart, die uns Lesern flüchtig bekannt sind – aber eben nur von außen. Er läßt uns eintauchen in den Alltagsbetrieb einer Großbank, eines großen Hotels, eines riesigen Elektrizitätswerks, eines internationalen Großflughafens. Gleichzeitig erfindet er eine spannende Geschichte um einen Personenkreis, dessen Tun und Lassen das geschilderte Milieu mit Leben erfüllt. Für uns Uneingeweihte sind diese Schauplätze so ungewöhnlich, daß sie uns faszinieren. Von Hailey ist bekannt, daß er sich für jeden neuen Roman drei Jahre Zeit nimmt. Eines davon dient allein der Recherche über den jeweiligen Hintergrund. James Micheners Schauplatz ist einmal die Welt der Astronauten, ein andermal der Südpazifik im Zweiten Weltkrieg und ein gutes Dutzend anderer, ebenso exotischer Orte. Kriege und Revolutionen, die Kämpfe um Macht und/oder wirtschaftliche Dominanz oder auch der Kampf ums nackte Überleben – und das gewöhnlich über mehrere Generationen hinweg – bestimmen das Handeln der Romanfiguren Micheners und am Ende auch ihr Schicksal. Seine Stärke ist die detaillierte historische Beschreibung. Der Leser erhält bei der Lektüre nicht nur Geschichtsunterricht, sondern er erwirbt zugleich Kenntnisse über Brautwerbung, religiöse Praktiken, Bautechniken, Begräbniszeremonien, landwirtschaftliche Anbaumethoden – kurzum, über alle Aktivitäten, die das Leben der Romanfiguren bestimmen. Von Michener heißt es, er beschäftige ein ganzes Team von Rechercheuren. Doch er ist auch selbst dauernd unterwegs und fängt auf dem ganzen Globus Stimmungen, Impressionen und Informationen aus erster Hand ein. Louis L´Amour, dessen Western-Romane seit über dreißig Jahren das Genre beherrschen, hat unermüdlich jeden alten Gesetzeshüter, Cowboy und Spitzbuben interviewt, den er auftreiben konnte, und deren Erinnerungen auf Tonband aufgenommen. Er war auch ein leidenschaftlicher Sammler von anderem Quellenmaterial wie Tagebüchern, Büchern, Zeitschriften, Briefen aus dem alten Westen und suchte die Schauplätze, an denen seine Romane spielten, alle persönlich auf. Ein neuerer Trend in der Unterhaltungsliteratur und eine interessante Variante zu den bereits genannten Beispielen bildet ein Genre, das in Verlagskreisen unter der Bezeichnung »TechnoThriller« firmiert. Ein Buch wie Tom Clancys Jagd auf Roter Oktober ist ähnlich aufgebaut wie Die Nadel und Der Schakal, die mittlerweile schon zu den Thriller-Klassikern gehören. Doch wie bereits im vorangegangenen Kapitel erwähnt, verbindet Clancy diese Struktur mit einem an Hailey erinnernden Hintergrund aus detaillierten High-Tech-Informationen über Militär-, Marine- und Flugtechnik. In Romanen dieses Schlages kommt den hochkomplizierten Funktionen von Maschinen, die außergewöhnliche Eigenschaften aufweisen, fast ebensoviel Bedeutung für den Fortgang der Geschichte zu wie den handelnden Personen. Der Leser wird über die Existenz eines neuartigen sowjetischen Atom-U-Boots aufgeklärt, das sich nicht mehr orten läßt. Er erfährt, was ein DSRV (Deep Submergence Submarine Rescue Vehicle) ist: nämlich ein in große Tiefen tauchendes UnterseeRettungsgerät. Außerdem lernt er, was man unter einem Super Stallion versteht (einen Langstrecken-Transporthelikopter mit besonders hoher Ladekapazität) und wie ein F-14Tomcat-Kampfflugzeug funktioniert. Weniger High-Tech findet sich in Ken Folletts Nacht über den Wassern, doch spielt auch in diesem Buch eine Maschine, nämlich der Pan-AmClipper aus dem Jahre 1939, eine tragende Rolle. Faktoren wie Treibstoffverbrauch, Lage der Passagierkabinen und Gepäckräume, Start- und Landeeigenschaften, die Besatzung und ihre Aufgaben sowie die anzufliegenden Zwischenstopps bestimmen den Plot in entscheidender Weise mit. 20
Recherchen Für Autorinnen und Autoren, die einen Roman schreiben wollen, der vor einem derart dichten, ungewöhnlichen Hintergrund spielt, ist es natürlich von Vorteil, wenn sie selbst in einem entsprechenden Umfeld gelebt oder gearbeitet haben. Robin Cook ist Arzt und schreibt »medical Thriller«, also Spannungsromane aus dem medizinischen Bereich. Aus Mangel an Beweisen und Die Bürde der Wahrheit haben Anwälte zu Helden – Autor Scott Turow ist selber einer. Alex Delaware, der Protagonist in Jonathan Kellermans meisterhaften Kriminalromanen, ist Kinderpsychologe wie sein Erfinder. Ernest Hemingways In einem anderen Land und James Jones´ Verdammt in alle Ewigkeit wären nicht die Bücher geworden, die sie sind, hätte Hemingway nicht im Ersten Weltkrieg als Sanka-Fahrer gedient und wäre Jones nicht vor dem Zweiten Weltkrieg US-Soldat auf Hawaii gewesen. Andererseits hat Arthur Hailey nie als Fluglotse gearbeitet, noch war Mario Puzo je ein Mafia-Boß; Ken Follett war nie Spion, und Margaret Mitchell kam erst etliche Jahrzehnte nach dem Ende des amerikanischen Bürgerkrieges auf die Welt. Die Hintergründe und Schauplätze, die diese Autoren beschreiben, mußten also recherchiert werden. Für manche Romanvorhaben genügt es, auf schriftliche Quellen – Bücher, Fachzeitschriften, Zeitungsberichte, unveröffentlichte Briefe und Tagebücher – zurückzugreifen. Bei Romanen, die – wie Die Säulen der Erde – in einer weit zurückliegenden Vergangenheit spielen, ist man sogar allein auf diese Quellen angewiesen, es sei denn, man beschäftigt sich, wie Follett, auch mit den steinernen Zeugen jener Zeit, etwa den mittelalterlichen Kathedralen. In neuerer Zeit angesiedelte Bücher sowie Gegenwartsromane gewinnen an Farbigkeit, wenn der Autor die Schauplätze besucht oder sich über einen längeren Zeitraum hinweg dort aufhält und Menschen befragt, die über persönliche Erfahrungen mit dem thematisierten Hintergrund verfügen. Obwohl Der Schlüssel zu Rebecca im Zweiten Weltkrieg spielt, reiste Ken Follett 1979 nach Ägypten, um ein Gespür für Land und Leute zu bekommen, die Atmosphäre in sich aufzusaugen und die Schauplätze seiner Geschichte mit eigenen Augen zu sehen. Um aus erster Hand zu erfahren, wie der Pan-Am-Clipper geflogen wurde, reiste er im Rahmen seiner Recherchen für Nacht über den Wassern von London nach Florida, um dort die wenigen noch lebenden Crew-Mitglieder zu interviewen. Sie waren 1990 bereits hoch in den Siebzigern und Achtzigern. Eileen Goudge wiederum war nie in Vietnam, und doch sind einige der stärksten Kapitel ihres Buches Im Garten der Lügen dort angesiedelt. Den Großteil ihrer Hintergrundinformationen entnahm sie Kriegsromanen wie John Del Vecchios The Thirteenth Valley. Aber sie befragte auch viele Vietnam-Veteranen, die ihr zusätzliche Fakten und Anekdoten lieferten. Einer von ihnen las die entsprechenden Kapitel und überprüfte die Fakten. Und die Kapitel, in denen juristische und medizinische Fragen im Mittelpunkt stehen, wurden von einem Anwalt beziehungsweise einem Arzt kritisch durchgesehen. Wenn es Ihnen nicht möglich ist, die Schauplätze Ihres Romans selbst aufzusuchen, so befragen Sie Leute, die schon dort waren, die die Flugzeuge geflogen, die Schiffe gefahren oder die Experimente durchgeführt haben, über die Sie schreiben. Finden Sie heraus, wo diese Leute wohnen, rufen Sie sie an, besuchen Sie sie. Viele wunderbare Bücher basieren überwiegend auf Material, das in Bibliotheken verfügbar ist. Aber es steht außer Frage, daß Sie mit Informationen aus erster Hand viel leichter jene Unmittelbarkeit erreichen, die Ihrer Geschichte Authentizität verleiht. Der Einbau von Sachinformationen in die Handlung Aus persönlicher Erfahrung oder durch Recherche gewonnene Hintergrundinformationen sind sicher sehr wertvoll und für manche Bücher sogar unerläßlich. Doch wenn sie nicht sorgfältig mit der Handlung verwoben werden, können sie einem Roman auch den Garaus machen. Der film- und fernsehgeprägte Leser unserer Zeit bringt nur noch wenig Geduld für lange beschreibende Passagen auf, vor allem am Anfang eines Buches, wo das Interesse an den 21
Figuren noch nicht geweckt ist und die Handlung noch nicht fließt. Allzuoft erliegen Autoren der Versuchung, sich bei ihren Recherchen in Details zu verlieben, mit denen sie dann ihren Roman überfrachten. Das Ergebnis ist ein gelangweilter Agent, ein Lektor, der das Manuskript ablehnt, oder aber, falls das Buch doch erscheint, ein frustrierter Leser, der die Informationspassagen schließlich einfach überspringt, weil er wissen möchte, wie es weitergeht und wie sich die Personen, mit denen er sich identifiziert, entwickeln. Sie müssen also darauf achten, daß Ihre Recherchen dazu beitragen, das Verständnis für Ihre Helden zu vertiefen und/oder die Handlung voranzutreiben. Gelingt Ihnen dies nicht, verzichten Sie besser ganz darauf. Zur Verdeutlichung dieser Problematik wollen wir uns nun anhand von Beispielen aus Der Mann aus St. Petersburg und Der Pate etwas genauer damit beschäftigen, wie man als Autor Hintergrundinformationen dosiert in die Handlung einfließen lassen kann. Wenige Seiten nach Beginn des zweiten Kapitels sind in Der Mann aus St. Petersburg alle vier Hauptpersonen vorgestellt, und der Attentatsplan nimmt Gestalt an. Dann wird der Leser plötzlich mit folgender Frage konfrontiert: Wird Charlotte lernen, sich in ihrem Debütantinnenkleid anmutig vorwärtszubewegen und die über drei Meter lange, mit rosa Chiffon besetzte und am Ende mit einer großen, silberweißen Schleife versehene Schleppe aus Silberlamé formvollendet zu raffen? Der eigentliche Sinn dieser kurzen Szene zwischen Mutter und Tochter liegt natürlich darin zu zeigen, wie unkonventionell und offen Charlotte sein kann. Außerdem werden wir auf die Vorstellung der Debütantinnen bei Hofe eingestimmt, nach der Felix versuchen wird, Orlow umzubringen. Die kleinen Details über Charlotte, die Schilderung, wie sie in ihrem weißen, mit Kristallpailletten bestickten Tüllkleid vor dem großen Spiegel steht, umflattert von der Schneiderin und von der Mutter in korrekter Haltung geschult, verschaffen uns einen intimen Einblick in den Lebensstil dieser Personen. Und weil Follett die Beschreibung der Details nahtlos in die Auseinandersetzung zwischen Charlotte und Lydia integriert, entsteht nie der Eindruck, sie seien überflüssig oder langweilig. Im neunten Kapitel begibt sich Walden in seinen gemütlichen alten Club in der Fall Mall – der einen deutlichen Kontrast zu seinem blitzsauberen, von Frauen dominierten Haushalt bildet – und trifft sich dort mit Basil Thomson vom Sonderdezernat. Er hofft, daß die Polizei den Attentäter bereits gefangen hat. Beim üppigen Mittagsmahl erfährt er von Thomson, was der Leser bereits über Felix´ finstere Vergangenheit weiß, und vernimmt mit Schrecken, daß er, Walden, womöglich selbst das nächste Mordopfer des Russen sein könnte. Doch Ken Follett unterbricht und kontrapunktiert die für Walden so schockierenden Enthüllungen immer wieder, indem er die einzelnen Gänge des für die damalige Zeit typischen, gigantischen Menüs beschreibt. Die beiden beginnen mit einem Glas Sherry, brauner Windsor-Suppe und gekochtem Lachs und spülen das Horsd´œuvre mit einer Flasche Rheinwein hinunter. Als Hauptgang gibt es Hammelbraten mit Preiselbeersoße, gebackenen Kartoffeln und Spargel, gefolgt von einer pikanten Gänseleberpastete. Beim Dessert verzichten die beiden Männer auf die Schwarzwälder Kirschtorte und wählen statt dessen Eis, wozu Walden noch eine halbe Flasche Champagner bestellt. Danach laben sie sich an Stilton-Käse mit süßem Gebäck und trinken dazu ein Glas Portwein älteren Jahrgangs. Als Abschluß wählt Walden einen Pfirsich Melba und Thomson eine Birne. Schließlich ziehen die beiden Herren ins Raucherzimmer um, wo ihnen Kaffee und Gebäck serviert werden. Die vom Autor recherchierten Einzelheiten lassen dem Leser dieser Szene das Wasser im Munde zusammenlaufen. Sie illustrieren den Lebensstil der reichen Engländer jener Zeit, schildern amüsant die gastronomischen Extravaganzen der Epoche und fügen sich nahtlos in die Handlung ein. Gegen Ende des langen Einführungskapitels in Der Pate, in dem die Familie Corleone vorgestellt und verschiedene Nebenhandlungen eingeleitet werden, erklärt Puzo den organisatorischen Aufbau einer Mafia-Familie. Wir erfahren, daß zwischen dem Oberhaupt – dem 22
Don – und den Männern, die seine Aufträge ausführen, drei Rangstufen oder Puffer liegen, so daß eine Spur niemals bis zum Anfang der Befehlskette zurückverfolgt werden kann. Außerdem lernen wir die Rolle des Consigliere kennen. Er ist die rechte Hand des Don, sein zweites Gehirn sozusagen. Er allein weiß genauso oder zumindest fast so viel wie der Don selbst. Entscheidend dabei ist, daß uns all diese Informationen nicht so simpel vermittelt werden, wie ich es eben getan habe, sondern daß sie ein integrierter Bestandteil des dramatischen Geschehens sind. Die geheime Befehlskette wird ins Spiel gebracht, weil den beiden jungen Männern, die Amerigo Bonaseras Tochter mißhandelt haben, ein Denkzettel erteilt werden soll. Der Befehl des Don wird von Instanz zu Instanz weitergegeben – bis zu den Männern, die ihn schließlich in die Tat umsetzen. Der Consigliere, Tom Hagen, erhält eine schwierigere Aufgabe, die mehr Fingerspitzengefühl erfordert: Er soll nach Kalifornien fliegen und einen Filmproduzenten in Hollywood, der bereits definitiv abgesagt hat, dazu bringen, Johnny Fontaine doch noch die Hauptrolle in einem großen Kriegsfilm zu geben. Hagen und seine Rolle als Consigliere werden uns also nicht in der Theorie geschildert, sondern unmittelbar in der Praxis der besonderen Mission, die er zu erfüllen hat. Das dramatische Ereignis im sechsten Kapitel ist die Hinrichtung Paulie Gattos, der sich als Verräter entpuppt hat. Clemenza, Gattos Caporegime oder Chef, hat dabei zwei Probleme zu lösen: Wie läßt sich Gatto am elegantesten beseitigen, und wen soll Clemenza auf Gattos Posten befördern? Puzo nutzt diese Gelegenheit zu einem Diskurs über Betriebsinterna: Nach welchen Kriterien wählt die Mafia ihr Management aus? Wann läßt man eine Leiche diskret verschwinden, und wann entledigt man sich ihrer in aller Öffentlichkeit? Wie findet man im Krieg gegen eine andere Mafia-Familie konspirative Wohnungen, in denen sich die »Soldaten« verstecken und auf Matratzenlagern übernachten? Schließlich enthält sogar noch der Mord an Gatto ein informatives Element: Die Leiche wird in einem Auto zurückgelassen, während sich die Mörder mit einem vorsorglich in der Nähe geparkten zweiten Fahrzeug davonmachen. Mafia-Sitten und -Gebräuche mögen uns heute schon fast vertraut erscheinen, denn nach dem Erfolg des Paten wurden wir mit Mafia-Büchern und -Filmen geradezu überschwemmt. Doch 1969, als das Buch erschien, waren Puzos Informationen neu und exotisch, vor allem, weil sie meisterhaft ins Handlungsgefüge eingepaßt waren. Gefühlvolle Beschreibungen Einen Ratschlag sollten Sie beim Schreiben stets beherzigen: Bringen Sie Farbe in Ihre Beschreibungen, indem Sie sie mit Gefühlen anreichern. Wenn uns als Leser ein Sonnenuntergang, ein Haus oder ein Unterseeboot aus der Perspektive der Empfindungen einer der Hauptpersonen beschrieben wird, dann empfinden wir sie als integralen Bestandteil der Geschichte und gewinnen eine viel engere Beziehung dazu als bei einer unpersönlichen, die Handlung unterbrechenden Schilderung seitens des Autors. Das gleiche gilt auch für die Romanpersonen selbst: Der Leser will sie vor sich sehen können. Lassen Sie Ihren Helden also in den Spiegel schauen und über seine äußere Erscheinung nachdenken, oder schildern Sie ihn durch die kritische Brille einer zweiten Figur. Auf diese Weise fließt die Beschreibung viel organischer in die Handlung ein als bei einer banalen direkten Darstellung von Kleidern und Physiognomien. Vermeiden Sie es, Informationen einfach nur nüchtern aufzuzählen. Bemühen Sie sich statt dessen, sie wie in den zitierten Beispielen in die Handlung einzuflechten. Angenommen, Sie schreiben ein Buch über Drogenhändler und halten es für nötig, die technischen Einzelheiten der Heroin- oder Kokainherstellung zu erklären. Welche Möglichkeiten haben Sie? Sie könnten eine Szene einbauen, in der eine Ihrer Romanfiguren den Herstellungsprozeß beschleunigen will und eine andere sich dagegen sträubt, weil sie um das Ergebnis fürchtet. Die beiden liefern sich ein heftiges Wortgefecht, in dessen Verlauf die Informationen ganz 23
natürlich in die Handlung einfließen. Eine andere Möglichkeit bestünde darin, das Drogenlabor von der Polizei stürmen und in der noch immer spannungsgeladenen Atmosphäre nach der Razzia das Verfahren durch einen Experten der Drogenfahndung rekonstruieren zu lassen. Oder Sie könnten eine Szene einbauen, in der um den Preis gefeilscht wird und der Hersteller sich seiner neuen Produktionsweise rühmt. Es gibt viele Möglichkeiten. Auswahl des Handlungsmilieus Wir haben jetzt also einen kleinen Einblick in die Art der Auswahl und Darstellung der Handlungsmilieus bei Follett und Puzo gewonnen. Aber wie wählt man selbst die geeignete Szenerie für einen Roman aus? Rein kommerziell betrachtet, müßten Sie sich für ein Ambiente entscheiden, das gerade im Gespräch, zeitgemäß und »heiß« ist. Ist es Ihnen persönlich bereits vertraut, sparen Sie viel Zeit beim Recherchieren. Ganz ohne Recherche geht es allerdings nie, weil man stets noch Fakten suchen und überprüfen muß. Was gerade aktuell ist, ändert sich im Laufe der Zeit natürlich. Während des kalten Krieges standen zum Beispiel Romane wie Der Spion, der aus der Kälte kam von John le Carré ganz oben auf den Bestsellerlisten. 1993 sahen sich die Verleger Romanmanuskripte, die zur Zeit des kalten Krieges spielten, nicht einmal mehr an. Den Vietnamkrieg schien die Öffentlichkeit in den ersten zwölf Jahren nach seiner Beendigung offenbar nur verdrängen zu wollen. In den achtziger Jahren kam es dann zu einer regelrechten Flut von Romanen über das blutige Geschehen in Südostasien, und einige wenige, wie John Del Vecchios The Thirteenth Valley, avancierten sogar zu echten Bestsellern. Derzeit ist der Vietnamkrieg aber kein vielversprechendes Thema mehr für Romanautoren. Heiße Themen Welche Themen sind also zur Zeit im Gespräch, aktuell oder gar »heiß«? Ich werde Ihnen einige Vorschläge machen. Beachten Sie aber, daß ich dieses Buch 1993 geschrieben habe. Wie wertvoll meine Anregungen noch sind, wenn Sie dieses Buch erst Jahre später zur Hand nehmen, das ist eine Frage, die Sie selbst beantworten müssen. Daher will ich Ihnen vor allem einige Kriterien aufzeigen, an denen Sie erkennen können, ob das Thema, das Sie ausgewählt haben, tatsächlich »heiß« ist. Seit über zwanzig Jahren liegen die Vereinigten Staaten und Japan wirtschaftlich miteinander im Clinch, und es hat den Anschein, als sollten Konkurrenzdenken und ein frostiges Verhältnis auch fürderhin die Beziehungen bestimmen. Solange sich daran nichts ändert, liegt hierin ein Romanthema par excellence – Michael Crichton hat es mit seinem sensationellen Erfolgsroman Nippon Connection bewiesen. In den letzten Jahren haben erstaunliche Erkenntnisse und Entwicklungen in Biologie und Gentechnik immer wieder aufhorchen lassen. Crichton hat sich diesen »heißen« Bereich für seinen Welterfolg Jurassic Park ausgesucht. Die Gentechnik ist ein weites Feld und auch weiterhin für viele neue Entdeckungen und Überraschungen gut. In ihr steckt der Stoff für ein paar Dutzend solide geschriebener Romane. Andere derzeit im Trend liegende Themenkreise sind: Computertechnologie, SoftwareEntwicklung, AIDS-Forschung, Organtransplantationen, Umweltverschmutzung, Devisenspekulation, Geldwäsche, erlaubter und unerlaubter Waffenhandel, Atomkraft, elektronisches Spielzeug, Kreditkartenwettbewerb, ökologische Landwirtschaft – kurzum, nahezu jedes Thema, das regelmäßig in den Nachrichten auftaucht. Daneben gibt es noch einige Themen, die zwar nicht besonders aktuell sind, aber immer wieder aufs neue ihre Zugkraft unter Beweis stellen: die Justiz, die Medizin, der Handel mit Edelmetallen und Juwelen, die Hochfinanz und die Geheimdienste. Enorme Aufmerksamkeit erregen mitunter auch ganz neue, dem Publikum bisher so gut wie unbekannte Milieus, vorausgesetzt, Sie finden den richtigen, unverwechselbaren Ton. So 24
entführte Amy Tan in Töchter des Himmels ihre faszinierten Leser in die exotische, in sich geschlossene Welt der chinesischen Immigranten. Und Terry McMillans Endlich ausatmen wurde deshalb solch ein Riesenerfolg, weil es der erste Unterhaltungsroman war, der das Leben einer alleinstehenden Schwarzen mittleren Alters in den neunziger Jahren beschrieb. Was Mario Puzo damals mit seinen Mafiosi machte, war im Grunde nichts anderes. Themen und Milieus, die man besser meidet Es gibt auch Themen und Milieus, die Sie lieber meiden sollten. Die einen sind schlicht deshalb out, weil ihre Zeit vorüber ist, über andere ist dermaßen viel geschrieben worden, daß sie die Leser nur noch langweilen, und wieder andere sind einfach viel zu abgehoben von den Problemen und Interessen jener, die sich die 35 und mehr Mark für ein Buch leisten wollen oder können. Außer dem Kalten Krieg und Vietnam gehört in Amerika zum Beispiel auch der Broadway zu den Themen, deren Zeit einfach passé ist. Die Unterhaltungsindustrie ganz allgemein – Film, Rockmusik, Ballett, Oper, Fernsehen – ist in so vielen Unterhaltungsromanen abgehandelt worden, daß Verleger und Agenten nur noch entsetzt die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, wenn ihnen ein solcher Stoff angeboten wird. Auch der Themenbereich Politik und Wahlkampf gilt weiterhin als abgenudelt. Obwohl Jane Smiley mit Tausend Morgen 1992 den Pulitzerpreis gewann und einen Bestsellererfolg landete, würde ich Ihnen gegenwärtig auch nicht empfehlen, Ihren Roman auf einer Farm spielen zu lassen. In Amerika kann es sich nicht einmal ein Prozent der Gesamtbevölkerung leisten, regelmäßig Hardcover-Romane zu kaufen. Diejenigen aber, die wohlhabend genug sind, scheinen sich mehr für die Reichen als für die Armen, mehr für Städter als für Dörfler und mehr für agile Macher als für die ewigen Underdogs zu interessieren. Und Stadt ist nicht gleich Stadt. Der glamouröse Reiz New Yorks oder San Franciscos läßt sich kaum auf Städte wie Hartford oder Kansas City übertragen. Ich will damit keinesfalls sagen, daß Ihr Roman ausschließlich in Penthouse-Wohnungen und Konferenzzimmern von Großkonzernen spielen darf, aber es ist nun einmal traurige Realität, daß Sie für einen Roman, der überwiegend im Gefängnis oder im Obdachlosenasyl spielt, nur schwer einen Verleger finden werden. Historische Romane Drei der fünf Romane, die Sie in Verbindung mit diesem Buch lesen sollten, spielen in einer Zeit, die mehr als fünfzig Jahre zurückliegt. Außerdem gehören vielleicht James Clavells Shogun, Gary Jennings´ Der Azteke und Ken Folletts Die Säulen der Erde zu Ihren Lieblingsbüchern. Angesichts dieser Beispiele liegt der Schluß nahe, ich wolle Ihnen empfehlen, sich Ihre Themen in der Vergangenheit zu suchen. Doch wie ich bereits erwähnte, ist dem nicht so. Für Gegenwartsstoffe gibt es einen größeren, leichter anzusprechenden Markt als für historische Themen. Dies gilt um so mehr, wenn Sie auf eine Verfilmung Ihres Buches hoffen. Obwohl es Ausnahmen gibt – wie Der mit dem Wolf tanzt oder Der letzte Mohikaner –, fürchten Filmproduzenten kaum etwas so sehr wie die Kosten für historische Kulissen und Kostüme. Meiner Schätzung nach spielen über neunzig Prozent der in den vergangenen Jahren verfilmten Bücher in der Gegenwart. Ken Follett wollte zu Beginn unserer Zusammenarbeit unbedingt einen Roman über den Bau einer mittelalterlichen Kathedrale schreiben. Ich gab ihm den Rat, damit noch zu warten, und er hielt sich daran. Mit sechs Thrillern hintereinander schuf er sich eine weltweite Lesergemeinde. Erst dann wagte er sich an Die Säulen der Erde – und hatte Glück, denn auch dieses Buch fand überall auf der Welt begeisterte Leser. Ohne die bereits existierende Lesergemeinde hätte sich das Buch aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit weniger gut verkauft. Nicholas Guild, ein anderer Autor, den ich vertrete, schrieb zwei Romane über das alte Assyrien, die hierzulande nahezu unbemerkt blieben, während sie in Deutschland und Italien bemerkenswert gut einschlugen. Doch ein Schriftsteller will gemeinhin in seinem eigenen 25
Land Anerkennung finden. Guild schreibt inzwischen Gegenwartsromane.
4 Der Entwurf Kein Mensch, der seine fünf Sinne beisammen hat, käme auf die Idee, einen Wolkenkratzer oder auch nur ein Einfamilienhaus zu bauen, ohne vorher detaillierte Pläne zu zeichnen. Ebenso wie ein Haus braucht auch ein Roman Balken und Querträger, die ihm die nötige Stabilität verleihen, damit er vom Anfang bis zum Ende ein hohes Spannungsniveau durchhalten kann. Und wie bei jedem Haus kommt auch beim Roman noch eine Fülle komplizierter und genau aufeinander abgestimmter Bauteile hinzu. Es stimmt schon, es gibt Autoren, die sich ohne jeden vorherigen Entwurf an den Schreibtisch setzen und einen Roman beginnen. Entwürfe, behaupten sie, beeinträchtigten ihre Kreativität, schränkten die Bewegungsfreiheit und die Entwicklungsmöglichkeiten ein, die ihre Charaktere erst interessant machten, und nähmen ihnen, den Autoren, jede Freude am Schreiben. Konzepte, meinen sie, zwängten sie in ein Korsett und erstickten all die wundervollen Einfälle, die ihnen nur unmittelbar beim Schreiben kämen. Wer so daherredet, wird meiner Einschätzung nach seine Bücher nur sehr selten auf einer Bestsellerliste finden. Jeder Welterfolg, mit dem ich zu tun hatte, wurde mehrfach entworfen, verworfen, abgeändert und aufs neue entworfen, durchaus vergleichbar mit den Bauplänen eines Architekten, die ständiger Revision unterliegen. Einige bekannte Autoren müssen sich, bevor sie ihr Konzept entwerfen, zuerst mit einer Reihe von Szenen warmschreiben, um mit ihren Figuren vertraut zu werden. Andere starten sozusagen kalt und beginnen sofort mit einer ersten Übersicht über den Handlungsverlauf. Margaret Mitchell war eine Ausnahme. Einen schriftlichen Entwurf zu Vom Winde verweht hat es offenbar nie gegeben. Ihre Methode bestand darin, das letzte Kapitel zuerst zu schreiben und sich dann rückwärts, Kapitel für Kapitel, bis zum Handlungsbeginn vorzuarbeiten. So hatte sie stets die Gewähr, daß die Handlung unweigerlich jenem Höhepunkt entgegenstrebte, den sie von Anfang an festgelegt hatte. Entwürfe zu Der Mann aus St. Petersburg Der Entwurf eines Romans ist, wie das Schreiben selbst, nahezu ausnahmslos ein evolutionärer Prozeß. Ich glaube, es gelingt keinem Autor gleich bei der ersten Niederschrift ein Konzept, mit dem er voll und ganz zufrieden wäre. Ich werde Ihnen dies im folgenden anhand der vier Konzepte demonstrieren, die Ken Follett zwischen Anfang Januar und Ende August 1980 für den Mann aus St. Petersburg entwarf. Sie werden sehen, wie er Schritt für Schritt eine Handlung mit allen Ingredienzen entwickelt, auf die es ankommt: hohes Risiko, »überlebensgroße« Figuren, eine starke dramatische Frage, anspruchsvolle Konzeption, ein weithergeholter Plot, intensive emotionale Bindungen zwischen mehreren Personen mit unterschiedlichen Perspektiven und ein interessanter, für amerikanische Leser sogar exotischer Schauplatz. Doch zuvor ein paar Worte zu Anstoß und Denkprozeß, die dem Entwurf vorausgingen. Das 26
Buch sollte Folletts vierter großer Roman werden. Die Nadel und Der Schlüssel zu Rebecca spielten beide im Zweiten Weltkrieg, Dreifach zur Zeit der israelisch-arabischen Auseinandersetzungen in den sechziger Jahren. Folletts neuer Verlagsvertrag sah einen »vorzugsweise im Zweiten Weltkrieg« angesiedelten Thriller vor, doch Follett hatte damals – ebenso wie ich – das Gefühl, der Markt sei eigentlich mit Geschichten über den Zweiten Weltkrieg und den kalten Krieg gesättigt. Außerdem meinten wir, daß sowohl seine bisherigen als auch potentielle neue Leser vielleicht ganz gern einmal ein neues Ambiente hätten. Ich wies ihn darauf hin, daß es seit Jahren keinen Bestseller mehr gegeben hatte, der im Ersten Weltkrieg spielte, und Follett meinte, das London des Jahres 1914 böte einen phantastischen, bunten Hintergrund für einen intrigenreichen Roman. Außerdem faszinierte ihn die Auseinandersetzung mit der Kriegszeit beziehungsweise mit der Zeit unmittelbar vor Kriegsausbruch, denn er suchte nach einer Ausgangssituation, in der nicht nur das Schicksal einzelner, sondern das Überleben ganzer Nationen auf dem Spiel stand. Bevor er auch nur ein Wort zu Papier gebracht hatte, war für ihn daher klar, daß er für seinen Roman ein risikoträchtiges Umfeld brauchte, in dem es problemlos möglich war, außergewöhnliche Figuren in brisanten Situationen zu schildern. Am Anfang aller Romane Ken Folletts (und wohl auch der meisten anderen BestsellerAutoren) steht der Plot, und der besteht zunächst oft nur aus einer einzigen spannenden Situation, die in ein, zwei Sätzen zusammengefaßt werden kann. Follett reichert, wie Sie sehen werden, den Erstentwurf peu à peu an und kompliziert den Plot, konzentriert sich jedoch gleichzeitig auf die Hervorhebung des Wesentlichen. Nicht minder entscheidend sind die Personen. Von Entwurf zu Entwurf verändert Follett die handelnden Personen, fügt neue Figuren hinzu, streicht bereits vorhandene, spielt mit ihrer Vergangenheit und ihren besonderen Eigenarten. Dabei geht es ihm stets darum, seinen Charakteren Format zu verleihen, sie interessant und aufregend zu gestalten und uns, die Leser, für sie einzunehmen. Die vier nachstehenden Entwürfe und die jeweils folgende Analyse enthalten im wesentlichen die gesamte Botschaft des Buches en miniature. Wenn Sie diese Texte aufmerksam durcharbeiten, können Sie die Entstehung eines Erfolgsromans sozusagen von der Zeugung bis zur Geburt nachvollziehen. Spätere Kapitel werden die hier ausgeführten Gedanken noch erweitern und vertiefen und bestimmte Aspekte noch einmal besonders hervorheben. Ich würde Ihnen empfehlen, dieses Kapitel am Ende des Buches ein zweites Mal zu lesen. Sie können dann möglicherweise einen doppelten Nutzen aus Methode und meinen Analysen ziehen. Zuvor noch eine Warnung: Wenn Sie nicht fest entschlossen sind, die Entstehungsgeschichte des Entwurfs konzentriert nachzuvollziehen, wird Ihnen dieses Kapitel möglicherweise zäh und schwerfällig, ja, vielleicht sogar langweilig vorkommen. Haben Sie dieses Buch also nur zur Hand genommen, um sich ein paar für Ihre eigenen Schreibambitionen interessante Rosinen herauszupicken, dann möchte ich Ihnen empfehlen, entweder gleich zum fünften Kapitel überzugehen oder aber nur den ersten und den letzten Entwurf zu lesen. Die Konstruktion eines Romans wie Der Mann aus St. Petersburg ist für den Autor ein mühsamer, zeitraubender, all seine geistigen Kräfte beanspruchender Prozeß. Wer Folletts Arbeitsweise mitverfolgen und verstehen will, muß Geduld und Durchhaltevermögen aufbringen. Seien Sie darauf vorbereitet, bis zur Pedanterie in die Detailarbeit einzusteigen und sich einem komplizierten Verfahren zu unterziehen, das sich aus vielen falschen Ansätzen und den sich daraus ergebenden Lernprozessen zusammensetzt. Und wenn Sie tatsächlich eine Herausforderung suchen, dann bemühen Sie sich, sobald Sie einen der Entwürfe durchgelesen haben, einen eigenen, besseren zu schreiben. Danach lesen Sie Folletts nächsten Entwurf und vergleichen ihn kritisch mit dem Ihren. Und erst ganz zum Schluß führen Sie sich dann meine Analyse der erzählerischen Grundprinzipien zu Gemüte, die Folletts Entscheidungen bestimmten.
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Die Entwürfe Erster Entwurf Hintergrund: Die Ursachen des Ersten Weltkrieges Serbien stand als kleines Land unter dem dominierenden Einfluß seines Nachbarn, des großen und mächtigen Kaiserreiches Österreich-Ungarn. Österreich wollte sich Serbien einverleiben, weshalb Serbien den Schutz Rußlands suchte. Dennoch annektierte Österreich im Jahre 1908 einen großen Teil Serbiens: Bosnien und die Herzegowina. 1914 ermordete ein nationalistischer serbischer Student den österreichischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand während dessen Besuch in der bosnischen Hauptstadt Sarajewo. Daraufhin geschah folgendes: 1. Österreich, das ohnehin schon seine eigenen Pläne mit Serbien hatte, nutzte das Attentat als Vorwand und erklärte Serbien den Krieg. (Es schlug allerdings nicht sofort los.) 2. Rußland, die angebliche Schutzmacht Serbiens, mobilisierte seine Armee nur zögerlich. (Unter Mobilisierung verstand man die Einberufung und Bewaffnung von Rekruten sowie deren Verlegung per Bahn an die Grenze.) Anfangs begnügten sich die Russen mit einer gegen Österreich gerichteten Teilmobilisierung. Doch dann wurde den Generälen klar, daß ihr Land bei einer Teilmobilisierung einem Angriff Deutschlands, das mit Österreich verbündet war, schutzlos preisgegeben wäre. Also wurde vollständig mobilisiert. 3. Nachdem Rußland gegen Österreich und Deutschland mobilisiert hatte, mußte natürlich auch Deutschland mobilisieren. Allerdings hatte Deutschland ein Problem: Rußland war mit Frankreich verbündet. Bei einer Mobilisierung gegen Rußland im Osten, so fürchteten die deutschen Generäle, konnte Frankreich Deutschland vom Westen her angreifen. Sie entschieden sich, das Problem dadurch zu lösen, daß sie zunächst Frankreich durch einen Blitzkrieg ausschalteten. Deutschland marschierte also in Frankreich ein. 4. Die deutschen Invasionspläne für Frankreich sahen vor, durch Belgien zu marschieren. Kein Mensch interessierte sich sonderlich für Belgien, doch gab es einen alten Vertrag aus dem Jahr 1839, der es England erlaubte (es aber nicht verpflichtete), die Neutralität Belgiens zu verteidigen. Deutschland interessierte die Briten sehr wohl, denn es wuchs und gedieh und bedrohte die britische Vorherrschaft auf See, Englands Kolonien und seine führende Stellung auf dem Weltmarkt. Als Deutschland also in Belgien einmarschierte, nahm England den Vertrag von 1839 zum Vorwand, um Deutschland den Krieg zu erklären. Auf diese Weise führte ein Streit zwischen Österreich und Serbien zum Krieg zwischen England und Deutschland. Teil Eins l. In den Elendsquartieren Londons sieht es unter König Edward VII. um keinen Deut besser aus als zu Zeiten von Charles Dickens. Es herrschen Schmutz, Seuchen, gräßliche Armut, Trunkenheit und schlimme Ausbeutung. Eines von drei Neugeborenen stirbt noch vor seinem ersten Geburtstag. Nach der Einführung von ärztlichen Untersuchungen in den Schulen stellt man fest, daß jedes sechste Kind so unterernährt, verwurmt oder krank ist, daß es keinerlei Nutzen von der schulischen Ausbildung hat. In manchen Wohnungen essen die Menschen im Stehen, weil sie keine Stühle haben. In Whitechapel leben auf rund 4000 Quadratmetern etwa 6000 Menschen, während nach offiziellen Angaben schon bei etwa 214 Menschen die Überbevölkerung beginnt. Im East End mischen sich unter die ärmsten Engländer noch ärmere Einwanderer aus Osteuropa. Russische, polnische, deutsche, litauische und lettische Flüchtlinge bringen linksradikale politische Ideen ins Land, die in den Londoner Armenvierteln einen reichen 28
Nährboden finden und sich rasch ausbreiten. Die schlagkräftigste politische Organisation ist die Federation of Jewish Anarchist Groups, die auf jiddisch eine eigene Zeitung – Der Arbeter Fraint – herausgibt und unter den Arbeitern in Ausbeuterbetrieben einen erfolgreichen Streik organisiert. Zu Beginn des Jahres 1914 taucht ein deutscher Spion in diesem Umfeld auf. Er nennt sich Felix Muronziw und gibt sich als russischer Anarchist aus. Sein Auftrag lautet, über die zahlreichen Exilrevolutionäre in London zu berichten, insbesondere über jene Deutschen, die eventuell in ihre Heimat zurückkehren wollen. Felix ist ein komplizierter, von widersprüchlichen Motivationen getriebener Charakter. Mit elf hat er entdeckt, daß das gutbürgerliche deutsche Ehepaar, das ihn großzog, nicht seine richtigen Eltern sind. In Wirklichkeit ist er der Sohn eines inzwischen gestorbenen Bauernmädchens und eines unbekannten jungen Aristokraten. Felix ist besessen von dem Gedanken an Vorspiegelungen und Täuschungen jeder Art und an Verrat im besonderen. Ihn erfüllt eine Haßliebe auf die Aristokratie. Daß er sich als Anarchist ausgibt, während er gleichzeitig der herrschenden Klasse dient, spiegelt seinen inneren Konflikt wider. Auf einer rationaleren Ebene ist er beruflich ehrgeizig und sieht in der Geheimdienstarbeit eine Karrierechance. Er sehnt den Krieg herbei. Felix ist fünfundzwanzig Jahre alt. Bei seinen Auftritten als Anarchist schimmern seine Leidenschaften durch. Er wirkt ein wenig wie Rasputin: besessen, von magnetischer Ausstrahlung, hitzig und herrschsüchtig. In Deutschland hat er Frau und Kind, doch kaum ist er in London, heiratet er ein einheimisches Mädchen und schwängert es. Für Felix ist Liebe stets auch mit Verrat verbunden. 2. Der MI5 wurde 1906 gegründet, hieß damals noch MO5 und bestand aus einer einzigen Person, seinem Gründer Vernon Kell. Als Kell erstmals um einen Assistenten ersuchte, waren seine Vorgesetzten entsetzt, doch daß Geheimdienste stetig wachsen, ist ein Naturgesetz. Also verfügt Kell im Jahre 1914 bereits über vier Offiziere, einen Juristen, zwei Ermittlungsbeamte und sieben Bürokräfte. Seine Dienststelle befindet sich im Keller des Little Theatre in der John Street, einer Seitenstraße des Strand. Kell ist ein seltsamer Mensch. Der Sohn eines englischen Offiziers und einer polnischen Gräfin kam schon als Junge in ganz Europa herum und lernte Französisch, Deutsch, Italienisch und Polnisch. Während des Boxeraufstands diente er in China und legte bei der Armee das Dolmetscherexamen in Chinesisch und Russisch ab. Doch das Leben in Asien zerstörte seine Gesundheit und ruinierte eine, wie es schien, vielversprechende militärische Karriere. Kell leidet unter Asthma, chronischen Durchfällen und unter so schlimmen Rückenschmerzen, daß er kaum aufrecht sitzen kann. Selbst für kürzeste Strecken benutzt er seinen Wagen. Ein Mann mit einem eisernen Willen, zäh wie Leder und äußerst fromm. Den Herausgebern des Who´s Who macht er weis, seine Lieblingsbeschäftigungen seien Angeln und Krocket. Einer seiner Mitarbeiter erzählt immer wieder gern, Kell rieche einen Spion wie der Terrier die Ratte. Das mag erfunden sein, ist aber bezeichnend für den Eindruck, den er bei seinen Untergebenen erweckt. Äußerlich ist er, vom Schnauzbart bis zu den stets spiegelblank gewienerten Schuhspitzen, ein Offizier der alten Schule. Aber hinter dieser Fassade verbirgt sich ein verschlagener, flexibler, unorthodoxer Mann, der, wenn es die Umstände erfordern, in seinen Methoden alles andere als ein Gentleman ist. Er behauptet, ein hervorragender Fälscher zu sein, was jedoch nur ein Scherz und eine Vorspiegelung falscher Tatsachen ist: In Wirklichkeit läßt er inhaftierte Fälscher für sich arbeiten. Man nennt ihn allgemein »K« – es ist der Beginn jener Tradition, nach der der englische Geheimdienstchef stets mit dem Anfangsbuchstaben seines Nachnamens bezeichnet wird. Kell pflegt gute Beziehungen zu dem jungen, aggressiven und sprunghaften Winston Churchill, der bereits Innenminister war und inzwischen Erster Lord der Admiralität ist. Churchill liebt Intrigen und stützt Kell, wenn es bürokratische Hindernisse zu überwinden gilt. 29
Der große Durchbruch für Kell bahnt sich an, als sich ein deutscher Marineoffizier zu Fuß von der deutschen Botschaft zu einem Friseur in der Caledonian Road begibt – das ist etwa so, als ginge ein New Yorker vom Central Park South bis nach Brooklyn, um sich dort die Haare schneiden zu lassen. Der Friseur heißt Karl Gustav Ernst. Kell läßt seine Post überwachen. Es stellt sich heraus, daß der Friseursalon die englische Postzentrale des deutschen Geheimdienstes ist. Kell setzt sich auf die Spur der einzelnen Spione und identifiziert sie. Doch – und damit begründet er eine weitere Tradition des MI5 – er läßt sie nicht verhaften, es sei denn, sie drohen etwas wirklich Wichtiges zu verraten oder wollen England verlassen. 3. Englands Elite befindet sich auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Man regiert die halbe Welt. Noch ahnt es niemand, aber so gut wie jetzt wird es ihr nie wieder gehen. König Eduard VII., der alte Playboy, ist zwar schon 1910 gestorben, aber seine Ära dauert fort: Der Reichtum, die Macht und das Prestige, die sich in der dreiundsechzigjährigen Regierungszeit Königin Victorias angesammelt haben, werden jetzt mit Wonne verschleudert. Man tafelt üppig und trinkt unglaubliche Mengen. Häuser werden immer größer, die Mode immer extravaganter, Zerstreuung und Unterhaltung treiben seltsame Blüten. Die Etikette ist ausgeufert. So darf ein Gentleman zum Beispiel in London keine braunen Stiefel tragen: bis Ascot ja, aber dann ist Schluß! Die Ausstattungshäuser in der Bond Street und der Savile Row verdienen blendend, weil man sich dort mit der für die jeweilige Tageszeit und Gelegenheit vorgeschriebenen Garderobe versorgt. Von den achtzehn Millionen Beschäftigten sind über eine Million Hausbedienstete. Die Heuchelei treibt seltsame Blüten: Jeder legt Lippenbekenntnisse zur viktorianischen Moral ab, und die homosexuellen Intellektuellen werden durch den Prozeß gegen Oscar Wilde außer Landes getrieben. Unterdessen aber verkehren Angehörige der Königsfamilie in Pariser Bordellen, und die Syphilis grassiert. Der Earl of Walden ist ein reicher Mann. Den größten Teil seines Vermögens hat er beizeiten in Londoner Immobilien angelegt und damit den Verfall der Agrarpreise, bei dem manche seiner Freunde Federn lassen mußten, gut überstanden. Um ihn, seine Frau und seine beiden Töchter im Backfischalter kümmern sich in seinen Häusern in London, Surrey, Monte Carlo und Schottland mehr als hundert Bedienstete. In diesem Jahr wird seine älteste Tochter Charlotte achtzehn und soll debütieren – das heißt, sie wird ihr Haar hochstecken, bei Hofe vorgestellt werden und dann die endlosen Parties und Bälle der Londoner »Saison« besuchen, um einen passenden Ehemann zu finden. Charlotte ist hübsch, wohlbehütet, unschuldig, kultiviert, eigensinnig und idealistisch. Sie hat eine einseitige, weltfremde Erziehung genossen. Vor einem Jahr noch trug sie Rattenschwänze und Kniestrümpfe und fragte ihre Gouvernante: »Was werde ich nach meinem Debüt tun?« »Ach, du wirst zu Partys, Bällen und Picknicks gehen und viel Spaß haben, bis du heiratest.« »Und was tue ich, wenn ich verheiratet bin?« »Nun, mein Kind, dann wirst du nichts mehr tun.« Charlotte geht dieses Gespräch nicht mehr aus dem Sinn. Die Saison in London ist ein Heiratsmarkt für die herrschende Klasse. Begehrteste Trophäe in diesem Jahr ist der russische Fürst Alexei Andrejewitsch Oblomow, ein steinreicher, gutaussehender Mann von dreißig Jahren. Er ist mit jedem zweiten gekrönten Haupt in Europa verwandt, darunter auch König George V. von England. Er ist ein Günstling seines Onkels, des russischen Zaren, und jede Debütantinnenmutter möchte ihn zum Schwiegersohn haben. Charlotte lernt ihn auf ihrem eigenen Debütantinnenball kennen und findet schnell heraus, warum er noch immer Junggeselle ist: Frauen gegenüber ist er von chronischer Schüchternheit. Es gelingt ihr, ihn ein wenig aus der Reserve zu locken. Er spricht mit großem Ernst über die Notwendigkeit von Reformen in Rußland und von der Technisierung der Landwirtschaft. Darüber hinaus tritt er für das Recht auf freie Meinungsäußerung ein, für eine LAndréform, Industrialisierung und Demokratie. 30
In seiner Umgebung gilt er als junger Hitzkopf. Seine Verwandtschaft vertraut darauf, daß er, hat er erst einmal eine Frau gefunden und eine Familie gegründet, schon einsehen wird, daß in der besten aller möglichen Welten auch in Rußland alles zum besten steht. 4. In jenen Jahren, in denen Charlotte auf Walden Hall wie in einem goldenen Käfig herangewachsen ist, haben die europäischen Mächte ein Allianzgeflecht geknüpft, das alle Länder in den Krieg zieht, sobald nur eines von ihnen damit anfängt. Die Mittelmächte – Deutschland und Österreich-Ungarn – sind von feindlichen Nationen umgeben: Frankreich, Belgien, England, Rußland, dem Balkan. Wie immer sehen sich Deutschlands Militärstrategen mit der Gefahr eines Zweifrontenkrieges gegen Rußland im Osten und Frankreich im Westen konfrontiert. Die deutsche Diplomatie bemüht sich daher, Rußland zu neutralisieren. Ein Versuch, dieses Ziel zu erreichen, ist bereits gescheitert: 1905 haben der Kaiser und der Zar den Vertrag von Björkö unterzeichnet, der jedoch von ihren Regierungen nicht akzeptiert wurde. Der Chef des deutschen Geheimdienstes zu jener Zeit ist Gustav Steinhauer, ein aufgeblasener, ehrgeiziger, intriganter ehemaliger Pinkerton-Agent (Tatsache!) – und niemand anderes als der »deutsche Marineoffizier«, der sich in der Caledonian Road die Haare schneiden ließ. In England arbeiten zweiundzwanzig Spione für ihn. Als die Kriegsgefahr 1914 immer größer wird, erfährt Steinhauer aus einer englischen Zeitung, daß Fürst Oblomow in London weilt. Ihm kommt eine glänzende Idee. Wenn es gelänge, England und Rußland zu entzweien, und das genau zur richtigen Zeit, dann wäre es vielleicht doch noch möglich, Rußland aus dem drohenden Krieg herauszuhalten. Eine gewisse Verstimmung zwischen Rußland und England herrscht ohnehin bereits, weil England so vielen russischen Revolutionären Asyl gewährt. (Der Grund dafür liegt darin, daß die öffentliche Meinung und die liberale Regierung das brutale Regime des Zaren ablehnen.) Würde der Lieblingsneffe des Zaren in London einem Anschlag russischer Exilrevolutionäre zum Opfer fallen, so denkt Steinhauer, könnte es zu einer entscheidenden Verschlechterung der russisch-englischen Beziehungen kommen. Steinhauer reist nach England, um Felix entsprechend zu instruieren. 5. Charlotte, die im Morgengrauen von einer Party nach Hause kommt, bleibt wie vom Donner gerührt stehen, als sie auf eine Frau stößt, die auf dem Gehsteig schläft. Charlottes Begleiterin erklärt ihr, daß Tausende von Männern, Frauen und Kindern in London keinen anderen Platz zum Schlafen haben. Daß es so arme Menschen gibt, wußte Charlotte bisher nicht. Sie kommt nach Hause und schreit ihre Mutter an: »Warum hat mir das nie jemand gesagt?« Ihre Hysterie entspringt jedoch insgeheim noch einer zweiten Quelle: Sie hat gerade herausgefunden, wie Kinder entstehen. Es kommt ihr vor, als sei ihre ganze Erziehung nicht viel mehr als eine Verschwörung gewesen, deren einziges Ziel darin bestand, ihr falsche Tatsachen vorzugaukeln. Sie hat den Eigenwillen ihres Vaters und das weiche Herz ihrer Mutter geerbt. Nun ist sie entschlossen, sich diese Behandlung nicht länger gefallen zu lassen. Jetzt, da sie allmählich begreift, wie es in der Welt draußen wirklich aussieht, fragt sie sich, was sie unternehmen kann. Schon bald findet sie heraus, daß Frauen nicht einmal wählen dürfen. Fürst Oblomow ist vergessen. Charlotte sucht sich einen anderen, stärker künstlerisch ausgerichteten Umgang und lernt einige aufbegehrende Intellektuelle jener Zeit kennen: Thomas Hardy, Emmeline Pankhurst, Bertrand Russell, George Bernard Shaw, D. H. Lawrence. Zum Entsetzen ihrer eigenen gesellschaftlichen Kreise verkündet sie – rein theoretisch –, daß sie an die freie Liebe glaube, und bereitet ihren Eltern schlaflose Nächte, weil sie an einer Suffragetten-Demonstration teilnehmen will. 6. Kell, der Leiter des MI5, liest noch immer die Post des Friseurs Ernst und erfährt auf diese Weise von Steinhauers bevorstehender Ankunft. Er läßt ihn beschatten. Steinhauer trifft sich mit Felix und erläutert ihm seinen Plan. Felix ist begeistert: Einen Aristokraten umzubringen, und das mit Billigung seiner Vorgesetzten, ist für ihn wie Ostern und Weihnachten zusammen. Er fragt, wie er an Oblomow herankommen kann. Steinhauer 31
zeigt ihm die englische Zeitung, in der darüber berichtet wird, daß Oblomow das Debüt von Charlotte, Viscountess of Walden, am Belgrave Square 19 besucht hat. Mach dich an diese Charlotte heran, meint Steinhauer, vielleicht führt sie dich zu Oblomow. 7. Kell erfährt von dem Treffen, weiß aber nicht, was besprochen wurde. Er beschließt, Felix unter die Lupe zu nehmen. Eines Abends gelingt es ihm, Felix in einem Pub zu treffen und sogar ein paar Worte mit ihm zu wechseln. Instinktiv spürt er, daß Felix ein interessanter Fall und äußerst gefährlich ist. Zwar verfügt er nicht über genügend Personal, um jeden der Spionage Verdächtigten rund um die Uhr überwachen zu lassen, doch hat er einige Informanten im revolutionären Untergrund. Einer davon ist Andre Barre, ein Bolschewik. Kell bittet Barre, alles nur Erdenkliche über Felix herauszufinden. Das ist Kells großer Fehler. 8. Charlotte geht tatsächlich zu der Suffragetten-Demonstration. Weil der König es abgelehnt hat, Mrs. Pankhurst eine Audienz zu gewähren, marschieren die Suffragetten zum Buckingham-Palast. Die Polizei hat Anweisung, sie aufzuhalten, aber möglichst wenige Verhaftungen vorzunehmen (inhaftierte Suffragetten stiften noch mehr Unruhe als freie). Das Ergebnis ist, daß auf die Frauen eingeschlagen wird. Männliche Zuschauer schließen sich der Polizei an. Die militantesten unter den Frauen schwingen Gymnastikkeulen und werfen mit Pfeffer. Ein großer, einfach gekleideter Russe mit strahlenden Augen bewahrt Charlotte vor Prügeln. Er nennt sich Felix. In Sarajewo fällt Erzherzog Franz Ferdinand einem Attentat zum Opfer. Teil Zwei 9. Felix hatte ursprünglich nur geplant, Charlotte so lange zu folgen, bis er Oblomow gefunden hat, doch als er sie bei der Demonstration sieht, kommt ihm eine bessere Idee. Er bemüht sich um ihre Freundschaft, nimmt ihre politische Bildung in die Hand und verführt sie. Von Liebe kann keine Rede sein. Charlotte ist immer noch das rebellische junge Mädchen, und wiewohl Felix eine beinahe hypnotische Macht über sie gewinnt, mag sie ihn nicht besonders gern. Felix benutzt sie und fühlt sich großartig, weil er eine Aristokratin vögelt, aber er ist ihr nicht verfallen – noch nicht. Er erzählt ihr vom Leben in Rußland und von der unglaublichen Brutalität des Zarenregimes. Er gibt ihr Marx und Kropotkin zu lesen und erklärt, was es mit der Revolution und der Propaganda der Tat auf sich hat. Er spricht davon, eventuell Oblomow zu kidnappen, um die Freilassung politischer Gefangener zu erpressen. Charlotte hält das für eine großartige Idee. 10. Andre Barre, der Bolschewik, weiß, wie man an Bomben kommt, und Felix bittet ihn um Hilfe. Barre bringt Felix zu einem verrückten kleinen Litauer in Islington, der sich bereit erklärt, eine Bombe für sie zu bauen. Barre trifft sich mit Kell und berichtet, daß Charlotte ein Verhältnis mit Felix hat, verrät jedoch kein Wort über den Oblomow-Plan. Warum? Jeder in der revolutionären Bewegung vertraut Barre, weil jeder weiß, daß er unvorstellbare Folterungen überstanden hat. Die Schergen der zaristischen Polizei haben ihm die Fingernägel ausgerissen und den Penis abgeschnitten. Also glaubt jeder, der Zar könne keinen unversöhnlicheren Feind haben als ihn. Aber das stimmt nicht. In Wirklichkeit ist Barre nur noch ein lebender Leichnam ohne eigenen Willen. Er arbeitet nicht nur für Kell, sondern in erster Linie für die Ochrana, die russische Geheimpolizei, seine Folterer. Er hat der Ochrana vom Oblomow-Komplott berichtet und Anweisung erhalten, die Attentatsvorbereitungen nach Kräften zu unterstützen. Warum? (a) Um ihre immer brutaleren Unterdrückungsmaßnahmen zu rechtfertigen, verfolgt die Ochrana die Strategie, anarchistische Gewalttaten zu fördern, (b) Dies gilt insbesondere für London. Mit Hilfe von Agents provocateurs sollen die Engländer so weit verschreckt werden, daß sie die Revolutionäre nach Hause schicken, wo man sie dann ins Gefängnis stecken, foltern und hinrichten kann, (c) Während der Zar Oblomow für einen harmlosen Feuerkopf hält, der sich bald beruhigen wird, befürchtet die Ochrana, der junge Mann könne 32
sich zu einem gefährlichen Sozialdemokraten entwickeln und langfristig die Machtposition der Geheimpolizei untergraben. Sein Tod liegt also im Interesse der Ochrana. 11. Charlotte nimmt den Kontakt zu Oblomow wieder auf und überredet ihre Mutter, für ihn eine Wochenendparty auf Walden Hall in Surrey zu geben. Sie erreicht ihren Willen unter anderem durch die Andeutung, Oblomow könne sich in sie verliebt haben. Oblomow ist tatsächlich in Charlotte verliebt. Er zieht aus der Einladung den Schluß, daß er bei ihr reelle Chancen hat. Charlotte verschafft Felix eine Stelle als Gärtner auf Walden Hall. Dann geht sie zum erstenmal zu Felix nach Hause und lernt seine hochschwangere Frau kennen. Von nun an beginnt ihr Vertrauen in Felix zu schwinden. 12. Kell wird mißtrauisch, weil er so lange nichts von Barre gehört hat, und setzt einen seiner Männer auf ihn an. Felix sieht, wie der Mann Barres Haus verläßt, und verfolgt ihn bis zu Keils Hauptquartier. Er erkennt, daß Barre ein Polizeispitzel ist, und tötet ihn. Dann holt er die Bombe ab und reist nach Walden Hall, um dort das Wochenende zu verbringen. Österreich erklärt Serbien den Krieg. Teil Drei 13. Am Samstagvormittag macht Oblomow Charlotte einen Heiratsantrag. Die »Entführung« ist für den Nachmittag geplant; Charlotte soll Oblomow in eine verlassene Waldhütte locken. Da sie befürchtet, er könne im Falle einer Ablehnung des Heiratsantrages Walden Hall sofort verlassen, macht sie ihm Hoffnungen und verspricht, ihm ihre Antwort am Nachmittag in der Hütte zu geben. Unter den Gästen befindet sich ein angesehener Chirurg. Zögernd und verschämt fragt ihn Charlotte: »Wenn eine Frau nicht mehr ... blutet, ist das etwas ... Ernstes?« Der Arzt antwortet: »Normalerweise ist sie dann schwanger.« Charlotte erblaßt. 14. Kell erfährt, daß Barre tot ist. Von Felix hat er jede Spur verloren. Da fällt ihm eine andere Verbindung zu Felix ein – Viscountess Walden. Am Belgrave Square erfährt er, daß die Waldens auf dem Land eine Party für Fürst Oblomow geben. Kell ahnt, was dort geschehen soll, und eilt nach Walden Hall. (Er könnte auch ein Telegramm schicken, das von Charlotte und Felix abgefangen wird.) 15. Charlotte bricht schon früh zu dem Stelldichein in der Waldhütte auf. Sie will Felix sagen, daß sie ein Kind von ihm erwartet. Sie unterbricht ihn dabei, wie er gerade den Zünder der Bombe einstellt. Kell trifft auf Walden Hall ein und sucht Oblomow. Charlotte erkennt, daß hier keine Geiselnahme, sondern ein Mord geplant wird und daß sie mit Oblomow sterben soll. Sie sagt Felix, daß er damit auch sein eigenes Kind umbringen würde. Plötzlich merken die beiden, daß die Bombe, weil Felix bei der Einstellung des Zünders unterbrochen wurde, in wenigen Sekunden explodieren wird. Felix wirft sich darüber und wird durch die Detonation grauenvoll verstümmelt. Sterbend nimmt er Charlotte das Versprechen ab, das Kind nicht zur Adoption freizugeben. Sie verspricht es. Oblomow kommt. Er glaubt – wie bald darauf auch alle anderen –, daß Charlotte ihm aus purem Zufall das Leben gerettet hat. Charlotte nimmt Oblomows Heiratsantrag an. Rußland ruft die Generalmobilmachung aus. Ende. Analyse des ersten Entwurfs Wenn Sie diesen Entwurf gelesen haben, sollten Sie sich eigentlich ermutigt fühlen. Es ist gewissermaßen der Embryo eines Buches, das zwanzig Wochen lang auf der Bestsellerliste der New York Times stand und von dem über vier Millionen Exemplare in zwei Dutzend Sprachen verkauft wurden. Und wie Ihnen vielleicht aufgefallen ist: Besonders gut ist dieser erste Entwurf nicht. Follett hat zwar recht interessantes Hintergrundmaterial zusammengetragen und mit dem Attentatsversuch auch eine dramatische Grundsituation 33
geschaffen, doch hält er es in diesem frühen Stadium noch nicht für nötig (und Sie sollten es auch nicht tun), jede seiner Figuren schon mit einer kompletten Vorgeschichte auszustatten und alle Details eines komplizierten Thriller-Plots auszuarbeiten. Das Wichtigste, worüber Sie sich beim Entwurf einer Romanhandlung von Anfang an im klaren sein müssen, ist folgendes: Lassen Sie sich nicht einschüchtern oder entmutigen, wenn Sie merken, daß es Ihnen nicht gelingt, nach einem Tag oder einer Woche Arbeit an einem Entwurf zu sagen: Genau das ist es! Sie sollten vielmehr darauf gefaßt sein, daß Ihr erster Entwurf ein wenig vage und unbestimmt ausfällt und daß ein paar Handlungsstränge am Ende noch in der Luft hängen. Sie werden sich daher das Exposé neuerlich vornehmen, die Handlung durch zusätzliche Elemente ergänzen, die Vorgeschichte der Personen erweitern und deren Kontakte untereinander ausarbeiten müssen. Auch müssen Partien, die Sie nicht mehr ändern wollen, den neu hinzukommenden Ideen angepaßt werden. Höchstwahrscheinlich werden Sie auch in Ihrem Zweitentwurf noch Unstimmigkeiten finden und die ganze Prozedur ein zweites Mal wiederholen müssen. Was hier folgt, sind drei weitere Entwürfe für Der Mann aus St. Petersburg. Bei Die Säulen der Erde waren es insgesamt neun. Aber geben Sie acht! Ein Buch zu planen ist etwas ganz anderes, als ein Buch zu schreiben. Ihr letzter Entwurf wird Ihnen mehr nützen, wenn Sie ihn nicht zu einem Kurzroman ausarten lassen. Am besten fahren Sie, wenn Sie jede Figur bei ihrem Erstauftritt in ein oder zwei Absätzen charakterisieren. Ungefähr ebensoviel Raum (höchstens jedoch eine Seite) widmen Sie der Schilderung der Haupthandlung pro Kapitel oder Szene. Wie lang ein Entwurf sein soll, läßt sich schlecht sagen. Ich würde einen Umfang von zwanzig bis vierzig zweizeilig geschriebenen Seiten empfehlen. Belasten Sie sich in diesem Stadium nicht mit Einzelheiten des Dialogs, mit Beschreibungen oder inneren Monologen. Wenn Sie später an die eigentliche Schreibarbeit gehen, wollen Sie unvoreingenommen sein und Ihrer Inspiration freien Lauf lassen können. Hinzu kommt, daß man auch und gerade während der Arbeit am Manuskript, wenn der Roman sein Eigenleben entwickelt, oft noch vom Entwurf abweicht und ihn zumindest teilweise revidiert. Sie werden das im vorletzten Kapitel dieses Buches noch sehen. Wie in Folletts drei vorangegangenen Erfolgsbüchern Die Nadel, Dreifach und Der Schlüssel zu Rebecca besteht der Hauptkonflikt im Erstentwurf zu Der Mann aus St. Petersburg in der Rivalität zwischen zwei Geheimdiensten und wird in diesem Fall durch den Engländer Kell und den Deutschen Steinhauer personifiziert. Die beiden haben jedoch nie direkt miteinander zu tun. Am nächsten kommen sie sich, als Kell den Deutschen beschatten läßt. Außerdem fehlen ihnen nähere Beziehungen zu anderen Personen der Geschichte, so daß sich ihre Rolle eher auf eine technische Funktion reduziert. Felix, der deutsche Agent und MöchtegernAttentäter, wird Schwarz in Schwarz dargestellt, ein rücksichtsloser Mörder und Frauenverführer, der nicht nur bereits in Bigamie lebt, sondern außerdem noch die naive Charlotte verführt und seinem Willen unterwirft. Charlotte kriegt zwar am Ende noch die Kurve, indem sie Felix die Stirn bietet, doch gibt es im Grunde keinen einzigen wirklich starken Protagonisten. Beachten Sie auch, daß fast alle Figuren primär aus politischen Motiven handeln. Da Follett die zwischenmenschlichen Beziehungen noch weitgehend vernachlässigt, bleibt die persönliche Intensität gering – ausgenommen, bis zu einem gewissen Grade, die Beziehung zwischen Charlotte und Felix. Oblomow spielt keine aktive Rolle in der Handlung. Er ist nur ein sonderbarer Verehrer Charlottes, der obendrein auf der Abschußliste des russischen Geheimdienstes steht. Lord und Lady Walden, Charlottes Eltern, denen Walden Hall, der Schauplatz des dramatischen Höhepunkts, gehört, sind nur Randfiguren, die außer dem luxuriösen Kolorit der zeitgenössischen britischen Oberschicht nichts zur Handlung beitragen. Keine Figur ist ein »überlebensgroßer« Charakter, und keine – außer vielleicht Charlotte bei ihrer Wandlung von der unschuldigen Naiven zur couragierten, freimütigen Frau – gibt Anlaß 34
zu der Hoffnung, sie könne den Leser für sich einnehmen. Die Hauptschwäche des Entwurfs liegt allerdings in seiner unscharfen Fokussierung. Von wem handelt dieses Buch? Welche Person zieht uns gleich zu Beginn des Romans in ihren Bann und gibt uns bis zum Ende nicht mehr frei? Es reicht nicht, daß Steinhauer Oblomow umbringen lassen will – das will auch die russische Geheimpolizei, die in der Geschichte einmal auftaucht und gleich wieder verschwindet, ohne daß sie durch eine konkrete Person lebendig verkörpert wird. Auch Steinhauer, der Drahtzieher des Mordkomplotts, verschwindet einfach wieder, nachdem er Felix seine Instruktionen gegeben hat. Charlotte hilft Felix auch dann noch, als sie längst weiß, daß er sie betrogen hat. Und Kell, dessen Aufgabe es doch offensichtlich ist, das Attentat zu verhindern, ist am dramatischen Höhepunkt nicht beteiligt und tut auch sonst nichts Aufregendes. Der Hauptkonflikt der Geschichte besteht im ersten Entwurf in der Auseinandersetzung zwischen Kell und Felix, wird jedoch nirgends konkret greifbar. Von der einen Begegnung im Pub abgesehen, gibt es keinen persönlichen Kontakt zwischen den beiden. Trotz all dieser Einschränkungen war mit diesem ersten Entwurf die Saat für das Buch, das später daraus entstand, ausgebracht. Der Mordplan schuf eine klar umrissene, spannungsgeladene dramatische Frage. Das Risiko ist denkbar hoch – schließlich steht das Schicksal der Welt auf dem Spiel. Der Hintergrund, so unvollkommen er auch noch entwickelt sein mag, ist farbig und vielversprechend. Und Szenen wie die Verführung einer jungfräulichen Angehörigen des englischen Hochadels durch einen deutschen Spion sowie Felix´ späterer spontaner Entschluß, sich selbst zu opfern, um das Mädchen und sein ungeborenes Kind zu retten, verheißen einige Spannung. Sehen wir uns nun an, wie Folletts zweiter Entwurf auf dem ersten aufbaut. Auslassungen sind im folgenden jeweils durch drei Punkte gekennzeichnet; es handelt sich um Wiederholungen aus dem ersten Entwurf. Kursivdruck kennzeichnet gekürzte Wiederholungen wichtiger Handlungselemente aus dem Erstentwurf. Zweiter Entwurf Prolog Peter und Lizzie, zwei junge amerikanische Touristen, besuchen den Walden Wildlife Park in Surrey, England. Der Park liegt auf dem Gelände von Walden Hall, einem herrschaftlichen Haus, das der Öffentlichkeit zugänglich ist. Peter und Lizzie sind begeistert von der phantastischen Gartenanlage mit ihren Ausblicken, Wasserfällen, Seen, künstlichen Hügeln und verschwiegenen Pfaden. Am meisten gefallen ihnen die ulkigen kleinen Häuschen in den absonderlichsten Stilarten, die überall im Garten verteilt sind. Einen knappen Kilometer vom Haus entfernt stoßen Peter und Lizzie in einem verwilderten Teil des Gartens auf einen kleinen Pavillon mit einem Erker. Sie gehen hinein. Drinnen ist es sauber, die Sitze sind aus Marmor, und der Brunnen funktioniert. Es gefällt ihnen dort. Sie rauchen einen Joint und versuchen sich das Leben der steinreichen Leute vorzustellen, die einst hier wohnten. Sie lieben sich und tun dabei, als wären sie Lord und Lady Walden. Kurz darauf hören sie eine Stimme, die sagt: »Ich habe jemanden keuchen gehört, deshalb habe ich draußen gewartet.« Eine Frau tritt ein, die um die achtzig Jahre alt sein muß. Peter sieht ein, daß sie sich ein wenig danebenbenommen haben, und setzt zu einer Entschuldigung an. Die alte Dame sagt mit einem Augenzwinkern: »Macht nichts, macht nichts, es gab eine Zeit, da hab´ ich´s hier drinnen auch getrieben.« Peter und Lizzie wechseln einen Blick, der besagt: Was für ein Original! Wie sich bald herausstellt, ist die alte Dame die Eigentümerin des Anwesens. »Es war nicht nur ein Liebesnest«, sagt sie. »Um ein Haar wäre ich hier drinnen umgebracht worden.« Ihr Name ist Lady Walden, und das ist die Geschichte, die sie erzählt: Teil l 1. Im Jahre 1914 dient der Pavillon zwei Schwestern auf Walden Hall als Versteck. Die 35
Mädchen heißen Charlotte und Belinda und sind achtzehn und sechzehn Jahre alt (wiewohl man sie ihrer Unterhaltung nach für erheblich jünger halten könnte). Gewöhnlich werden sie von ihrer Gouvernante argwöhnisch bewacht, doch das Hausmädchen Sarah, das die Gouvernante an deren freiem Tag vertritt, nimmt es mit ihren Pflichten nicht so genau. Während Sarah sich mit ihrem Freund trifft, können die Mädchen ungestört den Pavillon aufsuchen. (...) Heute reden Charlotte und Belinda über Sex, ein Thema, über das sie nach heutigen Maßstäben geradezu atemberaubend wenig wissen. Sie sind sich einig, daß die Babys wohl im Bauch einer Frau wachsen müssen, können sich aber nicht vorstellen, wie sie diesen verlassen. Charlotte weiß, wo die Eier bei den Hühnern herauskommen, und Belinda hat einmal zufällig miterlebt, wie ein Kalb auf die Welt kam. Beide sind überzeugt, daß ihr eigener Körper keine Öffnung hat, die groß genug für ein Baby wäre. Ob wir wohl Mißgeburten sind?, fragen sie sich. Es gibt niemanden, an den sie diese Frage richten können. Und die Frage, wie Babys entstehen, stellt sich ihnen erst gar nicht – sie nehmen an, das geschieht automatisch im Alter von etwa einundzwanzig Jahren. Und deshalb, so denken sie, werden Mädchen im Alter von neunzehn oder zwanzig zur Heirat gedrängt. 2. (...) Charlotte und Belinda sind extrem unwissende Opfer jener notorischen Verschwörung des Schweigens, die in jener Zeit das Thema Sexualität beherrscht. (...) Der Earl of Walden, Charlottes und Belindas Vater, ist ein typisches, doch liebenswertes Produkt der damaligen Elite. (...) Er ist fünfzig Jahre alt und gehört zu jenen Männern, die in diesem Alter ihre besten Jahre erleben. Sein hochgewachsener, muskulöser Körper hat noch kein Fett angesetzt. Seine herzliche Art verbirgt eine hohe Intelligenz. Er genießt das Leben in vollen Zügen und aus ganzem Herzen, liebt Jagdausflüge und Tanzpartys, umgibt sich mit jungen Männern und reifen Frauen, geht gern in die Oper und ins Variete, trinkt Ale und Portwein, spielt Poker und Schach. Von einem zeremoniellen Amt im königlichen Haushalt abgesehen, hat er keine eigentliche Arbeit, doch er ist mit mehreren hochrangigen Politikern befreundet, spielt eine aktive Rolle im Oberhaus und übernimmt des öfteren vertrauliche diplomatische Aufträge. (...) In Europa droht ein Krieg, und die deutsche Diplomatie versucht, Rußland zu neutralisieren, während Frankreich und England den Russen die feste Zusage abringen wollen, im Falle eines Angriffs auf Frankreich sofort gegen Deutschland loszuschlagen. Vor diesem Hintergrund stattet Außenminister Sir Edward Grey, ein wieselgesichtiger Vogelkundler, dem Earl of Walden einen Besuch ab. Grey erklärt, ein junger russischer General wolle die Saison (also Mai, Juni und Juli) in London verbringen. Gemeint ist Fürst Alexei Andrejewitsch Oblomow, dreißig Jahre alt, ein Neffe und Günstling des Zaren sowie ein entfernter Verwandter von Waldens Frau Lydia. Vorgeblich kommt Oblomow nach England, um sich eine Braut zu suchen, doch daneben wird er Geheimverhandlungen über die militärische Zusammenarbeit zwischen England und Rußland führen. Walden, der Russisch spricht, soll die Verhandlungen für England führen. Offen gesagt, meint Grey, werden wir den Krieg gewinnen, wenn Sie es schaffen, die Russen festzulegen. Schaffen Sie´s nicht, wird Deutschland ganz Europa erobern. 3. (...) England ist das einzige Land Europas, das keine Einwanderungsbeschränkungen kennt. Infolgedessen ist London ein Zufluchtsort für Revolutionäre. Besonders stark sind die Anarchisten vertreten. Sie besitzen ihre eigenen Clubs und eine eigene (jiddische) Zeitung. Englands Politik der offenen Tür erbost vor allem die russische Geheimpolizei – die berüchtigte Ochrana –, doch die liberale Regierung und die öffentliche Meinung in England empfinden keine Sympathie für die grausame zaristische Innenpolitik. Über sogenannte »Attaches« an der russischen Botschaft in London versucht die Ochrana, die Exilrevolutionäre im Auge zu behalten, was ihr besser gelingt als der ebenso heiteren wie inkompetenten englischen Geheimpolizei, der »Special Branch« von Scotland Yard, die nicht einmal den Unterschied zwischen Menschewiken und Menschen kennt. Doch die Ochrana 36
