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Ideologie, Kultur, Medi n, N ue echte, Rassismus
Argume t
Stuart Hall
Ausgewählte Schriften
Stuart Hall
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hrift
Ideologie, Kultur, Medi n, N ue echte, Rassismus
Argume t
Stuart Hall
Ausgewählte Schriften
Stuart Hall
Ausgewählte Schriften Herausgegeben
von
Nora Räthzel
Mit einem Vorwort von H. Gustav Klaus ,
Argument
Aus dem Englischen übertragen von Wieland Elffcrding, Birgit ErmHch, Gabriela Mischkowski, Gottfried Polage. Nora Räthzel und Thomas Weber
CIP-Titeillurnahme der Deuls.>Moment� selbst determin ie rend , spielt seine notwen di ge , nicht-r,eduzierbare RaUe im Prozeß der Selbstverwertung des Kap itals und gehorcht seinen eigenen Existenz
be di ng unge n . Auch und vor allem das Verh ältni s d es
Öko nomische n
zum Pol i ti sche n mu ß beg riffli ch gefaßt werden als das Verhältni s zwei
er Momente, die durch ihre notwendigen Unterschiede und- Verschie bungen in eine Einh ei t eingeg l i edert sind . Von daher gibt es
keine not
wendige, unmittelbare Ents p rech ung zwischen der »ökonomischen« u nd de r
»
polit isch en « Kon s titu i erung der Klassen . Die Beg ri ffe , in
denen m a n d i ese
»
kom plexe Einheit« denken konnte, waren frei l i c h
noch zu entwicke1 n . Zweife ll os führte dies dazu , daß das Terrain de r weiteren Arbeit von Marx sich radikal von dem im
Man ifest unter
s c hied .
So wichtig es ist, die Grenze .zu markieren, d i e d i ejenige Phase de s
Marxschen Denkens, die i hren definitiven Ausdruck im Manifest fin
det, von seiner späteren En twickl u ng trennt, so wichtig i st es auch , un s an das zu erinnern , wa s w i r n icht preisg eben dürfen . Es wird erkenn bar, wenn wir das Manifest ein wen i g aus seiner unmittelbaren Umge bung herauslösen und seine »Fortschritte« im , wie ich es auszudrucken
versucht habe, »Licht des Kapitals« n eu bedenken . Nehmen wir er�
stens die Er kl äru n g , daß »die Geschichte aller bi sh erigen Gesellschaf
ten ( . . . ) die Ges chic hte von Klas senkämpfen (ist) « ; sie ist heute ein ebenso selbstverständl icher Bestand teil des Marxismus wie sie d a
mals, als sie zum ersten M a l vorgebrach t wurde, eine »aufsehenerre
gende These« war. Ohne sie ist der Marxi sm u s undenkbar. Die Beto
nung liegt h ie r fas t genauso stark auf >.>Klassen« wie auf »Kämpfe«. Die unmitte1 bar da rau ffolgende , knappe Entwicklung dieser These Freier und Sklave , Feudalherr und Le i beigener, Bourgeois und Prole
tarier - i st ein abso1ut n otwe nd iger Au s gangspu nkt , wenn au ch keine adäquate D arstellu ng der kom pl exen Klassenstrukturen der Produk
tionswei sen ' auf die sie sich j ewei ls beziehen . Die Vo rstellun g, daß »
d i e Menschen« zuerst biologische In d ividue n oder »nackte Indivi
duen« d er Ma r ktges el l s ch aft sind und s i ch erst da nn zu Klassen zusam
mens ch ließ en - Klasse als eine sozus agen sekundäre Form at i on
_ . ,
läßt sic h durch diesen Text oder durch irge nde inen späteren Text von
Marx nicht stützen . Dies deutet deshalb berei ts auf di e vielen späteren Passagen hin, in denen Marx den scheinbar natürHchen und sel bstve r
ständlichen Rekurs auf die »Individuen« als Basis ei n er Klas s en theor i e
en tthro nte .
Vom Standpu nk t des Marxismus si nd die Menschen stets durch das antagonistische Klassenverhältnis, i n da s sie h i neingeworfen werde n ,
Das ».politische« und das
»Ökonomische«
21
prä konstituiert. Historisch gesehen sind sie nie in ihrer unergründli chen und ei nzigartige n Individualität, sondern stets durch das »En semble der gesellschaftlichen Verhältnisse« artikuliert - das heißt als Träger des Klass enverhältnisses. Diese vorangegangene Konstituie
rung bringt unter spezifi schen Bedingungen al s Resultat ei n en spezifi schen Typ von In dividu alität h e rvor : das nach Besitz strebende Indivi
duum der bürgerlich en p o lit is chen Theorie, das' bedürftige Individu um der Marktgesell schaft, das Verträge schließende Individuum der Gesellsch aft der »freien Arbeit«. Außerhalb dieser Verhältnisse kann �s Individuum (dieser »Robinson Crusoe« der klassi schen poli tischen Okonomie, der selbstg enügsam in seiner Wel t l ebt, die nur vom Stand punkt »sein er« Bedürfn isse und Wünsche betrachtet wird), das der na türliche , enthistori sierte Ursprungsort der bürgerl ichen Gesellschaft und Theorie bild ete, in kei ner Weise einen theoretischen Ausgangs punkt bilden . Es ist nichts als die Zu samm n fa ssung vieler Bestim e mu ngen« . Die Geschichte seiner Produktion i st , wie Marx bemerkte, »in die An nalen der Menschheit eingesch ri eben mit Zügen von Blut . und Feuer« (M EW 23� 743) . Und weiter : »
l>�ie
Ges ellschaft besteht nicht aus Individuen, sondern drückt die Summe der Be· z�ehungen, Ver hä ltn is se aus, wo rin diese Individuen zueinander stehen. Als ob �I ner sagen wollte: Vom S tandpunkt der Gesell schaft aus existieren Sklaven und ci tIzens nicht: sind heide Menschen . Vielmehr s i nd sie das außer Gesellschaft . Skla ve s e i n un d citizen sein, sind geseIJschaftIiche Bestimmungen , Beziehungen der Men Schen A und B. Der Mensch A st als solcher nicht Sklave. Sklave ist er in der und durch die Gesell c s haft. « (Grundrisse, 176)
i
�
)J ie aUe seine Vorgänger, geht der kapitalistische Produktionsprozeß unter be sti m m ten mat eriell en Bedingu ngen vor sich,. die aber zugleich Träger bestimmter geseHschaftJ icher Verhältnisse sind, welche die Individuen im Prozeß ihrer Le· be,n sprodu ktion e inge h en . Jene Bedingungen , wie diese Verhältnis se, sind ejner� Voraussetzungen , andererseits Resultat und Schöpfu ngen des kapitalistischen Produktionspr ozesses ; sie werden von ihm produziert und reproduziert. « (MEW
se1ts
25,
827)
Diese Formul ieru ngen widersprechen allem, was sich als sozio l og i sch er »gesunder Menschenverstand« ü ber GesellschaftskIassen äu
ße rt - und ih re Ke rnau ssag- e i st impli z it bereits im Manifest vorhan d en . Wichtig ist zwei ten s die Prämisse, die Marx selbst als spri ngenden Punkt seines eigenen Beitrages sah (Man an Weydemeyer, 5.3.1852, Marx/EngeIs 1972) und die Marx und Engels in ih rem gemeinsamen Vo rwort zur deu ts chen Ausgabe des Manifestes von 1872 erneut be
kräftig ten :
»(. . . ), daß die Existenz der Klassen bloß 8.n bestimmte historische Entwicklungs phasen der Produktion gebunden ist« (ebd . , 59).
L
_I
Ausgewählte Schr.iften
22
Die Produktio nsbedingungen und -verhältnisse sowie ihre Spezifik in
verschiedenen Phasen der widersp rüchlich en Kap ital entw i cklu ng bil
den den gru ndlegenden und zentralen Rahmen der marxistischen Klas sentheo rie. D i e se Prämisse unterscheidet d en Marxismus als »wissen
schaftl iche« Theorie von aUen vorangegangen en und folgenden For
men des u top i schen Sozialismus. Von nun an war der K1assenkampf
nicht mehr l ä nge r eine moral ische Aussage ü ber die Unmenschlichkeit
des kapitalisti schen Systems, und die Zerstörung des Kap itali smus
wurde n i cht mehr J änger als bloßes Wü ns c h e n und Hoffen von au ß en
auf das System proj iziert.
