ELRIC VON MELNIBONÉ
Michael Moorcocks sechs Bände umfassender Zyklus vom Albinokönig aus der »Träumenden Stadt« und de...
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ELRIC VON MELNIBONÉ
Michael Moorcocks sechs Bände umfassender Zyklus vom Albinokönig aus der »Träumenden Stadt« und den beiden schwarzen Zauberschwertern »Sturmbringer« und »Trauerklinge« gilt heute schon unbestritten als eines der großen klassischen Werke der Fantasy-Literatur.
Elric, der König auf dem Rubinthron in Imryrr, der Träumenden Stadt, König über das kleine, doch gefürchtete Melniboné, muß um seine Herrschaft bangen. In der Jahrtausende alten Tradition der Könige von Melniboné ist er ein unglaublich fortschrittlicher und gütiger Herrscher. Deshalb wird er von den einen für einen Schwächling, von anderen wegen seines Aussehens für einen Dämon gehalten. Er ist kein Dämon, aber er weiß mit der Magie umzugehen, und er ist kein Schwächling, wie jeder zu spüren kriegt, der ihm seine Macht streitig zu machen versucht.
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MICHAEL MOORCOCK
ELRIC VON MELNIBONÉ Erster Band des Elric-Zyklus Fantasy-Roman Deutsche Erstveröffentlichung S&L by Tigerliebe K by Talldragon64
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
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HEYNE-BUCH Nr. 3643 im Wilhelm Heyne Verlag, München Titel der englischen Originalausgabe ELRIC OF MELNIBONÉ Deutsche Übersetzung von Thomas Schluck Die Textillustrationen zeichnete J. Cawthorn Redaktion: F Stanya Copyright © 1972 by Michael Moorcock Copyright © der deutschen Übersetzung 1979 by Wilhelm Heyne Verlag, München Printed in Germany 1979 Umschlagbild: Rodney Matthews Umschlaggestaltung: Atelier Heinrichs, München Gesamtherstellung: Mohndruck Reinhard Mohn GmbH, Gütersloh ISBN 3-453-30.556-6
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PROLOG Dies isf die Geschichte Elrics aus der Zeit, da er noch nicht >Frauentöter< genannt wurde, da Melniboné noch nicht endgültig untergegangen war. Dies ist die Geschichte seiner Rivalität mit Cousin Yyrkoon und seiner Liebe zu Cymoril, seiner Kusine, ehe jene Rivalität und jene Liebe Imrryr, die Träumende Stadt, in brausenden Flammen untergehen ließ, vernichtet von Räubern aus den Jungen Königreichen. Dies ist die Geschichte der beiden Schwarzen Schwerter >Sturmbringer< und >TrauerklingeMoral< ist für sie kaum mehr als der angemessene Respekt vor den Traditionen aus hundert Jahrhunderten. Dem jungen Mann, dem vierhundertundachtundzwanzigsten direkten Abkommen des ersten Zauberer-Herrschers von Melnibone, will ihre Anmaßung nicht nur arrogant, sondern gar töricht erscheinen; es liegt auf der Hand, daß die Dracheninsel ihre Macht weitgehend verloren hat und in einem oder zwei Jahrhunderten durch eine direkte Auseinandersetzung mit den aufsteigenden Nationen selbst in Gefahr geraten wird, Nationen, die von seinen Untertanen nicht ohne Herablassung die >Jungen Königreiche< genannt werden. Schon haben sich Piratenflotten erfolglos bemüht, Imrryr, die Schöne, die Träumende Stadt, die Hauptstadt der Dracheninsel Melniboné, anzu-
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greifen. Dennoch
weigern
sich
selbst
die
engsten
Freunde des Herrschers, die Möglichkeit eines Untergangs von Melniboné auszusprechen. Sie sind bestürzt, wenn er den Gedanken äußert, halten sie doch solche Überlegungen nicht nur für undenkbar, sondern auch für einen extremen Bruch der Etikette. So ist denn der Herrscher als einziger von düsteren Gedanken heimgesucht. Er beklagt, daß sein Vater, Sadric der Sechsundachtzigste, nicht mehr Kinder gezeugt hat, hätte dann womöglich doch ein geeigneterer Monarch für den Rubinthron gefunden werden können. Sadrics Tod liegt nun ein Jahr zurück; das Unbekannte, das seine Seele holen kam, hieß er freudig flüsternd willkommen. Den größten Teil seines Lebens kannte Sadric keine andere Frau außer der seinen, denn die Herrscherin war gestorben, als sie ihren ersten und einzigen dünnblütigen Nachkommen gebar. Doch mit echt melnibonéischem Gefühl (das
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sich seltsam von jenem der menschlichen Emporkömmlinge unterschied) hatte Sadric seine Frau geliebt und hatte fürderhin an anderer Gesellschaft keine Freude gefunden, auch nicht an der des Sohnes, der sie getötet hatte und der als einziges von ihr übrig war. Durch Beschwörung von Runen und mit Hilfe von Zaubermitteln und seltenen Kräutern hatte man diesen Sohn aufgepäppelt, seine Kräfte wurden künstlich genährt unter Anwendung aller Kniffe, die den Zauberer-Königen Melnibonés bekannt waren. Und so hatte er denn überlebt – und lebt noch immer –, dank Zauberei und noch einmal Zauberei; von Natur aus ist er apathisch und wäre ohne seine Drogen an normalen Tagen nicht lange in der Lage, auch nur die Hand zu heben. Wenn der junge Herrscher seiner lebenslangen Schwäche überhaupt einen Vorteil abgewinnen konnte, dann wohl dem Umstand, daß er gezwungen war, viel zu lesen. Noch ehe er das fünfzehnte Lebensjahr vollendete, hatte er jedes Buch in der
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Bibliothek seines Vaters studiert, manchen Band sogar mehr als einmal. Seine Zauberkräfte, deren Grundlagen Sadric legte, stellen die seiner Vorfahren weit in den Schatten – seit Generationen hat kein so mächtiger Zauberer mehr auf dem Thron gesessen. Sein Wissen um die Welt jenseits der Küsten Melnibonés ist umfassend, obgleich er bisher wenig unmittelbare Erfahrungen damit hat. Sollte er es wünschen, könnte er der Dracheninsel ihre frühere Macht zurückgeben und sein Land und die Jungen Königreiche als unverwundbarer Tyrann beherrschen. Sein Bücherstudium hat ihn aber auch dazu gebracht, den Sinn und Zweck der Macht allgemein in Frage zu stellen, ebenso wie seine eigenen Motive. Er ist im Zweifel, ob seine Macht überhaupt eingesetzt werden sollte, mit welchem Ziel auch immer. Sein Bücherstudium hat ihn zu dieser >Moral< geführt, die er in diesem Augenblick noch kaum versteht. So stellt er für seine Untergebenen ein Rätsel dar und wird von manchen sogar für eine Gefahr ge-
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halten, denkt oder handelt er doch nicht in Übereinstimmung mit ihrer Vorstellung, wie ein echter Melnibonéer (und dazu noch ein melnibonéischer Herrscher) denken und handeln sollte. Seinem Cousin Yyrkoon wird beispielsweise nachgesagt, er habe mehrfach das Recht des Herrschers angezweifelt, das Volk von Melniboné zu befehligen. »Dieser schwächliche Gelehrte führt uns noch alle in den Untergang«, sagte er eines Abends zu Dyvim Tvar, dem Lord der Drachenhöhlen. Dyvim Tvar ist einer der wenigen Freunde des Herrschers und hinterbrachte daher diesem das Gespräch pflichtschuldigst; der Jüngling aber hatte die Bemerkung als >nebensächlichen Verrat< abgetan, wohingegen jeder seiner Vorfahren solche Ansichten mit seiner langsamen und genußvollen öffentlichen Hinrichtung geahndet hätte. Die Einstellung des Herrschers wird weiterhin durch die Tatsache kompliziert, daß Yyrkoon, der
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inzwischen ziemlich unverhohlen zum Ausdruck bringt, daß er eigentlich Herrscher sein müßte, der Bruder Cymorils ist, eines Mädchens, das der Albino zu seinen engsten Freunden zählt und das eines Tages an seiner Seite Herrscherin werden wird. Unten auf dem Mosaikboden des Thronsaals ist Prinz Yyrkoon in seinen besten Seiden- und Pelzgewändern zu bewundern, in Juwelen und Brokat, mit hundert Frauen tanzend, von denen jede angeblich irgendwann einmal seine Geliebte gewesen ist. Sein dunkles Gesicht – gutaussehend und finster zugleich – ist von langem, schwarzem Haar gerahmt, das in Locken gelegt ölig schimmert, und sein Ausdruck ist wie immer leicht ironisch, während seine Körperhaltung Arroganz verrät. Der schwere Brokatmantel schwingt hierhin und dorthin und stößt schwungvoll gegen andere Tänzer. Er trägt ihn geradezu wie eine Rüstung oder vielleicht auch wie eine Waffe. Viele Höflinge empfinden nicht wenig Respekt vor Prinz Yyrkoon.
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Wenige mißbilligen seine Arroganz, doch jene halten den Mund, denn Yyrkoon gilt seinerseits als fähiger Zauberer. Sein Verhalten entspricht im übrigen dem, was der Hof von einem melnibonéischen Edelmann erwartet, ein Auftreten, das man auch gern beim Herrscher sähe. Dem Herrscher ist dies bekannt. Er wünschte, er wüßte seinen Hof zu erfreuen, der den König mit seinem Tanz und seiner Klugheit zu ehren bestrebt ist, doch er kann sich einfach nicht überwinden, an etwas teilzunehmen, das er insgeheim für eine ermüdende und unangenehme Abfolge ritueller Posen hält. In dieser Einstellung ist er womöglich noch arroganter als Yyrkoon, der zumindest als Grobian konventionellen Zuschnitts bezeichnet werden muß. Die Musik von der Galerie tönt nun lauter und komplexer: Dort werden die Sklaven, die speziell trainiert und durch chirurgischen Eingriff auf jeweils eine vollkommene Note getrimmt sind, zu größerer Anstrengung angespornt. Auch auf den
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jungen Herrscher bleibt die unheimliche Harmonie dieses Gesangs nicht ohne Wirkung, eine Musik, die kaum an Töne erinnert, wie sie von menschlichen Stimmen bisher erzeugt wurden. Wie kann ihr Schmerz solch unbeschreibliche Schönheit hervorbringen? Ist das das Geheimnis großer Kunst, unter Menschen wie unter Melnibonéern? Herrscher Elric schließt die Augen. Unten im Saal gibt es eine Bewegung. Die Türen sind geöffnet worden, und die tanzenden Höflinge erstarren, weichen zurück und verbeugen sich tief vor den eintretenden Soldaten. Die Soldaten sind hellblau gekleidet, die prunkvollen Schmuckhelme zu fantastischen Formen gestaltet, die langen Lanzen mit den breiten Klingen voller juwelenbesetzter Bänder. Sie umringen eine junge Frau, deren blaues Kleid zu den Uniformen paßt und um deren nackte Arme fünf oder sechs Reifen aus Diamanten, Saphiren und Gold liegen. Ketten aus Diamanten und Saphiren sind in ihr Haar geflochten. Im Gegensatz zu den meisten Frauen am Hofe sind
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auf ihre Lider und Wangenknochen keine Bilder gezeichnet. Elric lächelt. Dies ist Cymoril. Die Soldaten sind ihre persönliche Zeremonienwache und müssen sie der Tradition gemäß in den Thronsaal geleiten. Die Männer ersteigen die Treppe zum Rubinthron. Elric steht langsam auf und hebt die Hände. »Cymoril, ich dachte, du wolltest den Hof heute nicht mit deiner Anwesenheit beehren.« Sie erwidert sein Lächeln. »Mein Herrscher, ich mußte erkennen, daß mir doch nach Konversation zumute war.« Elric ist dankbar. Sie weiß, daß er sich langweilt; sie weiß außerdem, daß sie zu den wenigen Menschen in Melniboné gehört, deren Konversation ihn interessiert. Wäre das Protokoll nicht dagegen, würde er ihr den Thron als Sitzplatz anbieten; so muß sie auf der obersten Stufe zu seinen Füßen Platz nehmen. »Bitte setz dich, süße Cymoril.« Er läßt sich wieder auf den Thron sinken und beugt sich vor,
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während sie Platz nimmt und ihm mit einer Mischung aus Amüsement und Zärtlichkeit in die Augen blickt. Sie spricht leise, während ihre Wache zurücktritt, um sich zu beiden Seiten der Treppe mit Elrics Wache zu vermengen. Nur Elric kann ihre Stimme hören. »Möchtest du morgen mit mir in die wilde Region der Insel reiten, mein Lord?« »Ich muß mich um etliche Dinge kümmern…« Der Vorschlag interessiert ihn. Es ist Wochen her, seit er zum letztenmal die Stadt verließ und in ihrer Begleitung ausritt, in diskretem Abstand von ihrer Eskorte. »Ist es denn dringend?« Er zuckt die Achseln. »Was ist schon dringend in Melniboné? Nach zehntausend Jahren lassen sich die meisten Probleme aus einem gewissen Abstand sehen.« Sein Lächeln ist fast schon ein Grinsen, und er erinnert ein wenig an einen Schüler, der sich mit dem Gedanken trägt, den Unterricht zu schwänzen. »Na schön – wir reiten mor-
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gen ganz früh, ehe die anderen aufgestanden sind.« »Außerhalb von Imrryr gibt es frische, saubere Luft. Die Sonne wird warm scheinen für die Jahreszeit. Der Himmel wird blau und wolkenlos leuchten.« Elric lacht. »Das muß dein Zauberwerk sein!« Cymoril senkt den Blick und zeichnet mit dem Finger ein Muster auf den Marmor des Thronpodests. »Na ja, vielleicht ein wenig. Ich bin nicht ohne Freunde unter den schwächsten der Weltgeister.« Elric streckt den Arm aus und berührt ihr dünnes blondes Haar. »Weiß Yyrkoon davon?« »Nein.« Prinz Yyrkoon hat es seiner Schwester untersagt, sich in die Zauberei zu mischen. Prinz Yyrkoons Freunde rekrutieren sich aus den undurchsichtigeren Kreisen übernatürlicher Wesen, und er weiß, daß der Umgang mit solchen Geschöpfen gefährlich ist; daraus zieht er den Schluß, daß
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alle Zauberdinge ein ähnliches Gefahrenelement enthalten. Abgesehen davon ist ihm der Gedanke verhaßt, daß auch andere über Kräfte verfügen, die er beherrscht. Vielleicht ist es dieses Detail, das er in Elric am meisten haßt. »Wollen wir hoffen, daß morgen ganz Melniboné schönes Wetter braucht«, sagte Elric. Cymoril starrt ihn verwundert an. Sie ist trotz allem eine Melnibonéerin und gar nicht auf den Gedanken gekommen, daß ihre Zauberei gewissen Leuten unwillkommen sein könnte. Sie zuckt die lieblichen Achseln und berührt mit sanftem Druck die Finger ihres Lords. »Dieses >SchuldgefühlTräumende Stadt< erhalten. In Imrryr kauten auch die einfachsten Sklaven Beeren, welche das Vergessen brachten; auf diese Weise ließen sie sich leicht kontrollieren, denn sie waren sehr schnell von ihren Träumen abhängig. Allein Elric lehnte solche Drogen ab, vielleicht weil er so viele andere einnehmen mußte, um nur am Leben zu bleiben. Die gelbgekleideten Wächter waren hinter ihnen verschwunden, und als sie die Ebene überquert hatten, auf der die Noidelbüsche wuchsen, zügelten sie die Tiere, erreichten schließlich die Klippen und dann das Meer. Der Ozean schimmerte hell und beleckte ge-
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mächlich den weißen Strand unterhalb des Steilabfalls. Meeresvögel wirbelten aus klarem Himmel, und ihr Geschrei klang fern und unterstrich nur das Gefühl des Friedens, das Elric und Cymoril erfüllte. Schweigend führten die Liebenden ihre Pferde über steile Wege zum Strand hinab. Dort banden sie die Tiere an und begannen über den Sand zu gehen, und ihr Haar – das seine weiß, das ihre tief schwarz – flatterte im Wind, der von Osten heranwehte. Sie fanden eine große trockene Höhle, in der die Geräusche des Meeres eingefangen und in flüsternden
Echos
zurückgeworfen
wurden.
Im
Schatten dieser Höhle legten sie die Seidenkleidung ab und begannen ein zärtliches Liebesspiel. Sie lagen sich in den Armen, während der Tag wärmer wurde und der Wind nachließ. Dann badeten sie im Meer und füllten den leeren Himmel mit ihrem Lachen. Als sie trocken waren und sich ankleideten, bemerkten sie eine Verdunklung am Horizont. El-
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ric sagte: »Ehe wir in Imrryr eintreffen, sind wir wieder naß. Wie schnell wir auch reiten, das Unwetter holt uns ein.« »Vielleicht sollten wir in der Höhle bleiben, bis es vorbei ist«, schlug sie vor, trat dicht neben ihn und drückte ihren weichen Körper gegen den seinen. »Nein«, antwortete er. »Ich muß bald zurück. In Imrryr liegen Mittel bereit, die ich einnehmen muß, wenn mein Körper bei Kräften bleiben soll. Noch eine Stunde oder zwei, dann setzt meine Schwäche ein. Du hast mich schon schwach gesehen, Cymoril.« Sie streichelte sein Gesicht, und in ihren Augen stand ein mitfühlender Ausdruck. »Ja, ich habe dich schwach gesehen, Elric. Komm, wir wollen die Pferde suchen.« Als sie die Tiere erreichten, war der Himmel über ihnen grau geworden, und weiter östlich brodelte es schwärzlich. Sie hörten Donner grollen und sahen Blitze zucken. Das Meer bäumte sich
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auf, wie angesteckt von der Hysterie des Himmels.