begnügt sich nicht mit Beobachtungen. (...) Oberster Drahtzieher der Ochrana in London ist Sergej Ferfitschkin, ein kaltschnäuziger, aber nicht ganz zurechnungsfähiger Intrigant mit Aktentick. Da es zu den Aufgaben der Ochrana gehört, alle diplomatischen Depeschen der russischen Botschaft zu ver- beziehungsweise zu entschlüsseln, erfährt Ferfitschkin von Oblomows bevorstehendem Besuch und macht sich darüber Gedanken. (...) Die Revolutionäre äußern sich in der Öffentlichkeit verächtlich über Oblomow. Insgeheim aber geben sie zu, daß es für die von ihnen angestrebte echte Revolution keine größere Gefahr gibt als eine Form der Demokratie, wie sie Oblomow vorschwebt. Die Ochrana hingegen, politisch naiv wie alle Geheimdienste, betrachtet ihn als hochgefährlich. (...) Angenommen, denkt Ferfitschkin, Oblomow wird während seines England-Aufenthaltes von einem exilrussischen Revolutionär umgebracht? Würde das die Briten nicht zu einer Revision ihrer Politik der offenen Grenzen zwingen? Ja, ist es nicht sogar denkbar, daß sich der Zar nach einem solchen Attentat veranlaßt sieht, als Preis für das von England so verzweifelt geforderte Militärengagement die Ausweisung der Revolutionäre zu fordern? Oblomows Ermordung käme der Ochrana also zweifach zugute. (Ist es nicht unglaubwürdig, daß sie einen ihrer eigenen Führer beseitigt sehen will? Nein. Sie hat bereits den Großherzog Sergius und den Innenminister auf dem Gewissen. In beiden Fällen ging es um Provokation.) Ferfitschkin weiß, daß Oblomow Gespräche mit dem Earl of Walden führen wird. Der Name Walden sagt ihm irgend etwas, und er gräbt in seinen Akten nach. Walden ist mit einer Russin namens Lydia verheiratet. Über Lydia gibt es eine Akte: Vor ihrer Heirat mit Walden war sie mit einem jungen Anarchisten aus St. Petersburg befreundet, Felix Muronziw. Auch über Felix gibt es eine Akte – und, ja, auch er hält sich in London auf. Ferfitschkin läßt einen seiner Agenten kommen. 4. (...) Als Student hatte Felix eine kurze, aber leidenschaftliche Romanze mit Lydia, der Tochter eines Grafen, die jedoch von ihr abgebrochen wurde (unter dem Druck der Eltern). Sie heiratete daraufhin einen englischen Grafen. Später wurde Felix von der Ochrana gefoltert, entkam aus dem Gefängnis und floh nach England. Seine Opposition gegen die herrschende Klasse hat daher ebenso starke persönliche wie politische Gründe. Jetzt ist er vierzig. (...) Er ist groß, dünn, behaart und nicht allzusehr auf Sauberkeit bedacht, doch erfüllt von einer Art animalischer Energie, die manche Frauen unwiderstehlich finden. Seine Abende verbringt er meistens im Anarchisten-Club in der Jubilee Street in Stepney, wo man trinkt und politisiert. An diesem Abend stößt Andre Barre zu Felix´ Gruppe, ein durchtriebener, nervöser Bolschewist mit Kontakten zur russischen Botschaft. Barre verkündet, er habe gehört, daß Fürst Oblomow zu Geheimgesprächen mit dem Earl of Walden nach London komme. Hier bietet sich die Gelegenheit für in die Tat umgesetzte Propaganda. Die ganze Tischrunde schwadroniert von einem Attentat. Felix jedoch bleibt still. Was er vorhat, diskutiert er nicht in der Öffentlichkeit. Barre, ein Agent provocateur, erstattet Ferfitschkin Bericht. »Glauben Sie, er weiß, wer Lady Walden ist?« fragt der. Barre meint, er habe keine Anzeichen dafür bemerkt. »Wie dem auch sei«, sagt Ferfitschkin, »er wird´s bald rausfinden.« Teil 2 5. (...) Oblomow hat seinen ersten Auftritt auf Charlottes Debütantinnenball im Hotel Savoy. Er ist nicht nur von hohem Adel und ungeheuer reich, sondern er sieht auch noch blendend aus. Der Ball ist ein grandioses Ereignis – die Debütantinnen tragen phantastische Kleider, die jungen Männer weiße Fräcke und weiße Krawatten. (...) Charlotte ist fasziniert davon, wie engagiert er (Oblomow) über die Notwendigkeit von Reformen in Rußland spricht. Als andere Gäste mit ihr tanzen wollen, muß sie regelrecht von ihm fortgezerrt werden. Etwas später plaudert sie in der Damentoilette mit einer Kusine, die sie von Frau zu Frau über 37
die Fakten des Sexuallebens aufklärt. 6. Auch Felix ist auf dem Ball. Er hat eine Arbeit als Aushilfskellner angenommen, um Oblomow aus der Nähe zu sehen. An diesem Abend will er ihn noch nicht ermorden – wenn auch nur deshalb, weil ihm das Geld für eine Waffe fehlt. In einem Flur sieht er Lydia und hört, wie sie mit »Lady Walden« angesprochen wird. Felix bleibt wie vom Donner gerührt stehen. Ihre Blicke treffen sich. Lydia wird schneeweiß im Gesicht und will sich entfernen. Er geht ihr nach und bittet sie um ein Treffen. Sie lehnt ab, hinterläßt bei ihm jedoch den Eindruck, daß er noch immer eine gewisse Macht über sie besitzt. Und er weiß jetzt, woher er das Geld für die Waffe bekommt, die Oblomow töten wird. 7. (...) Auf dem Heimweg sieht Charlotte eine Frau, die auf dem Gehsteig schläft. Sie läßt die Kutsche anhalten und spricht die Frau an. Es ist Sarah, das Hausmädchen, das in Walden Hall die Gouvernante vertrat. Sie sagt, man habe sie entlassen, weil sie schwanger wurde. (...) Zu Hause schreit Charlotte ihre Mutter an. (...) Von nun an will sie sich nichts mehr vormachen lassen. (Einer Erziehung, die nichts als eine Verschwörung zur Vorspiegelung falscher Tatsachen ist, beugt sie sich nicht mehr.) 8. Lydia, neununddreißig und immer noch eine sehr schöne Frau, hat ihre eigenen Probleme. 1894 in St. Petersburg hat sie Walden, der sie stürmisch umwarb, schon nach kurzer Zeit geheiratet. Sie mag ihren Mann, konnte aber nie ihre jugendliche Leidenschaft für Felix vergessen. Noch immer fühlt sie sich schuldig, weil sie nicht als Jungfrau in die Ehe mit Walden ging; das Schuldgefühl hängt wie eine dunkle Wolke über ihrer Ehe. Und nun ist Felix plötzlich wieder in ihr Leben getreten. Sie ist völlig verwirrt. Nein, körperlich begehrt sie Felix nicht mehr, doch die Mischung aus Schuld und zärtlichen Erinnerungen macht sie anfällig für ihn. In diesem Gefühlsaufruhr kann sie ihrem Mann nicht mehr in die Augen sehen. Sie zeigt ihm die kalte Schulter und schließt ihn mehr und mehr aus ihrem Leben aus. Teil 3 9. Ferfitschkin ist über Oblomows Woher und Wohin bestens informiert. So kann er Barre Informationen geben, die diesen wiederum für Felix unentbehrlich machen. Im Gegenzug fühlt sich Felix verpflichtet, Barre in seine Pläne einzuweihen. Also weiß Ferfitschkin, was Felix im Schilde führt. Auf Befehl von Ferfitschkin macht Barre Felix mit einem polnischen Chemiker in Clerkenwell bekannt. Der verrückte Alte bastelt Bomben. Felix sagt, er brauche eine große Bombe mit Zeitzünder. Der Chemiker nennt seinen Preis. Ich beschaffe das Geld, sagt Felix. Als Walden nicht daheim ist, besucht Felix Lydia. (Einlaß erhält er, weil er einen falschen Namen angibt.) Er sagt ihr, wieviel Geld er braucht, und bittet sie um ein weiteres Treffen eine Woche später. Lydia, die ihn schnellstens wieder aus dem Haus haben will und entsetzliche Angst hat, Walden könne etwas von ihrer vorehelichen Affäre erfahren, stimmt zu. 10. Walden und Oblomow tauschen Informationen über die Mobilmachung aus und sprechen über die militärstrategischen Pläne. Sie beginnen einen Vertrag auszuarbeiten, demzufolge beide Länder Deutschland angreifen sollen, sobald Deutschland entweder Frankreich oder Rußland angreift. Oblomow mag bei Frauen ein hoffnungsloser , Fall sein, aber er ist ein zäher Verhandlungspartner, und die erste Sitzung endet damit, daß man sich über die Definition des Begriffs »Angriff« nicht einigen kann. Walden macht einen Spaziergang. Die seltsame Stimmung Lydias ist ihm aufgefallen und stimmt ihn irgendwie mißmutig. Plötzlich steht er vor einem kleinen Haus in Chelsea. Es gehört Bonita Carlos, die eigentlich Myrtle Jenkins heißt. Bonnie war in der letzten Dekade des neunzehnten Jahrhunderts die berühmteste Kurtisane Londons gewesen. Der junge Walden war verrückt nach ihr und hatte ihr dieses Häuschen geschenkt. Wie sie heute wohl aussieht?, fragt er sich. Mein Gott, sie muß jetzt fünfzig sein. Er geht weiter. 11. Charlotte trifft sich mit Angehörigen der Avantgarde und versetzt ihre Eltern in Angst und Schrecken, indem sie ankündigt, sie wolle an einer Suffragetten-Demonstration teilnehmen. 38
12. Lydias Problem ist, daß sie kein Bargeld besitzt. Die Einkäufe für den Haushalt werden von Dienern erledigt, die nicht bar bezahlen – die Händler schicken ihre Rechnungen an Walden, der per Scheck zu zahlen pflegt. Auch Lydias Schneiderinnen, Putzmacherinnen usw. schicken Rechnungen. Wenn Lydia bei einem vormittäglichen Einkaufsbummel im Café Royal eine Tasse Kaffee trinkt, unterschreibt sie eine Quittung. Ihr eigenes Vermögen besteht aus Grundbesitz und Aktien, die sie ohne Wissen des Familienanwalts, der mit Walden eng befreundet ist, nicht veräußern kann. Ein eigenes Bankkonto hat sie nicht. In ihrer Verzweiflung nimmt sie etwas von ihrem Schmuck und verkauft ihn in Hatton Garden. 13./14. Bei der Suffragetten-Demonstration bleibt es Charlotte erspart, von der Polizei zusammengeschlagen zu werden. Ihr Retter ist ein großer, einfach gekleideter Russe, der sich als Felix vorstellt. (...) Er nimmt Charlotte mit in seine Wohnung und verführt sie. 15. Walden bittet Lydia, eines der Schmuckstücke zu tragen, das sie verkauft hat. Sie erzählt ihm, sie hätte es zur Reparatur gebracht. Tags darauf sieht er es in einem Schaufenster zum Verkauf ausliegen. Er stürmt in den Laden und beschuldigt die Leute des Diebstahls. Der Geschäftsführer führt ihn in sein Büro und erklärt, dergleichen komme nicht selten vor: Eine Lady brauche Bargeld für einen heimlichen Zweck und verkaufe ohne Wissen ihres Gatten etwas von ihrem Schmuck. (...) Gedemütigt kauft Walden den Schmuck zurück und engagiert einen Privatdetektiv, der Lydia nachspionieren soll. 16. Auf Felix´ Anweisung läßt Lydia ein Nebenzimmer in einem Restaurant reservieren. Dort treffen sie sich zum Mittagessen. Sie gibt ihm das Geld. Daraufhin bittet er um etwas anderes: um eine Arbeitsstelle. Sie gibt ihm einen Brief mit, in dem der Verwalter von Walden Hall angewiesen wird, Felix als Gärtner einzustellen. Teil 4 17. Waldens Detektiv berichtet, daß Lydia sich im Nebenzimmer eines Restaurants mit einem Mann zum Essen getroffen hat, der ungefähr so alt ist wie sie und mit dem sie russisch sprach. Der Detektiv ist dem Mann bis zu seiner Wohnung gefolgt und hat seine Adresse. Walden erteilt ihm den Auftrag, so viel wie möglich über Felix in Erfahrung zu bringen. Danach besucht Walden Bonnie – inzwischen eine gutsituierte rundliche Fünfzigerin, die von ihren Geldanlagen lebt. Längst keine Kurtisane mehr, ist sie ein wenig einsam und scharf auf einen Mann. Waldens Besuch entzückt sie. Die beiden verbringen einen herrlichen Nachmittag im Bett. Walden überlegt, ob und wie es sich bewerkstelligen läßt, weniger Zeit mit Lydia und mehr mit Bonnie zu verbringen. 18./19. Felix redet Charlotte ein, Oblomow müsse gekidnappt werden, und Charlotte überredet ihre Mutter, eine Wochenendparty für Oblomow in Walden Hall zu geben. Sie deutet an, er könne ihr einen Heiratsantrag machen. 20. (...) Sir Edward Grey sagt Walden, er müsse innerhalb der nächsten Tage zu einem Vertragsabschluß mit Oblomow kommen. (Natürlich muß der Vertrag noch von beiden Regierungen ratifiziert werden.) Walden erwidert, Oblomow werde den Vertrag wohl am nächsten Wochenende in Walden Hall unterzeichnen. Teil 5 21. Am Donnerstag vor der Wochenendparty holt Felix in Clerkenwell die Bombe ab. Der Chemiker erklärt ihm den Mechanismus. Die Einstellung des Zeitzünders ist eine heikle Angelegenheit: Zuerst muß die Bombe scharf gemacht werden, dann muß der Zünder – ein Wecker – eingestellt werden. Der Wecker wird zwei Sekunden vor der Explosion klingeln. Die Bombe wird alle Menschen im Raum töten, es sei denn, sie wird durch etwas Schweres und Weiches – zum Beispiel einen Sandsack – erstickt. Felix nimmt die Bombe an sich und macht sich auf den Weg nach Walden Hall. 22. Am Freitagvormittag erstattet der Privatdetektiv seinen nächsten Bericht. Felix sei ein Anarchist, teilt er Walden mit, und habe gestern einen Mann aufgesucht, der in Polizeikreisen als Bombenbastler bekannt sei. Danach habe er einen Zug nach Surrey bestiegen. 39
Natürlich kommt Walden sofort der Gedanke, Felix könne ein Attentat auf Oblomow vorhaben. Er wendet sich an die russische Botschaft und bittet um Leibwächter für den Fürsten. Er zerbricht sich den Kopf darüber, was Lydia in dieser Sache für eine Rolle spielen mag, hat jedoch Angst, sie danach zu fragen. Walden erkennt: Wenn Oblomow umgebracht wird, platzt nicht nur das Geheimabkommen. Es kann sogar passieren, daß sich Rußland ganz aus dem Krieg heraushält. 23. Felix, nunmehr Gärtner in Walden Hall, hört von den Leibwächtern und hält sich strikt vom Haus fern. (Niemand weiß hier, daß er Russe ist – er hat sich Felix Morrow genannt.) Am Freitagabend trifft er sich mit Charlotte im Pavillon, wo sie miteinander schlafen. Er sagt ihr, sie müsse Oblomow um Punkt vier Uhr am Samstagnachmittag in den Pavillon locken. 24. Am Samstagvormittag findet Lydia den Schmuck, den sie verkauft hat, in Waldens Schrank. Sie entschließt sich, ihm die Wahrheit zu gestehen. (...) 25. Nach dem Mittagessen ruft Ferfitschkin, der Felix´ Pläne durch Barre kennt, Oblomows Leibwächter mit der Begründung, der Fürst habe sich über ihre Anwesenheit beschwert, wieder zurück. (Ferfitschkin rechnet damit, daß Oblomow nicht mehr dazu kommen wird, die Lüge aufzudecken.) Lydia gesteht Walden unter vier Augen die Wahrheit. Walden bleibt keine Zeit, sich darüber zu freuen, daß sie ihn noch liebt, denn er weiß jetzt mit Gewißheit, daß der Attentäter in Walden Hall ist! Walden organisiert eine Suche – doch Felix, Oblomow und Charlotte sind nicht zu finden. 26. Oblomow geht allein im Wald spazieren und fragt sich, ob Charlotte ihm ihr Jawort geben wird. (...) Charlotte geht zum Pavillon und überrascht Felix dabei, wie er die Bombe scharf macht. Sie sagt ihm, er würde damit sein eigenes ungeborenes Kind töten. Felix wirft sich über die Bombe. (...) 27. (...) Walden und Lydia versöhnen sich und verbringen zweite Flitterwochen. (...) Charlotte erklärt sich bereit, Oblomow zu heiraten. Die Welt stürzt in einen Krieg. Epilog Über der Geschichte, die die fünfundachtzigjährige Charlotte Peter und Lizzie erzählt, vergeht der ganze Tag. Mittags teilen sie sich ihre belegten Brote, und abends, nachdem die Touristen alle gegangen sind, essen sie im großen Speisesaal von Walden Hall zu Abend. Gegen Mitternacht erzählt Charlotte den Rest. Sie hat Oblomow tatsächlich geheiratet. Als militärischer Verbindungsoffizier in London konnte er während des Krieges in England bleiben. Durch die Revolution verlor er sein gesamtes Vermögen, doch Walden verschaffte ihm einen Posten als Bankdirektor. Zur Überraschung aller machte Oblomow eine sehr erfolgreiche Karriere als internationaler Bankier. Walden wurde steinalt und verlor in der Weltwirtschaftskrise ebenfalls sein Vermögen. Durch die Umwandlung von Walden Hall in eine Touristenattraktion gelang es Lydias Enkeln, die familiären Finanzen wieder zu sanieren. »Das ist eine wunderbare Geschichte«, sagt Peter. »Sie sollten ein Buch darüber schreiben.« Charlotte lacht. »Niemand würde das alles glauben.« »Kann sein.« Peter denkt nach und sagt nach einer Weile: »Sie könnten einen Roman daraus machen.« Analyse des zweiten Entwurfs Wie Sie sehen, hat Follett gegenüber dem ersten Entwurf eine Fülle von Änderungen vorgenommen – und zwar durchweg wichtige Verbesserungen, die alle Hand und Fuß haben. Einige von ihnen sind Eingriffe in die Grundstruktur der Geschichte, und auf sie möchte ich etwas näher eingehen. Die Drahtzieher im Hintergrund sind diesmal nicht mehr zwei Meisterspione. Kell und Steinhauer sind verschwunden, und mit Steinhauer die gesamte deutsche Nebenhandlung. Das geplante Attentat ist nunmehr ausschließlich eine russische Angelegenheit, was der 40
Fokussierung sehr zugute kommt. Auch Felix ist jetzt Russe. Er wird von einer neuen Figur – Ferfitschkin – auf Oblomows Spur gesetzt und hie und da unterstützt. Einen unmittelbaren Einfluß auf die Hauptfiguren hat dieser Agent der russischen Geheimpolizei jedoch nicht. In den folgenden Entwürfen wird Follett, wie Sie sehen werden, sowohl Ferfitschkin als auch den armseligen Agent provocateur Barre vernünftigerweise ersatzlos streichen. Doch da sich nun Ferfitschkin, Barre und Felix die Rolle des Antihelden teilen und kein positiver Held in Sicht ist, der sich ihnen entgegenstellt, bleibt die Fokussierung unscharf, jedoch ist sie schärfer als im ersten Entwurf: Was sich zunächst als nahezu rein politisches Drama darstellte, wandelt sich nun allmählich in einen Konflikt, der von den Charakteren und ihren wechselseitigen Beziehungen getragen wird. Diese zweite Fassung läßt in Umrissen vier Hauptfiguren erkennen: Felix, Walden, Lydia und Charlotte. Alle wurden sie weiterentwickelt und in ein individuelles Beziehungsgeflecht eingebunden. Felix hat sich aus einem geld- und karrieresüchtigen Deutschen in einen idealistischen russischen Revolutionär verwandelt, einen Mann, der einst als armer Student in St. Petersburg bis über beide Ohren in ein reiches, adliges Fräulein verliebt war. Lady Walden, im ersten Entwurf noch britisch bis auf die Knochen, ist nun russischer Abstammung – und, wie sich herausstellt, niemand anderes als Felix´ einstige Geliebte. Noch immer plagen sie wegen dieser weit zurückliegenden Affäre Schuldgefühle. Zugleich sind ihre Sympathien für den Mann, der ihre große Jugendliebe war, noch nicht erkaltet. Felix ist wie vom Donner gerührt, als er Lydia auf Charlottes Debütantinnenball entdeckt. Die intime Beziehung von einst verschafft ihm die Möglichkeit, von ihr das Geld zu fordern, das er für den Kauf der Bombe braucht. Die Entdeckung, daß Lydia heimlich Schmuck verkauft, erregt Waldens Mißtrauen. Er setzt einen Privatdetektiv auf Felix an und nimmt wieder Beziehungen zu einer ehemaligen Geliebten auf. Beachten Sie die Kette von Kausalverbindungen, die nun die Handlung vorantreibt. Im Erstentwurf konnte davon nicht die Rede sein. Andererseits ist das Netz der kausalen Verbindungen, das die Geschichte zusammmenhält, noch längst nicht so eng geknüpft wie in der Endfassung. Felix ist in diesem Entwurf eine wesentlich interessantere Figur als in der ersten Version. Seine persönliche Beziehung zur Familie Walden – durch Lydia – erweckt unsere Sympathie. Er tritt uns jetzt als Mann mit einem Anliegen gegenüber, nicht mehr bloß als ein gedungener Mörder. Diesmal handelt er nicht aus Geldgier und Karrierestreben. Er allein entscheidet sich für den Anschlag auf Oblomow. Außerdem ist er nun ein Mensch, der Gefangenschaft und Folter durchlitten hat und dem auf grausame Weise die große Liebe seines Lebens genommen wurde. Daher können wir Mitleid für ihn empfinden und ein gewisses Verständnis für seine Handlungsweise entwickeln. Die kaltblütige Ermordung Barres kann uns dagegen nicht für ihn erwärmen. Noch immer ist er ein kaltschnäuziger, wenig einnehmender Antiheld und hat noch längst nicht die Statur jener starken Persönlichkeit, die in der endgültigen Version das ganze Buch beherrscht. Walden und Fürst Oblomow, bisher wenig mehr als Staffage, haben ebenfalls an Format gewonnen. Der adlige russische Junggeselle, bisher nur eine begehrte Trophäe aller britischen Debütantinnen, die auf einen reichen, adligen Ehemann spekulieren, kommt diesmal in streng geheimer Mission nach London. Er ist der Neffe des Zaren und sein persönlicher Gesandter. Sein Auftrag besteht darin, einen Vertrag mit England auszuhandeln. Zudem ist er jetzt ein weitläufiger Verwandter Lydias. Allerdings gibt ihm Follett wenig zu tun: Er läßt ihn lediglich in einer Verhandlung mit Walden auftreten und Charlotte einen Heiratsantrag machen. Sein englischer Gegenpart wird nun Lord Walden, der jetzt fließend Russisch spricht und Lydia in St. Petersburg kennengelernt und geheiratet hat. Die Aufgabe, die er zu lösen hat, ist schwer: Gelingt es ihm, Oblomow auf die Bedingungen der englischen Regierung 41
einzuschwören, kann England den drohenden Krieg mit Deutschland gewinnen. Doch was uns Walden jetzt näherbringt und sogar ein wenig Sympathie mit ihm empfinden läßt, sind seine noch schwierigeren persönlichen Probleme: Seine geliebte Frau hat ihn betrogen, und seine geliebte Tochter verrät ihn. Es sind gleichermaßen die Dolche, die in seinem Rücken stecken und gleichzeitig zur tödlichen Bedrohung für Oblomow und den so dringend benötigten Vertrag werden. Was noch immer fehlt, ist eine dynamische Verwicklung Waldens in das Mordkomplott. Seine Persönlichkeit wirkt daher noch ziemlich nichtssagend und uninteressant, zumal er beim ersten Anzeichen für die unerklärliche Verstimmung seiner Frau sofort wieder Verbindung mit seiner ehemaligen Geliebten aufnimmt und einen Detektiv engagiert, anstatt selber etwas zu unternehmen. Lydia, vordem kaum wahrzunehmen, ist durch ihre Vergangenheit und dem daraus resultierenden Gefühlskonflikt zu einem wichtigen Movens für die Handlung geworden. Weil sie fürchtet, ihre frühere Liebschaft könne ans Licht kommen, glaubt sie, Felix Geld geben zu müssen, und versetzt zu diesem Zweck ein wertvolles Schmuckstück. Obendrein gibt sie ihm noch einen Empfehlungsbrief für eine Anstellung in Walden Hall mit. Von Walden beim Lügen ertappt, bricht sie unter ihren Schuldgefühlen zusammen und gesteht ihm schließlich alles. Durch den schrecklichen Konflikt, in dem sie steckt, wächst sie allmählich zu einer Hauptfigur heran. Gleichzeitig gewinnt sie an Menschlichkeit und entwickelt ein erhebliches Potential als Sympathieträgerin. Charlotte, die im ersten und zweiten Entwurf im wesentlichen dieselbe bleibt, erfährt eine Bereicherung durch die Szenen mit Belinda, in denen ihr ganz natürliches Interesse an der Sexualität auf die Mauer des Schweigens prallt, die die viktorianische Prüderie um dieses Thema errichtet hat. Im letzten Entwurf kommt es hier noch zu einigen Modifikationen, doch die Richtung stimmt: Charlotte entwickelt sich mehr und mehr zu einer blutvollen, lebendigen Persönlichkeit. Zuletzt noch ein paar Sätze über Prolog und Epilog, die beide neu sind. Ich entsinne mich, daß Follett sie deshalb hinzufügte, weil er hoffte, modernen Lesern die fünfundsechzig Jahre alte Geschichte mit dem Hinweis auf den Fortbestand von Walden Hall näherbringen zu können. Auch die Einführung Charlottes als exzentrische alte Dame und ihre Begegnung mit den beiden jungen amerikanischen Touristen diente diesem Ziel. In der Endfassung des Buches gibt es tatsächlich einen Epilog, aber Sie werden feststellen, daß er nur noch wenig Ähnlichkeit mit dem obigen hat. Ein Prolog fehlt ganz. Peter und Lizzie, die im Pavillon einen Joint rauchen und sich lieben, führen einen oberflächlichen Ton ein, der mit der folgenden ernsten Geschichte nichts zu tun hat. Es besteht sogar die Gefahr, daß die beiden jungen Touristen und die Art, wie sie sich miteinander vergnügen, Aussage und Wirkung des Romans trivialisieren. Nehmen Sie also diesen Einstieg als Beispiel für einen mißglückten Anfang. Und fühlen Sie sich nicht entmutigt, wenn Sie bei der kritischen Lektüre einiger Szenen und Kapitel plötzlich feststellen, daß sie in Ihrem Roman nichts zu suchen haben. Dritter Entwurf Der Prolog entspricht im wesentlichen dem des vorausgegangenen Entwurfs. Eins 1. Wir schreiben das Jahr 1894, und der siebte Earl of Walden liegt im Sterben. Er ist ein typischer Vertreter der viktorianischen Aristokratie, ein Jäger, Schütze und Angler, und jetzt stirbt er an sechzig Jahren Wohlleben. Heute besteht er darauf, aus dem Bett zu steigen. Im schweren Mantel und bis zum Hals vermummt, begibt er sich – von nervösen Dienern umhuscht – durch die Wälder zu Lady Walden´s Folly. Seine verstorbene Frau hatte diesen Pavillon einst errichten lassen – angeblich für ihre Töchter. Aber sie hatte gar keine Tochter, 42
sondern zwei Söhne. Geistig nicht ganz auf der Höhe, pflegte sie selbst hier zu spielen. Der alte Earl wandert, in Erinnerungen versunken, umher, erreicht schließlich, zu Tode erschöpft, die Zinnen und starrt auf den Ausblick, den seine Frau so liebte. George, sein zweiter Sohn, trifft ein. Der Earl fragt nach Stephen, dem älteren. »Er ist in St. Petersburg«, sagt George. Der Graf brummt: »Zum Schießen wird er dort kaum kommen.« Dann stirbt er. 2. Lydia, die Tochter eines Grafen, ist 1894 in St. Petersburg die Attraktion der Saison. Sie ist neunzehn Jahre alt, von einer zarten und ein wenig farblosen Schönheit und entsetzlich tugendhaft: bescheiden gekleidet, gehorsam gegenüber ihren Eltern, respektvoll gegenüber Älteren, hoffnungslos unpraktisch und eine fromme Kirchgängerin. Bei der geringsten Andeutung einer Ungehörigkeit fällt sie sofort in Ohnmacht. Das alles ist jedoch bis zu einem gewissen Grad nur Fassade, denn insgeheim unterhält sie eine verrückte, leidenschaftliche Liebesbeziehung mit einem anarchistischen Studenten namens Felix Muronziw. (...) Felix hielt sich schon als Junge immer für etwas Besonderes – einen hochbedeutenden Menschen, der nur vorübergehend im Kleinbürgertum untergeschlüpft ist. Er hat ein befehlsgewohntes Wesen entwickelt und instinktiv die Psychologie des Herrschens erfaßt. Die Aristokratie (der er sich in seinen Phantasien zugehörig fühlt) lernt er erstmals verachten, als er merkt, daß die hohen Herrschaften im Laden seines Ziehvaters ihre Rechnungen nicht bezahlen. Er wirkt unterernährt: ein großer, zaundürrer Mann mit hagerem, bleichem Gesicht, großen Augen und starrem Blick. Er ist feurig, leidenschaftlich, idealistisch und zornig auf die ganze Welt. An der Universität wurde er zum Anarchisten. Die intellektuelle Begründung für seine politischen Ansichten klingt halbwegs vernünftig, doch seine Heftigkeit rührt aus persönlichen Konflikten und Haßgefühlen. An diesem Abend gelingt es Lydia auf dem Weg zu einem Empfang in der britischen Botschaft, ein kurzes Stelldichein mit Felix einzuschieben. Wie immer, wenn sie sich lieben, schreit sie auf dem Höhepunkt: »Hilfe!« Sie wirkt beglückt und ganz entzückend, als sie die Botschaft betritt. Dort erobert sie das Herz eines Engländers namens Stephen Walden, der besuchsweise in St. Petersburg weilt. Der junge Walden ähnelt seinem Vater, dem siebten Earl – und zwar so sehr, daß die beiden nicht zusammenleben können. Stephen wurde 1864 geboren. Er hat reiten gelernt, bevor er gehen konnte, und schießen, bevor er schreiben lernte. Er war in Eton, wo er durch sein ungebührliches Benehmen auffiel, und in Oxford, wo er zur allgemeinen Überraschung sogar den Abschluß schaffte (in Geschichte). Mit Dreiundzwanzig unternimmt er seine erste Afrikareise und entdeckt dort sein Faible für die Großwildjagd. Auf derselben Reise stößt Stephen auch auf einen Diener, der für den Rest seines Lebens bei ihm bleiben soll. Pritchard, damals sechzehn, ist der intelligente, zynische Sohn eines Londoner Hemdenschneiders. Er ist früh von zu Hause fortgelaufen, hat als Seemann angeheuert und ist in Sansibar wieder an Land gegangen. Auf der Safari entwickelt sich ein enges Band zwischen den beiden Männern. Pritchard, der Englands Oberschicht ansonsten verachtet, empfindet eine tiefe Loyalität gegenüber Walden, der seinerseits, obgleich er zu Bediensteten Distanz hält, mit Pritchard redet wie der Generaldirektor einer Fabrik mit seinem höchsten Angestellten, sobald sie allein sind. In London läßt sich Walden mit leichten Damen ein. (...) Doch Bonnie, eine Sängerin, läßt ihn fallen, als ihr der Thronfolger Avancen macht. Aber Walden hat England schon vorher als beengend empfunden und nur wenig Zeit dort verbracht. Er ist ein rastloser junger Mann, stets auf der Suche nach Abenteuern. Jedes Jahr geht er einmal auf Safari, und in der übrigen Zeit bereist er die Welt. In allen Hauptstädten ist er, der Erbe eines Grafentitels, Gast des englischen Botschafters. Die Diplomaten, denen sein Ruf als Tunichtgut zu Ohren gedrungen ist, sind über seine Intelligenz, seine Kenntnisse in Fragen der internationalen Politik und seine sprachliche Begabung überrascht. Und tatsächlich legt er jetzt die Grundlagen für das, was sich später zu einem beachtlichen außenpolitischen Fachwissen entwickeln soll. 43
An diesem Abend hat man ihn beim Essen neben Lydia gesetzt. Obwohl sie eigentlich nicht sein Typ ist – dafür ist sie viel zu zurückhaltend –, findet er sie bezaubernd. Er denkt: »Wenn ich auf der Suche nach einer Ehefrau wäre (...), aber das bin ich nicht.« Lydia, die sich in ihrer Leidenschaft zu Felix sicher wähnt, läßt sich nur auf einen kleinen Flirt mit ihm ein. Am späten Abend erhält Stephen ein Telegramm aus England, das ihm den Tod seines Vaters meldet. Die Nachricht hat eine seltsame Wirkung auf ihn. Er weint zwar nicht, aber er sagt eine Verabredung zum Karten spiel ab und bleibt die Nacht grübelnd wach. 3. Am darauffolgenden Morgen eröffnet Lydias Vater, der alte Graf, seiner Tochter, daß er über ihr Verhältnis mit Felix Bescheid weiß. Er schäumt vor Wut. Lydia rennt aus dem Haus und begibt sich zu Felix´ Wohnung, fest entschlossen, mit ihm durchzubrennen. Doch Felix ist nicht da. – Er wurde verhaftet, sagt seine Vermieterin, weil er ein Anarchist ist. Inzwischen stattet Stephen, nunmehr der achte Earl of Walden und von jedermann mit »my Lord« tituliert, dem alten Grafen einen Besuch ab und bittet formell darum, um Lydia werben zu dürfen. Der Graf stimmt zu und sagt, er solle am nächsten Tag wiederkommen. Lydia kehrt heim und wirft ihrem Vater vor, er habe Felix verhaften lassen. Der Graf gibt es zu. Außerdem, sagt er, werde Felix in diesem Moment bereits von der Ochrana, der Geheimpolizei des Zaren, gefoltert, damit er die Namen anderer Anarchisten preisgebe. Lydia gerät völlig außer sich. Erst schreit sie nur, dann fleht sie ihren Vater an, Felix´ Freilassung zu erwirken. »Ich werde alles dafür tun«, sagt sie, »alles, was du willst!« Ihr Vater antwortet: »Wirst du Stephen Walden heiraten?« (...) Zwei Wir schreiben 1914. (...) Es ist der letzte lange Sommer des britischen Empires. (...) l. Nach dem Tod seines Vaters hat Stephen Walden Lydia geheiratet und nach England gebracht, wo er sich auf Walden Hall einquartiert und seinen Platz im Oberhaus einnimmt. Er wird seßhaft. Er hat festgestellt, daß das Familienvermögen unter dem Zusammenbruch der Agrarpreise gegen Ende des viktorianischen Zeitalters etwas gelitten hat. Während andere Gutsbesitzer nach Schutzzöllen schreien, legt Walden sein Geld in Londoner Grundbesitz und Eisenbahnaktien an und ist inzwischen reicher, als es sein Vater jemals war. (...) Sein großer, muskulöser Körper hat noch kein Fett angesetzt, doch in einem Bein macht sich die Gicht bemerkbar, weshalb er am Stock geht. (...) In Surrey frönt er der Fuchsjagd, und in Schottland schießt er Moorhühner. Mit der Großwildjagd ist das alles jedoch nicht zu vergleichen, und so sitzen er und Pritchard oft noch spät in der Nacht zusammen im Waffenzimmer beim Portwein und schwelgen, von ausgestopften Löwen-, Elefanten- und Nashornköpfen umgeben, in Erinnerungen an die alten Zeiten in Afrika. (...) Von England aus betrachtet, scheint Europa vom deutschen Kaiserreich bedroht, das zusehends reicher wird und sich immer aggressiver gebärdet. Die deutsche Jahresproduktion an Stahl hat beispielsweise bereits die britische überrundet und wächst noch immer. Die englische Marine, Hüterin der britischen Handelswege, sollte eigentlich größer sein als die der beiden nächstgrößeren Mächte zusammengenommen, doch Deutschland holt auf und weigert sich, über eine Rüstungsbegrenzung zu verhandeln. Im vergangenen Jahr sind die deutschen Kriegsvorbereitungen immer offenkundiger geworden. Die Regierung hat eine einmalige Sondersteuer erhoben und damit eine Milliarde Mark eingenommen – die höchste Steuereinnahme in der Geschichte Europas. Das Geld soll in den Ausbau der Reichswehr und in die Rüstung gesteckt werden. – Inzwischen werden ausnahmslos alle wehrtauglichen Männer eingezogen. Auf dem Geldmarkt in London haben deutsche Firmen Kredite fakturiert, das heißt, sie geben Rabatt auf frühzeitige Kreditrückzahlungen. Dies hat zur Folge, daß Deutschland zwar aller Welt Geld schuldet, seine eigenen Forderungen jedoch eingetrieben hat. Kurzum, Deutschland ist kampfbereit. (...) Da ein Zweifrontenkrieg befürchtet wird, ist es das Ziel der deutschen Diplomatie, 44
Rußland zu neutralisieren. Ein Versuch wäre beinahe von Erfolg gekrönt gewesen, und Walden war persönlich an seiner Vereitelung beteiligt. 1906 hatte Kaiser Wilhelm II. den willensschwachen Zaren zur Unterzeichnung des Vertrags von Björkö überredet. Wäre er von den Unterzeichnern jemals eingehalten worden, hätte dieser Vertrag die Machtverteilung in Europa grundlegend verändert. Tatsächlich aber wurde er ebenso rasch wieder vergessen, wie man ihn unterzeichnet hatte, und das war nicht zuletzt Waldens Verdienst, der nach St. Petersburg entsandt worden war, um den Zaren zur Nichteinhaltung des Vertrages zu bewegen. Walden betrachtet dies als den größten Erfolg seines Lebens. (...) Jetzt wird Walden darum gebeten, England in den Geheimgesprächen mit Oblomow zu vertreten, der überdies in Waldens Londoner Haus logieren soll. Obwohl Walden auf dem internationalen diplomatischen Parkett kein Neuling mehr ist, macht selbst ihn die Brisanz seiner Aufgabe etwas beklommen. Schließlich geht es um nichts Geringeres als darum, den Zaren auf die britische Seite zu ziehen. Walden hat natürlich auch starke persönliche Motive: Er liebt Rußland, seine Frau ist Russin, und er hat große Summen in die Transsibirische Eisenbahn investiert. Entscheidend ist jedoch seine Überzeugung, daß Deutschland, sollte Rußland neutral bleiben, ganz Europa erobern wird. 2. (...) Charlotte ist ein von ganz auf sie fixierten Eltern, Gouvernanten und Dienern aufgezogenes Einzelkind. Völlig verzogen ist sie nicht – dazu ist sie zu gutmütig –, aber in puncto Eigensinn kann sie durchaus mit ihrem Vater konkurrieren. Seit 1894 mußten ihre Eltern, jeder auf seine Weise, ihre Spontaneität und ihren Freiheitswillen zugunsten einer reputierlichen Lebensführung unterdrücken, doch ihre unterschwelligen Neigungen sind in ihrer Tochter wieder zum Vorschein gekommen. Ob bewußt oder unbewußt – jedesmal, wenn die kleine Charlotte aus ihrem Kinderbettchen entwischte, mußten Walden und Lydia lächeln. Dennoch ist Charlottes Erziehung höchst einseitig. Sie hat immer nur Gouvernanten gehabt. Ihre einzige echte Freundin ist ihre Cousine Belinda, die sich in einer ähnlichen Situation befindet (zwar ist sie kein Einzelkind, doch ihre drei Brüder sind noch sehr klein). Charlotte hat noch nie gesehen, unter welchen Bedingungen arme Leute ihr Leben fristen. Sie kennt noch nicht einmal die Zimmer der Dienstboten im eigenen Haus, und sie durfte nie mit den Kindern der Bediensteten und Pächter spielen. (Lydia erinnert sich nur noch zu gut an die schrecklichen Versuchungen, denen sie selbst einst unterlag, als sie dem einfachen Volk in der Gestalt Felix´ begegnete. Der Gedanke, ihre Tochter könne Ähnliches erleiden, erschreckt sie. [...] Allerdings spricht Charlotte sowohl Russisch als auch Französisch [...].) Eigenwillig, gebildet, überbehütet (...), hat Charlotte noch eine weitere Eigenschaft: Sie ist eine Idealistin. Sie erkennt, daß nur den weißen Aristokraten Europas ein Recht auf Reichtum, Macht und Müßiggang zugestanden wird, doch ihr fällt kein Grund dafür ein, warum nicht auch der Rest der Welt wohlgenährt, ordentlich gekleidet und glücklich sein sollte. Alle Menschen, denen sie begegnet, sind relativ gut situiert, denn ihr Vater verkörpert den geradezu klassischen Typ des Landedelmanns, der seinen Pächtern in schlechten Zeiten unter die Arme greift (und dafür satte Pachteinnahmen kassiert) und auch für seine Dienerschaft sorgt (wobei er ihnen allerdings Hungerlöhne zahlt). Die Kehrseite der Medaille kennt Charlotte nicht. Sie weiß nur, daß im Dienst ergraute Hausangestellte ein kleines Häuschen und eine Pension, frischgebackene Mütter einen Korb mit Lebensmitteln und in kalten Wintern jeder eine heiße Suppe bekommt. Schließlich ist Charlotte auch noch ebenso schön wie ihre Mutter. Derzeit ist ihre Schönheit noch ganz natürlich: ein unschuldiges Lächeln, ein reiner Teint, ein anmutiger Gang. Bald wird sie lernen, sich wie eine Frau zu kleiden, und dann wird sie einfach hinreißend sein. (...) Charlotte beobachtet ihre Mutter und die anderen Damen der Gesellschaft. Sie erkennt, daß diese Frauen zwar ständig mit irgendwelchen Geselligkeiten und Veranstaltungen beschäftigt sind, letztlich jedoch absolut nichts tun. Wie jeder Teenager stellt sich auch Charlotte die Frage, was sie mit ihrem Leben anfangen will. Die Aussicht auf ein Leben in Untätigkeit macht sie alles andere als glücklich. So erlebt sie ihre ganz persönliche Version 45
einer jugendlichen Identitätskrise. Indem sie sich ihr stellt, wird sie, wie einst ihre Eltern im Jahre 1894, die Wahl zwischen Freiheit und Verantwortung treffen müssen. (Die viktorianische Tabuisierung der Sexualität kann nur selten so vollkommen funktioniert haben wie in diesem Fall. Die Kinder der Armen schlafen in winzigen Häusern, in denen sich nichts verbergen läßt; die Kinder der Mittelklasse werden von Schulfreunden und -freundinnen »aufgeklärt«. Selbst adlige Mädchen lernen von ihren älteren Brüdern. Totales Unwissen ist nur möglich, wenn Mädchen so behütet und isoliert aufwachsen wie Charlotte und Belinda.) (...) 3. Dieter Hartmann, die rechte Hand des deutschen Botschafters in London, sieht die Lage in Europa ganz anders als Walden. Der Aufstieg seines Landes zur Großmacht erfüllt ihn mit Stolz. Wo steht denn geschrieben, so fragt er sich, daß England die Welt regieren und Deutschland ewig eine Macht zweiter Klasse bleiben soll? Das Problem liegt darin, daß das Deutsche Reich Gefahr läuft, vom Rest der Welt isoliert zu werden, insbesondere von den Vereinigten Staaten, Afrika und dem Fernen Osten. Hauptursache ist die Einkreisungspolitik, die federführend von den Briten betrieben wird. Deutschland ist weitgehend von feindlichen Nationen umgeben: Frankreich, Belgien, England und Rußland. Italien ist ein unsicherer Kantonist, und der Balkan ist ein reines Pulverfaß. Der einzige Weg nach Nordamerika führt durch die von England beherrschte Nordsee. (Ein Flottenbegrenzungsabkommen, das England immer wieder aufs neue vorschlägt, als wäre es der Weisheit letzter Schluß, sieht lediglich die Beibehaltung des Status quo vor. Deutschland bliebe in der Falle sitzen.) Die einzige Route nach Afrika und in den Nahen Osten führt durch Österreich-Ungarn und den Balkan, weshalb Deutschland die aggressive Haltung Österreichs gegenüber den Balkanländern unterstützt. Und in den Fernen Osten führt nur der Weg über Persien, ein Gebiet, das England und Rußland gerade unter sich aufgeteilt haben (was England nebenbei das persische Erdöl sichert, den Treibstoff, der für die neue Generation schneller Kriegsschiffe gebraucht wird). Deutschland will Kolonien haben wie alle anderen auch, doch jeder Schritt, den es auf dem afrikanischen Kontinent unternimmt, wird von den Mächten, die ihre Schäfchen schon ins Trockene gebracht haben, als Unruhestiftung gebrandmarkt. Hat Deutschland überhaupt noch eine Chance, der Umklammerung zu entkommen? Hartmann, der Pessimist, sieht nur eine Möglichkeit: Krieg. Hartmann erfährt durch einen ausgezeichnet plazierten Spion in der russischen Botschaft vom bevorstehenden Besuch Oblomows. (...) Mit der gleichen Entschlossenheit, mit der Walden alles daran setzt, ein festes Bündnis zwischen Rußland und England zu schmieden, versucht Hartmann, einen Keil zwischen die beiden Länder zu treiben. Er erkennt, daß Oblomows Besuch seine letzte Chance sein könnte. (...) Gesetzt den Fall, der Lieblingsneffe des Zaren würde in London von einem russischen Anarchisten umgebracht werden. (...) Dann, so glaubt Hartmann, könnte die vorhandene Verstimmung zwischen den beiden Ländern zu einem handfesten Streit eskalieren. Zumindest würden die Verhandlungen sabotiert. Und im günstigsten Fall könnte Rußland sich entschließen, nicht in den Krieg einzugreifen. Hartmann bestellt einen V-Mann namens Andre Barre zu sich, der hinter der Maske eines französischen Bolschewisten die deutschen Unruhestifter in England im Auge behält, die möglicherweise vorhaben, in größerer Zahl nach Deutschland zurückzukehren. Hartmann fragt Barre nach dem derzeit führenden russischen Revolutionär in London. »Nun ja«, sagt Barre, »jetzt, wo der kleine Joey Stalin wieder fort ist, wird´s wohl Felix Muronziw sein.« 4. Felix wird einen Tag nach Lydias Hochzeit aus dem Gefängnis entlassen. Er kehrt nicht an die Universität zurück, sondern zieht, als Mönch verkleidet, durch die russischen Lande und predigt das Evangelium des Anarchismus – bis man ihn erneut verhaftet und zu lebenslänglicher Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt. Nach einigen Jahren gelingt ihm die Flucht. Er schlägt sich nach England durch. Daß Lydia geheiratet und Rußland verlassen hat, 46
weiß er, doch wohin sie verzogen ist und wie sie jetzt heißt, ist ihm unbekannt. Vergessen hat er sie nie: In all seinen sexuellen Träumen taucht eine Frau auf, die auf dem Höhepunkt auf russisch »Hilfe!« schreit. (...) Um Geld zu beschaffen, begeht er alle paar Monate mit einer kleinen, unpolitischen Bande von Kriminellen einen Einbruch. Von seinem Beuteanteil gibt er das meiste den Anarchisten, denn für sein eigenes spartanisches Leben braucht er nicht viel. (...) Sein autoritäres Auftreten und das missionarische Feuer in seinen Augen tragen dazu bei, daß er in jeder Gruppe sofort die Führung übernimmt. Insgeheim ist er jedoch unzufrieden, denn in den drei Jahren, die er nun schon in London weilt, hat er die anarchistische Sache noch keinen Schritt vorangebracht. In Rußland regiert unterdessen das Chaos: Über eine Million Arbeiter streikt, die Duma (das Parlament) ist hilflos, und die Ölarbeiter liegen buchstäblich im Krieg mit den Kosaken. Das ganze Land ist ein Pulverfaß; ein einziger Funke genügt, und es fliegt in die Luft. Felix möchte gern dieser Funke sein, doch er weiß, daß er, sobald er einen Fuß auf russischen Boden setzt, sofort verhaftet und nach Sibirien verfrachtet wird (wie es mit Stalin geschah). Was könnte er in Sibirien schon ausrichten? Doch was kann er andererseits in London ausrichten? In Begleitung eines deutschen Anarchisten namens Dieter kommt heute sein Bekannter Andre Barre in den Club in der Jubilee Street (...) und fragt, ob Felix bereit wäre, sich an einem Attentat auf Oblomow zu beteiligen. Drei 1. Am 4. Juni wird Charlotte bei Hofe eingeführt. Das ist die größte und spektakulärste Zeremonie des englischen Königshauses, wenn die adligen jungen Mädchen aus dem ganzen Land im Buckingham-Palast an dem Monarchen vorbeidefilieren. »Hofkleidung« ist obligatorisch. Für die Damen bedeutet dies, daß sie ein weißes Kleid mit tiefem Ausschnitt und drei bis vier Meter langer Schleppe tragen müssen, dazu einen Stirnreif mit drei weißen Federn und möglichst den gesamten Familienschmuck. Die Herren tragen Kniehosen aus Samt, dazu Seidenstrümpfe und sämtliche Orden und Ehrenzeichen. Auf dem Höhepunkt der Zeremonie treten die Debütantinnen eine nach der anderen vor das auf seinen Thronen sitzende Königspaar. Charlottes Debüt wird durch einen (historisch verbürgten) Zwischenfall getrübt: Das Mädchen vor ihr in der Reihe fällt plötzlich auf die Knie und ruft: »Majestät, sorgen Sie um Gottes willen dafür, daß die Frauen nicht mehr gefoltert werden!« Die junge Frau wird von zwei Kammerherren hinausgebracht. Das Königspaar tut, als wäre nichts geschehen, aber Charlotte ist irritiert. Sie vermutet, das Mädchen müsse total verrückt sein, und in dieser Umgebung gibt es niemanden, der ihr widersprechen würde. 2. Hartmann erfährt durch seinen Spion in der russischen Botschaft Tag und Stunde von Oblomows Ankunft. Er geht mit Felix zum Victoria-Bahnhof, um den Russen in Augenschein zu nehmen. Sie sehen nicht viel von ihm. Er ist in einem Salonwagen gereist, den ihm der König (mit dem er verwandt ist) zur Verfügung gestellt hat, und steigt sofort in Waldens Rolls-Royce um. Felix und Hartmann sehen nur kurz, daß es sich um einen gutaussehenden, teuer gekleideten jungen Mann handelt. Düstere Gedanken beherrschen Felix. Oblomow repräsentiert das Regime, das die Verantwortung für Folter, Sklaverei und Hungersnot in Rußland trägt – aber er bietet auch die Gelegenheit, eben dieses Regime zu Fall zu bringen. Zwei Diener aus Oblomows Begleitung beladen den Wagen mit einem Berg von Gepäckstücken. Felix und Hartmann folgen ihnen bis zu einer Villa am Rande von St. James´s Park, dem Stadthaus Lord Waldens. Im Inneren des Hauses wird Oblomow von Lydia willkommen geheißen. Sie ist neununddreißig und noch immer schön. Ihr Bild in der Öffentlichkeit hat sich seit 1894 kaum gewandelt; noch immer ist sie höchst ehrbar, wenngleich mittlerweile anglisiert. Sie spielt die Rolle der englischen Lady mit Überzeugung. Doch was geschieht hinter der Fassade? (...) Ihre nonkonformistischen Neigungen sind nicht erloschen, sie schlummern nur. 47
Oblomow, der bei ihrer Hochzeit erst zehn Jahre alt war, ist eine unangenehme Erinnerung daran. Oblomow spricht gut Englisch. Er erzählt von Rußland, und auf einmal entpuppt sich diese Säule der Zarenherrschaft als eine Art Radikaler. (...) (...) Kaum betritt Charlotte – sie sieht hinreißend aus – das Zimmer, da verwandelt Oblomow sich in ein Nervenbündel, wirft seine Teetasse um, spricht plötzlich mit schwerem russischem Akzent, läuft rot an und kann nur noch stammeln. Doch jetzt zeigen sich Charlottes verborgene Talente. Mit ihrem einzigartigen naiven Charme nimmt sie ihm alsbald die Verlegenheit. Draußen gehen Felix und Hartmann durch den Park und diskutieren das Erlebte. Es hat den Anschein, als ließe sich Oblomow nicht gern in der Öffentlichkeit blicken. Es wird schwer sein, an ihn heranzukommen. (Vielleicht ist er auch von selbst auf die Idee gekommen, daß er gefährdet sein könnte.) »Irgendwie müssen wir ins Haus gelangen«, sagt Hartmann. »Aber wie?« »Ich weiß, wie«, sagt Felix und macht Hartmann auf eine Ankündigung in der Gesellschaftsspalte einer Zeitschrift aufmerksam: Walden gibt einen Kostümball, um Oblomow in London einzuführen. »Auf diesem Ball werde ich ihn töten«, sagt Felix. Vier 1. (...) Die Verhandlungen zwischen Walden und Oblomow erfahren zusätzliche Dringlichkeit durch die Nachricht, daß die Deutschen den Ausbau des Kaiser-Wilhelm-Kanals (Mitte Juni) vollendet haben, der ihren Kriegsschiffen die rasche Passage von der Ost- in die Nordsee ermöglicht. Es ist ein Projekt von hoher strategischer Bedeutung, ohne das sie einen Seekrieg nicht gewinnen könnten. Doch dann läßt Oblomow eine Bombe platzen. Rußland strebt langfristig den Besitz eines eisfreien Hafens an. Zwar verfügt es über die Schwarzmeerküste, doch das Schwarze Meer hat über den Bosporus, die Meerenge vor Konstantinopel, nur einen einzigen, schmalen Zugang zum Mittelmeer. Sowohl das europäische als auch das kleinasiatische Bosporus-Ufer gehören der Türkei. Rußland hat den slawischen Nationalismus auf dem Balkan stets in der Hoffnung unterstützt, es erhielte die freie Zufahrt zum Mittelmeer, wenn es den Slawen gelänge, die Türken vom Balkan zu vertreiben. Aber besser noch als eine slawische Herrschaft ist allemal gleich die russische Herrschaft. Und so verkündet Oblomow, wenn Rußland in dem bevorstehenden Krieg auf Seiten der Alliierten kämpfen solle, müsse England einen Preis dafür bezahlen: die Anerkennung des Balkans als russische Einflußsphäre. Natürlich ist Walden nicht legitimiert, derlei auch nur zu diskutieren. Folglich werden die Gespräche vertagt, bis das Außenministerium über diese Frage entschieden hat. 2. Zum ersten Mal in ihrem Leben liest Charlotte Zeitung, und so erfährt sie von den Frauenrechtlerinnen und ihren Zielen. Sie hält überhaupt nichts von Frauen, die Fenster einschlagen und Gemälde zerschneiden. Dann erkundigt sie sich bei Pritchard über die Debütantin, die bei Hofe solch eine Szene gemacht hat. Pritchard erklärt ihr, was es mit den Folterungen auf sich hat: Im Gefängnis treten die Suffragetten in Hungerstreik und werden daraufhin zwangsernährt, was ein demütigender und schmerzhafter Vorgang ist. Charlotte weigert sich, das zu glauben. Doch sie zerbricht sich nicht allzu lange den Kopf darüber, denn heute ist der Tag des Kostümballs, und das Haus ist voller Menschen. Der Ballsaal wird als Sultanspalast dekoriert. Charlotte selbst wird als Schäferin gehen, und draußen im Stall steht ein süßes weißes Lämmchen, das ihr Kostüm vervollkommnen wird. Inzwischen kauft Hartmann einen Satz Duellpistolen und probiert sie aus, während sich Felix ein Dick-Turpin-Kostüm samt Maske leiht. Zu Beginn des Balls stehen Charlotte, Lydia, Walden und Oblomow nebeneinander im Empfangsraum des Ballsaals und heißen die Gäste willkommen. 48
Felix kommt in seinem Kostüm. Er hat durch einen Bluff Einlaß erlangt (denn er hat ja keine Einladung) und steht nun in der Tür zum Empfangssaal. Dort gibt er seinen Namen mit »Dick Turpin« an, und so wird er vom Türsteher auch angekündigt. Alles lacht. Felix reiht sich nicht in die Schlange ein, sondern geht geradewegs auf Oblomow zu und zieht seine Pistolen. Während die Umstehenden noch denken, das alles sei ein Scherz, brüllt Felix: »Dein Tod wird Rußland befreien!« Lydia schreit auf russisch »Hilfe!« – genauso wie damals, wenn Felix sie liebte. Felix erstarrt vor Schreck. Er sieht Lydia an und erkennt sie wieder. Walden nutzt diesen Augenblick des Zögerns, hebt seinen Stock und läßt ihn auf Felix´ Handgelenke niedersausen. Der läßt die Pistolen fallen, starrt noch einmal in die Runde, macht dann kehrt und rennt davon. Die Verblüffung ist so stark, daß sich sekundenlang niemand rührt. Dann hebt Walden die Pistolen auf und entlädt sie. »Attrappen«, lügt er. »Ein schlechter Scherz. Wer der Lump wohl war?« Und der Ball geht weiter. Fünf 1. Felix grübelt über Lydia nach. Er ist überzeugt davon, daß er sie erneut verführen könnte. Doch er empfindet keine Liebe für sie. Er stellt sich vor, sie wäre nackt und bäte ihn, sie zu lieben, und in seiner Phantasie verweigert er sich ihr. Auch über Walden denkt er nach. Dieser gichtige alte Junker also hat ihm Lydia gestohlen! Felix fühlt sich zutiefst in seinem Stolz verletzt durch die Art und Weise, wie ihm Walden mit seinem Stock buchstäblich auf die Finger geklopft hat. Felix will die ganze Familie umbringen. Er meint, im Zusammenhang mit der Ermordung Oblomows müsse dies möglich sein. Doch Oblomow ist verschwunden. Hartmann spricht mit seinem Botschaftsspion. Auch wenn Walden diplomatisch über den Dick-Turpin-Zwischenfall hinweggegangen ist, so ist sowohl ihm als auch Oblomow klar, daß der Attentatsversuch ernst gemeint war. Oblomow hat daher das Haus am Park verlassen. Sein Gepäck wurde in die russische Botschaft gebracht – und gleich wieder zur Hintertür hinaus, niemand weiß, wohin. Aber die Verhandlungen gehen weiter. Wieder in der eigenen Botschaft, erfährt Hartmann eine Neuigkeit, die ganz Europa ins Chaos stürzen wird: Erzherzog Franz Ferdinand wurde in der bosnischen Hauptstadt Sarajewo ermordet. Oblomow muß unter allen Umständen gefunden werden. 2. Felix unternimmt nun einen untypisch kühnen Schritt: Als Walden nicht im Haus ist, klopft er an die Tür und verlangt Lydia zu sprechen. Er nennt sich David Ponsonby-Gore und wird ins Frühstückszimmer geführt. Lydia wird bei seinem Anblick kreideweiß. Sie weigert sich, ihn anzusehen oder mit ihm zu sprechen. (Mit dem Dick-Turpin-Zwischenfall bringt sie ihn nicht in Verbindung.) Er muß verhindern, daß sie nach dem Butler klingelt. Eine so hysterische Reaktion hat Felix nicht vorausgesehen, und ihm wird klar, daß dies weder der richtige Ort noch der richtige Zeitpunkt ist, um ihr Oblomows Aufenthaltsort zu entlocken. Doch wenn er jetzt mit leeren Händen geht, bekommt er vielleicht nie wieder eine Chance. In seiner Verzweiflung bittet er sie um Geld. Sie sagt, sie habe keins. »Dann muß ich deinen Mann darum bitten«, sagt er. »Nein!« schreit sie. Ihre Reaktion bestätigt, was Felix schon vermutet hat: Walden hat von Lydias vorehelicher Affäre keine Ahnung. Das verleiht Felix eine gewisse Macht über sie. Er sagt ihr, er werde in drei Tagen in einem bestimmten Restaurant auf sie warten. Sie solle das Geld mitbringen. Dann geht er. 3. Charlotte besucht Belindas Debüt, ein rauschendes Fest. Die Mädchen tragen phantastische Kleider, die jungen Männer weiße Krawatten und Fräcke. Belinda hat sich einer »flotten« Clique angeschlossen: Sie trägt Kleider, die die Fesseln sehen lassen, tanzt »Turkey-Trot«, einen Ragtime-Tanz, der damals gerade en vogue ist, raucht Zigaretten in Restaurants und 49
geht zu Boxkämpfen. Sie ist inzwischen sexuell aufgeklärt und gibt in der Ballnacht in einem Gespräch von Frau zu Frau im Schminkraum der Damentoilette ihr neues Wissen an Charlotte weiter. Die ist so verblüfft, daß sie es kaum glauben kann. (...) auf dem Heimweg, nachdem sie ihr ehemaliges Hausmädchen Annie auf dem Gehsteig schlafend entdeckt hat, sagt Charlotte: »Komm mit mir nach Hause.« Aber Annie weiß, daß das nicht gutgehen kann, und lehnt ab. Charlotte veranlaßt Marya, Annie alles Geld zu geben, das sie in ihrem Täschchen bei sich trägt. (...) 4. (...) Lydia verkauft ein Schmuckstück. Dann gesteht sie sich mit einer Art russischem Fatalismus ein, daß sie sich einfach danach sehnt, Felix wiederzusehen. Sechs l. (...) Walden bittet Lydia, das [verkaufte] Schmuckstück zu tragen. Sie hat ein schlechtes Gewissen. Walden kommt sie ein wenig launisch vor, doch er achtet nicht weiter darauf. Das Außenministerium hat ihn ermächtigt, den Russen ein Gegenangebot zu machen: Der Bosporus soll eine in Friedenszeiten von allen Nationen gleichberechtigt zu nutzende Durchfahrt werden, wofür England und Rußland gemeinsam garantieren sollen. (...) Er [Walden] sieht den Schmuck in einer Schaufensterauslage und nimmt ihn mit nach Hause, um Lydia zur Rede zu stellen. Doch auf dem Heimweg verstärkt sich seine Wut auf sie derart, daß er doch nicht mit ihr darüber spricht, sondern sich Pritchard anvertraut. Er trägt ihm auf, Lydia zu bespitzeln und herauszufinden, ob sie einen Liebhaber hat. Pritchard, jetzt dreiundvierzig, ist Waldens Kammerherr und persönlicher Diener. Außerdem obliegt ihm die Verantwortung für die Automobile, seine große Leidenschaft. Er liegt sich ständig mit Marya, der Gouvernante, in den Haaren, die – anders als Pritchard – noch konservativer ist als ihre Herrschaft. Aber vielleicht dient ihr ständiger Kleinkrieg nur dazu, eine unterschwellige gegenseitige Anziehung zu überspielen. 2. Charlotte begreift allmählich, wie es in der Welt draußen wirklich zugeht. Aber was kann sie tun? Sie ist eine Frau, und Frauen dürfen nicht einmal wählen! Der Skandal, den Letitia de Vries bei Hofe verursacht hat, erscheint ihr nun in einem anderen Licht. Charlotte besucht sie. Die Familie de Vries, die seit dem Vorfall natürlich allseits geschnitten wird, freut sich begreiflicherweise über den Besuch der Viscountess Walden. Mrs. Pankhurst ist anwesend. Es fällt ihr nicht schwer, Charlotte zu bekehren, und diese verspricht, sich an einer bevorstehenden Suffragetten-Demonstration zu beteiligen. Sie kommt nach Hause und erzählt ihren Eltern trotzig, wo sie war. Die sind entsetzt und verbieten ihr, das Haus ohne Begleitung zu verlassen. 3. (...) Beim Essen in einem Restaurant fragt Felix Lydia beiläufig, wo Oblomow ist. Sie will es ihm nicht sagen. Er erfindet eine Geschichte über eine Nachricht, die er nach Rußland einschmuggeln muß. Schließlich droht er, Walden reinen Wein einzuschenken. Lydia kommt nicht auf den Gedanken, daß Felix Oblomow ermorden will, aber sie weiß, daß irgend jemand dies vorhat und daß sie Felix das Geheimnis nicht anvertrauen kann. Standhaft weigert sie sich, ihm die erwünschte Auskunft zu geben. Pritchard beobachtet dieses Treffen. (...) Natürlich nehmen er und Walden an, Felix sei ihr Liebhaber. Ihre Jagdinstinkte werden wach. Sie beschließen, alles über den Mann herauszufinden. Walden ist niedergeschlagen von all dem, was er erfahren hat. (...) Er geht in St. ]ohn´s Wood spazieren und sieht eine Kutsche vorfahren, aus der eine rundliche, gutgekleidete Frau mittleren Alters steigt. Es ist Bonnie Carlos. Walden beobachtet sie aus der Ferne. Sie schenkt dem Kutscher ein Lächeln – ein breites, strahlendes Lächeln, an das Walden sich noch gut erinnern kann. Plötzlich spürt er eine schmerzliche Sehnsucht. Sie blickt in seine Richtung. Er dreht sich rasch um und geht weg. Er weiß nicht, ob sie ihn erkannt hat. 4. Hartmann erfährt, daß der deutsche Kaiser Österreich (am 5. Juli) uneingeschränkte Unterstützung bei jeder Maßnahme gegen Serbien zugesagt hat. Der Krieg rückt täglich 50
näher. Die Russen haben inzwischen Walden eine abgewandelte Forderung präsentiert: Sie beanspruchen das Gebiet, das derzeit die europäische Türkei ist. Hartmann hält es für durchaus möglich, daß die Briten darauf eingehen. Er fragt Felix, was los sei. Felix sagt, der Versuch mit Lydia sei ein Reinfall gewesen, nun wolle er es bei Charlotte probieren. Sieben Charlotte zieht einen Hut und einen Mantel ihrer Mutter an und schleicht sich aus dem Haus, um an der Suffragetten-Demonstration teilzunehmen. Felix, der in der Nähe des Hauses Stellung bezogen hat, folgt ihr. Pritchard, der Felix noch immer beschattet, folgt beiden, hält Charlotte aber wegen ihrer Garderobe für Lydia. (...) (...) Pritchard erkennt, daß es sich um Charlotte, nicht um Lydia handelt, nimmt aber fälschlicherweise an, auch Felix habe sich geirrt. Er sieht, wie Charlotte niedergeschlagen wird. Er denkt nicht mehr an Felix und stürzt sich ins Getümmel, um Charlotte zu retten. Er erhält einen Schlag auf den Kopf und geht bewußtlos zu Boden. (...) Die zu Boden gerissene Charlotte wird von Felix gerettet. Er nimmt sie mit in seine Wohnung und verführt sie. Charlotte ist wie hypnotisiert von ihm; zunächst von der Kraft und dem Selbstvertrauen, die er bei der Straßenschlacht an den Tag gelegt hat, während sie selbst völlig hilflos und entsetzt war; zum zweiten von der überzeugenden Simplizität seiner politischen Ideen; zum dritten von seinen fiebrigen Augen, seinen behaarten Händen, seinem animalischen Geruch und schließlich – was nicht weiter verwunderlich ist – von seinem Schwanz. Felix verhält sich bei der Liebe wie bei allem anderen auch: kühn, einfallsreich und leidenschaftlich. Und Charlotte erfährt nun etwas, was Belinda ihr nicht sagen konnte: nämlich, wie schön Sex ist. (...) »Aber wo ist Oblomow?« fragt Felix. »In Walden Hall«, sagt Charlotte. »Aha«, sagt Felix. Acht 1. Walden bietet den Russen Konstantinopel und den Bosporus an. Sie wollen das Angebot erwägen. Als er wieder nach London kommt, sieht er, wie Pritchard sich von Marya den Kopf bandagieren läßt. Pritchard berichtet, daß Charlotte an der Suffragetten-Demonstration teilgenommen hat. Als seine Tochter nach Hause kommt, gibt es einen Riesenkrach. Walden kommt zu dem Schluß, daß er sie nicht in London lassen kann, und schickt sie nach Surrey, um sie aus weiteren Schwierigkeiten herauszuhalten. Es gelingt ihr, Felix eine Nachricht zukommen zu lassen, in der sie ihm mitteilt, was passiert ist, und ihn um ein Treffen in Lady Walden´s Folly bittet. 2. Waldens Welt bricht auseinander. Das Gleichgewicht der Macht ist unwiderruflich dahin, seine Tochter ist eine Rebellin, seine Frau eine Ehebrecherin. Er besucht Bonnie. Ja, sie hat ihn an jenem Tag gesehen und seither auf ihn gewartet. (...) 3. Pritchard, der Felix immer noch nachspioniert, beobachtet, wie sich der Russe im Park mit Hartmann trifft. Als sie sich trennen, folgt Pritchard aus einer Eingebung heraus Hartmann – bis vor den Eingang der deutschen Botschaft. Er gibt dem Türsteher einen Sovereign und erfährt dafür Hartmanns Namen. Nun geht Walden auf, daß Felix mehr als Lydias Liebhaber sein könnte. Für den nächsten Tag verabredet er ein Treffen mit dem Polizeipräsidenten. 4. In Surrey bleibt Charlotte nichts anderes übrig, als sich mit Oblomow zu beschäftigen. Sie reiten zusammen aus, essen zusammen zu Abend, spielen miteinander Karten und erforschen gemeinsam die Landschaft. Er ist schon bald in sie verliebt. Charlotte mag ihn sehr und ertappt sich verlegen bei der Frage, wie er wohl ohne Kleider aussieht. Sie hat schon erste Zweifel an dem Entführungsplan, als Felix auftaucht. 51
(...) Sie lieben sich, und Felix sieht sich genau um. Insgeheim entwickelt er folgenden Plan: Charlotte soll Oblomow in Lady Walden´s Folly locken. Dort wird er, Felix, die beiden töten. (Charlotte muß ebenfalls sterben, weil sie nach Felix´ Wissen die einzige Zeugin ist, die ihn als Mörder identifizieren kann.) Er wird unweit der Straße im Wald ein Fahrrad verstecken, das er, wenn er sich beeilt, in zehn Minuten vom Tatort aus erreichen kann. Das Rad soll ihn zum Bahndamm bringen, wo er auf einen Güterzug aufspringen will. Felix arbeitet den Plan sorgfältig aus, kalkuliert jeden einzelnen Schritt und überprüft sogar den Bahnfahrplan. Schließlich ist alles so weit ausgetüftelt, daß er schon wenige Minuten nach der Tat auf dem Zug sein kann. Womit soll er den Mord begehen? Ein Messer ist lautlos, aber blutig und schwierig zu handhaben. Außerdem weiß er nicht, ob er es im entscheidenden Moment tatsächlich fertigbringt, Charlotte ein Messer in den schönen Leib zu stoßen. Eine Schußwaffe ist unpersönlicher und erfordert weniger anatomische Kenntnisse – aber Schüsse machen Lärm, können rasch Leute anlocken und damit seine Flucht gefährden. Eine Bombe ist zwar noch lauter, läßt sich aber mit einem Zeitzünder versehen, der ihm einen gewissen Vorsprung verschaffen würde. Er schiebt die Entscheidung auf und beschafft sich alle drei Waffen. 5. Walden trifft den Polizeipräsidenten. Der schlägt vor, Hartmann (der diplomatische Immunität genießt) wegen seiner Kontakte zu subversiven Elementen ausweisen und Felix als Verdächtigen im Dick-Turpin-Zwischenfall verhaften zu lassen. Walden ist sehr erleichtert und beschließt, das Wochenende daheim in Surrey zu verbringen. 6. Deutschlands Goldreserven erreichen einen Rekordstand, und die britische Flotte hält in Portland ein Manöver ab. Hartmann erfährt, daß die Russen das englische Angebot, ihnen Konstantinopel und den Bosporus zu überlassen, angenommen haben und daß der Geheimvertrag am Wochenende unterzeichnet werden soll. In diesem Augenblick teilt man ihm mit, daß er aufgeflogen ist, seine Sachen packen und schon am nächsten Tag nach Deutschland zurückkehren muß. Das gibt ihm noch genug Zeit, Felix am Bahnhof zu treffen und ihn vor der Rückkehr in seine Wohnung zu warnen. Neun Am Donnerstag, dem 23. Juli, stellt Österreich Serbien ein auf achtundvierzig Stunden befristetes Ultimatum. Felix versorgt sich bei seinen Freunden aus der kriminellen Unterwelt mit Messer, Pistole und Einbruchwerkzeugen – unter anderem einer Rolle Draht – sowie einer Bombe mit Zeitzünder. Die Bombe ist mit einem Wecker versehen, der fünf Sekunden vor der Explosion klingeln wird. (Anm.: Meine Recherchen über selbstgebastelte Bomben in der damaligen Zeit sind noch nicht beendet.) Dann macht er sich auf den Weg nach Surrey. Da die Londoner Saison mehr oder weniger vorüber ist, weilt Lydia wieder auf Walden Hall. Bei einem Waldspaziergang beobachtet sie, wie Felix Lady Walden´s Folly betritt. Sie weiß nichts über die hektischen Aktivitäten in London und glaubt, Felix sei immer noch in sie verliebt. In höchster Erregung eilt sie zurück ins Haus. In Waldens Zimmer entdeckt sie das verkaufte Schmuckstück und begreift, daß ihr Geheimnis doch noch ans Licht gekommen ist. (...) Felix gibt Charlotte seine Instruktionen: Morgen soll sie Oblomow in Lady Walden´s Folly locken. (...) Lydia kann nicht schlafen. Sie ist sicher, daß sich Walden jetzt von ihr scheiden lassen wird. Ich hätte Felix niemals aufgeben sollen, denkt sie, er ist der einzige Mann, für den ich jemals echte Leidenschaft empfunden habe. Sie beschließt, ihn aufzusuchen. Im Nachthemd verläßt sie das Haus und geht zu dem kleinen Häuschen im Park. Dort sieht sie, wie Felix Charlotte liebt. Schweigend kehrt sie um. Oblomow bittet Charlotte, ihn zu heiraten. (...) Vielleicht, antwortet sie.