So verstanden produzi ert und reproduziert sich der Kapitalismus
selbst
als eine antagonistische Struktur von Klassenverhältnissen ; er
spaltet die »Bevölkerung « unerbittlich wieder und w i eder in antagoni
stische Klassen . Man beachte aber gleichzeitig, daß es die Entwick lu ngsp h a sen in der Produktionsweise sind , die für eine m arx i s ti s che
Klassentheorie die notwendigen , wenn auch n icht hinreichenden Be
d i ng ungen bilden - es ist nicht » das Ökonomische« i m handgrei fl i
chen Sinne, das hier »determiniert«. Hier ist d i e Marxsche Th eor ie ab
solut ko ns istent : von den ersten Fo rmuli e rungen
über
die Deutsche
Ideologie bis zu m Schluß. Da ab er die Herrschaft des ges u nden , bür
gerlichen Alltagsbewußtseins derart mächtig ist und derart h artn äcki g
immer wieder aufs neue bis ins Herz der marxistischen Theorie selbst
vord ring t , soHten wir diesen Punkt nochmals klarstellen : Es s ind die ma ter i e l l e n u nd sozial en VerhäJtnisse, in denen die Menschen i h re ma
teriel len Existenzbedingungen p rodu z ieren und rep roduzi eren , die » determinierend« sind - wie, das b leib t zu kl ä ren . Die un g lei ch e Ver
teilung von ökonomischem Reichtum , Gütern und Macht , die d ie G ru nd lage für eine »sozio-ökonomische« Auffa s s u ng der »Gesell
schaftsklassen« bildet, ist für Marx n i cht die Basis, sondern das
tat
Resul
der vorausgegangenen Einteilung der Träger der kapitalistischen
Produktion in Klassen und ihre Einordnung in Klassenverhältnisse
sowie d ie vorangegangene Verteilung der P rod u kti on smi tte 1 zwischen »Eigentümern« und » En tei gneten« .
Auch die Vereinfachung der K1assen , eine Gru ndthese des
stes,
Manife
ist nicht ganz so s i mp el ,. wie sie aussieht . Das Arg u me nt , im Ka
pitalismus sei der Kampf Bourgeoisie versus Proletariat die grundle gende Fo rm des Klassenkampfes, bed eutet nicht - wie manchmal ge sagt w ird -, daß im
Manifest d i e Existenz
anderer Klassen und Klas
senfraktionen vernachlässigt wird . Tatsächlich findet sich ein summa
risches Urteil über das revol utionäre Potential , zu dem unter anderem
I
Das » Politische« und das »Ökonomische «
23
»die Mittelstände, der kleine Industrielle, der kleine Kaufmann , der der Bauer« ebenso wie »das Lumpenproletariat« geh ö ren , von dem Marx niemals abweichen soUte. Was er sagt, ist, daß »VOn allen Klassen, welche heutzutage der Bourgeoisie gegenüberste hen , ( . . . ) nur das Proletariat eine wirklich revolutionäre Klasse (ist)« (MEW 4, 472 ). Eine problematische Aussage, die weiterer Analyse
Handwerker,
bedarf.
. Marx gründet seine Aussage auf der objektiven Stellung des Proleta
nats i nnerhalb einer Produktionsweise, die auf der Enteignung der
P�oduktionSmitte] und der Ausbeutung seiner Arbeitskraft beruht. In diesem S inne hat der Satz seine Gültigkeit: die revolutionäre Stellung es Proletariats ist durcp seine Verortung in e.iner bestimmten Produk t�onsweise »ge geben« (spezifiziert). Damit aber läßt sich das Proleta l at te ndenziell als ein homogenes und undifferenziertes »Klassensub � Jekt« auffasse n ein Subjekt, das eine Rolle in der Geschichte spielt, a er selbst keine eigene, innere, widersprüchliche Geschichte hat, zu nundest nicht in der kapitalistischen Epoche. Diese Prämisse, die von Marx später m odifIZiert wurde, muß von uns zurückgewiesen werden. n a n kan diese Passage freilich auch noch anders lesen, so, als be M haupte sie, daß, w eil das Proletariat in der ökonomisc hen Struktur der pitalistischen Produktion eine objektiv revolutionäre Stellung ein nUllm t , es deshalb auch u nd immer empirisch ein revolutionäres politi sches Bew ußtsei n und eine revolutionäre Form politischer Organisa
�
-
�
�
tion aufweis·en muß.
Diesen weiteren »Schritt« machte Lukacs in Ge Schich te und K lassenbewußtsein; und wo er anerkennen muß, daß die ses Proletariat sich »empirisch« nicht immer zu der ihm zugewiesenen emporschwingt , behandelt er sie »abstrakt«, als sei SIe ein ihm zuges chriebenes Schicksal - sein »poteßtielles BewuBt sei n« -, angesichts dessen die tatsächlichen, konkret historischen Di r v� genzen bloße zeitweilige Irrtümer sind. Von dieser Position au�.Iäßt 81Ch das für den Marxismus gewaltige historische Problem des »Oko
�ewußtseinsform
n o i smus«, des trade-unionistischen Bewußtseins und des Eingebun rn densein s der e s teu ropäi schen Arbeiterbewegungen in die Schranken des Sozialdemokratischen Reformismus nicht systematisch erklären. Damit kehren wir zu einer der entscheidendsten Schwächen des Mani
w
festes zurü ck, die in der einen oder anderen Fonn immer wieder im Text auftaUCht, eine Schwäche, die man jetzt zu sammenfa ssend kenn zeichnen kann ;
Das Manifest hat recht mit seiner (offenkundig und notwendig sche
matischen) Behandlung der ökonomischen Konstitution der Klassen im Rahmen der Entwicklungsphasen der Produktionsweise. . Aber es
L
Ausgewählte Schriften
24
hat fatale Mängel, wo die Beziehungen zwischen dem Ökonomischen und dem Politischen systemati sch behandelt werden . Hier erhält man
entweder nur unbefri edigen de Antworten (z .B. , Politik und Ökonomie seien mehr oder weniger richtungsgleich, würden sich mehr oder we
niger »entsprechen«) , oder es bleibt eine Lücke stehen, die dann später immer wieder mit der fehlerhaften Abstraktion eines Lukacsschen Hi
storizismus gefüllt werden kann . Kurz, all das, was notwendig ist, um
die Spezifik des politischen Klassenkampfes und seine Beziehung zur
ökonomischen Sphäre zu denken - wovon unsere Fähigkeit, »das En
semble « als ein Ganzes zu erklären, ab hängt -, ist zu diesem Zeit
punkt im Mar xschen Denken als verwendbares begriffliches Instru
mentarium noch nicht vorhanden. Die »Entdeckung« dieser Begriffe
wurde geradezu erzwungen du rch die hi stori sche u n d pol iti sche Kon stellatio n , zu deren Erklärung sie benötigt wurde
-
den Zusammen
bruch der 1848er Revol u tion . Ihre klarste und gehaltvol1 ste Formulie
rung findet sich denn auch in den Schriften über Frankreich , eher flüchtig (und weniger befriedigend) in den Randbemerkungen zu Eng
land - Texte, die, ausgelöst durch die Niederlage der Revolution, i n einem Augenblick der theoretischen Reflexion und Klärung geschrie ben wurden. Hier befinden wir uns auf dem Boden wirkl icher Ent deckungen und eines revolutionären theoreti schen Durchbruchs. Di e ser Durchbruch findet zwar
»im
D enken« statt, läßt sich aber wohl
kaum angemessen als »epistemologisch« bezeichnen . Wir sind jedoch dem
Manifest, diesem Text
mit seiner blendenden
Oberfläche, noch nicht auf den Grund gegangen . Warum und wie habe n Marx und Engels sich diese »KJassenvereinfachung« als implizi ten Bestandteil der
sich entfalten den kapitalistischen Entw ickJung vor
gestell t (mit den entsprechend folgenschweren Konsequenzen ftir di e Entzifferung der Bewegungen des Klassenkampfes)?
II
Diese »Vereinfachung«
wird
durch den wach sen d en Umfang und die
steigende Stufenleiter der kapital istis chen Produktion hervo rgerufen .