Die
Pferde
schnaubten
unruhig
und
stampften im Sand; sie wollten nach Hause. Als Elric und Cymoril in den Sattel stiegen, klatschten ihnen bereits die ersten großen Regentropfen ins Gesicht und breiteten sich in dunklen Flecken auf den Mänteln aus. Und schon ritten sie in gestrecktem Galopp zurück nach Imrryr, die Blitze zuckten ringsum, und der Donner grollte wie ein erzürnter Riese, wie ein alter großer Lord des Chaos, der sich ungebeten in das Reich der Erde durchzukämpfen versuchte. Cymoril blickte in Elrics bleiches Gesicht, das einen Augenblick lang durch aufzuckendes Himmelsfeuer erleuchtet wurde, und sie spürte eine Kälte im Leibe, einen Frosthauch, der nichts mit dem Wind oder dem Regen zu tun hatte, denn in diesem Augenblick wollte ihr scheinen, als wäre der sanftmütige Gelehrte, den sie liebte, von den Elementen in einen höllenbesessenen Dämon ver-
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wandelt worden, in ein Monstrum, das kaum noch menschliche Züge aufwies. Die roten Augen leuchteten im Weiß seines Schädels wie die Flammen der Höheren Hölle; das Haar wurde emporgepeitscht
zum
Busch
eines
unheimlichen
Kampfhelms, und der Mund schien im trügerischen Licht des Unwetters wie in einer Mischung aus Zorn und Qual verzerrt zu sein. Plötzlich erkannte Cymoril die Wahrheit. Sie erkannte mit innerer Klarheit, daß dieser morgendliche Ritt der letzte Augenblick des Friedens war, den sie beide je erleben würden. Das Unwetter war ein Zeichen der Götter – eine Warnung vor kommenden Stürmen. Wieder blickte sie zu ihrem Liebsten hinüber. Elric lachte. Er hatte das Gesicht nach oben gedreht, so daß ihn der warme Regen direkt traf, daß ihm das Wasser in den offenen Mund plätscherte.
Sein
Lachen
war
das
ungehemmte,
schlichte Lachen eines glücklichen Kindes. Cymoril versuchte das Lachen zu erwidern, a-
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ber dann mußte sie das Gesicht abwenden, damit er es nicht sah. Cymoril hatte zu weinen begonnen. Sie weinte noch, als Imrryr in Sicht kam – eine groteske schwarze Silhouette vor der hellen Linie des noch nicht vom Unwetter betroffenen westlichen Horizonts.
4 GEFANGENE: GEHEIMNISSE WERDEN IHNEN ENTRISSEN Die Männer in gelben Rüstungen erblickten Elric und Cymoril, als sich die beiden dem kleinsten der Osttore näherten. »Sie haben uns endlich gefunden«, sagte Elric lächelnd durch den Regen. »Aber etwas zu spät, nicht wahr, Cymoril?« Cymoril, die noch mit ihren düsteren Vorah-
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nungen kämpfte, nickte nur und versuchte ein Lächeln aufzusetzen. Elric interpretierte dies als Ausdruck der Enttäuschung und weiter nichts und rief seinen Wächtern zu: »Ho, Männer! Wir sind bald alle wieder trocken!« Doch der Kommandant der Garde ritt im Galopp herbei und rief: »Mein Lord Herrscher wird dringend im Monshanjik-Turm erwartet, wo man Gefangene festhält.« »Spione?« »Aye, mein Lord.« Das Gesicht des Mannes war bleich. Wasser plätscherte in Sturzbächen von seinem Helm und erzeugte dunkle Flecken auf seinem dünnen Mantel. Sein Pferd ließ sich kaum noch im Zaum halten; immer wieder wich es Pfützen aus, die sich überall dort gebildet hatten, wo die Straße nicht mehr in Ordnung war. »Im Labyrinth gefangen, heute früh. Barbaren aus dem Süden, nach der karierten Kleidung zu urteilen. Wir warten darauf, daß der Herrscher sie persön-
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lich verhört.« Elric hob die Hand. »Dann führe uns, Hauptmann. Wir wollen uns die mutigen Toren anschauen, die sich in Melnibonés Meereslabyrinth gewagt haben.« Der Monshanjik-Turm war nach dem ZaubererArchitekten benannt, der vor Jahrtausenden das Meereslabyrinth geschaffen hatte. Das Labyrinth bildete den einzigen Zugang zu dem großen Hafen Imrryrs, und sein Geheimnis wurde sorgfältig gehütet, bot es doch den besten Schutz vor Überfällen. Das Labyrinth war kompliziert, und die Schiffslotsen mußten speziell ausgebildet werden. Bevor das Labyrinth gebaut wurde, war der Hafen eine Art Binnenlagune gewesen, gespeist durch Meerwasser und durch ein System natürlicher Höhlen in den hohen Klippen, die zwischen Lagune und Ozean aufragten. Es gab fünf verschiedene Routen durch das Meereslabyrinth, von denen jeder Lotse nur eine kannte. In der Außenwand der Klippe gähnten fünf Eingänge. Hier warteten
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die Schiffe aus den Jungen Königreichen, bis ein Lotse an Bord kam. Daraufhin wurde eine der fünf Zufahrten geöffnet, die Besatzung an Bord bekam Augenbinden umgelegt und mußte unter Deck, bis auf den Rudermeister und den Steuermann, denen Stahlhelme aufgesetzt wurden, damit sie nichts sehen konnten und nur in der Lage waren, die komplizierten Anweisungen der Lotsen auszuführen. Wenn ein Schiff aus den Jungen Königreichen eine solche Anweisung mißachtete und etwa gegen die Felswand lief, nun, so trauerte Melniboné nicht darum; überlebende Besatzungsmitglieder wurden versklavt. Wer mit der Träumenden Stadt Handel trieb, kannte diese Risiken, dennoch trotzten jeden Monat Dutzende von Kaufleuten den Gefahren des Labyrinths, um ihre armseligen
Waren
gegen
die
Reichtümer
Melnibonés einzutauschen. Der Monshanjik-Turm überragte das Hafenbecken und die breite Mole, die mitten in die Lagune ragte. Ein meergrüner Turm, gedrungen im
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Vergleich zu den meisten anderen Türmen in Imrryr, dennoch ein schön gestaltetes, nach oben sich verjüngendes Bauwerk mit breiten Fenstern, aus denen der ganze Hafen überschaut werden konnte. Hier im Monshanjik-Turm wurden die meisten Hafengeschäfte abgewickelt, während in den tieferliegenden Kellergeschossen Gefangene hausten. Sie hatten eine der unzähligen Vorschriften übertreten, die das Leben im Hafen bestimmten. Elric ließ Cymoril mit einem Leibwächter zum Palast zurückkehren und bog zum Turm ab; er ritt durch den großen Torbogen an seinem Fuße und versprengte dabei eine nicht kleine Gruppe von Kaufleuten, die auf die Erlaubnis warteten, mit dem Verkauf zu beginnen; das ganze Erdgeschoß
war
voller
Seeleute,
Händler
und
melnibonéischer Beamter, die der Tätigkeit des Feilschens nachgingen, obgleich an diesem Ort die eigentlichen Waren nicht zur Schau gestellt wurden. Das widerhallende Durcheinander von tausend
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Stimmen, die mit tausend Aspekten der Geschäftemacherei befaßt waren, verstummte langsam, während Elric und sein Wächter in stolzer Pose zu einem zweiten Torbogen am anderen Ende des Saales ritten. Dieses Tor führte zu einer Rampe, die sich in die Untergeschosse des Turms krümmte. Diese Rampe polterten die Reiter hinab und kamen dabei an Sklaven, Dienern und Beamten vorbei, die hastig Platz machten und sich tief verbeugten, sobald sie den Herrscher erkannten. Riesige Fackeln erhellten den Tunnel, zischend und qualmend warfen sie verzerrte Schatten auf die glatten Obsidianwände. Hier unten lag ein kühler Hauch in der Luft, ein Hauch von Feuchtigkeit, denn Wasser umspülte die Grundmauern des Turms unterhalb der Kais von Imrryr. Und weiter ritt der Herrscher, und immer tiefer führte die Rampe ins glasige Gestein. Plötzlich stieg den beiden eine Hitzewelle entgegen, unruhiger Lichtschein tauchte vor ihnen auf, und schließlich ka-
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men sie in ein Gewölbe, in dem es nach Rauch und Angst roch. Von der niedrigen Decke hingen Ketten, und an acht Ketten, an den Füßen festgemacht, baumelten vier Menschen. Die Kleidung hatte man ihnen vom Leib gerissen, doch ihre Körper waren in Blut gehüllt, das aus zahllosen winzigen Wunden quoll, präzise, doch grausam beigebracht von dem Meister, der mit dem Skalpell in der Hand danebenstand und sein Werk betrachtete. Der Meister war groß und sehr hager und wirkte wie ein Skelett in seinem fleckigen weißen Gewand. Seine Lippen waren dünn, seine Augen wie Schlitze, seine Finger schlank, sein Haar schütter, und das Skalpell in seiner Hand war beinahe unsichtbar, bis auf die Augenblicke, da es im Licht des Feuers aufblitzte, das in einer Grube auf der anderen Seite der Höhle loderte. Der Meister wurde Doktor Jest genannt, und die Kunst, die er hier praktizierte, war weniger eine kreative als eine darstellende (obwohl er sich mit einiger Überzeu-
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gungskraft für das Gegenteil aussprach), die Kunst, anderen Menschen Geheimnisse zu entreißen.
Doktor
Jest,
der
Erste
Verhörmeister
Melnibonés. Bei Elrics Eintreten drehte er sich geschmeidig um, das Skalpell zwischen dem dünnen Daumen und dem dünnen Zeigefinger der rechten Hand haltend; so stand er in erwartungsvoller Pose, beinahe wie ein Tänzer, und machte eine tiefe Verbeugung. »Geliebter Herrscher!« Seine Stimme klang ebenfalls dünn. Sie hauchte aus seiner dünnen Kehle empor, als wollte sie der Enge entrinnen, und man fragte sich unwillkürlich, ob man die Worte überhaupt gehört hatte, so schnell waren sie gekommen und wieder verklungen. »Doktor! Sind das die Südländer, die heute früh gefangengenommen wurden?« »In der Tat, mein Herr.« Eine neue tiefe Verbeugung. »Zu deinem Vergnügen.« Mit kühlem Blick betrachtete Elric die Gefangenen. Er hatte kein Mitleid mit ihnen. Es waren
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Spione. Ihr Vorgehen hatte sie in diese Situation geführt. Sie hatten gewußt, was sie erwartete, wenn sie erwischt wurden. Doch einer von ihnen war ein Jüngling und ein anderer offenbar eine Frau, wenngleich sich alle so sehr in den Ketten wanden, daß man das nicht auf den ersten Blick feststellen konnte. Ein Jammer. Im nächsten Augenblick schnappte die Frau mit ihren restlichen Zähnen nach ihm und fauchte: »Dämon!« Elric trat einen Schritt zurück und sagte: »Haben sie dir verraten, was sie in unserem Labyrinth wollten, Doktor?« »Sie quälen mich noch mit bloßen Andeutungen. Sie haben einen ausgeprägten Sinn für das Dramatische, das weiß ich zu schätzen. Ich würde sagen, sie sind hier, um einen Weg durch das Labyrinth auszukundschaften, dem eine Armee von Angreifern später folgen könnte. Die Einzelheiten haben sie bisher für sich behalten. Darum geht es bei diesem Spielchen. Wir alle
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kennen die Regeln.« »Und wann werden sie es dir sagen, Doktor Jest?« »Oh, recht bald, mein Lord.« »Wir sollten auf jeden Fall in Erfahrung bringen, ob wir mit Angreifern rechnen müssen. Je eher wir das wissen, desto weniger Zeit brauchen wir, um den Angriff dann abzuschlagen. Bist du nicht auch dieser Meinung, Doktor?« »O ja, mein Lord.« »Schön.« Der Zwischenfall ärgerte Elric. Das Verhör hatte ihm die Freude an dem Ausritt verdorben, konfrontierte ihn viel zu schnell wieder mit seinen Pflichten. Doktor Jest kehrte zu seinen Opfern zurück, streckte die freie Hand aus und ergriff fachgerecht die Geschlechtsteile eines männlichen Gefangenen. Das Skalpell blitzte auf. Ein Stöhnen folgte. Doktor Jest warf etwas ins Feuer. Elric setzte sich in einen Stuhl, den man ihm zurechtstellte. Die Rituale, die mit der Beschaf-
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fung von Informationen einhergingen, langweilten ihn eher, als daß sie ihn anwiderten; die schrillen Schreie, das Klappern der Ketten, das dünne Flüstern von Doktor Jest – das alles trug dazu bei, das Wohlgefühl zu vertreiben, das ihn noch beim Eintritt in die Höhle erfüllt hatte. Aber es gehörte zu seinen königlichen Pflichten, solchen Ritualen beizuwohnen, so auch diesem, bis ihm die Information übergeben wurde und er seinen Ersten Verhörmeister beglückwünschen konnte, um anschließend Befehle zu geben, wie dem Angriff zu begegnen war. Später mußte er sich bestimmt noch
mit Admirälen
und Generälen
beraten,
wahrscheinlich die ganze Nacht hindurch, mußte Argumente abwägen und die Verteilung von Männern und Schiffen festlegen. Mit einem kaum unterdrückten Gähnen lehnte er sich zurück und sah zu, wie Doktor Jest Finger und Skalpell, Spitzen, Zangen und Klammern über die Körper tanzen ließ. Schon bald dachte er an andere Dinge, an philosophische Probleme, mit denen er sich
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schon seit längerer Zeit beschäftigte. Nicht daß Elric unmenschlich war; aber er war trotz allem ein Melnibonéer. Seit seiner Kindheit kannte er solche blutigen Szenen. Er hätte die Gefangenen nicht retten können, selbst wenn er gewollt hätte, ohne gegen jede Tradition der Dracheninsel zu verstoßen. In diesem Fall ging es schlicht darum, einer Gefahr mit der besten verfügbaren Methode zu begegnen. Er war es gewöhnt, Gefühle zu unterdrücken, die mit seinen Pflichten als Herrscher im Widerstreit standen. Hätte ein Sinn darin gelegen, die vier zu befreien, die jetzt nach dem Willen von Doktor Jest tanzten, hätte er sie befreit, aber es war sinnlos, und die Gefangenen wären sehr erstaunt gewesen, hätte man sie anders behandelt als eben jetzt. Moralische Entscheidungen fällte Elric im großen und ganzen nach praktischen Gesichtspunkten – unter Berücksichtigung der Schritte, die er unternehmen konnte. In diesem Falle konnte er nichts machen. Eine solche Reaktion war ihm zur zwei-
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ten Natur geworden. Sein Bestreben ging nicht dahin, Melniboné zu reformieren, sondern sich selbst; er wollte nicht Aktionen einleiten, sondern den besten Weg finden, auf die Handlungen anderer zu reagieren. Hier war die Entscheidung einfach. Ein Spion war ein Aggressor. Gegen Aggressoren verteidigte man sich mit allen zu Gebote stehenden Methoden. Und bessere Methoden als die des Doktor Jest gab es nicht. »Mein Lord?« Geistesabwesend hob Elric den Kopf. »Wir
haben
jetzt
die
Informationen,
mein
Lord.« Doktor Jests Dünne Stimme flüsterte durch die Höhle. Zwei Kettenpaare waren leer, und Sklaven sammelten blutige Teile vom Boden auf und warfen sie ins Feuer. Die beiden verbliebenen formlosen Klumpen erinnerten Elric an Fleischstükke, die ein Metzger sorgfältig bearbeitet hat. Einer der Brocken zitterte noch ein wenig, der andere aber rührte sich nicht mehr. Doktor Jest ließ seine Instrumente in ein
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schmales Etui gleiten, das er in einem Beutel am Gürtel trug. Seine weiße Kleidung war über und über mit Flecken bedeckt. »Offenbar hat es vor diesen schon andere Spione gegeben«, berichtete Doktor Jest seinem Herrn. »Diese hier wollten die Route lediglich bestätigen. Ob sie nun rechtzeitig zurückkehren oder nicht, die Barbaren greifen auf jeden Fall an.« »Aber sie müssen doch wissen, was sie erwartet!« sagte Elric. »Wahrscheinlich nicht, mein Lord. Unter den Händlern und Seeleuten aus den Jungen Königreichen ist das Gerücht ausgestreut worden, man habe im Labyrinth vier Spione entdeckt und aufgespießt – auf der Flucht erschlagen.« »Aha«, sagte Elric stirnrunzelnd. »Dann ist es das beste, wenn wir den Angreifern eine Falle stellen.« »Aye, mein Lord.« »Du kennst die Route, die sie gewählt ha-
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ben?« »Aye, mein Lord.« Elric wandte sich an einen Wächter. »Laß alle unsere Generäle und
Admirale
verständigen.