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Zehn (...) Walden und Pritchard erreichen Walden Hall. Gleichzeitig mit ihnen trifft ein Telegramm aus London ein, in dem steht, daß es nicht, wie geplant, gelungen ist, Felix zu verhaften. Sie sind überzeugt, daß er sich irgendwo in der Nähe versteckt hält. Walden gibt Oblomow den Rat, umzuziehen. Charlotte versucht das verzweifelt zu verhindern und schlägt vor, Oblomow solle sich vorübergehend in Lady Walden´s Folly zurückziehen. Walden ist davon nicht begeistert, aber Oblomow stimmt zu: Er erwartet Charlottes Antwort. Er zieht um, aber er nimmt zwei Diener mit. Felix sieht die drei kommen, erkennt, daß etwas schiefgegangen sein muß, und bezieht einen Beobachtungsposten in der Nähe. Walden erhält ein weiteres Telegramm, diesmal vom Außenministerium. Österreich hat Serbien den Krieg erklärt. Jetzt hängt nicht nur Oblomows Leben, sondern auch die Zukunft Europas am seidenen Faden. Walden organisiert einen Suchtrupp, der die Umgebung nach Felix durchkämmen soll. Ein Zimmermädchen verrät Marya, daß sich Charlotte am Morgen übergeben hat. Marya stellt Charlotte zur Rede und sieht, daß sie kein Korsett trägt. Charlotte sagt, ihre Brüste täten ihr weh. »Ist dein Kopfweh diesen Monat ausgeblieben?« fragt Marya. Ja. »Dann bist du schwanger«, meint Marya. Charlotte eilt zu Felix, um es ihm zu erzählen. Einer von Oblomows Dienern kommt zum Pinkeln aus dem Pavillon. Felix schlägt ihn nieder, fesselt ihn und wartet darauf, daß auch der andere herauskommt und nach seinem Kollegen schaut. Lydia ist den ganzen Vormittag über im Bett geblieben. Sie trägt sich mit Selbstmordgedanken und bekommt weder von der allgemeinen Hektik noch von der Suche nach Felix etwas mit. Und nun kommt Marya und erzählt ihr, daß Charlotte schwanger ist. Lydia läuft Amok. Sie holt sich eine Flinte aus dem Waffenzimmer und ein Pferd aus dem Stall. Auf dem Weg zum Pavillon überholt sie Charlotte. Oblomows zweiter Diener kommt heraus. Felix verfährt mit ihm wie mit dem ersten, geht in den Pavillon und fesselt Oblomow. Da trifft Lydia mit ihrer Flinte ein. Es fällt Felix nicht schwer, sie zu entwaffnen und ebenfalls zu fesseln. Er macht die Bombe scharf und setzt den Zeitzünder. Wenn der Wecker klingelt, erklärt er den beiden, dann habt ihr noch fünf Sekunden zu leben. Die Fahnder durchkämmen den Wald. Felix ist dringend auf die paar Minuten Vorsprung angewiesen, die ihm der Zeitzünder gibt. Er kann nicht mehr auf Charlotte warten, doch als er schon im Aufbruch ist, erscheint sie. Hastig fesselt er auch sie. Sie berichtet ihm von ihrer Schwangerschaft. Wie vom Donner gerührt, starrt Felix sie an. Er muß daran denken, daß er selbst ein illegitimes Kind war, und weiß, daß er mit Charlotte auch das ungeborene Kind töten wird. Felix beugt sich nieder, um ihre Fesseln zu lösen –, doch da klingelt der Wecker. Noch fünf Sekunden. Die Zeit reicht nicht mehr, um Charlottes Fesseln zu lösen. Er hebt sie hoch. Vier Sekunden. Charlotte wehrt sich, und er läßt sie fallen. Drei, zwei. Jetzt gibt es für niemanden mehr ein Entkommen. »Du Idiotin!« schreit er. Noch eine Sekunde. Felix wirft sich über die Bombe, bedeckt sie mit seinem Körper. Sie explodiert und tötet ihn. Die anderen bleiben unverletzt. Lydia fängt an zu schreien. Epilog (...) Lydia hat Walden alles gestanden, und sie haben sich versöhnt. (...) Bei seinem Tod 53
hinterläßt Walden die Hälfte seines Besitzes dem unehelichen Sohn einer Sängerin namens Bonnie Carlos. (...) Ach ja, und das Automobilmuseum wird von einem Enkel Pritchards geleitet, der – raten Sie mal – Marya geheiratet hat. Analyse des dritten Entwurfs In der dritten Version seines Entwurfs hat Follett seine Charaktere deutlicher und farbiger gestaltet, verschiedene neue Szenen hinzugefügt und die Handlung mit einigen verblüffenden Wendungen angereichert. Im großen und ganzen hat er sich jedoch an den im zweiten Entwurf abgesteckten Rahmen gehalten. Für Sie wäre es nun eine sehr lohnende Aufgabe, auf eigene Faust herauszufinden, inwieweit die neu hinzugefügten Handlungselemente die Figuren interessanter machen und auf welche Weise die neuen Aspekte in Vergangenheit und Gegenwart der Figuren den Plot lebendiger wirken lassen. Sie haben an Folletts Arbeitsweise inzwischen sicher schon erkannt, daß der Aufbau von Handlung und Figuren ein sich ständig wechselseitig beeinflussender Prozeß ist. Eine der interessantesten Änderungen gegenüber der zweiten Fassung des Entwurfs ist die Vorverlegung des Anfangs. Der Roman beginnt nicht mehr im Jahre 1914, sondern schon 1894 mit dem Tod von Waldens blasiertem, krankhaft aufgedunsenem, von Follett mit spitzer Feder gezeichnetem Vater. Im gleichen Jahr lernt der junge Walden in St. Petersburg Lydia kennen, die eine wilde Liebschaft mit dem Anarchisten Felix unterhält und nur deshalb in die Ehe mit Walden einwilligt, weil sie dadurch ihren Geliebten aus dem Gefängnis befreien kann. Der Hintergrund der handelnden Personen ist nun erheblich dichter. Achten Sie jedoch darauf, daß im letzten Entwurf sowie im Buch selbst die Handlung wieder in der Gegenwart des Jahres 1914 einsetzt – ein viel besserer Einstieg. Erst als wir bereits wissen, was Felix im Schilde führt, als das zentrale Thema des Buches feststeht und der Spannungsbogen solide aufgebaut ist, kommt es in der Endversion zum ersten Rückblick. Vom zweiten Kapitel an können Sie beobachten, wie Follett nach und nach die stärksten und überzeugendsten Elemente der Hintergrundgeschichte in die Handlung einflicht. Das wichtigste neue Handlungselement im dritten Entwurf ist Felix´ mißglücktes Attentat auf dem Kostümball Lord Waldens. Er tritt nicht mehr in Kellnerverkleidung auf, um erst einmal die Lage zu sondieren, sondern er will seine mörderische Mission sofort erfüllen. Die Haupthandlung kulminiert also nicht erst im letzten Kapitel, sondern erreicht schon früh einen ersten Höhepunkt. Der Anarchist schreit: »Dein Tod wird Rußland befreien!« – und hört daraufhin einen Hilfeschrei, der ihm durch Mark und Bein geht. Es ist der gleiche Schrei, den seine einstige Geliebte beim Orgasmus auszustoßen pflegte – eine höchst individuelle Eigenart, die Follett mit Bedacht schon an einer früheren Stelle seines Entwurfs erwähnt hat. Doch der Autor steckt Felix in eine Verkleidung, damit Lydia, als er sich später wieder nähert, nicht erkennt, daß er der Mann ist, der Oblomow umbringen will. Da Felix durch die unerwartete Begegnung mit Lydia einen Moment lang völlig verwirrt ist, gelingt es Walden, ihn mit seinem Gehstock zu schlagen. Der Russe entflieht, außer sich vor Wut über alles, was man ihm in Vergangenheit und Gegenwart angetan hat. Er brennt darauf, Lydia zu verführen und die Familie Walden zu zerstören. Das fehlgeschlagene Attentat verändert den Fortgang der Handlung: Oblomow muß versteckt werden. Felix´ Bemühungen, seinen neuen Aufenthaltsort ausfindig zu machen, dominieren die Handlung im mittleren Abschnitt des Romans. Sein kühner Besuch bei Lydia hat nun nicht mehr in erster Linie finanzielle Gründe; es geht Felix vielmehr um eine Information. Erst als er diese nicht erhält, versucht er, seinen Einfluß auf Lydia dahingehend auszunutzen, daß er Geld fordert. Das gleiche Thema dramatisiert Follett schon vorher, bei Oblomows Ankunft am Victoria-Bahnhof, als Felix den Fürsten identifiziert, ihm folgt und auf diese Weise herausfindet, daß der Russe in Waldens Villa logiert. Felix´ Persönlichkeit ist, obwohl er inzwischen eindeutig zu einer der Hauptfiguren der 54
Geschichte ausgebaut wurde, immer noch nicht voll ausgebildet. Sein Wunsch, die Familie Walden zu zerstören, und die grausame Art, wie er sowohl Lydia als auch Charlotte manipuliert und für seine Zwecke einspannt, ersticken einen Großteil des Mitgefühls, das wir ansonsten für ihn aufbringen könnten. Noch immer empfinden wir sein bei allem Wagemut eiskaltes Handeln als verabscheuenswert. Und so fehlt seiner Entscheidung, sich in letzter Sekunde über die explodierende Bombe zu werfen, die nötige Glaubwürdigkeit. Das Entsetzen, das Felix mit seinem mißglückten Pistolenattentat hervorruft, gibt Follett die Möglichkeit, einen Gegenschlag gegen ihn in die Wege zu leiten. Im vorigen Entwurf erfuhr der Leser schon sehr bald von dem gemeinsam mit Ferfitschkin geplanten Attentat, doch unternahmen weder Oblomow noch die Vertreter der britischen Seite fast bis zum Schluß irgend etwas gegen ihn. Im dritten Entwurf identifiziert Pritchard Felix und deckt seine Verbindungen zur deutschen Botschaft auf. Damit wird früher als in der Vorversion ein neues Spannungsmoment für das letzte Drittel des Buches eingeführt. Doch ein Roman wie dieser muß normalerweise vom ersten bis zum letzten Kapitel ausgesprochen spannend sein. In der Endfassung wird Felix, wie Sie sehen werden, denn auch schon früher in der Geschichte und wesentlich deutlicher als Attentäter identifiziert. Was Charlotte betrifft, so ist eine kleine, aber interessante Szene hinzugekommen: Eine Debütantin bei Hofe fordert den König auf, der Folterung der Frauen ein Ende zu setzen. Diese Szene basiert auf einem historisch verbürgten Vorfall. Im Buch selbst wird sie dramatisch ausgeschmückt und erweist sich im Rahmen des Plots als hervorragende Einstimmung auf Charlottes Wandel zur Rebellin. Auch Folletts Entschluß, Charlottes jüngere Schwester in eine leichtlebige Cousine zu verwandeln, ist sinnvoll, weil Belinda Charlotte nun sexuell aufklären kann. Charlottes Begegnung mit der historischen Mrs. Pankhurst ist ein hübsches Detail, wobei ein Stück Geschichte geschickt in die Handlung hineingeflochten wird. Charlottes Wunsch, an der Suffragetten-Demonstration teilzunehmen und gegen die elterliche Autorität aufzubegehren, wird so überzeugend motiviert. Charlotte, die nach Antworten auf die Grundfragen des Lebens sucht, ist nun ein fast vollständig entwickelter Charakter, mit dem wir uns identifizieren können. Zwar verkörpert sie alters- und entwicklungsbedingt nur einen relativ begrenzten Ausschnitt des menschlichen Lebens; dennoch gelingt es Follett, sie als ein für seine Herkunft und Erziehung außerordentlich couragiertes, grundanständiges und herzliches Mädchen darzustellen. Sie ist einerseits eine »überlebensgroße« Ausnahmeerscheinung, andererseits aber auch sehr menschlich und lebensnah. Die Verhandlungen zwischen Walden und Oblomow nehmen im dritten Entwurf einen breiten Raum ein; im Buch selbst treten sie wieder ein wenig in den Hintergrund. Geschäftliche Gespräche – und um solche handelt es sich hier ja im wesentlichen – sind nur bedingt romantauglich. Es muß immer um etwas Persönliches gehen, um etwas, das die handelnden Figuren aufs engste miteinander verbindet. Eine Diskussion über die Frage, ob Rußland die Hoheit über den Bosporus zugesprochen werden soll oder nicht, läßt sich nur schwer dramatisieren. Andre Barre in seiner Rolle als Verbindungsmann zu Felix ist verschwunden, und den Platz des russischen Geheimpolizisten Ferfitschkin nimmt nun Dieter Hartmann ein, die rechte Hand des deutschen Botschafters. Sein Motiv für das Attentat auf Oblomow ist klarer und nicht so weit hergeholt wie bei Ferfitschkin. Dennoch wird keiner dieser professionellen Agenten – Kell, Steinhauer, Ferfitschkin, Hartmann oder Barre – jemals in eine persönliche Beziehung zu einer der Hauptpersonen gebracht, und daher gelingt es auch keinem von ihnen, beim Leser ein genuines Interesse an seiner Person zu wecken. Ihre einzige Funktion besteht darin, das Mordkomplott zu initiieren und zu unterstützen – und eine derartige Funktion ist, wenn überhaupt, nur in seltenen Fällen geeignet, einen dramatischen Höhepunkt zu bilden. Im vierten Entwurf werden Sie sehen, wie Follett sich klug von diesen Figuren löst und damit die Freiheit gewinnt, sich voll und ganz auf seine Hauptpersonen zu konzentrieren, die mit Leib 55
und Seele präsent sind. Die stärkere Hervorhebung der Jugendliebe zwischen Felix und Lydia sowie der Umstand, daß Lydia ihre Zustimmung zur Ehe mit Walden nur unter der Bedingung gibt, daß Felix freigelassen wird, schafft neue und interessante dramatische Verästelungen. Wir erfahren zum Beispiel, daß sie ihrer Tochter keinerlei Kontakt zu Kindern von Dienern und Pächtern gestattet: Der Himmel möge verhüten, daß Charlotte der gleichen schrecklichen Versuchung ausgesetzt wird, der sie selbst einst erlag! Die Nachricht von Oblomows bevorstehendem Besuch, die alte Erinnerungen an St. Petersburg in ihr wachruft, stürzt Lydia in einen inneren Aufruhr. Diese neu eingeführten Elemente bereiten die Bühne für ein spannungsgeladenes Wiedersehen. Nach der ersten Begegnung mit Felix sehnt sie sich nach einer zweiten und zeigt ihrem Mann die kalte Schulter. Ihre abweisende Haltung sowie die Tatsache, daß sie ihn über den Verbleib der Juwelen belogen hat, veranlassen Walden, seine Frau von Pritchard bespitzeln zu lassen. Statt sich ihrem Mann zu offenbaren, schleicht sich Lydia in einer späteren Szene zu Felix, weil sie mit ihm schlafen will. Als sie entdeckt, daß er es statt dessen mit ihrer Tochter treibt, holt sie sich zornentbrannt ein Gewehr und wird auf diese Weise zu einem neuen Faktor im dramatischen Höhepunkt des Geschehens. Auch Waldens Charakterisierung gewinnt in einigen Punkten an Substanz. Pritchard, sein langjähriger Gefährte und ergebener Diener, verleiht ihm die Aura eines verehrungswürdigen Mannes und wird selber in die Handlung integriert, indem er anstelle eines professionellen Privatdetektivs Lydia und Felix überwacht. Dadurch, daß Walden schon 1906 den Zaren dazu überredet hat, von einem Vertrag mit Deutschland zurückzutreten, verfügt er nun bereits über diplomatische Verdienste. Der Leser wird so auf Waldens künftige Rolle als britischer Unterhändler vorbereitet, und der Umstand, daß die Wahl ausgerechnet auf ihn fällt, gewinnt an Glaubwürdigkeit. Auf der anderen Seite aber zeigt ihn das neuerliche Techtelmechtel mit seiner einstigen Flamme aus dem Varieté als einen Menschen, der schwierigen Situationen ausweicht. Er verliert dadurch an Statur. Außerdem lenkt die Episode von der Haupthandlung ab. Im fertigen Buch werden Sie sie nicht mehr finden. Das Beste an Walden ist hier, daß er zu einer halbtragischen Figur erhöht wird. Ein König Lear wäre in einem Thriller fehl am Platze, doch Follett umgibt seinen Protagonisten schon im Entwurfsstadium mit einer wehmütigen Aura, indem er ihn vor dem Hintergrund einer zerfallenden Weltordnung darstellt, auf der seine gesellschaftliche Stellung beruht. Daß Walden seine Tochter als Rebellin und seine Frau als Ehebrecherin entlarven muß, unterstreicht dieses Moment noch. Doch abgesehen davon, daß er Felix auf dem Ball zu Ehren Oblomows einen Stockschlag versetzt und gegen Ende des Romans eine ergebnislose Fahndung nach dem Russen organisiert, unternimmt Walden herzlich wenig. Nicht genug jedenfalls, um Felix Einhalt zu gebieten oder die Rolle eines aktiven Gegenspielers zu übernehmen. Die Dynamik, die Walden für diese Rolle noch fehlt, wird zum Teil im letzten Entwurf, vor allem aber schließlich im Buch selbst entwickelt. Vierter Entwurf Historischer Hintergrund Prolog aus dem dritten Entwurf entfällt. Die wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen der Reichen und der Armen in England stehen fest. (...) Die Innenpolitik im Juli des Jahres 1914 war noch heißer als der Sommer. 1905 war eine liberale Regierung gewählt worden. Zunächst änderte sich dadurch kaum etwas. Dann starb 1908 Premierminister Campbell-Bannerman, und eine Gruppe junger Hitzköpfe ergriff die Macht. Asquith war der erste Premierminister der englischen Geschichte, der keinen Landsitz besaß. Sein Innenminister war der junge, kriegerische Winston Churchill, und zum Schatzkanzler wurde der nonkonformistische walisische Hitzkopf Lloyd George berufen. 56
Damit begann eine Epoche innenpolitischer Auseinandersetzungen, wie sie wütender und erbitterter in diesem Jahrhundert nicht mehr geführt wurden. Was die Liberalen durchsetzten – oder zumindest durchzusetzen versuchten –, waren eine Grundsteuer, die irische Selbstverwaltung, eine modernere und billigere Armee und Marine, Altersrenten, eine nationale Krankenversicherung und – schrecklichster aller Schrecken – eine Beschneidung der Machtbefugnisse des Oberhauses. Bevor die Schlacht endgültig geschlagen war, sollten die Armee mit Meuterei drohen, die Lords gegen die Verfassung aufbegehren, die Monarchie gegen ihren Willen ins politische Tagesgeschäft gezerrt werden und – ein äußerst seltener Vorgang in Westminster – Mitglieder rivalisierender Parteien sich weigern, an ein und demselben Tisch zu speisen. Außerhalb der traditionellen Strukturen der britischen Politik wurde der Status quo zudem durch die militanten neuen Gewerkschaften, die im Entstehen begriffene Frauenbewegung, die aufkeimende Arbeiterpartei und die Anarchisten bedroht. (...) Die Bedrohung, die Deutschland für England darstellt, wird erneut formuliert. Personen Zunächst werden wieder Waldens Verhältnisse zu seinem Vater und seine Jugendjahre skizziert. (...) Bei den Diplomatengattinnen kommt seine vornehme Art unfehlbar an. Aber Walden bringt es fertig, die eleganten Räume in seiner makellosen Abendkleidung zu verlassen und den Rest der Nacht mit Trinken, Spielen und Huren zu vertun, ja, es kommt vor, daß ihn der Botschafter morgens sogar aus dem Gefängnis holen muß. (...) Nachdem er mit seiner russischen Frau nach Walden Hall zurückgekehrt ist, steht er unverrückbar auf Seiten der Konservativen und der Tradition und gegen die Liberalen und jeglichen Wandel. Seit er der achte Earl ist, findet er tiefe Befriedigung in der Lebensführung eines englischen Aristokraten. (...) Er liebt seine Frau über alles, wenngleich er das Gefühl hat, sie niemals wirklich besessen zu haben. Aber sie ist begehrenswert und intelligent, und Walden fühlt sich in ihrer Gesellschaft wohl. Der Gedanke, sie zu betrügen, ist ihm niemals ernsthaft in den Sinn gekommen. Auf seine reizende Tochter Charlotte ist er stolz wie ein Pfau und kann ihr Debüt in der Londoner Gesellschaft kaum erwarten. Schon glaubt er die Stimmen seiner Freunde zu hören: »Verdammt feines Füllen, Walden!« Er bedauert, daß er nur dieses eine Kind hat. An diesbezüglichen Versuchen hat es bestimmt nicht gemangelt. Walden repräsentiert die besten Seiten der englischen Aristokratie. Seine Ländereien sind tipptopp geführt und werden nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen bewirtschaftet. Die Häuschen seiner Pächter sind in gutem baulichem Zustand, für seine Dienerschaft ist gesorgt, sein eigenes Haus ist eine Pracht. Auch als Kunstmäzen tritt er auf. Er ist klug, gebildet und human. Er und seinesgleichen haben England in der ruhmreichen Epoche seiner Geschichte regiert, und ihr schlimmster Fehler liegt darin, daß sie die Notwendigkeit von Veränderungen nicht einsehen. Die Diener und Angestellten teilen seine Meinung: Sie finden es absurd, daß die Regierung ihm eine Grundsteuer abknöpft, um ihnen das zu geben, was sie ohnehin schon direkt von ihm bekommen. Walden, der glaubte, sein Glück müsse ewig währen, hat seit einiger Zeit das Gefühl, daß sein gesamter Lebensstil gefährdet ist. Doch bald wird er von noch ärgeren Bedrohungen heimgesucht werden, die diesmal von außen kommen. Lydia hat ein intimes Geheimnis, das auf ihr lastet wie eine schwere Schuld. Zu ihrem wachsenden Entsetzen wird es im Sommer 1914 Stück für Stück ans Tageslicht kommen. (...) (...) Nach neunzehn Jahren Ehe hat sie die leidenschaftliche Seite ihres Wesens gut unter Kontrolle. Sie hat eine tiefe Zuneigung zu Walden entwickelt. Sie liebt Charlotte und will sie unbedingt beschützen. Lydia sieht ihre Lebensaufgabe darin, Charlotte in aller Ehrbarkeit aufzuziehen und sie eines Tages gut zu verheiraten. In der Kunst, ihrer Tochter beizubringen, wie ein Mädchen ihres Standes zu gehen, sich zu kleiden, zu sprechen und sich zu benehmen hat, ist sie unschlagbar, doch wenn es um intime Fragen oder Herzensdinge geht, versagt sie. 57
(...) Charlotte liebt ihre Mutter und sieht in ihr die Verkörperung weiblicher Vollkommenheit (...), doch jetzt, da ihr aufgeht, daß die Damen der feinen Gesellschaft absolut untätig sind, kommt ihr zum erstenmal der unbehagliche Gedanke, daß sie vielleicht gar nicht wie ihre Mutter werden möchte. (...) Im Laufe des Sommers 1914 wird Charlottes Identitätskrise ihren Höhepunkt erreichen – und wenn alles vorbei ist, wird sie wissen, wer sie ist. Felix Muronziw wurde 1875 in der Nähe von Moskau geboren. Sein Vater, ein armer Landpope, hatte etwas von einem Heiligen: Er war hingebungsvoll, selbstlos und fromm. Seine Selbstlosigkeit hat Felix geerbt, nicht jedoch seine Frömmigkeit. In seiner Jugend empfand er tiefes, aufrichtiges Mitleid mit allen Unterdrückten dieser Welt sowie bittere Verachtung für die Kirche, die zur Erhaltung des Status quo beitrug, von dem sie profitierte. Da aber ein armer Junge nur als Priesterschüler eine Chance zur höheren Bildung bekam, besuchte Felix eine theologische Hochschule in St. Petersburg. Und dort entdeckte er ein Glaubenssystem, das mehr nach seinem Geschmack war: den Anarchismus. Anarchisten halten jede Regierungsform für Tyrannei, jeden Besitz für Diebstahl und jede Organisation für Zwang. Hat das Volk das erst einmal erkannt, wird es sich erheben und den Staat zerstören. Doch da Anarchisten prinzipiell gegen jede Form von Organisation sind, können sie auch keine zusammenhängende politische Bewegung bilden. Sie können die Revolution nur durch Propaganda und Beispiele fördern – also zum Beispiel durch Attentate auf Politiker. So führt eine politische Theorie, der eigentlich das Wohl der Menschen am Herzen liegt, zum Mord. Das ist der zentrale innere Widerspruch des Anarchismus, den auch Felix mit seinen widersprüchlichen Eigenschaften Mitgefühl und Rücksichtslosigkeit verkörpert. (...) Als Liebhaber war er zärtlich und verletzlich, im Bett leidenschaftlich und sinnlich. (...) Er entkam [aus Sibirien], indem er einen Wachposten tötete (das einzige Mal, daß er gegen seine Überzeugungen mordete). Er schlug sich bis in die Schweiz durch – eine Odyssee, auf welcher der in ihm schlummernde Ideenreichtum und seine Kühnheit geweckt wurden. (...) In der Schweiz bereitet ihm die furchtbare Lage Rußlands und seiner Bewohner großen Kummer. Doch was kann er schon dagegen tun? (...) (...) Im Dienstbotenzimmer pflegt Pritchard verbale Attacken gegen das Establishment zu reiten, und Marya, die wie viele Gouvernanten royalistischer als der König selber ist, verteidigt die herrschende Klasse. Pritchard gewinnt jede Debatte, indem er am Ende grob und vulgär wird, woraufhin Marya stets entrüstet den Raum verläßt. Doch hinter ihren ständigen Zänkereien versteckt sich eine seltsame gegenseitige Zuneigung. An Maryas freiem Tag wird Charlotte von Annie beaufsichtigt, einem lebenslustigen jungen Hausmädchen, das über zu viel Sinnlichkeit und zu wenig Verstand verfügt. Aus beiden Gründen kann Marya sie nicht leiden. Plot Eins »Churchill? Winston Churchill?« fragte Walden. »Hier?« »Jawohl, Eure Lordschaft«, antwortete der Butler. »Schicken Sie den Kerl weg«, sagte Walden. »Ich bin nicht zu Hause.« Er wandte sich ab und ging zum Fenster, wobei er dachte: Der junge Spund, was bildet der sich ein? Erst steht er in London vor der Tür, dann verfolgt er mich bis hierher! Er weiß doch ganz genau, daß ich ihn nicht empfange. Der Butler hüstelte. Walden sah ihn irritiert an. »Immer noch da?« »Mr. Churchill sagte mir, Sie würden wohl nicht zu Hause sein, Eure Lordschaft. Er sagte, ich solle Ihnen dies hier geben.« Walden sah, daß der Butler ein Tablett in der Hand hielt, auf dem ein Brief lag. »Geben Sie ihm das Schreiben zurück – nein, warten Sie.« Er hatte das Siegel auf dem Umschlag erkannt. Auf einmal fühlte sich der Earl of Walden eingeschüchtert. Er öffnete den Brief. Buckingham-Palast, 24. Mai 1914 58
Mein lieber Walden, empfangen Sie bitte den jungen Winston. George R. Walden erkannte die Handschrift des Königs. Er zögerte nur noch kurz, dann sagte er: »Ich lasse Mr. Churchill bitten.« Churchill ist inzwischen der Erste Lord der Admiralität, was nicht heißt, daß er ein Lord, sondern daß er für die britische Marine zuständig ist. Natürlich ist er Minister der liberalen Regierung, repräsentiert also aus Waldens Sicht jene Kräfte, die versuchen, England zu zerstören. Doch Churchill möchte Walden für eine Tätigkeit gewinnen, die über die Innenpolitik hinausgeht. Er erklärt, er habe den Besuch eines jungen russischen Admirals in die Wege geleitet, der zu Geheimgesprächen über Marinefragen nach London komme. Das heißt, »Marinefragen« war die ursprüngliche Bezeichnung; in Wirklichkeit geht es Churchill um ein Verteidigungsabkommen. (...) Der Zar hat in einem Telegramm an seinen Cousin, König George V., persönlich darauf bestanden, daß die englische Seite bei den Verhandlungen durch Walden vertreten wird. Um den wahren Zweck seines Besuches zu verschleiern, soll Oblomow in die Gesellschaft eingeführt und das Gerücht verbreitet werden, er sei auf der Suche nach einer Frau. (...) Lydia überläßt die Männer ihren politischen Gesprächen und schlendert in den Garten hinaus. Sie geht um die schöne alte Villa herum, spaziert durch den gepflegten Park (...) und erinnert sich, daß Oblomow am Tag ihrer Hochzeit zehn ]ahre alt und daß dies der unglücklichste Tag ihres Lebens war. (...) Lydia sieht Charlotte, die in ein Gespräch mit Belinda vertieft ist, und sie denkt: Lieber Gott, bitte laß mich meine Geheimnisse bewahren. (...) (...) Belinda ist bloß neugierig, was Sex betrifft, doch Charlotte ist aus härterem Holz geschnitzt. In der Bibliothek stehen verbotene Bücher in einem verschlossenen Schrank, und sie weiß, wo der Schlüssel liegt. Belinda kriegt kalte Füße, aber Charlotte setzt sich durch. Sie holen die Bücher und schleichen die Treppe hinauf. (Annie, die sie eigentlich beaufsichtigen soll, hat im Wald ein Rendezvous mit ihrem Freund.) Charlotte führt Belinda durch die unbewohnten Kinderzimmer bis zu einer kleinen Dachkammer – ihrem Schlupfwinkel aus Kindertagen. Von dort aus kann man die Dächer von Walden Hall überblicken, die eine Fläche von mehreren tausend Quadratmetern umfassen. Von den Ställen aus, sagt Charlotte, kannst du über die Dächer hinaufklettern – bis hierher. Sie sehen sich die verbotenen Bücher an, doch die schematischen Darstellungen der inneren Organe im medizinischen Handbuch helfen ihnen wenig, und der absonderliche, ihnen unverständliche Text eines pornographischen Romans erst recht nicht. Inzwischen legt Felix´ Schiff in Dover an. Die Schweizer Anarchisten haben durch einen Verräter in der Ochrana von Oblomows geplanten Verhandlungen erfahren. Die Kriegsgefahr in Europa entsetzt Felix. Daß jungen Männern von Kaisern, Zaren und Königen befohlen wird, sich für eine Sache töten und verstümmeln zu lassen, die nicht ihre eigene ist, gehört zu den Gründen, die Felix zum Anarchisten haben werden lassen. Aus seiner Sicht handelt es sich bei den Verhandlungen zwischen Oblomow und Walden um eine Verschwörung zum Mord an Millionen Russen. Er faßt daher den Plan, die beiden umzubringen. Die Auswirkungen eines solchen Mordes wären viel weitreichender als auf den ersten Blick ersichtlich. Er würde die Verhandlungen beenden und zu Spannungen zwischen Rußland und England führen. (...) Zum dritten wird Felix (oder, falls er tot ist, seine Schweizer Freunde) verkünden, daß Walden und Oblomow umgebracht wurden, weil sie planten, das russische Volk in einen Krieg hineinzuziehen, den es gar nicht will. Dies könnte in Rußland zu einer Reihe von Volksaufständen und letztlich sogar zur Revolution führen. Felix ist gespannt, aufgeregt, ein wenig ängstlich und glücklich. Vielleicht muß er bald sterben, doch im Augenblick öffnet ihm das Leben alle Türen. 59
Als er zum erstenmal in seinem Leben englischen Boden betritt, geht ihm noch etwas anderes durch den Kopf. Die Frau, die er einst liebte, hat vor neunzehn Jahren einen Engländer geheiratet. Den Namen des Mannes hat Felix nie erfahren, aber er hat gehört, daß das Paar nach England gegangen ist. Nach all diesen Jahren wird er sich nun also im selben Land aufhalten wie sie. (...) Zwei (...) Am Victoria-Bahnhof laden zwei Diener (die Oblomow zu begleiten scheinen) einen Berg von Reisegepäck in eine Kutsche, die kurz darauf davonfährt. Felix folgt ihr auf einem Fahrrad bis zu Waldens Stadthaus. (...) (...) Oblomow spricht über die Notwendigkeit von Reformen in Rußland, doch Lydia denkt nur: Kann es sein, daß er über mich Bescheid weiß? (...) (...) Charlotte schafft es mit ihrem einzigartigen, naiven Charme, dem stotternden Russen seine Verlegenheit zu nehmen. Walden und Lydia, ganz die stolzen Eltern, lächeln sich heimlich zu. (...) (...) Draußen vor dem Haus erkennt Felix, daß Oblomow kein leichtes Ziel bieten wird. Um in seine Nähe zu kommen, wird er all seine Findigkeit aufbieten müssen. (...) (...) Walden hat diese Forderung [den Balkan zur russischen Einflußsphäre zu erklären] nicht vorausgesehen. Er weicht aus; bevor er sich dazu ernsthaft äußern kann, muß er Churchill konsultieren. Felix erfährt aus den Gesellschaftsseiten der Zeitung, daß die Waldens und Oblomow am 4. Juni am königlichen Hof erscheinen werden. Er kauft eine Schußwaffe. (...) Drei (...) Draußen in der Mall wartet Waldens Kutscher William mit seinem Gespann (das eines unter Hunderten ist). Felix läßt ihn nicht aus den Augen. (...) William geht zum Wasserlassen in den Park. Felix versetzt ihm einen Schlag auf den Kopf, nimmt ihm Hut und Livree ab, fesselt und knebelt ihn. Dann setzt er sich in Waldens Kutsche und wartet. Beim gemeinsamen Abendessen nach der Zeremonie berichtet Walden Churchill von Oblomows Angebot und schlägt eine Gegenofferte vor. (...) Churchill ist einverstanden. Felix hört den Ruf: »Die Kutsche des Earl of Walden!« Er fährt die Kutsche vor und kehrt den Herrschaften, als sie einsteigen, den Rücken zu. Dann fährt er los. Mitten im Park hält er an, zieht sich sein Halstuch übers Gesicht (damit die Frauen, die er nicht töten will, ihn später nicht beschreiben können). Er springt von seinem Sitz, zieht die Waffe aus der Tasche und reißt die Kutschentür auf. Vier Lydia schreit auf russisch »Hilfe!« – genauso wie damals bei der Liebe. Felix erstarrt. Lydia! Hier in dieser Kutschel Meine Lydia. Walden, ein furchtloser Mann, holt aus und schlägt Felix mit dem Spazierstock aufs Handgelenk. Felix läßt die Waffe fallen. Er hat das Attentat völlig vergessen und starrt die hysterische Lydia an. Walden trifft ihn ein zweites Mal. Da rennt Felix davon. Felix erinnert sich an die letzte Begegnung mit Lydia. (...) Die Schergen der Ochrana versuchten, ihn mit Schlägen auf die Fußsohlen dazu zu bringen, die Namen anderer Anarchisten preiszugeben. Die Folter wurde ohne Begründung abgebrochen, und sechs Wochen später wurde er – ebenso kommentarlos – entlassen. Noch am selben Tag erfuhr er, daß Lydia tags zuvor mit ihrem frischgebackenen Ehemann nach England abgereist war. Walden, Oblomow und Churchill sitzen in der Bibliothek. Churchill ist außer sich, weil Oblomow unter Waldens Schutz beinahe umgebracht worden wäre. Auch Walden ist wütend –auf sich selbst und auf den unbekannten Attentäter, der William niedergeschlagen und Lydia 60
schier zu Tode geängstigt hat. Die drei Männer beschließen, Oblomow in einem Hotel unterzubringen und alle Pläne, ihn in die Gesellschaft einzuführen, fallenzulassen. Churchill sagt zu Walden: »Sie sind mir persönlich für die Sicherheit des Fürsten verantwortlich.« Oblomow sagt: »Auch Sie sollten bewacht werden, Walden. Die Waffe war auf Sie gerichtet.« Lydia hat Felix nicht erkannt (allenfalls unbewußt). Als er floh, fiel sie in Ohnmacht. Sie glaubt, es habe sich um einen versuchten Raubüberfall gehandelt. (Charlotte glaubt das gleiche.) Man hat Lydia Laudanum verabreicht und sie zu Bett gebracht. Sie träumt von Felix. Als Walden ins Bett kommt, lieben sie sich, ohne daß Lydia dabei aufwacht. Fünf (...) In dieser Nacht findet Charlottes Debüt in einem Hotel statt, (...) ein rauschendes Fest. Auf dem Heimweg sieht Charlotte eine Frau auf dem Gehsteig schlafen. Sie ist schockiert. (...) Annie erklärt, daß sie schwanger war und ohne Führungszeugnis entlassen wurde. Anschließend hatte sie eine Fehlgeburt; jetzt ist sie bettelarm. (...) Sie bittet um Geld. Charlotte bestellt sie für den folgenden Nachmittag zu sich nach Hause. (...) (...) Sie [Charlotte] wirft ihren Eltern vor, sie hätten Annies ungeborenes Baby auf dem Gewissen. Walden und Lydia fühlen sich ein wenig überrumpelt. Schwangere Hausmädchen werden grundsätzlich entlassen – anders läßt sich ein respektabler Haushalt nicht führen. Aber besonders stolz auf diese Praxis sind sie auch nicht. Insbesondere Walden ist schwer erschüttert. Erst wird seine Familie mitten in London von einem Attentäter überfallen – und dann wirft ihm seine Tochter vor, seine moralischen Prinzipien seien schlecht. Wohin soll es noch kommen mit der Welt? Charlotte sagt, sie möchte Annie als persönliche Zofe einstellen. Lydia ist entsetzt, Walden weniger. Zögernd willigen die Eltern ein. Felix ist niedergeschlagen. Das Überraschungsmoment des Anschlags ist hin. Oblomows Name taucht in keiner Zeitung mehr auf, und die beiden russischen Diener gehen in dem Haus am Park nicht mehr ein und aus. Offensichtlich hält sich der Fürst irgendwo versteckt. Das ist zwar kaum verwunderlich, bringt Felix aber in Verlegenheit. Oblomow kann überall sein. Felix ist nicht in der Lage, jedes Hotel, die Residenzen aller Minister, die Häuser aller russischen Diplomaten in London zu überprüfen. Einen Menschen gibt es allerdings, der ihm einfach sagen könnte, wo Oblomow steckt: Lydia. (...) Sechs Er gibt sich als Konstantin Dmitritsch Levin aus. Dem Butler sagt er, er müsse Lady Walden sofort sprechen; er käme in einer dringlichen Angelegenheit und sei sicher, sie werde sich noch von St. Petersburg her an ihn erinnern. (Der Name, den er sich ausgesucht hat, wird ihr vage bekannt vorkommen: Es handelt sich um eine Figur aus Anna Karenina.) Der Butler führt ihn ins Frühstückszimmer, wo Lydia gerade Briefe schreibt. Sie sieht automatisch lächelnd auf, runzelt die Stirn und wird dann weiß wie eine Wand. Schließlich erzählt sie Felix, wie es dazu kam, daß sie Walden heiratete. (...) Während sie ihre Geschichte erzählt und Felix´ Gesicht beobachtet, überwältigt sie schier das Bedürfnis, ihn zu berühren. Felix ist zutiefst bewegt von ihrer Geschichte. Er will sie küssen. Nein, sagt sie, das alles liegt schon ein halbes Leben zurück. Jetzt weißt du die Wahrheit. Und nun geh – und komm nie wieder. Felix wendet sich zum Gehen. Dann sagt er: »Eigentlich wollte ich dich um etwas bitten. (,..)« Er entsinnt sich der Bedeutung seiner Mission und zwingt sich, Lydia die Geschichte zu erzählen, die er sich ausgedacht hat: Er wolle Oblomow persönlich bitten, sich für die Freilassung eines inhaftierten jungen Seemanns und Anarchisten einzusetzen. Lydia sagt ihm, 61
daß Oblomow im Hotel Savoy logiert. Als er geht, denkt Lydia: Gott sei Dank, daß er den Rest der Geschichte nicht erraten hat. Sieben Aus Gesprächen mit Annie erfährt Charlotte einiges über Armut, Sex und die Rolle der Frau. (...) Sie verspricht, an der nächsten Suffragetten-Demonstration teilzunehmen. Felix besorgt sich die erforderlichen Materialien und bastelt eine Bombe. Lydia grübelt über die Begegnung mit Felix nach und verdrängt ihr immer noch starkes körperliches Verlangen nach ihm. Sie weiß, daß er früher Anarchist war und es offensichtlich noch immer ist. Ob er ihr den wahren Grund für seinen Wunsch, Oblomow zu sprechen, genannt hat? Vielleicht will er Oblomow ermorden. Und vielleicht war er das neulich im Park! Je länger sie darüber nachdenkt, desto größer wird ihre Sorge, sie könnte Oblomow an einen Attentäter verraten haben. Sie weiht Walden ein. »Heute vormittag war ein Mann da, ein Russe, an den ich mich noch vage aus St. Petersburg erinnere. Er hat mich nach Oblomow gefragt. (...) Ich habe das Hotel Savoy genannt. Hoffentlich habe ich damit nichts falsch gemacht.« Walden sagt: »Mach dir keine Sorgen.« Walden verbirgt seinen Ärger. Die Dinge wachsen ihm allmählich über den Kopf. Oblomow läßt sich unerhört lange Zeit mit seiner Antwort auf den britischen Gegenvorschlag. (...) Mit jedem Tag, der ins Land zieht, wird das Abkommen mit den Russen dringlicher. Der unbekannte Attentäter scheint unglaublich kühn und einfallsreich zu sein. Jetzt ist er Oblomow schon wieder auf der Spur. Aber vielleicht, so denkt Walden, kann ich diesmal den Spieß umdrehen und dem Mann eine Falle stellen. Im Laufe einer politischen Auseinandersetzung im Dienstbotenquartier macht Annie einen Fehler: Sie erklärt, Mrs. Pankhurst sei »eine richtige Dame«; sie wisse es, weil Miss Charlotte das gesagt habe. Marya berichtet Lydia, daß Charlotte Mrs. Pankhurst getroffen hat. Charlotte wird zur Rede gestellt. Man verbietet ihr, das Haus ohne Begleitung zu verlassen. Felix schreibt auf einen Briefumschlag: »Fürst Oblomow, Hotel Savoy«. Er gibt einem Gassenjungen einen Penny und beauftragt ihn, den Brief in einer Viertelstunde abzugeben. Um diese Zeit sitzt Felix schon in der Hotelhalle, liest Zeitung und tut so, als warte er auf jemanden. Der Junge kommt herein und gibt den Brief ab. Felix beobachtet genau, was geschieht. Er will herausfinden, wie der Brief an Oblomow gelangt, und sich an die Spur des Überbringers heften. Plötzlich ist der Junge von Polizisten in Zivil umringt, die wie aus dem Nichts aufgetaucht sind. Von einem Büro im Hotel aus wird Walden herbeigerufen. Er befragt den Jungen und öffnet den Brief. Der Umschlag ist leer. Walden beginnt zu begreifen, was dahintersteckt. Er sieht sich in der Hotelhalle um. Sie ist leer. Acht (...) Walden bringt Oblomow in ein neues Versteck. Zum Butler sagt er: »Sollte dieser ›Mr. Levin‹ noch einmal vorsprechen, lassen Sie ihn ein, sagen aber dann sofort Pritchard Bescheid.« Zu Pritchard sagt er: »Gehen Sie diesem ›Mr. Levin‹ nach, wenn er das Haus wieder verläßt.« Einige Tage lang bleibt Felix Walden auf der Spur. Am ersten Tag ißt Walden in seinem Club zu Mittag und macht nachmittags einige Besuche. Dann ißt er zu Hause zu Abend, geht in die Oper und schließlich noch zu einem Ball. Am nächsten Tag verläßt er das Haus schon frühzeitig im Automobil. Felix verfolgt ihn auf seinem Fahrrad, doch als der Wagen die Londoner Innenstadt verläßt, dreht der Fahrer auf, und Felix hat das Nachsehen. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als es noch einmal bei Lydia zu versuchen. (...) Charlotte stiehlt sich aus dem Haus und geht zu der Suffragetten-Demonstration. 62
(...) Felix sieht seine Schwester aus Waldens Haus kommen. »Nadja!« ruft er. Sie sieht ihn erstaunt an und geht weiter. Felix macht sich klar, daß er Nadja seit zwanzig Jahren nicht gesehen hat. Sie mag mit neunzehn so ausgesehen haben, wird sich inzwischen aber verändert haben. Die junge Frau muß also Charlotte gewesen sein, Lydias Tochter, die Felix bislang nur aus der Ferne gesehen hat. Vielleicht weiß sie, wo sich Oblomow aufhält. (...) Felix geht ihr nach. Er sieht, wie Charlotte in eine Straßenschlacht gerät und stürzt. Er rettet sie und lädt sie in ein billiges Café zu einer Tasse Tee ein. Sie kommen ins Gespräch. Lydia hat also eine Tochter, die genauso aussieht wie meine Schwester. (...) Ein unglaublicher Verdacht keimt in Felix auf. Er fragt Charlotte nach ihrem Geburtsdatum. Sie sagt es ihm. Nun weiß er Bescheid: Sie ist seine Tochter. Neun Walden ist auf Walden Hall, dem neuen Versteck Oblomows. Der Fürst steht in ständigem Kontakt mit dem Zaren – durch die russische Botschaft, durch Boten und verschlüsselte Telegramme. (...) Walden hetzt zurück nach London, um sich mit Churchill zu beraten. Charlotte ist fasziniert von Felix, denn er hat auf all die Fragen, die sie quälen, eine Antwort: Warum gibt es soviel Armut? Warum gibt es Kriege? Warum wird Sex tabuisiert? Felix erzählt ihr, daß er Lydia noch von Rußland her kennt und daß Charlotte ihn an seine Schwester erinnert. »Vielleicht sind wir verwandt«, meint Charlotte leichthin. Felix hält den Atem an, zögert und sagt dann: »Das bezweifle ich.« Sie wollen sich wieder treffen. Walden und Churchill vereinbaren einen neuen Gegenvorschlag. (...) Churchill sagt, er müsse die Zustimmung des Kabinetts einholen. Felix steckt in einer Zwickmühle. Er hat seine Tochter entdeckt, von der er nichts wußte, und sie weiß womöglich, wo Oblomow steckt. Soll er sie benutzen? Er liest in der Zeitung, daß Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajewo ermordet worden ist. Er muß sie benutzen. Sie streifen zusammen durch die Nationalgalerie. Sie spricht mit profunder Kenntnis über die Bilder und eröffnet Felix eine neue Welt. Er ist stolz auf sie. Er sagt ihr, daß der Mord von Sarajewo unweigerlich zum Krieg führen werde. Walden und Oblomow, erklärt er, wollen Rußland in den Krieg hineinziehen, und um dies zu verhindern, müsse er, Felix, Oblomow töten. Es ist nicht leicht, Charlotte zu überzeugen, doch nach einer langen Diskussion sagt sie: »Sie haben recht.« Er fragt: »Wo ist Oblomow?« Charlotte weiß es nicht. Aber sie wird es herausfinden. Zehn Charlotte fragt Lydia nach Oblomow. Die antwortet: »Frag deinen Vater.« Sie fragt Walden. Der antwortet: »Es ist besser, wenn du das nicht weißt.« (...) Walden kehrt von einem melancholischen Spaziergang zurück. Unterwegs hat er aus der Ferne seine ehemalige Geliebte gesehen. Daheim ist alles in heller Aufregung: Charlotte und zwei weitere Suffragetten sind verhaftet worden, weil sie Briefkästen in Brand gesteckt haben. Walden zieht los und holt seine Tochter aus dem Gefängnis. Er muß versprechen, sie aus London fortzubringen, damit sie nicht in noch größere Schwierigkeiten gerät. Das Kabinett stimmt der vorgeschlagenen Gegenofferte zu. Walden fährt tags darauf nach Walden Hall, um sie Oblomow zu unterbreiten. Er nimmt Charlotte mit und läßt sie dort. Felix war mit Charlotte verabredet. Er wartet den ganzen Tag auf sie, aber natürlich erscheint sie nicht. 63
Elf (...) Bonnie lebt von ihren Ersparnissen. Es geht ihr gut, aber sie fühlt sich ein bißchen einsam. Sie schläft mit Walden. Danach sagt sie ihm, sie wisse (aus Erfahrung), daß er unfruchtbar sei. Er meint: »Aber ich habe doch eine Tochter.« Bonnie fragt: »Wann genau wurde sie geboren, Liebster?« Inzwischen sucht Felix erneut Lydia auf und erkundigt sich nach Oblomow. Lydia sagt: »Du willst mich für einen Mord mißbrauchen!« Darauf Felix: »All die Jahre über hatte ich eine Tochter. (...) Ist dir klar, was du mir gestohlen hast?« Sie zanken sich wie zwei Liebende, die einander betrogen haben. Auf dem Höhepunkt des Streits küssen sie sich leidenschaftlich. Lydia reißt sich los und läuft aus dem Zimmer. Felix geht. Pritchard folgt ihm. Walden findet bei seiner Heimkehr drei Nachrichten vor. Die erste stammt von Churchill. Österreich hat Serbien ein auf achtundvierzig Stunden befristetes Ultimatum gestellt. Danach will es losschlagen. Die zweite kommt von Oblomow, der dem neuen Vorschlag zustimmt. Walden unterrichtet Churchill und schlägt vor, den Vertrag am Samstag auf Walden Hall zu unterzeichnen. Die dritte Nachricht kommt aus dem »Roten Löwen« in Stepney, wo Pritchard die Tür des Hauses im Auge behält, in dem Felix wohnt. Sie lautet: »Ich habe den Löwen bis in seine Höhle verfolgt.« Walden schickt Churchill eine weitere Nachricht. Dann zieht er einen Mantel von Pritchard an und macht sich auf den Weg ins East End. Zwölf Felix findet bei seiner Heimkehr einen Brief von Charlotte vor: »Oblomow ist hier in Walden Hall. Sie können mich jeden Morgen auf dem Reitweg treffen, der nördlich vom Haus in den Wald führt.« Sorgfältig verpackt Felix seine Höllenmaschine. Als die Polizei im »Roten Löwen« eintrifft, ist er schon fort. Walden und Pritchard verfolgen ihn bis zum Bahnhof. Pritchard stellt sich hinter Felix am Schalter an und kauft eine Fahrkarte mit dem gleichen Zielort, einem Marktflecken in der Nähe von Walden Hall. Pritchard steigt in den Zug, stellt fest, wo Felix sitzt, steigt wieder aus und gibt Walden die Fahrkarte. Walden schreibt noch rasch eine Nachricht an Churchill, die Pritchard überbringen soll. Dann steigt er ein, und der Zug fährt ab. Churchill schickt Truppen aus, die den Zug anhalten und alle Passagiere verhaften sollen. Pritchard eilt nach Hause. Er erklärt Lydia, was vorgeht, nimmt den Rolls und fährt Hals über Kopf zu dem Ort, wo der Zug angehalten werden soll. Im Zug fragt sich Walden, warum Lydia ihm nicht erzählt hat, daß »Mr. Levin« noch einmal bei ihr war, und ob es da vielleicht eine Verbindung gibt zu dem, was Bonnie ihm am Nachmittag gesagt hat. Der Zug kommt auf halber Höhe einer Steigungsstrecke zum Stehen. Walden sieht zum Fenster hinaus und stellt fest, daß der Zug von Soldaten umzingelt ist. Vor dem Abteil geht Felix vorbei. Er strebt dem Zugende zu. Walden steht auf und folgt ihm. Felix steigt in den Dienstwagen, den letzten Waggon des Zuges. Er löst die Bremsen und sprengt die Kupplung mit einer Dynamitladung. Der Waggon beginnt, rückwärts den Hügel hinunterzurollen. Walden springt noch rechtzeitig auf und greift Felix an. Es ist ein ungleicher Kampf, der damit endet, daß Walden aus dem Waggon geworfen wird. Der Waggon gewinnt an Fahrt und sprengt den Kordon der Soldaten. Dreizehn Pritchard kommt an. Walden ist nicht ernstlich verletzt. Die Soldaten jagen dem Eisenbahnwaggon nach. Als der zum Stehen kommt, springt Felix ab und flieht durch die Felder. Er hat einen guten 64
Vorsprung vor den Soldaten. An einer größeren Straße hält er einen Wagen an, wirft den Fahrer hinaus und macht sich mit dem Auto davon. Die Soldaten errichten eine Straßensperre. Felix durchbricht sie. Walden und Pritchard nehmen die Verfolgung im Rolls auf. Felix hat eine Reifenpanne. Er fährt den Wagen von der Straße, zerschlägt die Windschutzscheibe und pflanzt die Scherben auf den Weg. Dann setzt er seine Flucht querfeldein fort. Walden und Pritchard fahren über die Scherben. Zwei Reifen platzen. Sie gehen zu Fuß weiter und halten Ausschau nach Pferden, die sie sich borgen können. Felix stiehlt ein Pferd von einer Koppel. Gegen drei Uhr am Freitagnachmittag erreicht er Walden Hall. Ein paar Polizisten streifen herum, doch der Mann, der aus Sibirien entkam, weiß, wie man sich für eine Nacht im Wald versteckt hält. Vierzehn Walden und Pritchard treffen im Morgengrauen ein und organisieren eine Großfahndung im Gebiet um Walden Hall. Charlotte reitet noch vor dem Frühstück aus und liest Felix im Wald auf. Von den Ställen aus führt sie ihn über die Dächer in ihr Versteck auf dem Dachboden. Sie erzählt ihm, daß die Fenster und Türen zu Oblomows Zimmer Tag und Nacht bewacht werden. Doch am Samstagnachmittag um drei findet in einem Raum, der »das Achteckzimmer« heißt, die Vertragsunterzeichnung statt. Lydia trifft aus London ein. Nach allem, was ihr Pritchard am Abend zuvor erzählt hat, ist sie überzeugt, daß Charlotte Felix hilft. Sie muß es Walden sagen, auch wenn sie ihm dabei enthüllen muß, wer Charlottes Vater ist. Walden ist durch Bonnie schon halbwegs darauf vorbereitet. Er und Lydia versöhnen sich und beschließen, einen neuen Anfang zu wagen. Charlotte ist mittlerweile auf ihr Zimmer verbannt worden, und die Polizei durchkämmt das Haus. Felix entkommt den Fahndern, indem er aufs Dach hinausklettert. In der Nacht schleicht er durch das dunkle Haus und versteckt seine Bombe in einem Blumentopf im Achteckzimmer. Er stellt den Zünder auf 15.15 Uhr ein. Fünfzehn (...) Um drei Uhr unterzeichnen Walden und Oblomow im Beisein Churchills und des russischen Botschafters das Geheimabkommen. Dann stoßen die vier Männer feierlich mit Champagner auf die Unterzeichnung an. Charlottes Zimmerarrest wird aufgehoben. Sie geht sofort auf den Dachboden und sagt zu Felix: »Es ist zu spät – sie haben ihn unterzeichnet.« »Es ist nicht zu spät«, erwidert der. »Sie werden alle in die Luft fliegen (...), in zwei Minuten.« Charlotte sagt: »Aber du kannst doch nicht meinen Vater umbringen!« »Er ist nicht dein Vater«, sagt Felix. »Ich bin dein Vater. Siehst du, Lydia und ich, wir haben uns sehr geliebt, damals ...« »Das ist doch ganz egal!« ruft Charlotte und rennt davon. Felix setzt ihr nach. Charlotte stürzt ins Achteckzimmer. Es ist genau 15.14 Uhr und dreißig Sekunden. Sie schreit: »Alles raus hier, sofort ...« Felix ist dicht hinter ihr und versucht sie wegzuzerren. Walden und Oblomow stürzen sich auf ihn. Es ist 15.14 Uhr und fünfzig Sekunden. Felix wehrt sich, und es gelingt ihm, sich für einen Augenblick von den beiden zu befreien. Es ist 15.14 Uhr und neunundfünfzig Sekunden. Felix schnappt sich den Blumentopf mit der Bombe. Er preßt ihn an seine Brust und stürzt 65
sich aus dem Fenster. Die Bombe explodiert, noch bevor er auf dem Boden aufschlägt. Charlotte rennt zu Walden. Er nimmt sie in die Arme. »Vater«, sagt sie. Nachwort In den ersten Kriegsmonaten spielte die russische Bedrohung an der Ostfront eine entscheidende Rolle: Die Deutschen mußten Truppen aus dem Westen abziehen, die Invasion Frankreichs kam zum Stillstand. 1915 erhielten die Russen offiziell Konstantinopel und den Bosporus zugesprochen. Und 1917 erhob sich das russische Volk und stürzte das Zarenregime. Natürlich hat Felix diese Folgen seines Lebenswerkes nicht mehr miterlebt. Aber vielleicht war das ganz gut so. Analyse des vierten Entwurfs In diesem letzten Entwurf beginnt Follett mit seiner Geschichte in der Gegenwart, also 1914, und knüpft die emotionalen Bande zwischen seinen Hauptpersonen noch enger als zuvor, was ihm die Möglichkeit zu mehreren zu Herz gehenden Szenen verschafft. Hinzu kommen wichtige neue Action-Szenen wie der Überfall auf den Kutscher Waldens, der Mordversuch im Savoy, die Verfolgung des Zuges und das noch etwas erweiterte Finale auf Walden Hall. Daß Felix die Kupplung zwischen den beiden Waggons sprengt, den Absperrungskordon der Soldaten durchbricht, ein Auto stiehlt, das er durch eine Reifenpanne wieder verliert, die Straße durch Scherben unpassierbar macht – all diese Einzelheiten erwiesen sich später als Fehler und wurden im Buch nicht berücksichtigt. Der Mordversuch auf Walden Hall muß der Höhepunkt der Geschichte sein. Die Szenen, die darauf hinführen, sollen zwar spannend, aber nicht genauso spannend oder gar noch spannender sein. Wenn Sie noch einmal Kapitel dreizehn im Mann aus St. Petersburg nachlesen, werden Sie sehen, wie Follett zwar die hohe Spannung beibehält, das Melodram aber abschwächt. Die wichtigste Änderung, die Follett im vierten Entwurf vorgenommen hat, besteht darin, daß Felix jetzt Charlottes biologischer Vater ist. Wir haben es hier mit einer potentiell klischeehaften Unwahrscheinlichkeit zu tun, einem großen Risiko für den Autor. Doch die emotionale Bereicherung wiegt schwerer als das Risiko des Glaubwürdigkeitsverlusts. Die Änderung verleiht der Geschichte gleich in mehrfacher Hinsicht eine neue Eigendynamik und beseitigt viele Schwächen der vorherigen Entwürfe. Alle vier Hauptpersonen sind nun mit höchstem persönlichem Risiko in die Handlung eingebunden. Wir können uns leichter mit ihnen identifizieren, sie bewundern und uns emotional für sie engagieren. Alle vier sind mit ihren Problemen nun »überlebensgroß«. Sie befinden sich in einer hochkomplizierten Lage mit anspruchsvoller Konzeption – und doch kann Follett darauf bauen, daß es ihm mit seinen schriftstellerischen Fähigkeiten gelingt, eine glaubhafte Lösung zu finden. Sehen wir uns ein paar Besonderheiten an. Lydia hat jetzt von ihrem ersten Auftritt an ein starkes Anliegen: Sie muß ihr schreckliches Geheimnis wahren und dafür sorgen, daß ihre Tochter niemals in ein vergleichbares Dilemma gerät. Und doch ist ihr ganzes Sein von Erinnerungen an Felix erfüllt. Der Tag ihrer Hochzeit mit Walden ist in ihrer Erinnerung der unglücklichste ihres Lebens. Nach dem Anschlag in der Kutsche träumt sie von Felix, obwohl sie den Angreifer nicht erkannt hat. Als Felix sie zum erstenmal aufsucht, ist sie einerseits voller Angst, andererseits sehnt sie sich danach, ihn zu berühren, so wie er sich danach sehnt, sie zu küssen. Felix vergißt sogar beinahe den Grund für sein Kommen: Er will herausfinden, wo sich Oblomow aufhält. Als er geht, empfindet Lydia eine große Erleichterung darüber, daß er den Rest der Geschichte – Charlotte – nicht erraten hat. Lydia ist in diesem Entwurf intelligenter und geistesgegenwärtiger und empfindet eine stärkere Loyalität und Liebe gegenüber ihrem Ehemann. Sie kommt von sich aus auf die Idee, daß Felix hinter Oblomow her sein könnte, und berichtet Walden von ihrem Verdacht. Der erniedrigende Juwelenverkauf und Waldens Aufdeckung desselben sind ersatzlos gestrichen. 66
Im Buch entfällt schließlich auch noch die Bespitzelung durch Pritchard. Die engere, herzlichere Beziehung zwischen den Eheleuten kommt fast in jedem Kapitel zum Ausdruck und kulminiert schließlich, nachdem Lydia Walden gestanden hat, wer Charlottes Vater ist, in einer prägnanten Versöhnungsszene. Als Felix sie zum zweitenmal besucht, hält sie ihm aufgebracht vor: »Du willst mich für einen Mord mißbrauchen!«, worauf er, noch aufgebrachter, mit dem Vorwurf reagiert, sie habe ihm seine Tochter gestohlen. Dann, auf dem Höhepunkt ihres Kummers und ihrer Erregung, küssen sie einander. Starker Tobak. Felix wird in diesem Entwurf von Anfang an wesentlich verletzlicher und menschlicher dargestellt. Bei seiner Ankunft in England erregt ihn der Gedanke, daß er sich jetzt im gleichen Land aufhält wie die Frau, die er einst geliebt hat. In seinen Szenen mit Lydia ist er gefühlvoller, nicht mehr nur der eiskalte Drahtzieher. Als er erkennt, daß Charlotte seine Tochter ist, gewinnt er neue, weichere Züge. Die Verführung wurde gestrichen. Felix empfindet väterlichen Stolz für Charlottes Schönheit und ihre Kenntnisse über Malerei. Und plötzlich quält ihn das Gewissen mit der Frage, ob er sie weiter für seine tödlichen Ziele mißbrauchen darf oder nicht. Das ist nicht mehr der unbeirrbare Attentäter, sondern ein zweifelnder, hin- und hergerissener Mensch. Es wird sogar angedeutet, daß er seine Pläne ändern könnte. Erst die Ermordung des österreichischen Erzherzogs in Sarajewo ruft ihm erneut die unmittelbar bevorstehende Gefahr eines grauenhaften Krieges vor Augen. Die Liebe zur neuentdeckten Tochter ist überdies eine gute Vorbereitung auf die Schlußszene und verleiht der Selbstaufopferung um Charlottes willen größere Glaubwürdigkeit. Walden wird im vierten Entwurf weiter aufgewertet. Er ist nicht mehr nur Chefunterhändler, Vater und Ehemann, sondern greift wesentlich entschiedener in das Geschehen ein als bisher. Dadurch rückt er nun mehr noch als Charlotte in die Rolle des Protagonisten. Er ist jetzt Felix´ wichtigster Gegenspieler in einem Duell, das sich wie ein roter Faden durch das ganze Buch zieht. Anfangs schildert Follett ihn als Erzkonservativen, der Churchill – aus dem feindlichen liberalen Lager – nicht einmal bei sich zu Hause empfangen will. Doch Walden ist vernünftig und patriotisch und erklärt sich bereit, die ihm angetragene Aufgabe zu übernehmen. Sie ist in dieser Fassung das Ereignis, das den Stein gewissermaßen ins Rollen bringt. Nachdem er Felix schon bei dem Überfall auf die Kutsche abgewehrt hat, wagt Walden auch den kühnen Sprung auf den abgehängten Waggon und greift Felix direkt an. Da die Szene mit dem Zug in der Endfassung gestrichen wurde, läßt Follett Walden schließlich eine mit Nitroglyzerin gefüllte Flasche auffangen, die ihm Felix im Hotel Savoy entgegenschleudert – eine Tat, die allen Zeugen größte Hochachtung abnötigt. Außerdem beteiligt sich Walden – nicht in diesem Entwurf, sondern im Buch – an einer ebenso wilden wie ergebnislosen Schießerei, bei der Felix über die Dächer Londons entkommt. Entscheidend dafür, daß Walden zu einer wirklich wunderbaren Figur wird, ist jedoch die Zärtlichkeit, mit der er – wiederum nicht im Entwurf, sondern in der Endfassung – Charlotte und Lydia begegnet. Am Ende ist es Charlotte, die Walden das Leben rettet. Ihr ohnehin schon starker Charakter wird im vierten Entwurf zusätzlich gefestigt. Jetzt ist sie, nicht Belinda, die treibende Kraft beim Bücherklau, von dem sie sich Antworten auf ihre Fragen zum Thema Sex erhofft. Auch ist sie nicht mehr nur schockiert, als sie die entlassene Annie auf der Straße findet – nein, diesmal verlangt sie von ihren Eltern, die Unglückliche als Zofe einstellen zu dürfen, und setzt ihren Willen durch. Felix braucht bei Charlotte nicht mehr um den heißen Brei herumzureden und so zu tun, als wolle er Oblomow bloß entführen. Seine Gründe leuchten ihr ein, und sie erklärt sich bereit, ihm bei seinem Mordanschlag zu helfen. Unter enormem Risiko bringt sie Felix ins Haus und versteckt ihn. Doch kaum erfährt sie, daß auch Walden in Gefahr ist, eilt sie, die eigene Todesgefahr mißachtend, zu seiner Rettung. Die Änderungen am Plot sollten Ihnen nun eigentlich klar sein, doch einige sind genauerer Betrachtung wert. Beachten Sie, daß Felix jetzt, wie ich schon an früherer Stelle hervorhob, auf eigene Initiative handelt (er wird damit zum einzigen Antagonisten, wodurch ihm 67
automatisch größere Aufmerksamkeit und inneres Engagement zuteil wird). Vom ersten Kapitel, de facto von seinem ersten Auftritt an ist klar, daß er einen Mord begehen will. Es bedarf keiner lauen Szenen mit unwichtigen Nebenfiguren mehr, die ihn in eine Verschwörung einspannen. Wieviel packender ist es doch, wenn er gleich, als er uns zum erstenmal gegenübertritt, genau um sein tödliches Ziel weiß. Prolog und Epilog, die in der Handlung wie Fremdkörper wirkten, sind ebenfalls gestrichen. Felix´ erster Attentatsversuch ist nun mit der Einführung der Debütantinnen bei Hofe kombiniert, so daß die Episode im Palast nunmehr bloße Illustration der gesellschaftlichen Gepflogenheiten jener Zeit ist. Follett integriert sie allerdings in die Handlung. Lydia berichtet Walden jetzt, daß sie einem »russischen Besucher« Oblomows Aufenthaltsort verraten hat, was Walden veranlaßt, diesem im Savoy eine Falle zu stellen. Zu Beginn des Entwurfs zeigt Charlotte Belinda ein Versteck auf dem Dachboden und einen Weg über die Dächer von Walden Hall. Im Finale wird dieser Faden in einem hochdramatischen Kontext wieder aufgenommen, denn da schleust Charlotte Felix über die Dächer hinweg ins Haus ein. Sie mögen meine Analyse der vier Entwürfe, je nach dem Grad Ihrer eigenen Erfahrung in diesem Metier, entweder für viel zu knapp und unpräzise oder aber für viel zu ausführlich und mit Binsenweisheiten überfrachtet halten. Diejenigen unter Ihnen, denen meine Ausführungen etwas wirklich Neues gesagt haben, werden sich vielleicht fragen: Worin liegen nun die entscheidenden Änderungen, mit denen es Follett im Laufe der vier Entwürfe gelang, einen anfangs recht dürftigen Handlungsabriß in die Vorlage für einen Welterfolg zu verwandeln? Rekapitulieren wir. Zu Beginn schilderte er zwar ausführlich den Hintergrund, doch an dramatischen Vorgaben ist nicht viel mehr vorhanden als die Verführung Charlottes durch Felix, der über sie an Oblomow herankommen will, sowie Charlottes pubertäre Rebellionsphase, durch die sie eine leichte Beute für Felix wird: zwei Personen und nur eine Handvoll Szenen, die eine dramatische Entwicklung andeuten. In den folgenden Entwürfen reichert Follett den Mordplan durch weitere Schritte (und Gegenschritte) an. Im vierten Entwurf beginnt bereits das erste Kapitel damit, und dieser Faden wird bis zum letzten Kapitel durchgeknüpft. In ähnlicher Weise werden auch Charlotte und ihre Rebellion durch eine Folge miteinander verbundener Szenen weiterentwickelt, und einige ihrer Handlungen lösen ebenfalls Gegenreaktionen aus. Das vielleicht Entscheidende ist jedoch, daß Follett eine Geschichte über Menschen, die einander fremd sind, in eine andere verwandelt, bei der die handelnden Personen aufs intimste miteinander verbunden sind. Damit schafft er die Voraussetzung für höchst eindringliche, emotionsgeladene Szenen. Die Handlung konzentriert sich von Entwurf zu Entwurf stärker auf die vier Hauptpersonen. Dementsprechend können wir uns immer besser mit ihnen identifizieren. In jeder Szene tritt zumindest eine von ihnen auf, und meistens sind es sogar mehrere. Alle Szenen, bei denen Nebenfiguren im Mittelpunkt standen, sind bis zum letzten Entwurf gestrichen. Ein Thriller braucht einen Antagonisten und einen Protagonisten (gegensätzliche Figuren sind das A und O der Unterhaltungsliteratur). Im ersten Entwurf ist primär Kell Felix´ Gegenspieler, doch am Ende übernimmt Charlotte diese Rolle. Aber weder Kell noch Charlotte sind ihm ebenbürtig und stark genug, die Rolle vom Anfang bis zum Ende durchzuhalten. Im vierten Entwurf wurde Walden dann so weiterentwickelt, daß ihm der Schuh paßt. Im Buch selbst geht Follett noch einen Schritt weiter und verleiht ihm heroische Qualitäten. Aufs engste verwoben mit der Geschichte von Felix, Charlotte und Walden ist Lydias Schicksal. Im ersten Entwurf kaum mehr als Staffage, beeinflußt sie im vierten sogar das Mordgeschehen und spielt eine wichtige Rolle in den dramatischen innerfamiliären Konflikten. Beides sind natürlich Spätfolgen ihrer geheimgehaltenen Liebesaffäre mit Felix. Lydias Bedürfnis, das schreckliche Geheimnis um Charlottes richtigen Vater zu wahren, 68
verschafft nun auch ihr ein Anliegen, eine Mission. Verbunden mit ihren nach wie vor nicht erloschenen Gefühlen für Felix entsteht so eine Triebkraft, die sie zu einer den Handlungsverlauf mitgestaltenden Person werden läßt. Felix´ Verwandlung – vom verabscheuenswerten bezahlten Killer aus Deutschland über den kaltblütigen russischen Anarchisten bis hin zu einem Mann, der, als er entdeckt, daß er eine Tochter hat, sogar eine gewisse Lebensfreude entwickelt – bedarf im Grunde keiner weiteren Erklärung mehr. Der Kunstgriff, mit dem Follett diese Figur in einen auf seine Art großartigen Schurken verwandelt, besteht darin, daß er ihn am Ende an sich selbst, am Wert seiner geheiligten Mission und sogar an seiner ureigenen Rolle als Terrorist zweifeln läßt. Hin- und hergerissen zwischen zwei Richtungen, erscheint er so menschlich wie die anderen Hauptpersonen, die unter ähnlichen inneren Konflikten leiden wie er: Lydia fühlt sich zwischen Felix und ihrem Mann hin- und hergerissen, Charlotte zwischen dem Vater, der ihr ihre Fragen beantwortet, und dem Vater, der sie großgezogen hat, und selbst Walden ist zwischen seiner Pflicht und der Liebe zu seiner Familie hin- und hergerissen. Durch seine Entwürfe hat Follett die Charaktere und den Plot festgelegt und damit die Voraussetzungen für einen erfolgreichen Roman geschaffen. Die noch fehlenden Schlüsselelemente kommen dann bei der endgültigen Niederschrift des Romantextes hinzu. Im Schlußteil dieses Buches werden Sie ein Kapitel finden, in dem ich ein Resümee ziehe und in diesem Zusammenhang noch einmal auf Der Mann aus St. Petersburg zu sprechen komme, um an zwei ausgewählten Szenen zu zeigen, wie ein Autor Zeile um Zeile seinen Text verändert und verbessert, aber auch die Grundzüge der Handlung modifiziert. Danach werde ich auf die entscheidenden Punkte hinweisen, in denen sich der Schlußteil des fertigen Romans von der Version im vierten Entwurf unterscheidet, und die handwerklichen Prinzipien erörtern, die Follett zu diesen zusätzlichen Verbesserungen bewegen haben. Sie werden sich an dieser Stelle möglicherweise fragen: Was wäre geschehen, wenn Follett das Buch ohne seine vorherigen Entwürfe – oder vielleicht nur auf der Basis des ersten – geschrieben hätte? Die Frage läßt sich kaum eindeutig beantworten, doch wenn Sie jetzt zurückblättern und den ersten Entwurf noch einmal lesen, werden Sie sich schwerlich vorstellen können, wie man daraus einen Spitzenbestseller hätte machen können. Sie werden vielleicht des weiteren fragen, wie ein Autor es schafft, sich von seinen ursprünglichen Vorstellungen freizumachen. Bringt er, allein auf sich gestellt, die notwendige Objektivität auf, um entscheiden zu können, was geändert oder deutlicher hervorgehoben werden muß? Ich kann mich nicht auf eine repräsentative Meinungsumfrage stützen, vermute jedoch, daß es Autorinnen und Autoren gibt, die das können, und andere, die es nicht können. Doch wie dem auch sei: Legen Sie Ihren eigenen Entwurf beiseite und lesen Sie ihn nach einer Woche erneut durch. Mit dem entsprechenden Abstand zur Erstfassung und unter Berücksichtigung der im vorliegenden Buch herausgearbeiteten Kriterien müßten Sie nun eigentlich imstande sein, von sich aus die eine oder andere Schwäche zu entdecken. Das kritische Feedback von einem versierten Agenten, Lektor oder Schriftstellerkollegen kann allerdings eine unschätzbare Hilfe sein. Schließlich erhebt sich die Frage, woran Sie erkennen, daß Sie fertig sind, daß Ihr neuer Entwurf perfekt genug ist und daß Sie soweit sind, mit der eigentlichen Niederschrift des Textes zu beginnen. Die Antwort lautet, daß Sie das nie so genau wissen werden, ebensowenig wie Sie wissen werden, wie gelungen der fertige Roman ist. Generell würde ich empfehlen, den ersten Entwurf mindestens zweimal gründlich zu überarbeiten. Hat am Ende jedes Kapitel einen gewissen dramatischen Höhepunkt, wird die Handlung dynamisch vorwärtsgetragen und haben Sie außerdem mindestens eine Person, besser aber zwei oder drei geschaffen, mit denen der Leser aus ganzem Herzen mitempfinden kann und deren Schicksal sich in einem brisanten Finale erfüllt – dann liegt möglicherweise der Grundriß für einen guten Spannungsroman vor Ihnen.