Es ist n ütz li ch , die Umstände, die das Proletariat zunächst hervorbrin
gen , dann entfalten und s ch1 ießl ich alle Mittelschichten in seine wach
sen den Reihen treiben , kurz aufzulisten (vgL MEW 4 , 468f.) : a) di e
Formierung einer Klasse ohne Eigentum an den Produktionsmittei n t
die nur ihre Arbeitskraft zu verkaufen hat , den »Wechselfällen der Konkurrenz und allen Schwankungen des Marktes« ausgesetzt; b) die Arbeitsteil u ng als Folge der exten siv,en Anwendung von Ma schi nerie ,
die den Arbeiler »dequalifiziert« , ihn zum bloßen Zubehör der
Das »Politische« und das »Ökonomische«
25
Ma s chine degradiert; c) d ie wachsende Ausbeutung der Arbeitskraft, )}.S l. es du rch Ver mehrung der in einer gege bne n Zeit geforderten Ar belt, beschleunigten Lauf der Maschine usw. « ; d) die Zus.ame m nfas s ung der Arb eiterschaft »industrielle Annee« in der Fabrik unter d m Kommando von » Unteroffiz ieren und OffIZieren des Kapitals«; e) dIe En twe rtung der Arbeit durch die Senkung des Wertes der Arbeits kraft die Einstellung von Frauen und Kindern zu niedrigeren Löh nen ; f) die Ausli eferung der Klasse zur Ausbeutung auf dem Subsj
�
-
als
�
-
st�nzmittelmarkt durch den Hausbesitzer, den Krämer, den Pfand leI�er. In dies em Kontext steht g) die These, daß die untere Schicht des -
MIttel s tande s
schrittweise »ins Proletariat hinabfaIlt« - teilweise ve rlo re ne � Kampf gegen h) das konzentrierte Großkapital . DIe Mi ttelschic hten sind das, was Gramsci die »subalternen« Fraktio n en der M i tte lkla ssen nennen würde. Sie sind ihrem Wesen nach .kon� servati v und reaktionär, es sind diejenigen, die »suchen das Rad der Gesch ichte zurück zudrehen«. »Revolutionär« sind oder werden sie nur »im Hinbli ck auf den ihnen bevorstehenden Übergang ins Proletariat« . CMEW 4, 472) im Hinblick auf ihre »Proletarisierung« .
d�rch ihren
-
Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, daß aUe diese rasch skiz ziert en Gedanken im 13. Kapite des ersten Bandes des Kapi tal , dem Kapi tel über »Maschinerie und große Industrie«, wieder auf . tau chen und dort ausführlich entwickelt werden. Die historische Bil d ung einer Klasse » ier Lohnarbeiter«, die nichts zu verkaufen hat als h re Arbeitskr aft und aus dem Geflecht der feudaIe.n Beziehungen hervorgega ngen ist, ist im Kapital beständiger Bezugspunkt als die »hi tor ische Basis« des Kapitals. Die zunehmende Reduktion des Arbei ters auf e in »Zube hör der Maschine« steht im Mittelpunkt der Marx s ehen Be schr eibu ng des Arbeitsprozesses und seiner qualitativen Un te rsch eid u ngen zwischen der Ph as e der »Maschinerie« und der der »großen Industrie« . D ie Beschreibung der wachsenden Ausbeutung der Arbei tskra ft deutet auf die wichtige Unterscheidung im Kapital ZWischen absol u tem (Verlängerung des Arbeitstages) und relativem Mehrwert (Zunahme der »toten« im Verhältnis zur »lebendigen« Ar
l
i
fre
s
beit) h in . Die DarsteUung der zunehmenden Hierarchisierung und des wach senden » Despoti smus( des Kapitals führt dann weiter zur Unter� sc he idu ng zwischen »formeUer« und »reeller« Subsumtion d er Arbeit.
Die » Entwertung« der qualifIZierten Arbei tskraft und d ie Bildung einer
»Reservearmee« sind zwei entscheidende, dem »tendenziellen Fan der Profitrate« »entgegenwirkende Ursachen« , die beide im ersten Band
d e s Kapital (z . B. in Kapitel 24) diskutiert werden und dann wieder im dritten B and, in dem die wachsenden Konzentrations- und Zentralii
L
Au sgewählte Schriften
26
sationsprozesse des Kapitals ausführlicher dargestellt sind. In diesem Kontext wird auch die Entstehung des »Gesamtarbeiters« beschrieben u nd zum ersten Mal auf die Ausbreitung der neuen Zwischenschichten
als Folge der sich entwickelnden Arbeitsteilung verwi esen , da das alte
Kleinbürgertum und seine materiel1e Basis in »Klein«- und Handelska
pital zerfalle n . Im Rahmen dieser ausführlichen theoretischen Darstel
lung wird die Skizze im Manifest, die kaum mehr als einen Hinweis
darauf enthält, wie die kapitalistische Produktion die Grundlage für diese Bildung und Neugruppierung der Klassen bildet,
erweitert und
transformiert . Wir müssen also wiederum die für die Entwicklung
einer Theorie der Klassen not wendi ge n Kontinuitäten und Brüche be achten .
Die von Marx im Kapital verwan dten Formulierungen , dort, wo er die allge meine Tendenz der g .anzen Entwicklung - in konzentrierter Form - darstellen wi1 1 , sin d denen , die er im Manifest anwendet, a uf
fallend ähnlich . Man braucht sich nur dem zusammenfassenden Über
blick in dem kurzen Abschnitt über die »Geschichtliche Tendenz der kapitalistischen Akkumulation« im 24 . Kapitel des ersten B and es zu zuwenden , um die vertrauten Sätze erneut zu h ören :
»Auf einem gewi ssen Höhegrad b ring t sie d ie materiellen Mittel ihrer eignen Ver
nichtung zur Welt. Von diesem Augenblick regen sich Kräfte und Leidenschaften im GeseHschaftsschoße, welche sich von ihr gefesselt fühlen .
C . . ) Sobald dieser
Umwandl ung sprozeß nach Tiefe und Umfang die alte Gesel l schaft h inreichend rer setzt hat, sobald die Arbeiter in Proletarier, ihre Arbeitsbedingungen in Kapital
verwandelt sind , sobald die kapitalistische Produktionsweise auf eignen Füßen steht, gewinnt die weitere Vergesellschaftung der Arbeit ( . . . ) eine neue Fonn. ( . . . )
Diese E xpropri atio n vollzieht sich durch das Spiel der immanenten Gesetze der ka pitalis t i schen Produktion selbst, d urch die Zentralisation der Kapitale. ( . . . ) Hand
in Hand mit dieser Zentralisation oder Expropriation vieler Kapitalisten durch we nige entwickelt sich die kooperative Form des Arbeitsprozesses auf stets W'd.chsen der Stufenleiter, die bewußte tech n ische Anwendung der Wissenschaft, die plan mäßige Ausbeutung der Erde, die Verwandlung der Arbeitsmittel in nur gemein sam verwendbare Arbeitsm ittel , die Ökonomisierung aller Produktionsmi ttel
durch ih ren Gebrauch als Produktionsmittel kombinierter, gesellschaftlicher Ar beit, die Verschlingung aller Völker in das Netz des Weltmarkts
( . . . )« Damit zu
gl e ich aber »wächst ( . . . ) auch d ie Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschu lten,
ve rei nten und organ i s ierten Arbeiterklasse.« (MEW 23. 789ff. )
Das ist das Echo, die »Stimme« de s Manifestes im
Kapital. Aber neben
dieses Resümee müssen wir die Einzelheiten setzen; mehr noc11, wir müssen uns die Methode ansehen, mit de r die einfache Skizze im Ma
nifest in die Ausdrücke und Begriffe der im Kflpital darges teU ten Un
tersuchung übersetzt wird. Ein »Lesen« des Textes, das den Gehalt die ser theoretiSChen Transformation im einzelnen nachweisen könnte, ist
Das »Politische« und das »Ökonomische« i
27
Rahmen dieses Artikel s unmöglic h . Aber anband von einigen Bei spIelen läßt sich zeigen , wie der im Manifest skizzi erte Prozeß - der dort größtenteil s als eine l ineare Entwicklung konzipiert ist, die sich durch die Beschleuni gung des Klassenkampfes zuspitzt - in s einer Um arbeitu ng im Ka ital durch die konsequente Anwendung der Kon p zeption des Wider spruchs und durch ein dialektisches Entwicklungs
�
denken von
Grund auf transformiert wird.
Zwei Beispiele sol lten ausreichen . Im e te n Unterabschnitt des 13. Kapitels markiert Marx den tech ni schen Unterschied zwischen einer se ts der Natur der Arbeitswerkzeuge (und der daraus folgenden Ar ltste ilu ng im Arbeitsprozeß selbst) , durch die die erste Phase der ka
�
�
�
PItal is tischen En twicklung - die Maschinenära - gekennzeichnet ist,
und an dere rseits der weiteren qualitativen Entwicklung - der des Ma
sch inensystems -, i n dem nicht der Arbeiter die Maschinen , sondern umgekeh rt, die Ma schinen den Arbeiter »anwenden«, charakteristisch
für die Phase der »großen Industrie«. Im vierten Unterabschnitt über » Die Fabrik« untersucht Marx dann die vielfältigen und widerspcüchli c?en Au sw i rkungen dieses Übergangs auf die materielle Basis des Ka Ita li s P mus . Er erläutert unter anderem die ZerJegung der traditionellen Qu ali fi katio nen der A rbeiterklasse, die zunehmend auf die Maschinen selbst » übergehen« - an dieser SteHe spri cht er von der »Tendenz der Gl ei chmac herei oder Ni vel lierung der Arbeiten« (442). Das hat unmi t te lbare Ausw irkungen auf die gesellschaftliche Organisation der Pro
dukti on : Sie zieht eine Neuglie erung der Produktion in »Hauptarbei d ter« und »bloße Handlanger« nach sich, und parallel dazu entsteh t eine
neue »höhere, teils wissenschaftlich gebildete ( . . . ) Arbeiterklasse«, di e »mit der Kontr oHe der gesamten Ma schinerie und ihrer beständi
gen Reparatu r besch ft ä igt ist«
(443) .