Welche Stunde haben wir?« »Sonnenuntergang eben vorbei, o Herr.« »Gib Bescheid, daß sie sich zwei Stunden nach Sonnenuntergang vor dem Rubinthron versammeln sollen.« Erschöpft stand Elric auf. »Gut gearbeitet, Doktor Jest, wie üblich.« Der dünne Meister verbeugte sich tief, es sah aus, als bräche er in der Mitte durch. Ein dünnes und irgendwie salbungsvolles Seufzen war seine Antwort.
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5 EIN KAMPF: DER KÖNIG BEWEIST SEINE FELDHERRNKÜNSTE Yyrkoon traf als erster ein, ganz als Krieger gewandet, begleitet von zwei riesigen Leibwächtern, die die beiden prunkvollen Kriegsbanner des Prinzen trugen. »Mein Herrscher!« Yyrkoons Stimme klang stolz und verächtlich. »Überläßt du mir das Kommando über die Krieger? Damit wärst du dieser Sorge ledig in einem Augenblick, da du deine Zeit zweifellos mit anderen Dingen ausfüllen möchtest.« Elric erwiderte ungeduldig: »Höchst rücksichtsvoll, Prinz Yyrkoon, aber sei unbesorgt. Ich befehlige die Armee und die Flotte Melnibonés, denn das ist die Aufgabe des Herrschers.« Yyrkoon runzelte die Stirn und wich zur Seite, als Dyvim Tvar, Lord der Drachenhöhlen, den Thronsaal betrat. Er kam völlig ohne Begleitung und schien sich überstürzt angekleidet zu haben. 66
Er trug den Helm unter dem Arm. »Mein Herrscher – ich bringe Nachrichten von den Drachen…« »Vielen Dank, Dyvim Tvar, aber warte, bis alle meine Kommandeure versammelt sind, und informiere sie dann gleich mit.« Dyvim Tvar machte eine Verbeugung und stellte sich gegenüber von Prinz Yyrkoon auf. Nach und nach trafen die Krieger ein; schließlich warteten etwa zwanzig großgewachsene Hauptleute am Fuße der Treppe zum Rubinthron, auf dem Elric saß. Elric selbst trug noch die Kleidung, in der er am Morgen ausgeritten war. Zeit zum Umziehen hatte er nicht gehabt; bis vor wenigen Minuten hatte er Karten des Labyrinths studiert – Karten, die nur er zu entziffern vermochte und die gewöhnlich durch Zauberkräfte vor allen verborgen waren, die sich dafür interessieren mochten. »Die Südländer wollen Imrryrs Reichtum an sich bringen und uns alle töten«, begann Elric.
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»Sie glauben einen Weg durch unser Meereslabyrinth gefunden zu haben. Eine Flotte von hundert Kriegsschiffen ist ausgelaufen und auf dem Weg nach Melniboné. Morgen gedenkt sie bis zum Abend unter dem Horizont zu warten, dann segelt sie zum Labyrinth und dringt ein. Gegen Mitternacht glaubt man den Hafen zu erreichen und hofft die Träumende Stadt bei Morgengrauen erobert zu haben. Ich frage mich, ob das möglich ist.« »Nein!« Viele sprachen dieses Wort. »Nein.« Elric lächelte. »Aber wie ziehen wir den größten Genuß aus diesem kleinen Krieg, den sie uns ins Haus tragen?« Natürlich brüllte Yyrkoon seine Antwort als erster: »Fahren wir ihnen sofort entgegen, mit Drachen und Kampfbarken. Verfolgen wir sie bis in ihr eigenes Land, tragen wir den Krieg zu ihnen! Greifen wir ihre Länder an, verbrennen wir ihre Städte! Wir erobern sie und sichern damit unsere eigene Sicherheit!«
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Dyvim Tvar meldete sich. »Keine Drachen«, widersprach er. »Was?« Yyrkoon fuhr herum. »Was?« »Die Drachen stehen nicht zur Verfügung. Sie lassen sich nicht wecken. Die Drachen schlafen in ihren Höhlen, erschöpft von ihrem letzten Kampf für dich.« »Für mich?« »Du bestandest darauf, sie bei deiner Auseinandersetzung mit den vilmirischen Piraten einzusetzen. Ich wandte ein, ich wollte sie lieber für einen größeren Kampf aufsparen. Aber du setztest sie gegen die Piraten ein, verbranntest ihre kleinen Boote. Jetzt schlafen die Drachen.« Yyrkoon starrte ihn zornig an. Er wandte sich an Elric. »Ich habe nicht erwartet…« Elric hob die Hände. »Wir brauchen unsere Drachen erst einzusetzen, wenn wir sie wirklich nötig haben. Der Angriff der Südländer-Flotte ist eine Kleinigkeit. Aber wenn wir den richtigen Zeitpunkt abwarten, sparen wir Kräfte. Sollen sie ru-
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hig denken, daß wir unvorbereitet sind. Lassen wir sie ins Labyrinth eindringen. Sobald die hundert Schiffe durch sind, treten wir in Aktion und versperren alle Aus- und Eingänge des Labyrinths. So festgesetzt, werden sie von uns vernichtet.« Yyrkoon betrachtete verdrießlich seine Füße und versuchte offenbar einen Fehler in dem Plan zu finden. In diesem Augenblick trat der große alte Admiral Magum Colim in seiner seegrünen Rüstung vor und verbeugte sich. »Die goldenen Kampfbarken Imrryrs liegen bereit, ihre Stadt zu verteidigen, o Herr. Es dauert jedoch seine Zeit, sie in Position zu manövrieren. Es ist außerdem zu bezweifeln, ob alle ins Labyrinth passen.« »Dann schicke einige hinaus und verstecke sie an der Küste, wo sie Überlebenden auflauern können, die unserem Angriff vielleicht entgehen«, wies ihn Elric an. »Ein guter Plan, o Herr.« Magum Colim verbeugte sich und trat in die Gruppe zurück.
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Die Debatte ging noch einige Zeit weiter; endlich war man soweit und machte Anstalten zu gehen. Da rief Prinz Yyrkoon von neuem: »Ich wiederhole mein Angebot an den Herrscher. Seine Person ist zu wertvoll, als daß sie im Kampf gefährdet werden dürfte. Meine Person – ist wertlos. Laßt mich die Krieger an Land und auf dem Wasser kommandieren, während der Herrscher im Palast verbleibt, unbehelligt von der Schlacht, in dem sicheren Bewußtsein, daß der Krieg gewonnen wird und die Südländer vernichtet werden – vielleicht möchte er ein Buch zu Ende lesen?« Elric lächelte. »Nochmals danke ich dir für deine Sorge, Prinz Yyrkoon. Aber ein Herrscher muß nicht nur seinen Geist üben, sondern auch seinen Körper. Ich führe morgen das Kommando.« Als Elric in seine Gemächer zurückkehrte, stellte er fest, daß Krummknochen bereits seine schwere schwarze Kampfkleidung vorbereitet hatte. Vor ihm lag die Rüstung, die bereits hundert
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melnibonéischen Herrschern gedient hatte; eine Rüstung, mit Zauberei zu einer Stärke geschmiedet, wie es sie im Reich der Erde nicht noch einmal gab, eine Rüstung, die den Gerüchten zufolge sogar dem Hieb der mythischen Runenklingen zu widerstehen vermochte, Sturmbringer und Trauerklinge, Waffen, die vom bösesten der vielen bösen Herrscher Melnibonés geschmiedet worden waren, ehe sie von den Lords der Höheren Welten ergriffen und für immer in Bereichen versteckt wurden, in die selbst solche Lords sich selten wagten. Auf dem Gesicht des gebeugten Mannes war ein freudiges Lächeln, während er einen Teil der Rüstung nach dem anderen und jede der vorzüglich ausbalancierten
Waffen
mit
langen,
knochig-
krummen Fingern berührte. Sein faltiges Gesicht hob sich und musterte Elrics sorgengeplagte Züge. »Ach, mein Lord! Ach, mein König! Bald wirst du die Freuden des Kämpfens erleben!« »Aye, Krummknochen – wir wollen hoffen, daß
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es eine Freude wird.« »Ich habe dir alles beigebracht – die Kunst des Schwert- und Dolchkampfes, die Kunst des Bogenschießens und des Lanzenzweikampfes im Sattel wie zu Fuß. Und du hast dich gut geschlagen, obgleich alle behaupten, du seist schwach. In ganz Melniboné gibt es keinen besseren Schwertkämpfer als dich – bis auf einen.« »Prinz Yyrkoon könnte besser sein als ich«, sagte Elric nachdenklich. »Nicht wahr?« »Ich sagte >bis auf einenverknüpftem Geschick< gesprochen. Du weißt also über mein Schicksal Bescheid?« »Ein wenig, glaube ich. Unsere Welt wird alt. Früher einmal waren die Geister auf deiner Ebene sehr mächtig, und die Melnibonéer teilten diese Macht ausnahmslos. Aber heute lassen unsere Kräfte nach wie auch die deinen. Irgend etwas verändert sich. Es gibt Anzeichen, daß die Lords der Höheren Welten sich wieder für deine Welt interessieren. Vielleicht fürchten sie, die Menschen aus den Jungen Königreichen könnten sie vergessen haben. Vielleicht drohen die Völker der Jungen Königreiche ein neues Zeitalter zu beginnen, in dem Götter und Wesen wie ich keinen Platz mehr haben. Ich vermute, daß sich in den Ebenen der Höheren Welten ein gewisses Unbehagen breit macht.« »Mehr weißt du nicht?«
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König Straasha hob den Kopf und sah Elric offen an. »Mehr kann ich dir nicht sagen, Sohn meiner alten Freunde, außer daß du glücklicher wärst, wenn du dich ganz deinem Geschick hingäbst, sobald du es begreifst.« Elric seufzte. »Ich glaube, ich weiß, was du meinst, König Straasha. Ich will versuchen, deinen Rat zu befolgen.« »Und nachdem du dich ausgeruht hast, ist nun Zeit für die Rückkehr.« Der Meereskönig erhob sich von seinem Thron aus milchigem Jade, glitt auf Elric zu und nahm ihn in seine kräftigen grünen Arme. »Wir werden uns wiedersehen, ehe dein Leben zu Ende geht, Elric. Ich hoffe, daß ich in der Lage bin, dir noch einmal zu helfen. Und denk daran, daß unsere Brüder der Luft und des Feuers ebenfalls versuchen werden, dir zu helfen. Und denk an die Tiere – sie können dir ebenfalls dienen. Du brauchst ihrer Hilfe nicht zu mißtrauen. Aber hüte dich vor Göttern, Elric. Hüte dich vor den Lords der
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Höheren Welten und denk daran, daß ihre Hilfe und ihre Geschenke stets einen Preis haben.« Dies waren die letzten Worte des Meereskönigs, die Elric vernahm, ehe sie wieder durch die gewundenen Tunnels jener anderen Ebene eilten, so schnell, daß Elric keine Einzelheiten mehr auszumachen vermochte und zuweilen gar nicht wußte, ob sie sich noch in König Straashas Reich befanden oder bereits in die Tiefen des Meeres seiner eigenen Welt zurückgekehrt waren.
2 EIN NEUER HERRSCHER UND EIN ERNEUERTER HERRSCHER Unheimliche Wolken füllten den Himmel, dahinter hing schwer und riesig-rot die Sonne, und das Meer war schwarz, als die goldenen Galeeren heimwärts glitten – weit vor ihrem Flaggschiff Sohn des Pyaray, das sich nur langsam bewegte, mit toten Sklaven auf den Ruderbänken, mit
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schlaffen Segelfetzen an den Masten, rauchgeschwärzten Männern auf den Decks und einem neuen Herrscher auf der verwüsteten Brücke. Der neue Herrscher war der einzige in der Flotte, der sich freute, und er freute sich aus vollem Herzen. Nicht länger flatterte Elrics Banner am höchsten Punkt des Flaggenmastes, sondern das seine; in aller Eile hatte er Elric für tot erklärt und sich zum Herrscher von Melniboné ausgerufen. Für Yyrkoon war der seltsame Himmel ein Vorzeichen der Veränderung, der Rückkehr zu den alten Gebräuchen und zur alten Macht der Dracheninsel. Wenn er Befehle gab, lag in seiner Stimme unüberhörbares Frohlocken, und Admiral Magum Colim, der vor Elric stets auf der Hut gewesen war, der nun aber Yyrkoons Kommandos ausführen mußte, fragte sich, ob es nicht vielleicht besser gewesen wäre, Yyrkoon auf die Art und Weise auszuschalten, wie Yyrkoon – so vermutete er – Elric beseitigt hatte. Dyvim Tvar stützte sich auf die Reling seines
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Schiffes Terhalis Besondere Zufriedenheit und betrachtete ebenfalls den Himmel. Er sah jedoch darin ein Omen des Untergangs, denn er trauerte um Elric und überlegte, wie er sich an Prinz Yyrkoon rächen konnte, sollte sich herausstellen, daß Yyrkoon seinen Cousin um der Thronbesteigung willen ermordet hatte. Melniboné tauchte über dem Horizont auf, eine zerklüftete düstere
Silhouette,
ein
schwarzes
Monstrum, das im Meer hockte und seine Kinder in die freudvolle Wärme seines Mutterleibs zurückrief, in die Träumende Stadt Imrryr. Die mächtigen Klippen ragten hoch auf, das mittlere Tor zum Meereslabyrinth öffnete sich, Wasser klatschte und gurgelte, durchschnitten und aufgewühlt von den goldenen Schiffen, die von der dämmrigen Feuchtigkeit der Tunnels verschluckt wurden. Hier schwammen noch immer Trümmer vom Zusammenstoß der letzten Nacht, hier waren noch bleich aufgedunsene Leichen zu sehen, wenn das Fackellicht darüber hinstrich. Die Schiffe
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drängten sich stolz durch die Überreste ihrer Opfer, doch an Bord der goldenen Kampfbarken herrschte keine Freude, denn sie brachten die Nachricht vom Tod ihres alten Herrschers. (Yyrkoon hatte verlautbaren lassen, er sei im Kampf gefallen und über Bord gestürzt. ) In der nächsten Nacht und in den darauffolgenden sechs Nächten würde der Wilde Tanz von Melniboné die Straßen füllen. Drogen und kleine Zauberkräfte würden dafür sorgen, daß niemand schlief, denn schlafen durfte kein Melnibonéer, ob alt oder jung, solange ein toter Herrscher betrauert wurde. Nackt würden die Drachenprinzen durch die Stadt streifen und jede junge Frau ergreifen und mit ihrem Samen füllen, denn es entsprach der Tradition, daß beim Tod eines Herrschers die Adligen Melnibonés möglichst viele Kinder aristokratischen Blutes zeugten. Von jeder Turmspitze würden Musiksklaven heulen. Viele Sklaven wurden getötet und einige auch verzehrt. Es war ein scheußlicher Tanz, der Tanz des Leids, und kostete so viele
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Menschenleben, wie er hervorbrachte. In diesen sieben Tagen wurde ein Turm eingerissen und ein neuer erbaut, und dieser Turm erhielt den Namen Elrics VIII. des Albinoherrschers, gefallen auf See bei der Verteidigung Melnibonés gegen die Piraten aus dem Süden. Auf dem Meer gefallen, sein Leichnam von den Wellen verschlungen. Das war kein gutes Omen, denn es bedeutete, daß Elric nun in die Dienste Pyarays
getreten
war,
des
Tentakelflüsterers
Unmöglicher Geheimnisse, des Chaos-Lords, der die Chaos-Flotte befehligte – tote Schiffe und tote Seeleute, die bis in alle Ewigkeit in seiner Macht standen –, und es geziemte sich einfach nicht, daß einem Angehörigen der königlichen Familie Melnibonés ein solches Schicksal widerfuhr. Ach, die Trauer würde lange währen, dachte Dyvim Tvar. Er hatte Elric geliebt, auch wenn er den Methoden seiner Herrschaft über die Dracheninsel zuweilen mit Mißfallen begegnet war. Am Abend wollte er heimlich die Drachenhöhlen
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aufsuchen und bis zum Morgen trauernd bei den schlafenden Drachen ausharren, die nun nach Elrics Tod das einzige waren, was er noch lieben konnte. Plötzlich dachte Dyvim Tvar an Cymoril, die Elrics Rückkehr erwartete. Die Schiffe traten nach und nach aus dem Labyrinth wieder in die Dämmerung des Abends hinaus. Im Freien brannten bereits Fackeln und Feuerkessel auf den Kais von Imrryr, die verwaist waren bis auf eine kleine Gruppe um eine Kutsche, die bis ans Ende der großen Mittelmole gefahren war. Ein kalter Wind blies über das Hafenbecken. Dyvim Tvar wußte, daß dort Prinzessin Cymoril auf die Flotte wartete. Obwohl das Flaggschiff als letztes durch das Labyrinth navigierte, mußten die übrigen Schiffe warten, bis es in Position geschleppt worden war und als erstes angelegt hatte. Wäre das nicht die vorgeschriebene Übung gewesen, hätte Dyvim Tvar sein Schiff verlassen und mit Cymoril gesprochen, er hätte sie vom Kai geleitet und ihr alles