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5 »Überlebensgroße« Gestalten Trotz des großen und wohlverdienten Erfolgs von Judith Guests Eine ganz normale Familie befriedigt es Käufer moderner Unterhaltungsliteratur nur selten, wenn ein Autor sich damit begnügt, den Leser am Leben des netten jungen Pärchens von nebenan teilhaben zu lassen. An die Hauptpersonen eines guten Buches erinnern sich Leser noch, wenn sie die aufregenden Szenen aus dem Buch oder sogar seinen dramatischen Höhepunkt längst vergessen haben. Romanpersonen, die uns jahrelang nicht aus dem Sinn gehen, verfügen in mehrfacher Hinsicht über außergewöhnliche Eigenschaften. In diesem Kapitel wollen wir an einigen repräsentativen Beispielen untersuchen, wie solche Charaktere entworfen, aufgebaut, charakterisiert und zum Leben erweckt werden. Wenn wir »gewöhnlichen Sterblichen« behaupten, daß wir einen Menschen gut, ja, sogar sehr gut kennen – was meinen wir dann damit? Im allgemeinen achten wir auf Äußerlichkeiten: Wie kleidet er sich am liebsten? Was schmeckt ihm am besten? Wofür gibt er sein Geld aus und wofür nicht? Womit verbringt er seine Freizeit? Wie fleißig ist er? Spielt er? Gibt es Dinge, auf die er besonders versessen ist? Ist er eher eine zu jedem Spaß bereite Frohnatur, oder neigt er dazu, niedergeschlagen zu sein und sich zu beklagen? Wie ist sein Verhältnis zu seinen Familienangehörigen, Freunden, Feinden und zu anderen Menschen in seinem Umfeld? Wen liebt, wen haßt er, und welche Gefühle bringen ihm umgekehrt seine Mitmenschen entgegen? Bei der Gestaltung einer Hauptfigur muß der Romancier aber nicht nur viele der genannten Variablen berücksichtigen, sondern dieselben auch noch mit anderen möglichen Gewohnheiten, Charaktermerkmalen, Eigenheiten und Vorlieben kombinieren. Doch auch das reicht noch nicht aus. Ein Autor muß tiefer schürfen, muß uns die seiner Gestalt innewohnenden Sehnsüchte, Hoffnungen, fleischlichen Gelüste, Ambitionen, Ängste, Liebes- und Haßgefühle, von denen die anderen Figuren (ähnlich wie im wirklichen Leben) kaum etwas oder gar nichts wissen, erkennen und nachempfinden lassen. Der Schriftsteller muß das Umfeld des Romans (sowohl das äußere wie das emotionale) durch die Augen und mit den Empfindungen seiner Romangestalt betrachten. Auf diese Weise erzeugt er in sich selbst und in seinem Leser eine Nähe zu ihr, die der Liebe nicht unähnlich ist. Motivation Aristoteles war möglicherweise der erste Denker, der feststellte, daß sich die Figur in einer Tragödie durch ihre Taten definiert. Dies gilt, wie ich glaube, auch heute noch, und zwar für die Personen eines Bühnenstücks oder eines Romans ebenso wie im Leben selbst. Doch Sophokles etwa zeigt uns nicht nur, was Ödipus und Antigone tun, sondern er läßt sie uns zunächst einmal ihre Beweggründe darlegen. Und genau darin liegt das Geheimnis, das die Anteilnahme des Publikums oder des Lesers weckt, das sie ihre eigenen Sorgen vorübergehend vergessen und mit dem Schrecken, den Ängsten, den Sehnsüchten und Freuden einer erfundenen Person sympathisieren, mitfiebern, ja eins werden läßt. Um dieses Ziel zu erreichen, verrät der Autor, was die betreffende Person in einer bestimmten Szene am allermeisten begehrt und was sie sich für die Zukunft, für den Rest ihres Lebens oder auch nur für den Handlungszeitraum des Stückes oder Buches wünscht und erträumt. Die Darstellung des Innenlebens – ob nun im Dialog veranschaulicht oder, eher noch, im inneren Monolog oder erzählerisch durch den Autor – sollte buchstäblich die Seele bloßlegen und dadurch den Leser näher an die Person heranbringen. Wenn die Wünsche, Träume oder Sehnsüchte gesellschaftlich akzeptabel sind – also nicht so unsittlich, skurril oder abwegig, daß andere Charaktere im Buch Ihre Hauptperson als 70
Spinner, Erzfeind oder Lachnummer sehen –, dann können Sie sie getrost in Dialoge einarbeiten. Häufiger kommt es jedoch vor, daß die Aspirationen Ihrer Figur so intim, gefährlich, verrückt, größenwahnsinnig oder überkandidelt sind, daß es schwerfällt, sie im Dialog mit anderen zu offenbaren. In diesen Fällen empfiehlt es sich, das große Anliegen des betreffenden Handlungsträgers in einen inneren Monolog oder in die Erzählung des Autors einzuflechten. Wie Sie im Abschnitt über die Entwicklung von Scarlett O´Hara sehen werden, eignen sich diese Techniken auch zur Schärfung von Charakterprofilen und zum Aufbau dramatischer Spannung, die sich dann Zeile für Zeile ganz einfach aus dem Gegensatz zwischen dem Denken und dem Handeln der Person entwickelt. Wie jede gute literarische Hauptfigur machen uns »überlebensgroße« Gestalten, die tragenden Säulen jedes Bestsellerromans, durch die eine oder andere dieser Techniken mit ihren Hoffnungen und Zielen vertraut. Anders verhält es sich mit den verborgenen Wünschen und Phantasien der Scarletts, Meggies und Don Corleones. Diese Personen streben (innerhalb ihres gesellschaftlichen Umfelds) nach dem Unerreichbaren oder beinahe Unmöglichen. Felix Kschessinsky [vorher Muronziw; Anm. d. Übers.] will den Fürsten Orlow [vorher Oblomow; Anm. d. Übers.] ermorden, weil er auf diese Weise den Zaren davon abzubringen hofft, sich auf ein russisch-englisches Kriegsbündnis gegen Deutschland einzulassen: Ein einzelner, unbedeutender Mensch versucht mutterseelenallein, Einfluß auf mächtige Reiche zu nehmen, ja er strebt sogar danach, Macht über sie zu gewinnen. In Vom Winde verweht flaut Scarletts Leidenschaft für Ashley Wilkes bis fast zum Ende des Buches nie ab, obwohl er sich von ihr abwendet, Melanie heiratet und Scarlett danach immer wieder zurückweist. In der zweiten Hälfte des Romans verrät ihre Gier nach Geld und Sicherheit die gleiche Inbrunst. Was andere über sie denken, ist ihr egal. Sie ist, mit einem Wort, unbezähmbar. Don Corleone Zu den Wundern der modernen Belletristik gehört für mich Mario Puzos Darstellung Don Corleones – eines Mafia-Paten, der einer mächtigen Organisation von Mördern, Erpressern, Lohnbetrügern, korrupten Gewerkschaftsbonzen, illegalen Buchmachern und anderen Kriminellen vorsteht – sowie die Fähigkeit des Autors, diese Person so zu präsentieren, daß man sie im Gedächtnis behält, bewundert, wenn nicht gar liebt. Auf jeden Fall ist Don Corleone die Schlüsselfigur in einem der meistgelesenen Bücher der letzten fünfzig Jahre. Sehen wir uns nun einige der Methoden genauer an, die Puzo anwendet, um uns eine Gestalt, die wir unter normalen Umständen für einen gemeinen sizilianischen Straßenräuber halten würden, als allseits verehrten Paten näherzubringen. Das Buch beginnt mit drei Männern, die sich aus unterschiedlichen Gründen in einer sehr unangenehmen Notlage befinden. Amerigo Bonasera, der Bestattungsunternehmer, muß erleben, daß das Gericht seiner Tochter, die bei einem Vergewaltigungsversuch so übel zugerichtet wurde, daß ihr der Kiefer mit Draht zusammengeflickt werden mußte, keinerlei Gerechtigkeit widerfahren läßt. Johnny Fontaine, der Schauspieler und Sänger, mit dessen Karriere es bergab geht, wird von seiner mannstollen Frau gedemütigt und hinausgeworfen. Nazorine, der Bäcker, sieht nur noch eine Chance, seine dickliche und reizlose Tochter unter die Haube zu bringen – aber dazu braucht sein Lehrling und prospektiver Schwiegersohn, ein italienischer Kriegsgefangener, unbedingt die amerikanische Staatsbürgerschaft. Die drei Männer sind zur Hochzeit von Constanzia Corleone, der Tochter des Dons, eingeladen und nehmen die Gelegenheit wahr, die Hilfe des Paten zu erbitten, ja sogar zu erflehen. Ihr fester Glaube, daß ein einziger Mann und Mensch die Fehler des Rechtssystems korrigieren, einem Ausländer aus Feindesland die amerikanische Staatsbürgerschaft verschaffen und ein großes Filmstudio in Hollywood dazu zwingen kann, einen Schauspieler zu engagieren, dessen Bewerbung bereits rigoros und definitiv abgelehnt wurde – dieser Glaube baut Vito Corleone schon auf den ersten Buchseiten als Person mit unermeßlicher, rätselhafter Macht auf. Dem Schauspieler begegnet er ernst, dem Bestattungsunternehmer äußerst streng. Entscheidend ist 71
jedoch, daß er allen dreien Hilfe zusagt, keine Gegenleistung außer Freundschaft verlangt und seine Versprechen hält. Die verzweifelten Bittsteller fließen geradezu über vor Dankbarkeit, und wir, die Leser, lassen uns mitreißen von der Herzlichkeit und Bewunderung, die die drei gepeinigten Männer einer so außergewöhnlichen Person entgegenbringen. Beachten Sie, wie Corleone seine Freundlichkeit und Großzügigkeit in die Tat umsetzt. Um dem Bäcker zu helfen, bedarf es der Bestechung eines Kongreßabgeordneten mit zweitausend Dollar. Aber das kommt uns gar nicht so schlimm vor, öffnet diese Tat doch einer jungen Liebe neue Perspektiven. Außerdem wird die Bestechung als solche gar nicht geschildert, während wir die Not des Bäckers und seine Bitte zugunsten seiner Tochter unmittelbar miterleben. Sie erinnern sich: Der Leser orientiert seine Vorstellung von einer Person und deren Charakter im wesentlichen an deren konkretem Verhalten – und nicht an dem, was über sie gesagt wird. Die Wünsche des Bestattungsunternehmers erfüllt der Don, indem er die beiden Beinahe-Vergewaltiger von Ganoven mit Spezialschlagringen, die mit einzölligen Eisenspitzen gespickt sind, auf brutalste Art zusammenschlagen läßt. Und doch steht der Pate am Ende dieser Geschichte mit fast blütenreiner weißer Weste da. Bonasera will die jungen Kerle tot sehen, aber nein: Corleone befiehlt, daß die Rache von Leuten ausgeführt wird, »denen der Blutgeruch nicht so zu Kopfe steigt, daß sie die Beherrschung verlieren. Schließlich sind wir keine Mörder«. Nicht nur, daß die beiden verprügelten Übeltäter selber brutale, gefühllose Burschen sind – nein, ihre Eltern sind kaum besser: Sie bestechen einen Richter, so daß dieser ihre mißratenen Sprößlinge mit einer Bewährungsstrafe davonkommen läßt. Anscheinend lieben diese Eltern ihre Söhne und tun alles für sie, ähnlich wie der Bestattungsunternehmer für seine Tochter. Doch von ihrer Verzweiflung erfährt man kaum etwas, da wir nirgendwo im Buch konkret mit ihr konfrontiert werden. Puzos Don tritt uns daher in einer Welt voller Bosheit immer wieder als ein Mann gegenüber, der längst nicht so böse ist wie die korrupten Institutionen und Menschen, mit denen er sich herumschlagen muß. Kraftakte Daß der Don endgültig in den Rang einer überlebensgroßen Gestalt aufrückt, verdankt er der Art und Weise, wie er es fertigbringt, Johnny doch noch jene Filmrolle zu verschaffen, auf die der Schauspieler so versessen ist. Dieses Husarenstück ist die entscheidende Szenenfolge im ersten Teil des Romans. Jack Woltz, der allmächtige Studioboß, der John Edgar Hoover und sogar den Präsidenten persönlich zu seinen Freunden zählt, hat Tom Hagen, den Consigliere und Emissär des Don, grob abgefertigt, obwohl Hagen ihm mit ausgesuchter Höflichkeit begegnet. Woltz kann Johnny nicht ausstehen. Er schimpft ihn einen Papagallo und verspricht, ihn ein für allemal aus dem Filmgeschäft auszubooten. Woltz´ Sprache ist auffallend und mit ihren anti-italienischen Seitenhieben offen beleidigend. Auch wird bekannt, daß Woltz halbwüchsige Mädchen sadistisch mißbraucht. Die große Liebe des Filmmoguls gilt seinem Weltklasse-Rennstall und insbesondere Khartoum, dem besten Rennpferd der Welt, für das er die damalige Rekordsumme von 600000 Dollar hingeblättert hat. Also sorgt Corleone dafür, daß Woltz eines Morgens beim Aufwachen am Fußende seines Bettes den abgeschlagenen, schwarzseidigen Kopf des Tieres vorfindet. Der kalifornische Boß, der seine Macht für größer hielt als die des Don Corleone, muß einsehen, daß er sich geirrt hat – trotz seiner Verbindungen zum FBI und zum Weißen Haus. Die Tat selbst ist grausig und zugleich furchteinflößend, für Woltz wie für uns. Doch obwohl Woltz, rein juristisch gesehen, eindeutig im Recht ist, gehören die Sympathien und die Bewunderung des erschrockenen Lesers dem Sizilianer. Er schätzt an ihm die abenteuerliche Idee sowie den Mut und die Fähigkeit, diese auch in die Tat umzusetzen und damit sein Johnny gegebenes Versprechen zu erfüllen. Und es freut den Leser – und das ist der springende Punkt –, daß Corleone Jack Woltz, diesen grausamen und widerlichen Kerl, kleinkriegt. Im Gegensatz zu Woltz lehnt der »kultivierte« Don jedes unflätige Wort ab; nie würde er sich an jungen Mädchen vergreifen 72
oder eine Frau protegieren, die »dich aussaugen konnte wie eine Wasserpumpe«. Unmittelbar nach der Hochzeit seiner Tochter läßt sich Corleone ins French Hospital fahren, um Genco Abbandando zu besuchen, seinen alten Consigliere, der unheilbar krebskrank ist und im Sterben liegt. Mrs. Abbandando nennt ihn einen Heiligen, weil er am Hochzeitstag seiner Tochter ins Krankenhaus kommt. Das Verblüffendste aber ist die fiebrige Hoffnung des Sterbenden, der Pate könne ihn vor dem Tode erretten oder zumindest »ein paar Drähte« ziehen, damit Genco nicht in die Hölle kommt. Diese kleine Szene hat keinen Einfluß auf den Fortgang der Handlung und wird später nicht wieder aufgegriffen. Kurz vor der Szene, in der die beiden Beinahe-Vergewaltiger zusammengeschlagen werden, dient sie allein dem Zweck zu zeigen, zu welcher Güte und Zärtlichkeit Corleone imstande ist und wie grandios er sich auch in einer derart traurigen Situation verhält. Außerdem demonstriert sie die beinahe gottähnliche Verehrung, die dem Don von seiner Umgebung entgegengebracht wird. Alle Szenen, die ich hier erwähnt habe, gehören zu den ersten fünfzehn Prozent des Romantextes, sind also der eigentlichen Kernstory, dem Kampf gegen Sollozzo und die konkurrierenden Mafia-Familien, vorangestellt. Puzo nutzt diese Seiten zur Beschreibung der Familie Corleone und ihres Umfelds; er führt Charaktere wie Sonny, Michael, Kay, Tom, Connie, Carlo, Johnny und Lucy ein. Vor allem aber verleiht er seinem Titelhelden auf diesen Seiten eine großartige Statur und gewinnt uns für ihn. Nachdem er in einer Reihe von Szenen seine Macht demonstriert hat, sind wir bereit, ihn als wohlwollenden Despoten zu akzeptieren, der keinem anderen Menschen auf der Welt verpflichtet ist. Er ist keiner Regierung und keinem Gesetz unterworfen, es sei denn, er hält sich freiwillig daran. Seinen Freunden und seiner Familie gegenüber ist er ein treusorgender, großzügiger und, wenn ihm widersprochen wird, bisweilen auch sehr strenger Patron, doch niemals verhält er sich so primitiv und bösartig wie seine Gegner und Feinde. Kurzum, er ist eine einzigartige Persönlichkeit. Nahezu alles, was wir über den Don wissen, erfahren wir durch seine eigenen Worte und Taten sowie durch die Aussagen und Gedanken anderer Romanfiguren. Puzo beschränkt sich bei der Schilderung persönlicher Gedanken und Gefühle Corleones auf ein Minimum und gibt ihm nur einige wenige, kurze innere Monologe. Er sorgt dafür, daß immer eine gewisse Distanz zwischen uns und dem Don liegt, und stärkt damit dessen rätselhafte, beinahe gottähnliche Aura. Margaret Mitchell hat sich bei der Beschreibung ihrer Scarlett ähnlicher Methoden bedient wie Puzo. Aber sie schrieb darüber hinaus Szene um Szene, in denen sofort ins Auge springt, daß Scarletts Worte und Taten ihren Gedanken und Gefühlen nicht entsprechen, ja manchmal sogar das genaue Gegenteil sind. Welch dramatischer Kontrast! Mehr noch, Scarletts Gefühlsleben wird oft in noch grelleren Farben geschildert als die empörenden Dinge, die sie ausspricht und tut. Indem sie uns anders als Puzo mit den Begierden und Sehnsüchten, den Liebes- und Haßgefühlen ihrer Heldin vertraut macht, erzeugt Margaret Mitchell eine intime Nähe zu Scarlett. Scarlett O´Hara Das Buch beginnt mit den Sätzen: »Scarlett O´Hara war nicht eigentlich schön zu nennen. Wenn aber Männer in ihren Bann gerieten, wie jetzt die Zwillinge Tarleton, so wurden sie dessen meist nicht gewahr.« Womit bereits feststeht, daß das sechzehnjährige Mädchen ein wenig aus der Art geschlagen ist. Und noch vor Ende der ersten Seite teilt Mitchell uns mit: »In den grünen Augen blitzte und trotzte es und hungerte nach Leben, so wenig der mit Bedacht gehütete sanfte Gesichtsausdruck und die ehrbare Haltung es auch zugeben wollten.« Wir haben unsere Heldin noch gar nicht in Aktion erlebt, da legt die Autorin schon die Fundamente, die uns auf einiges vorbereiten. Scarletts Persönlichkeit wird zum erstenmal spürbar, als sie den Zwillingen verbietet, über »den Krieg« zu reden. Sie tut es mit einem Lächeln, das ihre Grübchen vertieft, und mit viel Wimperngeklimper, das die Jungen entzückt. Dabei ist ihr Motiv eindeutig reiner Narzißmus. 73
Sie kann keine Unterhaltung ertragen, bei der sie nicht im Mittelpunkt steht. Scarlett ist eine Person, die aggressiv ihren Willen durchsetzt – und dennoch eher Entzücken als Ärger und Aggression hervorruft. Von der Leidenschaft, die Scarlett beherrscht, erhalten wir einen ersten Eindruck, als Stuart Tarleton ankündigt, auf dem Gartenfest am kommenden Tag solle Ashley Wilkes´ Verlobung bekanntgegeben werden. Scarlett sagt nichts, doch ihre Lippen werden weiß. Dann stimmt sie mechanisch zu, alle Walzer nur mit den Zwillingen zu tanzen und mit ihnen zu Tisch zu gehen, obwohl sie kurz zuvor noch behauptet hat, sie hätte bereits alle Tänze an andere vergeben. Da die beiden in der Vergangenheit um jede auch noch so geringe Gunstbezeigung Scarletts bitten und betteln mußten, sind sie nun selig und merken gar nicht, welche Gedanken und Gefühle das Mädchen tatsächlich bewegen. Kaum sind die Zwillinge fortgeritten, kommt die Autorin ausführlicher auf Scarletts Ausstrahlung und ihren Narzißmus zu sprechen. Wir erfahren, daß Scarlett Stuart und Brent absichtlich schöne Augen gemacht und sie anderen, nicht minder standesgemäßen Mädchen ausgespannt hat. Dabei will sie von den beiden Jungen gar nichts – sie kann es bloß nicht ertragen, daß sich irgendein junger Mann aus ihrem Freundeskreis in eine andere Frau verliebt. Doch Scarlett hat, auch wenn sie den Zwillingen mit ihren tanzenden grünen Augen und ihrem fröhlichen Gelächter den Kopf verdreht hat, keinesfalls bei allen Erfolg. Die Mutter der Jungen lehnt Scarlett offen ab, nennt sie eine »schlaue kleine Person« und ein »doppelgesichtiges, grünäugiges Frauenzimmer«. Die Geschichte hat kaum angefangen, und schon erregt die junge Frau eine Fülle einander widersprechender Gefühle! Sympathie für Scarlett Im zweiten Kapitel baut Mitchell Scarletts Charakter auf vielfältige Weise aus und legt ihn fest. Sie beschränkt sich nicht auf die bereits erwähnte Tatsache, daß Scarlett infolge der schockierenden Nachricht von Ashleys Verlobung unglücklich ist, sondern sie malt den Schmerz unserer Heldin in allen Einzelheiten aus: Der Mund tut ihr weh, weil sie ihn wider Willen zum Lächeln gezwungen hat; das Herz schwillt ihr vor Pein, bis es ihr fast zu groß für ihre Brust dünkt, und schlägt mit wunderlichen kleinen Anläufen; ihre Hände sind kalt. Lebendige Beschreibungen wie diese bewirken, daß sich der Leser leicht und ganz natürlich in das Unglück der Person hineinversetzt. Scarletts Unbezähmbarkeit ist einer der Schlüsselfaktoren für ihre »überlebensgroße« Statur. Daß der Leser jedoch Sympathien für dieses egoistische Mädchen entwickelt, liegt an der nicht minder wichtigen Intensität ihrer Gefühle, der Tiefe ihrer Leidenschaften. Sie werden uns zum Teil in Dialogen, vor allem aber – und noch unmittelbarer – in inneren Monologen mitgeteilt. Nach der oben erwähnten Darstellung ihres Kummers entblößt Scarlett ihr Innerstes: »Das konnte nicht wahr sein, die Zwillinge irrten sich oder trieben wieder einmal Spaß mit ihr, Ashley konnte sich nicht in so ein kleines Mausgeschöpf verlieben, (...) weil sie selber es war, Scarlett, die er liebte!« Hier werden unverblümt die Grundzüge ihres Charakters enthüllt. Später, als ihr Vater ihr erzählt, daß Melanie tatsächlich schon auf der Wilkesschen Plantage eingetroffen ist, spürt sie, wie ihr die Zornesröte ins Gesicht steigt. Sie würde ihren Vater am liebsten packen, ihn schütteln und ihm den Mund verbieten. Als er schließlich die Nachricht von der Verlobung bestätigt, da zerreißt ihr »der Schmerz (...) wie mit Raubtierfängen das Herz«. Ihr Vater schilt sie, weil sie nach einem Mann schmachtet, der nie mehr als Freundschaft für sie empfunden hat. Scarlett widerspricht ihm heftig – allerdings nur in Gedanken, zu denen ausschließlich wir Zugang haben. Ein zweiter Weg, den Margaret Mitchell beschreitet, um unsere Sympathien für ein so eigenwilliges und selbstsüchtiges Geschöpf zu wecken, besteht darin, daß sie Scarletts Charakter durch eine sehr positive Eigenschaft ergänzt. Romangestalten, mit denen wir rasch warm werden, sind (wie im wirklichen Leben) Menschen mit starken Bindungen an andere Personen. Für die einsamen Antihelden Kafkas und Camus´ gäbe es in der 74
Unterhaltungsliteratur keine Hauptrollen zu besetzen. Scarletts Zuneigung zu Mammy, Gerald, Ellen und Tara insgesamt wird in den ersten drei Kapiteln deutlich herausgearbeitet. Mit ihrem geliebten Vater verbindet sie ein gegenseitiges Vertuschungsabkommen: Er mag sie schelten, wenn sie sich wieder einmal wie ein Wildfang aufführt, doch vor anderen, namentlich vor Mammy und Ellen, kritisiert er Scarlett mit keinem Wort. Scarlett ihrerseits verpetzt ihn nicht, wenn er mit seinem Pferd über Zäune springt oder beim Poker verliert. Allein seine Gegenwart gibt ihr Trost. Und wir erfahren, welche seiner Eigenschaften sie besonders liebt: seine Vitalität, seinen Pragmatismus, seine Derbheit. Sie liebt sogar die Gerüche, die von ihm ausgehen: Bourbon-Whisky mit einem leichten Anflug von Pfefferminz, gemischt mit dem Duft von Kautabak, geöltem Leder und Pferden. Mammy, deren scharfen Augen keiner von Scarletts Fehlern entgeht, nörgelt ständig an ihrem »Lämmchen« herum. Weil Scarlett die Zwillinge nicht zum Abendessen eingeladen hat, wirft sie ihr vor, ihre Manieren seien nicht besser als die einer Feldpflückerin. Ihre Tiraden gegen Scarletts Capricen ziehen sich durch das ganze Buch. Trotzdem liebt sie ihre junge Herrin und unterstützt sie auch dann noch, als diese Frank Kennedy, den Verlobten ihrer Schwester, umgarnt und sich damit endgültig über alle Anstandsregeln hinwegsetzt. Mammys Treue ist ein weiteres Moment, das uns mit Scarlett mitfühlen läßt. Unentwegt debattiert Scarlett mit ihr über die richtige Garderobe, das richtige Essen und den richtigen gesellschaftlichen Umgang, wobei Mammy des öfteren von Scarlett übers Ohr gehauen wird. Im Grunde hat Scarlett jedoch Respekt vor Mammy und fürchtet sie mitunter sogar. Als Scarlett in Zeiten großer Not heimkehrt und Tara verwüstet sieht, birgt sie ihren Kopf an Mammys breitem, schwerem Busen. Und als die gesamte alte Garde von Atlanta in der Phase des Wiederaufbaus Scarlett wegen ihrer Habgier, ihres »männlichen« Verhaltens und ihres Umgangs mit Yankees und Kriegsgewinnlern schneidet, trägt Melanies unerschütterliche Loyalität dazu bei, daß unsere Sympathie für Scarlett erhalten bleibt. So verwerflich sich Scarlett bisweilen auch benimmt – Margaret Mitchell gelingt es (wie Puzo mit Corleone), die Heldin durch den Vergleich mit anderen Personen in ein vorteilhaftes Licht zu setzen. So wird Scarlett zum Beispiel viel engagierter und vitaler dargestellt als ihre ständig jammernde und dabei auch noch hinterhältige Schwester Suellen. In Scarletts Welt gibt es eine Person, die unumschränkt bewundert wird und gottähnliche Züge annimmt: ihre Mutter Ellen. Als Scarlett erstmals ihre Liebe zu Tara in Worte faßt, vergleicht sie die Plantage mit dem im Licht der Hängelampe schimmernden Gesicht ihrer Mutter bei der Abendandacht. Bei ihrem ersten Auftritt im Buch steht Ellen im Begriff, Emmie Slattery zu besuchen, deren Neugeborenes im Sterben liegt. Sie tätschelt Scarletts Wange mit einer behandschuhten Hand, und ihre Tochter erliegt dem niemals versagenden Zauber der mütterlichen Berührung sowie dem schwachen Duft nach Zitrone und Verbene, der Mutters raschelndem Seidenkleid entströmt. Ellens kleines Schreibzimmer ist Scarletts Lieblingsraum im Haus. Als sie der Kummer über Ashley verzehrt, möchte sie am liebsten dorthin und den Kopf in Mutters Schoß legen. Als Kind hat Scarlett ihre Mutter für die Jungfrau Maria gehalten, und nun bringt ihr der Anblick von Ellens im Gebet verklärtem, himmelwärts gerichtetem Gesicht Ruhe und Frieden, neue Hoffnung und die Gewißheit, daß Ellens Stimme im Himmel erhört wird. Wir lernen Scarlett also nicht nur als durchtriebene Intrigantin, sondern auch als liebende Tochter kennen. Gleich mehrmals im Laufe des Romans strebt Scarlett nach dem Unmöglichen oder beinahe Unmöglichen. Gemessen an den Beschränkungen, die zu jener Zeit einer Frau ihrer gesellschaftlichen Klasse auferlegt waren, ist sie nicht weniger mutig und findig als Don Corleone. Mitchell läßt diese Eigenschaften von Anfang an durchschimmern, etwa in Scarletts Umgang mit den Zwillingen, mit Mammy und Gerald. Am Ende des vierten Kapitels – wir haben noch nicht einmal zehn Prozent des Romans gelesen – tritt Scarletts finstere Entschlossenheit mit aller Deutlichkeit zutage: Sie beschließt, nicht einfach tatenlos zuzusehen, wie Ashley Melanie heiratet. Dazu liebt sie ihn viel zu sehr 75
und ist außerdem felsenfest davon überzeugt, daß er ihre Liebe erwidert. Sie faßt einen Plan. Auf dem Gartenfest am folgenden Tag wird sie die Stolze spielen, ihn links liegen lassen und allen anderen anwesenden Männern schöne Augen machen. Das wird seine Wirkung auf Ashley nicht verfehlen; die Eifersucht wird ihn quälen. Danach will sie ihn glücklich machen, indem sie ihm bescheiden zu verstehen gibt, daß sie ihn allen anderen Männern auf der Welt vorzieht. Worauf er sie natürlich bitten wird, seine Frau zu werden. Sie werden nach Jonesboro durchbrennen und dort heiraten. Selbstverständlich kommt dann alles ganz anders, als Scarlett es sich erhofft. Doch was in dieser Szene für uns zählt, sind Scarletts Entschlossenheit und ihre Kühnheit. Sie tragen zum Aufbau jenes Charakterbilds bei, das uns Respekt abnötigt. Felix Kschessinsky Scarlett und Don Vito sind Protagonisten. Werfen wir nun einen kurzen, aber scharfen Blick darauf, wie Felix, der »überlebensgroße« Antagonist, in den Roman eingeführt und charakterisiert wird. Sie werden sehen, der Unterschied ist gar nicht so groß – außer in einem Punkt: Während Scarlett und der Don zu Beginn des jeweiligen Buches in ihrem persönlichen Umfeld, umgeben von Freunden und Familienmitgliedern, gezeigt werden, hat Felix nur sehr lockere Beziehungen. Er liebt niemanden, und niemand liebt ihn. Als er im weiteren Verlauf der Handlung Lydia wiedersieht und Charlotte kennenlernt, ändert sich das natürlich, doch am Anfang hebt der Autor Felix´ Intelligenz, seine Menschlichkeit und seinen außerordentlichen Wagemut hervor. Seine differenzierten politischen Ansichten verraten uns seine Denkweise. Anders als sein Vater, der Pope, der von der Liebe Gottes zum russischen Volk predigt, glaubt Felix, Gott müsse das russische Volk hassen, weil er es so grausam leiden läßt. Er erkennt, daß den Bauern in all ihrer Beschränktheit eine übermütige Großzügigkeit zu eigen ist. Er erlebt, wie sich ihre spontane Lebensfreude Bahn bricht, und glaubt darin ihr großes menschliches Potential zu erkennen, das zu entwickeln ihnen aber nur in einer besseren Gesellschaft möglich wäre. Unter seinen Anarchistenfreunden erkennt er als einziger, daß flammende Zeitungsartikel allein keine Zarenpaläste in Brand stecken. Als er sich dann zu einer Tat entschließt, deren Durchführung schier Unmögliches von ihm verlangt, erleben wir ihn als einen nüchternen Kopf, der jeden einzelnen Schritt sorgfältig vorausplant und sich unter großen Mühen im Selbststudium Englisch beibringt. Seine Menschlichkeit erleben wir erstmals bei seiner Ankunft in England: Staunend bewundert er die Obstgärten und Hopfenfelder von Kent, denkt an den Schock, den er angesichts der gepflegten grünen Felder, der schmucken Dörfer und der hübschen Blumenbeete vor den Bahnhöfen in Deutschland empfand, an seine Begeisterung angesichts der schneebedeckten Berge in der Schweiz. In Genf geht er in Konzerte und arbeitet in einem Buchladen. In London schließlich ist er fasziniert von den Hüten der Frauen – »so breit wie die Räder eines Hundewagens und geschmückt mit Bändern und Schleifen, Federn, Blumen und Früchten«. Es gibt offenbar keinen Menschen, dem er besonders zugetan ist, doch Follett versieht ihn mit Empfindungen, die wir nachfühlen können. Gleich bei seiner Einführung wird Felix als gewalttätig, entschlossen und völlig furchtlos dargestellt. Wären dies seine einzigen Eigenschaften, so wäre er nichts als ein brutaler Schlägertyp und eine Figur, die wenig Interesse und wahrscheinlich gar keine Sympathie erwecken würde. Doch aus der Kombination dieser Eigenschaften mit den oben genannten freundlicheren Attributen entsteht eine außergewöhnliche Gestalt. Seine Anarchistenfreunde schwadronieren davon, wie schön es wäre, wenn man den Fürsten Orlow ermorden könnte, nur leider, leider sei das eben einfach ein Ding der Unmöglichkeit. Felix sagt, er wisse, wie es zu bewerkstelligen sei: »Ich werde nach London gehen. Ich werde Orlow töten.« In London ißt er in Restaurants, ohne die Zeche zu bezahlen, stiehlt Lebensmittel aus den Läden, schlägt einen Radfahrer nieder und nimmt ihm sein Fahrrad weg. Aus einem Rückblick erfahren wir, daß Felix Kettensträfling in einer sibirischen Mine war. Er hat auf der 76
Flucht das ganze riesige Land durchquert und dabei schier den Verstand verloren. Unterwegs stahl er ein Pony, ritt es zu Tode, schlitzte es auf und aß seine Leber. Bei Omsk erwürgte er einen Polizisten, um an dessen Mahlzeit zu kommen. Angesichts der entsetzlichen Entbehrungen, die Felix durchlitt, können wir uns vorstellen, daß wir uns an seiner Stelle ähnlich verhalten hätten – vorausgesetzt, wir hätten den Mut dazu aufgebracht. Und genau das ist der springende Punkt. Was Felix am eindeutigsten zum »überlebensgroßen« Antagonisten macht, ist seine Bereitschaft, Dinge zu wagen, die wir höchstwahrscheinlich nie riskieren würden. Als Person interessant, ja sogar sympathisch wird er durch die Verwandlung, die Follett mit ihm vornimmt: Schritt für Schritt läßt er aus einem Menschen, der keine Liebe kennt, einen Mann werden, der Liebe empfindet und sie schließlich sogar festzuhalten versucht. Ihre eigenen »überlebensgroßen« Personen Don Corleone, Scarlett und Felix sind, zumindest oberflächlich betrachtet, sehr unterschiedliche Charaktere. Doch stimmt das auch noch, wenn man einmal von äußeren Eigenschaften wie Geschlecht, Lebensalter und Herkunft absieht? Alle drei sind sie Planer, die ihre Ziele mit grenzenloser Energie und ohne Rücksicht auf scheinbar unüberwindliche Hindernisse anstreben. Ihre beinahe schon an Besessenheit grenzende Hartnäckigkeit ist für »normale« Menschen untypisch. Alle drei haben sie ihre speziellen Zielvorstellungen, doch ihre Lebenssituation ist oft so kritisch, daß sie zuerst die eigene Haut retten müssen. Keine dieser Personen ist fehlerlos, ja, man kann sogar sagen, daß sie mehr Fehler als gute Eigenschaften haben. Doch da wir ihre Welten jeweils aus ihrer eigenen Sicht kennenlernen und da es in allen drei Romanen Personen gibt, die unsere drei Helden lieben und von denen sie wiedergeliebt und/oder bewundert werden, beginnen wir auch dann, wenn wir ihre Ziele nicht gutheißen, mit ihnen mitzufühlen. Am Ende ist es die Kombination aus unbezähmbarer Willenskraft und Menschlichkeit, die diese drei Romangestalten für uns unvergeßlich macht. Für Ihren eigenen Roman brauchen Sie wahrscheinlich nur eine »überlebensgroße« Person; mehr als eine unterzubringen ist meist sehr schwer. Geben Sie ihr ein Anliegen, ein Ziel, ein sehnsüchtiges Verlangen oder eine Ambition, die oder das Sie (und die Leser) nachempfinden können. Dabei sollte es um etwas gehen, daß Sie selbst, befänden Sie sich in einer vergleichbaren Lage, ebenfalls mit aller Kraft anstreben würden. Denken Sie daran, daß dieses Ziel auch in einer Reaktion bestehen kann. In den meisten Büchern von Mary Higgins Clark, in Ira Levins Rosemaries Baby und teilweise auch in Der Pate bemüht sich der Protagonist primär um Sicherheit, versucht eine Bedrohung von außen abzuwehren, furchtbaren Gefahren zu entrinnen oder sich aus einer widrigen Lebenslage zu befreien. Auch andere Personen in Ihrem Roman (von denen die meisten nicht »überlebensgroß« sein sollten) müssen durch ein persönliches Anliegen, ein Verlangen nach irgend etwas oder irgend jemandem motiviert und somit als eigenständige, unverwechselbare Charaktere definiert sein. Diese Antriebskraft kann nahtlos in die Haupthandlung integriert werden – denken Sie an den Detektiv im Kriminalroman, der ein Verbrechen aufklären will, oder an Walden, der einen Vertrag mit Orlow aushandeln will und gleichzeitig um dessen persönliche Sicherheit bemüht ist. Zur Hervorhebung der menschlichen Seite Ihrer Figur und um zu verhindern, daß sie Ihnen zum bloßen Zahnrad im Getriebe Ihres Plots gerät, sollten Sie ihr noch mindestens ein Sekundäranliegen einräumen, das eng mit dem Hauptmotiv der Handlung verknüpft sein kann, aber nicht sein muß. Bei Walden sind es die Probleme mit Frau und Tochter, sein inniger Wunsch, sich deren Liebe zu erhalten. In Ihrem Roman könnte es zum Beispiel um eine schwer erkrankte Mutter, eine zurückgebliebene Schwester, um einen auf die schiefe Bahn geratenen halbwüchsigen Sohn oder um ein schwieriges, aber rundum geliebtes Haustier gehen. Ihrer Phantasie sind da keine Grenzen gesetzt. Mit solchen Konflikten komplizieren Sie das Leben Ihrer Gestalten (und den Plot), befreien sie vorübergehend von den Zwängen 77
einer vorwärtsdrängenden Handlung und erhellen die menschliche Seite ihres Wesens. In Michael Crichtons Nippon Connection ist es die zweijährige Tochter des alleinerziehenden Vaters und Romanhelden, die genau diese Funktion erfüllt. Einführung der Personen Wenn Sie die Anliegen und Ziele Ihrer Hauptpersonen festgelegt haben, müssen Sie entscheiden, wie und wo Sie sie in die Geschichte einführen. Am besten stellen Sie sie getrennt vor und widmen jeder Figur mindestens eine Seite, bevor Sie zur nächsten übergehen. Die jeweilige Identität kann auf diese Weise klar umrissen werden; der Leser behält die Personen im Kopf und wird sie in späteren Szenen wiedererkennen. Sie kennen wahrscheinlich diese Cocktailpartys, auf denen einem fünf oder zehn Leute auf einmal vorgestellt werden, und wissen selbst, wie schwer es ist, sich all die Namen zu merken. Ersparen Sie den Lesern Ihres Romans diese Mühe! Ihr Protagonist sollte schon im ersten, spätestens jedoch im zweiten Kapitel in Erscheinung treten. Der Leser will seinen Romanhelden kennenlernen. Lassen Sie ihn zu lange warten, dann verliert er möglicherweise die Orientierung und hält die zuerst geschilderte Figur für die Hauptperson. Ersparen Sie ihm eine peinliche Korrektur. Es empfiehlt sich, auch die anderen Hauptpersonen schon relativ früh im Buch auftreten zu lassen und sie bis zum Ende immer wieder in die Handlung einzubeziehen. Weniger ratsam ist es, mit jedem neuen Handlungselement eine neue Figur einzuführen oder eine wichtige Figur erst gegen Ende des Buches vorzustellen. In Ken Folletts ursprünglichem Entwurf zu Die Nadel spielte Lucy, die auf dem Höhepunkt des Romans Faber begegnet und sich in ihn verliebt, ehe sie feststellt, daß er ein deutscher Spion ist, bis zu jener Szene kurz vor dem Ende nicht die geringste Rolle. Im fertigen Buch wird sie bereits im dritten Kapitel vorgestellt. Die Nebenhandlung, die die Probleme schildert, die sich für sie aus der Behinderung ihres Mannes ergeben, weckt und erhält unser Interesse an ihr und ist eine ausgezeichnete Vorbereitung auf die schicksalhafte Begegnung mit der Nadel. Aufbau der Personen Am günstigsten ist es normalerweise, einen Protagonisten zu erschaffen, der, wenn schon nicht von allen, so doch zumindest von ein oder zwei Personen aus seiner unmittelbaren Umgebung geliebt, bewundert und respektiert wird und seinerseits einer oder mehreren Personen in seinem Umfeld ähnliche Gefühle entgegenbringt. Das gilt, wie wir gesehen haben, selbst für einen Terroristen wie Felix. Ausnahmen gibt es natürlich immer. Faber in Die Nadel wird durch seine Stärke, seine teuflische Verschlagenheit und seinen rücksichtslosen Wagemut »überlebensgroß« dargestellt, entwickelt aber erst im letzten Viertel des Romans gewisse menschliche Bindungen. Es gibt viele hervorragende Bücher, die sich ausschließlich mit dem Thema beschäftigen, wie man fiktive Personen beschreibt und aufbaut. Das Thema ist so unerschöpflich wie die Vielfalt des menschlichen Lebens selbst. Für unseren Zweck, den kommerziellen Unterhaltungsroman, empfehle ich Ihnen zwei besondere Eigenschaften, die Vorrang vor allen anderen bereits genannten haben sollten: Anfälligkeiten oder Schwächen Ihrer Hauptpersonen sowie Selbsterkenntnis. »Perfekte« Menschen kommen uns meist auch langweilig vor. Dagegen gefallen uns Personen, die in der einen oder anderen Weise unkontrollierbar und mit menschlichen Schwächen und merkwürdigen Eigenheiten ausgestattet sind. Im realen Leben sind die meisten von uns nicht sehr einsichtig, was ihre Fehler betrifft. Eine literarische Figur, der Sie zumindest einen Hauch von Einsicht in die eigene Unvollkommenheit und entsprechende Selbstzweifel mitgeben, gewinnt daher in unseren Augen an Statur. Apropos Statur: Lassen Sie Charaktere, denen Sie Statur verleihen wollen, zumindest zeitweise Dinge tun, die wir bewundern, ja vielleicht sogar atemberaubend finden. 78
6 Perspektive In den zwanzig Jahren meiner Tätigkeit als Autorenvertreter war ich an der Entstehung und Veröffentlichung von annähernd vierhundert Romanen beteiligt. Aber es ist mir nur ein einziges Mal gelungen, den Roman eines professionellen Drehbuchautors unterzubringen, und der hatte schon vor seiner Karriere im Filmgeschäft Romane geschrieben. Dutzende von Manuskripten wurden mir vorgelegt, darunter viele von versierten Drehbuchautoren mit großen Film- und Fernseherfolgen. Die große Schwäche, an der Hollywood-Autoren immer wieder scheitern, wenn sie sich als Romanciers versuchen, ist die Perspektive. Das Kinopublikum erlebt die Dramen- und Komödienhandlung überwiegend aus der Sicht der Kamera, also eher als außenstehender Beobachter denn als unmittelbar Beteiligter. Ein guter Regisseur wird die Kameraperspektive natürlich ab und zu wechseln, so daß der Zuschauer bei manchen Einstellungen seine visuellen und akustischen Eindrücke aus der Perspektive des Darstellers empfängt. Doch die Kamera, die eine Geschichte nur durch Bilder und Dialoge vermitteln kann und bis zu einem gewissen Grade stets einen äußeren Gesamtüberblick über die Filmhandlung geben muß, hat durch ihre äußerliche Natur nur begrenzte Möglichkeiten, die Gedanken, Gefühle, Hoffnungen und Sehnsüchte einer Person wiederzugeben. In einem guten Film werden innere Vorgänge durch den Text und die Modulation des Dialogs mitgeteilt, durch Reaktionen, subtile darstellerische Mittel und sogar durch die Filmmusik, doch unser Hauptaugenmerk gilt stets den Bildern, die die Kamera uns zeigt. Literatur funktioniert ganz anders. An einem Roman gefallen uns oft jene Dinge am besten, die nicht sichtbar sind. Besonders beliebte Autoren tauchen tief ins Seelenleben und in die Gedankenwelt ihrer Charaktere ein. Aber auch äußere, sichtbare Motive wie Landschaften oder das äußere Erscheinungsbild eines Menschen gewinnen an Unmittelbarkeit und Lebendigkeit, wenn sie aus der Sicht einer der handelnden Personen geschildert werden und deren persönliche Empfindungen wiedergeben. Ein Extrembeispiel dafür ist Marcel Prousts großer Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Er beschreibt, zerlegt und zergliedert Gefühle und Empfindungen Schicht um Schicht und arbeitet sie bis in die feinsten Einzelheiten und Nuancen mit einer solchen Präzision heraus, daß nur noch wenige Leser in der heutigen Zeit die Geduld aufbringen, dieses umfangreiche Werk zu Ende zu lesen. Bestsellerautoren verfahren ähnlich wie Proust, wenngleich natürlich nicht mit der gleichen Intensität. In diesem Kapitel möchte ich Ihnen zeigen, wie effizient sie dabei vorgehen. Bei der Entscheidung über die Erzählperspektive haben Sie die Wahl zwischen zwei grundlegenden Alternativen, die sich jeweils in zahlreiche untergeordnete Alternativen auffächern. Die erste Möglichkeit – sie geht bis auf Homer und auf die Bibel zurück – besteht darin, sich der Stimme des allwissenden Erzählers zu bedienen. Der Autor selbst also schildert die Szenerie, frühere Ereignisse, gegenwärtige Vorgänge, das Äußere der Figuren und ihr Innenleben. Bei der zweiten Möglichkeit schlüpfen Sie innerhalb einer Szene oder eines Kapitels jeweils in die Haut einer der Romanfiguren und erzählen aus deren eingeschränkter Perspektive. Der Leser erlebt die Szene also über die fiktive Person, durch ihre Wahrnehmungen (Sehen, Hören, Fühlen, Riechen) oder ihre Gedanken, Gefühle und Erinnerungen. Perspektiven-Management Manche Autoren halten sich streng an die gewählte Erzählperspektive, andere nehmen sich mehr Freiheiten. Ein Beispiel für die eher lockere Handhabung der Perspektive liefert Vom Winde verweht: Das erste Kapitel ist aus dem Blickwinkel der allwissenden Erzählerin geschrieben, das zweite überwiegend aus der Innenperspektive Scarletts. Dieses Schema durchzieht den ganzen Roman, wobei Scarletts Sicht dominiert. Aber Margaret Mitchell versetzt sich auch immer wieder in die Seelen und in die Gefühlswelt der anderen Haupt- und 79
vieler Nebenpersonen, die jedoch fortwährend durch die allwissende Erzählerin unterbrochen werden. Der Mann aus St. Petersburg bildet das genaue Gegenteil hierzu: Abgesehen von ein paar eingestreuten Informationen aus der Sicht des Autors wird die Erzählperspektive in diesem Roman mit eiserner Hand regiert. Das erste Kapitel ist in vier Abschnitte aufgeteilt. In jedem dieser Abschnitte wird aus einer anderen Perspektive berichtet – aus der von Walden, Lydia, Charlotte und Felix. Das zweite Kapitel besteht aus drei Abschnitten: Zwei vertreten die Sicht von Felix, einer die Sicht von Walden. Das dritte Kapitel enthält wieder jeweils einen Abschnitt aus der Perspektive jeder der vier Hauptpersonen. Bis zum Schluß hält sich Follett streng an die Methode, pro Szene oder Kapitel jeweils nur das Innenleben einer Figur zu schildern. Wir, die Leser, erleben also die Handlung so, wie die betreffende Person selbst sie erlebt. Die Stimme des Autors tritt völlig in den Hintergrund. Ich kann Folletts Technik jedem Autor, der noch keinen Bestseller geschrieben hat, aber gern einen schreiben möchte, nur ans Herz legen. Sie bietet eine Fülle von zum Teil überraschenden Möglichkeiten. Die erste und wichtigste ist, daß der Autor gezwungen wird, von einer episch breiten Erzählweise, die der außenstehende Beobachter vielleicht für die nächstliegende hält, Abstand zu nehmen. Statt dessen muß er sich von Anfang an reihum in seine Figuren vertiefen, je nachdem, welche von ihnen in einer gegebenen Situation emotional am stärksten beteiligt ist. Indem er sich meist schon bei der Einführung einer Figur in deren Hoffnungen, Erwartungen und Ängste hineinversetzt, knüpft der Autor ein enges Band zwischen sich selbst und seiner Romangestalt sowie zwischen der Romangestalt und dem Leser. Von Szene zu Szene lernt der Leser nun die Person besser kennen. Wir durchleben mit ihr Selbstzweifel und Ängste, reagieren freudig oder betroffen auf das, was andere Handlungsträger der Person sagen oder antun, erinnern uns in bestimmten Situationen mit ihr an Ereignisse aus ihrer Vergangenheit und können uns auf diese Weise mehr und mehr mit ihr identifizieren. Wir fühlen, was sie fühlt, und wollen, was sie will, weil wir alle Freuden und Leiden der Geschichte allein durch ihre Wahrnehmung, allein aus ihrer Perspektive erleben. Der disziplinierte Umgang mit der Erzählperspektive bewirkt in Der Mann aus St. Petersburg noch etwas anderes: Wir haben das Gefühl, nicht eine, sondern vier unterschiedliche Geschichten zu lesen, die sich in den Schlüsselszenen auf dramatische Weise kreuzen. Wir erleben eine einzige Kette von Ereignissen, aber aus vier grundverschiedenen Perspektiven, von denen jede auf einer anderen Weltanschauung, einer anderen seelischen Verfassung und einem anderen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Hintergrund beruht. Dadurch erhält das Buch eine Breite und Tiefe, die es sonst nicht hätte. Wichtig ist auch, daß sich Follett nur in die Köpfe und Seelen von vier Hauptfiguren hineinversetzt. Fürst Alex Orlow, der Neffe und Emissär des Zaren, hat im Roman eine Schlüsselfunktion. Er ist Waldens Verhandlungspartner, Felix´ Beute, Lydias Cousin und ein potentieller Verehrer Charlottes. Doch abgesehen davon, daß Felix ihn stets im Visier hat, spielt er im wichtigsten, auf den geplanten Mord bezogenen Handlungsstrang keine aktive Rolle und tut auch sonst nichts, was uns emotional für ihn einnehmen könnte. Follett übergeht daher Orlows persönliche Perspektive. Desgleichen verzichtet er darauf, die Perspektiven anderer wichtiger Nebenfiguren – wie Basil Thomson, Belinda, Pritchard, Marya oder Winston Churchill – darzustellen. Bindung des Lesers Zu den Hauptzielen des Bestsellerautors gehört es, eine denkbar enge Bindung zwischen uns und seinen Figuren zu schaffen. Wie im realen Leben lassen wir uns auch bei der Romanlektüre ungern auf zu viele Personen ein. Einige wenige genügen – vor allem dann, wenn der Autor sie – wie Ken Follett – vom ersten bis zum letzten Kapitel nicht aus den Augen verliert, sondern ständig in die Handlung einbezieht. Zwei frühere Romane Folletts – Der Modigliani Skandal und Paper Money – sind noch immer 80
im Handel. Es sind lebendig geschriebene, gefällige Bücher, in denen jedoch die Perspektiven von jeweils ungefähr einem Dutzend verschiedener Personen geschildert werden. Die meisten von ihnen treten in einem Kapitel auf und verschwinden bereits im nächsten wieder von der Bildfläche. Die Folge: Der Leser lernt eine Person kennen und beginnt sich für sie zu interessieren. Er möchte gern mehr über sie erfahren, wird aber statt dessen mit immer neuen Gestalten konfrontiert. An John Grishams erstem Roman Die Jury und seinem Weltbestseller Die Firma läßt sich eine ähnliche Entwicklung aufzeigen. In beiden Büchern vermischt Grisham großzügig die Erzählung des Autors mit Schilderungen aus der persönlichen Sicht seiner Figuren. Doch während er sich in Die Jury in das Innenleben fast jeder Person hineinversetzt und damit unsere emotionalen Kapazitäten überfordert, konzentriert er sich in Die Firma streng auf eine kleine Besetzung. Hat der Leser erst einmal für einige Personen Feuer gefangen, so empfindet er die sich wiederholenden Einblicke ins Seelenleben immer neuer zweitrangiger Gestalten, wie dies in Die Jury der Fall ist, als ermüdend und sogar frustrierend. Im Garten der Lügen: Steuerung der Perspektiven Im Garten der Lügen ist aus den wechselnden Perspektiven von sechs verschiedenen Personen geschrieben. Rose und Rachel, die unmittelbar nach der Geburt vertauscht wurden und sich später in denselben Mann verlieben, fallen dabei eindeutig die Hauptrollen zu: Roses Perspektive dominiert in siebzehn, Rachels in vierzehn Kapiteln. Die Perspektive von Sylvie, die ihr eigenes Baby durch ein anderes ersetzt und danach ein Leben voller Schuldgefühle führen muß, beherrscht neun Kapitel, die der beiden männlichen Hauptrollen, Brian und Max, fünf und die des Bösewichts David Sloane lediglich eines. Ungefähr achtzig Prozent des Romans sind also aus der Perspektive der drei Frauen geschrieben. Ihre weiblichen Wünsche, Stimmungen und Gefühle geben den Ton an und machen den Roman zu einem Buch, das hauptsächlich Frauen anspricht. Warum, so fragt man sich, macht sich die Autorin die Mühe, ein ganzes Kapitel aus der Sicht Davids darzustellen, eines Schufts, der vorgibt, die Ärztin Rachel zu lieben, sie schwängert und zur Abtreibung zwingt und später auch noch versucht, Rachel beruflich zu ruinieren? Der naheliegende Grund dafür ist der, daß wir David durch das Hineinversetztwerden in seine Denkweise und durch das Kennenlernen prägender Ereignisse aus seiner Vergangenheit zumindest andeutungsweise als Mitmenschen, als reale Person und nicht als reinen Klischeeschurken sehen können. Davids Vergangenheit wird von der Autorin strikt aus seiner eigenen Perspektive geschildert. Der Beginn des fünften Kapitels enthält keine Zusammenfassung, keinen erzählenden Bericht über sein bisheriges Leben. Daß unerfahrene – und manchmal auch erfahrene – Autoren durch einen journalistischen Einschub über das Vorleben einer ihrer Figuren die Handlung des Romans ins Stocken bringen oder gar abwürgen, kommt nicht selten vor. Doch Goudge präsentiert uns in dieser Szene Davids eigene Erinnerung an ein traumatisches Erlebnis. Er berichtet darüber mit seinen eigenen Worten und schildert aus der Erinnerung seine damaligen Gefühle. Es geht um die Begegnung mit einem Mädchen aus reichem Hause, das ihn wie Dreck behandelt hat. So lebhaft ist die Erinnerung an die Einzelheiten, daß Davids noch immer nicht überwundene Kränkung begreiflich wird. Zu anderen Zeitpunkten hört David die Stimme und die Verwünschungen seines verstorbenen Vaters, der Alkoholiker war und seinen Sohn regelmäßig schlug. Seine Beschimpfungen verfolgen ihn in seinen Tagträumen. Es bedarf nur weniger gutgewählter Zeilen, um die Erinnerung an die schreckliche Atmosphäre seiner Kindheit und Jugend lebendig werden zu lassen. Kein Erzähler mischt sich ein, und die Romanhandlung erfährt keinerlei retardierendes Moment, da die Vergangenheit genauso dramatisch geschildert wird wie das Geschehen in der Gegenwart. Ein weniger offenkundiger, aber vielleicht wichtigerer Grund für die Gestaltung dieses Kapitels in der vorliegenden Form ist Davids Verletzlichkeit. Rachel ist die Starke, er der Schwächling. Wenn er die Abtreibung tatsächlich will, dann muß er sie, darauf besteht 81
Rachel, höchstpersönlich vornehmen. Durch die Aufforderung, sein eigenes Kind zu töten, gerät er in eine Situation, die für ihn noch schlimmer ist als für sie. Und da seine Emotionen an dieser Stelle kulminieren und die höchste Dramatik bieten, wird die Szene zu Recht aus seiner Perspektive geschildert, wenngleich auch Rachels Empfindungen hier und da zum Ausdruck kommen. Die meisten Kapitel des Buches schildern die Situation ausschließlich aus dem Blickwinkel einer einzigen Person. Einige Kapitel sind jedoch in zwei oder drei Teile mit jeweils unterschiedlicher Perspektive gegliedert. Welche Vorteile dieses Verfahren bietet, wird deutlich, wenn man untersucht, warum sich die Autorin dafür entschieden hat. Die letzte Szene der Gerichtsverhandlung, in der sich Rachel wegen eines angeblichen Kunstfehlers verantworten muß, wird in gewisser Weise von Rose, der brillanten Strafverteidigerin, beherrscht. Mit einem Überraschungsangriff nach dem anderen treibt sie den schwer angeschlagenen David Sloane in die Enge. Die Person jedoch, aus deren Sicht die Szene geschildert wird und in deren innerste Gedanken und Gefühle wir hier eingeweiht werden, ist Rachel. Für sie geht es ums Ganze. Nicht nur viel Geld und ihre berufliche Karriere stehen auf dem Spiel; sie muß auch fürchten, daß ans Licht kommt, wie David sie einst gezwungen hat, sein eigenes Kind abzutreiben, und daß sie, schlimmer noch, ihren geliebten Brian verliert. Rachel, deren Gedanken und Gefühle im Mittelpunkt stehen, spricht kein einziges Wort. Der Dialog spielt sich allein zwischen Rose und David ab, unterbrochen nur von Einwürfen des gegnerischen Anwalts und des Richters. Danach freilich bringt Goudge zur Herbeiführung des dramatischen Höhepunkts jene Person ins Spiel, durch deren Augen wir die Szene betrachtet haben, nämlich Rachel. Ihr Kichern ist der Auslöser dafür, daß David die Beherrschung verliert und Amok läuft. Damit ist der Prozeß im Grunde vorbei, doch alle Beteiligten halten sich noch im Gerichtssaal auf. Rose steht ein Erlebnis bevor, das sie aufs tiefste erschüttern wird, und deshalb schlüpft Autorin Goudge nun in ihre, Roses, Perspektive. Sylvie eilt zu der ohnmächtigen Rachel, und Rose glaubt, das Gesicht der älteren Dame zu kennen. Auf einmal fällt ihr ein, daß dies die Fremde ist, die ihr vor vielen Jahren vor dem Schulhof einen Rubinohrring in ihre Kleinmädchenhand drückte und dann in einer Limousine verschwand. Die unbekannte Frau, mit der sie irgend etwas Rätselhaftes zu verbinden scheint, ist Rachels Mutter. Rose hat in ihrer Erschütterung das Gefühl zu träumen, und da wir alles aus ihrer Perspektive miterleben, können wir ihre aufgewühlten Gefühle teilen. Die Perspektiven in Ihrem Roman Wenn Sie meine Ausführungen und, wie ich hoffe, auch die Romane gelesen haben, die ich als Beispiele heranziehe, dann werden Sie sich jetzt vielleicht fragen, ob es so etwas wie eine optimale Anzahl von Personen gibt, aus deren Perspektiven eine Geschichte erzählt werden sollte. Ich würde sagen, die kleinstmögliche – je nach der Geschichte, die Sie schreiben, auf keinen Fall aber weniger als drei oder vier. Stehen nur ein oder zwei Perspektiven zur Verfügung, wird der Aufbau eines anspruchsvollen Plots und eines dramatischen Beziehungsgeflechts zwischen den handelnden Personen schwierig – und beides sind Erwartungen, die der Leser an einen großen Roman stellt. Bei mehr als sechs oder sieben Perspektiven wird die emotionale Blendeneinstellung unscharf, und Sie müssen damit rechnen, daß die persönliche Anteilnahme der Leser am Schicksal Ihrer Hauptfiguren zurückgeht. Wenn Sie die Handlung Ihres Romans schon im Kopf haben, können Sie sich bereits zu Beginn der Arbeit festlegen. Allerdings ist es meiner Erfahrung nach besser, wenn der Autor die endgültige Entscheidung erst im fortgeschrittenen Stadium der Entwurfsphase trifft. Sie können sich dann fragen, welche Person die Handlung am stärksten vorantreibt und wer am Ende das meiste zu verlieren hat. Mit großer Wahrscheinlichkeit sind dies genau die Figuren, aus deren innerer Perspektive heraus Sie Ihre Geschichte erzählen sollten. 82
Ein weiterer Faktor, der berücksichtigt werden muß, ist Ihre Leserschaft. Historische und moderne Liebesromane sind gewöhnlich nur aus der Perspektive einer einzigen Frau geschrieben, und dementsprechend werden diese Bücher auch vorzugsweise von Frauen gekauft und gelesen. Männer bevorzugen Abenteuerromane, Thriller und Western. Autoren, die auf eine breite Leserschaft aus Männern und Frauen unterschiedlichen Alters abzielen, bemühen sich darum, Personen und Perspektiven zu schaffen, in denen alle Seiten vertreten sind. Ken Follett entschied sich bei seinen Romanen Der Schlüssel zu Rebecca und Der Mann aus St. Petersburg jeweils für zwei Männer und zwei Frauen. Drei Hauptpersonen in Der Mann aus St. Petersburg sind mittleren Alters, eine ist noch blutjung. Der Leser kann sich hier also unter mehreren Identifikationsfiguren diejenige aussuchen, die nach Alter und Geschlecht am besten zu ihm paßt. Hinzu kommt, daß im letztgenannten Buch die aus altersund geschlechtsspezifischen Unterschieden herrührenden Konflikte wesentlich zur Spannung und Dramatik beitragen. Wenn Sie Männern und männlichen Interessen nichts abgewinnen können oder ihnen gegenüber vielleicht sogar Aggressionen empfinden, wären Sie indessen schlecht beraten, wollten Sie eine männliche Figur und deren Perspektive nur deshalb in Ihren Roman einbauen, weil Sie sich dadurch eine größere Leserschaft erhoffen. Der Leser kann sich für Ihre Personen – für Held oder Heldin, Gegenspieler oder Schurke – nur erwärmen, wenn Sie selbst Ihre Figuren lieben oder ihnen zumindest tiefe Zuneigung und/oder Mitgefühl entgegenbringen. Gelingt Ihnen das bei bestimmten Figuren nicht, so verzichten Sie lieber auf Schilderungen aus deren Perspektive und konzentrieren sich statt dessen auf jene Personen, mit denen Sie mühelos und uneingeschränkt sympathisieren können. Vielfalt der Charaktere ist zweifellos ein Pluspunkt, darf jedoch nie zu Lasten der emotionalen Intensität gehen.