. Wo di e Maschinerie die Organi sati on des Arbeitsprozesses zu dik beren beginnt. bringt sie weitere widerspruch1 iche Entwicklungen he rvor : die leich tere Ersetzbarkeit e ine r Arbeiterschaft d urch ei ne an dere; die Einfü hrung des kontinuierlichen Produktionsprozesses und de s Sch ic h tsyst ems (des »Relaissystems«) ; die Entwertung der Arbeits kraft und die Erosion der traditionellen Qualifikationen, die aus einer frÜheren Arb eitsteilung stammen - »traditionelle Gewohnheiten« Werden j etzt » system atis h umgeformt« . Die Einverleibung des Arbei c
ters i n die Maschine, das systematische »Auspumpen« der lebendigen Arbeit durch die tote Arbeit schreitet in einem enormen Tempo fort:
)�Das Detai lgesch ick des individuellen, entleerten Maschinenarbeiters versc hw indet als ein w inzig Nebending vor der Wissenschaft, d�n geheuren Natu rkräften und der gesellschaftJichen MassenarbeIt, dIe
u�
Ausgewählte Schriften
28
im Masc hin en system ve rkörpert sind« (446) . Und auc h das hat weitere
Konsequenzen für die Arbei tsdis zi pl i n , die Hierarchie und das Kom
mando über die Arbeit - d i e Sp altu ng der A rbei te r in »Handarbeiter und Arbeitsaufseher« (in �)gemeine Industriesoldaten und Industrieof fiziere«, 447) u nd für die Verwaltu ng eines differenzierteren un d auf Zwang beruhenden Fabriksystems. Dr. Andrew Ure selbst, der »Poet«
der g roßen Industrie, sah , wie die Revolutionierung der Produktions
mittel die Wegn ahme aller Arbeiten , welche spezifische Qualifikatio nen u nd ein spezifisches Geschick ver langten , aus den » Annen d e s zu ge sc h i ckten und oft zu Unreg el m äß i gkei te n aller Art geneigten Arbei ters« und »ihre Verlageru ng auf einen sich selbst regulierenden M ech a nismus« , den sogar ein Kind üb erwach en kann , ebenso erforderte wie ermöglichte. Auf diese Weise hatte die »techni sche« Revol uti onieru ng der Arbeitsmittel unerwartete Auswirkungen auf di e Regul ierung der Arbeit� die U nterdrückung von Streiks u nd anderen ;>periodischen Ar beiteraufständen« gegen die Lebensbedingungen (456, 459) . U nd er neut mit den Worten von Ure konstatiert Marx , »daß d a s Kapital , i ndem es die Wisse n schaft in seinen Dienst preß t, stets die rebellische Hand der Arbeit zur Ge1eh rigkdt zwingt« (460) . Schon in diesem Abschnitt können wir sehen , wie das, was im Mani fest al s einfacher Antagonismus erscheint, hier zu einem komp l exe n und widersprüchlichen Antagonismus verknüpft ist: no twendige Be d i ng u nge n erweisen s i ch als ni cht in te nd i e rte Effekte, die selbst wie derum widersprüchliche Ausw irkungen haben; Au swi rkungen auf Eb en e n , an die man nicht gedacht hatte ; Tendenzen, d i e sofort von ihrem Gege nte il durchkreuzt werden ; Fortschritte, di e an a nderer Stel le zu Rüc ksc hri tten werden . Vor all em aber i s t das das Proletariat, das in dem früheren Text als eine we sentli ch h om ogen e Kraft vorge s tell t wurde, nunmehr sel b s t dauernd und unablässig d e n Ei nwi rkungen d er w i de rs prü ch lichen Kap i talgesetze ausgesetzt, wird umdefiniert, reor gani s i ert und umgeformt. Bereits i m Manifest hat te Man vorausgese hen, wie die wac hse n de Ve rei nhe i t l i chun g des Proletariats u nter den Bedi ngung e n der Fabrikarbeit beständig durch die tendenzielle »Kon kurrenz der Arbeite r unterei nander« durchbrochen wird . Aber nur, we n n wir d e n Entwicklungsprozeß, der zu r Grun dl age der wachsen den Vereinh eit lichun g wird , genauer untersuchen , können wir verstehen , warum das Kapital not wendig beides hervo rb ri ngt : die Tendenz zur Vermassung und »Vereinfachung« der Arbeit und, ge nau so »notwen dig« , die Tendenz zur innere n Spaltung in g el ernte und u ngel ernte Ar beiterInnen , die Vertei l ung der Qaulifikationen au f verschiedene Pro d u ktio n sz weig e von denen die »g roße Indu stri e « ungleichmiißig Be si tz .
Das ",Politische« und das »Ökonomische«
29
er�rei ft und sie ungleichmäßig transformiert.
Und wir können sehen, WIe durch die »Entwertung« der traditionellen Arbeitskraft auf Grund der massenhaften Ein stel lung von Frauen und Kindern (eine Entwick lung , die ausschließlich durch die Revolut ionierung des Arbeitsprozes
se s selbst mögli ch wurde) eine Gruppe von Arbeitskrä ften gegen die andere gestellt und ein weiterer Widerspruch eingeführt wird : »die na türlichen Unterschiede des Alters und Geschlechts«, das heißt die Ein
führung der geschlechts spezifischen Arbeitsteilung in die gesell schaft l ich e Arbeitsteilung ; und wieso das Kapital dazu in der Lage ist, diese nenen Formen der Arbeitsteilung (oder die parallel dazu verlaufende zwi schen Aufsehern , der »qualifizierteren Arbeiterklasse«, und Ma SChinenarbeitern) zu seinem Vorteil zu nutzen. Kurz, wie die Produk ti on zweier gegensätzlicher Tendenzen in der widersprüc hlichen Ent
wicklung des Kapitals jeder simplen Vorstellung von dem »zwangsläu figen Zus ammenhalt des Proletariats« zuwiderläuft und statt dessen die wirkliche Realisierung dieses Zusammenhalts unter den historisch
neuen Bedingungen der kapitalistischen Organisation auf die Tages ordnung setzt. Ein fü r Form und Charakter des Klassenkampfes unter den moder nen P roduktionsbedingungen absolut zentrales Element findet sich be
reits in der folgenden , scheinbar
e i nfa che n
Bemerkung:
»Soweit in der automatischen Fabrik die Teilu ng der Arbeit wiedererscheint, ist sie Zunächst Verteilung von Arbeitern unter die spezialisierten Maschinen und . von Ar
beite rmassen, die jedoch keine geg liederten Gruppen bllden, unter die verschied n en Departements der Fabrik, wo sie an nebeneinander ger:eihten gleichartigen Werkzeugmaschinen arbeiten , also n ur einfache Kooperation unter ihnen stattfin det . Die gegliede rte Gruppe der Manufaktur ist ersetzt durch den Zusammenhang des Hauptarbeiters mit wenigen Gehilfen. « (442f.)