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erzählt, was er über Elrics Tod wußte. Dieser Schritt war aber unmöglich. Noch ehe die Terhalis Besondere Zufriedenheit Anker geworfen hatte, senkte sich die Hauptgangway der Sohn des Pyaray, und Herrscher Yyrkoon ging mit selbstbewußtem Stolz an Land, die Arme in triumphierendem Salut vor der Schwester erhoben, die noch in diesem Augenblick die Schiffsdecks nach einer Spur ihres geliebten Albinos absuchte. Plötzlich begriff Cymoril, daß Elric tot war und daß Yyrkoon irgendwie für Elrics Tod verantwortlich war. Entweder hatte es Yyrkoon zugelassen, daß Elric von einer Gruppe südländischer Räuber verschleppt wurde, oder es war ihm gelungen, Elric selbst umzubringen. Sie kannte ihren Bruder und wußte, was sein Gesichtsausdruck bedeutete. Er war mit sich zufrieden, wie immer, wenn ihm irgendeine Gemeinheit gelungen war. Zorn blitzte in ihren tränengefüllten Augen, und sie warf den Kopf in den Nakken und rief in den bewegten, unheildrohenden Himmel:
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»Oh! Yyrkoon hat ihn vernichtet!« Ihre Leibwache war überrascht. Der Hauptmann sprach fürsorglich: »Madame?« »Er ist tot – und der Bruder dort hat ihn ermordet. Verhafte Prinz Yyrkoon, Hauptmann. Töte Prinz Yyrkoon, Hauptmann!« Bekümmert legte der Hauptmann die rechte Hand auf den Schwertgriff. Ein junger Krieger reagierte energischer. Er zog seine Klinge und murmelte: »Ich töte ihn, Prinzessin, wenn es dein Wunsch ist.« Der junge Krieger liebte Cymoril mit einer Inbrunst, die ihm jeden klaren Gedanken raubte. Der Hauptmann warf dem Krieger einen mahnenden Blick zu, aber der Soldat war wie mit Blindheit geschlagen. Zwei weitere Soldaten zogen blank. Yyrkoon hatte einen roten Mantel um sich gewunden, und auf seinem Drachenhelm spiegelte sich das Licht der im Wind zuckenden Fackeln, während er vortrat und rief: »Yyrkoon ist jetzt Herrscher!«
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»Nein!« schrie Yyrkoons Schwester. »Elric! Elric! Wo bist du?« »Er dient seinem neuen Herrn, Pyaray des Chaos. Seine toten Hände ziehen am Ruder eines Chaosschiffes, Schwester. Seine toten Augen sehen nichts mehr. Seine toten Ohren hören nur noch die knallende Peitsche Pyarays, und sein totes Fleisch zuckt und fühlt nichts außer jener unirdischen Geißel. Elric ist mitsamt seiner Rüstung auf den Meeresboden gesunken.« »Mörder! Verräter!« Cymoril begann zu schluchzen. Der Hauptmann, der einen Sinn für das Praktische hatte, sagte leise zu seinen Soldaten: »Steckt die Waffen fort und begrüßt euren neuen Herrscher.« Diese Anordnung mißachtete nur der junge Wächter, der Cymoril liebte. »Aber er hat den Herrscher ermordet! Meine Lady Cymoril hat es behauptet!« »Na und? Er ist jetzt Herrscher hier. Knie nie-
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der, sonst bist du in einer Minute tot.« Der junge Krieger stieß einen lauten Schrei aus und sprang auf Yyrkoon zu, der einen Schritt rückwärts machte und sich bemühte, die Arme aus dem Stoff seines Mantels zu befreien. Einen solchen Überfall hatte er nicht erwartet. Doch es war der Hauptmann, der mit gezogenem Schwert vorsprang und nach dem Jüngling hieb, welcher keuchend einatmete, eine halbe Drehung vollführte und tot zu Yyrkoons Füßen niedersank. Diese Demonstration des Hauptmanns war eine Bestätigung seiner wahren Macht, und Yyrkoon hätte beinahe zufrieden gegrinst, während er die Leiche betrachtete. Der Hauptmann sank auf ein Knie, das blutige Schwert noch in der Hand. »Mein Herrscher«, sagte er. »Du beweist mir angemessene Loyalität, Hauptmann.« »Meine Treue gilt dem Rubinthron.« »In der Tat.«
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Cymoril bebte vor Kummer und Zorn, doch ihre Empörung fruchtete nichts. Sie wußte, daß sie keine Freunde mehr hatte. Mit aufdringlichem Blick baute sich Herrscher Yyrkoon vor ihr auf. Er streckte die Hand aus und streichelte ihr über Hals, Wange und Mund. Er ließ die Hand fallen, daß sie eine Brust streifte. »Schwester«, sagte er, »jetzt gehörst du mir.« Da sank Cymoril als zweite vor ihm nieder: Sie hatte das Bewußtsein verloren. »Nimm sie auf«, sagte Yyrkoon zum Wächter. »Bring sie in ihren Turm und sorge dafür, daß sie dort bleibt. Zwei Mann sollen ständig bei ihr sein, selbst in den intimsten Augenblicken, denn es ist möglich, daß sie den Rubinthron verraten will.« Der Hauptman verneigte sich und bedeutete seinen Männern, dem Herrscher zu gehorchen. »Aye, mein Lord. Es soll geschehen.« Yyrkoon warf einen letzten Blick auf den toten Krieger. »Und gib das heute abend ihren Sklaven zu essen, damit er ihr auf diese Weise bis zum
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Letzten dient.« Er lächelte. Der Hauptmann lächelte ebenfalls; er wußte den Scherz zu würdigen. Es war ein angenehmes Gefühl, endlich wieder einen richtigen Herrscher in Melniboné zu haben. Einen Herrscher, der aufzutreten wußte, der es verstand, mit seinen Feinden umzugehen, und der unwandelbare Treue als sein Recht beanspruchte. Der Hauptmann hoffte, daß für Melniboné nun hübsche kämpferische Zeiten anbrachen. Die goldenen Kampfbarken und die imrryrischen Krieger konnten endlich wieder auslaufen und den Barbaren der Jungen Königreiche auf
angenehm-zufriedenstellende
Weise
Angst
einflößen. In Gedanken verhalf sich der Kapitän bereits zu den Schätzen Lormyrs, Argimiliars und Pikarayds, Ilmioras und Jadmars. Vielleicht durfte er sogar damit rechnen, zum Gouverneur ernannt zu werden, beispielsweise auf der Insel der Purpurnen Städte. Welch exquisite Folterqualen würde er den emporgekommenen Seelords bereiten, besonders Graf Smiorgan Kahlschädel, der seit
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einiger Zeit den Versuch machte, seine Insel in Konkurrenz zu Melniboné als Handelszentrum aufzubauen. Während er die ohnmächtige Prinzessin Cymoril zu ihrem Turm geleitete, fiel sein Blick auf ihren schönen Körper. Er spürte das Anschwellen der Lust in sich. Yyrkoon würde ihm seine Treue lohnen, daran gab es keinen Zweifel. Trotz des kalten Windes begann der Hauptmann in seiner Vorfreude zu schwitzen. Er würde Prinzessin Cymoril persönlich bewachen. Er würde seinen Spaß daran haben. An der Spitze seiner Armee marschierend, schritt Yyrkoon auf den Turm von D’arputna zu, den Turm der Herrscher, in dem sich der Rubinthron erhob. Er übersah die Sänfte, die man ihm gebracht hatte; er ging lieber zu Fuß, damit er jede Sekunde des Triumphes auskosten konnte. Er näherte sich dem Turm, der die anderen Türme mitten in Imrryr weit überragte, so wie er sich einer Geliebten genähert hätte. Er schritt darauf zu mit einem gewissen Zartgefühl und ohne Hast,
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wußte er doch, daß der Turm nun ihm gehörte. Er sah sich um. Seine Armee marschierte hinter ihm. Magum Colim und Dyvim Tvar führten sie an. Menschen säumten die gewundenen Straßen und verneigten sich tief vor ihm. Sklaven warfen sich zu Boden. Selbst die Lasttiere mußten niederknien, wenn er vorbeischritt. Yyrkoon kam die Macht beinahe wie eine saftige Frucht vor, die er auf der Zunge schmecken konnte. Tief atmete er ein. Selbst die Luft gehörte ihm. Ganz Imrryr gehörte ihm. Ganz Melniboné. Bald würde ihm die Welt gehören. Und er würde alles verprassen. Und wie! Oh, welch gewaltige Schrecken würde er auf die Erde zurückholen, welch Übermaß der Angst! In Ekstase, beinahe blind betrat Herrscher Yyrkoon den Turm. Vor dem großen Tor zum Thronsaal zögerte er. Er gab Zeichen, daß die Türflügel geöffnet werden sollten, und als sie zur Seite schwangen, nahm er das Panorama bewußt nur stückweise in sich auf. Die Wände, die Banner, die Trophäen, die Galerien – alles sein Eigentum.
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Der Thronsaal war in diesem Augenblick leer, doch bald würde er sich mit Farbe und Festivitäten und echten melnibonéischen Vergnügungen füllen. Viel zu lange schon hatte kein Blut die Luft dieses Saals versüßt. Jetzt ließ er seinen Blick auf den Stufen verweilen, die zum eigentlichen Rubinthron hinaufführten, doch ehe er den Thron selbst gewahrte, hörte er Dyvim Tvar hinter sich die Luft anhalten. Da fiel sein Blick auf den Sitz des Rubinthrons, und das Kinn sackte ihm herab. Seine Augen weiteten sich ungläubig vor dem Bild. »Eine Illusion!« »Eine Erscheinung«, sagte Dyvim Tvar nicht ohne Befriedigung. »Ketzerei!« rief Herrscher Yyrkoon taumelnd und deutete mit ausgestrecktem Finger auf die mit Robe und Kapuze verhüllte Gestalt, die reglos auf dem
Rubinthron
saß.
»Der
Thron
ist
mein,
mein!« Die Gestalt antwortete nicht. »Mein! Verschwinde! Der Thron gehört Yyrkoon.
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Yyrkoon ist jetzt Herrscher von Melniboné! Was bist du? Warum tust du mir das an?« Die Kapuze glitt zurück, und ein knochenweißes Gesicht wurde enthüllt, gerahmt von lose herabfallendem, weißem Haar. Rote Augen blickten kühl auf das kreischende, taumelnde Wesen, das sich ihm näherte. »Du bist tot, Elric! Ich weiß, daß du tot bist!« Die Erscheinung antwortete nicht, doch ein dünnes Lächeln stahl sich auf die weißen Lippen. »Du kannst nicht überlebt haben. Du bist ertrunken. Du kannst nicht zurückkehren. Pyaray besitzt deine Seele!« »Im Meer herrschen auch andere Wesen«, sagte die Gestalt auf dem Rubinthron. »Warum hast du mich getötet, Cousin?« Yyrkoon hatte die Beherrschung verloren, Entsetzen und Verwirrung waren an ihre Stelle getreten. »Weil es mein Recht ist zu herrschen! Weil du nicht stark genug warst, nicht grausam genug, nicht humorvoll genug…« »Ist dies kein guter Witz, Cousin!«
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»Fort mit dir! Fort mit dir! Fort mit dir! Ich lasse mich nicht durch ein Gespenst vertreiben! Ein toter Herrscher kann Melniboné nicht regieren!« »Das werden wir sehen«, sagte Elric und gab Dyvim Tvar und seinen Soldaten ein Zeichen.
3 EINE TRADITIONELLE GERECHTIGKEIT »Jetzt werde ich in der Tat so herrschen, wie du es dir gewünscht hast, Cousin.« Elric sah zu, wie Dyvim Tvars Soldaten den gescheiterten Usurpator umringten, seine Arme packten und ihm die Waffen abnahmen. Yyrkoon atmete keuchend wie ein in die Enge getriebener Wolf. Er sah sich um, als hoffe er bei den versammelten Kriegern Unterstützung zu finden, doch sie erwiderten sein Starren gleichgültig oder mit offener Verachtung. »Und du, Prinz Yyrkoon, sollst der erste sein, dem meine neue Herrschaft zugutekommt. Freust du dich darüber?«
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Yyrkoon senkte den Kopf. Er hatte zu zittern begonnen. Elric lachte. »Sprich, Cousin!« »Arioch und alle Herzöge der Hölle sollen dich bis in alle Ewigkeit quälen!« knurrte Yyrkoon. Seine rollenden Augen blickten wild, seine Lippen waren verzogen, als er den Kopf in den Nacken warf. »Arioch! Arioch! Verfluche diesen schwächlichen
Albino!
Arioch!
Vernichte
ihn,
wenn
Melniboné nicht untergehen soll!« Elric lachte noch immer. »Arioch hört dich nicht! Das Chaos ist schwach geworden auf der Erde. Es bedarf eines größeren Zaubers, um die Chaos-Lords zu rufen, damit sie uns helfen wie unseren Vorfahren. Und jetzt, Yyrkoon, sag mir eins – wo ist Lady Cymoril?« Aber Yyrkoon hatte sich in ein mürrisches Schweigen gehüllt. »Sie befindet sich in ihrem Turm, mein Herrscher«, sagte Magum Colim. »Ein Geschöpf Yyrkoons hat sie dorthin gebracht«, sagte Dyvim Tvar. »Der Hauptmann von
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Cymorils eigener Wache, er tötete einen Krieger, der seine Herrin gegen Yyrkoon verteidigen wollte. Prinzessin Cymoril ist vielleicht in Gefahr, mein Lord.« »Dann geh sofort zum Turm. Nimm eine Gruppe Männer mit. Bring Cymoril und den Hauptmann ihrer Wache zu mir.« »Und Yyrkoon, mein Lord?« fragte Dyvim Tvar. »Er möge hierbleiben, bis seine Schwester zurückkehrt.« Dyvim Tvar verbeugte sich, stellte eine Abteilung Krieger zusammen und verließ den Thronsaal. Niemand übersah, daß Dyvim Tvars Schritt nun leichter und sein Gesichtsausdruck weniger grimmig war als in den Minuten, da er sich hinter Prinz Yyrkoon dem Thronsaal näherte. Yyrkoon hob den Kopf und sah sich im Raum um. Einen Augenblick lang wirkte er wie ein bedauernswertes, verwundertes Kind. Alle Furchen des Hasses und Zorns waren aus seinem Gesicht
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verschwunden, und Elric spürte Mitgefühl für seinen Cousin in sich erwachen. Aber diesmal unterdrückte Elric die Regung. »Sei dankbar, Cousin, daß du einige Stunden lang mächtig warst, daß du die Macht über das Volk von Melniboné genießen durftest.« Yyrkoon
antwortete
mit
leiser,
stockender
Stimme: »Wie bist du entkommen? Du hattest keine Zeit, einen Zauber zu bewirken, auch nicht mehr die Kraft dazu. Du konntest kaum noch Arme und Beine bewegen, und die Rüstung muß dich zum Meeresboden hinabgezogen haben. Du hättest ertrinken müssen! Das ist unfair, Elric. Du hättest ertrinken müssen!« Elric zuckte die Achseln. »Ich habe Freunde im Meer. Im Gegensatz zu dir erkennen sie mein königliches Blut und mein Recht auf diesen Thron an.« Yyrkoon versuchte sein Erstaunen zu verbergen. Offenbar hatte sein Respekt vor Elric zugenommen – wie auch sein Haß auf den Albinoherrscher.
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»Freunde.« »Ja«, sagte Elric mit feinem Lächeln. »Ich – ich dachte, du hättest dir geschworen, deine Zauberkräfte nicht einzusetzen.« »Aber du hieltest das für einen Schwur, den abzulegen sich für einen melnibonéischen Monarchen nicht geziemte. Ist das nicht richtig? Nun, ich bin deiner Meinung. Siehst du, Yyrkoon, du hast schließlich doch einen Sieg errungen.« Yyrkoon starrte Elric aus zusammengekniffenen Augen an, als versuche er, die versteckte Bedeutung hinter Elrics Worten zu ergründen. »Du willst die Chaos-Lords zurückholen?« »Kein Zauberer, so mächtig er auch sei, kann die Chaos-Lords rufen, übrigens ebensowenig wie die Lords der Ordnung, wenn sie nicht kommen wollen. Das weißt du. Du mußt es wissen, Yyrkoon. Hast du es nicht selbst versucht? Und Arioch ist nicht gekommen, oder? Hat er dir das Geschenk gebracht, das du erbatest – die beiden schwarzen Schwerter?«
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»Das weißt du?« »Nein. Ich vermutete es. Jetzt weiß ich es.« Yyrkoon versuchte zu sprechen, doch seine Stimme brachte keine Worte hervor, so zornig war er. Statt dessen kam ein gepreßtes Knurren aus seiner Kehle, und einige Sekunden lang bäumte er sich im Griff der Wächter auf. Dyvim Tvar kehrte mit Cymoril zurück. Das Mädchen war bleich, doch sie lächelte. Sie lief in den Thronsaal. »Elric!« »Cymoril! Ist dir ein Leid geschehen?« Cymoril blickte auf den niedergeschmetterten Hauptmann ihrer Wache, der ebenfalls in den Saal geführt worden war. Ein Ausdruck des Widerwillens huschte über ihr Gesicht. Dann schüttelte sie den Kopf. »Nein. Mir ist nichts geschehen.« Cymorils Hauptmann zitterte vor Entsetzen. Flehend blickte er zu Yyrkoon hinüber, als hoffe er, der Mitgefangene könne ihm helfen. Aber Yyrkoon hob den Blick nicht vom Boden.