7 Straffung der Beziehungen zwischen den einzelnen Personen Wenn ein Mensch einen anderen, ihm völlig fremden Menschen umbringt, so empfinden wir dies als erschreckend, ja als entsetzlich. Doch wenn ein Kind seine Mutter oder seinen Vater tötet, umgekehrt ein Kind von seinen Eltern ermordet wird oder ein Mensch seinen Bruder erschlägt, so sind wir noch stärker schockiert. Bei Konflikten aller Art, von den trivialsten bis zu den ernstesten, wachsen Einsatz und Risiko der Beteiligten, wenn sie durch Blutsbande oder durch eine intensive persönliche Beziehung wie Freundschaft, Ehe oder Liebe miteinander verbunden sind. Sie mögen in dieser oder jener Angelegenheit aufs heftigste entzweit sein, doch sobald sie auch persönlich etwas Positives und/oder Negatives füreinander empfinden, erreicht ihr Streit eine zweite, meist potentere Dimension. Außerdem schlägt ein solcher Konflikt rasch Brücken zu den Emotionen des Lesers, dem es die eigenen emotionalen Bindungen an Eltern, Kinder, Freunde, Liebes- oder Ehepartner erleichtern, sich in die Gefühlswelt der Romanpersonen einzuleben. Als Beispiel dafür mag ein Verbrechen dienen, das sich 1990 in einer New Yorker UBahnstation ereignete. Eine Jugendbande umzingelte eine Familie aus Utah, die zum Tennisturnier in Flushing Meadows unterwegs war. Der Sohn der Familie wollte seine Mutter und deren Portemonnaie schützen, leistete Widerstand und wurde erstochen. Die jungen Gangster liefen davon und kauften sich von dem geraubten Geld Eintrittskarten für eine Disco. Sie 83
wurden rasch festgenommen. Der Vorfall zog ein ungeheures Medienecho nach sich. Bücher über reale Verbrechen, die in der Öffentlichkeit großes Aufsehen erregen, sind schon seit Jahren ein weitverbreitetes Genre. Zwei der Autoren, die ich vertrete (und von denen einer persönlich mit dem ermordeten Jugendlichen und seiner Familie bekannt war), erstellten ein solides Konzept für ein Buch über die Tragödie, doch kein Verlag zeigte sich daran interessiert. Das Projekt sah eine eingehende Beschäftigung mit den beteiligten Personen und den sozialen Hintergründen der Tat vor. Aber es fand sich kein Verlag, der in diesen Elementen die Voraussetzungen für ein verkäufliches Buch erfüllt sah. Der Vorschlag wurde abgelehnt. Was der Geschichte fehlte, war die enge persönliche Bindung zwischen Täter und Opfer. Familienbande Ich habe vergessen, von wem der Satz stammt, alle großen Geschichten seien Familiengeschichten. Auf die fünf Romane, die ich in diesem Buch als Beispiele zitiere, trifft er auf jeden Fall ebenso zu wie auf so unterschiedliche und bedeutende Werke wie Tolstois Krieg und Frieden, Balzacs unglaublichen Romanzyklus Die menschliche Komödie oder Thomas Wolfes Schau heimwärts, Engel. Bei Hamlet und Ödipus denken wir normalerweise nicht an ein Familiendrama, doch im Grunde geht es in beiden Fällen genau darum. Hamlet wird nicht von Fremden verraten, sondern vom Bruder seines Vaters und von seiner eigenen Mutter. Die Hauptperson, die ihn bespitzeln soll, ist seine geliebte Braut. Und Ödipus erhält nicht von Kreon oder dem Chor, sondern von seiner eigenen Frau den ersten Hinweis darauf, daß sie wahrscheinlich seine Mutter ist, daß die Seuche vermutlich auf ihn zurückgeht und daß er mit Laios seinen eigenen Vater umgebracht hat. Im vierten Kapitel habe ich gezeigt, wie Ken Follett in seinen Vorarbeiten zu Der Mann aus St. Petersburg mit einem unpersönlichen Mordkomplott begann und erst dadurch, daß er ein enges Beziehungsgeflecht zwischen den Hauptpersonen knüpfte, für emotionale Hochspannung sorgte. Margaret Mitchell hat, soweit ich weiß, keinen Entwurf für Vom Winde verweht hinterlassen, doch ein kurzer Blick auf diesen Aspekt ihres Werkes zeigt, daß sie sich bei ihrer Arbeit an ähnliche Kriterien hielt. Familienbande in Vom Winde verweht Kaum hat Scarlett Ashley verloren, heiratet sie als Reaktion darauf ausgerechnet Charles Hamilton, den Bruder ihrer verabscheuten Rivalin Melanie, und wird auf diese Weise sowohl Melanies als auch Ashleys Schwägerin. Wenn Scarlett nach Atlanta fährt, kommt sie natürlich – wo auch sonst? – bei ihren neuen Verwandten unter, bei Tante Pitty und Melanie, jener Frau, deren Gegenwart immer wieder aufs neue die Wunden aufreißt, die aus Scarletts Fixierung auf Ashley resultieren. Als Ashley Fronturlaub hat, verbringt er diesen selbstredend in genau diesem Haus. Scarlett ist außer sich vor Frustration, weil er nachts in Melanies Zimmer geht und tagsüber von anderen Menschen umgeben ist. Erst kurz vor seiner Rückkehr an die Front gelingt es ihr, einen Augenblick mit ihm allein zu sein. Der springende Punkt besteht darin, daß sich die Ex-Freundin, wenn der Mann eine andere heiratet, im Normalfall aus dessen unmittelbarer Umgebung zurückzieht und allmählich ganz aus seinem Leben verschwindet. Doch mit der Knüpfung neuer Familienbande bereitet uns die Autorin auch schon auf Scarletts spätere Flucht mit Melanie und deren Neugeborenem vor. Sie begeben sich nach Tara, wohin nach dem Krieg auch Ashley zurückkehrt. Scarlett wird also ein weiteres Mal versuchen können, ihn dazu zu bewegen, mit ihr durchzubrennen. Auch die Beharrlichkeit, mit der Melanie Ashley dazu treibt, die Leitung eines von Scarletts Sägewerken in Atlanta zu übernehmen, gehört hierher, denn Scarlett und Ashley bleiben dadurch auf Tuchfühlung und die Atmosphäre entsprechend emotional aufgeheizt. Frank Kennedy, der Mann, den Mitchell zu Scarletts zweitem Ehemann bestimmt, sorgt für weniger, aber ebenfalls recht interessante Komplikationen. Er ist nicht nur ein beliebiger wohlhabender Geschäftsmann, der das Geld aufbringen kann, das Scarlett so dringend 84
braucht, um die Steuerschulden zu zahlen und Tara vor der Versteigerung zu retten – nein, er ist außerdem der Mann, auf den es ihre Schwester Suellen abgesehen hat. Nicht genug damit, daß Scarlett sich einen Mann schnappt, für den sie nicht die geringsten Gefühle hegt – sie nimmt ihn ausgerechnet ihrer eigenen Schwester weg. Die Verführung gewinnt auf diese Weise an Biß und Spannung. Suellen, die sogar noch selbstsüchtiger und kleinlicher gezeichnet ist als Scarlett, begegnet uns erst bei Geralds Tod wieder. Er stirbt nicht etwa an einer Krankheit oder fällt im Krieg. Mitchell läßt ihn von Suellen, seiner eigenen Tochter, betrunken machen, damit er seine Unterschrift unter den Treueid der Union setzt. Danach jagt er auf einem Pferd davon und bricht sich den Hals – Anlaß für ein Begräbnis, auf dem zwei langjährige Nachbarinnen kein Blatt vor den Mund nehmen und Suellen öffentlich verdammen wollen. Nun wendet Mitchell ihr Augenmerk, wie es sich gehört, wieder Scarlett zu und läßt die aufgebrachten Damen Tarleton und Grandma Fontaine unsere schwangere Heldin aus der heißen Sonne ins Haus zurückführen. Dort werden Scarletts demokratische Gesinnung und ihr praktischer Menschenverstand hoch gelobt, weil sie der bevorstehenden Verehelichung ihrer Schwester mit dem armen Schlucker Will zustimmt. Der Höhepunkt der Szene bringt uns jedoch wieder auf das Hauptthema des Buches zurück: Es ist Grandmas richtiges Urteil über Ashley, den sie als inkompetent bezeichnet. Scarlett kann der Wahrheit, die in dieser Einschätzung steckt, nicht ins Gesicht sehen und regt sich fürchterlich auf. Einer ähnlichen ironischen Volte wie im Fall Suellens, die sie indirekt Geralds Tod verschulden läßt, bedient sich Margaret Mitchell bei Frank Kennedy. Der muß natürlich aus dem Weg geräumt werden, damit Scarlett endlich Rhett Butler heiraten kann. Doch auch Frank ist es nicht vergönnt, eines natürlichen Todes oder bei irgendeinem Ku-Klux-KlanÜberfall zu sterben. Scarlett bleibt trotz wiederholter Warnungen nicht zu Hause und wird prompt in ihrer Kutsche überfallen. Um seine Frau zu rächen (und angeblich auch, um die Landstreicher vor weiteren derartigen Überfällen zu warnen), schließt sich Frank dem Klan an und wird erschossen. Scarlett trauert nicht um diesen Ehemann, wird aber von heftigen Schuldgefühlen geplagt. Familienbande in anderen Bestsellern Oberflächlich betrachtet, wirkt Der Pate wie ein Roman über einen Gangsterkrieg. In seinem Kern ist er allerdings ebenfalls eine Familiengeschichte. Die Hauptpersonen sind entweder blutsverwandt oder durch langjährige, enge Beziehungen miteinander verbunden: der Don mit seinen drei Söhnen und seiner Tochter; mit seinem Schwiegersohn und seiner Schwiegertochter; mit seinem Caporegime Clemenza und Tessio, mit Consigliere Tom Hagen, der als Waise von den Corleones aufgenommen und großgezogen wurde; und mit seinem Patensohn Johnny Fontaine. Der zu Beginn beschriebene Mordversuch am Don hat rein geschäftliche Gründe, doch danach bezieht der Plot seine Dynamik fast zur Gänze aus persönlichen Motiven. Michael hat ursprünglich nicht die geringste Absicht, ins Geschäft seines Vaters einzusteigen. Doch während er vor dem Krankenhaus, in dem sein lebensgefährlich verletzter Vater liegt, Wache steht, wird er von einem bestochenen Polizisten aufs übelste zusammengeschlagen. Wir müssen annehmen, daß die Wut auf eine korrupte Welt, deren offizielle Vertreter von Grund auf schlecht sind, zusammen mit einer tiefen Familienloyalität Michael dazu bringt, seine Lebenspläne zu ändern. Nachdem er die Angriffe auf seinen Vater und sich wagemutig gerächt hat, flieht er nach Sizilien. Nach seiner Rückkehr müssen drei Männer dran glauben: sein verräterischer Schwager, der immer wieder seine Frau verprügelt und Michaels älteren Bruder Sonny ans Messer geliefert hat; der Mann, der auf Sizilien Michaels junge Frau umgebracht hat (Michael selbst war dem Anschlag nur knapp entkommen); sowie Barzini, der hinter dem Mord an Sonny steckte. Daß Michael dabei den Corleones verlorenes Terrain im Buchmachergewerbe, bei Wettmanipulationen und im Bereich der Kreditgeschäfte zurückgewinnt, kommt uns im Vergleich zu der wilden Entschlossenheit, mit der er seine familiären Ziele verfolgt, fast wie eine zufällige 85
Begleiterscheinung vor. Die Dornenvögel erheben gar nicht erst den Anspruch, mehr zu sein als eine Familiengeschichte. Doch das Beziehungsgeflecht, durch das Colleen McCullough ihre Figuren miteinander verknüpft, ist außerordentlich stark. Die Liebesgeschichte beginnt, als Meggie zehn Jahre alt ist. Ralph, ein gutaussehender, achtzehn Jahre älterer katholischer Priester, ist von dem Mädchen bezaubert. Doch ihre Liebe steht nicht nur wegen seines Zölibats unter einem schlechten Stern, sondern sie werden auch räumlich getrennt, weil es noch eine andere Frau gibt, die ebenfalls in Ralph verliebt ist. Es handelt sich nicht etwa um eine Fremde, die mit der Familie Cleary nichts zu tun hat, sondern um Meggies herrschsüchtige fünfundsechzigjährige Tante. Weil sie auf Meggie eifersüchtig ist, vermacht Mary Carson ihr riesiges Vermögen nicht Meggies Vater, ihrem Bruder und nächsten Verwandten, sondern der Kirche unter Ralphs Treuhänderschaft. Sie weiß, daß dieses Testament ihn in ein moralisches Dilemma stürzen, ihm innerhalb der kirchlichen Hierarchie Karrierechancen eröffnen und ihn dazu veranlassen wird, in die Stadt zu ziehen und Meggie zu verlassen. Allerdings kann auch die Trennung die Gefühle zwischen den beiden ungleichen Liebenden nicht zerstören. Ralphs und Meggies seltene Begegnungen sind die dramatischen Höhepunkte des Buches. Zu einer dieser Begegnungen kommt es anläßlich der Beerdigung von Meggies Vater. Meggie gibt ihm eine Rose, die er fortan bei sich trägt. Ein weiteres Mal treffen sie sich auf Matlock Island, wo sie endlich – obwohl Meggie mit einem Mann verheiratet ist, den sie seiner Ähnlichkeit mit Ralph wegen geheiratet hat – ihre Liebe auch körperlich vollziehen und Meggie sein Kind empfängt. Zur letzten, bewegendsten Begegnung kommt es kurz vor dem Ende des Romans. Ralph, inzwischen Kardinal in Rom, weiß nicht, daß er der Vater von Meggies Sohn Dane ist. Der junge Mann hat von allen ihm offenstehenden Karrieremöglichkeiten ausgerechnet das Priesteramt gewählt. Ralph, der ihn sehr mag, seine spirituelle Begabung bewundert und ihn sogar darum beneidet, nimmt ihn unter seine Fittiche und fördert ihn innerhalb der Kirche. Als Dane später bei einem Badeunfall auf Kreta ertrinkt und überstürzt unter die Erde gebracht wird, fliegt Meggie von Australien nach Rom und verlangt von Ralph, alles stehen und liegen zu lassen und ihr bei der Suche nach Danes Leiche, die sie unbedingt nach Hause überführen lassen will, zu helfen. Ralph erklärt sich zur Hilfe bereit, kann aber nicht fort. Es findet gerade ein Konzil statt, und der Papst braucht ihn. Da läßt die inzwischen dreiundfünfzigjährige Meggie die Bombe platzen. Er war dein Sohn, erklärt sie dem einundsiebzigjährigen Gottesmann. Er hatte deine Züge, aber du warst so blind, daß du nicht einmal das erkannt hast. Ralph muß mit der schockierenden Erkenntnis fertig werden, daß der junge Mann, der ihm nahestand wie kein anderer, sein eigenes Kind war, ohne daß er, der Vater, dies auch nur geahnt hätte. Meggies Verbitterung und Ralphs reuevolle Einsicht, daß ihm ein von gemeinsamer Liebe erfülltes Leben entgangen ist, bilden den krönenden Höhepunkt ihrer Begegnung. Zu Beginn des Buches, bevor die Geschichte um Meggie und Ralph ins Zentrum gerückt wird, ist es Frank, Meggies ältester Bruder, der für die meiste Spannung in der Romanhandlung sorgt. Sein Verhältnis zu den Eltern ist schlichtweg ödipal. Er himmelt seine Mutter Fee an und haßt seinen Vater Paddy. Über mehrere Szenen hinweg heizen die leidenschaftlichen Sym- und Antipathien, die diese Personen füreinander empfinden, die Atmosphäre kontinuierlich an. Frank ist in einer Familie, die zu groß, zu überlastet und zu zerrissen ist, um der kleinen Meggie die notwendige Zuwendung zu geben, ein Refugium für das Mädchen. Die Emotion, die Frank dominiert, ist allerdings schwelender Zorn. Er haßt sowohl seinen Vater, der seiner Ansicht nach die Mutter mißhandelt (vor allem, weil er ihr immer mehr Kinder aufbürdet), als auch seine Mutter, weil sie diese sogenannte Mißhandlung geduldig hinnimmt. Als der Erste Weltkrieg ausbricht, läuft Frank davon, um sich der Armee anzuschließen, doch Paddy holt ihn wieder zurück. 86
Nach der Übersiedlung der Familie von Neuseeland nach Australien klettert Frank bei einem Volksfest in den Ring und vermöbelt erfolgreich mehrere professionelle Boxer. Paddy macht sich darüber nur lustig. Frank reagiert mit einem Wutausbruch, worauf Paddy ihm in höchster Erregung verrät, daß Frank gar nicht sein Sohn ist. (Vielleicht hat sich Colleen McCullough hier von Margaret Mitchell beeinflussen lassen. Sowohl Fiona Cleary als auch Scarletts Mutter Ellen stammen aus bestem Hause, verlieben sich beide in Männer, die sie nicht bekommen können, und willigen danach beide in die Ehe mit dem erstbesten verfügbaren Bewerber ein – in beiden Fällen anständigen Männern einfacher Herkunft, denen sie jedoch niemals ihre ganze Liebe zu schenken vermochten.) Frank begreift nun zum erstenmal, warum er sich in dieser Familie immer so deplaziert vorkam. Er verläßt die Clearys und schließt sich der Boxertruppe an. Fee leidet jahrelang unter dem Verlust und ist noch weniger als zuvor imstande, ihren Ehemann und die Kinder zu lieben. Die Nachricht, daß Frank wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt worden ist, erschüttert sie aufs tiefste. Dreißig Jahre später erwirkt niemand anders als Ralph die Freilassung des Mannes, der, wenn man so will, sein illegitimer Schwager ist. Franks Wiederbegegnung mit seiner Mutter und Meggie, den einzigen Menschen in der Welt, die ihm etwas bedeuten, bildet eine weitere herzzerreißende Romanszene. Außerfamiliäre Beziehungen Aber es gibt doch auch Bestseller, die keine Familiengeschichten sind, werden Sie nun vielleicht sagen. Ja, es gibt unzählige davon: Spionage-Thriller, große Kriminalromane, Action-Stories und andere. Werfen wir einen kurzen Blick auf zwei Romane, in denen verwandtschaftliche Bande keine oder nur eine unbedeutende Rolle spielen. Enge persönliche Beziehungen zwischen den handelnden Personen ziehen sich allerdings auch hier wie ein roter Faden durch die Handlung, und ohne sie wären die beiden Bücher nicht annähernd so erfolgreich. In Dreifach von Ken Follett geht es um einen jüdischen Spion, der Ende der sechziger Jahre versucht, eine Schiffsladung Uran nach Israel zu entführen. Seine Antagonisten – Agenten, die seine Pläne durchkreuzen wollen – sind ein Palästinenser und ein Russe. Im richtigen Leben wären Männer so unterschiedlicher Herkunft einander wahrscheinlich völlig fremd. Doch Belletristik ist Kunst, nicht Leben. So zeigt der Prolog alle drei Männer zwanzig Jahre früher auf einer Sherry-Party bei einem Professor in Oxford. Sie sind Kommilitonen. Schon als Studenten streiten sie sich über die Daseinsberechtigung eines jüdischen Staates; außerdem sind der Jude und der Russe erbitterte Rivalen am Schachbrett. Der junge Palästinenser Hassan wird dabei beobachtet, wie er es im Garten mit der Frau des Professors treibt, einer jungen Schönheit, die der Jude Dickstein von ferne anhimmelt. Dickstein seinerseits ist der Schwärm von Suza, der kleinen Tochter des Professors. Zwanzig Jahre später, als Dickstein auf der Suche nach Informationen über Hassan wieder zurückkehrt, sieht Suza so aus wie einst ihre atemberaubende Mutter. Prompt verliebt sich Dickstein in sie, und Suza, die sich noch gut daran erinnert, wie er früher mit ihr und ihrer Katze gespielt hat, geht eine Beziehung mit ihm ein. Der fünfzehnseitige Prolog sorgt für zwischenmenschliche Beziehungen und Spannungen, die den ganzen Roman hindurch eine Schlüsselrolle spielen und einen rein politischen Konflikt in eine heftige persönliche Auseinandersetzung verwandeln. Ein familiäres Element enthält das Buch obendrein: Suza entdeckt, daß ihr Vater, der Professor, insgeheim mit Hassan verbündet ist und Dickstein, den Mann, den sie liebt, finden und töten möchte. Verbittert muß sie einsehen, daß ihr Vater sie niemals wirklich geliebt hat. Dadurch motiviert, versucht sie, Dickstein zu retten. Die Erkenntnis, von ihrem eigenen Vater betrogen worden zu sein, verleiht ihrer Entscheidung natürlich besonderes Gewicht. In Die Firma von John Grisham geht es um Mitch McDeere, einen brillanten jungen Anwalt, 87
der einen gutdotierten Job in einer Kanzlei in Memphis annimmt. Mitch entdeckt, daß die Kanzlei einer Mafia-Familie als Geldwaschanlage dient, läßt sich vom FBI anheuern, um die Firma und ihre kriminellen Klienten der Gerechtigkeit zuzuführen, und muß schließlich, verfolgt von ganzen Scharen von FBI-Agenten und Gangstern, um sein Leben laufen. Er und seine zu allem entschlossenen Gegenspieler sind sich am Anfang des Romans fremd. Obwohl sie einander im Laufe der Handlung bis zu einem gewissen Grade kennenlernen, spielen persönliche Dinge in ihren Auseinandersetzungen nur eine minimale Rolle. Die Firma ist also ganz und gar keine Familiengeschichte – und dennoch kommt einer engen familiären Bindung in diesem Buch maßgebliche Bedeutung zu. Mitch liebt seine Frau Abby über alles. Seine Gefühle und seine Sorge um sie zeigen uns die zärtliche und menschliche Seite seines Charakters. Ohne Abby in ihrer Eigenschaft als Vertraute und Verbündete sähen wir Mitch nahezu ausschließlich in der Rolle des kaltblütigen, aggressiven Anwalts. Wir wären nicht geneigt, ihm besondere Sympathien entgegenzubringen, ja, wir würden möglicherweise das ganze Buch ablehnen. Grisham versieht Mitch überdies mit einem im Gefängnis sitzenden Bruder namens Ray, dem Mitch sehr nahesteht – so sehr, daß er sich auf den Handel mit dem FBI erst einläßt, als dieses sich bereit erklärt, seinen Bruder aus dem Knast zu holen. Mitchs enge Bindung an seinen Bruder bindet uns enger an Mitch. Rays kontrollierte Gewalttätigkeit und Abbys Intelligenz spielen auch bei der dramatischen Verfolgungsjagd und Flucht wichtige Rollen. So erzählt das Buch letztlich nicht die Geschichte eines Kampfes »einer gegen alle«, sondern schildert den verzweifelten Überlebenskampf einer durch familiäre Bande zusammengeschweißten Gruppe. Persönliche Beziehungen in Ihrem Roman Ein zentraler Konflikt zwischen zwei Personen ist vermutlich auch in Ihrem Roman angelegt – oder schwebt Ihnen zumindest vor. Können Sie die beiden Personen in eine enge persönliche Beziehung einbinden, indem Sie aus ihnen Geschwister, Vater und Sohn oder Mutter und Tochter machen? Wenn Ihre Geschichte eine so intime familiäre Beziehung nicht hergibt, sollten Sie sich andere Bindungen ausdenken. Könnten die beiden vielleicht enge Freunde oder Freundinnen gewesen sein? Ist es denkbar, daß der eine dem anderen einmal einen unschätzbaren Dienst erwiesen hat, sei es als Zimmergenosse im College, als Soldat im Krieg oder als Mentor und Retter bei einem beruflichen Himmelfahrtskommando? Oder ist es möglich, daß sich Ihre beiden Hauptcharaktere am Anfang zwar nicht kennen, im Laufe der Zeit aber herausfinden, daß es zwischen ihnen über einen gemeinsamen Verwandten, Freund, Lehrer oder Liebespartner interessante Verbindungen gibt, die sich auch auf den Plot auswirken? Angenommen, Sie sind der Meinung, Ihre Geschichte vertrage keine so enge Verbindung zwischen Protagonist und Antagonist – wie steht es dann mit einer starken Bindung zwischen Ihren Haupt- und bestimmten Nebenfiguren? Können Sie ihnen Ehegatten, Geliebte, Kinder, Eltern, enge Freunde beigesellen (natürlich nicht alle auf einmal – ein oder zwei genügen)? Das Anliegen der Hauptperson gewinnt durch die Einbeziehung ihr nahestehender Nebenpersonen eine zusätzliche Dynamik. Und vielleicht besteht nun die Möglichkeit, die beiden Hauptpersonen indirekt miteinander zu verbinden, indem Sie enge Beziehungen zwischen diversen Nebenfiguren auf beiden Seiten knüpfen. Die Beziehungen zwischen den Nebenfiguren und ihre gleichzeitige Beziehung zu den Hauptfiguren kann den Plot durch neue, interessante Verwicklungen bereichern. Denken Sie beispielsweise an Lydias Beziehungen in Der Mann aus St. Petersburg oder an die Beziehungen Brians in Im Garten der Lügen. Allerdings ist es einfacher, solche Beziehungen zwischen den Figuren aufzubauen, wenn sich Ihr Roman noch im Entwurfsstadium befindet. Haben Sie erst das Rohmanuskript vollendet oder gar eine spätere Fassung, dann sind die Identitäten Ihrer Charaktere und deren Beziehungen zueinander in Ihrem Kopf meist schon so festgelegt, daß Ihnen Änderungen mit 88
dem Ziel, die Figuren einander näherzubringen, beinahe unmöglich erscheinen werden. Sollten Sie sich bereits in dieser Lage befinden, lassen Sie sich deshalb keine grauen Haare wachsen: In Ihnen steckt doch – hoffentlich – nicht nur ein einziges Buch.
8 Szenenaufbau Die zentrale dramatische Frage, die die vielen Einzelszenen in Der Mann aus St. Petersburg miteinander verbindet, wird bereits im ersten Kapitel gestellt: Wird es Felix gelingen, Orlow zu ermorden, die unmittelbar bevorstehende englisch-russische Allianz mit dieser Tat zu sabotieren und Rußland aus dem bevorstehenden Krieg Frankreichs und Englands gegen Deutschland herauszuhalten? Diese Fragen bilden im wesentlichen jene Spannungsfundamente, auf denen die Handlung des Romans aufbaut. In Vom Winde verweht, Im Garten der Lügen und Dornenvögel sind die strukturellen Äquivalente dazu in den ungeklärten, ungelösten Beziehungen zwischen Heldin und Held zu suchen – Meggie und Ralph, Rhett und Scarlett, Rose und Brian. Wird es diesen Paaren gelingen, zueinanderzufinden und glücklich zu werden? Der Aufbau eines alles beherrschenden, ungelösten Problems mit höchstem Risiko und größtem Einsatz für die Figuren ist das Herzstück jedes Romanplots. Dies gilt auch im kleinen: Auch für die meisten Einzelszenen, die Bausteine des Romans, kann der Einsatz dieses Mittels von entscheidender Bedeutung sein. Eine Szene in einem Erfolgsroman ist fast immer weit mehr als nur eine gut geschriebene, mit Dialogen versehene Episode zwischen den handelnden Personen. Vielgelesene Autoren bauen ihre Szenen, entweder intuitiv oder einem Plan folgend. Irgendwo in den ersten Zeilen oder Absätzen einer Szene (oder noch von einer früheren Szene her) erhebt sich mehr oder minder direkt eine Frage wie: Wird es Michael Corleone gelingen, Sollozzo umzubringen? Oder: Wird Felix Lydia so weit bringen, daß sie ihm sagt, wo sich Fürst Orlow aufhält? Indem der Autor den Leser frühzeitig, also entweder vor Beginn oder gleich zu Anfang der aktuellen Szene, über die Ziele und Ambitionen einer Romanfigur informiert oder ihm mitteilt, welche Gefahren (oder Annehmlichkeiten) auf die Helden warten (die selbst davon nichts oder nur wenig ahnen), sorgt er für Spannung in der bevorstehenden Szene. Wir schlucken gewissermaßen den Köder, den er uns anbietet, indem wir uns fragen, wie das Problem wohl gelöst werden wird. Dadurch bleibt unsere Aufmerksamkeit meist selbst dann erhalten, wenn nun mehrere Seiten relativ undramatischen Inhalts folgen (Hintergrundgeschichten zu einzelnen Personen, historische Einordnung von Zeit und Ort, Träume und Phantasien von Haupt- und Nebenfiguren, Sitten und Gebräuche im Kontext des Buches), bevor das Thema wieder aufgegriffen und die dramatische Ausgangsfrage der Szene wenn nicht beantwortet, so doch weiterbehandelt wird. Zwei Methoden Besonders interessant geht in dieser Hinsicht Puzo vor, der sich in Der Pate zweier ganz verschiedener Methoden beim Szenenaufbau bedient. Die eine heißt: Beginne mit einem Knalleffekt. Wie aus heiterem Himmel tritt ein Ereignis ein, das eine oder mehrere seiner Figuren unmittelbar und nachhaltig betrifft. Unwillkürlich fragt man sich nun: Wie konnte 89
bloß so etwas Entsetzliches passieren? Danach blendet Puzo zurück und spürt der Vorgeschichte dieses kurzen Initialschocks nach. Aufgeregt fiebern wir dem Ausgang entgegen, obwohl wir ihn schon kennen; wir werden ähnlich mitgerissen wie von der Steigerung des Grauens in der griechischen Tragödie, deren Ausgang vorbestimmt ist. Puzos zweite Methode ist eher traditionell: Er führt das entsprechende Thema am Szenenbeginn mit Hilfe eines inneren Monologs, eines Dialogs oder erzählend ein. Bei genauerer Betrachtung der betreffenden Szenen sehen wir, daß es Puzo, unabhängig davon, welche Variante er wählt, stets gelingt, ein solides Spannungsmoment zu erzielen. Tom Hagen etwa sitzt ruhig in seinem Büro und arbeitet. Da klingelt das Telefon. Er hebt den Hörer ab, und Jack Woltz brüllt ihm eine wahre Kanonade von Flüchen und Drohungen ins Ohr. Warum? fragen wir uns. Was ist passiert? Was wird jetzt geschehen? Dann blendet Puzo zurück. Woltz liegt im Bett. Er wacht auf, sieht vor sich in einer Blutlache den abgeschlagenen Kopf seines wertvollen Rennpferdes und erkennt, daß er sich dem Willen Don Corleones fügen muß. Daß diese Szene die bis dahin aufregendste und stärkste des Buches ist, liegt nicht zuletzt an dem Anruf, der sie einleitet. Später im gleichen Kapitel erfährt Michael aus der Zeitung von den Schüssen, die auf seinen Vater abgegeben wurden. Michael kocht vor Wut, fühlt sich aber gleichzeitig etwas wackelig in den Knien und hat ein schlechtes Gewissen, weil er sich amüsiert hat, während sein Vater dem Tode nahe war und es vielleicht sogar noch ist. Sein Bruder Sonny tobt nicht nur wegen des Vaters, sondern auch weil Tom Hagen gekidnappt wurde und weil Luca Brasi, der Topkiller der Familie, unauffindbar ist. Michaels Gefühle werden eingehender geschildert, als dies in der Szene mit dem Telefonat zwischen Woltz und Hagen geschieht. Aber unsere Neugier, Furcht und Beklommenheit über den Mordversuch, der in der folgenden Szene dramatisiert wird (ebenfalls in Form einer Rückblende), werden hier in ähnlicher Weise geschürt wie in der Szene mit Woltz. Noch wichtiger ist jedoch, daß der etwas plakativ und nicht sehr einfallsreich geschilderte Anschlag auf Don Corleone erst durch die tiefe Betroffenheit des Hauptsympathieträgers Michael große Bedeutung gewinnt. Am effektvollsten bedient sich Puzo dieser Technik bei der Schilderung des Mordes an Sonny. Durch ein kurzes Extra-Kapitel über die Lebensgewohnheiten, den Arbeitsstil, die Hoffnungen und Ängste des Bestattungsunternehmers Amerigo Bonasera, dieses treuen Gefährten des Todes, wird eine düstere, unheilverkündende Stimmung erzeugt. Dann erscheint der Don bei Bonasera, bittet ihn um eine kosmetische Restauration und enthüllt ihm das von Kugeln zerfetzte Gesicht seines ältesten Sohnes. Indem er uns zu Zeugen von Bonaseras Ängsten und Don Corleones Trauer macht und uns auch den grausigen Anblick der Leiche nicht erspart, sorgt Puzo dafür, daß wir intensiv mit den Personen mitfühlen. Erst danach blendet er zurück und schildert den Ausgang des Krieges, den Sonny gegen die anderen Mafia-Familien führte und der mit den Todesschüssen auf Sonny seinen Höhepunkt fand. Da der Leser nun weiß, daß ihm eine hochdramatische Schießerei bevorsteht, und ihr erwartungsvoll und vielleicht auch mit ein wenig Bangen angesichts der möglichen entsetzlichen Einzelheiten entgegensieht, kann sich Puzo eine vermeintliche Abschweifung leisten. Das heißt, er informiert uns über den aktuellen Stand der Dinge im Konflikt zwischen fünf Mafia-Familien und beschreibt anschließend eine schlimme Prügelszene, in der der betrunkene Carlo seine Frau Connie mißhandelt. Doch nun stellt sich heraus, daß von Abschweifung keine Rede sein kann: Die übel zugerichtete Connie ruft bei ihrer Familie an und bittet darum, nach Hause geholt zu werden. Ihr Leid entfacht Sonnys Zorn. Er rast los, um seiner Schwester zu helfen, und gerät unterwegs in einen Hinterhalt. Nach seiner Ermordung läßt Puzo dem dramatischen Höhepunkt rasch einen zweiten, noch größeren folgen: Unerwartet taucht erstmals seit seiner schweren Verwundung der Don auf und nimmt in der bedrohlichen Situation wieder das Heft in die Hand. Festzuhalten bleibt: Ohne die kleine Einleitungsszene in Bonaseras Bestattungsinstitut hätte 90
uns die Ermordung Sonnys weit weniger berührt. Auch die Zeitsprünge, die Puzo in den erwähnten drei Fällen anwendet, dienen dazu, die Romanhandlung voranzutreiben. Dabei werden die großen, brisanten Szenen mit äußerster Sparsamkeit und Effektivität vorbereitet. Wäre beispielsweise beschrieben worden, wie der Don die Enthauptung eines wunderschönen, gänzlich unschuldigen Pferdes plant, hätte dies nicht die Spannung erhöht, sondern den Leser empört und abgestoßen. Daher beschränkt sich das Buch auf die Wirkung der Tat: Der uns sympathische Tom Hagen reagiert zurückhaltend, der unsympathische Woltz mit einem Wutausbruch. Ein weiteres Beispiel: Hätte Puzo die Spannung vor dem Mordversuch an Don Corleone auf herkömmliche Weise erzeugen wollen, so hätte er uns in die Perspektive der angeheuerten Killer oder deren Auftraggeber versetzen müssen, für die wir nicht das geringste empfinden. Wieviel effektvoller ist statt dessen doch die vorgezogene Reaktion Michaels! Die meisten großen Szenen in Der Pate werden, anders als die eben geschilderten, allerdings chronologisch vorbereitet. Beachten Sie, wie Puzo die Spannung für jede Szene aufbaut, in der Michael an Sollozzo und McCluskey Rache für seinen Vater nimmt. Sollozzo hat, da der Don zumindest vorübergehend unerreichbar für ihn ist, die Unterbreitung eines sogenannten Friedensvorschlags angeboten – vorausgesetzt, er kann Michael unter vier Augen sprechen. Die Corleones diskutieren heftig über das Für und Wider dieses wahrscheinlich faulen Angebots, als Michael unvermittelt vortritt und zur Verblüffung der Anwesenden verkündet, er sei dafür, es anzunehmen. Er will hingehen und »alle beide erledigen«. Ist es möglich, daß ausgerechnet der Zivilist der Familie, der Nichtkriminelle, es schaffen wird? Oder wird er versagen? Und abgesehen davon – was wird mit ihm, ja mit dem ganzen engverbundenen Familienclan der Corleones geschehen? So lauten die unausgesprochenen Fragen, die uns im Kopf herumgehen, während wir umblättern und weiterlesen. Auf den folgenden Seiten geht es zunächst um die Pläne der Corleones, dann um den Polizeihauptmann McCluskey und die Geschichte seiner Laufbahn sowie um Michaels Training – immer wieder wird er über die George-Washington-Brücke gefahren. Dann erleben wir Michael, wie er angespannt versucht, Sollozzos Vorschlägen zu lauschen – bis er endlich, etwa achtzehn Seiten nachdem das Thema zum erstenmal aufgeworfen wurde, den Revolver zieht. Für Spannung sorgt hier die Erwartungshaltung, die in uns aufgebaut wurde. Durch sie wird die Schießerei im Restaurant zu einem atemberaubenden Ereignis. Die Leitfunktion von Fragen Die bisherigen Beispiele könnten Sie zu der Vermutung verleiten, ein spannender Szenenaufbau bedürfe eines gewalttätigen oder sogar mörderischen Höhepunkts. Das wäre jedoch völlig unzutreffend, wie ich Ihnen anhand eines Kapitels aus dem Roman Im Garten der Lügen erläutern möchte. »In Demut und Reue bekenne ich meine Sünden«, lautet der erste Satz. Diese wenigen Worte rufen sofort zwei Fragen hervor: Wer hat gesündigt? Und: Um welche Sünde geht es? Die erste Frage ist rasch beantwortet. Bei der Sünderin handelt es sich um die sechzehnjährige Rose Santini, schamrot und mit heißem Kopf, als brüte sie eine Grippe aus. Schlimmer noch: Sie hält sich für unrettbar verloren und fürchtet, der alte Pater Donahue könne bei der Offenbarung ihrer Sünde einen Herzinfarkt bekommen. Doch dann verläßt Eileen Goudge die Szene. Statt Rose mit ihrer Beichte fortfahren zu lassen, verzichtet sie fürs erste auf die vermutlich ungehörigen Einzelheiten und läßt die spannende Frage im Raum stehen. Wir, die Leser, hängen am Haken und grübeln darüber nach, was dieses Mädchen wohl getan haben könnte. Die Autorin kann sich nun eine Abschweifung leisten und gibt uns zunächst einige Hintergrundinformationen über ihre Romanfigur. Sie beginnt mit einer Rückblende in Roses Kindheit und berichtet, wie die Fünftkläßlerin von Schuldgefühlen übermannt wird, als eine Nonne eine Reliquie in der Klasse herumreicht. Es 91
handelt sich um ein Stück verbranntes Fleisch von einer katholischen Märtyrerin. Wäre ich nicht ausgerechnet an jenem Abend geboren worden, denkt Rose, wäre Mutter bei dem Krankenhausbrand in der Nacht danach nicht umgekommen. Erst jetzt kehrt die Autorin zum Beichtstuhl zurück. Wieder steht die Frage nach der Sünde im Mittelpunkt. Es fällt Rose ungeheuer schwer, darüber zu sprechen. Sie tastet sich langsam vor, bekennt zunächst ein paar kleinere Sünden, die Erinnerungen an die schlimmen Familienverhältnisse wachrufen, in denen sie lebt: Ihre Großmutter quält sie mit seelischer Grausamkeit und beschimpft sie wegen ihres angeblich »schlechten Blutes«; ihre ältere Schwester kommandiert sie ständig herum, befiehlt ihr dauernd, sich das Haar aufzustecken und ihre Hälfte des Zimmers aufzuräumen ... Der Priester ruft Rose in die Gegenwart zurück. Andere wollen auch noch beichten. Das Mädchen holt tief Luft und platzt endlich mit den Worten heraus: »Pater, ich habe Unzucht getrieben!« Und damit ist die Frage, die uns so in Spannung hielt, wohl beantwortet. Oder etwa nicht? Die Sünde – oder zumindest das, was Rose dafür hält – ist zwar beim Namen genannt, doch noch fehlen die Einzelheiten. Mit wem hat Rose den Akt vollzogen? Unter welchen Umständen? Warum? Und welche Folgen ergeben sich daraus für sie? Nachdem sie ein weiteres Mal die Neugier in uns geweckt hat, kann Eileen Goudge wieder vorübergehend die Richtung wechseln. Sie hat sich eine Atempause verschafft und kann diese dazu nutzen, sich wieder auf die Hauptfunktion des Kapitels zu konzentrieren. Es geht ja darum, Rose und ihre Welt vorzustellen und weiterzuentwickeln. In einer weiteren hochbrisanten Erinnerungsszene verkündet Marie, die ältere Schwester, in der muffigen, schäbigen Küche, daß sie heiraten wird. Nonnie, die bösartige Großmutter, begreift, daß Marie schwanger ist. Sie schlägt ihr ins Gesicht und schimpft sie eine dreckige Hure. Clare, die mittlere Schwester, die immer so furchtbar brav ist und Nonne werden will, bricht in Tränen aus und läuft davon. Rose, die ratlos die haßerfüllte Auseinandersetzung zwischen Schwester und Großmutter beobachtet, bekommt nun selbst einen seelischen Schlag versetzt: Sie, Rose, zischt Nonnie verächtlich, sei doch genauso ein Bastard wie Maries ungeborenes Kind. Sie könne doch gar nicht das Kind ihres Sohnes Dom sein. Dessen – inzwischen verstorbene – Frau habe sich doch, während er im Krieg war, herumgetrieben. Jetzt sucht auch die am Boden zerstörte Rose das Weite. Wohin flieht sie? Zu wem? Zu Brian natürlich, dem Jungen im obersten Stock, den sie anbetet. Ungefähr fünfzehn Seiten nach den ersten Worten der Beichte lernen wir jetzt die Wohnung der McClanahans kennen. Dort wimmelt es nur so von Kindern, leeren Babyfläschchen und auf dem Boden herumliegenden Sofakissen. Hier ist Brian zu Hause, mit dem Rose, seit sie sieben und er achteinhalb war, Karten gespielt, geraucht und im »Fort« hoch oben auf dem Dach des Hauses viel geredet hat. Er ist, dies weiß sie nach all den Jahren, der einzige Mensch, dem sie vertrauen kann. Brian führt sie die Leiter hinauf aufs Dach und will sie trösten. Unter Tränen berichtet sie von der Beschuldigung der Großmutter und ihrer Angst, die Alte könne recht haben. Es folgt eine zärtliche, rührende Szene voller jugendlicher Unsicherheiten, mit Eifersüchtelei, Sex und Liebe, die darin gipfelt, daß Rose Brian bittet, sie zu küssen. Nach intensivem Petting ejakuliert Brian in seine Hosen. Rose in ihrer Unschuld glaubt, daß alles, was ihr so schöne Gefühle bereitet, sündhaft sein muß – Unzucht eben. Die Frage, die der Satz »In Demut und Reue bekenne ich meine Sünden« hervorgerufen hat, ist nun, fünfundzwanzig Seiten später, beantwortet. Doch in Wirklichkeit kommt es hier gar nicht auf diese scheinbare Auflösung an. Achten Sie vielmehr darauf, welch spannenden Rahmen diese Frage eingangs schuf und wie sie es der Autorin ermöglichte, einen dramatischen Abriß von Roses Lebensumständen, ihrer Geschichte und ihren gegenwärtigen Problemen zu zeichnen. Schließlich beendet Eileen Goudge die scheue Liebesszene zwischen den Teenagern mit Roses Vorstellung von den schrecklichen Strafen, die sie für ihre Sünde ereilen werden. So wird der Spannungsbogen aufgebaut, der die folgenden etwa vierzig Kapitel über anhalten 92
wird. Rose bekommt es mit der Angst zu tun, als ihr klar wird, was die schrecklichste Strafe wäre: Brian zu verlieren. Damit ist eine neue dramatische Frage gestellt. Das Kapitel schließt, wo es begonnen hat: in der Kirche, wo Rose ihre Beichte beendet. Rose kehrt zurück in die verkommene Wohnung und findet Trost bei dem Rubinohrring, den ihr vor sieben Jahren eine geheimnisvolle Dame im Nerzmantel auf dem Schulhof in die Hand drückte. Hier legt Goudge den Grundstein für die dramatische Auseinandersetzung mit Sylvie gegen Ende des Buches. Rose hält den tränenförmigen Rubin, der von einem winzigen goldenen, mit Diamanten verzierten Stift herabhängt, gegen das Licht und spricht, während sie sich nach etwas »Zauberkraft« sehnt, die letzten Worte des Kapitels: »Verlaß mich nicht, Brian. Bitte verlaß mich nie.« Die Frage (in der man, da sie am Ende des Kapitels steht, auch die typische, alles offen lassende Endzeile eines Fortsetzungsromans sehen könnte) prägt sich dem Leser nachhaltig ein. Wird Brian sie verlassen oder nicht? Und was wird aus Rose, wenn Brian sie verläßt? Erwartungshaltungen Die Frage, die sich durch Roses Sündenbekenntnis stellt, erzeugt den Spannungsbogen eines Kapitels von fast dreißig Seiten. In Vom Winde verweht nehmen Margaret Mitchells Vorbereitungen auf die erste Begegnung zwischen Scarlett und Ashley über hundert Seiten in Anspruch. Selten ist in der modernen Unterhaltungsliteratur eine einzelne Szene (die nicht den eigentlichen Höhepunkt des Buches bildet) so umfangreich und geschickt vorbereitet worden. Die Feinheiten dieses Aufbaus bleiben dem Durchschnittsleser, der das grandiose Defilee der Figuren und Episoden wie das unaufhaltsame, natürliche Fließen eines mächtigen Stromes empfindet, selbstverständlich fast völlig verborgen. Mitchell beginnt damit schon nach wenigen Seiten des ersten Kapitels. Die Nachricht von Ashleys Verlobung, die einen Tag später auf dem Ball bei den Wilkes verkündet werden soll, erfährt die erschrockene Scarlett vorab von Brent Tarleton, der den Mund nicht halten kann. Bevor Scarlett Ashley endlich zur Rede stellt, widmet sich die Autorin in fünf Kapiteln den folgenden beiden Aufgaben: Zum einen nutzt sie den Raum, um in brillanter Form eine bunte Vielfalt aus zahlreichen Haupt- und Nebenpersonen in die Geschichte einzuführen und das familiäre und gesellschaftliche Umfeld, einschließlich einer Fülle von politischen und familiären Aspekten, zu schildern. Zum anderen beschreibt sie in längeren und kürzeren Passagen immer wieder Scarletts fiebriges Verlangen, die angekündigte Verlobung irgendwie zu torpedieren und Ashley selbst zu heiraten. Wie das im einzelnen funktioniert, erkennen wir, wenn wir uns die wiederholten Hervorhebungen dieses Themas etwas genauer ansehen und untersuchen, wie sie die Spannung erhöhen und unserer Neugier auf die erwartete Konfrontationsszene immer wieder neue Nahrung geben. Das zweite Kapitel zeigt uns zunächst Scarlett allein. Die Tarleton-Zwillinge, die darüber rätseln, warum Scarlett sie nicht aufgefordert hat, zum Abendessen zu bleiben, sind gegangen. Scarlett kehrt wie eine Schlafwandlerin zu ihrem Stuhl zurück. Gesicht und Mund schmerzen; sie hat das Gefühl, ihr Herz sei geschwollen und zu groß für ihre Brust. In einem inneren Monolog beharrt sie darauf, daß die Nachricht ein Irrtum sein muß, weil sie, nur sie, diejenige ist, ja sein muß, die er liebt. Mammy kommt zu ihr. Scarlett wird sie rasch wieder los, indem sie sie unter einem Vorwand wegschickt. Vorwürfe wegen ihrer Unfreundlichkeit den Tarletons gegenüber kann sie nicht ertragen, während ihr das Herz bricht. Aber vielleicht, so sagt sie sich, ist diese schreckliche Geschichte ja gar nicht wahr. Sie wird ihren Vater, wenn er von den Wilkes zurückkommt, auf der Zufahrt vor dem Haus abfangen und ihn ausfragen. Nachdem Margaret Mitchell die dramatische Frage definitiv in uns verankert hat, blendet sie zurück und skizziert auf wenigen Seiten Scarletts rosige, wenngleich weitgehend nichtssagende Erinnerungen an frühere Begegnungen mit Ashley. Dann führt sie Scarletts Vater ein, den dem Whiskey zugeneigten, mit Vorliebe über Zäune springenden Iren Gerald O´Hara. Scarlett bemüht sich, das Thema zur Sprache zu bringen, ohne daß Gerald von ihrer 93
Verzweiflung erfährt. Ihr Vater jedoch durchschaut sie, bestätigt die Verlobung und schilt seine Tochter, weil sie einem Mann nachläuft, der sie nicht haben will. Wenn sie einen von den Zwillingen heiratet, wird er ihr sogar ein schönes Haus bauen. Scarlett aber – »der Schmerz zerriß ihr wie mit Raubtierfängen das Herz« – will keinen anderen als Ashley. Gerald argumentiert überzeugend, daß der Büchernarr Ashley der Falsche für sie wäre, und weist darauf hin, wie verschieden die beiden sind. Doch Scarlett läßt sich nicht beirren. Wenn sie Ashleys Frau werden könnte, würde sie ihn schon ändern. Wir sind nun sehr neugierig und gespannt darauf, wie weit dieses halsstarrige Mädchen noch gehen wird und ob ihre Bemühungen von Erfolg gekrönt sein werden. Also kann Margaret Mitchell in Kapitel drei erneut zurückblenden – diesmal, um uns die Geschichte von Scarletts Eltern zu erzählen: von Gerald, dem rauhbauzigen, aber entschlossenen irischen Einwanderer, und Ellen Robillard, der verschmähten Aristokratentochter aus Savannah, die Gerald aus Trotz geheiratet, ihm drei Töchter geschenkt und Ordnung, Würde und Schönheit in seinen Haushalt gebracht hat. Doch auch in diesem Kapitel hallt die dramatische Frage wider. Scarlett sehnt sich danach, ebenso gerecht, wahrheitsliebend, zärtlich und selbstlos wie ihre Mutter zu sein – nur eben noch nicht sofort. Dafür bleibt noch Zeit genug, wenn sie Ashley geheiratet hat. Das vierte Kapitel beginnt mit dem Abendessen, bei dem sich Scarlett in der ersten tragischen Krise ihres jungen Lebens nach der tröstlichen Gegenwart ihrer Mutter sehnt. Sie kann nicht verstehen, wie Gerald über den bevorstehenden Krieg und die verdammten Yankees vom Leder ziehen kann, während seiner Tochter das Herz bricht. Ellen, die bei den Slatterys eine Fehlgeburt erleben mußte, kehrt zurück, und die Familie kniet zum Gebet nieder. Da steigt in Scarlett kometenhaft ein neuer Gedanke auf: Ashley weiß gar nicht, daß sie ihn liebt. Wahrscheinlich denkt er, sie sei in Brent oder Stuart oder Cade verliebt, und ist ganz untröstlich darüber. Scarlett ist vor Freude außer sich: Die Verlobung wurde ja noch gar nicht offiziell bekanntgegeben. Sie muß ihm also nur irgendwie zu verstehen geben, was sie für ihn empfindet. Als sie zu Bett geht, hat sie schon einen genauen Plan: Auf dem morgigen Gartenfest will sie quietschfidel sein und mit jedem anwesenden Mann flirten. Ashley wird das nicht entgehen; er wird gar nicht umhin können, sie ebenfalls zu begehren. Scarlett will ihn dann irgendwo unter vier Augen sprechen – und wenn er dann nicht den ersten Schritt tut, wird sie ihn eben selber tun. Am Abend werden sie dann schon nach Jonesboro unterwegs sein, und sie, Scarlett, wird Mrs. Ashley Wilkes. Daß sie den kürzeren ziehen könnte, hält sie für undenkbar. Und wir, die Leser, fragen uns unwillkürlich selbst: Wie soll bei soviel finsterer Entschlossenheit der Erfolg noch ausbleiben? Die Erwartungshaltung wächst im fünften Kapitel, während sich Scarlett ankleidet, für das Gartenfest zurechtmacht und schließlich mit ihrem Vater und ihren Schwestern in der Kutsche sitzt. Zuerst erleben wir sie dabei, wie sie hin und her überlegt, was sie anziehen soll, damit ihre Vorzüge am besten zur Geltung kommen und sie ebenso jugendlich und dabei schon erwachsen aussieht wie Melanie. Mammy ist strikt gegen das tief ausgeschnittene, grüngeblümte Musselinkleid. Ein so offenherziges Gewand schickt sich nicht am Vormittag. Doch Scarlett, raffiniert wie sie ist, setzt sich durch, indem sie Mammy im Gegenzug verspricht, das Frühstück zu essen, das diese ihr mitgebracht hat. Dann sind ihre Gedanken schon wieder bei dem bevorstehenden Fest. Sie beschließt, in Ohnmacht zu fallen – oder so zu tun, als fiele sie in Ohnmacht – und Ashley schöne Augen zu machen, kurzum, alles zu tun, damit er ihren Reizen erliegt. Auf der Fahrt nach Twelve Oaks erregt der herrliche Frühling auf dem Lande mit den knospenden wilden Apfelbäumen ihre Phantasie: Was für ein herrlicher Tag für ihre Hochzeit! Sie stellt sich die Zeremonie im Mondschein vor. Noch ihren Kindern und Kindeskindern wird sie erzählen können, was für ein grandioser Tag das war. An einer Kreuzung begegnet den O´Haras die Kutsche der Tarletons. Margaret Mitchell stellt uns umgehend die Pferdeliebhaberin Beatrice Tarleton vor, die nicht nur Ashleys Verlobung bestätigt, sondern auch noch hinzufügt, daß man ja schon seit Jahren wisse, was sich da 94
angebahnt habe. Scarlett ist im ersten Augenblick wie am Boden zerstört, doch kehrt ihr Mut schon bald wieder zurück. Sie weiß, daß Ashley sie liebt – und wir fragen uns erneut: Stimmt das überhaupt? Und wann erfahren wir es endlich? Im sechsten Kapitel erreicht Scarlett schließlich die Plantage der Wilkes. Sofort wird sie von allen umringt und begrüßt – nur nicht von Ashley. Wo ist er? Scarlett erfährt von Rhett Butlers Vergangenheit – er hat in Charleston eine junge Dame kompromittiert – und wünscht sich, Ashley würde sie kompromittieren. Während des Essens geht ihr Plan nicht auf. Sie ist umringt von jungen Beaus, doch Ashley ist nicht dabei. Sie ist die Schönste von allen, doch Ashley sitzt still und ruhig bei Melanie. Sie kann diesen Anblick kaum ertragen und schmiedet einen neuen Plan. Wenn die anderen Mädchen oben ihren Mittagsschlaf halten, wird sie Ashley unter vier Augen erwischen. Neuen Mut faßt sie, als sie hört, wie Melanie Ashley erklärt, warum ihr Dickens lieber ist als Thackeray. Melanie ist ein Blaustrumpf, denkt sie, an solchen Frauen sind Männer nicht interessiert. Die Autorin führt nun einen alten Veteranen ein, der sowohl im Seminolen- als auch im Mexiko-Krieg mitgekämpft hat, und läßt auch Rhett Butler auftreten. Zur großen Empörung der jungen Hitzköpfe sehen die beiden Männer die Schrecken des Krieges und die letztlich unvermeidliche Niederlage des Südens voraus. Und dann steht Scarlett auf dem Treppenabsatz und späht über das Geländer. Das Herz klopft ihr bis zum Halse. Sie schleicht sich in die halbdunkle Bibliothek, doch von den vielen Worten, die sie sich für Ashley zurechtgelegt hat, will ihr keines einfallen. Und damit endet Margaret Mitchells breit angelegtes Vorspiel zu Scarletts Begegnung mit Ashley – ein derart geschickt durchkomponiertes Crescendo, daß sich unsere Neugier inzwischen kaum noch bezähmen läßt. Der Szenenaufbau in Ihrem Roman Nun holen Sie Ihr eigenes Manuskript hervor – gleichgültig, ob es sich dabei um eine Kurzgeschichte, eine Novelle oder einen Roman handelt. Suchen Sie sich zwei oder drei wichtige Szenen heraus und lesen Sie sie durch. Gibt es in Ihrem Text auf der ersten oder zweiten Seite eine Frage mit einem Spannungselement, die auf dem dramatischen Höhepunkt der Szene beantwortet beziehungsweise gelöst wird? Hat die Szene überhaupt einen Höhepunkt? Wenn Sie beide Fragen verneinen müssen, machen Sie sich besser gleich wieder an die Arbeit. Bestimmen Sie zunächst, wie der Höhepunkt aussehen soll, schreiben Sie ihn nieder und überlegen Sie dann, welche Möglichkeiten es gibt, den Leser darauf vorzubereiten. Haben Sie bereits eine Ihnen zusagende dramatische Zuspitzung gefunden, dann finden Sie heraus, welche Einführungsstrategie Ihnen mehr liegt: Puzos »Knalleffekt«-Technik des vorgezogenen Höhepunkts mit anschließender Rückblende oder die traditionelle chronologische Schilderung, bei der das Thema in einem inneren Monolog oder einem Dialog zu Beginn der dann mehr oder weniger rasch dem Höhepunkt zustrebenden Szene angesprochen wird. Zur Beurteilung Ihrer Arbeit empfiehlt es sich möglicherweise, den Aufbau der fertigen Szene oder Szenen mit den in diesem Kapitel diskutierten Beispielen zu vergleichen.