Diese Tendenz bringt die andere nicht zum Verschwinden - sie berei tet sowohl die wachsende Basis für die »Vergesellschaftung der Arbeit«
als auch für die technische Abhängigke it der verschiedenen kapitali sti Schen Produktionszweige voneinander, und sie ist die gesellschaftliche
Gru ndl age für die Bildung des modernen Proletariats. Die Entwick Jung des ;Kapital is mu s reproduziert beide Tendenzen zugleich : Indem das Kapital , kurz gesagt, seine »wch n ischen i( Grenzen hinter sich läßt,
indem es eine der materiell en Schranken überwindet , die seiner revo lutioni erend en Selbstexpansio n i m Wege stehen , produziert es neue Widerspruche auf einer höheren Entwicklungsstufe. Sein Fortschrei
ten i st - ganz im Gegen satz zum Haupteindruck, den das Manifest vennittelt - im vollen Sinne dialektisch. Da s läßt sich auch an einer anderen Stelle zeigen, an der ebenfalls ei.n sch einbar direktes »Echo« aus dem Manifest widerhallt. Im Manifest
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Ausgewählte Schriften
erwähnt Marx die beiden »Wege«, die dem Kapital offen steh en - Ver längerung des Arbeitstages und »Vermehrung de r i n ei ner geg ebenen Zeit gefo rderten Arbei t , be schleuni gter Lauf der Maschinen u sw. « (MEW 4, 469) In einem anderen Zusammenhang erwähnt er auch die
wachse nde politische Stärke des Proletar i a ts - »sie entsteht immer
wi eder, stärker, fester, mächtiger« (471) -, die die Anerkennung »ein
zelner Interess,en der Arbeiter« erzwingt; in diesem Kontext führt er dann die Zehnstundenbill in EngJand an . Wieder i st n ich t zu überse hen , welche tiefe und dur chgehe nd e Transformation diese Vorstellun
gen e rfahren haben , wenn sie im Kapital wiede r auftauchen . Die er
weiterte Anwendung von Maschinen hat eine Zunahme der Arbeits
produktivität zur Folge - »Verkürzung der fü r die Produkti o n einer Wa re notwendigen Arbeitszeit« . Sie hat aber auch zur Folge, daß der Widerstand der Arbeiter gegen die Verlängerung de s A rbe itstages ab nimmt. Hier ent5teh t sofort ein Widerspruch , da die Maschinerie, »indem sie von den beiden Faktoren des Mehrwerts, den ein Kapita] von gegebener Größe liefert, den einen Faktor, die Rate des Mehr
werts, nur dadurch vergrößert, daß sie den andren Faktor, die Arbei terzahl verkleinert« ( ME W 23, 429) . Diese Wirkungen sind daher ebenso widersprüchlich w ie »unbewußt« (Fn. 153, 430) . Wenn d i e Ma
schinerie den Arbeitstag verlängert , »die Arbeitsweise selbst wie den C harakter des gesell s chaftlich en Arbei tskörpers in einer Art umwäl zt 1
die den Widerstand gegen di e se Tendenz bricht . produzi ert sie andrer seits, teils durch Einstellung dem Kapital früh er unzugän gli cher Schichten der Arbeiterklasse, teils durch F reise tzung der von der Ma
schine verdrängten Arbeiter, eine überflüssige Arbeiterpopulation«( . (430) Diese schrankenlose Ausb eutu ng der Arbeitskraft ruft i n Teilen
der herrschenden Klasse »ein e Reaktion« hervor, die zur »Spal tung der
Bourgeoisie selbst« fü h rt , eine Spaltung, die die A rbei ter in i hrem Kampf au snutzen , indem sie die Fabrikgesetzgebung mit der gesetzli
ch en Beschränkung des Arbeitstages erzwingen . Ferner erwähnt Marx , daß die Kapi tal isten diese Begrenzung pol i ti sch ve hement be
kämpften ; sie erklärten , die Produktion sei unter diesen Umständen »u nmög l ich« . Aber es war genau der Zwang zur Begrenzu ng, zu der » die anschwe l lend e Empörung der A rbei terkl a s se den Staat zwang« (432) , der das Kapital dann dazu antrieb, »durch gesteigerte Produk
tivkraft der Arbei t den Arbeiter zu befahigen, mit derselben Arbeits ausgabe in derselben Zeit mehr zu produ zi e ren« (432) . Damit über
die schritt das Kapital - in untersch iedli c her Weise und ungeplant entscheidend e Schwelle von der Ä ra des a bsoluten zur Ä ra des relati ven Mehrwerts.
Das »Politische«( und das »Ökonomische«
31
Die Auswirkungen sind ungeheuer : E rhöhung der organi schen Zu sammensetzung des Kapitals; Senkung des Wertanteils in jeder einzel nen Ware; Intensivierung des Arbeitsprozesses ; »dichtere Ausfüllung der Poren der Arbeitszeit« (432); »erhöh te Anspannung der Arbeits kraft« (ebd . ); Beschleunigu ng de s Produktionsprozesses; gewaltiger Anreiz zum technischen Fortschritt und zur Anwendung der Wissen schaft als materieller Produ k v r ti k aft ; die Vorteile, die die rrschaft
He
der » Regel mäßigkeit, Gle i chförmig kei t, Ordnung und Kontinuität der Arbe it« fü r das System der Kontrolle hat. Soweit nur der Aus Wirkungen, wie Marx sie beschrei bt. 1858, hält Marx fest, berichtete
einige
der Fabrikinspektor: »Die großen in Maschinen jeder Art eingefüh n rte Ver beßrungen haben die Produktivkraft sehr gesteigert. Ohne allen Zweifel gab die Verkürzung d es Arbeitstags C ) den Smchel zu diesen Ve rbeßrungen. « (438) Am Ende des 13. Kapitels kehrt Marx zu den Au swirku ngen der um di lahrhundertmi tte verabschiedeten Fabrikge e . . •
�etzgehu ng zurück;. hier beschäftigt er sich ausführlich sowohl mit
Ihren technischen als auch mit ihren sozialen Folgen (Erziehu ng, Kin der, Fami l ie) . Was also im Manifest als eine einfache Abkoppelung der Ebene der Produktionsweise von der des pol itischen Kampfes er sc heint. wird hier in eine widersprüchliche »Einheit« zusanimenge bracht: eine Einheit , die zeigt, wie, während sich das Wertgesetz durchs etzt , das Kapital b li nd und unhewußt voranschreitet, wie es ge ZWu ngen ist, sich weiterzuentwickeln, indem es seine eigenen selbst gese tzten Grenzen un Schranken durchbricht; wie sein »politisches« d Bewuß tsein oftmals von seinem inneren Trieb und seinen inneren Not wendigkeiten abweicht. Damit ist die Regenerationsfähigkeit des Kapi tal s sehr ansc haulich besch rieben : Wie es permanent dazu gezwu ngen ist, sei ne eigenen widers üchlichen Impulse mit sozialen und ökono pr mischen Organisationsformen zu verknüpfen, die es zum Vorteil seiner eigenen »Logik« entsprechend zurechtbiegen kann . Damit zeigt sich au ch , wie das Kapital, um die Interess engegensätze innerhalb der eige nen Reihen zu mei stern - vor allem aber auch, um jene »spezifischen« Fortschritte, die die Arbeiterklasse ihm aufzwingen kann , im Rahmen seines Systems zu halten und unter KontroHe zu bringen -, ein anderes Repertoire entwickelt : es entdeckt neue »Lösungen«: In diesem Kapitel verabschiedet sich Marx entschieden von jeder Vorstellung,. die die »Logik des Kapital s« als ein simples , gradliniges , funktionales -sicb Entfalten« sieht, oder als etwas, das von der »Logik des Klassenkamp fes« zu trennen sei, als handele es sich um zwei unverbundene Fäden . Aus dieser historisch-analytischen Darstellung löst Marx den fruchtbaren theoretis c hen Keim heraus, um ihn im folgenden Kapitel
:'}
Ausgewählte Schriften
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in einer theoretisch »reineren« Form zu entwickeln : die »Produktion des absoluten und relativen Mehrwerts« . Die gesamte Entwicklungs tendenz wird knapp und präzise zusammengefaßt:
,.Die Verallgemeinerung der Fabrikgesetzgebung als physisches und geistiges
Schutzmittel der Arbeiterklasse« - das Ergebnis eines unmittelbar politischen
Kampfes - ,.verallgemeinert u nd beschleunigt ( . . . ) die Verwandlung zerstreuter Arbeitsprozesse auf Zwergrnaß stab in ko mb i nie rte Arbeitsprozesse ( . . . ), also die Konzentration des Kapitals
u nd die Al1einherrschaft des Fabrikregimes . « (525f.)
»Sie zerstört alle altertümlichen und Übergangsformen , wohinter sich die Herr schaft des Kapitals noch teilweise versteckt, und ersetzt sie durch seine direkte, UD
verhü1lte Herrschaft. Sie verallgemeinert damit auch den direkten Kampf gegen diese Herrschaft . «
(526)
Sie ,erzwingt Gleichformigkeit, Regelmäßigkeit, Ordnung und Ökono mie, spornt zu tech nischen Innovationen an und steigert damit auch die
Intensität der Arbeit und die »Konkurrenz der Maschinerie mit dem Arbeiter« (ebd . ) . Sie zerstört die materielle Basis des Kleinbetriebes und der häuslichen Produktion. »Mit den materiellen Bedingungen und der gesellschaftlichen Kombination des Produktionsprozesses reift sie die Widersp ruche und Antagonismen seiner kapitalistischen Form�� (ebd . ) . Wenn dies auss ieht wie eine in letzter M i nute erfolgte
Rückkehr zum Manifest� dann nur, weil der widersprüchliche� doppel te Druck der kapitalistischen Entwicklung und sein ihm innewohnen des antagonistisches Wesen den Kern in beiden Konzepten ausmacht.