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»Laßt ihn näher herantreten.« Elric deutete auf den Hauptmann der Wache. Der Mann wurde vor die Stufen gezerrt, die zum Rubinthron führten. Er stöhnte. »Was für ein jämmerlicher Verräter du doch bist!« sagte Elric. »Yyrkoon war wenigstens so mutig, den Versuch zu machen, mich zu töten. Und seine Ziele waren hochgesteckt. Deine Wünsche aber beschränkten sich darauf, einer seiner unterwürfigen Helfer zu sein. Dafür verrietest du deine Herrin und tötetest einen deiner eigenen Männer. Wie heißt du?« Der Mann bekam seine Stimme kaum in die Gewalt, doch endlich murmelte er: »Valharik ist mein Name. Was sollte ich denn tun? Ich diene dem Rubinthron, wer immer darauf sitzt.« »Der Verräter behauptet also, er habe sich von seiner Loyalität leiten lassen. Das glaube ich nicht.« »O doch, mein Lord, es war so!« Der Hauptmann begann zu winseln. Er sank in die Knie. »Töte mich schnell! Strafe mich nicht länger.«
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Im ersten Augenblick hätte Elric der Bitte des Mannes am liebsten entsprochen, dann aber sah er Yyrkoon an und erinnerte sich an Cymorils Gesichtsausdruck, als ihr Blick auf den Wächter fiel. Er wußte, daß er ein Zeichen setzen mußte, indem er an Hauptmann Valharik ein Exempel statuierte. Also schüttelte er den Kopf. »Nein, ich strafe dich noch mehr. Heute abend wirst du in diesem Saal sterben, wie es die Traditionen Melnibonés gebieten, während meine Edelleute die neue Ära meiner Herrschaft mit einem Fest einleiten.« Valharik begann zu schluchzen. Dann nahm er sich zusammen und stand langsam auf; er besann sich auf seine Herkunft als Melnibonéer. Er machte eine tiefe Verbeugung und begab sich rückwärts gehend in die Gewalt seiner Wächter. »Ich muß mir eine Methode einfallen lassen, den Mann, dem du dienen wolltest, dein Schicksal teilen zu lassen«, fuhr Elric fort. »Wie hast du den jungen Krieger getötet, der Cymoril gehorchen
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wollte?« »Mit dem Schwert. Ich hieb ihn nieder. Es war ein sauberer Streich. Ein einziger.« »Und was wurde aus dem Toten?« »Prinz Yyrkoon befahl mir, ihn den Sklaven der Prinzessin zu essen zu geben.« »Verstanden. Nun denn, Prinz Yyrkoon, du darfst unserem Fest beiwohnen, während Hauptmann Valharik uns mit seinem Tode unterhält.« Yyrkoon war beinahe so bleich wie Elric. »Was soll das heißen?« »Die kleinen Fleischstücke, die Doktor Jest aus Hauptmann Valhariks Körper schneiden wird, sollen deine Speise sein. Du darfst genaue Anweisungen geben, wie das Fleisch des Hauptmanns zubereitet werden soll. Daß du es roh ißt, erwarten wir nicht, Cousin.« Selbst Dyvim Tvar zeigte sich über Elrics Entscheidung erstaunt. Zwar entsprach sie dem Geiste Melnibonés und war eine klug bedachte ironische Steigerung von Prinz Yyrkoons ursprüngli-
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cher Idee – doch sie paßte ganz und gar nicht zu Elric, zumindest nicht zu dem Elric, den er bis gestern gekannt hatte. Als er vernahm, welches Schicksal ihm zugedacht war, stieß Hauptmann Valharik einen lauten Entsetzensschrei aus und starrte Prinz Yyrkoon an, als koste der verhinderte Usurpator bereits von seinem Fleisch. Yyrkoon versuchte sich abzuwenden; seine Schultern hatten zu zucken begonnen. »Und das soll erst der Anfang sein«, sagte Elric. »Das Fest beginnt um Mitternacht. Bis dahin haltet Yyrkoon in seinem Turm fest.« Als Prinz Yyrkoon und Hauptmann Valharik fortgeführt worden waren, nahmen Dyvim Tvar und Prinzessin Cymoril neben Elric Aufstellung, der sich auf dem großen Thronsitz zurückgelehnt hatte und mit bitterem Blick ins Leere starrte. »Das war ein Akt raffinierter Grausamkeit«, sagte Dyvim Tvar. Cymoril sagte: »Beide haben es verdient.«
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»Aye«, murmelte Elric. »Ein solches Urteil hätte auch mein Vater gefällt. Yyrkoon ebenso, wäre er an meiner Statt gewesen. Ich folge damit nur den Traditionen. Ich tue nicht mehr so, als wäre ich mein eigener Herr. Hier bleibe ich, bis ich sterbe, gefangen auf dem Rubinthron, ihm dienend, wie Valharik ihm zu dienen behauptete.« »Könntest du nicht beide schnell töten?« fragte Cymoril. »Du weißt, daß ich mich nicht für meinen Bruder einsetze, weil er mein Bruder ist. Ihn hasse ich am meisten. Aber du könntest zugrundegehen, Elric, wenn du deinen Plan durchführst.« »Na und? Dann bin ich eben vernichtet. Dann bin ich eben nur ein gedankenloser Fortsatz meiner Vorfahren. Eine Marionette von Geistern und Erinnerungen,
an
Fäden
hampelnd,
die
sich
zehntausend Jahre weit in die Vergangenheit erstrecken.« »Vielleicht solltest du ein wenig schlafen…«, sagte Dyvim Tvar. »Ich fühle, daß ich lange Zeit nicht werde
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schlafen können. Aber dein Bruder wird nicht sterben, Cymoril. Nach dieser Strafe nachdem er Hauptmann Valhariks Fleisch gegessen hat – gedenke ich ihn ins Exil zu schicken. Er wird allein in die Jungen Königreiche reisen, ohne daß er seine Zauberbücher mitnehmen darf. Er muß sich in den Ländern der Barbaren aus eigener Kraft durchschlagen. Das dürfte keine zu schwere Strafe sein.« »Sie ist viel zu gering«, sagte Cymoril. »Es wäre wohl das beste, du würdest ihn töten. Schicke sofort Soldaten zu ihm. Laß ihm keine Zeit, neue Pläne gegen dich zu schmieden.« »Ich fürchte seine Verschwörungen nicht.« Elric erhob sich müde. »Jetzt hätte ich gern, wenn ihr mich beide bis etwa eine Stunde vor dem Fest allein laßt. Ich muß nachdenken.« »Ich kehre in meinen Turm zurück und bereite mich auf heute abend vor«, sagte Cymoril. Sie küßte Elric leicht auf die bleiche Stirn. Er hob den Blick, voller Liebe und Zärtlichkeit für sie. Mit der
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Hand berührte er sie an Haar und Wange. »Vergiß nicht, daß ich dich liebe, Elric«, sagte sie. »Ich sorge dafür, daß du sicher nach Hause geleitet wirst«, sagte Dyvim Tvar zu ihr. »Außerdem mußt du einen neuen Kommandanten für deine Wache bestimmen. Kann ich dir dabei helfen?« »Dafür wäre ich dir sehr dankbar, Dyvim Tvar.« Sie ließen Elric auf dem Rubinthron allein; er starrte noch immer ins Leere. Die Hand, die von Zeit zu Zeit den hellen Kopf berührte, bebte ein wenig, und inzwischen zeigte sich seine innere Zerrissenheit auch in den seltsamen roten Augen. Später verließ er den Rubinthron und wanderte langsam und mit gesenktem Kopf in seine Gemächer, gefolgt von den Wachen. Er zögerte an der Tür zu der Treppe, die in die Bibliothek hinaufführte. Instinktiv erstrebte er den Trost und das Vergessen bestimmter Kenntnisse, doch plötzlich
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haßte er seine Schriftrollen und Bücher. Ihnen gab er die Schuld an seinen lächerlichen Sorgen um >Moral< und >GerechtigkeitIch bin für das Leben nicht geeignetMoralSchiff-das-Über-Land-und-Meer-
FährtSchiff-das-Über-Land-undMeer-FährtFrank< gesagt«, meinte Elric
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stirnrunzelnd. »War das sein Name, was meint ihr? Sein früherer Name?« »Vielleicht«, sagte der alte Niun. »Vielleicht. Armes Geschöpf. Endlich ist es tot. Ihr stammt nicht aus Ameeron, ihr beiden – dich, roter Krieger, habe ich allerdings schon gesehen.« »Und ich dich«, sagte Rackhir lächelnd. Er wischte sich Schlanges Blut von der Klinge, wozu er einen der abgetrennten Köpfe benutzte. »Man nennt dich Niun-der-alles-Wußte.« »Aye. Der-alles-Wußte, der aber nur noch sehr wenig weiß. Bald habe ich alles vergessen, dann ist es ganz aus. Dann darf ich dieses schreckliche Exil verlassen und zurückkehren. So lautet der Pakt, den ich mit Orland vom Stab geschlossen habe. Ein Dummkopf war ich, alles wissen zu wollen – und meine Neugier verleitete mich zu einem Abenteuer, das diesen Orland betraf. Orland zeigte mir meine Irrwege auf und schickte mich hierher, zum Vergessen. Leider – das habt ihr festgestellt – erinnere ich mich noch von Zeit zu Zeit an
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Fähigkeiten und Kenntnisse. Ich weiß, ihr sucht die Schwarzen Schwerter. Ich weiß, daß du Elric von Melniboné bist. Ich weiß, was aus dir werden wird.« »Du kennst mein Schicksal?« fragte Elric voller Eifer. »Niun-der-alles-Wußte, erzähl mir davon!« Niun öffnete den Mund, als wollte er antworten, aber dann preßte er entschlossen die Lippen zusammen. »Nein«, sagte er. »Ich habe es vergessen.« »Nein!« Elric tat, als wollte er den Alten ergreifen. »Nein! Du erinnerst dich. Ich sehe, daß du dich erinnerst!« »Ich habe es vergessen.« Niun senkte den Kopf. Rackhir faßte Elric am Arm. »Er hat es vergessen, Elric.« Elric nickte. »Na schön.« Dann sagte er: »Aber weißt du noch, wo der Tunnel unter dem Sumpf liegt?« »Ja – nicht weit von Ameeron entfernt, am ei-
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gentlichen Sumpf. Geht dorthin. Dann haltet Ausschau
nach
einem
Denkmal
aus schwarzem
Marmor in der Gestalt eines Adlers. Am Fuße des Denkmals liegt der Eingang zum Tunnel.« Niun wiederholte diese Information wie ein Papagei, und als er dann den Kopf hob, war sein Gesicht entspannt. »Was habe ich eben gesagt?« Elric sagte: »Du hast uns gesagt, wie wir den Eingang zum Tunnel unter dem Sumpf erreichen.« »Ach?« Niun klatschte in die alten Hände. »Großartig! Das habe ich nun ebenfalls vergessen. Wer seid ihr?« »Am besten vergißt du uns ganz!« antwortete Rackhir mit feinem Lächeln. »Leb wohl, Niun, und vielen Dank.« »Wofür?« »Fürs Erinnern und fürs Vergessen.« Sie ließen den fröhlichen alten Zauberer stehen und setzten ihren Weg durch das elende Ameeron fort. Da und dort starrten Gesichter aus Türen o-
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der Fenstern, und sie gaben sich Mühe, so wenig wie möglich von der stinkenden Luft einzuatmen. »Ich glaube, von allen Bewohnern dieser trostlosen Stadt beneide ich Niun als einzigen«, sagte Rackhir. »Ich bemitleide ihn«, meinte Elric. »Warum?« »Mir ist der Gedanke gekommen, daß er, wenn er alles vergessen hat, vielleicht auch nicht mehr weiß, daß er Ameeron verlassen darf.« Rackhir lachte und schlug dem Albino auf den schwarzgepanzerten Rücken. »Du bist mir ein miesepetriger Genosse, Freund Elric. Sind alle deine Gedanken so hoffnungslos?« »Sie tendieren in diese Richtung, fürchte ich«, sagte Elric mit dem Hauch eines Lächelns.
3 DER TUNNEL UNTER DEM SUMPF Und weiter ging ihre Reise durch die düsterbedrückende Welt, bis sie schließlich den Sumpf
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erreichten. Der Sumpf war schwarz. Da und dort war er mit dorniger schwarzer Vegetation bewachsen. Es war kalt und feucht; grauer Nebel wogte dicht über dem Boden, und zuweilen huschten niedrige Schatten durch den Dunst. Aus dem Nebel ragte ein solides schwarzes Objekt hervor, bei dem es sich nur um das von Niun beschriebene Denkmal handeln konnte. »Das Denkmal«, sagte Rackhir, blieb stehen und stützte sich auf seinen Bogen. »Es steht ein gutes Stück im Sumpf, und ein Weg dorthin ist nicht zu sehen. Ein Problem, meinst du nicht auch, Genosse Elric?« Elric watete vorsichtig an den Rand des Sumpfes. Er spürte, wie der kalte Schlick an seinen Füßen zerrte. Nicht ohne Mühe wich er zurück. »Es muß einen Weg geben«, sagte Rackhir und betastete seine Nase. »Wie würde sonst dein Cousin hinüberkommen?« Elric blickte den Roten Bogenschützen über die
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Schulter an und zuckte die Achseln. »Wer weiß? Vielleicht reist er mit Zaubergefährten, die mit Sümpfen keine Schwierigkeiten haben.« Plötzlich merkte Elric, daß er sich auf das feuchte Gestein hatte sinken lassen. Der Salzgestank des Sumpfes schien eine Sekunde lang zuviel für ihn gewesen zu sein. Er fühlte sich schwach. Die Drogen, die er unmittelbar vor Durchschreiten des Schattentors eingenommen hatte, ließen allmählich in ihrer Wirkung nach. Rackhir näherte sich dem Albino und setzte ein spöttisch-mitfühlendes Lächeln auf. »Nun, Sir Zauberer, kannst du nicht ein ähnliches Hilfsmittel herbeirufen?« Elric schüttelte den Kopf. »Mein Wissen über die
Anrufung
kleiner
Dämonen
ist
sehr
be-
schränkt. Yyrkoon kennt alle seine Zauberbücher, seine Lieblingszaubereien, seine Einführungen in die Dämonenwelten. Kriegerpriester aus Phum, wir müssen einen Pfad von ganz normaler Beschaffenheit finden, wenn wir das Denkmal da drüben
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erreichen wollen.« Der Kriegerpriester aus Phum zog ein rotes Taschentuch aus der Tunika und schnaubte sich ausgiebig die Nase. Als er fertig war, senkte er die Hand, half Elric hoch und begann am Rand des Sumpfes entlangzugehen, wobei er das schwarze Denkmal nicht aus den Augen ließ. Es dauerte einige Zeit, bis sie doch einen Weg fanden, keinen natürlichen Pfad, sondern eine Platte aus schwarzem Marmor, die sich in die Schwärze des Sumpfes erstreckte, glitschig und feucht und beileibe kein sicherer Untergrund. »Ich möchte beinahe annehmen, daß dieser Weg falsch ist – ein Weg, der uns in den Tod lokken soll«, sagte Rackhir unschlüssig, während er und Elric die lange Platte betrachteten. »Aber was haben wir noch zu verlieren?« »Komm«, sagte Elric, stellte einen Fuß auf den Stein und begann vorsichtig darauf entlangzugehen. In der Hand hielt er eine Art Fackel, ein Bündel knisternder Schilfstengel, die ein unange-
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nehm fahles gelbes Licht und erhebliche Mengen eines grünlichen Rauches verströmten – aber es war besser als gar nichts. Rackhir folgte ihm, doch ehe er einen Schritt machte, tastete er mit seinem ungespannten Bogen vor. Dabei pfiff er leise eine komplizierte Melodie. Ein Angehöriger seiner Rasse hätte sie erkannt als Lied des Sohnes des Helden der Hohen Hölle, der im Begriff ist, sein Leben zu opfern – eine bekannte Melodie in Phum, vor allem in der Kaste der Kriegerpriester. Elric empfand das Lied als Ärgernis und Ablenkung, sagte aber nichts; er konzentrierte sich voll darauf, auf der glatten Fläche des Marmorsteins nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Dennoch schien die Platte nun leicht zu schwanken, als schwämme sie nur auf der Sumpfoberfläche. Sie hatten etwa die Hälfte des Weges zum Denkmal zurückgelegt, das sich nun deutlich abzeichnete: ein großer Adler mit ausgebreiteten Flügeln, Schnabel und Krallen drohend zum An-
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griff
ausgestreckt.