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9 Große Szenen Die wichtigen Szenen in Bestsellerromanen werden nicht nur sorgfältig vorbereitet, sondern so konstruiert, daß sie auch in sich selbst grandios sind und wir sie ungemein spannend und bewegend finden. Jeder der fünf Romane, die wir hier untersuchen, enthält zwischen zehn und zwanzig schicksalhafte Kapitel oder Episoden, in denen es für die Hauptpersonen ums Ganze geht. Wir Leser erleben Morde, Mordversuche, Todesfälle mit natürlichen Ursachen, Heiratsanträge, Liebeserklärungen, Verrat, Verführung, Rettung aus höchster Not, Geburten und Abtreibungen – durchweg Ereignisse von gravierender Bedeutung für die Betroffenen. Doch simple Beschreibung allein macht aus richtungweisenden Ereignissen dieser Größenordnung noch lange keine großartige Romanszene. Szenen, die es verdienen, in die Kategorie »großartig« eingeordnet zu werden, enthalten oft eine verblüffende Überraschung, haben einen schweren Konflikt zum Thema, verändern grundlegend die Lebenssituation, die Pläne, Hoffnungen und Träume einer oder mehrerer Hauptpersonen – und sie erstrecken sich im Buch nicht selten über eine beachtliche Seitenzahl. Im Kern beziehen sie ihre Dynamik oft daraus, daß eine oder beide Personen von der jeweils anderen verzweifelt etwas erwarten oder wollen. Das vielleicht entscheidende Element ist aber die Aufrechterhaltung der Spannung und/oder der emotionalen Brisanz innerhalb einer längeren Szene. Eine solche Szene wächst und wächst; die durch die äußere Handlung und/oder das Innenleben einer Figur entstehende Spannung steigt, fällt und schwingt sich zu neuen, höheren Gipfeln auf, bis sie schließlich fast unerträglich ist. Gleichzeitig gerät der Leser mehr und mehr in den Bann des Geschehens. Große Szenen in Vom Winde verweht Scarletts erste Begegnung mit Ashley, die ihren Höhepunkt im unerwarteten Zusammentreffen mit dem lauschenden Rhett Butler findet und an die sich ihr trotziger Entschluß anschließt, Charles Hamilton einen Heiratsantrag zu entlocken, enthält in nahezu idealer Weise die meisten jener Elemente, die für mich die Voraussetzungen für eine große Szene bilden. Sehen wir uns nun etwas genauer an, wie Margaret Mitchell dieses unvergeßliche Minidrama aufgebaut hat. Unsere Erwartungen sind, wie im vorigen Kapitel beschrieben, bereits sehr hoch. Wird sich unsere verzweifelt-entschlossene, furchtlose Heldin den Mann ihrer Träume angeln? Nun also kommt das Ereignis, von dem Scarlett so besessen ist und auf das wir nach allen Regeln der Kunst vorbereitet wurden. Achten Sie auf die »emotionale Progression«. Am Anfang herrscht eitel Freude und Glückseligkeit –Scarlett spürt bei der Berührung von Ashleys Hand, daß ihr Traum in Erfüllung gehen wird. Optimismus, Stolz und noch größere Freude durchfluten sie, als sie es wagt, ihre Liebe offen einzugestehen. Er, unangenehm berührt, versucht, es ihr schonend beizubringen. Scarletts Begeisterung schwindet –ein emotionaler Abschwung. Ihr geht auf, daß etwas nicht stimmt, ganz und gar nicht stimmt! Aber so schnell wirft sie die Flinte nicht ins Korn. Sie bedrängt ihn und bringt ihn zu dem Geständnis, daß ihm doch etwas an ihr liegt. Dann bemüht sie sich heroisch und unter Einsatz ihrer gesamten Willenskraft, dieses Zugeständnis in ein Heiratsversprechen zu verwandeln. Als Ashley versucht, ihr klarzumachen, warum sie niemals zusammenpassen würden, klingt dies wie ein Echo auf Geralds Worte in einem früheren Kapitel. In Scarletts Augen wird er jedoch durch sein Eingeständnis, daß er sie gern hat, aber nicht heiraten will, zum Lügner und Schuft. Wut, eine noch heftigere Emotion, keimt in ihr auf. Als Ashley kurz darauf Melanie gegen Scarletts bösartige Verleumdung in Schutz nimmt, erreicht ihre Wut den Siedepunkt. Sie beschimpft ihn. Sie wird ihn bis an ihr Lebensende hassen. Ihr fällt kein Wort ein, das schlimm genug für 96
ihn wäre. Auf dem Höhepunkt ihrer Rage schlägt sie ihm mit aller Kraft ins Gesicht. Danach erleben wir ein Diminuendo. Scarletts Wut verraucht und weicht tiefer Trostlosigkeit. Ashley küßt ihr die Hand und macht sich davon. Scarlett fühlt sich elend. Sie hat ihn für immer verloren. Jetzt wird er mich hassen, denkt sie und haßt sich selbst dabei. Irgend etwas muß sie tun, wenn sie nicht durchdrehen will. In einem leidenschaftlichen Ausbruch zerschmettert sie eine Porzellanschale am Kamin. Die Teilnahme an Scarletts auf- und abwogenden Emotionen in dieser Szene läßt sich mit einer langen, trügerischen Achterbahnfahrt vergleichen, bei der immer wieder neue, erschreckende Kurven, Talfahrten und Anstiege vor uns auftauchen. Da ist zunächst einmal das völlig unerwartete Erscheinen Rhett Butlers, der, außer Sicht auf einem Sofa liegend, alles mit angehört hat. Nicht genug, daß Scarlett mit dem Schmerz über Ashleys Zurückweisung fertig werden muß – nein, Margaret Mitchell demütigt sie vor einem Fremden, entblößt sie gewissermaßen bis auf die Haut und treibt damit ihre Wut und Verzweiflung in ungeahnte neue Höhen. Rhett bewundert die Aufrichtigkeit und Kühnheit, mit der Scarlett Ashley gegenübertrat. Hut ab, sagt er und versichert ihr, sie sei viel zu gut für Wilkes. Doch das bringt Scarlett nur noch mehr auf die Palme. Sie schreit ihn an, er sei es nicht einmal wert, Ashley die Schuhe zu putzen. Am liebsten würde sie diesen unverschämten Eindringling umbringen. Zuspitzung des Dramas Viele Schriftsteller würden sich nach Beendigung einer vergleichbar starken Szene wie jener zwischen Scarlett und Ashley zufrieden zurücklehnen und meinen, sie hätten nun wahrlich genug dramatische Wirkung erzielt. Nicht so Margaret Mitchell, die eine starke, gut vorbereitete Szene unverzüglich mit einer noch stärkeren krönt. Erstaunlich, wie verblüffend und provokativ sie die erste Begegnung zwischen Scarlett und Rhett Butler gestaltet, der die Titelheldin ja von nun an den ganzen Bürgerkrieg hindurch und über die Jahre der Restauration hinweg, ja fast bis zum Ende des Romans verfolgt und versuchen wird, ihre Liebe zu gewinnen! Scarlett, wieder im Oberstock, nachdem sie die düstere Bibliothek verlassen hat, schwinden beinahe die Sinne, und sie will sich in ihrem Kummer ein wenig zur Ruhe begeben. Da hört sie, wie die anderen Mädchen über sie klatschen. Honey Wilkes nennt sie »schamlos«. Scarletts Herz beginnt zu rasen, und es gefällt ihr gar nicht, daß ausgerechnet Melanie sie verteidigt. Honey erklärt, die einzige Person, aus der Scarlett sich etwas mache, sei Ashley. Scarlett fühlt sich entsetzlich. Die ganze Provinz wird über sie lachen. Sie will nur noch fort, nach Hause, und sich bei ihrer Mutter ausweinen. Aber nein, das geht nicht, das würde den boshaften Mädchen nur neue Munition gegen sie liefern. Nein, sie wird bleiben. Irgendwie wird sie es ihnen schon zeigen und sich rächen. Es wird ihnen noch leid tun. Kunstgriffe Gewiß ist Ihnen aufgefallen, daß Scarlett zuerst belauscht wird und danach selbst die Rolle der Lauscherin spielt. Ein abgedroschener Trick, werden einige vielleicht sagen, vor allem, wenn er, wie hier, in zwei einander unmittelbar folgenden Szenen angewendet wird. Allerdings sind solche Kunstgriffe oft sehr nützlich, lassen sich doch mit ihrer Hilfe die Überraschungs- und Schockeffekte der großen Szene erzielen, die tief ins Leben der Figuren eingreifen und sie zu Handlungen und Entscheidungen bewegen, die ansonsten schwierig zu motivieren wären. Gelingt es, sie – wie in diesem Beispiel – ganz natürlich erscheinen zu lassen, wird der Leser so elektrisiert, daß er den Trick kaum bemerkt. Rhett wird sorgfältig aufgebaut. Scarlett hat ihn vor dieser Begegnung bereits gesehen, und er bleibt nach ihrer Ankunft auf Twelve Oaks eine auffällige Erscheinung. Später entdeckt sie zu ihrem Mißvergnügen, daß er ihren Flirt mit Charles Hamilton beobachtet hat. Und kurz darauf erfährt sie von Catherine Calvert, daß er einst ein Mädchen in Charleston ins Unglück trieb. 97
Draußen im Garten bringt er alle gegen sich auf, weil er es wagt, auf die militärische Überlegenheit des Nordens hinzuweisen, und sich gleich darauf empfiehlt, um sich die Bibliothek der Wilkes anzusehen. Als er sich, nachdem er beinahe von Scarletts fliegender Porzellanschale getroffen wurde, vom Sofa erhebt, ist er also sowohl ihr als auch uns bereits bekannt. Wir finden ihn interessant, weil er so ganz anders ist als die anderen Männer auf dem Gartenfest. Und außerdem hält er sich genau dort auf, wo er nach seinen eigenen Worten hingehen wollte. Ebenso sorgfältig wird Honeys Bosheit begründet. Selber unattraktiv und daher eifersüchtig auf Scarletts Reize, verbindet sie, wie wir an früherer Stelle bereits erfahren haben, ein stillschweigendes Eheversprechen mit Charles Hamilton, jenem jungen Mann also, mit dem Scarlett so ostentativ geflirtet hat, um Ashleys Eifersucht zu wecken. In dem nun folgenden Finale der Szene ist ein weiterer Kunstgriff entscheidend: das zufällige Zusammentreffen von Ereignissen. Wer betritt ausgerechnet in dem Augenblick das Haus, da Scarlett sich aufrafft und in einem anderen Schlafzimmer ausruhen will? Niemand anders als Charles Hamilton, der ihr, als sie sich innerlich auf die Begegnung mit Ashley vorbereitete, hingerissen einen Heiratsantrag gemacht hatte. Scarlett hatte höflich und beinahe geistesabwesend abgelehnt. Inzwischen ist die Nachricht eingetroffen, daß Lincoln Truppen mobilisiert (eine zweite Koinzidenz). Der Süden muß nachziehen. Alle kampffähigen Männer werden eingezogen, und das gilt natürlich auch für die männlichen Festgäste. Charles verkündet, daß er zu den Fahnen eilt, und fragt scheu, ob Scarlett auf ihn warten werde. Dadurch gewinnt der erste Antrag, der zu seiner Zeit noch irrelevant erschien und allenfalls die überwältigende Wirkung Scarletts auf die jungen Männer illustrierte, eine ganz neue Bedeutung. Er ist Vorbereitung, Grundlage dafür, daß Scarlett jetzt ja sagen kann. Sie denkt an Charles´ Geld, an Honey, die die Blamierte sein wird, und an Ashley, dem sie nun demonstrativ zeigen kann, wie gleichgültig er ihr inzwischen ist. Nein, erwidert sie, ich will nicht warten, ich will gleich heiraten. Aufgeregt eilt er fort, um mit ihrem Vater zu sprechen, und Scarlett denkt: »Ach, Ashley, Ashley! Was hab´ ich getan?« Sie hat einen Pyrrhussieg errungen – es ist eher eine Niederlage. Auf etwa einem Dutzend Seiten steht Scarlett im Mittelpunkt des Geschehens und wird – in dieser Reihenfolge – durch Ashley, Rhett und Honey schwer erschüttert. Alle drei treffen sie auf unterschiedliche Weise. Doch obwohl sie jedesmal zutiefst niedergeschlagen ist, läßt sie sich nicht unterkriegen, sondern reißt sich zusammen. Am Ende, bei Charles Hamilton, ist sie es, die das Heft in die Hand nimmt, wenn auch töricht und impulsiv. Die Szene, an deren Beginn Scarletts wilde Entschlossenheit zur Verehelichung stand, endet damit, daß sie heiratet – allerdings nicht den Mann, den sie wollte und noch immer will. Wir beobachten sie in dieser Szene und fühlen mit ihr – überrascht, erschrocken, bewegt oder belustigt. Wir sehen, wie ihr Leben sich verändert. Die obligatorische Szene In Texten über das Schreiben von Theaterstücken ist oft von der sogenannten »obligatorischen Szene« die Rede, die dem französischen Ausdruck la scene à faire entspricht. Wörtlich übersetzt, bedeutet dies »die Szene, die geschehen« beziehungsweise »gemacht werden« muß. In einem traditionell aufgebauten Bühnenstück und im Erfolgsroman ist dies die hochdramatische Begegnung am Ende des Werkes oder kurz davor, in der die beiden antagonistischen Hauptfiguren oder –kräfte die zwischen ihnen bestehenden Probleme lösen. Der Plot ist zum großen Teil um diese Problematik herum angelegt, so daß die Lösung, je mehr sich der Roman seinem Ende zuneigt, für die handelnden Personen immer wichtiger wird. Eine andere, vielleicht gebräuchlichere Bezeichnung für diese Szene ist Höhepunkt oder Klimax, doch finde ich sie nicht so zutreffend wie »obligatorisch«. Höhepunkt in Der Pate In den meisten großen Romanen findet die Problemlösung zwischen den Hauptpersonen, gewöhnlich zwischen Protagonist und Antagonist statt. Es gibt jedoch Ausnahmen. So wird 98
Sollozzo in Der Pate schon relativ früh im Buch ausgeschaltet. Danach sind die Gegenkräfte der Corleones Gangsterfamilien wie die Tattaglias und Barzinis, die jedoch weitgehend im Hintergrund operieren und nur gelegentlich beim Namen genannt werden. Persönlich treten sie im ganzen Roman nur ein einziges Mal ins Rampenlicht, und auch da nur kurz: bei der Friedenskonferenz, die nach Sonnys Ermordung in einer kleinen Handelsbank stattfindet. Beachtet man das Hauptthema des Romans – das Überleben der Corleones und den Triumph über ihre Feinde –, so muß es bei der obligatorischen Szene um Sieg oder Niederlage der Corleones gehen. Interessanterweise betont Puzo bei dieser großen Szene eher die Vorbereitungsphase, in der er Albert Neri, den neuen, kaltblütigen Killer der Corleones, einführt, und erwähnt die einzelnen Morde an den weitgehend anonym bleibenden Tattaglia und Barzini, an den Verrätern Carlo Rizzi und Tessio sowie an dem völlig im Hintergrund gebliebenen Pizzabäcker – der einst in Sizilien bei einem Attentat, das eigentlich Michael galt, dessen junge Frau umbrachte – nur verhältnismäßig kurz. Zwei Überraschungen in dieser Passage bilden Tessio und Carlo. Daß sie sich gegen die Corleones gestellt haben, hat uns Puzo bislang vorenthalten. Beachten Sie, daß das erste Kapitel des Buches mit der Hochzeit von Constanzia und Carlo beginnt und daß der letzte Mann, der ermordet wird, eben dieser Carlo ist, ein Familienmitglied und Michaels Schwager. Zwar legt Michael ihm nicht persönlich die Garotte um den Verräterhals, doch ist Carlo das einzige Opfer, dem er persönlich gegenübertritt. In einem trügerischen Frage-und-AntwortSpiel entlockt der Protagonist dem Antagonisten ein Geständnis. Fünf Morde haben wir miterlebt, die Feinde der Corleones sind alle verschwunden, und doch läßt Puzo uns noch keine Ruhe. Michael hat mit beträchtlichem Geschick und Wagemut Rache genommen und sein verbrecherisches Haus in Ordnung gebracht. Was könnte sich Puzo nun noch zur Krönung des Ganzen einfallen lassen? Ganz einfach: eine Lüge. Eine eklatante Lüge, die Michael seiner geliebten und ihm ergebenen Frau Kay vorsetzt. Die hysterische Connie schlägt auf den Bruder ein, weil er ihren Mann Carlo umgebracht hat. Kay fragt, ob das stimmt. Michael sieht ihr offen in die Augen und sagt nein. In dieser Szene erkennen wir seine berufliche und persönliche Wandlung. Michael hat sich als ebenso hart, gerissen und rücksichtslos wie sein Vater erwiesen. Seine Aufgabe als Mafia-Boß, dies zeigt diese Szene mit Kay, ist ihm nun wichtiger als die Rolle des Ehemanns, Vaters und Menschen. Einen Augenblick später treten seine Untergebenen auf und erweisen dem neuen Mann ihre Reverenz: ihm, Don Michael. Der Preis für seinen Triumph, dies gibt uns Puzo zu verstehen, sind das Vertrauen seiner Frau und seine eigene Menschlichkeit. Beachten Sie schließlich auch den Aufbau und die zunehmende emotionale Intensivierung des Kapitels mit dem dramatischen Höhepunkt. Die ersten beiden Teile bereiten uns einmal unterschwellig und einmal direkt auf die Morde an Carlo und Tessio vor, die gegen Ende des Kapitels ausgeführt werden. Die erste Person, die dran glauben muß, ist der unbekannte Pizzabäcker, die zweite der uns kaum bekannte Philip Tattaglia. Aufregend, gewiß, aber nicht besonders. Barzinis Ermordung durch Albert Neri ergibt sich in der Folge eines raffinierten Täuschungsmanövers, das als solches ganz spannend ist, aber nur bescheidene emotionale Potenz entwickelt, weil weder wir noch Michael mit Barzini besonders vertraut sind. Schon ein wenig mehr Emotion kommt ins Spiel, als Tom Hagen die Entführung (und nachfolgende Ermordung) Tessios plant, der das ganze Buch hindurch ein Freund und loyaler Caporegime war. Aber erst während der Konfrontation zwischen Michael und Carlo steigt die Intensität erheblich. Carlo ist ein mieser Kerl, der seine Frau nach Lust und Laune prügelt und betrügt, aber Connie, Michaels Schwester, liebt den Burschen noch immer. Es geht also um mehr als um eine blutige Abrechnung aus rein geschäftlichen Gründen. Carlo muß sich für den Mord an Michaels Bruder Sonny verantworten. Michael verspricht dem vor Angst schlotternden Schwager, Milde walten zu lassen, und entlockt ihm dadurch ein Geständnis. Und dann verblüfft er uns: In echt sizilianischer Mafia-Manier bricht er sein Wort. Carlos Flehen um Gnade und seine Erdrosselung hinterlassen den bis dahin stärksten Eindruck in diesem 99
Kapitel. Doch dann wird Michael mit jenen beiden Personen konfrontiert, die ihm persönlich am nächsten stehen: mit seiner hysterischen Schwester, der er den Mann genommen hat, und mit Kay, der Frau, die er liebt und von der er geliebt wird. Die Szene mit Carlo hat uns gerade erst gezeigt, wie aalglatt Michael lügen kann. Daß er nun aber auch seine Frau belügt und sie ihren Glauben an ihn verliert, trifft uns wegen der engen emotionalen Bindung der beiden viel stärker als alle vorherigen Greueltaten. Höhepunkt in Im Garten der Lügen In Im Garten der Lügen hat die obligatorische und gleichzeitig stärkste Szene des Buches ihre Wurzeln im Prolog: Es ist Sylvies Betrug, ihre Lüge, ihr Vertauschen des eigenen Babys mit dem einer anderen Frau. Obwohl sie Rachel eine liebende Mutter wird, muß sie sich dreißig Jahre lang mit Schuldgefühlen und ihrer Sehnsucht nach der eigenen Tochter herumquälen. Währenddessen wächst Rose, die leibliche Tochter Sylvies, in einem Mietshaus in Brooklyn auf, großgezogen von einer bösartigen Großmutter, die das Mädchen verabscheut und ständig piesackt. Rose fühlt sich in der Familie, in der sie aufwächst, stets als Außenseiterin. Ihr Leben ist ein einziges Elend. Die Mädchen wachsen heran. Roses, Rachels und auch Sylvies Liebesgeschichten – die beiden jungen Frauen verlieben sich in denselben Mann – dominieren im folgenden den Roman, wobei jedoch Sylvies Schuldgefühle und die Sehnsucht nach ihrer Tochter sowie Roses Verlassenheitsängste und ihr Gefühl, nicht dort zu sein, wo sie hingehört, oftmals subtil, mitunter aber auch sehr plakativ in die Handlung eingeflochten werden – am nachhaltigsten in der Szene, in der Sylvie auf dem Schulhof erscheint und Rose impulsiv einen Rubinohrring in die Hand drückt. Der Leser verinnerlicht die Problematik und fragt nach Lösungen, und seine Neugier auf die Antwort bleibt über insgesamt achtunddreißig Kapitel erhalten: Wird sich Sylvie jemals zu ihrem leiblichen Kind bekennen? Wird Rose herausfinden, daß sie doch eine Mutter hat? Wird Rose, sollte Sylvies furchtbares Geheimnis je herauskommen, ihre Mutter hassen – oder haben Versöhnung, Freundschaft und sogar Liebe eine Chance? All diese Fragen bereiten jene Szene am Ende des achtunddreißigsten Kapitels vor, in der Rose vor Sylvies Tür steht. Bis zu einem gewissen Grad kann man sogar in dem gesamten Roman eine Vorbereitung auf diese Begegnung sehen. Endlich muß Sylvie der jungen Frau, ihrem eigenen Kind, das sie gleich nach der Geburt im Stich gelassen hat, Auge in Auge gegenübertreten und ihr die skandalöse Tat gestehen. Die einsame, unglückliche und verwirrte Rose macht in dieser Szene eine ebenso verblüffende wie erschütternde Entdeckung. Ihre schrecklichen Kindheitsängste werden bestätigt. Sie gehörte tatsächlich nicht zu der Familie, in der sie aufwuchs. Ihre wahre Mutter, Sylvie Rosenthal, hat ihr einst unaussprechliches Unrecht angetan, gibt sich nun aber alle Mühe, ihr, Rose, die Hand zu reichen. Selbst in der Zusammenfassung wird die Brisanz dieser Vorgänge spürbar. Ein Blick auf verschiedene Bauelemente dieser Schlüsselszene zeigt uns die Techniken, mit deren Hilfe Eileen Goudge hier die größtmögliche Wirkung erzielt. Die letzten Vorbereitungen auf diese Szene beginnen vier Kapitel zuvor im Gerichtssaal, wo Rose als Rachels Anwältin füngiert. Als Rachel in Ohnmacht fällt, glaubt Rose in der eleganten älteren Dame, die ihr zu Hilfe eilt, jene Frau wiederzuerkennen, die ihr vor Jahren auf dem Schulhof den Rubinohrring gab. Sie kann sich darauf keinen Reim machen, und als sie hört, wie Rachel diese Frau mit »Mama« anspricht, ist sie völlig verwirrt. Zwei Kapitel später, nach der Beerdigung von Großmutter Nonnie, begleitet Rose Marie nach Hause in der Hoffnung, die Schwester könne Näheres über Sylvie Rosenthal wissen und vielleicht auch, aus welchem Grund diese ihr einst den kostbaren Ohrring schenkte. Maries Verhalten – sie streitet vehement ab, daß irgend etwas dahinterstecken könnte – erweckt Roses Mißtrauen. Sie treibt Marie in die Enge und zwingt die von schwersten Gewissensbissen heimgesuchte Schwester praktisch zu einem Geständnis: Schon im Jahre 1954, als Rose noch ein Kind war, hatte jemand anonym ein Sparbuch mit 25 000 Dollar für sie hinterlegt. Die Szene beschreibt einen hochdramatischen Konflikt zweier Schwestern, zwischen denen es zu einer gewissen 100
Entfremdung gekommen ist. Gleichzeitig wird jedoch auch die Handlung vorangetrieben, erhält Rose doch nun den Beweis, daß sie und Marie nicht gleicher Herkunft sind und daß es tatsächlich irgendwo irgend jemanden gegeben hat oder gibt, dem sie, Rose, nicht gleichgültig ist. Nun muß sie herausfinden, in welcher Beziehung dieser Jemand zu Sylvie Rosenthal steht. Im folgenden Kapitel wechselt Goudge den Schauplatz. Sylvie ist allein und zieht Bilanz. Alles ist in Ordnung, alle Schulden sind beglichen, bis auf eine. Sylvie macht sich Vorwürfe, weil sie sich im Gerichtssaal dem Risiko einer Entdeckung ausgesetzt hat. Sie ist stolz auf ihre heimliche Tochter Rose, die eine brillante Karriere gemacht hat, und wird schließlich von Reue und Schuldgefühlen überwältigt. Ihre damalige Tat ist durch nichts wiedergutzumachen. Sie hat den Verlust Roses nie verschmerzt und sehnt sich nach Vergebung. Doch wird Rose ihr je vergeben können? Sie hört den Türsummer. Obwohl sie Angst hat, öffnet sie, ohne nachzufragen, wer da ist. Im Herzen weiß sie es ohnehin schon. Damit ist die Vorbereitungsphase beendet. Wir haben das tiefe Verlangen und die unauslöschliche Sehnsucht beider Frauen kennengelernt und wissen, daß es für beide schon fast um Leben oder Tod geht. Nach annähernd dreißig Jahren kommt es jetzt zur Konfrontation, zur »obligatorischen« Szene zwischen den beiden. Roses Eintritt läßt uns die Autorin zunächst aus Sylvies Sicht miterleben. Sie ist die Bedrohte, diejenige, die unbedingt ihr schreckliches Geheimnis wahren und ihre Schuld auf immer und ewig verbergen möchte. Sie plappert einfach drauflos, ein oberflächliches, harmloses Geschwätz, dem Eileen Goudge den Schmerz und die Selbstverachtung gegenüberstellt, die Sylvie innerlich zu zerreißen drohen. Es dauert nicht lange, und Rose fragt rundheraus, ob Sylvie die Frau ist, die ihr einst den Ohrring geschenkt hat. Sylvie sehnt sich danach, die Wahrheit zu sagen, hat aber gleichzeitig das Gefühl, das Geheimnis sei schon so sehr Teil ihres Selbst geworden, daß seine Enthüllung einem Selbstmord auf Raten gleichkäme. Also lügt sie und geleitet Rose zur Tür, wobei sie sich so elend fühlt, daß sie am liebsten auf der Stelle sterben würde. Die erste Bewegung in der Szene führt deutlich abwärts. Beide Personen haben versagt. Damit die Handlung weitergehen kann, ist eine Umkehr erforderlich. Sehen wir uns an, wie Eileen Goudge das bewerkstelligt. Während Sylvie Roses Mantel holt, fällt der Blick der jungen Frau (und unserer gleichfalls, denn von nun an erleben wir die Szene aus ihrer Perspektive) auf ein Porträt, das Sylvie als junge Frau zeigt. Rose fällt »etwas Rotes, Leuchtendes unter ihrem Ohr« auf, »ein in Gold gefaßter Rubin, der wie eine Träne geschliffen war«. Rose ist so erschüttert, daß es ihr fast die Sprache verschlägt. Mit gepreßten Worten bezichtigt sie Sylvie der Lüge. Sylvie stolpert. Als sie sieht, wie Rose den einzelnen Rubinohrring berührt, den sie trägt, zuckt sie zusammen wie unter einem Schlag. Rose, die nun absolut sicher ist, daß Sylvie sie belogen hat, fragt, wer sie ist. Sylvie sitzt in der Falle. Mit dem Rücken zur Wand antwortet sie: »Ich bin deine Mutter.« Das ist ein erschütternder Augenblick, aber noch immer nicht der Höhepunkt der Szene. Während Sylvie halbherzig ihre Geschichte erzählt und ebenso halbherzig um Verzeihung bittet, spitzt sich das Drama immer mehr zu. Rose ereifert sich zusehends, verdammt Sylvie, packt sie schließlich sogar bei den Schultern. Sie wirft ihr vor, sie während des Krankenhausbrandes im Stich gelassen zu haben wie einen streunenden Hund oder eine streunende Katze. Die Kluft zwischen ihnen scheint unüberbrückbar. Rose stürmt zur Tür. Die schreckliche Wahrheit ist heraus. Rose hat ihrer Wut freien Lauf gelassen, und beide Frauen fühlen sich noch elender als zuvor. Zur Fortsetzung der Szene bedarf es nun einer erneuten Umkehr. Achten Sie darauf, was der Autorin jetzt einfällt: Sylvie bittet Rose zu warten. Rose weiß, sie sollte lieber gehen, doch ein Teil von ihr sehnt sich immer noch nach der Mutterliebe, die ihr zeitlebens vorenthalten wurde. Da stürzt Sylvie ohne Mantel und Pullover hinaus in den verschneiten Garten und versucht, bei klirrender Kälte mit bloßen Händen einen Ziegelstein aus der Hausmauer zu ziehen. Rose, die sieht, daß Sylvie schon blau anläuft vor Kälte, Schmerz und Tränen, fällt neben ihr auf die Knie und versucht sie zum Innehalten zu bewegen. Da gibt der Stein endlich nach. »Hier«, sagt Sylvie und hält Rose den 101
zweiten Rubinohrring entgegen. Das ist eine Überraschung, aber ebenfalls eine, auf die wir gut vorbereitet waren. Rose glaubt, ihr Herz wolle sich überschlagen. Ihre Wut ist verraucht. Es ist ein bemerkenswerter Wendepunkt, die zarte Andeutung eines möglichen Friedens. Gemeinsam begeben sich die beiden wieder ins Haus. Das emotionale Klima wandelt sich. Aus der vorübergehenden Akzeptanz wird eine partielle Versöhnung – keine vollkommene Umkehr diesmal, doch eine Aufwärtsbewegung. Auf dem Weg zu einer weiteren Annäherung liegt nur noch ein Stolperstein. Sylvie bittet Rose, Rachel nicht einzuweihen, worauf Rose zunächst vorwurfsvoll und ärgerlich reagiert. Schließlich aber sieht sie ein, daß Rachel an der ganzen Angelegenheit völlig unschuldig ist, auch wenn Rose spürt, daß sie ihren Zorn auf Rachel nie ganz überwinden wird. Entscheidend an dieser Stelle ist jedoch, daß Rose genau das begehrt, was Sylvie ihr anbietet – Freundschaft, aus der später einmal persönliche Nähe oder sogar Liebe werden kann. Nach einer emotionalen Bergund Talfahrt erreicht die Szene das angestrebte Ziel. Zwei Leben haben sich verändert. Mutter und Tochter haben nach jahrzehntelanger Trennung in einer ebenso aufregenden wie anrührenden Begegnung wieder zueinander gefunden, auch wenn die neue Beziehung vorerst noch sehr zerbrechlich ist. Obligatorische Szenen in anderen Erfolgsromanen Aus Platzgründen müssen wir hier auf die Analyse anderer großer Szenen verzichten. Hier nur ein Hinweis auf einige Beispiele, die Sie am besten selbst einmal durcharbeiten: Die Begegnung zwischen Scarlett und Rhett im letzten Kapitel von Vom Winde verweht; das siebte Kapitel der Dornenvögel, in dessen Mittelpunkt der Tod Mary Carsons und die Versuchung Ralph de Bricassarts stehen; Kapitel zwanzig und einundzwanzig von Im Garten der Lügen mit der ersten Wiederbegegnung zwischen Rose und Brian, nachdem dieser Rachel geheiratet hat. Achten Sie vor allem auf die jeweilige Vorbereitung der Szene, die Überraschungseffekte, die Intensität des Konflikts, die wechselseitigen Hoffnungen und Erwartungen der Beteiligten, den Einfluß auf das Leben der Betroffenen sowie auf die Länge der Szene. Ihre eigenen großen Szenen Nun werfen Sie einen Blick auf Ihr eigenes Manuskript beziehungsweise Ihren Entwurf. Sind darin genügend große Szenen enthalten (oder vorgesehen) – Episoden, die das Schicksal einer Romanfigur oder das Beziehungsgefüge zwischen mehreren Personen nachhaltig beeinflussen? Wenn nicht, kann ich nur eine Überarbeitung und den Einbau zusätzlicher Szenen empfehlen. Die gesamte Palette der Aktivitäten, die das menschliche Leben beeinflussen, steht Ihnen dabei zur Verfügung – von Geburten bis zu Heiratsanträgen, von Hochzeiten über natürliche Sterbefälle bis hin zu mörderischen Verbrechen. Überprüfen Sie als nächstes, ob zumindest einige Ihrer Szenen auch die entsprechende Länge besitzen. Wird der zentrale Konflikt oder die das Geschehen beherrschende Emotion lange genug aufrechterhalten, um den Leser nachhaltig zu beeindrucken? Betrachten Sie dies bitte nicht als Aufforderung, eine Szene mit weiteren Dialogzeilen oder Beschreibungen aufzufüllen, nur damit sie länger wird. Überlegen Sie vielmehr, inwieweit sich Ihr Text durch neue Verwicklungen, Komplikationen, Enthüllungen, Umkehrungen und Überraschungen, die die Spannung erhöhen und für zusätzliche emotionale Höhen und Tiefen sorgen, ergänzen ließe. Wenn Ihnen dazu nicht gleich etwas einfallen will, blättern Sie zurück, vollziehen noch einmal den zu Beginn dieses Kapitels geschilderten Aufbau der Beispielszenen nach und versuchen dann, die gleichen Techniken auf Ihre eigenen Charaktere und deren Geschichte anzuwenden. Sie können sogar versuchen, eine dieser Szenen zum Vorbild zu nehmen und deren emotionale Dynamik auf Ihre eigenen Personen und Situationen zu übertragen. Im vorigen Kapitel ging es ganz allgemein um den Aufbau einzelner Szenen. Sehr wichtig, ja entscheidend ist, daß Sie schon früh in Ihrem Roman mit den Vorbereitungen auf die »großen 102
Szenen« beginnen. Lesen Sie Ihren Entwurf oder Ihr Manuskript kritisch durch. Haben Sie die Saat ausgebracht, die im Kopf des Lesers Fragen sprießen läßt und ihn neugierig macht auf die brisanten Begegnungen und Konfrontationen, die Sie ihm bieten werden? Vergessen Sie auch nicht, daß Ihre großen Szenen bis zu einem gewissen Grad von Überraschung und Koinzidenz abhängig sind, von Menschen, Dingen oder Ereignissen, die so plötzlich und unerwartet auftreten wie der vielzitierte Blitz aus heiterem Himmel. Zur Wahrung der Glaubwürdigkeit sollten aber auch diese Überraschungen und Zufälle subtil – oder wenigstens einigermaßen subtil – vorbereitet sein. Sie erinnern sich: Als Scarlett die Porzellanschale an den Kamin schleudert, steht plötzlich Rhett Butler vor ihr. Hätte Margaret Mitchell ihn nicht schon an einer früheren Stelle in dem Kapitel eingeführt, wäre diese Szene nicht annähernd so geglückt. Sehen Sie sich auch den Schluß Ihrer Geschichte noch einmal genau an. Enthält er eine große Szene, in der die Hauptkontrahenten aneinandergeraten und ihr Problem lösen, im Guten oder im Schlechten? Sie meinen, Ihre Geschichte vertrage oder enthalte keine zwei so gegensätzliche Wesen? Was dann? Nun, Ihr Finale bedarf ja vielleicht nicht unbedingt eines so explosiven Höhepunkts wie in Der Mann aus St. Petersburg, in dessen Schlußszene Felix stirbt und Charlotte dem Tod nur knapp entrinnt. Haben Sie jedoch ernsthaft vor, einen Bestseller zu schreiben, so wird Ihnen nichts anderes übrigbleiben, als den Plot noch einmal zu überdenken und auf eine obligatorische Szene auszurichten, deren emotionale Kraft sich mit der verzweifelten Entschlossenheit messen kann, der wir in der letzten Szene zwischen Scarlett und Rhett begegnen.
10 Verknüpfung von Handlungssträngen Bei der Planung eines Bestsellerromans ist es mit den bereits behandelten Techniken für Entwurf und Szenenaufbau in der Regel noch nicht getan. Es gibt weitere Strategien, die berücksichtigt werden müssen. Eine davon besteht darin, eine Geschichte nicht mit der ersten Begegnung der Hauptfiguren oder einem anderen naheliegenden Ereignis beginnen zu lassen, sondern an einem Punkt, da die Handlung schon voll im Gang ist und bereits auf einen Höhepunkt zustrebt. Von hier aus wird auf die »Initialereignisse« zurückgeblendet, die zeitlich mitunter schon lange vor den Geschehnissen auf den ersten Seiten oder in den ersten Kapiteln stattfanden; diese nennt man Hintergrundstory. Oft sind solche Begebenheiten aus der Vergangenheit zumindest einer der beteiligten Personen unbekannt, und ihre Enthüllung wird zu einem Hauptmovens der aktuellen Romanhandlung. Manchmal gelingt es auf diese Weise, einen sonst nur mäßig spannenden Plot in eine aufregende, spannende Angelegenheit zu verwandeln. Selbst bei Geschichten, die nahezu ausschließlich in der Gegenwart spielen, kann eine aus der Vergangenheit herrührende Komplikation der Handlung das Geschehen beträchtlich dramatisieren. Hintergrund Der erste, nur für Sie selbst bestimmte Entwurf, in dem Sie die Grundzüge der Handlung festlegen, sollte in der Tat bei jenem Ereignis beginnen, das Sie als »Initialzündung« Ihrer Geschichte ansehen. Sie können dabei zeitlich so weit zurückgehen, wie es Ihnen interessant und sinnvoll erscheint, vielleicht so wie Ken Follett im dritten Entwurf zu Der Mann aus St. Petersburg. Versehen Sie Ihre Hauptfiguren mit Biographien, aus denen deutlich hervorgeht, 103
wie und warum sie wurden, was sie sind. Bestimmen Sie präzise, welche wesentlichen Ereignisse sich zwischen diesen Personen abgespielt haben. Entscheiden Sie dann, zu welchem (späteren) Zeitpunkt im Leben der Personen die Romanhandlung beginnen soll, wieviel von der Hintergrundstory im Roman dramatisiert und wie und wo dies präsentiert werden soll – sei es erzählend durch den Autor, in der Erinnerung einer der Personen, in einer dramatischen Rückblende oder in einer Mischform aus mehreren Techniken. Hintergrund in Der Mann aus St Petersburg In Der Mann aus St. Petersburg dient die Liebesaffäre zwischen Felix und Lydia, die zu Beginn der eigentlichen Romanhandlung bereits neunzehn Jahre zurückliegt, als Initialereignis für mehrere entscheidende Wendepunkte im Handlungsverlauf. Außerdem bereichert sie den Roman insgesamt um eine emotionale Spannung und Tiefe, wie man sie nur selten in einem Thriller findet, in dem sich das Hauptgeschehen um einen Mordversuch dreht. Die eingehende Analyse all dessen, was Follett mit dieser einen kurzen Hintergrundepisode erreicht (die allerdings alle vier Hauptpersonen nachhaltig beeinflußt), würde sicher zwanzig bis dreißig Seiten füllen. Ich werde mich daher auf die ersten vier Kapitel beschränken. Wenn Sie Interesse haben, können Sie die Analyse anschließend ja bis zum Ende des Buches selbst fortsetzen. Nach der Szene zwischen Walden und Churchill im ersten Kapitel folgen einige Absätze aus Lydias Sicht, die ebenfalls die Gegenwartssituation beschreiben. Dann blendet Follett rasch und nahtlos um und läßt Lydia an den bevorstehenden Besuch von Alex denken. »Sein Anblick würde sie an einen anderen jungen Russen erinnern, den Mann, den sie nicht geheiratet hatte.« Um den Bericht über ihre Vergangenheit lebendig zu gestalten, bedient sich Follett einer Mischung aus Erzählung des Autors sowie aus Erinnerungen und inneren Monologen Lydias. Wir erfahren vielsagende gefühlsbetont-bildhafte Einzelheiten über den jungen Mann (»seine weiße Haut ..., sein dunkles, flaumiges Körperhaar und die ungewöhnlich schönen Hände«). Mehr noch: Follett läßt uns wissen, daß sich die verheiratete Gräfin mittleren Altes insgeheim noch immer nach der wilden, hungrigen Liebe ihrer Jugend sehnt. Sie hat deswegen ein schlechtes Gewissen und bittet Gott, daß sie ihre Geheimnisse nie preisgeben muß. Um was genau es geht, erfahren wir jetzt natürlich noch nicht. Zu Beginn des Romans läßt uns Follett nur ahnen, was damals geschah. Wir erfahren gerade so viel, wie nötig ist, um zu zeigen, daß Lydia vor etwas Angst hat und daß eine Bedrohung über ihr schwebt. Unsere Neugier wird angeregt. Wir wollen wissen, welche Geheimnisse es sind, die Lydia belasten, und ob es ihr tatsächlich gelingt, sie zu bewahren. Auch Felix wird in der Gegenwart vorgestellt. Er sitzt im Zug von Dover nach London. Eine daran anschließende Szene mit Genfer Anarchisten aus der unmittelbaren Vergangenheit erläutert den Grund seiner Reise nach England und umreißt zum erstenmal seinen Charakter. Im zweiten Kapitel stößt er einen Mann vom Fahrrad und stiehlt es. Die Selbstbeobachtung, daß er keine Angst hat, löst die Erinnerung an eine elf Jahre zurückliegende Episode aus, die Felix lehrte, daß ein furchtloser Mann alles tun kann. In einer zweiseitigen Rückblende schildert Follett, wie der beinahe erfrorene, ausgehungerte Felix einst einem Polizisten das Essen stahl, den Mann erwürgte und sich schließlich in den kostbaren Stiefeln und Kleidern des Toten davonmachte. Beachten Sie die Knappheit der Szene. Kein Wort über Felix´ Eltern, Kindheit, Schulzeit, politische Tätigkeit. Wir erfahren nur, daß er ein entflohener Kettensträfling ist, dem unter fürchterlichen Entbehrungen eine fast zweitausend Kilometer lange Flucht gelungen ist. Außerdem wissen wir jetzt, daß er, wenn man ihn herausfordert, buchstäblich zu allem fähig ist. Am Ende haben wir im Rahmen einer dramatischen Geschichte Felix´ Werdegang kennengelernt und sind uns darüber im klaren, daß mit diesem formidablen Burschen noch zu rechnen sein wird. Mitten in den Turbulenzen der aktuellen Handlung erinnert sich im zweiten Kapitel auch Lord Walden an vergangene Ereignisse. Im Anschluß an ein Schäferstündchen mit seiner Frau denkt er an den Tag, an dem er sie einst kennenlernte. Es war auf einem Empfang in St. 104
Petersburg, wo ihn ihr wildes, leidenschaftliches Klavierspiel faszinierte. In derselben Nacht erfuhr er vom Tod seines Vaters und entschied, daß er als neuer Lord Walden nun eine Frau brauchte. Schon am nächsten Tag hatte er Lydias Vater um die Hand seiner Tochter gebeten, und sechs Wochen später fand die Hochzeit statt. Seitdem sind neunzehn Jahre ins Land gegangen, und Walden ist immer noch hilf- und hoffnungslos in Lydia verliebt. Nur etwa vier Seiten Erinnerung und Rückblende reichen aus, um uns in groben Zügen mit Stephens Herkunft und Erziehung, seinem Verhältnis zum Vater, seinen jugendlichen Ausschweifungen, seiner Entschlossenheit und seiner Liebesfähigkeit vertraut zu machen. Beachten Sie außerdem, daß Follett unter Hunderten denkbarer Szenen aus Waldens früherem Leben eine sehr enge Auswahl trifft. Alles, was wir über Walden wissen, erfahren wir aus dem Kontext seiner Begegnung und Heirat mit Lydia. Die Ironie der Situation – daß Lydia nämlich zur selben Zeit in eine heiße Liebesaffäre mit Felix verstrickt war – wird uns hier noch nicht klar, aber wir werden darauf vorbereitet. Erst im vierten Kapitel dramatisiert Follett dieses Thema. Vorerst geht es ihm nur darum, Waldens große Liebe zu Lydia hervorzuheben; sie wird zu einem wichtigen Baustein des Romangeschehens und steigert gegen Ende des Buches, als Walden erfährt, daß Lydia ihn einst betrogen hat, die emotionale Wirkung. Interessant ist auch, daß Follett uns die Episode hier zunächst ausschließlich aus Waldens begrenzter Perspektive erleben läßt. Als er später aus einer völlig anderen Perspektive wieder darauf zurückkommt, erhält diese Episode durch den Wechsel der Perspektive zusätzliches Gewicht. Die bis hierher diskutierten drei Einschübe aus der Vergangenheit sind aufschlußreich. Sie werden mehr oder minder dramatisch präsentiert, doch ihre oberste Funktion besteht darin, die Personen genauer zu erfassen, unser Wissen über Lydia, Felix und Stephen zu vertiefen. Außerdem bereiten sie uns auf einige der großen Action-Szenen vor, die auf uns zukommen. Die erste dieser Szenen – und zudem eine, in der ein vergangenes Ereignis unmittelbar in die aktuelle Handlung eingreift – ist der Überfall auf die Kutsche der Waldens: Felix reißt die Tür auf. Als er den ihm so vertrauten Schrei einer Frau hört und diese gleich darauf als Lydia erkennt – seine Lydia, von der er noch genau weiß, wie sie aussah, als sie nackt unter ihm lag! –, verliert er für einen Augenblick die Übersicht, so daß Walden ihm mit dem Spazierstock Hand und Schulter verletzen kann. Der verwundete Anarchist, dessen Arm kraftlos herunterhängt, muß fliehen. Im ersten Viertel des Buches ist alles auf Felix´ Attentat auf Orlow ausgerichtet, das jedoch mißglückt, weil der Attentäter eine Stimme und ein Gesicht aus seiner Vergangenheit hört und sieht. Daß Felix hier versagt, ist von entscheidender Bedeutung. Hätte er Erfolg gehabt, so wäre der Roman schon zu Ende, bevor er noch richtig begonnen hat. Der Plot verdichtet sich nun: Walden weiß, daß er und Orlow in Lebensgefahr schweben, und leitet Gegenmaßnahmen ein, um dem mysteriösen Attentäter das Handwerk zu legen. Felix gibt seinen Mordplan natürlich nicht auf, sondern intensiviert seine Bemühungen, an den russischen Fürsten heranzukommen. Follett hätte Felix´ ersten Anschlag aus tausend anderen Gründen scheitern lassen können. Daß er sich ausgerechnet für jene sekundenlange Lähmung entscheidet, die Felix befällt, als er seine einstige Geliebte wiedererkennt, ist ein Geniestreich. Was für eine Wiederbegegnung zwischen Felix und der großen Leidenschaft seiner Jugend! Als Felix nach dem fehlgeschlagenen Attentat wieder in sein möbliertes Zimmer zurückkehrt, erfahren wir endlich die Hintergründe der Liebesaffäre sowie die Gründe dafür, warum man ihn damals verhaftete und folterte. Das jäh beendete Liebesverhältnis mit Lydia liegt zwar schon neunzehn Jahre zurück, doch achten Sie auf die Ähnlichkeiten mit der Methode Puzos: Auch dieser beginnt mit einem großen Knalleffekt, blendet danach zurück in die Vergangenheit und dramatisiert die Vorgeschichte. Follett schöpft bis zum Ende des Romans immer wieder aus der gleichen Quelle: Die lang zurückliegende Affäre dient ihm als Anlaß für Verwicklungen, als Kontrast und als Movens für die aktuelle Handlung. 105
Hintergrund-Techniken In umfangreichen Romanen wie Vom Winde verweht oder Der Pate, in denen kein Geheimnis aus früherer Zeit die aktuelle Handlung mitbestimmt, wird die Hintergrundstory nicht häppchenweise in die Gegenwartshandlung eingestreut, sondern in ein oder zwei eigenen Kapiteln en bloc erzählt. Immerhin fällt auf, daß auch Vom Winde verweht nicht damit beginnt, daß Scarlett Ashley kennenlernt und sich in ihn verliebt. Als Margaret Mitchell uns ihre Heldin vorstellt, ist diese bereits verrückt nach Ashley. Der Tag oder Augenblick, da sie sich dessen bewußt wurde, wird weder beschrieben noch dramatisiert. Das ist auch gar nicht nötig; Scarletts aktuelle Leidenschaft ist völlig ausreichend. Ein zwanzigseitiges Kapitel ist dagegen der Vergangenheit ihrer Eltern, Gerald und Ellen, gewidmet. Es beleuchtet bestimmte Charakterzüge wie die Entschlossenheit des Vaters oder die organisatorischen Fähigkeiten der Mutter – Züge, die Scarlett geerbt oder übernommen hat. Das Kapitel schildert die Geschichte Taras und der Familie in ihrem Umfeld in North Georgia und stellt den Roman in einen soliden Rahmen aus den Sitten und Gebräuchen der Region sowie aus politischen und gesellschaftlichen Haltungen und Standpunkten. Hier liefert die Hintergrundstory sowohl eine Begründung für Scarletts lebhaften Charakter als auch die Basis für die detailliert beschriebene Welt, in der sie lebt. Beachten Sie, daß beide – Follett im Mann aus St. Petersburg und Mitchell in Vom Winde verweht –, bevor sie sich auf detaillierte Hintergrundschilderungen einlassen, zunächst einmal dafür sorgen, daß die aktuelle Handlung in Gang kommt. Das ist ein wichtiger Punkt. Unerfahrene Autoren tauchen mitunter, kaum daß sie eine Figur vorgestellt haben, in die Vergangenheit ab, lassen also dem Leser keine Zeit, sich mit dem aktuellen Anliegen der Person zu identifizieren. Das ist keine gute Taktik. Der Autor sollte seine Helden zuerst im Kontext ihrer unmittelbaren Probleme oder Zwangslagen vorstellen. Danach sind wir als Leser viel eher geneigt, uns auch für deren Vergangenheit zu interessieren. In Der Pate läßt uns Mario Puzo fast bis zur Buchmitte warten, ehe er eine über dreißigseitige Hintergrundstory einschiebt. Wie Margaret Mitchell in Vom Winde verweht schafft der Autor hier eine Art Fundament; darüber hinaus dient das Kapitel aber noch einem besonderen, ganz speziellen Zweck: Obwohl Don Vito Corleone einer Organisation aus Erpressern, Räubern und Mördern vorsteht, ist er der Held des Romans, der unser Interesse finden, an dessen Schicksal wir Anteil nehmen, ja, den wir sogar bewundern sollen. Die Geschichte vom zwölfjährigen Jungen, der vor den Mördern seines Vaters fliehen mußte, vom Familienvater, der nach dem Verlust seines Kolonialwarenladens an den Neffen eines mörderischen Verbrechers nicht mehr imstande war, seine Familie zu ernähren, der stehlen mußte, um über die Runden zu kommen, und schließlich von demselben Verbrecher ausgeplündert wurde – diese Geschichte stellt den Don als verfolgte Seele dar, als einen Mann, der versucht, ein anständiges Leben zu führen, sich jedoch wehrt, wenn er unter Druck gesetzt wird. Nach dieser Hintergrundstory begreifen wir, wie Corleone zu dem Mann werden konnte, der er ist, und können uns sogar vorstellen, daß wir an seiner Stelle nicht viel anders gehandelt hätten. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß, verglichen mit der aktuellen Handlung, die Hintergrundstory in allen drei Romanen recht kurz gefaßt ist. Im allgemeinen empfiehlt es sich, die Vergangenheit (sei es in Rückblenden oder Erinnerungen) dann einzubringen, wenn sie sich unmittelbar auf das gegenwärtige Geschehen auswirkt. Beachten Sie, daß Follett die einstige Liebesaffäre zwischen Lydia und Felix erst nach dem fehlgeschlagenen KutschenAttentat beschreibt. Wir verstehen nun, warum Felix vorübergehend wie gelähmt ist, erfahren die Hintergründe jedoch im Verlauf einer spannenden Handlung. Eine ähnliche, nicht minder gute Technik besteht darin, an dem Punkt, an dem eine Figur vor einer wichtigen Entscheidung steht, zurückzublenden und das vergangene Ereignis als Begründung oder auslösenden Faktor für die Entscheidung darzustellen, zu der der oder die Betroffene sich schließlich durchringt. Im Prolog zu Im Garten der Lügen haben bei Sylvie die Wehen eingesetzt. Auf dem Weg ins nahegelegene Lenox Hill Hospital erinnert sie sich 106
an ihre Hochzeitsnacht, an ihren reichen Mann, dem sie dankbar ist, doch dessen Körper sie abstößt, und schließlich an ihren Liebhaber Nikos. Und dann sagt sie dem Taxifahrer, er möge sie doch lieber ins St. Pius Hospital in der Bronx fahren. Dort wird sie ihr Mann aller Wahrscheinlichkeit nach nicht finden. In Fällen wie diesem dient die Hintergrundstory nicht nur als Fundament für den Roman und zur Vertiefung der Charaktere, sondern auch als Movens des aktuellen Geschehens. In Kriminalromanen geht es um nichts anderes als um die Auflösung der Hintergrundstory, die der Autor daher zwangsläufig schon früh einbauen muß. Aber in vielen Büchern dieses Genres werden die Schlüsselereignisse aus der Vergangenheit erst zusammen mit der Lösung des Falles im letzten oder in den beiden letzten Kapiteln eingebracht. Sie müssen daher nicht unbedingt Auswirkungen auf die Handlung insgesamt haben. Andererseits kann die Hintergrundstory, wie etwa in Scott Turows Büchern Aus Mangel an Beweisen und Die Bürde der Wahrheit, allgegenwärtig sein und in buchstäblich jedem Kapitel die aktuelle Handlung bestimmen. Beide Bücher sind exzellente Beispiele für Romane, die auf einer Kette von vergangenen Geschehnissen aufbauen, die genauso faszinierend sind wie die Ereignisse in der Gegenwart und diese immer wieder prägen. Schließlich sollte ich nicht unerwähnt lassen, daß es durchaus auch Bestseller gibt, die – wie die meisten Filme – ohne oder fast ohne Hintergrundstory auskommen. So spielt etwa Die Firma von John Grisham ausschließlich in der Gegenwart. Einige vergangene Ereignisse werden erwähnt und sogar ein wenig genauer betrachtet: die frühere Untersuchung durch das FBI, der unaufgeklärte Tod zweier Teilhaber, die sich vor dem Eintritt des jungen Anwalts und Romanhelden in die Firma ereigneten, sowie die Inhaftierung von dessen Bruder. Szenen, die insgesamt in der Vergangenheit spielen, gibt es in diesem Roman indessen nicht. Zwar entgehen dem Autor dadurch verschiedene Möglichkeiten zur Vertiefung seiner Charaktere, doch gleicht er dieses Manko durch den atemberaubend schnellen Handlungsablauf aus. Eine detaillierte Hintergrundstory wird Ihnen bei Ihrem Romanprojekt sicher helfen. Schreiben Sie Kurzbiographien für jede Ihrer Hauptfiguren, und achten Sie darauf, daß sich wenigstens einige Lebenswege in der Vergangenheit kreuzen. Beachten Sie jedoch, daß sich die Einzelheiten im fertigen Roman möglicherweise ganz oder teilweise erübrigen, also nicht alle in den Text eingearbeitet werden müssen. Vielleicht bringt es Ihnen mehr, die Handlung strikt in der Gegenwart anzusiedeln und die Vergangenheit Ihrer Figuren nur hie und da zur Vertiefung und Pointierung anklingen zu lassen – in kleineren Glücksmomenten und Konflikten oder in versteckten Anspielungen. Denkbar ist auch, daß es Ihrem Roman am besten bekommt, wenn Sie einige wenige brisante Ereignisse aus der Vergangenheit Ihrer Figuren auswählen und nur diese dramatisieren. Im Idealfall sollte es sich dabei um Wendepunkte im Leben der Figuren handeln, egal ob zum Guten oder zum Schlechten. Werden die Szenen als Rückblende oder Erinnerung präsentiert, so können sie auch zur Begründung aktueller Entscheidungen des Betroffenen herangezogen werden. In diesen Fällen lassen sich Rückblenden meist nahtlos ins Gegenwartsgeschehen einpassen. Während die rein narrative Darstellung der Lebensgeschichte Ihrer Figuren der Handlung allen Schwung nehmen kann, bleibt die Dynamik bei der Reduzierung der Vergangenheit auf ein oder zwei beispielhafte, gut dramatisierte Szenen erhalten. Konzentration auf die Hauptfiguren Ein zweites Element des Handlungsaufbaus, das wir uns genau ansehen sollten, ist die Plazierung und Präsentation der Anliegen (der kurz- und langfristigen Ziele) der einzelnen Hauptpersonen, die stets so erfolgen sollten, daß sich die Handlung dadurch wie von selbst weiterentwickelt. Auch sollten die Schlüsselfiguren stets im Zentrum der großen Szenen stehen. Neue oder zweitrangige Personen, die den Leser wenig oder überhaupt nicht interessieren, dürfen allenfalls am Rande vorkommen, denn unsere Neugier und Anteilnahme ist generell auf die Hauptpersonen konzentriert. 107
Felix begegnet uns zum Beispiel in Szenen mit Hauswirtinnen, Anarchistenfreunden und diversen Opfern seiner Raub- und Mordtaten, doch die wirklich großen Szenen bestreitet er entweder allein oder gemeinsam mit Lydia, Charlotte oder Walden, und zwar ausschließlich mit ihnen. Zu einer verbalen Auseinandersetzung zwischen ihm und Walden kommt es nie, doch es ist Walden, der ihn in der Kutsche mit dem Spazierstock verletzt und im Savoy die Nitroglyzerinflasche auffängt. Und als die Polizei Felix über die Dächer verfolgt, erleben wir die Jagd ebenfalls durch Felix´ respektive Waldens alles andere als unbeteiligte Augen. Bemüht, sich von den Fesseln ihrer restriktiven Erziehung zu befreien, stiehlt sich Charlotte heimlich davon und schließt sich dem Protestmarsch der Suffragetten an. Felix, der in der Hoffnung, noch einmal an Orlow heranzukommen, das Haus überwacht, folgt ihr und rettet sie. Es dauert nicht lange, und er erkennt, daß sie seine leibliche Tochter ist, und nach einer Weile gelingt es ihm sogar, sie in seinen Mordplan einzubeziehen. Wobei der springende Punkt darin besteht, daß Charlotte, obwohl wir sie auch in Szenen mit Belinda, Mrs. Pankhurst, dem »gefallenen« Hausmädchen Annie und anderen Personen erleben, ihre großen Auftritte ausschließlich mit ihrer Mutter, mit Walden oder mit Felix hat. Das gleiche gilt im übrigen auch für Lydia und Stephen. Die Konsequenz, mit der Follett diese Personen immer wieder zueinanderführt, gleicht einem Parforceritt durch die Kunst des Plots. Nicht zu viele Personen! Zur Konzentration auf die Hauptfiguren gehört auch die Streichung unnötiger Personen. Zumindest sollten Schilderungen aus der Perspektive von Nebenfiguren unterbleiben; sie lenken den Autor nur davon ab, sich auf jene Charaktere zu konzentrieren, auf die es wirklich ankommt. In Folletts drittem Entwurf haben Dieter Hartmann und Andre Barre nur je drei Auftritte. Hartmann kauft und testet die Duellpistolen, und er begleitet Felix zu dem Ball, auf dem das Attentat stattfinden soll. Aber wird er tatsächlich gebraucht? Wäre er bei dem Mordanschlag nicht bloß eine Ablenkung? Und wäre es für uns, die Leser, nicht viel interessanter, wenn wir Felix bei der Waffenbeschaffung allein begleiten könnten? Ken Follett hat diese Schlüsse offenbar alle selbst gezogen, denn in der Endfassung von Der Mann aus St. Petersburg verzichtet er sowohl auf den deutschen Geheimagenten als auch auf den französischen Bolschewisten und konzentriert sich ganz auf Felix. Bonnie, die Frau, mit der Walden einst ein Techtelmechtel hatte, das er nun wieder aufnimmt, kommt in allen Entwürfen außer dem ersten vor. Im vierten fällt ihr sogar die wichtige Aufgabe zu, Walden über seine Unfruchtbarkeit aufzuklären und ihm klarzumachen, daß Charlotte gar nicht seine Tochter sein kann. Ganz anders – und unvergleichlich pointierter und dramatischer – lesen wir es im fertigen Buch: Hier ist es Lydia, die ihm die Wahrheit beibringt, seine eigene Frau, die er in der Endversion mehr und leidenschaftlicher liebt als in irgendeinem der Entwürfe! Die Streichung von Bonnie führt nicht nur zu einer weiteren Konzentration, sondern gibt Walden auch mehr Format, weil er nun nicht mehr gleich bei der ersten Andeutung ehelicher Unstimmigkeiten Trost bei einer anderen Frau sucht, sondern sich mannhaft um die Bewältigung der Krise bemüht. Vom Winde verweht wirkt beim ersten Lesen wie ein breites Panorama, das sich um dramaturgische Regeln nicht zu scheren scheint. Scarlett hat wichtige, zum Teil große Auftritte mit Gerald, Mammy, Charles Hamilton, Prissy, Frank Kennedy, Johnny Gallegher, dem diebischen Yankee-Kavalleristen, mit Melanie, Jonas Wilkerson und mindestens einem Dutzend anderer Personen. Doch obwohl dieser Roman dahinzufließen scheint wie ein mächtiger Strom und sich anschickt, ganze Epochen zu schildern – den Frieden, einen mörderischen Krieg, eine verheerende Wiederaufbauphase –, und obwohl Dutzende von Personen und deren Beziehungen untereinander ausführlich dargestellt werden, ufert der Erzählfluß nicht aus, weil es in Wirklichkeit nur zwei Beziehungen sind, die ihn vorantreiben: die Beziehung zwischen Scarlett und Ashley und die zwischen Scarlett und Rhett. Abgesehen 108
von einer einzigen, etwa hundert Seiten umfassenden Passage ungefähr in der Buchmitte – Ashley und Rhett sind an der Front, und Scarlett ist wieder auf Tara und schindet sich ab, um die hungrigen Mäuler in ihrem Haus zu stopfen und die zerstörte Plantage wieder aufzubauen – gelingt es Margaret Mitchell buchstäblich in jedem Kapitel (und oft in konfliktreichen Situationen), eine der beiden männlichen Hauptfiguren präsent sein zu lassen, entweder körperlich oder aber als dominanter Faktor in Scarletts Gedanken. Die Autorin lenkt den Plot mal in diese und mal in jene Richtung, so daß sich zwischen den emotional am stärksten beteiligten Personen immer wieder neue Szenen ergeben. Zwar wiederholt sich in diesen Szenen hin und wieder das eine oder andere Element, im großen und ganzen bringen sie aber immer wieder frische, neuartige Aspekte in die Handlung ein. Eine genaue Analyse dieser Szenen würde den Rahmen dieses Kapitels sprengen. Für Sie wäre es aber sicher lohnend, wenn Sie sich, mit der geschilderten Plot-Entwicklung im Hinterkopf, Vom Winde verweht noch einmal ansehen und dabei nur auf die Progression dieser Szenen und ihres Inhalts konzentrieren würden. Vielen Autoren fällt es anscheinend leichter, einen neuen Handlungsstrang mit der Einführung einer neuen Figur zu koppeln, der dann die Aufgabe zufällt, die neue Entwicklung zu gestalten. Eine solche Einstellung kommt wohl auch unserem Verständnis von »Realismus« näher. Doch wenn eine bereits existierende Figur, deren Perspektive wir bereits kennen, in die Szene eingebaut werden kann, bietet sich die Chance, die Gestaltung der Person zu bereichern und die Szene emotional aufzuladen. Ein Beispiel: In Der Mann aus St. Petersburg hat Basil Thomson mit seinen Polizisten das Versteck von Felix aufgestöbert, und nun wollen sie ihn zur Strecke bringen. Eigentlich würde man erwarten, daß die Aktion aus der Sicht des Cheffahnders Thomson oder eines der Polizeioffiziere geschildert werden würde. Aber klugerweise läßt Ken Follett statt dessen Walden zum Schauplatz rufen, was im realen Leben wahrscheinlich nicht vorstellbar wäre. Nur: Das bemerkt der Leser in seiner Aufregung nicht. Was für ihn zählt, ist das Schicksal Waldens, der ihn viel mehr interessiert als Thomson oder irgendein gesichtsloser Polizist. Walden seinerseits beherrscht ein nahezu verzweifeltes Interesse an Felix´ baldiger Verhaftung. Seine frenetische, zum Schluß jedoch enttäuschte Hoffnung und Felix´ rasende Wut verleihen der Szene eine Kraft und Dynamik, wie sie die halsbrecherische Verfolgungsjagd allein niemals erzeugt hätte. Verknüpfung der Handlungsstränge in Ihrem Roman Wenn Sie die obigen Ausführungen gelesen und verstanden haben, sollten Sie sich wieder an Ihren eigenen Entwurf oder das Ihnen vorliegende Rohmanuskript begeben und jede Szene auf ihre Wirkung und ihr emotionales Gewicht abklopfen. Bei Szenen, in deren Mittelpunkt nicht einer Ihrer Hauptcharaktere steht, besteht die Gefahr, daß sie nur ein geringes oder kein emotionales Gewicht haben. Möglicherweise müssen Sie die betreffenden Szenen neu überdenken und umbauen. Vielleicht können Sie sie herausnehmen oder so umschreiben, daß sie sich jeweils auf eine Ihrer Hauptgestalten konzentrieren. Dieses Vorgehen funktioniert so lange, wie die im Mittelpunkt stehende Person – und sei es der Antagonist – zumindest einigermaßen sympathisch gezeichnet ist. Handelt es sich bei der Hauptfigur der Szene dagegen um einen Erzschurken und sind die Nebenfiguren ebenfalls ausnahmslos unsympathische Zeitgenossen, dann wird es problematisch. Denn dann hat Ihr Leser niemanden mehr, mit dem er bis zum Ende der Szene mitzittern kann, und Sie müssen damit rechnen, daß er sich mit Grausen abwendet. Also noch einmal: entweder solche Szenen streichen oder sie um Personen herum aufbauen, für die Sie selbst (und damit auch der Leser) zumindest eine Spur von Wärme und Verständnis aufbringen können. Zum Schluß überprüfen Sie Ihr Werk noch einmal daraufhin, bis zu welchem Grade die Dramatik des Romans durch Szenen zwischen Haupt- und Nebenfiguren erzeugt wird. Stehen in den dramatischsten Szenen Ihre Hauptfiguren und ihre gegenseitigen Beziehungen im Mittelpunkt, dann ist Ihre Geschichte wahrscheinlich gelungen. Schlagen sich die Helden 109
jedoch häufig mit Nebenfiguren herum, dann sollten Sie Ihren Text noch einmal gründlich überprüfen. Können Sie Ihre Geschichte generell und insbesondere die Szenen, in denen Randfiguren überbetont werden, noch einmal so umschreiben, daß die eigentlichen Handlungsträger ins Blickfeld rücken und sich die Spannung aus deren Beziehungen untereinander ergibt? Wenn ja, dann sind Ihre Chancen, den Leser so zu fesseln, daß er das Buch bis zur letzten Seite nicht mehr aus der Hand legt, wesentlich gestiegen.
11 Rhythmus Wer den Plot für einen Unterhaltungsroman entwirft, muß auch die Kunst der Abwechslung beherrschen und im Auf und Ab des Geschehens einen gewissen Rhythmus einhalten. Die Szenenfolge sollte ausbalanciert sein: hier solche, in denen der Protagonist die Nase vorn hat oder direkt als Sieger hervorgeht, dort andere, in denen Held oder Heldin der Wind ins Gesicht bläst oder ihnen entscheidende Niederlagen beigebracht werden. Denken Sie an ein Fußballspiel zweier mehr oder minder gleichwertiger Mannschaften: Das Spiel wogt hin und her. Mal jagt das Team, für das Ihr Herz schlägt, den Gegner über das Feld, mal wird es selber in die Defensive gedrängt. In Bestsellerromanen behält es am Ende allerdings meist die Oberhand. Nebenhandlung Beim Fußballspiel brauchen Spieler und Zuschauer gelegentlich kleine Pausen, um sich von der Hektik der zwischen den Parteien tobenden Schlacht zu erholen. Auch der Rhythmus des Erfolgsromans sieht bisweilen kleine Ruhepausen vor, in denen sich die Handlung ein wenig beruhigt und von den zentralen Auseinandersetzungen der Hauptfiguren abschweift. Oft hat eine solche Pause die Form einer unterhaltsamen Nebenhandlung, die manchmal obendrein noch komisch ist. Sehen wir uns einmal an, in welchem Rhythmus Mario Puzo die Hochs und Tiefs der Corleones aufeinanderfolgen läßt und wann und wie uns der Autor eine Erholung von deren blutiger Geschichte gönnt. Die erste Bewegung ist aufwärts gerichtet. Alle Bitten, die auf der Hochzeit an den Don gerichtet wurden, werden erfüllt und gipfeln darin, daß Jack Woltz Johnny Fontaine die ersehnte Rolle gibt. In jedem Fall erreicht der Pate, was die Bittsteller sich von ihm wünschen, und wirkt dabei geradezu allmächtig. Doch nach dem Treffen mit Sollozzo wittert er sofort Gefahr und schickt nach Luca Brasi. Dann wird Hagen entführt, Don Vito angeschossen und beinahe getötet, und Luca, sein grausamer Beschützer, wird erdrosselt. Die Corleones sind schwer angeschlagen. In einer dritten Phase geht es wieder leicht aufwärts, da der junge Michael aktiv wird, um seine Familie zu retten: Zuerst verhindert er vor dem Krankenhaus einen weiteren Anschlag auf seinen Vater, und dann bringt er sowohl Sollozzo als auch den korrupten Polizisten McCluskey um. Nun teilt uns Puzo kurz mit, daß der Fünf-Familien-Krieg von 1946 begonnen hat, und sofort 110
ändert der Roman den Kurs. Nachdem er uns elf Kapitel voller Mord und Totschlag, übler Schlägereien und krimineller Machenschaften geboten hat, meint der Autor, die Leser seien reif für eine Atempause. Er schiebt einen zweiunddreißig Seiten kurzen Schlüsselroman ein (eine Geschichte, die auf real existierenden Personen basiert), in dem es um die sexuellen, häuslichen und beruflichen Erlebnisse des unglücklichen Johnny Fontaine (einer Romanversion von Frank Sinatra) geht. Der Einschub kommt der Neugier des Lesers auf Prominentenklatsch und die berüchtigte Sexualmoral Hollywoods entgegen. Und die häuslichen Szenen, die Parties und Geschäfte in der Filmstadt sind tatsächlich eine Erholung von der brutalen Härte des Gangsterlebens. Nach diesen Hinweisen werden Sie vielleicht den Rest der Corleone-Story auf die genannten Elemente hin untersuchen und/oder das Auf und Ab in den Geschichten von Felix oder Meggie nachvollziehen wollen. Nehmen Sie sich danach Ihren eigenen Roman vor und prüfen Sie, ob Sie genügend Hochs und Tiefs für Ihren Protagonisten vorgesehen haben. Einige der besten Nebenhandlungen – ich denke an Charlotte in Der Mann aus St. Petersburg, an ihr erwachendes Interesse an der Sexualität, ihre Einführung bei Hofe, ihre Teilnahme an einem großen Debütantinnen-Fest, ihr Engagement für die Armen und die Frauenrechte – wirken auf den ersten Blick, als sollten sie nur von der Haupthandlung ablenken, und tatsächlich tun sie das auch für eine Weile. Ken Follett etwa läßt es dabei jedoch nicht bewenden. Er baut die fast frivole Nebenhandlung aus und verwebt sie allmählich dergestalt mit der Haupthandlung, daß sie zu einem tragenden Pfeiler derselben wird. So zieht er gewissermaßen doppelten Nutzen aus diesem Element. Auch Sie sollten diese Möglichkeit in Betracht ziehen. Eine Nebenhandlung, die mit der Haupthandlung verschmilzt und Einfluß auf sie nimmt, kommt einem Buch im allgemeinen mehr zugute als eine, die mit den Hauptpersonen und dem dramatischen Höhepunkt Ihrer Geschichte nichts zu tun hat. Komische Einschübe Eine weitere Möglichkeit, dem erschöpften Leser eine Atempause zu verschaffen, besteht in der Einführung eines komischen Kauzes oder einer anderen ulkigen Person mit dem alleinigen Zweck, den Leser abzulenken und/oder die Stimmung zu heben. Zwei der bekanntesten Beispiele aus der Tragödie sind dafür die beiden Totengräber in Hamlet und der Pförtner in Macbeth, die ihren Auftritt jeweils kurz vor großen, überwältigenden Szenen haben. Die berühmten komischen Szenen entspannen das Publikum, heben seine Stimmung und machen es offener und aufnahmefähiger für die nachfolgenden erschütternden Ereignisse. Mason Gold tritt in den Kapiteln zwei, acht und zweiunddreißig von Im Garten der Lügen auf. Er ist der Sohn von Sylvies bester Freundin und ebenso alt wie Rachel. Er hat nichts mit der Haupthandlung zu tun, noch spielt er in einer durchgehenden Nebenhandlung eine Rolle. Abgesehen davon, daß er den Roman um eine farbige Figur bereichert, besteht seine Funktion nur darin, Rachel einen netten, unkomplizierten Kameraden an die Seite zu stellen, einen liebenswerten Bruder Leichtfuß, wie sie ihn sonst nirgends trifft. Seine Auftritte sind durchweg humorvoll: eine Komödie der Irrungen um die Entjungferung, eine vegetarische Hippie-Hochzeit, einige Jahre später ein nostalgisches Wiedersehen in einer Austern-Bar. Und außerdem erhält der Leser eine Atempause im Wirbel von Rachels nahezu ununterbrochenem Sturm und Drang. Ein bekannteres Beispiel für auflockernd-komische Charaktere sind Onkel Peter und Tante Pittypat in Vom Winde verweht, zwei herrliche Figuren. Einen Großteil des Romans wohnt Scarlett nicht nur bei ihrer heimlichen Rivalin Melanie, sondern gemeinsam mit ihr bei deren hilfloser, geschwätziger Tante, einer kindlichen, übergewichtigen Dame, die dem Tratsch ergeben ist und ständig in Ohnmacht fällt oder zu fallen droht. Pitty hat mit Scarlett denkbar wenig gemein. Sie ist ein niedliches, nettes Wesen, das nicht imstande ist, auch nur einen selbständigen Entschluß zu treffen, und sich in allem auf ihren herrschsüchtigen, ihr 111
gleichwohl völlig ergebenen Haussklaven Peter verläßt. Mitchell setzt die beiden immer wieder sehr geschickt ein, um die durch Scarletts Eifersucht und die Schrecken von Krieg und Nachkriegszeit sehr gespannte Atmosphäre im Haus aufzulockern. Pittys Naivität, ihre Eitelkeit und Leichtgläubigkeit helfen vor allem Rhett. Er nutzt diese Eigenschaften bravourös, sich in ihrem Hause einzuschmeicheln und mit Scarlett in Kontakt zu bleiben, die oft heilfroh wäre, wenn sie eine Begegnung mit ihm vermeiden könnte. Pittypat und Peter sind also nicht nur komisch um der Komik willen, sondern erfüllen außerdem eine Funktion im Rahmen der Handlung. Ablenkende Nebenhandlungen und Personen wie die eben beschriebenen können einen Roman wunderbar bereichern, doch kommt man auch ohne sie aus. Die Firma enthält zum Beispiel keine komischen Figuren. Nicht verzichten aber kann ein Bestseller auf einen Handlungsverlauf mit verschiedenen aufeinander abgestimmten Höhen und Tiefen. Der Rhythmus Ihres Buches Werfen Sie einen kritischen Blick auf Ihr eigenes Romanprojekt. Gibt es genügend Höhen und Tiefen im Schicksal Ihres Helden, und durchziehen diese Wechselfälle mehr oder weniger das gesamte Buch? Wenn Sie diese Frage verneinen müssen, empfiehlt es sich für Sie wahrscheinlich, zum Reißbrett zurückzukehren und Ihre Szenen dergestalt umzubauen, daß sie jeweils in erkennbaren (wenn auch bisweilen subtilen) Siegen oder Niederlagen, Fehlschlägen oder Erfolgen, Freuden oder Leiden kulminieren. Ob eine ablenkende Nebenhandlung oder eine »erholsamkomische« Figur Ihrem Buch nützt oder schadet, hängt einerseits vom jeweiligen Genre und Umfang ab, andererseits aber natürlich auch von Ihrem Geschick im Umgang mit solchem Material. Knistert es in Ihrem Roman nur so vor Spannung und jagt in jedem Kapitel ein furchterregendes Ereignis das andere, dann wäre es wahrscheinlich angebracht, eine im Ton etwas leichtere, komödiantisch angehauchte Nebenhandlung einzuflechten. Eine kleine Rast hilft in vielen Lebenslagen: Wir können danach weiter laufen, länger schwimmen oder ein paar Liegestütze mehr machen. Gönnen Sie uns nach einer niederschmetternden, kräftezehrenden Episode eine kleine Atempause – wir, Ihre Leser, werden die sich daran anschließenden dramatischen Ereignisse dann erst richtig zu schätzen wissen. Abschweifungen dieser Art sollten im Idealfall auf ihre eigene, begrenzte Weise ebenso dramatisch sein wie die Haupt- oder Kernhandlung Ihres Romans. Wenn Charlotte den verschlossenen Schrank ihres Vaters nach Büchern durchstöbert, die ihr erklären sollen, woher die Babys kommen, so mag dies im Vergleich zu Felix´ gefährlichen Taten ziemlich harmlos wirken, doch für das Mädchen ist die Beantwortung seiner Fragen in jenem Augenblick von überragender Bedeutung. Roman ist nicht gleich Roman. Ich zögere daher, eine allgemein verbindliche Regel aufzustellen, wann und wo der Punkt erreicht ist, an dem der Leser einer Ablenkung bedarf, und wie lang oder kurz dieselbe im Einzelfall sein sollte. Generell würde ich raten, nie zwei Szenen mit höchster emotionaler Spannung oder voll physischer Gewalt unmittelbar aufeinanderfolgen zu lassen, sondern sie durch ein paar eingeschobene Szenen anderer Couleur zu trennen, von denen einige durchaus der Ablenkung oder Erheiterung dienen können. Mario Puzo schiebt zwischen Schießereien, Erdrosselungen und Verstümmelungen Liebes- und Sexszenen ein, Versöhnungsversuche und Strategiekonferenzen, und er läßt den jeweiligen Abschnittshöhepunkten die Nebenhandlungen um Johnny Fontaine und Lucy Mancini folgen. Follett schweift von der Attentatsgeschichte ab, indem er fast in jedem Kapitel auf die Verhandlungen zwischen Walden und Orlow oder auf ein neues Abenteuer von Charlotte zu sprechen kommt. Ein geschickt in Handlung und Szenenfolge eingearbeitetes Pendant zu Charlotte oder Tante Pittypat kann auf Ihren Roman unter Umständen wunderbar auflockernd wirken.