Der Fluchtpunkt &pital zeigt, daß die sogenannte »Vereinfachung der Klassen und des Klassenkampfes« - oder das, was wir jetzt die kom plexe Vereinfachung der Klassen und die Logik des Klassenkampfes in
nerhalb der »Logik« der historischen Entwicklung des Kapitals nennen müssen - vollständig und unwiderruflich transformiert wurde. Was die marxistische »Klassentheorie« angeht , haben wir damit e in ganz neues Terrain betreten . In
Wie wir gesehen haben , ist das Verhältnis zwischen dem ökonomi schen und dem politischen Aspekt des Klassenkampfes einer der wich tigen Punkte, die im Manifest nicht zufriedenstellend geklärt werden. Marx fragt tatsächlich nach der »Organisation der Proletarier zur Klas
se, und damit zur politischen Partei« (MEW 4, 471) - als seien die po litischen Aspekte nur eine fortgeschrittenere Form des »Ökonomi schen« , als bedürften sie keinerlei begrifflicher Veränderung oder Ausweitung des theoretischen Rahmens. In der Deutschen Ideologie sagt Marx über die Kapitalistenklasse, daß »die einzelnen Individuen nur i n sofern eine Klasse (bilden) , als sie einen gemeinsamen Kampf gegen eine andere Klasse zu führen haben ; im übrigen stehen sie
Das » Politische« und das
»Ökonomische«
33
einander selbst in der Konkurrenz wieder feindlich gegenüber. « (MEW 3, 54) Im Elend der Philosophie bezeichnet Marx den utopi schen Sozialismus als typisch für eine Zeit, in der »das Proletariat noch nicht genügend entwickelt ist, um sich als Klasse zu konstituieren und daher der Kampf des Proletariats mit der Bourgeoisie noch keinen politischen Charakter trägt« (MEW 4, 143) . Er nennt das Proletariat »diese Masse« , die bereits als Klasse im Gegensatz zum Kapital steht ,
aber noch keine »Klasse für sich« ist. Im Achtzehnten Brumaire schreibt Marx : ,.Insofem Millionen von Familien unter ökonomischen Exisrenzbedingungen leben , die ihre Lebensweise, ihre Interessen und ihre Bildung von denen der andern Klassen trennen und ihnen feindlich gegenübersteJlen, bilden sie ein Klasse. Inso fern ein nur lokaler Zusammenhang unter den Parzellenbauem besteht , die Diesel bigkeit ihrer Interessen keine Gemeinsamkeit, keine nationale Verbindung und keine politische Organisation unter ihnen erzeugt, bilden sie keine Klasse. Sie sind daher unfähig, ihre Klasseninteressen im eigenen Namen ( . . . ) geltend zu machen . «
(M E W 8, 198) 1871 schrieb Man in einem Brief a n Friedrich Bolte, der wiederum die Frage der Fabrikgesetzgebung berührte: »Das political movement der Arbeiterklasse hat natürlich zum Endzweck die Erobnmg der political power für sie, und dazu ist natürlich eine bis zu einem ge
wissen Punkt entwickelte previous organisation der working dass nötig, die aus ihren ökonomischen Kämpfen selbst erwächst. Andrerseits i st aber jede Bewegung, worin die A rbeiterklasse als Klasse den herr schenden Klassen gegenübertritt und sie durch pressure from without zu zwingen
sucht, ein pol itical movement.
Z.B. der Versuch ,
in einer einzelnen Fabrik od er in
ei nem einzelnen Gewerk durch strikes elc. von den einzelnen Kapitalisten eine BeM
schränkung der Arbeitszeit
zu
erzwingen, ist eine rein ökonomische Bewegung;
dagegen die Bewegung, ein Achtstunden-etc.
Gesetz zu erzwingen,
ist eine politi
sche Bewegung. Und in dieser Weise wächst überall aus den vereinzelten ökonomi� sehen Bewegu ngen der Arbeiter eine politische Bewegung hervor, das heißt eine Bewegung d er Klasse, um ihre Interessen durchzusetzen in allgemeiner Form. in einer Form, die allgemeine gesellschaft1 ich zwingende
Kraft besitzt.
Wenn
diese
Bewegungen eine gewisse prev ious Organisation unterstellen, sind sie ihrerseits ebensosehr Mittel der Entwicklung dieser Organisation. « (MEW 33,
332f.)
Marx ging es hier darum, bestimmte Beschlüsse des Generalrats der Internationale, dessen Statuten er formuliert hatte, zu klär en . Wenige Tage später schrieb Engels mit einer ähnlichen Absicht in der Thriner Zeitschrift
»{ . . .) d aß die
11 Proletario Italiano : ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse der große Endzweck
ist, dem jede politische Bewegung, als Mittel, unterzuordnen ist . ( . . . ) daß in dem streitenden Stand der Arbeiterklasse ihre ökonomische Bewegung und ihre politi sche Betätigung untrennbar verbunden sind . « (MEW 17, 468f.)
Marx und Engels überdenken hier also genau das, was sie i m Man ifest zu vereinfacht skizziert hatten : die notwendigen Verschiebungen und
die Konstellationen im Verhältnis zwischen 'den politischen und den
.. .
I. :
Ausgewählte Schriften
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ökonomischen Formen des Klassenkampfes. Die Zeitspanne, die da zwischen liegt, ist ziemlich lang
vom Elend der Philosophie bis zur
Pariser Kommune, ein Zeitraum, in dem das Marxsche Nachdenken über dieses entscheidende Thema » weiteren Schwa nku ngen« - wie
Poulantzas (1973, 58) es genannt hat - unterlag. » Diese 'Schwankun gen' sind sorgfältig zu betrachten . Die in dem obigen Zitat aus dem Elend der Philosophie gezogene Unterscheidung zwischen Klasse »an sich« und Klasse )}für sich« er starrte später zu einer Art Standardformel . Sie setzt das Ökonomische und Politische auf falsche Wei se ins Verhältnis. Sie unterstellt , daß es eines Tages einen Moment geben könnte, in dem das ganze Proletariat das revolutionäre Klassenbewußtsein entwickelt haben wird, das ihm durch eine gegebene., ökonomisch-objektive Bestimmung vorgeschrie ben ist; und daß man überhaupt erst dann von einer Etistenz der Klasse auf der Ebene des politischen Kampfes sprechen kann. Wir haben be reits zuvor auf die Schwächen dieser säuberlichen Aufspaltung hinge wiesen : einer Aufspaltung , die den »politischen Klassenkampf« aus schließlich für diesen Moment erfüllten Bewußtseins zu reservieren scheint; die dieses Bewußtsein zu direkt aus der ökonomischen Deter miniertheit der Klassen ableitet; die das Erlangen einer »autonomen« Form von Klassenbewußtsein zum ei nzigen Prüfstein der politischen Existenz einer Klasse macht und die Klassen als einheitliche hi stori sche Subj ekte faßt . D i e U nt ersc h ei d u ng zwischen »an sich / für sich « ist dann nützlich ,
wenn unterschiedliche �1omente und Formen des Klassenbewußtseins definiert werden sollen, und viellei cht sogar dann , wenn man in ganz großen Zügen die Entwicklung weg von einer »korporativen(� Form des Klassenkampfes markieren will . Dann müßten wir aber eine gelegent l iche Äußerung von Marx in einer Weise weiterentwickeln , die mit der Stoßrichtung dieses Passus im Widerstreit läge. Denn die Unterschei dung zwis·chen »korporativ« und dem , was Marx später einen Kampf nennt , der eine »allgemeine, gesellschaftliche zwingende Kraft be sitzt« (MEW 33, 333) ist keine Unterscheidung zwischen der Anwe senheit oder Abwesenheit von politischen Kämpfen und der »entspre chenden« Form von Klassenbewußtsein, sondern das genaue Gegen tei l : eine Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Formen des
Klassenkampfes, zwei Arten von KJassenbewußtsein, von denen jedes
seine eigenen determinierenden Bedingungen hat , die in den mate rienen Verhältnissen der Klassen im Kapitalismu s begründet sind.
Wie Marx und Engels geseh en h aben - und wie Lenin noch genauer ausführte -, hat der Reformismus der Arbeiterklasse, das »trade-
Das »Politische« und das » Ökonomische«
35
unionistische Bewußtsein« (oder was Lenin in ßbs tun ? die »bürger liche Politik der Arbeiterklasse« nannte (LW 5, 452]) , seine eigenen Existenzbedingungen, seine eigene materielle Basis in der ökono mischen Lage der Arbeiterklasse im Kapitalismus. Es ist keineswegs eine Ebene oder Form des Klassenkampfes sozusagen »unterhalb« des pl it i schen Horizontes ; m an könnte eher sagen, daß es die natürliche - oder wie Lenin es nannte, die »spontane« - Form des Kampfes der Arbeiterklasse ist, und dann, wenn es keine Mittel gibt,. diesen Kampf auf eine »allgemeinere« Ebene zu heben. Wie solche Bedingungen allerdings aussehen, und wodurch die Formen des ökonomischen und politischen Kampfes auf ihre »allgemeinere« Ebene gehoben werden könnten,. das ist in der Unterscheidung »an sich/für sich« nicht erfaßt .
o
Brief an Bolte hat einen ganz anderen Ansatzpunkt. Hinter der Formulierung »die Erobrung der political power« (MEW 33, 333) durch die Arbeiterklasse steht die MacGche Überzeugung, daß die po litische Macht des von der Bourgeoisie errichteten Staates gebrochen werden müsse; und seine Betonung der »Diktatur des Proletariats«, die aus seiner Analyse der Pariser Kommune stammte, erhielt im Bürger krieg in Frankreich konkrete Gestalt. Aber noch interessanter ist, daß d ie Begriffe »ökonomisch« und »politisch« hier offenbar dazu ver wandt werden,. um zu kennzeichnen, wo der Klassenkampf in jeder spez i fische n Konstellation sich jeweils auswirkt. Die Org anisierung des Proletariats in der Produktion, zur Abwehr von Versuchen des Ka pitals, die Ausbeutung durch die Verlängerung des Arbeitstages zu in tensivieren, wird als eine »ökonomische Bewegung« definiert, wäh rend Versuche, das Gesetz über die Beschränkung des Arbeitstages zu verändern (deren Adressat daher der bürgerliche Staat selbst sein muß) , eine »politische Bewegung« konstituieren. Hier wird alles in eine konkrete, historisch-spezifische Situation übersetzt, in der der Klassenkampf »wirksam wird«. Es fehlt jede Spur von Automatismus, wo über die Bewegung von einer Ebene zur anderen gesprochen wird . In allen diesen Zitaten wird die Frage auf die Tagesordnung gesetzt, unter welchen weiteren Bedingungen - und in welchen Formen - die antagonistischen Produktionsverhältnisse der kapitalistischen Produk tionsweise auf die Bühne der Politik treten und die jeweils entsprechen de Wirkung haben können . Dje Begriffe, die es uns ermöglichen, die Quellen und die Mechanismen der »relativen Autonomie« der politi schen Ebene des Klassenkampfes im Verhältnis zur ökonomischen zu begreifen, finden wir vor allem i n Klassenkampfe in Frankreich und im Der
Achtzehnten Brumaire.