Ein
Adler
aus
demselben
schwarzen Marmor wie die Platte, auf der sie in Balance zu bleiben versuchten. Elric fühlte sich an ein Grabmal erinnert. War hier ein urzeitlicher Held begraben? Oder war das Mal für die Schwarzen Schwerter errichtet worden – sollte es sie einschließen, damit sie nie in die Welt der Menschen zurückkehren und Menschenseelen stehlen konnten? Der Stein begann stärker zu schwanken. Elric versuchte sich in der Senkrechten zu halten, taumelte aber zuerst auf einem, dann auf dem anderen Fuß, und die Fackel zuckte wild hin und her. Beide Füße glitten unter ihm fort, er flog in hohem Bogen in den Sumpf und war sofort bis zu den Knien unter Wasser. Er begann zu sinken. Irgendwie gelang es ihm, die Fackel festzuhalten, in deren Licht er den rotgekleideten Bogenschützen erkennen konnte, der sich angestrengt vorbeugte. »Elric?«
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»Hier, Rackhir.« »Du sinkst ein?« »Der Sumpf scheint entschlossen zu sein, mich zu verschlucken, aye.« »Kannst du dich flach hinlegen?« »Ich kann mich nach vorn beugen, aber meine Beine sitzen fest.« Elric versuchte sich in dem Schlick zu bewegen, der ihn bedrängte. Plötzlich huschte etwas vor seinem Gesicht vorbei und stieß dabei eine Art leises Keckem aus. Mit großer Mühe bezwang Elric die Angst, die in ihm aufstieg. »Ich glaube, du mußt mich verloren geben, Freund Rackhir.« »Was? Soll ich die Chance verlieren, aus dieser Welt fortzukommen? Du mußt mich für selbstloser halten, als ich bin, Genosse Elric. Hier…« Vorsichtig ging Rackhir auf dem Stein in die Knie und streckte einen Arm in Elrics Richtung. Beide Männer waren mit klebrigem Schleim bedeckt; beide zitterten vor Kälte. Rackhir streckte sich immer mehr, und Elric beugte sich, so weit es ging, und
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versuchte die Hand zu erreichen, aber es klappte nicht. Und mit jeder Sekunde wurde er tiefer in die stinkende Jauche des Sumpfes gezogen. Im nächsten Augenblick hob Rackhir den Bogen und streckte ihn aus. »Halt dich am Holz fest, Elric. Geht das?« Elric beugte sich vor und streckte jeden Knochen und Muskel seines Körpers – und konnte den Bogen knapp erreichen. »Jetzt muß ich… ah!« Rackhir hatte an dem Bogen gezogen und festgestellt, daß seine Füße abzugleiten begannen und der Marmor heftig schwankte. Er ließ einen Arm nach hinten schnellen, um sich am gegenüberliegenden Rand der Marmorplatte festzuhalten, während die andere Hand den Bogen nicht losließ. »Beeil dich, Elric! Beeil dich!« Mühsam begann sich Elric aus dem Sumpf zu ziehen. Der Marmorstein schaukelte noch immer wie ein Schiff im Sturm, und Rackhir war beinahe so bleich wie Elric, während er sich verzweifelt
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bemühte, den Bogen festzuhalten und gleichzeitig am Stein Halt zu finden. Schließlich erreichte der völlig durchnäßte und schlammbedeckte Elric den Stein und kroch hinauf; die Fackel knisterte noch in seiner Hand, als er sich niederlegte und schweratmend keuchte, keuchte, keuchte. Rackhir war ebenfalls außer Atem, doch er lachte. »Was für einen Fisch ich da gefangen habe!« sagte er. »Den größten überhaupt, das möchte ich wetten!« »Ich bin dir dankbar, Rackhir, Roter Bogenschütze, ich bin dir dankbar, Kriegerpriester aus Phum. Ich schulde dir mein Leben«, sagte Elric nach einiger Zeit. »Und ich schwöre dir eins – ob ich nun mit meinem Plan Erfolg habe oder nicht, ich werde mich mit allen Kräften bemühen, dich durch das Schattentor in die Welt zurückzuholen, aus der wir beide kommen.« Rackhir sagte leise: »Du bist ein Mann, Elric aus Melniboné. Deshalb habe ich dich gerettet. Welche Welt man auch immer nimmt – es gibt
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nur wenige Männer.« Er zuckte die Achseln und grinste. »Und jetzt möchte ich vorschlagen, daß wir uns auf Knien weiterbewegen. Das mag zwar etwas würdelos aussehen, ist aber sicherer. Außerdem brauchen wir nicht mehr weit zu kriechen.« Elric stimmte ihm zu. Es verging nur kurze Zeit in jener zeitlosen Dunkelheit, da hatten sie eine kleine moosbewachsene Insel erreicht, auf der sich das Adlerdenkmal erhob, riesig und schwer in die seltsame Düsternis emporragend, bei der es sich entweder um den Himmel oder die Decke der Höhle handelte. Und am Fuße des Sockels erblickten sie eine niedrige Öffnung. Der Eingang war offen. »Eine Falle?« fragte Rackhir. »Oder glaubt Yyrkoon, wir wären in Ameeron umgekommen?« fragte Elric und befreite sich von dem feuchten Dreck, so gut es ging. Er seufzte. »Treten wir ein und bringen wir es hinter uns.« Und sie stiegen hinab. Sie befanden sich in ei-
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nem kleinen Raum. Elric bewegte das schwache Licht der Fackel im Kreis und erblickte eine zweite Tür. Der Raum war ansonsten völlig kahl – die Wände bestanden aus dem schon bekannten schwach
schimmernden
schwarzen
Marmor.
Schweigen herrschte im Raum. Keiner der beiden Männer sagte etwas. Sie gingen ohne zu zögern auf die nächste Tür zu, fanden dort Stufen und nahmen die Treppe in Angriff, die sich in absolute Dunkelheit hinabwand. Lange Zeit stiegen sie hinab, noch immer schweigend, bis sie schließlich das Ende erreichten und den Eingang zu einem schmalen Tunnel vor sich sahen, der unregelmäßig gehauen war und eher wie ein natürlicher Durchgang aussah als
wie
von
intelligenten
Wesen
geschaffen.
Feuchtigkeit tropfte von der Tunneldecke, mit der Regelmäßigkeit von Herzschlägen, sie schien ein tieferes Geräusch nachzuempfinden, das von weit her erklang, von einem Punkt tief im eigentlichen Tunnel.
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Elric hörte, wie Rackhir sich räusperte. »Dies ist zweifellos ein Tunnel«, sagte der Rote Bogenschütze, »und er führt einwandfrei unter den Sumpf.« Elric spürte, daß Rackhir den Tunnel ebenso ungern betrat wie er. Er hielt die knisternde Fackel in die Höhe, lauschte den Tropfen nach, die auf den Tunnelboden fielen, und versuchte jenes andere Geräusch zu ergründen, das schwach aus der Tiefe herauftönte. Dann gab er sich einen Ruck und lief beinahe in den Gang, in den Ohren ein plötzliches Dröhnen, das in seinem Kopf entstand oder weiter vorn im Tunnel. Er hörte Rackhirs Schritte hinter sich. Er zog sein Schwert, das Schwert des toten Helden Aubec, und hörte, wie das Zischen seines Atems von den Tunnelwänden zurückgeworfen wurde, in dem nun alle möglichen Geräusche zum Leben erwacht waren. Elric zitterte, blieb aber nicht stehen. Es war warm im Tunnel. Der Boden unter sei-
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nen Füßen fühlte sich schwammig weich an, der salzige Geruch hielt an. Und jetzt sah er, daß die Tunnelwände glatter wurden, daß sie in schnellen, rhythmischen Bewegungen zu erschaudern schienen. Er hörte Rackhir hinter sich japsen, als der Bogenschütze ebenfalls merkte, in was für einem Tunnel sie sich befanden. »Wie Fleisch«, murmelte der Kriegerpriester aus Phum.« Elrich konnte sich nicht zu einer Antwort überwinden. Er mußte sich mit voller Kraft darauf konzentrieren, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Entsetzen drohte ihn zu verzehren. Sein ganzer Körper zitterte. Er schwitzte, und die Beine drohten unter ihm einzuknicken. Seine Hände waren so schlaff, daß er das Schwert nur mit äußerster Anstrengung zu halten vermochte. Vage Gespinste rührten sich in seiner Erinnerung, etwas, mit dem sich sein Gehirn nicht beschäftigen wollte. War er schon einmal hier gewesen? Das Zittern nahm zu. Ihm drehte sich der Magen um. Trotzdem stolper-
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te er weiter, die Fackel vor sich haltend. Das leise, gleichmäßige Dröhnen wurde lauter, und er sah vor sich das Ende des Tunnels und darin eine kleine und beinahe kreisförmige Öffnung. Schwankend blieb er stehen. »Der Tunnel ist zu Ende«, flüsterte Rackhir. »Wir kommen nicht durch.« Die kleine Öffnung pulsierte in schnellem Rhythmus. »Die Pulsierende Höhle«, flüsterte Elric. »Die sollten wir am Ende des Tunnels unter dem Sumpf finden. Das muß der Eingang sein, Rackhir.« »Er ist für einen Menschen zu klein, Elric«, sagte Rackhir. »Nein…« Elric ging zögernd weiter, bis er dicht vor der Öffnung stand. Er steckte das Schwert in die Scheide zurück. Er reichte Rackhir die Fackel und hatte sich, ehe der Kriegerpriester aus Phum ihn zurückhalten konnte, mit dem Kopf voran durch die Öffnung gehechtet, sein Körper glitt hindurch
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– und die Wände der Öffnung machten Platz und schlossen sich wieder hinter ihm, Rackhir auf der anderen Seite zurücklassend. Langsam stand Elric auf. Hier strömten die Wände ein schwaches rosarotes Licht aus, und vor ihm war ein anderer Eingang zu sehen, etwas größer als das Loch, durch das er sich eben gequetscht hatte. Die Luft war warm und schwer, roch salzig. Das Atmen fiel schwer. Der Kopf begann ihm zu dröhnen, sein Körper schmerzte, und er konnte keinen klaren Gedanken oder Entschluß fassen, außer seinen Körper zu zwingen, weiterzugehen. Auf zitternden Beinen hastete er zum nächsten Eingang, während das mächtige gedämpfte Pulsieren ihm immer lauter in den Ohren dröhnte. »Elric!« Rackhir stand hinter ihm, bleich und schweißüberströmt. Er hatte die Fackel fortgeworfen und war Elric durch die Öffnung gefolgt. Elric fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und versuchte zu
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sprechen. Rackhir kam näher. Elric sagte mit schwerer Zunge: »Rackhir! Du dürftest nicht hier sein.« »Ich habe gesagt, daß ich dir helfen würde.« »Aye, aber…« »Dann helfe ich dir auch.« Elric fehlte die Kraft zu weiterem Widerspruch; er nickte nur, drückte mit den Händen die weichen Wände der zweiten Öffnung zur Seite und sah, daß sie in eine Höhle führte, deren Wände in gleichmäßigem Puls schlag erbebten. Und in der Mitte der Höhle hingen ohne jede Stütze zwei Schwerter.
Zwei
identische
Schwerter,
riesig,
kunstvoll gefertigt, schwarz. Und unter den Schwertern, einen siegesgewissen und gierigen Ausdruck auf dem Gesicht, stand Prinz Yyrkoon aus Melniboné, die Hände danach ausstreckend, die Lippen bewegend, ohne daß Worte zu hören waren. Elric war seinerseits nur in der Lage, ein einziges Wort zu sprechen, als er durch die Öffnung stieg und den bebenden
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Boden der Höhle erreichte. »Nein«, sagte er. Yyrkoon hörte das Wort und fuhr herum. Entsetzen malte sich auf seinem Gesicht. Er verzog angewidert den Mund, als er Elric erblickte, dann äußerte auch er ein einziges Wort, das zugleich ein Wutschrei war. »Nein!« Mit großer Anstrengung zog Elric Aubecs Klinge aus der Scheide. Die Waffe aber kam ihm viel zu schwer vor, er konnte sie nicht heben, sie zerrte an seiner Hand, bis die Spitze auf dem Boden ruhte, der Arm schlaff und unnütz an seiner Seite hängend. In tiefen Zügen atmete Elric die schwere Luft ein. Die Umgebung verschwamm vor seinen Augen. Yyrkoon war zu einem Schatten geworden. Die beiden Schwarzen Schwerter, die reglos und kühl in der Mitte der kreisförmigen Höhle standen, zeichneten sich als einzige Umrisse deutlich ab. Elric spürte, daß Rackhir hinter ihm die Höhle betrat und sich neben ihn stellte.
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»Yyrkoon«, sagte Elric endlich. »Die beiden Schwerter gehören mir.« Yyrkoon lächelte und griff nach den Klingen. Ein seltsames Stöhnen schien von ihnen auszugehen. Eine dünne schwarze Strahlung schien sie einzuhüllen. Elric sah die in die Klingen geschlagenen Runen und hatte Angst. Rackhir legte einen Pfeil auf. Er zog die Sehne bis an die Schulter zurück und zielte auf Prinz Yyrkoon. »Wenn er sterben muß, Elric, sag es mir.« »Töte ihn«, sagte Elric. Rackhir ließ die Sehne los. Aber der Pfeil bewegte sich nur langsam durch die Luft und blieb schließlich auf halbem Wege zwischen dem Bogenschützen und seinem vorgesehenen Opfer in der Luft hängen. Yyrkoon drehte sich um. Ein gespenstisches Grinsen stand auf seinem Gesicht. »Sterbliche Waffen sind hier nutzlos«, sagte er. Elric sagte zu Rackhir: »Das dürfte richtig sein. Dein Leben ist in Gefahr, Rackhir. Geh jetzt…«
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Rackhir warf ihm einen verwirrten Blick zu. »Nein, ich muß bleiben und dir helfen…« Elric schüttelte den Kopf. »Du kannst mir nicht helfen; wenn du bleibst, stirbst du… Geh!« Widerstrebend hakte der Rote Bogenschütze seine Bogensehne aus, warf einen mißtrauischen Blick auf die beiden Schwerter, zwängte sich durch den engen Eingang und war verschwunden. »Und jetzt, Yyrkoon«, sagte Elric und ließ Aubecs Schwert zu Boden fallen. »Jetzt müssen wir das regeln, du und ich.«
4 ZWEI SCHWARZE SCHWERTER Im nächsten Augenblick hatten die Runenklingen Sturmbringer und Trauerklinge die Ruhestätte verlassen, die sie so lange eingenommen hatten. Sturmbringer schmiegte sich in Elrics rechte Hand. Trauerklinge lag in Prinz Yyrkoons rechter Hand.