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12 Wandlungspunkte Tempo ist jenes Element eines Erfolgsromans, das im Normalfall mehr als jedes andere dafür sorgt, daß der Leser Seite um Seite verschlingt. Gemeint ist die Erzählweise, die unablässig vorwärtsdrängt, die Figuren ständig umstellt und im Kopf des Lesers immer neue dramatische Fragen entstehen läßt. Der Autor eines großen Romans muß darauf achten, daß er den Plot in jeder Szene und in jedem Kapitel weiterentwickelt, ihm neue Richtungen gibt, ihn dreht und wendet und somit den Fortgang der Handlung gewährleistet. Auch eine Stufe tiefer, auf der Ebene der Szenen, ja selbst innerhalb kleiner Handlungseinheiten, die nicht mehr als ein, zwei Seiten in Anspruch nehmen, muß er im Grunde genauso verfahren, muß Entwicklungen schildern, Verwicklungen schaffen, Richtungen vorgeben. Nun werden Sie vielleicht fragen, was unter dem Begriff »Vorantreiben einer Handlung« konkret zu verstehen ist. Die Antwort lautet: Wandlung. Im Laufe einer Seite, einer Szene oder eines Kapitels tun die Romanfiguren etwas, erfahren etwas, oder es widerfährt ihnen etwas. Abgesehen davon, daß all diese Geschehnisse schon für sich allein interessant und packend sind, verändern sie auch den Status einer Figur oder die Dynamik einer Beziehung zwischen zwei Figuren, werfen im Kopf des Lesers neue Fragen nach dem möglichen Fortund Ausgang der Geschichte auf und bereiten schließlich auch kommende Ereignisse vor. Vom Winde verweht enthält hie und da einige Seiten, auf denen der historische Hintergrund geschildert wird, und in Dornenvögel gibt es einige ausführlichere Landschaftsbeschreibungen, aber solche Einschübe von mehr als einer Seite Länge bilden die Ausnahme. In allen unseren fünf Beispielromanen fließt der Handlungsstrom weitgehend ohne Unterbrechung. Das fünfundvierzigste Kapitel in Vom Winde verweht (das ich rein zufällig ausgewählt habe) enthält jedoch auf insgesamt einundzwanzig Seiten ungefähr sechsundzwanzig Wandlungspunkte – kleine Ereignisse, Taktschläge oder Akzente, wenn Sie so wollen, die mehr oder weniger sanft die Lage, das Ziel oder das Umfeld einer oder mehrerer Personen, eines Fahrzeugs, einer Seuche, eines Gebiets, einer Stadt oder Nation bewegen und verändern können. Kurz gesagt: Es ereignet sich ein Wandel. Größere Eingriffe Bevor wir in die Einzelheiten gehen und Schritt für Schritt die Verteilung der Wandlungspunkte innerhalb eines Kapitels oder einer Szene unter die Lupe nehmen, lassen Sie uns einen Blick auf Änderungsfaktoren werfen, die mehr sind als nur Akzente. Ich meine damit größere Aktionen, die den krönenden Abschluß eines Kapitels bilden und den Leser ins nächste katapultieren. Beispiele dafür gibt es zuhauf, und ich werde auf einige hinweisen. Wenn Sie größtmöglichen Nutzen aus diesem Kapitel ziehen wollen, nehmen Sie zuvor den Roman zur Hand, den Sie derzeit lesen oder an dem Sie gerade arbeiten, und sehen sich an, wie jedes Kapitel (und gewöhnlich jede Szene) um ein glückliches oder unglückliches Ereignis, um eine Entscheidung oder Entdeckung herum aufgebaut ist, um Aktionen also, die – überdeutlich oder auch kaum wahrnehmbar – den Status quo verändern und den Keim zu weiteren Veränderungen in sich tragen. Das erste Kapitel in Der Mann aus St. Petersburg ist sehr facettenreich. Alle vier Hauptpersonen werden eingeführt und erwecken sofort das Interesse des Lesers. Mit Verve wird ein farbiges Umfeld geschaffen und zum Leben erweckt. Und doch läuft die ganze Vielfalt auf nur ein Zentralelement hinaus: Felix´ Entschluß, nach London zu reisen und Orlow zu töten. Das ähnlich strukturierte zweite Kapitel greift die Nebenhandlungen um Lydia und Walden auf und entwickelt sie weiter. Doch auch hier gelingt Follett ein unmißverständliches Crescendo im Rahmen der Haupthandlung: Felix liest die Zeitung, findet heraus, wie er an Orlow herankommen kann, und stiehlt eine Pistole, um seinen Mordplan in 113
die Tat umzusetzen. Wir sind also im ersten Kapitel Zeugen eines Entschlusses zum Mord. Felix erscheint uns tapfer, doch wir haben auch den Eindruck, der Schuh, den er sich anziehen will, sei ihm ein wenig zu groß. Der verwegene Pistolenraub im zweiten Kapitel verleiht seinem Plan unvermittelt Glaubwürdigkeit; der Mordanschlag nimmt auf einmal konkrete Züge an und rückt auch zeitlich plötzlich sehr nahe. In beiden Fällen enthalten die Kapitelenden ein dynamisches Ereignis, einen großen Wandel, der weitreichende Auswirkungen nicht nur auf Felix selbst, sondern auch auf die anderen Schlüsselfiguren des Romans verspricht. Im Garten der Lügen beginnt in einem Kaufhaus, wo Sylvie gerade dabei ist, einen neuen Hut aufzuprobieren. Am Ende des Prologs hat sie ein Kind geboren, das Kind einer anderen Frau aus dem brennenden Krankenhaus gerettet und beschlossen, es anstelle des eigenen zu behalten. Die erschütternde Entscheidung ist das entscheidende Handlungselement dieses Kapitels. Sie zieht nicht nur eine tiefgreifende Veränderung in Sylvies Leben nach sich, sondern stellt auch das Leben der beiden Babys, der späteren Heldinnen des Buches, auf den Kopf. Es ist nun keineswegs so, daß jedes Kapitel in jedem Bestsellerroman einen solchen unwiderruflichen Eingriff ins Leben seiner Figuren enthält, doch wenn Sie Im Garten der Lügen durchblättern, werden Sie feststellen, daß jedes Kapitel eine Handlung von unverkennbarer Größe und Tragweite beinhaltet. Wandlungspunkte Die zentrale Handlung eines Kapitels, das werden Sie inzwischen gemerkt haben, ist normalerweise leicht zu erkennen. Sie zu planen und auszuarbeiten sollte Ihre Kreativität nicht über Gebühr beanspruchen. Der nächste Schritt, die Anlage von zehn bis dreißig kleineren Pointen innerhalb des Kapitels, kann dagegen mit Schwierigkeiten verbunden sein. Gefragt sind kleine bis mittelschwere Vorkommnisse von – im Idealfall – wachsender Intensität, die unausweichlich auf den Höhepunkt zuführen. Bei einem ersten Entwurf führt normalerweise kein Weg daran vorbei, zunächst einmal die Szene so aufzuschreiben, wie Sie sie im Kopf haben, und sich gedanklich in die daran beteiligten Personen einzuleben. Erst beim zweiten, dritten oder zehnten Entwurf arbeiten Sie Stück für Stück all die Wandlungspunkte ein, die nach Ihrer Meinung zur Aufrechterhaltung des Tempos erforderlich sind und das Band zwischen den Handlungselementen der einzelnen Seiten und der zentralen Handlung des Buches festigen. (Gleichzeitig streichen Sie redundante Dialogpartien, Beschreibungen, Ausschmückungen und anderes überflüssiges Beiwerk.) Wandlungspunkte in Vom Winde verweht Wie sehen die Wandlungspunkte nun konkret aus, und wie funktionieren sie? Schauen wir uns das fünfundvierzigste Kapitel von Vom Winde verweht, das Tempo, das Margaret Mitchell anschlägt, und die Handlungselemente, derer sie sich bedient, etwas genauer an. Um ihr Vorgehen richtig einschätzen zu können, rekapitulieren wir noch einmal kurz das Ende des vorausgehenden Kapitels: Scarlett wurde von Landstreichern überfallen, die ihr das Kleid aufrissen. Big Sam, ein früherer Sklave aus Tara, rettete sie. Ihr Unglück ist allerdings bis zu einem gewissen Grad selbstverschuldet, hat sie doch darauf bestanden, unbegleitet mit ihrer Kutsche durch eine Gegend zu fahren, vor der man sie vorher ausdrücklich gewarnt hatte. Kapitel 45 beginnt am Abend dieses Tages. Scarlett kommt zu Melanie und ruft sich in Erinnerung, wie sie am Nachmittag völlig aufgelöst und trostbedürftig nach Hause kam und sich dann entsetzlich darüber ärgerte, daß Frank sie seelenruhig allein ließ – angeblich, um zu einer politischen Versammlung zu gehen. Beachten Sie, wie diese kleine Anfangsszene, in der ihr Zorn auf ihn geschildert wird, schon auf das Ende des Kapitels hinweist, an dem Scarlett schockiert feststellen muß, daß ihr freundlicher und sanfter Ehemann ohne ihr Wissen losgezogen ist, um sie zu rächen, und niemals zurückkommen wird, weil er getötet wurde. Bei Melanie versucht Scarlett, über ihr entsetzliches Erlebnis zu sprechen, doch Melanie lenkt die Unterhaltung immer wieder auf andere Gebiete. Diese Nebenhandlung, in deren Verlauf Scarletts Kummer ebenfalls ignoriert wird, ist in gewisser Weise eine Wiederholung der 114
Szene mit Frank, nur daß es nun ausgerechnet Melanie ist, die Scarlett unterschwellig frustriert. Dann fällt Scarlett das seltsame Benehmen der anderen auf, eine ungewohnte Spannung. Archie, der die meisten Abende auf dem Sofa verschläft, spuckt an diesem Abend wütend seinen Kautabaksaft ins Feuer. Melanie, die sonst so unwandelbar Freundliche, faucht ihre Tante an und sticht sich beim Nähen in den Daumen. India bedenkt Scarlett unablässig mit haßerfüllten Blicken. Bis jetzt war Scarlett zu sehr mit ihrem eigenen Kummer beschäftigt, um von den anderen Notiz zu nehmen. Das neue Element ist, daß sie sich dessen plötzlich bewußt wird. Dann faßt sich Scarlett ein Herz und verlangt zu erfahren, warum India sie den ganzen Abend über anstarrt. India nimmt kein Blatt vor den Mund. Das, was Scarlett zugestoßen sei, geschehe ihr nur recht, meint sie. Voller Wut fauchen sich die beiden an. India wirft Scarlett vor, sie habe mit ihrem verantwortungslosen Verhalten das Leben der Männer aufs Spiel gesetzt. Schließlich gebietet Archie ihnen Schweigen. Er hört jemanden kommen. Bis zu diesem Punkt dominieren Konflikte das Kapitel, doch wurden sie bislang eher verhalten ausgetragen. Nun flammt der Streit jedoch auf, und urplötzlich stehen Scarlett und mit ihr die Leser vor der Frage: Warum sollen die Männer in Lebensgefahr sein? Noch bevor Scarlett sich eine Antwort zusammenreimen kann, trifft atemlos Rhett Butler ein. Wo sind die Männer? Er hat von einer Falle gehört, die die Yankees ihnen stellen wollen. Es geht um Leben oder Tod. Der bissige Streit zwischen den beiden verfeindeten Frauen tritt zurück. Im Mittelpunkt der Szene steht nun die Bestätigung von Indias Vorwürfen und die Warnung vor einer realen, entsetzlichen Gefahr. Archie und India mißtrauen Rhett und sind dagegen, daß Melanie ihm die Wahrheit sagt. Doch Melanie ringt sich dazu durch, ihm zu vertrauen, und gibt den Ort des Treffpunkts preis, worauf Rhett sofort davoneilt. Wieder eine Veränderung: Vielleicht kann Rhett die gefährdeten Männer retten. Und wichtiger noch: Rhetts kurzer Auftritt ist die Voraussetzung dafür, daß er später Ashley ein getürktes Alibi verschaffen kann. Auf Rhetts Initiative spielen die beiden einem Yankee-Hauptmann, der Ashley verhaften will, vor, Melanies Mann habe den Abend in Belles Bordell verbracht und sich dabei hemmungslos betrunken. Die nächsten drei Wandlungspunkte nach Rhetts Abgang sind drei Schläge gegen Scarlett, einer ärger als der andere. Zunächst greift India den unterbrochenen Streit wieder auf und schleudert Scarlett entgegen, sie sei schuld, wenn Ashley und Frank jetzt ums Leben kämen. Dann muß die vor Wut beinahe hysterische Scarlett zu ihrer größten Verblüffung von Melanie erfahren, daß die Männer mit dem Klan unterwegs sind. Ihre erste Reaktion ist heillose Angst um ihre Mühlen und den Laden, und sie will sofort in die Stadt, um nach dem Rechten zu sehen. Archie hält sie grob davon ab und ist der nächste, der ihr Vorwürfe macht: Schaffen es die Männer nicht mehr, nach Hause zu kommen, dann habe sie sie auf dem Gewissen. Erneut wechselt die Situation. Endlich begreift Scarlett, was sie getan hat. Sie ist verrückt vor Angst und wirft sich nun selber vor, Ashleys Tod verschuldet zu haben. Melanie will sie beruhigen, wird jedoch durch Pferdegetrappel vor dem Haus unterbrochen. Nun wird die lange angekündigte Bedrohung, die über diesen Frauen und Männern schwebt, auch physisch greifbar: Hauptmann Jaffery und seine Soldaten erscheinen. Sie suchen Ashley und Frank. Melanies Behauptung, die beiden seien auf einer Versammlung in Franks Laden, weist der Hauptmann mit der schroffen Bemerkung zurück, dort habe man schon vergeblich nach ihnen geschaut, und von einer Versammlung dort könne ebenfalls keine Rede sein. Die Yankees umstellen das Haus. Vor der Gefahr, von der bisher immer nur gesprochen wurde und die daher spekulativ und weit entfernt wirkte, gibt es nun kein Entrinnen mehr, und Scarlett wird unmittelbar mit ihr konfrontiert. Der nächste Wandlungspunkt besteht in der Beschreibung der angsterfüllten Reaktionen. Während Melanie versucht, Ruhe zu bewahren, und daher aus Die Elenden von Victor Hugo vorliest, verflucht Scarlett insgeheim Frank, weil er sein Versprechen gebrochen und sich 115
doch dem Klan angeschlossen hat. Sie hat Angst um ihre Geschäfte und macht sich Sorgen um Frank und Ashley, denen der Tod durch den Strang droht. Sie ergeht sich in Selbstvorwürfen, versucht aber gleichzeitig, ihr Handeln zu rechtfertigen. Sie brauchte Geld – was blieb ihr da anderes übrig? Der Wandel in dieser Phase des Kapitels besteht weniger in neuen Handlungselementen als vielmehr in der zunehmenden Intensität der Ängste und Selbstbezichtigungen Scarletts. Auch sorgt die kurze Szene für das nötige Intervall zwischen der Ankunft der gefürchteten Yankees und der wenig später erfolgenden Heimkehr von Rhett und Ashley, die die Betrunkenen mimen. Inzwischen sind wir ungefähr in der Mitte des Kapitels angelangt. Ist Ihnen aufgefallen, daß sich noch nichts wirklich Entscheidendes ereignet hat, daß die Handlung auf diesen zwölf Seiten aber durch eine Vielzahl kleinerer Elemente vorangetrieben wurde? Bei aller Intensität sind diese kleineren Ereignisse, verglichen mit dem, was folgt, harmlos: Rhett und Ashley spielen die Betrunkenen, um Hauptmann Jaffery zu überzeugen, daß sie im Freudenhaus waren und nicht bei einem Klan-Überfall; Ashley verblutet beinahe; Scarlett erfährt, daß Frank getötet wurde. Die etwa dreizehn Einzelereignisse der zweiten Hälfte des Kapitels sind stark und klar. Wenn Sie es für nützlich halten, suchen Sie sich diese Ereignisse heraus und analysieren Sie sie auf eigene Faust. Erwähnenswert ist auch, auf welchen Schauplatz sich Margaret Mitchell im fünfundvierzigsten Kapitel konzentriert. Eine weniger begabte, weniger scharfsichtige Autorin hätte vielleicht den Überfall selbst geschildert. Sie hätte den Lesern vorgeführt, wie die Männer sich treffen, den Überfall planen, ihre Klan-Kutten überziehen, angreifen, zurückgeschlagen und schließlich von Rhett gerettet und zu Belles Bordell geführt werden. Doch der dramatische Schwerpunkt dieses Kapitels (wie des gesamten Buches) liegt nicht auf den männlichen Romanfiguren und deren Tun und Lassen, sondern darauf, wie sich das Verhalten der Männer auf die Frauen, und dabei natürlich insbesondere auf Scarlett, auswirkt. Die aufregendsten Action-Szenen in diesem Teil der Geschichte, die Schießerei und die Morde, werden daher nur erwähnt, aber nicht ausführlich beschrieben. Wer hingegen vom Anfang bis zum Ende des Kapitels vor unseren Augen agiert, ist Scarlett. Daß sie das Heft in die Hand nimmt und die Handlung dynamisch vorantreibt, kann man beim besten Willen nicht sagen; das bleibt anderen überlassen. Und doch ist überwiegend sie es, die auf den dramatischen Höhepunkten im Rampenlicht steht. Ihre tiefempfundenen, wenn auch nur selten ausgesprochenen Reaktionen, ihre Entdeckungen, Erkenntnisse, Verleugnungen und Selbstvorwürfe setzen in diesem spannungsgeladenen Kapitel die Akzente. Eine so eindeutige Konzentration auf eine bestimmte Person werden wir nicht in jedem Kapitel unserer Beispielromane oder anderer Bestseller feststellen können. Doch wenn Sie darauf achten, werden Sie merken, daß alle Kapitel mit mindestens einem Dutzend (und oft noch erheblich mehr) deutlich erkennbaren Handlungselementen, größeren Eingriffen, Akzenten oder Wandlungspunkten durchsetzt sind. Sie erhalten die Dynamik und das Tempo des Romans und bereiten den Weg für immer neu sich wandelnde Situationen. Ihre eigenen Wandlungspunkte Nehmen Sie sich jetzt eines Ihrer eigenen Kapitel vor, und streichen Sie sich die einzelnen Handlungseinheiten und Wandlungspunkte an. Wie viele können Sie finden? Durchlebt die Hauptfigur der Szene einige Hochs und Tiefs? Wenn Sie in einem fünfzehnseitigen Kapitel nur zwei oder drei Änderungen in der interpersonellen Dynamik feststellen können, so ist es vermutlich zu kraftlos und bedarf wahrscheinlich intensiver Kürzungen und/oder der Ergänzung durch neue Elemente jener Art, wie wir sie in Kapitel 45 aus Vom Winde verweht kennengelernt haben. Es müssen Elemente sein, die die Konstellation zwischen den handelnden Personen permanent ändern. Achten Sie zum Schluß auch noch darauf, inwieweit die Handlungsabfolge Ihrer Szene tatsächlich auf deren Höhepunkt zuführt. Die meisten kleineren Handlungselemente – wenn 116
auch nicht unbedingt alle – sollten wie in der oben analysierten Szene diesem Zweck untergeordnet sein. Benutzen Sie sie auch zur Vorbereitung und für versteckte Hinweise auf Ereignisse in kommenden Szenen und Kapiteln. Um dies zu erreichen, werden Sie mitunter Material einschieben müssen, das für den Leser auf den ersten Blick ablenkend wirkt. Doch wenn Sie zu Beginn einer Szene das Ziel unmißverständlich festlegen und die dramatische Frage stellen – Warum verschwindet Frank Kennedy so mysteriös in der Nacht? –, dann können Sie sich eine scheinbare Abschweifung erlauben, in ihr die Saat ausbringen, die zu einem späteren Zeitpunkt Ihrer Geschichte aufgehen wird, und danach wieder Schritt für Schritt auf den Höhepunkt hinarbeiten.
13 Überarbeitung Sie haben nun die bislang in diesem Buch vorgestellten Techniken sorgfältig studiert. Sie haben eine Reihe von Entwürfen für Ihren eigenen Roman geschrieben und halten einen davon für rundum gelungen und wasserdicht. Außerdem liegt Ihnen schon eine komplette Rohfassung Ihres Romans vor. Was nun? Legen Sie alles für ein, zwei Wochen beiseite, und lesen Sie es dann noch einmal so nüchtern und objektiv durch, wie es Ihnen möglich ist. Versuchen Sie das Manuskript so zu lesen, als hätte es jemand anderes geschrieben. Decken Sie rücksichtslos seine Schwächen auf, und überlegen Sie, wie Sie sie ausmerzen können. Gehen Sie dann an die zweite Fassung des Manuskripts, und seien Sie darauf gefaßt, daß Sie diese Prozedur noch ein drittes und viertes Mal wiederholen müssen. Zwar stehen Dick Francis und Harold Robbins in dem Ruf, daß sie ihre Bücher nur einmal schreiben, doch die meisten Autoren von Unterhaltungsliteratur verfassen mindestens zwei vollständige Rohmanuskripte, bevor sie an den Feinschliff gehen. Von Sidney Sheldon heißt es, er schreibe seine Manuskripte zwölfmal komplett um, und für Saul Bellow sind zehn Fassungen nichts Ungewöhnliches. Sie sehen also: Die Wahrscheinlichkeit, daß Ihr Roman gleich bei der ersten Niederschrift in jeder Hinsicht phantastisch ausfällt, reicht von äußerst gering bis zu gar nicht vorhanden. Versetzen Sie sich in die Lage eines Bildhauers, der eine schwierige Figur oder eine ganze Figurengruppe aus einem großen Steinblock herausarbeiten will. Im ersten Arbeitsgang meißeln Sie so lange an dem Block herum, bis er ungefähr die Umrisse hat, die Sie sich vorgestellt haben. Aber irgendwelche präziseren Formen lassen sich noch nicht erkennen. Im zweiten Arbeitsgang gelingt es Ihnen schon, einige Partien sauber herauszuarbeiten, doch andere widerstehen noch immer der angestrebten Form. Erst nach einer endlos scheinenden Zeit mühsamen und fleißigen Meißelns, Bearbeitens und Feilens steht die Skulptur so vor Ihnen, wie Sie sie sich vorgestellt haben. So schwierig Ihnen die Feinarbeit auch vorkommen mag – sie sollte eigentlich der angenehmste Teil des Gesamtprojekts sein. Und für die meisten Autoren ist sie es auch tatsächlich. Der Einstieg in ein Buch, die Aufgabe, vor einem leeren Blatt Papier und einer nahezu unerschöpflich scheinenden Zahl von Möglichkeiten zu sitzen und aus dem Nichts etwas erschaffen zu müssen, gilt allgemein als die tückischste Klippe beim Schreiben eines Romans. Haben Plot und Figuren Gestalt angenommen und damit begonnen, sich eine eigene Realität zu schaffen, die es Ihnen wiederum ermöglicht, an Ihre Charaktere und an das, was 117
sie tun, zu glauben, dann liegt eine steinige Wegstrecke vor Ihnen: Sie müssen Wörter, Zeilen, Seiten – das Rohmaterial der Literatur – durch Ihre eigene Erzählkunst und die Ihnen nach der Lektüre dieses Buches hoffentlich vertrauten handwerklichen Fähigkeiten zum Klingen bringen. Autoren, die nach einem Anfangserfolg glauben, ihre Manuskripte seien sofort druckreif und bedürften keiner weiteren Überarbeitung mehr, schaden sich am Ende selbst. Um die Mitte der achtziger Jahre vertrat ich ein paar Jahre lang einen begabten Romancier, der in England sehr populär war, dessen Bücher in den Vereinigten Staaten aber nicht so recht ankommen wollten. Ich wurde engagiert, um ihn auf dem amerikanischen Markt durchzusetzen, und konnte einige halbwegs attraktive Verträge für seine bereits vorliegenden Bücher abschließen. Dann schickte er mir ein neues Manuskript, das neben brillanten Partien auch gravierende strukturelle Schwächen aufwies. Ich unterzog den Roman einer sorgfältigen Analyse und schrieb dem Autor einen zehn- oder zwölfseitigen Brief mit einer Reihe von Verbesserungsvorschlägen. Sein Antwortbrief war meine Kündigung. Sein britischer Verleger sei entzückt von dem Buch. Was bildete ich mir ein? Er erwarte Begeisterung von seinem Agenten, keine Ratschläge. Der Autor hat seither mindestens acht weitere Bücher geschrieben, von denen jedoch kein einziges in Amerika erfolgreich war. Der Mann aus St. Petersburg: Überarbeitung Ken Follett dagegen ist, wie Sie vielleicht schon aus der Lektüre des vierten Kapitels geschlossen haben, ein Perfektionist, ein Autor, der so lange an seinen Texten feilt, bis sie stimmen. Hier fügt er eine Zeile, dort eine Szene oder ein ganzes Kapitel hinzu. Hier ändert er die Aufmachung einer Person, dort ergänzt er ein neues Handlungselement, das den Plot noch zündender gestaltet, und an einer anderen Stelle fügt er ein Bild ein, das das Lokalkolorit verstärkt. Wir wollen diesen Überarbeitungsprozeß nun am Beispiel zweier Szenen aus Der Mann aus St. Petersburg nachvollziehen. Legen Sie jeweils nach der Lektüre der Erstfassung eine Pause ein, und überlegen Sie, welche Verbesserungen Sie vornehmen würden. Oder, besser noch, bringen Sie Ihre verbesserte Version zu Papier. Zum Schluß lesen Sie dann die jeweilige Endfassung Folletts und vergleichen die vom Autor vollzogenen Änderungen mit Ihren eigenen Änderungsideen. Um alle Änderungen sowie deren Begründung verstehen zu können, werden Sie die beiden Texte wahrscheinlich nicht nur einmal, sondern zwei- oder dreimal aufmerksam durchlesen müssen. Die Mühe lohnt sich bestimmt. Erstfassung der Einführungsszene »Churchill? Winston Churchill?« fragte Walden. »Hier?« »Ja, Eure Lordschaft«, sagte der Butler. »Schicken Sie den Kerl weg«, sagte Walden. »Ich bin nicht zu Hause.« Der Earl of Walden war zutiefst irritiert. Am Donnerstag hatte Churchill ihm einen Brief geschickt, den er ignoriert hatte. Am Freitag hatte Churchill in London bei ihm vorgesprochen, und Walden hatte es abgelehnt, ihn zu empfangen. Nun, am heutigen Samstag, war ihm Churchill aufs Land gefolgt und klopfte an die Tür von Walden Hall. Churchill war der Erste Lord der Admiralität in der liberalen Regierung – einer Regierung, deren Attacken gegen den traditionellen englischen Lebensstil solche Ausmaße angenommen hatten, daß die bessere Gesellschaft, also Walden und seine Freunde, nicht mehr bereit waren, liberale Politiker bei sich zu Hause zu empfangen. Walden hielt das insgeheim für eine Schande, denn das politische Leben in London verlief gewöhnlich sehr zivilisiert – die Welt kann sich daran ein Beispiel nehmen, pflegte er zu sagen. Doch irgendwie waren die ansonsten auf das Parlament beschränkten Auseinandersetzungen den beiden Häusern entschlüpft und hatten ihren Weg in den St. James´s Park und in die Salons von Belgravia gefunden. Zuerst hatte die bessere Gesellschaft den Premierminister und sein Gefolge nicht mehr zu den intimeren Dinnerpartys im kleinen Kreise eingeladen, dann folgte der Ausschluß von größeren gesellschaftlichen Anlässen, und 118
inzwischen war man soweit, daß Walden nicht einmal mehr den Hut vor einem liberalen Hinterbänkler ziehen konnte, ohne dabei das Gefühl zu haben, er verhalte sich illoyal. Er bedauerte diese Entwicklung vor allem deshalb, weil er ein höflicher Mann war. Seine Höflichkeit war keine oberflächliche Umgangsform, sondern Ausdruck einer Freundlichkeit, die wahrscheinlich seinem ureigensten Antrieb entsprach. Wenn ein Gentleman sich nicht mehr anständig benehmen konnte, dann war er wohl tatsächlich ein hemmungsloser Parasit, wie diese sozialistischen Heinis behaupteten. Außerdem hielt Walden es für einen strategischen Fehler, den politischen Gegner auch aus dem persönlichen Bereich auszugrenzen – schließlich fällt es einem Mann, der sich gerade an deinem Roastbeef und deinem alten Portwein gelabt hat, nicht ganz so leicht, deinen traditionellen Lebensstil anzuprangern. Walden war daher doppelt irritiert: einmal wegen Churchills flegelhafter Weigerung, sich düpieren zu lassen, und zum anderen, weil ihm eine innere Stimme sagte, daß es vielleicht doch nicht ganz richtig war, Churchill vor den Kopf zu stoßen. Auch Brittan, der Butler, fühlte sich sichtlich unwohl in seiner Haut. Kabinettsminister abzuweisen war er nicht gewohnt. Sein Vorgänger, der alte Thomson, hätte das getan, ohne mit der Wimper zu zucken. Doch Thomson war inzwischen fünfundsechzig und im Ruhestand; er züchtete Rosen im Garten eines kleinen Häuschens auf dem Gutsgelände. Brittan, der erst seit zwanzig Jahren Diener war, mußte sich die unerschütterliche Würde seines Vorgängers erst noch aneignen. Lydia sagte: »Das wird ja entsetzlich langweilig.« Aber Walden wußte, daß es sie gar nicht langweilte, daß sie es wahrscheinlich sogar sehr aufregend fand. Sie hatte das nur gesagt, weil eine englische Gräfin sich so zu äußern pflegt, und da sie keine Engländerin, sondern Russin war, liebte sie es, typisch englische Ausdrücke zu gebrauchen, so wie manche Leute, wenn sie französisch sprechen, oft Worte wie alors und hein ? benutzen. Brittan hüstelte. Walden sagte: »Sind Sie immer noch hier?« »Mr. Churchill sagte mir bereits, Sie würden nicht zu Hause sein, Eure Lordschaft, und er bat mich, Ihnen dies hier zu geben.« Walden sah, daß der Butler ein Tablett mit einem Brief darauf trug. Er beschloß, den Brief nicht zu lesen. »Geben Sie ihn zurück ...« Dann erkannte er das Siegel auf dem Umschlag und erschrak. »Nein, warten Sie!« Er nahm den Brief, erbrach das Siegel und zog einen einzelnen, in der Mitte gefalteten, dicken Briefbogen heraus. Er las: Buckingham-Palast, 2. Mai 1914 Mein lieber Walden, empfangen Sie bitte den jungen Winston. George R. Walden erkannte die Handschrift. Es war die des Königs. Er war so verlegen, daß er errötete. Es gehörte schon ein entsetzlicher Formmangel dazu, den König in so etwas hineinzuziehen. Walden fühlte sich wie ein Schuljunge, den man wegen seiner Streitereien gerügt hat. Einen Augenblick war er versucht, dem König zu trotzen. Aber er mußte die Folgen bedenken: Seine Frau würde nicht mehr von der Königin empfangen werden, seine Tochter würde nicht bei Hofe vorgestellt werden, man würde die Waldens nicht mehr zu gesellschaftlichen Anlässen einladen, bei denen ein Mitglied der königlichen Familie anwesend wäre, und man würde sie nach und nach von allen Gästelisten streichen. Das wäre schlimmer als alles, was die Konservativen den Liberalen antaten. Dann konnten die Waldens 119
ebensogut gleich ins Ausland ziehen. Nein, es kam nicht in Frage, dem König den Gehorsam zu verweigern. Walden seufzte. Aber es war auch eine Erleichterung, denn jetzt konnte er sich über seinen Rang hinwegsetzen, und niemand konnte ihn dafür tadeln. »Ein Brief vom König, alter Knabe«, würde er erklärend sagen, »da blieb mir nichts anderes übrig.« Brittan wartete noch immer, und Walden sagte: »Bitten Sie Mr. Churchill herein.« Lydia hob die Augenbrauen, und Walden gab ihr den Brief. Dann schritt er über den spiegelblanken Boden zum hohen Fenster und blickte hinaus auf eine weite Rasenfläche, auf der in weiten Abständen hohe Bäume standen: eine schottische Fichte, zwei mächtige Eichen, eine Weide und mehrere Kastanien. Zu seiner Linken konnte er auf der mit Kies bestreuten Zufahrt vor dem Südportal das große Automobil ausmachen, mit dem Churchill gekommen war. Der Staub hatte sich bereits gelegt, doch der Motor knatterte und rauchte noch immer. Ein Fahrer in Helm, Staubbrille und schwerem Chauffeurmantel stand daneben, die Hand an der Tür wie an einem Pferd, das man am Weggehen hindert. Ein paar Gärtner und Stallburschen starrten den Mann aus sicherer Distanz an. Immer mehr Besucher kamen heutzutage motorisiert nach Walden Hall. Im Sommer waren die Kraftwagen hier im Dorf ziemlich lästig, wenn sie auf den ungeteerten Straßen hohe Staubwolken aufwirbelten. Er hatte mit dem Gedanken gespielt, ein paar hundert Meter der Straße auf seine Kosten asphaltieren zu lassen, und er hätte es auch wohl getan, aber seit 1909, als Lloyd George den Straßenbau übernommen hatte, war er nicht mehr dafür verantwortlich. Es war wieder einmal typisch für die Liberalen, von ihm Geld einzukassieren für etwas, was er ohnehin getan hätte, und es dann zu vernachlässigen. Womit seine Gedanken wieder zu Churchill zurückkehrten. Lydia gab ihm den Brief zurück und sagte: »Wie seltsam.« Die Liberalen haben einfach keine Ahnung, wie eine Monarchie funktionieren sollte, dachte Walden. »George ist nicht hart genug gegenüber diesen Leuten«, sagte er. Die despektierliche Bemerkung war das letzte Aufflackern des Widerspruchs, der ihn spontan überkommen hatte. Er nahm sich vor, Churchill mit eisiger Höflichkeit zu begegnen. Brittan kam und verkündete: »Mr. Winston Churchill.« Churchill war vierzig, genau zehn Jahre jünger als Walden. Er war klein und schlank und kleidete sich auf eine Art, die Walden als etwas zu elegant für einen Gentleman empfand. Sein frühzeitig gelichtetes Haar – nur an den Schläfen kräuselten sich noch zwei Locken –, seine kurze Nase und das ständige spöttische Zwinkern in seinen Augen verliehen ihm ein schalkhaftes Aussehen. Walden hatte ihn früher gern gemocht. Ein furchtbar theatralischer Mensch natürlich, aber nie langweilig. Churchill schüttelte ihm die Hand und sagte mit einem Hauch von Respekt in der Stimme: »Guten Tag, Eure Lordschaft.« Er verbeugte sich vor Lydia. »Lady Walden, ich habe die Ehre.« Walden bat ihn, Platz zu nehmen, und Lydia schenkte ihm eine Tasse Tee ein. Churchill wirkte ganz und gar unbefangen. Er sagte: »Zunächst einmal bitte ich Sie, auch im Namen des Königs, um Verzeihung, daß ich mich Ihnen aufgedrängt habe.« Walden nickte. Churchill fuhr fort: »Ich könnte hinzufügen, daß ich es nicht getan hätte, wenn es nicht sehr dringlich wäre.« »Dann sagen Sie mir lieber gleich, was Sie wollen ...« »Ich will Rußland.« Das ist ein vielversprechender Anfang, dachte Walden. Eine der wenigen Gemeinsamkeiten von Konservativen und Liberalen war ihre Haltung gegenüber der russischen Regierung. Das Zarenregime war inkompetent, undemokratisch und brutal – was wiederum peinlich war, denn die Engländer brauchten die Russen als Verbündete gegen Deutschland. Die deutsche Armee war die beste in ganz Europa, und um sie noch besser zu machen, hatte die deutsche 120
Regierung eine Sondersteuer erhoben und dadurch eine Milliarde Mark einkassiert. Dies war nach Waldens Einschätzung die höchste Steuereinnahme in der europäischen Geschichte, und er war sich sicher, daß sie nur einem einzigen Zweck diente: dem Krieg. Über überlegene Landstreitkräfte konnte und wollte England hinwegsehen, doch bei der Flotte verstand man keinen Spaß. Churchill, der Erste Lord der Admiralität, hatte mit Begeisterung die politische Linie seiner liberalen und konservativen Vorgänger fortgeführt. Ihre Maxime bestand darin, daß die Royal Navy, um Großbritanniens lebenswichtige Handelsrouten zu sichern, den vereinten Flotten der beiden nächstgrößeren Seemächte überlegen sein mußte. Inzwischen holte Deutschland jedoch auf und weigerte sich kategorisch, über eine Rüstungsbegrenzung zu verhandeln. England brauchte also Verbündete. Die Schwäche Deutschlands lag – wie eh und je – in der Gefahr eines Zweifrontenkrieges gegen Frankreich im Westen und Rußland im Osten. Aus diesem Grund hatte die deutsche Diplomatie es sich zum Ziel gesetzt, Rußland zu neutralisieren. Und aus dem gleichen Grund zielte die britische Außenpolitik, die seit acht Jahren unter der Führung des ebenso verschlagenen wie geduldigen Sir Edward Grey stand, auf eine Dreier-Entente zwischen England, Rußland und Frankreich ab. Walden begriff sofort, was Churchill mit seiner Bemerkung, er wolle Rußland, beabsichtigte. »Zwischen Frankreich und Rußland besteht bereits eine Allianz«, sagte er. »Aber sehen Sie sich doch den genauen Wortlaut an«, erwiderte Churchill. »Rußland ist zum Eingreifen verpflichtet, falls Frankreich das Opfer eines Angriffs sein sollte. Es bleibt Rußland überlassen zu beurteilen, ob Frankreich in einem bestimmten Fall das Opfer oder der Angreifer wäre. Wenn ein Krieg ausbricht, behaupten immer beide Seiten, das Opfer zu sein. Daher verpflichtet die Allianz Rußland nur dann zum Kampf, wenn es wirklich kämpfen will.« »Das könnten Sie von allen Verteidigungsbündnissen behaupten«, sagte Walden. »Richtig. Alles hängt vom Willen zum Eingreifen ab. Nehmen Sie England und Frankreich. Wir haben keine Allianz, nicht einmal ein Abkommen. Doch die Atmosphäre, die durch die jahrelangen Militärgespräche geschaffen wurde, sorgt dafür, daß wir uns verpflichtet fühlen, im Krisenfall gemeinsam zu kämpfen. In der Öffentlichkeit muß ich natürlich das genaue Gegenteil behaupten.« Walden konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Churchills Denkweise entsprach weitgehend seiner eigenen. Churchill fuhr fort: »Die dritte Seite des Dreiecks ist die Beziehung zwischen England und Rußland.« »Daß ausgerechnet die Liberalen für ein Bündnis mit Rußland sind, hätte ich nicht gedacht«, bemerkte Walden. »Dann beurteilen Sie uns falsch. Wenn es um unsere nationalen Interessen geht, verhandeln wir auch mit Tyrannen.« »Ihren Anhängern wird das nicht gefallen.« »Sie werden nichts davon erfahren.« Nun war Waldens Neugier geweckt. Er erkannte, worauf das alles hinauslief, und die Aussichten waren aufregend. »Woran denken Sie?« fragte er. »An einen Geheimvertrag? Oder an eine stillschweigende Übereinkunft?« »An beides.« Walden blickte Churchill aus schmalen Augen an. Dieser junge Demagoge könnte Köpfchen haben, sagte er sich, und dieses Köpfchen könnte gegen meine Interessen arbeiten. Die Liberalen wollen also eine geheime Abmachung mit dem Zaren treffen, der öffentlichen Meinung zum Trotz. Aber warum erzählt er mir das? Sie wollen mich auf irgendeine Weise einspannen, das ist klar. Aber zu welchem Zweck? Etwa, um später, wenn alles schiefgelaufen ist, einen Konservativen als Sündenbock zu haben? Falls man mich in eine solche Falle locken will, braucht man einen geschickteren Ränkeschmied als diesen Churchill. Walden sagte: »Fahren Sie fort.« 121
»Ich habe vor einiger Zeit Kooperationsgespräche mit den Russen bezüglich der Kriegsmarine in die Wege geleitet parallel zu unseren militärischen Verhandlungen mit den Franzosen. Eine Weile haben sie sich auf ziemlich niedriger Ebene abgespielt, aber jetzt fangen sie an, ernsthaft zu werden. Ein junger russischer Admiral kommt nach London. Sein Name ist Fürst Alexei Andrejewitsch Oblomow.« Churchill sah Lydia an. »Ich glaube, er ist mit Ihnen verwandt, Lady Walden.« »Ja«, sagte Lydia, und aus einem Walden nicht bekannten Grund sah sie verlegen aus. »Er ist der Sohn meiner Cousine, dann ist er also mein ...« »Cousin zweiten Grades«, half Walden aus. »Er ist sehr jung für einen Admiral«, fuhr Lydia fort. Sie bot wieder das übliche Bild vollkommener Ruhe, und Walden glaubte, sich ihre momentane Verlegenheit nur eingebildet zu haben. »Er ist dreißig«, bemerkte Churchill, und Walden fiel auf, daß Churchill mit seinen vierzig Jahren ebenfalls sehr jung für den Oberbefehl über die gesamte Royal Navy war. Churchills Gesichtsausdruck schien zu sagen: Die Welt gehört begabten jungen Männern wie mir und Oblomow. Aber er braucht mich, sinnierte Walden. »Außerdem«, fuhr Churchill fort, »ist Oblomow ein Neffe des Zaren durch seinen Vater, den verstorbenen Großfürsten, und – was noch wichtiger ist – er gehört zu den wenigen Leuten neben Rasputin, die der Zar schätzt und denen er vertraut. Wenn einer in der russischen Kriegsmarine den Zaren auf unsere Seite bringen kann, dann Oblomow.« Jetzt stellte Walden die Frage, die ihm schon lange auf der Zunge lag. »Und was habe ich mit alledem zu tun?« »Sie kennen den Zaren persönlich. Sie kennen Rußland, und Sie sprechen fließend Russisch. Sie haben schon einmal einen großen diplomatischen Coup in St. Petersburg gelandet.« Churchill machte eine Pause. »Trotzdem waren Sie nicht unsere erste Wahl, um Großbritannien bei diesen Verhandlungen zu vertreten. Sie wissen ja, wie die Dinge in Westminster stehen ...« »Ja, ja.« Walden hatte keine Lust, jetzt darüber zu diskutieren. »Aber aus einem mir nicht bekannten Grund haben Sie sich eines anderen besonnen.« »Um es direkt zu sagen, Sie waren die Wahl des Zaren. Sie scheinen der einzige Engländer zu sein, dem er traut. Jedenfalls hat er seinem Vetter, Seiner Majestät König George V., ein Telegramm geschickt, in dem er darauf besteht, daß Sie die Verhandlungen führen.« Walden konnte sich die Bestürzung unter den Radikalen vorstellen, als sie erfuhren, daß sie einen reaktionären alten Tory-Lord in ihre geheimsten Pläne einweihen mußten. »Das dürfte Sie aber ganz schön entsetzt haben, nehme ich an«, sagte er. »Durchaus nicht. Unsere außenpolitischen Ansichten unterscheiden sich gar nicht so sehr von den Ihren. Und ich hatte schon immer das Gefühl, daß unsere innenpolitischen Meinungsverschiedenheiten kein Grund sein sollten, die Fähigkeiten Eurer Lordschaft der Regierung Seiner Majestät vorzuenthalten.« Wichtigtuer, dachte Walden. Laut sagte er: »Wie soll die Angelegenheit geheimgehalten werden?« »Es wird wie ein Familienbesuch aussehen. Falls Sie einverstanden sind, wird Oblomow während der Londoner Saison bei Ihnen wohnen. Sie werden ihn in die Gesellschaft einführen. Gehe ich recht in der Annahme, daß Ihre Tochter in diesem Jahr ihr Debüt machen wird?« Er blickte Lydia an. »So ist es«, sagte sie. »Dann werden Sie ja vermutlich viel ausgehen. Oblomow ist im übrigen Junggeselle, und ein sehr begehrter dazu. Wir werden also im Ausland leicht das Gerücht verbreiten können, er schaue sich nach einer englischen Ehefrau um. Vielleicht findet er sogar eine.« »Eine gute Idee.« Walden stellte plötzlich fest, daß ihm die Sache gefiel. Unter den 122
konservativen Regierungen Salisbury und Balfour hatte er immer eine halboffizielle Diplomatenstellung eingenommen, sich dann aber in den letzten acht Jahren aus der internationalen Politik zurückgezogen. Jetzt hatte er eine Chance, die alten Beziehungen wiederaufleben zu lassen, und er erinnerte sich, wie aufreibend und faszinierend solche Aufgaben waren: die Geheimhaltung, die spielerische Technik des Verhandeins, die Bewältigung von Persönlichkeitskonflikten, die mit äußerster Vorsicht geübte Kunst der Überredung, der Einschüchterung oder der Drohung mit Krieg. Und je mehr er über die neue Aufgabe nachdachte, desto bedeutender wollte sie ihm erscheinen. Die deutsche Armee war stärker und besser ausgerüstet als die französische und wurde moderner und besser geführt. England konnte allenfalls dürftige Hilfe gewähren, und zu spät käme sie obendrein. Frankreich würde sich zwar wehren, hätte aber keine Siegeschance. Im Falle eines russischen Angriffs allerdings würde den Deutschen nichts anderes übrigbleiben, als Streitkräfte vom Westen abzuziehen und an die Ostfront zu verlegen. Dann sähe das Bild schon ganz anders aus. Wenn Rußland eingriff, konnte Deutschland nach Waldens Meinung den Krieg nicht gewinnen. Und es war nun seine Aufgabe, Rußland zum Kämpfen zu bewegen. Churchill sagte: »Darf ich annehmen, daß Sie es tun werden?« »Selbstverständlich«, erwiderte Walden. Endfassung der Einführungsszene Es war ein gemütlicher Sonntagnachmittag, wie Walden ihn liebte. Er stand am offenen Fenster und blickte in den Park hinaus. Von der breiten Rasenfläche hoben sich einige große Bäume ab: eine schottische Fichte, ein paar mächtige Eichen, mehrere Kastanienbäume und eine Weide mit Zweigen wie Mädchenlocken. Die Sonne stand hoch, und die Bäume warfen dunkle, kühle Schatten. Die Vögel schwiegen, aber man hörte das Summen zufriedener Bienen an den Blumenranken neben dem Fenster. Auch im Haus war es still. Der größte Teil der Dienerschaft hatte an diesem Nachmittag frei. Die einzigen Wochenendgäste waren Waldens Bruder George, Georges Frau Clarissa und ihre Kinder. George war spazierengegangen, Clarissa hatte sich hingelegt, und die Kinder waren außer Sicht. Walden fühlte sich behaglich. Natürlich hatte er zum Kirchgang einen Gehrock getragen, und in einigen Stunden würde er sich seinen Frack zum Abendessen anziehen, aber im Augenblick hatte er es sich bequem gemacht und trug einen Tweedanzug mit einem weichen Hemd. Wenn Lydia heute abend Klavier spielt, dachte er, war es ein vollkommener Tag. Er wandte sich an seine Frau. »Wirst du nach dem Abendessen spielen?« Lydia lächelte. »Wenn du willst.« Walden hörte ein Geräusch und trat wieder ans Fenster. Am anderen Ende der Einfahrt, rund vierhundert Meter entfernt, tauchte ein Wagen auf. Walden verspürte eine leichte Gereiztheit, wie jene Andeutung von Schmerz in seinem rechten Bein kurz vor einem Regenguß. Warum sollte mich ein Wagen stören, fragte er sich. Er hatte nichts gegen Autos, er besaß selbst einen Lanchester, den er regelmäßig für Fahrten nach London benutzte. Allerdings mußte er zugeben, daß im Sommer die Kraftwagen hier im Dorf ziemlich lästig waren, wenn sie auf den ungeteerten Straßen hohe Staubwolken aufwirbelten. Er hatte mit dem Gedanken gespielt, ein paar hundert Meter der Straße auf seine Kosten asphaltieren zu lassen, und er hätte es auch wohl getan, aber seit 1909, als Lloyd George den Straßenbau übernommen hatte, war er nicht mehr dafür verantwortlich – und das war, wie er feststellte, der eigentliche Grund seiner Gereiztheit. Es war wieder einmal typisch für die Liberalen, von ihm Geld einzukassieren für etwas, was er ohnehin getan hätte, und es dann zu vernachlässigen. Wahrscheinlich werde ich die Straße schließlich doch selbst pflastern lassen müssen, überlegte er; es ist nur ärgerlich, zweimal dafür bezahlen zu müssen. Der Wagen bog in den mit Kies bestreuten Vorhof ein und hielt mit lärmendem Motor am Südeingang. Auspuffgase drangen durch das geöffnete Fenster, und Walden hielt den Atem an. Der Fahrer stieg aus. Er trug einen Helm, eine Staubbrille und einen schweren Chauffeurmantel. Nachdem er den Schlag geöffnet hatte, stieg ein kleiner Mann mit 123
schwarzem Mantel und schwarzem Filzhut aus dem Wagen. Walden erkannte ihn, und sein Gesicht verfinsterte sich. Der friedliche Sommernachmittag war vorbei. »Es ist Winston Churchill«, sagte er. »Wie peinlich«, bemerkte Lydia. Dieser Mann ließ sich einfach nicht abweisen. Am Donnerstag hatte er einen Brief geschickt, der von Walden ignoriert wurde. Am Freitag hatte er in Waldens Haus in London vorgesprochen und war mit dem Bescheid abgewiesen worden, der Earl sei abwesend. Und jetzt war er ausgerechnet am Sonntag die ganze Strecke bis nach Norfolk gefahren, um wieder abgewiesen zu werden. Bildet er sich ein, daß seine Starrköpfigkeit mich beeindruckt, fragte sich Walden. Er haßte es, unhöflich zu sein, aber Churchill verdiente nichts anderes. Die liberale Regierung, in der Churchill als Minister füngierte, hatte sich vorgenommen, an den Grundfesten der englischen Gesellschaft zu rütteln: Landbesitz mit Steuern zu belegen, das Oberhaus zu unterminieren, Irland den Katholiken zu überlassen, die Royal Navy zu schwächen und den erpresserischen Forderungen der Gewerkschaften und der verdammten Sozialisten nachzugeben. Walden und seine Freunde weigerten sich, solchen Leuten die Hand zu schütteln. Die Tür öffnete sich, und Pritchard trat ein. Er war ein hochgewachsener Mann mit CockneyAkzent, pomadisiertem schwarzem Haar und einem feierlichen Auftreten, dem man die Unechtheit ansah. Er war als junger Bursche zur See gefahren und hatte sich in Ostafrika von seinem Schiff abgesetzt. Walden, der dort auf Safari ging, hatte ihn zur Überwachung der eingeborenen Träger angeheuert, und seitdem waren sie zusammengeblieben. Jetzt war Pritchard Waldens Haushofmeister, reiste mit ihm von einer Residenz in die andere und betrachtete sich, soweit es einem Diener zustand, als einen Freund. »Der Erste Lord der Admiralität ist hier, Sir«, sagte Pritchard. »Ich bin nicht zu Hause«, erwiderte Walden. Pritchard blickte betreten drein. Er war es nicht gewohnt, Minister des Kabinetts zurückzuweisen. Der Butler meines Vaters hätte es getan, ohne mit der Wimper zu zucken, dachte Walden, aber der alte Thomson genießt seinen wohlverdienten Ruhestand und züchtet Rosen im Garten seines kleinen Hauses im Dorf. Merkwürdigerweise hat Pritchard es nie fertiggebracht, sich diese unantastbare Würde anzueignen. Pritchard verfiel wieder stärker in seinen Cockney-Akzent, ein Zeichen, daß er entweder sehr entspannt oder sehr erregt war. »Mr. Churchill sagt, falls Ihre Lordschaft nicht zu Hause sei, solle ich Ihnen diesen Brief übergeben.« Er hielt ihm ein Tablett mit einem Umschlag hin. Walden liebte es nicht, überrumpelt zu werden. Er sagte barsch: »Geben Sie ihm den Brief zurück ...« Dann hielt er inne, blickte noch einmal auf die Schrift auf dem Umschlag. Die großen, klaren Buchstaben kamen ihm irgendwie bekannt vor. »Ach, du meine Güte«, sagte Walden. Er nahm den Umschlag, öffnete ihn, zog ein einmal gefaltetes, dickes weißes Blatt Papier heraus. Der Briefkopf trug das rot gedruckte königliche Wappen. Walden spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Er las: Buckingham-Palast, 1. Mai 1914 Mein lieber Walden, empfangen Sie bitte den jungen Winston. George R. »Es ist vom König«, sagte Walden zu Lydia. Er war so verlegen, daß er errötete. Es gehörte schon ein entsetzlicher Formmangel dazu, den König in so etwas hineinzuziehen. Walden fühlte sich wie ein Schuljunge, den man wegen seiner Streitereien gerügt hat. Einen Augenblick war er versucht, dem König zu trotzen. Aber er mußte die Folgen bedenken: Lydia würde nicht mehr von der Königin empfangen werden, 124
man würde die Waldens nicht mehr zu gesellschaftlichen Anlässen einladen, bei denen ein Mitglied der königlichen Familie anwesend war, und – das schlimmste – Waldens Tochter Charlotte könnte bei Hofe nicht als Debütantin vorgestellt werden. Es wäre das Ende des gesellschaftlichen Lebens der Familie. Dann könnte man ebensogut gleich ins Ausland ziehen. Nein, es kam nicht in Frage, dem König den Gehorsam zu verweigern. Walden seufzte. Churchill hatte ihn überlistet. Aber es war auch eine Erleichterung, denn jetzt konnte er sich über seinen Rang hinwegsetzen, und niemand konnte ihn dafür tadeln. »Ein Brief vom König, alter Knabe«, würde er erklärend sagen, »da blieb mir nichts anderes übrig.« »Bitten Sie Mr. Churchill herein«, sagte er zu Pritchard. Er gab Lydia den Brief. Die Liberalen verstehen wirklich nicht, wozu eine Monarchie eigentlich da ist, stellte er fest. Er brummte: »Der König läßt es diesen Leuten gegenüber an Festigkeit mangeln.« Lydia sagte: »Das wird ja entsetzlich langweilig.« Aber Walden wußte, daß es sie gar nicht langweilte, daß sie es wahrscheinlich sogar sehr aufregend fand. Sie hatte das nur gesagt, weil eine englische Gräfin sich so zu äußern pflegt, und da sie keine Engländerin, sondern Russin war, liebte sie es, typisch englische Ausdrücke zu gebrauchen, so wie manche Leute, wenn sie französisch sprechen, oft Worte wie alors und hein ? benutzen. Walden ging zum Fenster. Churchills Wagen stand noch immer mit schepperndem und rauchendem Motor im Vorhof. Der Chauffeur stand daneben, die Hand an der Tür wie an einem Pferd, das man am Weggehen hindert. Einige Diener staunten ihn aus sicherer Distanz an. Pritchard trat ein. »Mr. Winston Churchill.« Churchill war vierzig, genau zehn Jahre jünger als Walden. Er war klein und schlank und in einer Art gekleidet, die Walden etwas zu elegant fand für einen Gentleman. Sein frühzeitig gelichtetes Haar – nur noch eine Strähne auf der Stirn und zwei Locken an den Schläfen –, seine kurze Nase und das ständige spöttische Zwinkern seiner Augen gaben ihm ein schalkhaftes Aussehen. Es war leicht einzusehen, warum die Karikaturisten ihn stets als schelmischen Cherub darstellten. Churchill schüttelte Walden die Hand und begrüßte ihn fröhlich: »Guten Tag, Eure Lordschaft.« Dann verbeugte er sich vor Lydia. »Lady Walden, ich habe die Ehre.« Walden fragte sich: Warum geht mir dieser Kerl derart auf die Nerven? Lydia bot ihm Tee an, und Walden bat ihn, Platz zu nehmen. Walden war nicht zu Plaudereien aufgelegt; er war ungeduldig und wollte wissen, was all dieser Wirbel zu bedeuten hatte. Churchill begann: »Zuerst einmal bitte ich Sie, auch im Namen des Königs, um Verzeihung, daß ich mich Ihnen aufgedrängt habe.« Walden nickte, verzichtete aber auf die Bemerkung, es mache ihm nichts aus. Churchill fuhr fort: »Ich könnte hinzufügen, daß ich es nicht getan hätte, wenn es nicht sehr dringlich wäre.« »Dann sagen Sie mir lieber gleich, um was es sich handelt.« »Wissen Sie, was gegenwärtig auf dem Geldmarkt geschieht?« »Ja. Der Diskontsatz ist gestiegen.« »Von eindreiviertel auf etwas unter drei Prozent. Ein enormer Anstieg, und das innerhalb von wenigen Wochen.« »Ich nehme an, Sie wissen, warum.« Churchill nickte. »Deutsche Firmen haben in ganz großem Maße Schulden eingetrieben, Bargeld angehäuft und Gold gekauft. Noch ein paar Wochen wie diese, und Deutschland wird alle Außenstände aus anderen Ländern einkassiert haben. Es wird seine eigenen Schulden offenstehen lassen – und dann werden seine Goldreserven höher sein als je zuvor.« 125
»Die Deutschen bereiten sich auf den Krieg vor.« »Auf diese und andere Art. Sie haben über die normalen Steuern hinaus eine Milliarde eingetrieben, um ihre Armee, die bereits die stärkste in Europa ist, noch mehr aufzurüsten. Sie werden sich erinnern, daß es im Jahre 1909, als Lloyd George die britischen Steuern um fünfzehn Millionen Pfund erhöhte, beinahe zu einer Revolution gekommen ist. Aber eine Milliarde Mark entspricht fünfzig Millionen Pfund. Es ist der höchste Steueraufwand in der Geschichte Europas ...« »Gewiß«, unterbrach ihn Walden. Churchill war im Begriff, theatralisch zu werden, aber Walden wollte sich keine weitschweifigen Reden anhören. »Wir Konservativen machen uns schon seit langem über den deutschen Militarismus Sorgen. Und jetzt, kurz vor zwölf, erzählen Sie mir, daß wir recht haben.« Churchill ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. »Deutschland wird Frankreich angreifen, das ist so gut wie sicher. Die Frage ist, ob wir Frankreich zu Hilfe kommen werden.« »Nein«, erwiderte Walden überrascht. »Der Außenminister hat uns versichert, daß wir Frankreich gegenüber keine Verpflichtungen haben ...« »Sir Edward hat es natürlich ehrlich gemeint«, sagte Churchill. »Aber er hat sich geirrt. Unser Bündnis läßt es nicht zu, daß wir untätig zusehen, wie Frankreich von Deutschland besiegt wird.« Walden war entsetzt. Die Liberalen hatten alle – auch ihn – überzeugt, daß sie England aus dem Krieg heraushalten würden, und jetzt behauptete einer ihrer führenden Minister das Gegenteil. Die Doppelzüngigkeit der Politiker konnte ihn zur Raserei bringen. Viel schlimmer noch waren die Folgen eines solchen Krieges. Er dachte an die jungen Leute aus seiner Umgebung, die eingezogen werden würden: die geduldigen Gärtner in seinem Park, die frechen Diener, die sonnengebräunten Bauernjungen, die aufsässigen Gymnasialschüler, die Müßiggänger in den Clubs von St. James ... Viele ernüchternde Gedanken gingen ihm durch den Kopf, ehe er fragte: »Können wir den Krieg gewinnen?« Churchill machte ein ernstes Gesicht. »Ich glaube nicht.« Walden starrte ihn an. »Zum Teufel, was haben Sie und Ihre Regierung getan?« Churchill ging in die Defensive. »Es war unsere Politik, den Krieg zu vermeiden, aber das kann man nicht, indem man sich gleichzeitig bis an die Zähne bewaffnet.« »Es ist Ihnen also nicht gelungen, den Krieg zu vermeiden.« »Wir versuchen es noch.« »Aber Sie glauben nicht, daß es gelingen wird.« Churchill sah ihn einen Augenblick herausfordernd an, schluckte dann jedoch seinen Stolz hinunter. »So ist es.« »Und was wird nun geschehen?« »Falls England und Frankreich gemeinsam nicht in der Lage sind, Deutschland zu besiegen, brauchen wir einen dritten Verbündeten: Rußland. Wenn Deutschland an zwei Fronten kämpfen muß, können wir gewinnen. Die russische Armee ist zwar schlecht ausgerüstet und korrupt wie alles in diesem Lande – aber das macht nichts, solange sie einen Teil der deutschen Streitkräfte bindet.« Churchill wußte sehr wohl, daß Lydia Russin war, und es entsprach der für ihn typischen Taktlosigkeit, daß er ihr Land in ihrer Gegenwart verunglimpfte. Walden ließ es indes geschehen, denn was Churchill sagte, interessierte ihn zu sehr. »Rußland ist ja bereits mit Frankreich verbündet«, warf er ein. »Das genügt nicht«, sagte Churchill. »Rußland ist zum Eingreifen verpflichtet, falls Frankreich das Opfer eines Angriffs sein sollte. Es bleibt Rußland überlassen zu beurteilen, ob Frankreich in einem solchen Fall das Opfer oder der Angreifer wäre. Wenn ein Krieg ausbricht, behaupten immer beide Seiten, das Opfer zu sein. Daher verpflichtet die Allianz Rußland nur dann zum Kampf, wenn es wirklich kämpfen will. Wir müssen Rußland noch einmal ganz fest und unwiderruflich auf unsere Seite bringen.« 126
»Ich kann mir schlecht vorstellen, daß ausgerechnet ihr Liberalen dem Zaren die Hand reicht.« »Dann beurteilen Sie uns falsch. Um England zu retten, würden wir uns auch mit dem Teufel einlassen.« »Euren Anhängern wird das nicht gefallen.« »Sie werden es gar nicht erfahren.« Jetzt durchschaute Walden, wohin das alles führte, und er fand die Aussicht aufregend. »Was haben Sie im Sinn? Ein geheimes Abkommen? Oder eine stillschweigende Übereinkunft?« »Beides.« Walden blickte Churchill aus schmalen Augen an. Dieser junge Demagoge könnte Köpfchen haben, sagte er sich, und dieses Köpfchen könnte gegen meine Interessen arbeiten. Die Liberalen wollen also eine geheime Abmachung mit dem Zaren treffen, ungeachtet des Hasses, den das englische Volk gegen das brutale Regime in Rußland empfindet – aber warum erzählt er mir das? Sie wollen mich auf irgendeine Weise einspannen, das ist mir klar. Aber zu welchem Zweck? Etwa, um später, wenn alles schiefgelaufen ist, einen Konservativen als Sündenbock zu haben? Falls man mich in eine solche Falle locken will, braucht man einen geschickteren Ränkeschmied als diesen Churchill. Walden sagte: »Fahren Sie fort.« »Ich habe vor einiger Zeit Kooperationsgespräche mit den Russen bezüglich der Kriegsmarine in die Wege geleitet – parallel zu unseren militärischen Verhandlungen mit den Franzosen. Eine Weile haben sie sich auf ziemlich niedriger Ebene abgespielt, aber jetzt fangen sie an, ernsthaft zu werden. Ein junger russischer Admiral kommt nach London. Sein Name ist Fürst Alexei Andrejewitsch Orlow.« »Alex!« rief Lydia aus. Churchill blickte sie an. »Ich glaube, er ist mit Ihnen verwandt, Lady Walden.« »Ja«, sagte Lydia, und aus einem Walden nicht bekannten Grund sah sie verlegen aus. »Er ist der Sohn meiner älteren Schwester, demnach wäre er wohl ... mein Vetter?« »Neffe«, berichtigte Walden. »Ich wußte gar nicht, daß er Admiral geworden ist«, fuhr Lydia fort. »Er muß kürzlich dazu ernannt worden sein.« Sie war wieder kühl und völlig beherrscht, und Walden glaubte, sich ihre momentane Verlegenheit nur eingebildet zu haben. Er freute sich, daß Alex nach London kam, denn er mochte ihn. Lydia sagte: »Er ist noch sehr jung für eine solche Verantwortung.« »Er ist dreißig«, bemerkte Churchill, und Walden fiel auf, daß Churchill mit seinen vierzig Jahren ebenfalls sehr jung für den Oberbefehl über die gesamte Royal Navy war. Churchills Gesichtsausdruck schien zu sagen: Die Welt gehört begabten jungen Männern wie mir und Orlow. Aber er braucht mich, sinnierte Walden. »Außerdem«, fuhr Churchill fort, »ist Orlow ein Neffe des Zaren durch seinen Vater, den verstorbenen Großfürsten, und – was noch wichtiger ist – er gehört zu den wenigen Leuten neben Rasputin, die der Zar schätzt und denen er vertraut. Wenn einer in der russischen Kriegsmarine den Zaren auf unsere Seite bringen kann, dann Orlow.« Jetzt stellte Walden die Frage, die ihm schon lange auf der Zunge lag. »Und was habe ich mit alledem zu tun?« »Ich möchte, daß Sie England in diesen Verhandlungen vertreten – und ich möchte, daß Sie mir Rußland auf einem Tablett servieren.« Dieser Kerl kann seinem Hang zur Melodramatik einfach nicht widerstehen, durchfuhr es Walden. »Sie wollen, daß ich mit Alex über eine englisch-russische Militärallianz verhandle?« »Ja.« Walden sah sofort die Herausforderung, die Schwierigkeiten, aber auch die Chance, die in dieser Aufgabe lag. Er verbarg seine Erregung. 127
Churchill erklärte weiter: »Sie kennen den Zaren persönlich. Sie kennen Rußland und sprechen fließend Russisch. Sie sind durch Ihre Ehe Orlows Onkel. Sie haben schon einmal den Zaren überredet, mit England und nicht mit Deutschland gemeinsame Sache zu machen, als Sie 1906 intervenierten, um die Ratifizierung des Vertrags von Björkö zu verhindern.« Churchill machte eine Pause. »Trotzdem waren Sie nicht unsere erste Wahl, um Großbritannien bei diesen Verhandlungen zu vertreten. Sie wissen ja, wie die Dinge in Westminster stehen ...« »Ja, ja.« Walden hatte keine Lust, jetzt darüber zu diskutieren. »Aber aus einem mir nicht bekannten Grund haben Sie sich eines anderen besonnen.« »Um es kurz zu sagen, Sie waren die Wahl des Zaren. Sie scheinen der einzige Engländer zu sein, dem er traut. Jedenfalls hat er seinem Vetter, Seiner Majestät König George V., ein Telegramm geschickt, in dem er darauf besteht, daß Sie die Verhandlungen führen.« Walden konnte sich die Bestürzung unter den Radikalen vorstellen, als sie erfuhren, daß sie einen reaktionären alten adligen Tory in ihre geheimsten Pläne einweihen mußten. »Das dürfte Sie aber ganz schön entsetzt haben«, sagte er. »Durchaus nicht. Unsere außenpolitischen Ansichten unterscheiden sich gar nicht so sehr von den Ihren. Und ich hatte schon immer das Gefühl, daß unsere innenpolitischen Meinungsverschiedenheiten kein Grund sein sollten, die Fähigkeiten Eurer Lordschaft der Regierung Seiner Majestät vorzuenthalten.« Jetzt schmeichelt er mir auch noch, dachte Walden. Sie scheinen mich wirklich zu brauchen. Dann fragte er: »Wie lange soll die Angelegenheit geheimgehalten werden?« »Es wird zunächst wie ein Familienbesuch aussehen. Falls Sie einverstanden sind, wird Orlow während der Londoner Saison bei Ihnen wohnen. Sie werden ihn in die Gesellschaft einführen. Gehe ich recht in der Annahme, daß Ihre Tochter in diesem Jahr ihr Debüt machen wird?« Er blickte Lydia an. »So ist es«, sagte sie. »Dann werden Sie ja vermutlich viel ausgehen. Orlow ist, wie Sie wissen, Junggeselle, und ein sehr begehrter dazu. Wir werden also im Ausland leicht das Gerücht verbreiten können, er schaue sich nach einer englischen Ehefrau um. Vielleicht findet er sogar eine.« »Eine gute Idee.« Walden stellte plötzlich fest, daß ihm die Sache gefiel. Unter den konservativen Regierungen Salisbury und Balfour hatte er immer eine halboffizielle Diplomatenstellung eingenommen, sich aber dann in den letzten acht Jahren aus der internationalen Politik zurückgezogen. Jetzt hatte er eine Chance, die alten Beziehungen wiederaufleben zu lassen, und er erinnerte sich, wie aufreibend und faszinierend solche Aufgaben waren: die Geheimhaltung, die spielerische Technik des Verhandeins, die Bewältigung von Persönlichkeitskonflikten, die mit äußerster Vorsicht geübte Kunst der Überredung, der Einschüchterung oder der Drohung mit Krieg. Die Russen waren keine leichten Verhandlungspartner, wie er selbst erfahren hatte. Sie neigten zu Launen, Starrköpfigkeit und Arroganz. Aber mit Alex würde er bestimmt auskommen. Als Walden Lydia geheiratet hatte, war der damals zehnjährige Alex in seinem Matrosenanzug unter den Hochzeitsgästen gewesen. Später hatte er ein paar Jahre auf der Universität von Oxford verbracht und die Waldens während seiner Ferien besucht. Der Vater des Jungen war tot, und Walden hatte ihm mehr Zeit gewidmet, als er normalerweise für einen jungen Mann aufgebracht hätte. Die ideale Grundlage für Verhandlungen. Ich glaube, es wird mir gelingen, dachte er. Churchill sagte: »Darf ich annehmen, daß Sie es tun werden?« »Selbstverständlich«, sagte Walden. Analyse der beiden Versionen Die kleineren und größeren Geschehnisse in diesen beiden Versionen sind im wesentlichen ähnlich, teilweise gar identisch, und doch unterscheiden sich die beiden Szenen in einer Vielzahl mehr oder weniger bedeutender Einzelpunkte. Wir können hier aus Platzgründen nicht auf jede einzelne kleine Änderung eingehen (Sie haben sicher auch mehr davon, wenn 128
Sie die Texte selbst vergleichen). Die Frage, der wir im folgenden nachgehen wollen, lautet: Was lehrt uns Folletts Vorgehensweise über den Aufbau eines Bestsellerromans? Der erste Eindruck von einer Person ist entscheidend. Der Autor kann also schon bei der Einführung einer Person maßgeblich mitbestimmen, was seine Leser im Verlauf des Buches gegenüber der betreffenden literarischen Figur empfinden. Walden, der Protagonist unseres Romans, wirkt im ersten Entwurf herrisch, hochnäsig, ja ein wenig spießig, wie ein Mann ohne enge persönliche Bindungen an andere Menschen. In der Endfassung, in der er nicht mehr distanzierend als Earl of Walden bezeichnet wird, begegnen wir einem Mann, der einen wundervollen Sonntagnachmittag zu genießen weiß. Sein Bruder und dessen Familie sind zu Besuch, und er kann sich nichts Schöneres vorstellen, als zum Tagesausklang dem Klavierspiel seiner Frau zu lauschen. Wir erfahren, daß Pritchard, der Haushofmeister, gleichermaßen Freund wie Diener ist. Beim Eintreten Churchills fragt sich Walden: Was geht mir an dem Burschen nur so auf die Nerven? Waldens Gefühle und Emotionen – Eigenschaften, die seine Menschlichkeit betonen – kommen in der Szene mit Churchill viel deutlicher zum Ausdruck als in der Erstversion. Auch daß er Mitgefühl für seine Frau empfindet, als Churchill taktlos die Russen herabsetzt, ist bezeichnend. Im drohenden Krieg sieht Walden nicht mehr, wie in der ersten Fassung, eine Art großes Schachspiel, sondern er macht sich Sorgen um das Schicksal der jungen Leute in seiner Umgebung. Und als er erfährt, daß Alexei Orlow sein russischer Verhandlungspartner sein wird, freut er sich. Alex ist nicht nur Lydias Neffe, sondern ein junger Mann, der während seines Studiums in Oxford häufig zu Besuch war und dem sich Walden freundschaftlich verbunden fühlt. Alles in allem wird Walden sensibler, zugänglicher und herzlicher im Umgang mit seinen Mitmenschen geschildert, und er nimmt die Herausforderung seiner neuen Aufgabe mit größerer Begeisterung und Abenteuerlust an. Leser wollen »auf Tuchfühlung« mit den Charakteren eines Romans sein, wollen das gleiche sehen, hören und riechen wie sie und unmittelbar in ihr Lebensumfeld hineinversetzt werden. Die erste Version beginnt gleich mit der Ankunft Churchills, während die Endfassung zuerst einmal die Bühne bereitet. Beachten Sie die kargen Mittel, derer sich Follett bedient: Wir sehen einen Park mit hohen Bäumen, eine schottische Fichte, ein paar mächtige Eichen; wir erfahren, daß Walden zum Kirchgang einen Gehrock trug, zum Abendessen im Frack erscheinen wird und im Augenblick einen Tweedanzug mit weichem Hemd trägt. Das Ambiente, in dem Walden zu Hause ist, wird auf einer Seite grob umrissen. Der Leser bekommt einen Eindruck vom Ort des Geschehens. Im späteren Verlauf des Romans werden je nach Bedarf weitere Einzelheiten des palastartigen Gutshauses und der dazugehörigen weitläufigen Ländereien dargestellt. Die richtige Auswahl und Plazierung von Sachinformationen überzeugt uns, reduziert unsere Skepsis und verleiht Personen und Ereignissen, von denen wir wissen, daß sie erfunden sind, Glaubwürdigkeit. In der ersten Fassung erfahren wir zum Beispiel, daß die Angriffe von Churchills liberaler Regierung auf den traditionellen englischen Lebensstil so heftig geworden sind, daß die liberalen Politiker praktisch aus der guten Gesellschaft ausgeschlossen wurden. Begründet oder durch Beispiele illustriert werden diese sogenannten Angriffe jedoch nicht; sie bleiben daher abstrakt und für den Leser nicht faßbar. In der Endversion liefert Follett die entscheidenden Hintergrundinformationen. Wir erfahren, worum es bei diesen Angriffen geht: »Landbesitz mit Steuern zu belegen, das Oberhaus zu unterminieren, Irland den Katholiken zu überlassen, die Royal Navy zu schwächen und den erpresserischen Forderungen der Gewerkschaften und der verdammten Sozialisten nachzugeben«. Die hochbrisanten Verhandlungen zwischen Walden und Alex bilden einen der Grundpfeiler des Romans. Ein Thriller erfordert höchsten Einsatz und höchstes Risiko. Das heißt im vorliegenden Fall: England muß sich in tödlicher Gefahr befinden. In der ersten Fassung sieht Walden zwar den Krieg mit Deutschland kommen, macht sich aber über die nachteiligen Folgen für England oder sich selbst kaum Gedanken. In der Endversion steckt dagegen der 129