' i : .' ;
,
Ausgewählte Schriften
36
Die ersten Kapitel der Klossenkämpfe wurden unmittelbar nach
1848
geschrieben . Obwohl Marx bereits hier davon überzeugt war, das Pro
letariat sei noch nicht »reif« , zum Sieg, konzentriert sich dieser Teil
der Analyse darauf, wie die bürgerlichen politischen Kräfte d u rch ihre eigenen inneren Widerspruche dazu getrieben werden , die Basis ihrer » reifen« politischen Herrschaft
das allgemeine Männerwahlrecht
zu zerstören und sich in der Folge vor der einzigen Alternative wieder finden: Rückzug unter den Schutz von Napoleons Bajonetten oder pro l etarische Revolution. Das letzte Kapitel wurde jedoch später entwor fen und veröffentlicht; sein Wechsel der Perspektive markiert einen zentralen und unumkehrbaren » Einschnitt« , den Fembach den »viel leicht wichtigsten (Einschnitt) seiner gesamten politischen Arbeit als
Kommunist« bezeichnet . Den Kern dieses Einschnitts hat Gwyn Wil Harns so zusammengefaßt : »Im Sommer
1850
kehrte Man zu seinen ökonomischen Studien zurück, die ihn
v iel e Jahre lang im British Museum u ntertauchen l i eßen. Er kam zu dem
daß der Revol utionskreis von 1848 durch eine spezifische Krise der
Schluß.
neuen kapital i
stischen Gesellschaft in Gang gesetzt worden war (. . . ) , daß die Rückkehr zum
Wachstum eine neue Welle von Revolutionen extrem u nwahrscheinlich machte, u nd , wichtiger noch, daß eine proletarische Revolution auf dem Kontinent so l ange unmöglich sei . wie sich die kapitalistische Ökonomie und die kapi tal istischen Pro duktionsverhäl tnisse nicht viel vollständiger entfaltet hätten. (. . . ) Seine neue Per spektive gründete sich auf ei ne bedeutend reichhaltigere, die Strukturen mehr ins Zentrum ruckende Analyse, die dann siebzehn Jahre später im Kapital ihren Höhe
punkt erreichen sollte. « (1976, 112)
Der Unterschied zu den Ausführungen im Manifest
-
wohl am klar
s ten ersichtUch in der Analyse, die Marx im Achtzehnten Brumaire bi e
tet - liegt nicht dari n , daß nunmehr die »Politik« auf Kosten der »ob j ektiven Bedingungen« , d i e durch den Entwicklungsstand der Produk tivkräfte und der Produktionsverhältnisse im Kapitalismus bestimmt
sind, hervorgehoben wird . Das Gegenteil ist der Fall . Die objektiven
Detenninationen und die Schranken dafür, welche Lösungen auf poli tischer Ebene »möglich« sind und welche nicht, werden in den späte
ren Arbeiten weitau s rigoroser formuliert, zusammenhängender erfaßt
und systematischer zur Geltung gebracht als in den früheren Texten .
Die Herausarbeitung des »praktischen Begri ffs� des Politischen , für die der Achtzehnte Brumaire zu Recht berühmt ist, wird durchgehend strukturiert von der Bedeutung, die Marx der »Determiniertheil« der politischen Entscheidungen durch die objektiven Bedingungen gibt . An dieser S telle bricht Marx mit der Annahme, die bei den Ebenen
würden einander genau entsprech en
,
so daß die Formen und Inhalte
der einen vollständig im Rahmen der Bedingungen und Schranken der anderen gegeben seien . Indern Marx die Formen , die der K1assen-
Das »Politische« und das »Ökonomische«:
37
kampf bei (wie Gramsei es nannte) »seinem Übergang auf die Ebene des komplexen Überbaus« annimmt, i m einzelnen und auf provozierende Weise verfolgte, gebrauchte er zum ersten Mal jene Be griffe, die uns allei n dazu befähigen, d ie Spezifik des Politischen zu »denken« .
I
In knappen Worten: Die Krise von 1851 wird, in ihrer Gesamtten denz und ihrem Verlauf, grundlegend und entscheidend durch die ob j ekti ve Entwi cklung des französischen Kapitalismus überdeterminiert. Dieser setzt den äußeren Rahmen, innerhalb dessen die Formen de s Politischen entstehen und auftreten. Die franzö si sche Gesellschaftsfor mation befindet sich noch in einem relativ frühen Stadium der kapitali stischen Entwicklung . Das Proletariat steht mit seinen Parolen und Forderungen bereits »auf der Bühne«, aber es kann noch keine ent scheidende , vor allem keine autonome Rolle spielen . Die Bourgeoisie hat sich bereits voll herausgebildet und ist in ihren Hauptfraktionen auf der politischen Bühne vertreten, wobei jede Fraktion bald die eine, bald die andere Partei oder Gruppierung gegeneinander ausspielt, bald die eine, bald die andere mögliche Lösung ausprobiert. Sie hat ihre hi storische Rolle jedoch noch lange nicht erfüllt; vor allem hat sie bis jetzt noch keineswegs j ene Klassen, die aus früheren Produktionswei sen hervorgegangen sind, in ihren hegemonialen Bann »geschlagen«. Von daher ist die Bourgeoisie noch nicht in der Lage, von sich aus und auf eigene Faust von der französischen Gesellschaft Besitz zu ergreifen und deren kulturelle und politische Strukturen den Bedürfnissen der sich entwickelnden kapitalistischen Produktionsweise »anzupassen«. So stolpert die Republik von einer instabilen Koalition zur anderen� sie durchläuft das gesamte Repertoire der republikanischen und demokra tischen Formen : gesetzgebende Versammlung, parlamentarische De mokratie, bürgerlich-republikanische, republikanisch-sozialistische Demokratie. Jede »Form« ist der Versuch einer der Fraktionen der Bourgeoisie, ihre jeweilige politische Hegemonie - stets im Rahmen eines zeitweiligen Bündnisses zu sichern. In dem Maß.e, wie sich die einzelnen Bündnisse erschöpfen oder besiegt werden, verringert sich die soziale Basis für eine mögliche Lösung - das Proletariat ist in jedem dieser Bündnisse entweder ein zweckdienlicher und uniergeord� neter Partner od er - als sich das Ende nähert - die isolierte Kraft. Und schließlich , nachdem sich alle möglichen Lösungen erschöpft . haben, wirkt das labile Gleichgewicht der Kräfte auf der Bühne zugun sten von Napoleon Bonaparte, der »gerne als der patriarchale Wohltäter aller Klassen« auftreten möchte, aber nur weil er sie bereits besiegt hatte: »Frankreich braucht vor allem Ruhe.{( -
'" �
,
38
Ausgewählte Schriften
Wir müssen uns hier auf zwei Aspekte dieser Beweisführung be schränken : auf die Frage der Klassen und ihrer politischen »Erschei nungsformen« sowie auf das Problem der »Determination in letzter In stanz« der Formen und Ergebnisse des politischen Kampfes durch die ökonomi sche Produktionswei se.