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Die beiden Männer standen an entgegengesetzten Enden der Pulsierenden Höhle und sahen zuerst den anderen, dann die Schwerter an, die sie in den Händen hielten. Die Waffen gaben einen singenden Ton von sich. Ihre Stimmen ertönten nur schwach, waren aber deutlich zu hören. Elric hob mühelos die riesige Klinge, drehte sie hierhin und dorthin und bewunderte ihre fremdartige Schönheit. »Sturmbringer«, sagte er. Und er empfand Angst. Urplötzlich war ihm, als wäre er eben neu geboren worden, als wäre dieses Runenschwert mit ihm auf die Welt gekommen. Es war, als wären sie nie getrennt gewesen. » Sturmbringer.« Und das Schwert stöhnte auf und schmiegte sich noch mehr in seine Hand. »Sturmbringer!« brüllte Elric, stürzte sich auf seinen Cousin. Und er hatte Angst – große Angst. Diese
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Angst schenkte ihm eine Art wildes Entzücken – ein dämonisches Bedürfnis zu kämpfen und seinen Cousin zu töten, die Klinge tief in Yyrkoons Herz zu stoßen. Sich zu rächen. Blut zu vergießen. Eine Seele in die Hölle zu schicken. Und jetzt war Prinz Yyrkoons Schrei über dem Vibrieren der Schwertstimmen zu hören, über dem Dröhnen des Pulses der Höhle. »Trauerklinge!« Und Trauerklinge zuckte empor, um Sturmbringers Hieb zu begegnen, um den Vorstoß zu bremsen und gegen Elric vorzugehen, der zur Seite taumelte und Sturmbringer herum- und hinabzog, in einem seitlichen Streich, der Yyrkoon und Trauerklinge eine Sekunde lang zurückdrängte. Aber Sturmbringers nächster Hieb traf erneut auf Widerstand. Und so auch der nächste Angriff. Und der nächste. Wenn schon die Kämpfer gleichstark waren, so auf jeden Fall auch die Klingen, die einen eigenen Willen zu haben schienen, obwohl sie den Kommandos ih-
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rer Besitzer durchaus gehorchten. Und das Klirren von Stahl auf Stahl wurde zu einem wilden metallischen Gesang der Schwerter. Ein Jubellied, als freuten sie sich darüber, endlich wieder kämpfen zu können, auch wenn sie gegeneinander stritten. Bis auf einen gelegentlichen kurzen Blick auf das dunkle, verzerrte Gesicht nahm Elric seinen Cousin Prinz Yyrkoon kaum wahr. Seine Aufmerksamkeit galt allein den beiden Schwarzen Schwertern, denn es wollte ihm scheinen, als trügen die Schwerter hier einen Kampf aus, bei dem es um das Leben eines der Kämpfer ging (vielleicht auch um das Leben beider, sagte sich Elric), und als wäre die Rivalität zwischen Elric und Yyrkoon nichts im Vergleich zu der brüderlichen Rivalität zwischen den Schwertern, die offenbar freudig die Gelegenheit nutzten, sich nach Jahrtausenden im Streit zu üben. Diese Beobachtung, während des Kampfes angestellt – eines Kampfes, bei dem er nicht nur um
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sein Leben, sondern auch um seine Seele kämpfte –, gab Elric Anlaß, seinen Haß gegen Yyrkoon zu überdenken. Töten wollte er Yyrkoon, doch nicht im Einfluß einer anderen Macht. Nicht zum Vergnügen dieser unheimlichen Schwerter. Die Spitze von Trauerklinge zuckte auf seine Augen zu, und Sturrnbringer fuhr hoch, um den Angriff von neuem abzulenken. Elric kämpfte nicht mehr gegen seinen Cousin. Er bekämpfte den Willen der beiden Schwarzen Schwerter. Sturrnbringer zielte auf Yyrkoons vorübergehend ungedeckte Kehle. Elric klammerte sich am Schwert fest, zerrte es zurück und bewahrte seinen Cousin auf diese Weise vor dem sicheren Tode. Sturrnbringer winselte geradezu störrisch wie ein Hund, den man daran gehindert hat, einen Eindringling anzufallen. Und mit zusammengebissenen Zähnen sagte Elric: »Ich bin nicht deine Marionette, Runenklin-
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ge! Wenn wir schon zusammengehören sollen, dann auf vernünftiger Basis!« Das Schwert schien zu zögern, schien in seiner Wachsamkeit nachzulassen, und Elric hatte große Mühe, den wirbelnden Angriff Trauerklinges abzuwehren, die ihrerseits den Vorteil zu wittern schien. Elric spürte, wie neue Energie in seinen rechten Arm und seinen Körper strömte. Das war eine der Eigenschaften des Schwertes. Mit dieser Waffe in der Hand brauchte er keine Drogen, würde er nie wieder Schwäche verspüren. Im Kampfe würde er triumphieren. In Friedenszeiten konnte er voller Stolz herrschen. Reisen konnte er allein und ohne Furcht. Es war, als erinnere ihn das Schwert an alle diese Dinge, noch während es Trauerklinges Angriff erwiderte. Und was forderte das Schwert als Gegenleistung? Elric wußte die Antwort. Das Schwert gab sie ihm ohne Worte. Sturmbringer mußte kämpfen, denn das war der Grund für seine Existenz. Sturmbringer mußte töten, denn das war der Quell
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seiner Energie – die Seelen von Menschen, Dämonen und sogar Göttern. Und Elric zögerte, obgleich sein Cousin in diesem Augenblick einen heiseren Schrei ausstieß und einen Angriff vortrug. Trauerklinge prallte von seinem Helm ab, warf ihn zurück und schleuderte ihn zu Boden. Er sah, daß Yyrkoon sein wimmerndes Schwarzes Schwert mit beiden Händen packte, um Elric die Runenklinge in den Leib zu rennen. Und Elric wußte, daß er alles tun würde, um diesem Schicksal zu entgehen – daß seine Klinge in Trauerklinge aufgesogen und seine Kraft Prinz Yyrkoons Kräfte mehren würde. Er rollte mit schneller Bewegung zur Seite, stemmte sich auf ein Knie hoch, drehte sich und hob Sturmbringer, wobei die geschützte Hand an der Klinge und die ungeschützte am Griff lag, um den mächtigen Hieb abzublocken, den Prinz Yyrkoon niedersausen ließ. Die beiden Schwarzen Schwerter kreischten wie im Schmerz, und sie erschauderten und ver-
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strömten schwarze Strahlung wie Blut aus tausend Pfeilwunden. Noch auf den Knien wurde Elric von dieser Strahlung fortgedrängt, keuchend und seufzend und in die Runde blickend, um Yyrkoon wiederzufinden, der seinen Blicken entschwunden war. Und Elric erkannte, daß Sturmbringer ihm wieder etwas mitteilte. Wenn Elric nicht an Trauerklinge sterben wollte, mußte er den Handel akzeptieren, den das Schwarze Schwert ihm bot. »Er darf nicht sterben!« sagte Elric. »Ich töte ihn nicht zu deinem Vergnügen!« Und durch die schwarze Strahlung lief Yyrkoon, fauchend und knurrend, und ließ das Runenschwert kreisen. Wieder machte sich Sturmbringer eine Dekkungslücke zunutze, und wieder zerrte Elric die Klinge zurück, so daß Yyrkoon nur gestreift wurde. Sturmbringer wand sich in Elrics Händen. Elric sagte: »Du sollst nicht mein Gebieter
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sein!« Und Sturmbringer schien ihn zu verstehen und beruhigte sich, als wäre es versöhnt. Und Elric lachte in der Annahme, daß er das Runenschwert nun beherrschte und daß die Klinge in Zukunft seinen Befehlen gehorchen würde. »Wir werden Yyrkoon entwaffnen«, sagte Elric. »Wir töten ihn nicht.« Elric richtete sich auf. Sturmbringer bewegte sich mit der Geschwindigkeit eines dünnen Rapiers. Er fintete, parierte, stach zu. Yyrkoon, der triumphierend gegrinst hatte, stieß eine Verwünschung aus und taumelte zurück, das Grinsen verschwand aus seinem Gesicht. Sturmbringer setzte sich nun für Elric ein. Es vollführte die Bewegungen, die Elric vorschrieb. Yyrkoon und Trauerklinge schienen von dieser Wende überrascht zu sein. Trauerklinge rief, als wäre sie verblüfft über das Verhalten des Bruders. Elric hieb nach Yyrkoons Schwertarm und traf Tuch und Fleisch und Sehne und Knochen. Blut
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wallte empor, benetzte Yyrkoons Arm und tropfte auf den Schwertgriff. Das Blut war glitschig. Es schwächte Yyrkoons Griff um sein Runenschwert. Er nahm die Waffe in beide Hände, vermochte sie aber nicht mehr richtig zu halten. Elric nahm Sturmbringer ebenfalls in beide Hände. Eine überirdische Kraft durchströmte ihn. Mit einem mächtigen Hieb ließ er Sturmbringer gegen Trauerklinge prallen, unmittelbar unter dem Griff der Waffe. Das Runenschwert wurde Yyrkoon aus der Hand gewirbelt und flog quer durch die Pulsierende Höhle. Elric
lächelte.
Er
hatte
den
Willen
seines
Schwerts überwunden und dazu das Bruderschwert besiegt. Trauerklinge prallte gegen die Wand der Pulsierenden Höhle und verharrte dort einen Augenblick lang. Dann schien das besiegte Runenschwert ein Winseln auszustoßen. Ein schriller Laut füllte die Pulsierende Höhle. Schwärze überflutete das un-
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heimliche rosa Licht und löschte es aus. Als das Licht zurückkehrte, erblickte Elric eine Schwertscheide zu seinen Füßen. Die Scheide war schwarz und von derselben fremdartigen Machart wie die Schwerter. Elrics Blick fiel auf Yyrkoon. Der Prinz kniete auf dem Boden und hatte zu schluchzen begonnen, sein Blick zuckte auf der Suche nach Trauerklinge in der Pulsierenden Höhle herum und fiel schließlich voller Angst auf Elric, als wisse er, daß er sterben mußte. »Trauerklinge?« fragte Yyrkoon hoffnungslos. Ihm war klar, daß er jetzt sterben würde. Trauerklinge war aus der Pulsierenden Höhle verschwunden. »Dein Schwert ist fort«, sagte Elric leise. Yyrkoon wimmerte und versuchte zum Höhleneingang zu kriechen. Aber der Eingang war auf die Größe einer kleinen Münze geschrumpft. Yyrkoon begann zu weinen. Sturmbringer zitterte, als dürste es ihn nach Yyrkoons Seele. Elric blieb stehen.
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Yyrkoon begann überstürzt zu sprechen. »Töte mich nicht, Elric – nicht mit der Runenklinge! Ich tue alles, was du verlangst! Ich sterbe auf jede andere Weise, aber nicht dadurch.« Elric sagte: »Cousin, wir sind die Opfer einer Verschwörung – eines von Göttern, Dämonen und beseelten Schwertern inszenierten Spiels. Sie wollen einen von uns tot sehen. Ich nehme an, daß sie deinen Tod mehr wünschen als den meinen. Und das ist der Grund, warum ich dich hier nicht töten werde.« Er nahm die Scheide vom Boden auf.
Er
stieß
Sturmbringer
hinein,
und
das
Schwert war sofort ruhig. Elric knöpfte die alte Scheide los und sah sich nach Aubecs Klinge um, die aber ebenfalls verschwunden war. Er ließ die alte Scheide fallen und hakte sich die neue an den Gürtel. Er legte die linke Hand auf Sturmbringers Knauf und blickte nicht ohne Mitgefühl auf das Geschöpf hinab, das sein Cousin war. »Du bist ein Wurm, Yyrkoon. Aber ist das deine Schuld?«
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Yyrkoon blickte ihn verwirrt an. »Ich frage mich eins – wenn alle deine Wünsche in Erfüllung gingen, würdest du dann aufhören, ein Wurm zu sein, Cousin?« Yyrkoon nahm eine kniende Stellung ein. Hoffnung regte sich in seinen Augen. Elric lächelte und tat einen tiefen Atemzug. »Wir werden sehen«, sagte er. »Du mußt mir jetzt versichern, daß du Cymoril aus ihrem Zauberschlaf erweckst.« »Du hast mich erniedrigt, Elric«, sagte Yyrkoon mit leiser, winselnder Stimme. »Ich wecke sie. Oder würde es tun, wenn…« »Kannst du deinen Zauber nicht einfach aufheben?« »Wir kommen aus der Pulsierenden Höhle nicht mehr heraus. Wir haben den Zeitpunkt verpaßt…« »Was soll das heißen?« »Ich hatte nicht angenommen, daß du mir folgen würdest. Und dann glaubte ich dich mühelos
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besiegen zu können. Und jetzt ist es zu spät. Der Eingang läßt sich nur kurze Zeit offenhalten. Jeder, der die Pulsierende Höhle betreten möchte, kann hinein, aber nicht wieder hinaus, nachdem die Wirkung des Zaubers erloschen ist. Ich habe viel dafür geben müssen, diesen Zauber in Erfahrung zu bringen.« »Du hast für alles zuviel gegeben«, stellte Elric fest. Er ging zum Eingang und blickte hindurch. Auf der anderen Seite wartete Rackhir und zeigte ein besorgtes Gesicht. Elric sagte: »Kriegerpriester aus Phum, es sieht so aus, als wären mein Cousin und ich hier drinnen gefangen. Der Ausgang öffnet sich uns nicht mehr.« Elric drückte gegen das feuchte, warme Material der Wände. Es bewegte sich kaum. »Wie es aussieht, kannst du zu uns kommen oder durch den Tunnel ins Freie zurückkehren. Wenn du aber zu uns stößt, teilst du unser Schicksal.« »Wenn ich zurückkehre, erwartet mich auch kein großartiges Schicksal«, sagte Rackhir. »Wel-
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che Chancen siehst du?« »Eine einzige – ich kann meinen Paten rufen.« »Einen Lord des Chaos?« Rackhir verzog ungläubig das Gesicht. »Richtig«, sagte Elric. »Ich spreche von Arioch.« »Arioch, soso? Nun, der hat mit Abtrünnigen aus Phum nicht viel im Sinn.« »Wie lautet deine Entscheidung?« Rackhir trat vor. Elric machte ihm Platz. In der Öffnung erschien Rackhirs Kopf, gefolgt von seinen Schultern, gefolgt vom Rest seines Körpers. Hinter ihm schloß sich der Eingang sofort wieder. Rackhir stand auf und entwirrte und glättete die Sehne seines Bogens. »Ich war damit einverstanden, dein Schicksal zu teilen – alles darauf zu setzen, daß wir aus dieser Ebene fortkommen«, sagte der Rote Bogenschütze. Er zog ein überraschtes Gesicht, als er Yyrkoon erblickte. »Dein Feind lebt noch?« »Ja.«
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»Du bist wahrhaft gnädig.« »Mag sein. Oder störrisch. Ich wollte ihn nicht umbringen, nur weil irgendeine übernatürliche Macht ihn als Spielfigur verwendete, die getötet werden mußte, wenn ich gewann. Die Lords der Höheren Welten beherrschen mich noch nicht absolut – und dazu soll es auch nicht kommen, solange ich noch Widerstandskräfte in mir habe.« Rackhir grinste. »Dieser Meinung bin ich auch – obwohl ich nicht gerade optimistisch bin, daß sie sich durchsetzen läßt. Ich sehe, daß du nun eines
der
Schwarzen
Schwerter
am
Gürtel
trägst. Kann uns das nicht einen Weg freihakken?« »Nein«, sagte Yyrkoon, der ein Stück entfernt an der Wand lehnte. »Nichts kann der Materie der Pulsierenden Höhle etwas anhaben.« »Ich glaube dir«, sagte Elric, »denn ich gedenke mein neues Schwert nicht oft zu ziehen. Ich muß zunächst lernen, es zu beherrschen.« »Also mußt du Arioch rufen.« Rackhir seufzte.
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»Wenn das möglich ist«, sagte Elric. »Er wird mich zweifellos vernichten«, stellte Rackhir fest und blickte Elric an, offensichtlich in der Hoffnung, daß der Albino dieser Äußerung widersprechen würde. Elric setzte ein ernstes Gesicht auf. »Vielleicht kann ich einen Handel mit ihm schließen. Das wäre dann zugleich ein Test.« Elric wandte Rackhir und Yyrkoon den Rücken. Er konzentrierte seine Gedanken und schickte sie durch ungeheure leere Räume und komplizierte Labyrinthe. Und er rief: »Arioch! Arioch! Hilf mir, Arioch!« Er hatte das Empfinden, daß etwas ihm zuhörte. »Arioch!« Etwas bewegte sich an den Orten, die sein Geist aufsuchte. »Arioch…« Und Arioch hörte ihn. Elric wußte, daß es sich um Arioch handelte.
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Rackhir stieß einen Entsetzensschrei aus. Yyrkoon schrie ebenfalls auf. Elric drehte sich um und sah, daß vor der gegenüberliegenden Mauer etwas
Scheußliches
erschienen
war.
Es
war
schwarz und übelriechend und sonderte Schleim ab, und seine Gestalt war unerträglich fremdartig. War dies Arioch? Wie das? Arioch war doch schön. Aber vielleicht ist dies Ariochs wahre Gestalt, sagte sich Elric. Auf dieser Ebene, in dieser seltsamen Höhle konnte Arioch niemanden täuschen, der ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand. Aber dann war die scheußliche Gestalt verschwunden, und ein schöner Jüngling mit uralten Augen stand vor den drei Sterblichen und betrachtete sie. »Du hast das Schwert errungen, Elric«, sagte Arioch, die anderen ignorierend. »Meinen Glückwunsch. Und du hast deinen Cousin verschont. Warum?« »Aus mehr als einem Grund«, antwortete Elric. »Aber sagen wir, daß er am Leben bleiben muß,
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damit er Cymoril wecken kann.« Einen Augenblick lang zeichnete sich auf Ariochs Gesicht ein winziges verstohlenes Lächeln ab, und Elric erkannte, daß er einer Falle ausgewichen war. Hätte er Yyrkoon getötet, wäre Cymoril nie wieder erwacht. »Und was tut dieser kleine Verräter bei dir?« Arioch warf einen eiskalten Blick auf Rackhir, der sich größte Mühe gab, den Chaos-Lord seinerseits zu fixieren. »Er ist mein Freund«, sagte Elric. »Ich habe mit ihm ein Arrangement getroffen. Wenn er mir half, das Schwarze Schwert zu finden, würde ich ihn mit auf unsere Ebene zurücknehmen.« »Unmöglich! Rackhir ist hierher verbannt worden. Das ist seine Strafe.« »Er begleitet mich zurück«, sagte Elric. Gleichzeitig löste er die Scheide mit Sturmbringer vom Gürtel und hielt das Schwert vor sich hin. »Sonst nehme ich das Schwert nicht mit. Und wenn das nicht
geht,
bleiben
wir
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drei
bis
in
alle
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Ewigkeit hier.« »Das wäre unvernünftig gehandelt, Elric. Denk an deine Verantwortung.« »Die habe ich bedacht. So sieht meine Entscheidung aus.« Auf Ariochs glattem Gesicht zeigte sich ein Anflug von Ärger. »Du mußt das Schwert mitnehmen. Das ist dein Geschick.« »Sagst du. Aber ich weiß jetzt, daß das Schwert nur von mir getragen werden kann. Du kannst es nicht führen, Arioch, sonst würdest du es tun. Nur ich – oder ein anderer Sterblicher wie ich – kann es aus der Pulsierenden Höhle entführen. Oder trifft das nicht zu?« »Du bist schlau, Elric von Melniboné.« In Ariochs Stimme lag sarkastische Bewunderung. »Du bist ein passender Diener des Chaos. Nun denn – der Verräter darf dich begleiten. Aber er möge sich in acht nehmen. Es soll Fälle gegeben haben, da sich die Lords des Chaos der Boshaftigkeit hingaben.«
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Rackhir sagte heiser: »Das weiß ich, mein Lord Arioch.« Arioch ignorierte den Bogenschützen. »In letzter Konsequenz ist der Mann aus Phum ohne Bedeutung. Und wenn du deinen Cousin verschonen möchtest, so soll es denn ebenfalls sein. Das alles ist im Grunde unwichtig. Das Schicksal kann einige zusätzliche Lebensfäden verkraften und das ursprüngliche Ziel dennoch erreichen.« »Nun«, sagte Elric, »dann entführe uns von diesem Ort.« »Wohin?« »Natürlich nach Melnibone, wenn es dir recht ist.« Mit einem Lächeln, das beinahe zärtlich wirkte, blickte Arioch auf Elric hinab, und eine seidenweiche Hand fuhr Elric über die Wange. Arioch war auf das Doppelte seiner ursprünglichen Größe angewachsen. »Ach, du bist wahrhaft der süßeste aller meiner Sklaven«, sagte der Lord des Chaos.