Dialog mit Churchill voller Emotionen, Überraschungseffekte und Konflikte und ist überdies mit zahlreichen neuen Details angereichert. Schockiert erfährt Walden, daß von England die militärische Unterstützung Frankreichs erwartet wird, und noch entsetzter ist er, als Churchill zugibt, daß Franzosen und Briten nicht einmal gemeinsam imstande wären, die Deutschen zu schlagen. Es gibt für England nur eine Rettung: die Zusammenarbeit mit dem Zaren. Und die Gesamtverantwortung für einen erfolgreichen Vertragsabschluß liegt bei Walden. Follett nimmt noch zahlreiche weitere Änderungen vor: Er schildert Churchills Ankunft, charakterisiert Pritchard, verfeinert Dialoge, schmückt Detailbeschreibungen aus, überträgt Informationen vom inneren Monolog oder von der Erzählung des Autors in den direkten Dialog und verschiebt Textpassagen. Besonders hinweisen möchte ich auf eine kleine Änderung, die Lydias Reaktion auf Churchills erstmalige Erwähnung des russischen Fürsten betrifft. In der ersten Fassung heißt es: »Sein Name ist Fürst Alexei Andrejewitsch Oblomow.« Churchill sah Lydia an. »Ich glaube, er ist mit Ihnen verwandt, Lady Walden.« »Ja«, sagte Lydia, und aus einem Walden nicht bekannten Grund sah sie verlegen aus. »Er ist der Sohn meiner Cousine, dann ist er also mein ...« »Cousin zweiten Grades«, half Walden aus. »Er ist sehr jung für einen Admiral«, fuhr Lydia fort. Sie bot wieder das übliche Bild vollkommener Ruhe, und Walden glaubte, sich ihre momentane Verlegenheit nur eingebildet zu haben. Die Endfassung hingegen lautet: »... Sein Name ist Fürst Alexei Andrejewitsch Orlow.« »Alex!« rief Lydia aus. Churchill blickte sie an. »Ich glaube, er ist mit Ihnen verwandt, Lady Walden.« »Ja«, sagte Lydia, und aus einem Walden nicht bekannten Grund sah sie verlegen aus. »Er ist der Sohn meiner älteren Schwester, demnach wäre er wohl ... mein Vetter?« »Neffe«, berichtigte Walden. »Ich wußte gar nicht, daß er Admiral geworden ist«, fuhr Lydia fort. »Er muß kürzlich dazu ernannt worden sein.« Sie war wieder kühl und völlig beherrscht, und Walden glaubte, sich ihre momentane Verlegenheit nur eingebildet zu haben. In beiden Versionen geht es darum, Lydias Betroffenheit darzustellen. Die Ankündigung dieses Verwandtenbesuchs erinnert sie an ihr früheres Leben in St. Petersburg, von dem sie partout nichts mehr wissen will. In der ersten Version erwähnt Churchill Oblomows Namen und fragt im gleichen Atemzug nach der Verwandtschaft. Lydias Antwort ist ein nichtssagendes »Ja«. In der zweiten Version ruft Lydia, kaum daß Churchill den Namen ausgesprochen hat: »Alex!« Dies ist eine Reaktion, die unverkennbar innere Erregung oder Bestürzung verrät. Danach erst erkundigt sich Churchill nach der Verwandtschaft. Waldens Eindruck, seine Frau sei auf einmal verlegen, wirkt auf dieser Basis plausibler. Sicher wird Ihnen auch aufgefallen sein, daß aus Oblomow Orlow wurde, aus einem Cousin zweiten Grades ein Neffe und daß Lydias russische Herkunft durch ihre Suche nach dem richtigen Wort für »Neffe« um eine Nuance deutlicher betont wird. Die Änderungen in dieser Dialogpartie scheinen minimal und unerheblich zu sein, doch machen Hunderte von kleinsten Veränderungen dieser Art den Meister aus. Erstfassung des letzten Teils von Kapitel eins Felix Muronziw sah aus dem Abteilfenster, als die Sonne über den Obstgärten und Hopfenfeldern von Kent aufging. Dover hatte er bei Dunkelheit erreicht, so daß er seinen ersten Eindruck von England nun vom Zug aus gewann. Er entsann sich noch seiner Jugend, als er und andere russische Extremisten Englands konstitutionelle Monarchie für die ideale Regierungsform gehalten hatten – lange Zeit bevor sie zu der Erkenntnis kamen, daß drastischere Veränderungen vonnöten waren. In einem Land, dachte er, das so fruchtbar und grün ist wie England, muß politische Stabilität 130
leicht zu erreichen sein. Sein Staunen nahm kein Ende. Wie hübsch doch dieses Europa war mit seinen sauberen Feldern, den schmucken Häusern, den wohlgenährten Tieren und wohlgenährten, lächelnden Menschen! Er war schockiert gewesen, als er es zum erstenmal sah, denn wie jeder andere russische Bauer hatte er sich nicht vorstellen können, daß es eine solche Welt gab. Diese Menschen müssen glücklich sein, hatte er gedacht, glücklich und warmherzig. Er erinnerte sich an das Morgengrauen in seinem Heimatdorf: bleigrauer Himmel voller Wolken, bitterkalter Wind, ein gefrorenes, sumpfiges Feld mit Eispfützen und reifüberzogenen Grasbüscheln. Er sah sich in seinem abgetragenen Kittel aus Zeltleinwand, die Füße in Filzsocken und Holzschuhen, und seinen Vater, der die armselige Robe eines Landpopen trug und ihm immer wieder erklärte, Gott sei gut. Sein Vater hatte das russische Volk geliebt, weil Gott es liebte. Aber für Felix war es immer klar gewesen, daß Gott dieses Volk hassen mußte, da Er es einem so grausamen Schicksal überließ. Von der Erkenntnis, daß Gott nicht gut war, war es nur ein kleiner Schritt bis zu der Erkenntnis, daß es ihn gar nicht gab. Aller Logik nach hätte das russische Volk Felix nun gleichgültig sein können, aber er spürte, daß dem nicht so war. Schließlich erkannte er, daß nur der Mensch menschlicher Sorge wert war. Und noch immer ging er zur Kirche, denn er hatte keinen anderen Glauben. Das änderte sich ausgerechnet in der Zeit, als er in St. Petersburg zur Priesterschule ging. Er hatte sich mit Kommilitonen angefreundet, die an der Universität weltliche Fächer studierten, war zu ihnen eingeladen worden und hatte ihren flammenden Reden gelauscht. Es ging um Republikanismus, Demokratie und schließlich auch um Anarchismus. Sprüche wie »Jedes Eigentum ist Diebstahl« waren ihm zuerst unbegreiflich, dann aber wie eine Erleuchtung vorgekommen. Der Anarchismus hatte auf alle seine Fragen eine Antwort. Warum gehört dem Adel das Land? Antwort: Es gehört ihm nicht, er hat es dem Volk gestohlen. Mit welchem Recht regiert der Zar? Antwort: Mit gar keinem, er ist ein Tyrann. Diese Erkenntnisse trafen Felix mit der Wucht von Wahrheiten, die, erst einmal ausgesprochen, sich selbst beweisen. Länger hatte er gebraucht, um sich von der von seinem Vater übernommenen Philosophie der Gewaltlosigkeit zu befreien. Im Jahr 1894 hatte er es noch abgelehnt, sich in die Pläne zur Ermordung Zar Alexanders III. verwickeln zu lassen, doch er kannte die Leute, die das planten, und bewunderte sie bis zu einem gewissen Grade sogar. Sie setzten ihre Pläne erfolgreich in die Tat um, wurden aber erwischt. Achtzigtausend Menschen hatten zugesehen, als die Attentäter gehenkt wurden, und er war einer der Gaffer gewesen. Die barbarische Szene war typisch für den russischen Adel. Eine der Verurteilten war eine Frau, Petrowskaja; ein anderer, Rysakow, war mit seinen achtzehn Jahren fast noch ein Kind, jünger als Felix. Der Henker war betrunken. Die Schemel, die er wegstieß, waren zu niedrig, so daß keiner der Gehenkten auf der Stelle starb. Die Schlinge um Michailows Hals war so schlecht geknüpft, daß sie aufging; der Delinquent mußte hochgehoben und noch einmal gehenkt werden, und weil es auch da nicht klappte, ein drittes Mal. Um ein Haar hätte dieses Erlebnis Felix´ Einstellung zur Gewalt geändert. Das ist ein Krieg, hatte er gedacht, wir müssen töten. Aber er hatte auch weiterhin die andere Wange hingehalten. Im Jahr darauf verhaftete und folterte ihn die Geheimpolizei, und noch immer glaubte er nicht an Gewalt. Nach seiner Entlassung vagabundierte er in einer Mönchskutte durchs Land und predigte das Evangelium des Anarchismus. Er sagte den Bauern, das Land gehöre ihnen, weil sie es pflügten, und das Holz im Wald demjenigen, der den Baum fälle. Niemand außer ihnen selbst habe das Recht, sie zu regieren, und da eine Selbstregierung überhaupt keine Regierung sei, handele es sich um Anarchismus. Er war ein hervorragender Prediger, und er bekehrte viele. Wenn inzwischen wenigstens ein Bruchteil der Landbevölkerung einige Grundbegriffe politischer Bildung beherrschte, so war das nicht zuletzt sein Verdienst. 131
Fast zehn Jahre lang hatte er dieses Leben geführt. Nun, da ihn der Zug durch den Garten Englands trug, erkannte er rückblickend, wie ähnlich er seinem Vater gewesen war. Gewiß, es war ein ganz anderes Evangelium gewesen, doch auch er hatte immer nur gepredigt, hatte versucht, das Volk zu bilden und ihm ein besseres Leben zu verschaffen, indem er es belehrte und unter ihm lebte. Diese Zeit endete, als er erneut inhaftiert wurde. Diesmal schickten sie ihn nach Sibirien. Seine Wanderjahre hatten ihn gegen Kälte, Hunger und Schmerz unempfindlich gemacht, doch die Arbeit mit den Kettensträflingen, die mit hölzernen Werkzeugen Gold aus einer Mine förderten und auch dann weiterarbeiten mußten, wenn der Mann neben ihnen tot umfiel, die zusehen mußten, wie Kinder und Frauen ausgepeitscht wurden, lehrte ihn Trübsinn, Erbitterung, Verzweiflung und schließlich Haß. In Sibirien begriff er die elementaren Fakten des Lebens: stiehl oder verhungere, versteck dich oder laß dich schlagen, kämpfe oder stirb. Er lernte, hinterlistig und rücksichtslos zu sein, und er brachte einen Menschen um. Er erkannte das Geheimnis der Unterdrückung: Sie funktioniert nur, wenn ihre Opfer sich gegenseitig zerfleischen, anstatt sich gegen ihre Unterdrücker zu wenden. Und er erkannte auch das letzte Geheimnis über sich selbst: daß nämlich auch er zur gleichen Barbarei fähig war wie der rohste, halbverrückte Bauer. Seine Flucht war ein Meisterstück, denn die Lagerleitung hielt ihn für tot und verfolgte ihn daher nicht. Er hatte ihnen sogar eine nicht identifizierbare Leiche hinterlassen. Doch die Flucht aus dem Lager war, verglichen mit der Flucht aus Sibirien, nur der erste, leichtere Schritt. Den größten Teil der Strecke hatte er zu Fuß zurückgelegt, wenn er auch manchmal auf Güterwagen aufgesprungen war, in denen Erz oder Tierfelle transportiert wurden. Zwei Jahre hatte er gebraucht, und in dieser Zeit verlor er fast all seine Menschlichkeit. Wenn er in eine Stadt oder ein Dorf kam, hielt er sich nur in den Außenbezirken auf, um im Müll nach Nahrung zu stöbern. Er hatte bei den Tieren geschlafen und ihr Futter gegessen; er war in einem offenen Güterwagen durch einen Schneesturm gefahren, und einmal hatte er ein Pony gestohlen, es zu Tode geritten und dann von seinem Fleisch gegessen. Er balancierte ständig am Rande des Wahnsinns entlang, ja, vielleicht war er zeitweise tatsächlich wahnsinnig. Dann, als er sich endlich wieder in eine Stadt wagte und durch ihre Straßen ging, machte er eine erstaunliche Entdeckung: Er hatte keine Angst mehr. Nichts konnte ihm mehr Furcht einjagen. War er hungrig, so stahl er; wurde er verfolgt, so versteckte er sich; wurde er bedroht, so tötete er. Er hatte auch keine Wünsche mehr. Nichts tat mehr weh. Liebe, Stolz, Verlangen und Mitleid waren vergessene Gefühle. Sie alle kehrten mit der Zeit wieder zurück – bis auf die Angst. Er tauschte seine Lumpen gegen Dinge ein, die entfernt an Kleidungsstücke erinnerten. Er besann sich wieder darauf, wie man sich selbst sauber hält. Er gewöhnte sich wieder an, beim Essen an einem Tisch zu sitzen und ein Messer zu benutzen. Er sprach wieder mit Menschen und arbeitete eine Zeitlang als Tagelöhner. Eines Tages fand er ein Buch und erinnerte sich, daß er lesen konnte – und da wußte er, daß er endlich dem Grab entstiegen war. Nun war er mit Leib und Seele Revolutionär. Er konnte nicht begreifen, daß er einst Skrupel gehabt hatte, Bomben auf Aristokraten zu werfen, denen die Sträflingsbergwerke in Sibirien gehörten. Der Tod war für sie noch die geringste Strafe. Er schloß sich einer revolutionären Zelle an, erlernte den Umgang mit Sprengstoffen und führte ohne die geringste Hemmung ein Attentat aus. Die Gruppe schätzte ihn, doch niemand wollte ihm nahe kommen. Sein Blick machte sie nervös. Dann wurde die Gruppe verraten, wie es früher oder später mit jeder dieser Gruppen geschah. Die Geheimpolizei stürmte in der Nacht in ihre Wohnungen, und alle wurden verhaftet – außer Felix, der einen Polizisten tötete, einen zweiten verstümmelte und entkam. Danach mußte er Rußland verlassen. Er ging in die Schweiz, wo viele russische Revolutionäre verschiedenster Couleur lebten. Dort wurde Felix immer zivilisierter. Er trank Bier statt Wodka, aß nicht nur mit dem Messer, sondern auch mit der Gabel, trug Kragen und Krawatte 132
und besuchte Konzerte. Er fand Arbeit in einer Buchhandlung – und war innerlich zutiefst unzufrieden. Rußland war in Aufruhr, und Zar Nikolaus II. war der unfähigste Herrscher, den eine degenerierte Aristokratie hervorbringen konnte. Das Parlament war machtlos. Die Arbeiter auf den Ölfeldern kämpften gegen die Kosaken, und eine Million Arbeiter standen im Streik. Das Land war ein Pulverfaß, das nur auf einen Funken wartete, und Felix wollte dieser Funke sein. Aber es wäre Wahnsinn, jetzt zurückzugehen. Josef Stalin war zurückgekehrt. Aber kaum hatte er russischen Boden betreten, hatte man ihn nach Sibirien geschickt. Die Geheimpolizei kannte die Exilrevolutionäre besser als die, die zu Hause geblieben waren. Felix fühlte sich eingeengt in seinem steifen Kragen, seinen Lederschuhen und den Umständen, in denen er lebte. Als er endlich eine Chance sah, packte er sie sofort beim Schöpf. Sie ergab sich durch einen Verräter in der Ochrana, der Geheimpolizei des Zaren. Die pflegte Maulwürfe in die revolutionären Zellen einzuschleusen, die einerseits über deren Aktivitäten Bericht erstatteten, sie andererseits aber auch zu Bombenanschlägen und anderen Terrorakten anspornten. Einige Leute, die die Ochrana anwarb, waren freilich echte Revolutionäre, und andere ließen sich bekehren durch das, was sie auf den Versammlungen, die sie eigentlich ausspionieren sollten, zu hören bekamen. Die Ochrana war also mit Verrätern durchsetzt. Einer von ihnen hatte erfahren, daß Fürst Oblomow nach England ging, um mit dem Earl of Walden ein militärisches Abkommen auszuhandeln, das Rußland dazu verpflichtete, auf seiten Englands zu kämpfen, wenn ein Krieg ausbrechen sollte. Felix war wütend. Der Krieg würde auf dem Rücken der russischen Bauern ausgetragen werden. Er hatte den größten Teil seines Lebens unter diesen Menschen verbracht. Sie waren hart, grob und starrköpfig, aber ihre närrische Großzügigkeit und ihre gelegentlichen spontanen Ausbrüche unbändiger Fröhlichkeit deuteten darauf hin, wie sie in einer anständigen Gesellschaftsform sein könnten. Ihre Hauptsorgen betrafen das Wetter, die Tiere, Krankheit, Geburten und das Überlisten der Gutsbesitzer. Ein paar Jahre ihres Lebens, etwa im Alter von siebzehn bis zwanzig, waren sie kräftig und aufrecht, konnten lächeln, rennen und flirten, aber bald darauf wurden sie gebeugt, grau, langsam und mürrisch. Jetzt also würde Fürst Oblomow diese Leute in der Blüte ihrer Jugend aufgreifen und vor den Geschützen aufmarschieren lassen. Man würde sie in Stücke schießen, zu Krüppeln werden oder mit lebenslangem Durchfall infizieren lassen, und das alles aus Gründen der internationalen Diplomatie. Und deshalb reiste Felix jetzt nach England, um Oblomow und Walden zu töten. Im Hinterzimmer einer Züricher Arbeiterkneipe hatte die revolutionäre Zelle des langen und breiten die Konsequenzen eines solchen Attentats diskutiert. Die erste und wichtigste bestand darin, daß die Verhandlungen über den mörderischen Vertrag abgebrochen werden würden. Zweitens würde, sobald bekannt war, daß der Attentäter ein russischer Exilrevolutionär war, ein alter Streit zwischen England und Rußland neu entbrennen: die Frage der Flüchtlinge. England hatte, ebenso wie die Schweiz, eine liberale Einwanderungspolitik und nahm Untergrundaktivisten auf, die aus Rußland hatten fliehen müssen. Das erzürnte den Zaren, der – völlig zu Recht – behauptete, die Flüchtlinge hätten nichts anderes im Sinn, als ihre Rückkehr vorzubereiten und Mordpläne gegen ihn zu schmieden. Das britische Establishment war von diesen Gästen nicht sonderlich erbaut, denn gelegentlich raubten sie zur Verbesserung ihrer Finanzen Banken aus, und meist waren sie auch viel eher als einheimische Diebe bereit, zur Feuerwaffe zu greifen. Aber die öffentliche Meinung und das Gewissen der liberalen Regierung wollten sie nicht der bestialischen Geheimpolizei des Zaren ausliefern, die Oppositionelle gefangensetzte, folterte und hinrichtete. Der Streit darüber schwelte immer noch, und sollte Oblomow von einem russischen Flüchtling umgebracht werden, würde er erneut lichterloh aufflammen. Eine Fortsetzung der Vertragsverhandlungen mit neuen Unterhändlern war dann nicht zu erwarten. 133
Zum dritten, und das war der wichtigste Punkt, würde die Zelle bekanntgeben, daß Oblomow und Walden nur deshalb umgebracht worden waren, weil sie einen heimtückischen Plan ausheckten, um das russische Volk in einen Krieg hineinzuziehen, der es gar nichts anging. Diese Nachricht würde Rußland nicht nur aus dem Krieg heraushalten, sondern vielleicht auch einen wütenden Aufstand auslösen, der in letzter Konsequenz zur Zerstörung des Zarenreiches führen konnte, dem Ziel, das alle Anarchisten anstrebten. Die ländliche Idylle jenseits des Zugfensters war längst verschwunden. Felder sah man kaum noch, statt dessen fiel der Blick des Reisenden immer öfter auf rußgeschwärzte Rückseiten von Häusern und Fabriken. Felix erkannte, daß der Zug bereits durch die Vororte von London fuhr. Noch einmal wanderten seine Gedanken in die Schweiz zurück. Die Diskussion über die Frage, wer von ihnen nach England gehen sollte, war sehr kurz gewesen. Ihm lag mehr als allen anderen daran, also fiel die Wahl auf ihn. So wurden eben Entscheidungen in einer anarchistischen Zelle gefällt: Es gab weder Disziplin noch Organisation noch eine Unterwerfung unter den Willen der Mehrheit, denn all dies hätte ja Unterdrückung statt Freiheit bedeutet. Vernünftig war die Entscheidung allemal, denn niemand in der Gruppe besaß auch nur annähernd soviel Erfahrung in den Dingen, auf die es nun ankam, wie er, Felix. Sie hatten mühsam das Geld für seine Reise zusammengekratzt – dritter Klasse natürlich – und ihm einen Pappkoffer gekauft. Felix hatte keine Verwendung dafür, denn er war ohne Koffer bereits um die halbe Welt gereist. Aber er nahm ihn mit, weil er dadurch unauffälliger wirkte. Endfassung des letzten Teils von Kapitel eins Felix Kschessinsky saß reglos in einem Eisenbahnwagen und wartete, daß der Zug den Bahnhof von Dover verließ. Es war kalt im Abteil, und draußen war es noch dunkel, so daß er im Fenster sein Spiegelbild sah: einen hochgewachsenen Mann mit gepflegtem Schnurrbart, schwarzem Mantel und steifem Hut. Ein kleiner Koffer lag im Gepäcknetz über ihm. Er glich einem Reisevertreter für Schweizer Uhren, aber wenn man ihn genauer betrachtete, bemerkte man, daß sein Mantel aus billigem Stoff, der Koffer aus Pappe und das Gesicht nicht das eines Mannes war, der Uhren verkauft. Felix Kschessinsky dachte an England. Er konnte sich an seine Jugendzeit erinnern, in der er Englands konstitutionelle Monarchie für die ideale Regierungsform gehalten hatte. Die Vorstellung amüsierte ihn, und über das flache, weiße Gesicht, das sich im Fenster spiegelte, huschte die Andeutung eines Lächelns. Schon lange hatte er seine Meinung über die ideale Regierungsform geändert. Der Zug fuhr ab, und wenige Minuten später sah Felix die Sonne über den Obstgärten und Hopfenfeldern von Kent aufgehen. Es erstaunte ihn immer wieder, wie schön Europa war. Als er es zum erstenmal gesehen hatte, war es ein Schock für ihn gewesen, denn wie jeder andere russische Bauer hatte er sich nicht vorstellen können, daß es eine solche Welt gab. Auch damals hatte er in einem Eisenbahnabteil gesessen. Nach einer langen Fahrt durch die dünn bevölkerten nordwestlichen Provinzen Rußlands mit ihren verkümmerten Bäumen, den elenden, im Schnee begrabenen Dörfern und den sich windenden Sandstraßen war er eines Morgens in Deutschland aufgewacht. Die sauberen grünen Felder, die gepflasterten Straßen, die schmucken Häuser in den Dörfern und die Blumenbeete auf den sonnigen Bahnsteigen – das alles war ihm wie ein Paradies erschienen. Später, in der Schweiz, hatte er auf der Veranda eines kleinen Hotels gesessen, warm in der Sonne und doch in Blickweite der schneebedeckten Berge, hatte Kaffee getrunken, ein frisches, knuspriges Brötchen gegessen und sich gedacht: Hier müssen die Menschen wirklich glücklich sein. Jetzt, zur frühen Morgenstunde, als er die zum Leben erwachenden englischen Farmhäuser betrachtete, erinnerte er sich an das Morgengrauen in seinem Heimatdorf: bleigrauer Himmel voller Wolken, bitterkalter Wind, ein gefrorenes, sumpfiges Feld mit Eispfützen und reifüberzogenen Grasbüscheln. Er sah sich in seinem abgetragenen Kittel aus Zeltleinwand, 134
die Füße in Filzsocken und Holzschuhen, und seinen Vater, der die armselige Robe eines Landpopen trug und ihm immer wieder erklärte, Gott sei gut. Sein Vater hatte das russische Volk geliebt, weil Gott es liebte. Aber für Felix war es immer klar gewesen, daß Gott dieses Volk hassen mußte, da Er es einem so grausamen Schicksal überließ. Diese Diskussionen waren der Beginn einer langen Reise gewesen, einer Odyssee, die Felix vom Christentum über den Sozialismus bis zum anarchistischen Terror geführt hatte, von der Provinz Tambow über St. Petersburg und Sibirien bis nach Genf. Und in Genf hatte er den Entschluß gefaßt, der ihn jetzt nach England brachte. Er erinnerte sich an die Sitzung. Fast hätte er sie verpaßt ... Fast hätte er die Sitzung verfehlt. Er war in Krakau gewesen, um mit den polnischen Juden zu verhandeln, die die Zeitschrift Meuterei über die Grenze nach Rußland schmuggelten. Erst am späten Abend war er nach Genf zurückgekehrt und hatte sich dort direkt in Ulrichs kleine Hinterhofdruckerei begeben. Das Redaktionskomitee hielt gerade eine Sitzung ab. Vier Männer und zwei junge Frauen hatten sich im Hinterzimmer um eine Kerze versammelt und planten die russische Revolution. Das Zimmer roch stark nach Druckerschwärze und Maschinenöl. Ulrich weihte ihn kurz in den bisherigen Verlauf der Diskussion ein. Er hatte sich mit Josef getroffen, einem Spitzel der Ochrana, der russischen Geheimpolizei. Josef sympathisierte insgeheim mit den Revolutionären und lieferte der Ochrana für ihr Geld falsche Informationen. Manchmal gaben ihm die Anarchisten ein paar zutreffende, aber harmlose Hinweise, und dafür warnte Josef sie, wenn die Ochrana etwas gegen sie plante. Dieses Mal war Josef mit einer sensationellen Meldung gekommen. »Der Zar wünscht ein Militärbündnis mit England«, erzählte Ulrich Felix aufgeregt. »Er schickt den Fürsten Orlow nach London zu Verhandlungen. Die Ochrana weiß darüber Bescheid, denn sie muß ja den Fürsten auf seiner Europareise bewachen.« Felix nahm seinen Hut ab und setzte sich. Er fragte sich, ob das wirklich stimmte. Eine der jungen Frauen, eine traurig dreinblickende, unscheinbare Russin, brachte ihm Tee in einem Glas. Felix zog einen halbzerkauten Zuckerwürfel aus der Tasche, schob ihn sich zwischen die Zähne und schlürfte den Tee auf Bauernart durch den Zucker. »Es geht England vor allem darum«, fuhr Ulrich fort, »einen Krieg gegen Deutschland zu führen und die Russen für sich kämpfen zu lassen.« Felix nickte. Die junge Frau sagte: »Und in diesem Krieg werden nicht die Fürsten und Grafen umkommen ..., sondern die Männer aus dem Volk.« Sie hat recht, überlegte Felix. Die Bauern würden in diesem Krieg kämpfen müssen. Er hatte den größten Teil seines Lebens unter diesen Menschen verbracht. Sie waren hart, grob und starrköpfig, aber ihre närrische Großzügigkeit und ihre gelegentlichen spontanen Ausbrüche unbändiger Fröhlichkeit gaben einen Hinweis auf das, was sie in einer anständigen Gesellschaftsform einmal bedeuten könnten. Ihre Hauptsorgen waren das Wetter, die Tiere, Krankheit, Geburten und das Überlisten der Gutsbesitzer. Während weniger Jahre ihres Lebens, etwa im Alter von siebzehn bis zwanzig, waren sie kräftig und aufrecht, konnten lächeln, schnell rennen und flirten, aber bald darauf wurden sie gebeugt, grau, langsam und mürrisch. Jetzt also würde Fürst Orlow diese Leute in der Blüte ihrer Jugend aufgreifen und vor den Geschützen aufmarschieren lassen. Man würde sie in Stücke schießen oder zu Krüppeln werden lassen, und das alles aus Gründen der internationalen Diplomatie. Erfahrungen wie diese hatten Felix zu einem Anarchisten gemacht. »Was müssen wir tun?« fragte Ulrich. »Wir müssen die Nachricht in flammenden Lettern auf der Titelseite der Meuterei bringen!« sagte die unscheinbare junge Frau. Man begann, über den Text des Artikels zu diskutieren. Felix hörte schweigend zu. Redaktionelle Probleme interessierten ihn wenig. Er verteilte die Zeitschrift, schrieb hier und 135
da einen Artikel, wie man Bomben herstellt, und war zutiefst unzufrieden mit sich selbst. Er war in Genf viel zu zivilisiert geworden. Er trank Bier statt Wodka, trug Kragen und Krawatte, besuchte symphonische Konzerte. Er hatte eine Stellung in einer Buchhandlung angenommen. Und währenddessen befand sich Rußland in Aufruhr. Die Arbeiter auf den Ölfeldern kämpften gegen die Kosaken, das Parlament war machtlos, eine Million Arbeiter standen im Streik. Zar Nikolaus II. war der unfähigste Herrscher, den eine degenerierte Aristokratie hervorbringen konnte. Das Land glich einem Pulverfaß, das nur auf einen Funken wartete, und Felix wollte dieser Funke sein. Aber es wäre Wahnsinn, jetzt zurückzugehen. Josef Stalin war zurückgekehrt, aber kaum hatte er russischen Boden betreten, hatte man ihn nach Sibirien geschickt. Die Geheimpolizei kannte die Exilrevolutionäre besser als die, die zu Hause geblieben waren. Felix fühlte sich eingeengt in seinem steifen Kragen, seinen Lederschuhen und den Umständen, in denen er lebte. Er blickte sich in der kleinen Gruppe der Anarchisten um: Ulrich, der Drucker, mit weißem Haar und tintenbefleckter Schürze, ein Intellektueller, der ihm Bücher von Proudhon und Kropotkin lieh, aber auch ein Mann der Tat, der ihm einst bei einem Banküberfall geholfen hatte; Olga, die unscheinbare junge Frau, die sich einmal in Felix verliebt zu haben schien, bis sie eines Tages miterlebte, wie er einem Polizisten den Arm brach; Vera, die Dichterin, die mit jedem schlief; Jewno, der Student der Philosophie, der ständig über die Reinigung durch Blut und Feuer phantasierte; Hans, der Uhrmacher, der in die Seelen der Menschen sah, als hätte er sie unter seiner Lupe; und Pjotr, der enteignete Graf, Verfasser brillanter wirtschaftlicher Pamphlete und motivierender revolutionärer Leitartikel. Alles ehrliche, fleißige und kluge Menschen. Felix war sich ihrer Bedeutung bewußt, denn er hatte unter den verzweifelten Menschen in Rußland gelebt, die mit Ungeduld auf die eingeschmuggelten Zeitschriften und Broschüren warteten, sie von Hand zu Hand weiterreichten, bis sie in Fetzen zerfielen. Und doch war es nicht genug, denn wirtschaftliche Traktate boten keinen Schutz gegen die Kugeln der Polizei, und auch mit den flammendsten Artikeln konnte man keine Paläste in Brand setzen. Ulrich sagte: »Diese Nachricht verdient weitere Verbreitung als sie in der Meuterei bekommen kann. Ich will, daß jeder Bauer in Rußland erfährt, daß Orlow ihn in einen überflüssigen, blutigen Krieg führen will.« Olga wandte ein: »Das erste Problem ist, ob man uns glauben wird.« Felix meinte: »Das erste Problem ist, ob die Information überhaupt stimmt.« »Das können wir nachprüfen«, erklärte Ulrich. »Die Kameraden in London können herausfinden, ob Orlow zu der angegebenen Zeit dort ankommt und ob er sich mit den besagten Leuten trifft.« »Es genügt nicht, die Nachricht zu verbreiten«, fiel Jewno erregt ein. »Wir müssen rigoroser vorgehen!« »Und wie?« fragte Ulrich, während er den jungen Jewno über seine Drahtbrille hinweg anschaute. »Wir sollten zum Mord an Orlow aufrufen! Er ist ein Verräter, ein Volksverräter, und er muß hingerichtet werden.« »Würde das die Verhandlungen stoppen?« »Sehr wahrscheinlich«, antwortete Graf Pjotr. »Vor allem, wenn der Mörder ein Anarchist ist. Erinnert euch: England gewährt den Anarchisten politisches Asyl, und das erbost den Zaren. Wenn nun einer seiner Fürsten in England von einem unserer Kameraden ermordet wird, könnte der Zar so wütend werden, daß er die ganze Verhandlung abbricht.« Jewno pflichtete ihm bei: »Das wäre eine Sensation! Wir könnten behaupten, Orlow sei wegen Verrats am russischen Volk von einem unserer Leute ermordet worden.« »Den Bericht würde jede Zeitung der Welt bringen«, rief Ulrich aus. »Bedenkt die Wirkung, die es zu Hause haben würde. Ihr wißt, was die russischen Bauern von der Einberufung halten – für sie ist das ein Todesurteil. Sie halten eine Begräbniszeremonie 136
ab, wenn ein Junge in die Armee eingezogen wird. Wenn sie erfahren, daß der Zar sie in einem großen europäischen Krieg als Kanonenfutter einsetzen will, werden sich die Flüsse von Blut rot färben ...« Er hat recht, sagte sich Felix. Jewno redet zwar immer so, aber dieses Mal hat er recht. »Ich glaube, du hängst einem Wunschtraum nach, Jewno«, sagte Ulrich. »Orlow ist auf geheimer Mission – und er wird nicht in einem offenen Wagen durch London fahren und der Menge zuwinken. Außerdem kenne ich unsere Londoner Kameraden – sie haben noch nie jemanden ermordet. Ich wüßte nicht, wie sich das verwirklichen ließe.« »Aber ich«, sagte Felix. Alle blickten ihn an. Die Schatten auf ihren Gesichtern bewegten sich im flackernden Kerzenlicht. »Ich weiß, wie wir es verwirklichen können.« Er erkannte seine eigene Stimme nicht, es war ihm, als habe sich seine Kehle zugeschnürt. »Ich werde nach London gehen. Ich werde Orlow töten.« Plötzlich war es still im Zimmer, als ob sich das Gerede von Tod und Zerstörung mit einem Male konkretisiert hätte. Sie starrten ihn überrascht an, alle, außer Ulrich, der still vor sich hin lächelte, als habe er die ganze Zeit vorausgesehen, daß es so ausgehen würde. Analyse der beiden Versionen und Vergleich der verschiedenen Fassungen des Romanendes Bei der Überarbeitung der Walden-Szene lag die Betonung vorrangig auf der Ausschmückung und Erhöhung der Charaktere, während bei der Überarbeitung der Felix-Szene Komprimierung und Dramatisierung im Mittelpunkt standen, von denen natürlich die Figuren ebenfalls profitierten. Eine Reihe von Verbesserungen betrifft auch hier die charakterlichen Merkmale, das Ambiente und strukturelle Einzelheiten, doch spielen sie nur eine Nebenrolle. Felix ist nicht nennenswert verändert worden, gewinnt aber trotzdem an Statur, weil er diesmal, anders als in der ersten Fassung, nicht ausschließlich durch inneren Monolog und Erzählung des Autors vorgestellt wird, sondern im Kontext einer dramatischen Szenerie. Beide Szenen – die im Eisenbahnabteil und die in der Druckerei – wirken in der Endfassung lebendiger. Außerdem fügt Follett eine Beschreibung von Felix hinzu, so daß wir uns ein Bild von ihm machen können. Gute Ergänzungen sind auch verschiedene Einzelinformationen – wie der Name des russischen Doppelagenten, die Namen und Kurzbeschreibungen von Felix´ anarchistischen Mitverschwörern in Zürich sowie das Milieu der revolutionären Zeitung, an der er mitarbeitet. Es sind aber vor allem zwei grundlegende Verbesserungen, die die zweite Fassung von der ersten unterscheiden: Die erste betrifft Folletts Streichungen. Felix´ dreiseitige Lebensgeschichte, die mit seinem Priesterstudium in St. Petersburg beginnt und mit dem Polizistenmord endet, ist verschwunden. Soviel Biographisches in Form einer Erzählung des Autors verlangsamt die Handlung, anstatt sie voranzutreiben, ja, es bringt sie beinahe zum Stillstand. Das ist nicht dramatisches Geschehen, sondern Information, und zwar weit mehr Information, als der Leser zu diesem Zeitpunkt benötigt, um zu Felix und seinem Vorhaben Zugang zu bekommen. Für den Autor selbst ist es natürlich von Vorteil, wenn seine Figur einen so detailliert ausgearbeiteten Hintergrund hat. Felix´ Beobachtung, daß er keine Angst mehr empfinden kann, taucht in der Endfassung des Buches im zweiten Kapitel auf und wird dort zum Anlaß einer sehr schönen, dramatischen Rückblende, die sich über zwei Seiten erstreckt. Hier jedoch, wo Felix erstmals in die Geschichte eingeführt wird, lautet das oberste Gebot, ihn rasch mit dem Hauptthema des Buches zu verknüpfen sowie das AttentatsKomplott vorzustellen und in Gang zu setzen. Ein journalistisch geschriebener Lebenslauf einer Figur ist in diesem Zusammenhang eher ein Hindernis. In der Endfassung beschränkt sich Follett auf einen einzigen kurzen Absatz. Die zweite wesentliche Verbesserung liegt in der Ausweitung und Umgestaltung jener wenigen Absätze der ersten Fassung, in denen der Autor über die anarchistische Zelle in der Schweiz berichtet. In der Endversion wird daraus eine fast vier Seiten umfassende, dramatische und von einem Höhepunkt gekrönte Szene. Wir lernen Felix also nicht durch einen chronologischen Bericht kennen, sondern erleben ihn gleich in Aktion. Er nimmt an 137
einem Geheimtreffen teil. Wir erleben mit, wie er mit starker innerer Anteilnahme auf die großen Neuigkeiten reagiert, die dort zur Sprache kommen, und spüren an kleinen Dingen wie dem unbequemen steifen Kragen, wie unzufrieden er mit seiner Lage ist. Seine Mitverschwörer sind namentlich genannt und überzeugend charakterisiert; wir lernen sie aus Felix´ Perspektive kennen und erfahren so, was er von ihnen hält. Sie überlegen, ob sie in ihrer Untergrundzeitung zum Mord an Orlow aufrufen sollen, doch es bleibt beim Gerede. Wie soll eine solche Tat auch durchgeführt werden? Und genau das wird zum Stichwort für Felix, der nun vortreten und sagen kann: »Ich gehe nach London. Ich werde Orlow töten.« Womit er – bis auf Ulrich – alle Anwesenden schockiert. Wie ich in Kapitel fünf gezeigt habe, erklärt sich eine Person durch ihre Handlungen, durch das, was sie vor unseren Augen tut und nicht irgendwo hinter der Bühne. Sie erinnern sich: In Vom Winde verweht wird Rhett Butler das ganze Buch hindurch mit Verachtung gestraft, weil man ihm mangelnde Loyalität gegenüber dem Süden vorwirft. Doch was er in dieser Hinsicht auch begangen haben mag, seine Taten werden nicht beschrieben. Wir bekommen sie nie zu sehen. Unsere Meinung über ihn bilden wir uns daher ausschließlich oder doch weitgehend anhand dessen, was er konkret vor unseren Augen tut. In Folletts erster Version sind Felix´ EnglAndréise und seine Mordpläne als feststehende Tatsachen in einen unpersönlichen, fortlaufenden Bericht integriert. Felix wird keiner anderen Person gegenübergestellt. Er erkennt, daß in Rußland ein schreckliches Unrecht herrscht, und reagiert ganz einfach auf die ihm eigene Art. In der Endfassung wird er unter seinesgleichen präsentiert. Follett sorgt für einen Kontrast: Felix hart – die anderen weich; Felix entschieden und unnachgiebig – die anderen vage und seicht. Dann trifft Felix blitzartig seine Entscheidung, tritt vor und nimmt das Heft in die Hand. Er gibt bekannt, daß er nach London reisen und den Mord begehen wird. Keiner der anderen hätte den Mut dazu. Sie sind, genauso wie wir, wie vor den Kopf geschlagen – und Felix ist als »überlebensgroße« Figur etabliert. Ebenso wichtig wie die Einführung von Felix ist die Umwandlung der unterkühlten Erzählung des Autors in eine lebhafte, dramatische Handlung. Felix kommt beinahe zu spät zu dem Treffen, auf dem sensationelle Neuigkeiten verkündet werden. Und in diesem spannenden Kontext, der nicht in die Vergangenheit versetzt ist, sondern in der unmittelbaren Gegenwart spielt, erfahren wir, wie Felix zum Anarchisten wurde. Seine Genossen diskutieren darüber, welche Artikel sie in ihre Zeitung aufnehmen sollen. Felix selbst aber ist nur daran interessiert, Anleitungen zur Bombenherstellung zu schreiben, Zündfunken der Revolution. Follett heizt die Atmosphäre an, indem er Nebenfiguren handeln und aufeinander reagieren läßt und Felix in scharfen Kontrast zu ihnen setzt. Die neu hinzugekommene Szene sorgt für Aufregung und Spannung. Doch wenden wir uns nun noch etwas ganz anderem zu, einem Vergleich zwischen dem Finale des Buches – also den Kapiteln dreizehn bis fünfzehn – und dem Ende des vierten Entwurfs mit den Teilen zwölf bis fünfzehn. Falls Sie beides nicht ohnehin schon miteinander verglichen haben, werden Ihnen jetzt zahlreiche kleine und einige ganz erhebliche Änderungen auffallen. Folletts Verlag war zufrieden mit dem Entwurf, doch der Autor selbst war es, nachdem er mit dem Schreiben begonnen hatte, offenkundig nicht mehr. Warum? Wir werden uns hier nur auf ein paar beispielhafte Verbesserungen konzentrieren. Sie beleuchten wichtige Aspekte des schriftstellerischen Handwerks, von denen die meisten in diesem Buch bereits abgehandelt oder doch wenigstens erwähnt wurden. Im Entwurf liegt das Hauptgewicht fast ausschließlich auf Plot und Gegenplot: auf Felix, der versucht, nach Walden Hall zu gelangen und dort seinen Mord auszuführen, und auf Walden, der zusammen mit seinen Mitstreitern versucht, eben dieses zu verhindern. Am Ende versteckt Felix im Achteckzimmer, wo der Vertrag unterzeichnet werden soll, eine Bombe. Charlotte ist nicht bereit, an der Ermordung ihres Vaters mitzuwirken. Felix eröffnet ihr, wer ihr richtiger Vater ist. Davon ungerührt, rennt Charlotte ins Achteckzimmer und warnt die 138
Anwesenden. Sekundenbruchteile vor der Detonation reißt Felix die Bombe an sich und stürzt sich damit aus dem Fenster. Mit seinem Selbstmord rettet er Charlotte. Was ist daran so schlecht? Nichts ist schlecht, aber besonders gut ist es auch nicht. Das Ende kommt zu überstürzt und ist das reinste Melodram. Zwar enthält es die herzbewegende Szene, in der Lydia ihrem Mann eine Lebensbeichte ablegt, doch abgesehen davon löst es keines der brisanten Geheimnisse, keinen der feingesponnenen zwischenmenschlichen Konflikte, die im Verlauf des Romans die Beziehungen der Hauptfiguren untereinander dramatisch bereichert haben. Es wäre vielleicht das passende Ende für einen Ex-und-Hopp-Reißer, nicht jedoch für einen Bestseller mit Qualitätsanspruch. Das Buch zeigt Ihnen, daß Follett diesen Teil des Entwurfs verworfen und durch eine Reihe von Episoden ersetzt hat, die auf der einen Seite durch Kausalverbindungen miteinander verknüpft und aufeinander abgestimmt sind, auf der anderen Seite aber auch mehrfach von Action-Szenen mit großen Enthüllungen und Konfrontationen im zwischenmenschlichen Bereich unterbrochen werden. Zu Beginn des vierzehnten Kapitels im Buch begegnen sich zum Beispiel Charlotte und Felix im Wald. Sie gibt ihm den Rat, aufzugeben und zu verschwinden. Gegen hundertfünfzig Mann, die die Gegend nach ihm durchkämmen, hat er keine Chance, und an seinem Selbstmord will sie nicht beteiligt sein. Erst jetzt, kurz bevor er Walden Hall betritt, eröffnet ihr Felix, daß er ihr Vater ist. Da es keine Bombe gibt, die gleich explodieren wird, bleibt Zeit und Raum genug, Charlottes Reaktion zu zeigen. Die Information, die er ihr gerade gegeben hat, stellt die bisherige Welt der jungen Frau auf den Kopf und festigt ihre Bindung an Felix. Das schon aus sich selbst heraus aufregende Verhältnis zwischen den beiden kann jetzt dazu genutzt werden, seine und ihre Handlungen auf den letzten fünfzig Seiten des Buches zu bestimmen. So erklärt sich Charlotte unter dem unmittelbaren Eindruck dieser Eröffnung bereit, Felix im Haus zu verstecken, woraus sich wiederum mehrere spannende Szenen zwischen ihr und Lydia und Walden ergeben. Die folgenden Szenen bilden hervorragende Beispiele dafür, wie sich durch enge Beziehungen zwischen den handelnden Personen Hochspannung erzeugen läßt. Im Entwurf hat Lydia Walden bei ihrem Geständnis unter anderem auch erzählt, daß Charlotte Felix über Oblomows Aufenthalt in Walden Hall informiert hat. Walden bestraft Charlotte daraufhin mit Zimmerarrest. Im Buch erfährt Walden die Nachricht von einem Außenstehenden, Basil Thomson, und ist entsprechend schockiert. Er fühlt sich in seiner Ehre getroffen. Beide Männer stellen die junge Frau zur Rede, doch Charlotte schweigt. Thomson droht ihr mit einer Mordanklage. Walden, der schließlich mit seiner Tochter allein bleibt, ist am Boden zerstört und hegt die schlimmsten Befürchtungen für ihre Zukunft. Er will alles tun, um sie zu retten. Er fleht sie an, ihm zu vertrauen, und sei es nur deshalb, weil er ihr Vater ist. Sie liebt ihn, aber sie weiß, daß er eben nicht ihr Vater ist. Tränen laufen ihm über die Wangen; er meint, er habe als Vater versagt, weil seine Tochter nicht mehr an ihn glaubt. Und auch Charlotte bricht, nachdem Walden gegangen ist und sie in ihrem Zimmer eingeschlossen hat, in Tränen aus. Diese beiden Menschen lieben einander, sehnen sich nach gegenseitigem Verständnis – und schaffen es doch nicht, zueinander zu finden, obwohl sich schon eine furchtbare, mörderische Katastrophe abzeichnet, die beide zu verschlingen droht. Mit dieser neuen Begegnung liefert Follett die obligatorische Szene für das persönliche Drama zwischen diesen beiden Hauptcharakteren und bereitet gleichzeitig die Schlußszene vor, in der Walden in einem verzweifelten Wettlauf mit der Zeit versucht, Charlotte aus den Flammen des brennenden Hauses zu retten. In ähnlich mitreißenden Szenen treibt der Autor auch die anderen Zweierbeziehungen auf die Spitze: zwischen Charlotte und Lydia, Lydia und Felix, Lydia und Walden sowie zuletzt zwischen Felix und Walden, die sich beide ins Inferno stürzen, um Charlotte zu retten. Und obwohl die Vorbereitung des Attentats fast das ganze Buch über im Mittelpunkt der Handlung steht, erscheint es am Ende fast nebensächlich, daß Felix Orlow tatsächlich erschießt. Der 139
Mord an Orlow tritt in den Hintergrund; es kulminiert statt dessen das Drama um den richtigen und den vermeintlichen Vater, die gemeinsam »ihr« Kind retten. Follett macht sich die starken emotionalen Bindungen, die er in den vorausgehenden Kapiteln aufgebaut hat, zunutze und führt sie am Ende auf den Siedepunkt. Der Ausgang des Buches weicht daher erheblich vom Entwurf ab. Beachten Sie außerdem, wie in der Endfassung auch die reinen Action-Szenen gewonnen haben; wie das Attentat hier, verglichen mit dem Entwurf, in atemberaubender Spannung geplant und durchgeführt wird. Im Entwurf schleicht sich Felix in der Nacht, nachdem er ins Haus eingedrungen ist, in das Achteckzimmer, versteckt die Bombe und stellt den Zünder auf den Zeitpunkt der Vertragsunterzeichnung. Abgesehen davon, daß er noch zwei Wachleute und Lydia überwältigt, tut er nichts mehr, bis Charlotte herbeistürzt, um Walden zu retten. Im fertigen Roman dagegen wird Orlows Ermordung in einer Sequenz von sechs kurzen Szenen, die jeweils durch die erwähnten persönlichen Konfrontationen unterbrochen werden, Schritt für Schritt aufgebaut. Felix´ Machenschaften lassen die Spannung stetig steigen. Zunächst bringt er Charlotte dazu, ihm einen Plan des Hauses zu zeichnen. Mitten in der Nacht sucht und findet er die Waffenkammer und bricht sich ein Gewehr aus der Halterung. Und dann kommt ihm eine Idee. Orlows Zimmer wird streng bewacht. Um ihn herauszuholen und vor die Flinte zu bekommen, beschließt Felix, das Haus anzuzünden. Draußen findet er einen Schlauch, den er durch mehrere Zimmer zieht und an einen Benzintank im Schuppen anschließt. Unterwegs muß er einen Wachmann, der ihm auf die Schliche zu kommen droht, bewußtlos schlagen. In der vierten Szene legt er das Feuer, und in der fünften sehen wir ihn mit dem Gewehr vor dem Haus auf sein Opfer warten. Ken Follett bereitet den Augenblick, da Felix den tödlichen Schuß abgibt, durch die genau abgestufte Szenenfolge meisterhaft vor. Als das Haus in Flammen steht, gerät Charlotte in höchste Lebensgefahr, und auch diese Situation wird durch eine vorangehende Szene vorbereitet, in der Lydia erfolglos versucht, die Tür zum brennenden Zimmer ihrer Tochter zu öffnen. Was Ihnen diese Änderungen und die bereits aufgezeigten strukturellen Einzelheiten vermitteln sollten, ist folgendes: Selbst ein bis ins Detail ausgearbeiteter vierter Entwurf bedeutet für einen erstklassigen Autor im Normalfall noch längst nicht das letzte Wort; es wäre also grundfalsch, sich sklavisch an irgendeinen Entwurf halten zu wollen.
14 Verlagssuche – und der Sprung in die Bestsellerliste Sie haben Ihr Manuskript nun mehrfach genau durchgelesen, haben es mit Geduld und Sorgfalt umgearbeitet, umgeschrieben, ganze Szenen ausgewechselt usw. und dabei alle oder doch die meisten Empfehlungen dieses Buches berücksichtigt. Sie halten Ihren Roman inzwischen für verdammt gut, ja eigentlich sogar für hervorragend. Was ist nun der nächste Schritt? Schicken Sie Ihr Manuskript an einen Agenten oder an einen Verlag? Nein. Sie suchen Bestätigung oder besser die professionelle Hilfe oder den Rat eines Lektors oder Autors. Das Lektorat Bei der Abrundung und Ergänzung seiner Figuren sowie der optimalen Dramatisierung seines Werkes braucht und erhält nahezu jeder Bestsellerautor Hilfe. Etablierten Schriftstellern, die 140
hohe Vorschußsummen erhalten – und dies oft, bevor sie auch nur ein einziges Wort zu Papier gebracht haben – werden von den Verlagen Lektoren an die Seite gestellt, die die Entstehung des Buches von der Entwurfsphase bis zum fertigen Manuskript mit detaillierten Kommentaren und Änderungsvorschlägen begleiten. Manche Autoren verfügen auch über einen Agenten mit Lektoratserfahrung, oder sie lassen ihre Texte von Schriftstellerkollegen kritisch gegenlesen. Für Autoren, denen der durchschlagende Erfolg bislang versagt geblieben ist, oder auch für unerfahrene Neulinge ohne entsprechende Beziehungen findet sich so leicht kein Verlagslektor, der bereit wäre, das vielleicht durchaus lesenswerte, aber doch in dieser oder jener Hinsicht noch mangelhafte, langatmige oder schwer verständliche Manuskript eingehend zu prüfen und zu bearbeiten. Reißt der Text eines unbekannten Autors den Lektor nicht buchstäblich vom Hocker, wird es mit allergrößter Wahrscheinlichkeit abgelehnt. Verlagslektoren sind notorisch überarbeitet. In ihrer Bürozeit telefonieren sie mit Agenten und Autoren, diskutieren mit Herstellern, Werbe- und Vertriebsleuten, streiten in Konferenzen über Umschläge, Manuskriptankäufe, Vorschautexte und Herstellungstermine, halten freie Mitarbeiter und Übersetzer auf Trab, schulen Lektoratsassistenten, suchen nach Gelegenheiten, der Verlagsleitung bestimmte Buchprojekte schmackhaft zu machen und diese mit entsprechenden Werbeetats auszustatten, und manchmal verhandeln sie auch über eigene Gehaltserhöhungen oder eine Beförderung. Das Ende vom Lied ist, daß ein Großteil der eigentlichen Lektoratsarbeit sowie die gesamte Lesetätigkeit auf die Abende und Wochenenden verschoben wird, und die sind natürlich immer zu kurz, denn jeder Lektor wird ständig mit Manuskripten überhäuft, die sich dann zu Bergen auf seinem Schreibtisch stapeln. Der größte Teil der Arbeitszeit bleibt längst eingeplanten, bereits in der Produktion befindlichen Büchern vorbehalten, in die der Verlag oft schon große Summen investiert hat. Die Pflege und Betreuung dieser Investitionen ist die Hauptaufgabe der Lektoren. Oft arbeiten sie sich buchstäblich die Finger wund, um die Manuskripte der ihnen anvertrauten Autoren so gut und so lesbar wie möglich zu machen. Für Neulinge bleiben Lektor und Lektorin angesichts dieser Aufgabenfülle nur wenig Zeit und Kraft – es sei denn, das vorgelegte Manuskript ist wirklich ganz hervorragend. Suchen Sie sich einen Experten Ihr fertiges Manuskript liegt also vor Ihnen, und Sie sind der Meinung, daß all dem Schweiß nun der wohlverdiente Preis folgen müsse. Ihre Frau oder Ihr Mann, Ihre Freundinnen und Freunde sind restlos begeistert. Was nun? Verlassen Sie sich bloß nicht auf Ihr eigenes Urteil und das der Menschen, die Ihnen nahestehen. In Amerika wird Neulingen gern empfohlen, ihr Manuskript zunächst einmal einem erfahrenen Autor vorzulegen, zu dem keine persönliche Beziehung besteht und der von daher auch keinen Anlaß hat, auf das Ego des Schreibenden Rücksicht zu nehmen. Wenn Sie jemanden gefunden haben, der zu einer ersten kritischen Durchsicht bereit ist, werden Sie ihn (oder sie) wahrscheinlich bezahlen müssen, denn professionelles Lesen ist Arbeit, und Erfahrung hat ihren Preis. Bitten Sie die betreffende Person um eine ehrliche schriftliche Beurteilung Ihres Manuskripts, die alle Qualitäten und Schwächen benennt, sowie um konkrete Verbesserungs-, Kürzungs- und/oder Ergänzungsvorschläge. Wie lassen sich solche Leute finden? Das ist wahrscheinlich einfacher, als Sie denken. Als literarisch interessierter Mensch wissen Sie vielleicht schon, welche Autorinnen und Autoren in Ihrer Nähe wohnen. Vielleicht gibt Ihnen Ihr Buchhändler einen Tip. Lesungen und Signierstunden bieten ebenfalls Gelegenheiten zur persönlichen Kontaktaufnahme. Suchen Sie sich einen Autor oder eine Autorin heraus, dessen oder deren Werk Ihnen bekannt ist und möglicherweise ins gleiche Sujet fällt wie Ihr eigener Text. Fallen Sie nicht aus allen Wolken, wenn Ihnen das geforderte Prüfungshonorar im ersten Moment zu hoch erscheint. Denken Sie an die Zeit, die Sie bereits in Ihren Roman investiert haben, ein, zwei Jahre vielleicht, unter Umständen sogar noch länger. Sie erhoffen sich für Ihr 141
Buch eine große, vielleicht sogar internationale Lesergemeinde und spekulieren darauf, daß sich die Mühe eines Tages auch finanziell auszahlt. Es ist durchaus normal, daß ein solches Vorhaben in der Entstehungsphase auch mit finanziellen Investitionen verbunden ist. Ein Kurzgutachten wird Sie ungefähr 500 bis 1500 Mark kosten, eine detaillierte Kritik mit Verbesserungsvorschlägen und Teillektorat etwa 2000 bis 10000 Mark, je nach Umfang und Problematik des Manuskripts und der Prominenz des Gutachters oder der Gutachterin. Das Zeile-für-Zeile-Lektorat eines 1000-Seiten-Manuskripts kann den Bearbeiter monatelang beschäftigen und dementsprechend teurer kommen. In solchen Fällen ist auch eine Zwischenlösung möglich: Vereinbaren Sie zunächst einmal ein Kurzgutachten und ein 100-SeitenLektorat, und prüfen Sie dann, ob die Bearbeitung Ihren Vorstellungen entspricht. Wenn Sie knapp bei Kasse sind oder sich einfach kein Autor oder Lektor finden läßt, der für Geld und/oder gute Worte bereit wäre, Ihren Text zu begutachten, dann gibt es auch noch die Möglichkeit, sich einem Schriftsteller-Workshop anzuschließen, wie sie mancherorts an Universitäten, Volkshochschulen oder in Kulturhäusern existieren. Auch die meisten Schriftstellerverbände und zahlreiche private Initiativen bieten derartige Workshops an. Dazu trifft man sich meist in kommunalen oder kirchlichen Einrichtungen, bisweilen auch in den Privatwohnungen engagierter Autoren oder Dozenten, und liest reihum aus seinen Werken vor. Wenn Sie Glück haben, gehören erfahrene Lektoren und/oder Buchhändler/innen dazu, die auch die Vermarktungschancen einschätzen können. Den Kommentaren und Vorschlägen aus dem Zuhörerkreis können Sie dann entnehmen, was der unbefangene Betrachter von Ihren Texten hält, ob er beispielsweise Ihre Personen liebenswert, abscheulich oder einfach nur langweilig findet. Man wird Ihnen auch sagen, welche Episoden fesseln und welche eher zum Gähnen sind und ob die Handlungsstränge von Anfang an sinnvoll miteinander verflochten wurden. Natürlich läßt sich ein ganzer Roman auch im privaten Kreis nicht innerhalb einer einzigen Sitzung besprechen. Danach ist Ihre eigene Kritikfähigkeit gefordert. Sie müssen die Einwände und Ratschläge, ob sie nun von einem bekannten Autor, einem Lektor oder von Workshop-Teilnehmern stammen, sichten und sieben und selbst die Entscheidung treffen, welche Verbesserungsvorschläge Sie annehmen und welche Sie unter den Tisch fallen lassen wollen. Vergessen Sie dabei niemals, daß kein Mensch imstande ist, seine eigene Arbeit objektiv zu beurteilen. Massive Einwände sind ein ziemlich zuverlässiges Indiz dafür, daß Ihr Manuskript problematisch ist, und sie sollten auch dann ernst genommen werden, wenn die vorgebrachten Verbesserungsvorschläge nicht weiterführen. Die Suche nach dem richtigen Verlag Sie haben Ihr Manuskript inzwischen von einer Einzelperson oder einer Gruppe begutachten lassen, die Kritik angenommen und bei der nochmaligen Überarbeitung berücksichtigt. Vielleicht kennen Sie inzwischen auch einen zweiten Profi aus der Verlagsbranche, der in Unkenntnis der Erstfassung das überarbeitete Manuskript durchliest. Denn wenn Sie es erneut dem Erstgutachter geben, besteht die Gefahr, daß sein Urteil durch die dank seiner Kritik erzielten Verbesserungen getrübt wird und zu positiv ausfällt. Was Sie jetzt aber benötigen, ist eine nüchtern-objektive Beurteilung des Manuskripts in seiner letzten, verbesserten Fassung, und die kann Ihnen am ehesten ein unvoreingenommener Leser geben. Sofern er vom Fach ist, wird er Ihnen auch sagen können, ob das Manuskript jetzt in einem solchen Zustand ist, daß man es mit einiger Aussicht auf Erfolg an einen Verlag oder an eine literarische Agentur schicken kann. Ein anderes Szenario: Sie haben Ihr Originalmanuskript von Grund auf umgearbeitet oder den Roman sogar von A bis Z neu geschrieben. Ihr literarischer Mentor oder Ihre WorkshopKollegen – besser noch: der nüchtern-objektive Profi, der nur die Neufassung kennt – haben Ihnen bestätigt, daß Ihnen ein großer Wurf gelungen ist, der es qualitativ ohne weiteres mit den meisten Titeln aufnehmen kann, die zur Zeit die einschlägigen Bestsellerlisten 142
schmücken. Sie selbst sind zu allem bereit und wollen nach den Sternen greifen. Was nun? Literarische Agenten Sie brauchen einen literarischen Agenten. Natürlich nicht irgendeinen, sondern einen der besten. In den Staaten ist Literary Marketplace (LMP) Bibel und Almanach der Verlagsindustrie. Dort sind Hunderte von literarischen Agenturen und Agenten aufgelistet, von denen aber nur etwa zwanzig der renommiertesten an die neunzig Prozent der Bestsellerautoren vertreten. Der große Vorteil dieser anerkannten Spitzenagenturen besteht darin, daß die von ihnen eingereichten Manuskripte von den Verlagen normalerweise prompt und vielfach bereits auf höherer und höchster verlagsinterner Entscheidungsebene geprüft werden. Erfahrene Agenten kennen den persönlichen Geschmack und die Vorlieben der einzelnen Cheflektoren, Verlagsleiter und Verleger und wissen, wie sie einen Vertragsabschluß gestalten müssen, damit selbst das Buch eines relativ unbekannten Autors auf die Bestsellerliste befördert werden kann. Angenommen, Ihnen ist tatsächlich ein Geniestreich gelungen und Sie schaffen es, einen Spitzenagenten dafür zu interessieren, dann sind Ihre Chancen für den großen Durchbruch schon erheblich gestiegen. Wie komme ich an einen Agenten heran, werden Sie fragen, und woher weiß ich, daß er ein guter und renommierter Agent ist? In Amerika sind die Agenturen meist in der »Rights Information« der Verlagskataloge aufgeführt. In Deutschland ist es erheblich schwieriger, an die Adressen seriöser Agenten zu kommen, da die Kooperation zwischen Verlag, Agent und Autor noch nicht so selbstverständlich ist wie in den Vereinigten Staaten. Zwar kann man sich bei den Verlagen (am besten schriftlich) erkundigen, in welchen Bereichen sie vorwiegend mit welchen Agenten zusammenarbeiten. Allerdings wird die Auskunftsbereitschaft von Verlag zu Verlag sehr unterschiedlich sein. Die Adressen und Telefonnummern aller größeren deutschsprachigen Verlage sowie eine Beschreibung ihres jeweiligen Programms finden Sie in dem regelmäßig aktualisierten Band von Curt Vinz/Günter Olzog Dokumentation deutschsprachiger Verlage, den Sie über den Buchhandel beziehen können. Eine weitere Möglichkeit der Informationsbeschaffung bieten die in allen Großstädten vorhandenen Schreib-Workshops sowie Schriftstellerverbände und –Vereinigungen, deren Adressen man beispielsweise über die Volkshochschulen, beim städtischen Kulturreferat oder bei größeren Buchhandlungen erhalten kann. Auch die Tages- und Wochenpresse berichtet immer wieder über Literaturagenten. Die beiden jährlich stattfindenden großen Buchmessen – eine in Frankfurt am Main, die andere in Leipzig – bieten zwar eine gute Möglichkeit, sich über die Programme der einzelnen Verlage zu orientieren. Gelegenheit, Kontakte zu knüpfen, bietet sich hier aber für unbekanntere Autoren kaum, da die Terminkalender von Lektoren wie Agenten während der Messezeit meist ausgebucht sind. Auch wenn es Mühe kostet, die Adresse eines guten Agenten herauszufinden – der Aufwand lohnt sich. Denn nur ein Insider, der über die Interna der ständig im Wandel befindlichen Verlagsbranche genau informiert ist, kann beurteilen, in welches Programm Ihr Buch tatsächlich paßt und von welchem Verlag Sie optimal betreut werden. Ein Agent erspart Ihnen mit der Verlagsauswahl sowohl viel Zeit als auch Geld und Mühe: Unerfahrene Autorinnen und Autoren verschwenden mitunter viel Zeit damit, ihr Manuskript an Verlage zu schicken, die für ihr spezifisches Buch völlig ungeeignet sind. So wird ein auf bayerische Heimatliteratur spezialisiertes Haus keinen internationalen Agententhriller oder ein renommierter Gartenbau- und Naturkunde-Verlag keinen Liebesroman veröffentlichen. Aber auch wenn Sie sich in den Buchhandlungen und auf den Buchmessen über die Verlagsprogramme informieren, so ermöglicht Ihnen dies lediglich eine Groborientierung. Über die Zahlungsmoral, die Werbe- und Presseaktivitäten, die Qualität des Lektorats und die Bereitschaft, sich für neue Autoren zu engagieren, erfahren Sie dadurch noch nichts. An dieser Stelle sei noch eine Warnung vor den schwarzen Schafen der Branche ausgesprochen, die Sie u. a. an den Vertragskonditionen erkennen: Ein seriöser Agent nimmt 143
normalerweise kein Festhonorar, sondern lediglich ein prozentuales Erfolgshonorar von etwa fünfzehn Prozent, das bei unbekannten Autoren, deren Betreuung besonders arbeitsintensiv ist, etwas höher liegen kann. Seien Sie also mißtrauisch, wenn ein Agent eine hohe Vorleistung von Ihnen fordert, und lassen Sie sich sehr genau erklären, wie sich seine Forderung begründet. Sie haben nun den Namen eines Agenten herausgefunden, sind aber noch immer nicht am Ziel. Topagenten haben ebensoviel oder noch mehr zu tun als der Orthopäde, bei dem Sie drei Monate lang auf einen Termin warten mußten. Obendrein sind sie primär mit ihren Hausautoren beschäftigt, mit denen sie ihr täglich Brot verdienen. Die Stammautoren versorgen ihren Agenten kontinuierlich mit Themenvorschlägen, Entwürfen oder Manuskripten, die gelesen und beantwortet werden müssen; es gibt endlose Verhandlungen und Gespräche mit Verlegern und Filmproduzenten über Tantiemen, Schutzumschläge, Abgabe- und Veröffentlichungstermine, Lesereisen, Titel, persönliche Konflikte, Satzfehler usw., die alle erst erledigt sein wollen, bevor sich der Agent einem potentiellen neuen Klienten zuwenden kann. Seien Sie also nicht überrascht, wenn Ihr erster Kontaktversuch nicht postwendend beantwortet wird. Die Frage ist, wie Sie Kontakt aufnehmen. Abzuraten ist von Anrufen aus heiterem Himmel. Vielbeschäftigte Agenten haben einfach nicht die Zeit, einem Unbekannten am Telefon zuzuhören, es sei denn, der Anrufer kann sich auf die persönliche Empfehlung eines dem Agenten bekannten Autors, Lektors oder eines anderen Brancheninsiders berufen. In den meisten Fällen ist es wesentlich günstiger, einen Brief zu schreiben. Unterhaltungsliteratur ist ein geschriebenes Medium, und wenn es Ihnen gelingt, den Agenten durch Ihren Brief neugierig zu machen, ist schon einiges gewonnen. Ein gut geschriebener Brief kann auf ein gut geschriebenes Manuskript hindeuten. Fassen Sie sich kurz, aber nicht zu kurz (eine oder anderthalb Seiten genügen für den Anfang). Der Brief sollte ein paar Zeilen über Ihren Roman enthalten, eine kurze Aussage darüber, warum Sie ihn für so hervorragend, packend und einzigartig halten, daß Millionen Leser ihn werden lesen wollen. Erwähnen Sie, sofern Sie kein Neuling sind, in ein paar Zeilen auch Ihre bisherigen Erfahrungen und Erfolge als Autor. Wenn Sie irgendwo bereits Romane oder Kurzgeschichten veröffentlicht haben, wird der Agent Ihr Angebot sicher ernsthafter prüfen als im gegenteiligen Fall. Und wenn Sie den Empfehlungsbrief eines etablierten Romanautors, eines Literaturprofessors oder gar eines erfolgreichen Klienten des betreffenden Agenten beilegen können, sieht die Sache für Sie noch besser aus. Hat ein Agent Ihr Manuskript erst einmal angenommen, können Sie nicht viel mehr tun als abzuwarten, bis er Ihnen entweder eine Ablehnung oder das Angebot eines Verlages schickt. Eine Ablehnung ist allerdings noch kein Anlaß, sofort die Flinte ins Korn zu werfen. Wenn ein erfahrener Agent Ihren Roman für so gut hält, daß er Zeit, Energie und Geld darauf verwendet, das Manuskript bei verschiedenen Verlagen einzureichen, so ist selbst nach mehreren Absagen noch nicht alles verloren. Lesen Sie die Ablehnungsbegründungen sorgfältig durch, und arbeiten Sie das Manuskript entsprechend um, vielleicht mit Hilfe eines freiberuflichen Lektors, den Ihnen Ihr Agent nennen kann. Ruft Sie Ihr Agent dagegen eines Tages an, unterbreitet Ihnen ein Verlagsangebot und rät Ihnen dazu, es anzunehmen, so folgen Sie seinem Ratschlag. Warum sonst haben Sie einen Experten eingeschaltet, wenn Sie dann doch nicht auf ihn hören? Vermarktung Der nächste Schritt auf dem Weg zur Veröffentlichung Ihres Buches wird eine weitere Überarbeitung sein, diesmal gemeinsam mit dem Lektor oder der Lektorin des Verlags. Ich habe schon Romane von relativ unbekannten Autoren für Garantiesummen in Höhe von einer Million Dollar untergebracht, doch selbst solche Spontanerfolge bedurften eines sorgfältigen Lektorats. Haben Sie auch dies überstanden, wird im Durchschnitt noch mindestens ein 144
weiteres Jahr ins Land ziehen, bis Sie Ihren Roman fix und fertig in den Buchhandlungen finden können. Im Idealfall haben Sie einen hohen Vorschuß erhalten, der Verlagsleitung, Vertrieb, Werbung und Presseabteilung zu besonderem Einsatz anspornt. Vergessen Sie dabei aber nie, daß die Durchsetzung eines Buches auf einem heißumkämpften Markt für keinen der Beteiligten einfach ist. Vorabdrucke, Annoncen, Rezensionen (gleichgültig, ob ablehnend oder zustimmend), Lesungen und Signierstunden in Buchhandlungen, Schulen, Volkshochschulen usw. sowie vor allem Talkshows und Interviews im Fernsehen tragen dazu bei, Ihr Buch bekannt zu machen. Ein besonderer Vorteil wäre es natürlich, wenn es in einer vielgesehenen Fernsehsendung wie Das Literarische Quartett erwähnt werden würde oder wenn Sie es in Talkshows wie Bücherjournal, Boulevard Bio oder in ähnlichen Sendungen selbst vorstellen könnten. Es wäre allerdings falsch, die Einflußmöglichkeiten der Verlage auf solche »Toptermine« zu überschätzen. Themenorientierte Bücher von großem Allgemeininteresse zum Beispiel über Kriminalität, Gewalt, sexuelle Abhängigkeit oder Umweltschutz sind für Talkshow-Gastgeber besonders interessant, weshalb die Chancen für Autoren populärer Sachbücher oft günstiger sind. Ein langer Roman, den das Publikum nicht kennt, ist in der begrenzten Zeit einer Fernsehsendung schwer vorzustellen. Anders verhält es sich, wenn in Ihrem Roman bestimmte aktuelle Themen eine wichtige Rolle spielen – Scheidungskonflikte, Enthüllungen, Skandale, Mißbräuche, um nur einige Beispiele zu nennen. Möglicherweise haben auch Sie selbst ein interessantes Leben hinter sich, das sich im Zusammenhang mit Ihrem Buch mediengerecht vermarkten läßt. Größere Verlage haben gemeinhin jeden Herbst und jedes Frühjahr um die zehn bis dreißig Neuerscheinungen zu betreuen. Die Zeit und der Aufwand, die Werbe- und Presseabteilung Ihnen widmen können, sind also begrenzt. Nutzen Sie daher die Möglichkeiten, die Ihnen selbst offenstehen. Lassen Sie zum Beispiel eine Postkarte mit dem Buchtitel oder dem Buchumschlag und ein paar Sätzen über den Inhalt drucken, und schicken Sie sie an alle Leute, die Sie kennen oder jemals gekannt haben – an ehemalige Schulkameraden, Kommilitonen oder Arbeitskollegen, an Gemeindekirchenräte, Elternbeiräte, Mitglieder Ihres literarischen Zirkels, Ihres Sportvereins usw. Und bitten Sie Ihre engsten Freunde und Verwandten, ihrerseits jeweils zwanzig oder dreißig solcher Karten an ihre Bekannten zu verschicken. Bitten Sie alle Empfänger, sich Ihr Buch zu kaufen. Am besten etwa drei Wochen nach dem Erscheinungstermin, denn bis dahin müßte es in allen größeren Buchhandlungen vorliegen oder zumindest innerhalb eines Tages lieferbar sein. Je größer die Nachfrage in diesen ersten Wochen ist, desto eher besteht die Chance, daß sich die Verkaufszahlen Ihres Buches positiv aus der Masse der Neuerscheinungen abheben. Starten Sie eine solche Aktion aber möglichst nicht während des Weihnachtsgeschäfts, wo die Buchverkäufe generell in die Höhe schnellen und bekannte Namen Ihnen allemal den Rang ablaufen. Sie können zusätzlich dadurch zum Erfolg Ihres Buches beitragen, daß Sie mit so vielen Buchhändlern wie irgend möglich persönlich Kontakt aufnehmen. Buchhändler und Buchhändlerinnen lieben normalerweise Bücher und freuen sich, wenn sie Autoren persönlich kennenlernen können. Und Sie wollen, daß diese Menschen Ihr Buch lesen, es mögen und es ihren Kunden empfehlen. Ein Weg, beide Interessen miteinander zu verbinden, besteht darin, daß Sie in dem betreffenden Laden Ihr eigenes Buch kaufen und es mit einer Widmung und der Bitte, es zu lesen, dem Ladeninhaber oder dem Geschäftsführer schenken. (Denken Sie nicht nur an den Preis, sondern vor allem daran, daß Sie auf diese Weise mit verhältnismäßig geringem Einsatz in Ihre eigene Karriere als Autor investieren.) Die Verlage überschütten die Buchhandlungen zwar regelmäßig mit kostenlosen Leseexemplaren, weil sie ebenfalls erreichen wollen, daß ihre Bücher gelesen und weiterempfohlen werden. Aber da auch Buchhändler und Geschäftsführer unter permanenter Zeitnot leiden, bleiben viele dieser Bücher ungelesen. Ein vom Autor persönlich erworbenes, signiertes und überreichtes Buch 145
aber hat weit größere Chancen, gelesen und vielleicht auch empfohlen zu werden. Auch sind die Kosten für solche Leseexemplare hoch, und daher ist es höchst unwahrscheinlich, daß eines Ihrer Bücher vorab als Leseexemplar kostenlos verteilt wird, solange Sie noch kein bekannter Bestsellerautor sind. Sie können den Buchhändlern natürlich auch anbieten, alle Exemplare Ihres Buches auf Wunsch kostenlos zu signieren. Es gibt viele Buchkäufer, die gern signierte Bücher verschenken. Oder Sie bieten sich kostenlos oder für ein kleines Entgelt für Autorenlesungen an. Was Sie allerdings auf gar keinen Fall tun sollten, ist, wutschnaubend nach dem Geschäftsführer zu verlangen, wenn Ihr Werk nach der Auslieferung nicht gleich im Schaufenster liegt oder wenn es vom Buchhändler gar nicht erst geordert wurde und daher nicht im Laden vorrätig ist. – Erzwingen können Sie gar nichts, denn der Buchhändler muß selbst entscheiden, in welche Bücher er sein Kapital, seinen begrenzten Raum und seine Zeit investiert. Eine weitere Werbe- und Verkaufshilfe bilden Klappen-, Rückseiten- und Anzeigentexte, in denen sich bekannte Autoren, Rezensenten oder andere Berühmtheiten positiv oder schlichtweg hingerissen über Ihren Roman äußern. Normalerweise kümmert sich der Verlag hierum. Aber wenn Sie selbst jemanden kennen, dem sich eine solche Lobeshymne entlocken läßt – um so besser! Eine gelungene Werbe- und Pressekampagne von Verlag und Autor ist eine wichtige, fast unerläßliche Voraussetzung für den Erfolg eines Buches. Dennoch gibt es ab und zu Fälle, in denen ein kaum oder nur geringfügig beworbenes Buch wider alle Erwartungen die Bestsellerlisten stürmt. Es gibt bisher noch kaum eine Handhabe, das Phänomen der Mundzu-Mund-Propaganda zu analysieren oder gar zu steuern. Der Erfolg ist also allenfalls bedingt planbar. Wenn Sie Glück haben, trifft Ihr Buch einen Nerv, ein in vielen Menschen schlummerndes Interesse, das nur darauf wartet, geweckt zu werden, sich aber keinem noch so raffinierten Markttest und keiner Kundenbefragung erschließt. Auch kommt es zuweilen vor, daß sich ein Buch erst Jahre nach der Erstveröffentlichung durchsetzt, zum Beispiel im Zuge einer erfolgreichen Verfilmung. Wie auch immer: Hat Ihr Buch die magische Aufmerksamkeitsschwelle erst einmal übersprungen und ist Lesern, Buchhändlern, Buchklubs, Bibliothekaren usw. ein Begriff, kann es zum Selbstläufer, das heißt zu einer stetig sprudelnden Einnahmequelle für alle Beteiligten werden. Schlußwort Verlieren Sie bei allen Informationen in diesem Schlußkapitel nie aus dem Auge, daß die erwähnten Werbe- und Verkaufsmaßnahmen eigentlich nur der Zuckerguß sind. Ihre Aufgabe besteht zunächst einmal darin, ein unvergeßliches Buch über ein Thema zu schreiben, das eine große Zahl potentieller Leser und Leserinnen anspricht. Wenn Sie das schaffen, dann sollten Ihr Agent und Ihr Verleger auch imstande sein, das Buch zu dem Erfolg zu führen, den es verdient.
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