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Dann setzte ein Wirbeln ein. Es rauschte wie von einer tosenden Brandung. Schreckliche Übelkeit überkam sie. Und drei erschöpfte Männer standen auf dem Boden des riesigen Thronsaals von Imrryr. Der Thronsaal war leer, nur in einer Ecke wand sich einen Augenblick lang eine schwarze Gestalt wie Rauch und war auch schon verschwunden. Rackhir durchquerte den Saal und setzte sich langsam auf die unterste Stufe des Rubinthrons. Yyrkoon und Elric blieben stehen und sahen sich in die Augen. Dann lachte Elric und tätschelte sein Schwert. »Jetzt mußt du deine Versprechungen einlösen, Cousin. Dann habe ich einen Vorschlag für dich.« »Wie auf dem Markt«, sagte Rackhir, der sich auf einen Ellbogen gestützt hatte und die Feder an seinem roten Hut betrachtete. »Ein Geschäft nach dem anderen!«
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5 DIE GÜTE DES BLEICHEN KÖNIGS Yyrkoon trat vom Lager seiner Schwester zurück. Er wirkte erschöpft, sein Gesicht war angespannt, und es war kein Leben in ihm, als er sagte: »Es ist geschehen.« Er wandte sich ab und blickte durch das Fenster auf die Türme Imrryrs, auf den Hafen, in dem die zurückgekehrten goldenen Kampfschiffe vor Anker lagen, zusammen mit dem Schiff, das König Straashas Gabe an Elric war. »Gleich erwacht sie«, fügte Yyrkoon geistesabwesend hinzu. Dyvim Tvar und Rackhir der Rote Bogenschütze blickten Elric fragend an, der am Bett kniete und Cymorils Antlitz anstarrte. Dieses Gesicht nahm einen friedlichen Ausdruck an, und einen schrecklichen Augenblick lang dachte Elric, Prinz Yyrkoon hätte ihn hereingelegt und Cymoril getötet. Aber dann bewegten sich die Lider, und sie schlug die Augen auf, und sie erblickte ihn und lächelte. »Elric? Die Träume… Du bist in Sicherheit?«
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»Ja, Cymoril. Und du ebenfalls.« »Yyrkoon…?« »Er hat dich geweckt.« »Aber du hattest geschworen, ihn zu töten…« »Er war genau wie du in der Gewalt von Zauberkräften. Meine Gedanken waren ganz verwirrt – und das gilt in mancher Beziehung noch immer. Yyrkoon aber hat sich verändert. Ich habe ihn besiegt. Er stellt meine Macht nicht mehr in Frage. Ihn verlangt nicht mehr danach, mich zu verstoßen.« »Du bist zu gütig, Elric.« Sie strich sich das schwarze Haar aus dem Gesicht. Elric wechselte einen Blick mit Rackhir. »Vielleicht bestimmt nicht gerade Güte mein Tun«, sagte Elric nachdenklich. »Vielleicht eher ein Gefühl der Kameradschaft mit Yyrkoon.« »Kameradschaft? Du empfindest doch nicht etwa…« »Wir sind beide sterblich. Beide waren wir Opfer eines Spiels, das zwischen den Lords der Hö-
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heren Welten stattfand. In letzter Konsequenz muß meine Treue dem Artgenossen gelten – und das ist der Grund, warum ich aufhöre, Yyrkoon zu hassen.« »Und das ist Güte«, sagte Cymoril. Yyrkoon ging zur Tür. »Darf ich gehen, mein Lord Herrscher?« Elric glaubte in den Augen seines geschlagenen Cousins ein seltsames Licht leuchten zu sehen. Aber vielleicht war das nur Ergebenheit und Verzweiflung. Er nickte. Yyrkoon verließ das Zimmer und schloß leise die Tür. Dyvim Tvar sagte: »Du darfst Yyrkoon auf keinen Fall trauen, Elric. Er wird dich wieder verraten.« Der Lord der Drachenhöhlen war sichtlich beunruhigt. »Nein«, antwortete Elric. »Ich bin Herr des Schwertes.« Dyvim Tvar setzte erneut zum Sprechen an, dann schüttelte er beinahe bedauernd den Kopf, verbeugte sich und verließ mit Rackhir dem Ro-
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ten Bogenschützen den Raum. Elric und Cymoril waren allein. Cymoril nahm Elric in die Arme. Sie küßten sich. Sie weinten. Eine Woche lang wurde in Melniboné gefeiert. In der Zwischenzeit waren fast alle Schiffe, Männer und Drachen nach Hause zurückgekehrt. Und Elric war wieder zu Hause; er hatte sein Recht auf den Thron so durchschlagend bewiesen, daß nun all seine absonderlichen Charakterzüge – von denen jene >Güte< vielleicht die seltsamste war – von der Bevölkerung hingenommen wurden. Im Thronsaal fand ein Ball statt, der prunkvollste, den die Höflinge je erlebt hatten. Elric tanzte mit Cymoril und nahm auf diese Weise ganz am Geschehen teil. Nur Yyrkoon tanzte nicht; er zog es vor, in einer stillen Ecke unter der Galerie der Musiksklaven zu verweilen, von den Gästen ignoriert. Rackhir der Rote Bogenschütze tanzte mit etlichen melnibonéischen Damen und traf Verabredungen mit allen, denn er galt in Melniboné als
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Held. Dyvim Tvar tanzte ebenfalls, obgleich sich jedesmal, wenn er Prinz Yyrkoon gewahrte, seine Stirn umwölkte. Als dann gegessen wurde, saßen Elric und Cymoril nebeneinander auf dem Podest des Rubinthrons und sprachen miteinander. »Möchtest du Herrscherin sein, Cymoril?« »Du weißt, daß ich dich heiraten möchte. Das wissen wir beide doch schon seit vielen Jahren, nicht wahr?« »Du möchtest meine Frau sein?« »Ja.« Sie lachte, denn sie glaubte an einen Scherz. »Und nicht Herrscherin? Für mindestens ein Jahr?« »Was meinst du damit, mein Lord?« »Ich muß Melniboné verlassen, Cymoril, auf ein Jahr. Was ich in den letzten Monaten erlebt habe, hat in mir den Wunsch geweckt, die Jungen Königreiche zu bereisen – zu sehen, wie andere Nationen ihre Angelegenheiten regeln. Denn ich bin
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überzeugt, daß Melniboné sich verändern muß, wenn es überleben will. Es könnte wieder ein großer Einfluß für das Gute auf der Welt werden, denn es verfügt noch immer über große Macht.« »Für das Gute?« Cymoril war überrascht, und in ihrer
Stimme
schwang
ein
wenig
Besorgnis.
»Melniboné ist nie für das Gute oder Böse eingetreten – sondern immer nur für sich selbst und die Erfüllung seiner Wünsche.« »Das möchte ich gern ändern.« »Du willst alles ändern?« »Ich gedenke durch die Welt zu reisen und mir dann zu überlegen, ob eine solche Entscheidung Sinn hätte. Die Lords der Höheren Welten haben mit unserer Welt bestimmte Absichten. Obwohl sie mir in letzter Zeit geholfen haben, fürchte ich sie. Ich möchte gern feststellen, ob es dem Menschen möglich ist, sein Leben allein und von sich aus zu gestalten.« »Und dazu willst du fortziehen?« In ihren Augen erschienen Tränen. »Wann?«
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»Morgen – wenn Rackhir abreist. Wir nehmen König Straashas Schiff und fahren zur Insel der Purpurnen
Städte,
wo
Rackhir
Freunde
hat.
Kommst du mit?« »Ich kann es mir nicht vorstellen – nein, es geht nicht! Ach, Elric, warum willst du das Glück dieses Augenblicks zerstören?« »Weil ich spüre, daß dieses Glück nicht andauern kann, solange wir nicht genau wissen, was wir sind.« Sie runzelte die Stirn. »Dann mußt du das herausfinden, wenn es dein Wunsch ist«, sagte sie langsam. »Aber du mußt diese Feststellung allein treffen, Elric, denn ich verspüre keinen solchen Wunsch. Du mußt die Barbarenländer allein bereisen.« »Du willst mich nicht begleiten?« »Es
geht
nicht.
Ich
–
ich
bin
eine
Melnibonéerin…« Sie seufzte. »Ich liebe dich, Elric.« »Und ich dich, Cymoril.«
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»Dann wollen wir heiraten, wenn du zurückkehrst. In einem Jahr.« Elric verspürte Bedauern, doch er wußte, daß seine Entscheidung richtig war. Wenn er nicht abreiste, würde er bald unruhig werden, und wenn er unruhig wurde, mochte er Cymoril über kurz oder lang als Feindin ansehen, als jemanden, der ihn gefangenhielt. »Dann mußt du hier als Herrscherin walten, bis ich zurückkehre«, sagte er. »Nein. Elric, die Verantwortung kann ich nicht übernehmen.« »Aber wer…? Dyvim Tvar…?« »Ich kenne Dyvim Tvar. Er wird solche Macht nicht haben wollen. Vielleicht Magum Colim…?« »Nein.« »Dann mußt du bleiben, Elric.« Doch Elrics Blick war über die Menge im Thronsaal gewandert und blieb nun an einer einsam sitzenden Gestalt unter der Galerie der Musiksklaven hängen. Und Elric lächelte und sagte:
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»Dann fällt meine Wahl auf Yyrkoon.« Cymoril war entsetzt. »Nein, Elric! Er wird diese Macht mißbrauchen…« »Nicht mehr. Es wäre auch nur gerecht. Er ist der einzige, der Herrscher werden wollte. Jetzt kann er ein Jahr lang für mich Herrscher sein. Wenn er gut regiert, überlege ich mir vielleicht, ob ich nicht zu seinen Gunsten abdanken soll. Wenn nicht, ist damit ein für allemal bewiesen, daß all seine Bemühungen fehl am Platze waren.« »Elric«, sagte Cymoril. »Ich liebe dich. Aber du wärst ein Dummkopf – ein Verbrecher –, wenn du Yyrkoon noch einmal trautest.« »Nein«, sagte er ruhig. »Ich bin kein Dummkopf. Ich bin nur Elric. Daran kann ich nichts ändern, Cymoril.« »Und Elric liebe ich!« rief sie. »Aber Melniboné ist zum Untergang verurteilt. Wir alle sind zum Untergang verurteilt, wenn du nicht hierbleibst.« »Das kann ich nicht. Weil ich dich liebe, Cymoril, kann ich es nicht.«
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Sie stand auf. Sie weinte. Sie war verloren. »Und ich bin Cymoril«, sagte sie. »Du wirst uns beide vernichten.« Ihre Stimme verlor den scharfen Klang, und sie fuhr ihm über das Haar. »Du wirst uns vernichten, Elric.« »Nein«, sagte er. »Ich werde etwas Besseres schaffen. Ich werde viele Dinge entdecken. Wenn ich zurückkehre, werden wir heiraten und lange leben und glücklich sein, Cymoril.« Und damit hatte Elric dreimal gelogen. Die erste Lüge betraf seinen Cousin Yyrkoon. Die zweite das Schwarze Schwert. Die dritte betraf Cymoril. Und auf diesen drei Lügen sollte sich Elrics weiteres Schicksal aufbauen, denn nur in Dingen, die uns zutiefst berühren, lügen wir klar und mit absoluter Überzeugung.
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Epilog Der Hafen Menii war einer der bescheidensten und freundlichsten der Purpurnen Städte. Wie bei den meisten anderen Siedlungen auf der Insel waren die Häuser im wesentlichen aus den purpurnen Steinen errichtet, die den Städten ihren Namen gaben. Und auf den Häusern schimmerten rote Dächer, und im Hafen lagen Boote aller Arten mit bunten Segeln, als Elric und Rackhir der Rote Bogenschütze an Land gingen. Es war früher Morgen, und erst wenige Seeleute machten sich auf den Weg zu ihren Booten. König Straashas prachtvolles Schiff lag ein Stück außerhalb der Hafenmole. Die beiden Männer waren mit einem Beiboot zur Stadt gefahren. Jetzt wandten sie sich um und blickten zum Schiff zurück. Sie waren allein darauf gefahren, ohne Mannschaft, und das Schiff hatte sich gut gehalten. »So, jetzt muß ich meinen Frieden suchen und das mythische Tanelorn«, sagte Rackhir mit einer
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gewissen Selbstironie. Er reckte sich und gähnte, und Bogen und Köcher tanzten auf seinem Rükken. Elric trug ein schlichtes Gewand, wie es zu jedem Glücksritter der Jungen Königreiche gepaßt hätte. Er wirkte ausgeruht. Lächelnd blickte er zur Sonne empor. Das einzige Bemerkenswerte an seiner Erscheinung war das große schwarze Runenschwert
an
seiner
Hüfte.
Seit
er
das
Schwert trug, hatte er keine stärkenden Drogen mehr einnehmen müssen. »Und ich muß Erkenntnisse suchen in den Ländern, die auf meiner Karte eingezeichnet sind«, sagte Elric. »Ich muß lernen und das Gelernte nach einem Jahr nach Melniboné bringen. Ich wünschte, Cymoril hätte mich begleitet, verstehe ihr Widerstreben aber durchaus.« »Du kehrst zurück?« fragte Rackhir. »Wenn ein Jahr um ist?« »Sie wird mich zurücklocken!« sagte Elric lachend. »Ich fürchte nur, daß ich schwach werde und um-
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kehre, ehe getan ist, was ich mir vorgenommen habe.« »Ich würde dich gern begleiten«, sagte Rackhir, »denn ich habe die meisten Länder bereist und wäre dir ein so guter Führer wie in der Unterwelt. Aber ich habe mir geschworen, Tanelorn zu finden, obwohl ich nicht einmal sicher bin, ob es überhaupt existiert.« »Ich hoffe, daß du es findest, Kriegerpriester aus Phum«, sagte Elric. »Das werde ich nie wieder sein«, sagte Rackhir. Plötzlich weiteten sich seine Augen. »Da, schau nur – dein Schiff!« Elric drehte sich um und erblickte das Schiff, das einmal das Schiff-das-Über-Land-und-MeerFährt geheißen hatte, und sah, daß es langsam sank. König Straasha nahm es wieder an sich. »Wenigstens sind die Elementargeister meine Freunde«, sagte er. »Aber ich fürchte, ihre Macht läßt in demselben Maße nach wie die Macht Melnibonés. Die Menschen der Jungen Königrei-
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che halten uns zwar für böse, aber wir haben tatsächlich viel gemein mit den Geistern von Luft, Erde, Feuer und Wasser.« Als die Masten des Schiffes in den Wellen versanken, sagte Rackhir: »Ich beneide dich um diese Freunde, Elric. Du kannst ihnen vertrauen.« »Ja.« Rackhir blickte auf das Runenschwert an Elrics Hüfte. »Aber du wärst gut beraten, nichts und niemandem sonst zu trauen«, fügte er hinzu. Elric lachte. »Mach dir um mich keine Sorgen, Rackhir, ich bin mein eigener Herr – wenigstens ein Jahr lang. Und ich bin nun auch Herr über dieses Schwert!« Das Schwert schien sich an seiner Flanke zu rühren, und Elrics Hand umschloß den Griff. Er gab Rackhir einen Klaps auf den Rücken, und er lachte und ließ das weiße Haar durch die Luft wirbeln, hob die seltsamen roten Augen zum Himmel und sagte: »Wenn ich nach Melniboné zurückkehre, bin
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ich ein völlig neuer Mensch!«
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