c
Zunächst fant auf: Obwohl die Strukturanalyse der Hauptldassen der kapitalistischen Produktionsweise durchgehend den analytischen Rah men der gesamten Darstellung bildet - das und nichts anderes verleiht der gesamten , verwirrenden und dramatischen Erzählung ihren logi schen Zusammenhang -, treten auf dieser Bühne keine »Klassen als solche( auf. Das Proletariat ist die Klasse, die am häufigsten als »Block« vorgeführt wird , aber selbst hier durchkreuzt die Bestimmung der spezifischen und problematischen RoHe des >,Lumpenproletariats« die Tendenz , das Proletariat im Zusammenstoß der Positionen als eine einheitliche Kraft darzustellen. In bezug auf das Kapita1 unterscheidet Marx stets dessen vorherrschende Fraktionen : »das große Grundeigen tum« , die große Industrie« , »der große Handel�( (MEW 8, 138f. ) , die »zwei großen Interessen« des Kapitals (ebd . ) , »Finanzaristokratie« , »industrielle Bourgeoisie« (121) etc. Das Kleinbürgertum - »eine Übergangsklasse, worin die Interessen zweier Klassen sich zugleich abstumpfen« (144) - wird de facto zum Dreh- und Angelpunkt. Und wenn Marx schließlich zur Kennzeichnung der Klassenposition Napo leons kommt, verweist er auf die Präsenz einer Klasse, die eigentlich eine niedergehende historische K raft war, und schält ihre Hauptfrak tion heraus : die »kleinen Parzellbauern« . Zweitens muß erwähnt werden , daß keine dieser Fraktionen auf der p o litischen Bühne jemals isoliert agiert . Der Schlüsse1 begriff, der die verschiedenen Klassenfraktionen mit den politischen und konstitutio nellen Formen verbindet, ist das Bündnis oder, genauer gesagt, das wechselnde und sich ständig neu zusammensetzende Bündnis oder der Klassenblock. Die erste verfassungsmäßige Form der »Krise« ist die de r bürgerlichen Republik. Sie wurde durch den Juni-Aufstand des Pa riser Proletariats hervorgerufen, das aber, obwohl es die Haupt1ast des Kampfes trug, in dem politischen Bündnis nur eine untergeordnete Rolle spielte. Eine Zeitlang sind die führenden Fraktionen des Bünd nisses die Finanzaristokratie und die industrielle Bourgeoisie mit Un terstützung des Kleinbürgertums . Auf der politischen Bühne stehen noch andere entscheidende Kräfte, die klassenmäßig nicht eindeutig einzuordnen sind: die Armee, die Presse, Intellektuelle, die Priester, die ländliche Bevölkerung . Ge legentlich deutet Marx den Klasseninhalt dieser unterstü tzenden
I ,
Das »Politisch e«
und das »Ökonomische«
39
Schichten und Cli quen an : So nennt er zum Beispiel die Mobilgarde das »organisierte Lumpenproletariat« (121) . Hier taucht das Pariser Proletariat zum letzten Mal als ein bestimmender Faktor auf; danach wird die Sache »hinter dem Rücken der Gesellschaft« geregelt. Das Proletariat befindet sich jedoch bereits i n einem Bündnis, dessen füh rende Fraktion aus einer anderen Klasse herkommt. Die Republik of fenbart somit nur »die uneingeschränkte Despotie einer Klasse über andre Klassen« (122) . Dennoch hat diese instabile politische Form eine strukturelle und historische Funktion : Sie ist die klassische »politische Umwälzungsform der bürgerlichen Gesellschaft« (ebd. ) . Ihre »Ge schichte« ist zu diesem Zeitpunkt die »Geschichte der Herrschaft und der Auflösung der republikanischen Bourgeoisfraktion«
(124).
In Op
pos ition zu ihr steht die »Partei der Ordnung«, die sich hinter den alten Parolen von Eigentum , Familie, Religion und Ordnung
sammelt.
In
dieser Situation tritt dieses Bündnis in seiner zweifachen royalistischen Verkleidung auf - als legitimistische Bourbonen und als Orleanisten. Indes hat auch dieser labile Block seine Klassenzusamrnensetzung: Hinter den »verschiedenen Schattierungen des Royali smus« vereinigen sich die »großen Grundeigentümer« mit ihren Cliquen und Truppen (Pfaffen und Lakaien) , »die hohe Finanz, die große Industrie, der große Handel , d.h . das
Kapital
mit seinem Gefolge von Advokaten,
Professoren und Schönrednern« (138f. ). Auch hier versteckt sich der
Kampf um die Vorherrschaft hinter der notwendigen Einheit ange
sichts der »Partei der Anarchie« . Was sie grundsätzlich spaltet - und
sie dazu trieb. »jedes seine eigne Suprematie und die Unterordnung des anderen zu restaurieren« (139) - waren
nicht nur ihre materiellen
Existenzbedingungen (»zwei verschiedene Formen des Eigentums«) , sondern auch die ideologischen Traditionen, durch die sie jeweils ge formt worden waren . Das i st eine von vielen Stellen , an' denen Marx die spezifische Wirkung der j eweiligen
ideologischen
Dimension des
Klassenkampfe s auf das POlitische zeigt, wobei er allerdings noch eine
weitere komplexe Ebene hinzugefügt hat: »Auf den verschiedenen For
men des Eigentums, auf den sozialen Existenzbedingungen erhebt sich
ein ganzer Überbau verschiedener und eigentümlich gestalteter Emp findungen , Illusionen , Denkweisen und Lebensanschauungen. « (139) Man muß ferner klar »die Phrasen und Einbildungen der Parteien von
ihrem wirklichen Organismus und ihren wirklichen Interessen, ihre Vorstellung von ihrer Realität unterscheiden« (ebd . ) . Was diese Frak tionen von sich selbst in der Situation des Mai »dachten«, läßt sich zwar i n l,etzter Instanz auf ihre materielle Existenzgrundlage zurück führen, hatte aber reale und eigenständige Auswirkungen - wie der
Achtzehnte Brumaire
auf dramatische Weise vorführt. Marx fuhrt für
I!
40
Ausgewählte Schriften
jedes »Moment« de r Situation im Brumaire die g leiche Analys e durch : die Bildung komp lexer Koalitionen, die auf Kl as senfrak ti onen beru hen , ihre inneren Wid ersp rüche, die »Notwendigkeit« der poli ti s chen
Po si tion e n , zeitwei li gen Prog ramme un d id eolo gis chen Formen, in denen jene »Interessen« auftreten . Der dritte Punkt bezieh t sich auf die F rage , wie diese p oli ti schen
Fraktionen und Schichten im Verlauf des Kampfes si ch politisch dar
stellen. Die be id en H auptfrakti onen der Großbourgeoisie ers chei nen auf der politischen Bühne in ihren jeweiligen royalistischen Gewän
dern, aber das »Stück«, das dieses Bündnis objektiv aufführt, ist nicht di e Restauration ihrer j eweiligen Herrschaftshäuser. Ihre Vereinigung
. zur »Partei der Ordnung« und ihre Repräs entatio n durch diese Partei
w irft die Frage nach der H errschaft der Klasse »als solcher« auf u nd
nicht die nach der Vorherrsch aft einer Fraktion über die andere. Ob
j ektiv gesehen mach t gerade diese zei tweilige u nd unheilige All i anz sie
zu »Repräsentanten der bürger lich en Weltordnun g«.
Marx kehrt
immer wieder zu dieser zentral en Frage des »Klasseninhaltes« und sei
ner politischen Repräsentationsweise zurück. Es geht nicht einfach darum, daß die Repräsentati on von Klasseninteressen durch poli tis che Bündni sse und » Parteien« niemal s ein e geradlinige Sache ist. Das poli
tische Interesse
i
e ner
Klassenfraktion kann auch d u rch die Rolle, die
e i n e andere Fraktion auf der poli tis ch en und i deologi sch en Bühne spielt, vertreten werden. Marx' Darstell u ng der Ko aliti on zwischen Proletariat und K leinbü rgertum in der »sogenan nten sozial-demokrati
sehen Partei« (141) b i etet dafür ein hervorragendes Beispiel . Diese »Partei« handelt zu näch st unmittelbar im I nteresse derjenigen , die
durch d ie erzwungene Umgruppierung der bürgerlichen Truppen zu kurz gekommen waren. Ihre innere Struktur ist widersprüchlich:
Indem es sich einordnet, wird deIn Proletariat »die revolutionäre �pit ze« geb rochen und seine sozialen Forderungen erfahren »eine demo
kra ti sch e Wendu ng « . Die »Sozial-Demokratie« hat auch ei nen obj ekti
venpolitischen Inhalt, de r n ich t dar i n b esteht , ,>Kap i tal un d Lohn arbei t
( . . . ) aufzu heben ,
sonde rn ( . . . ) ih ren Gegensatz abzuschwächen und in '
Harmonie zu verwandeln,das Politische« als eine dauerhafte Praxis in jeder Gesellschaftsformation zu veranke rn -
eine P ra x i s , die niemals mehr ein »leerer Ort« sei n kann -, sondern sie wirken sich auch auf di e Wei terentwic klun g der Kräfte und Verhältnis
se der materiellen E xi s tenzbed ingungen selbst aus . Das heiß t , sie w i r
ken auf das zurück, was sie konstituiert: sie haben ihre eigenen Wi r
kungen . Die spezifische po l iti sche Form , in der der »Kompromiß« m it
dem Staatsstreich 1 851 geschlossen wurde� ist sowohl für das Tempo al s auch für den Charakter der kapitalistischen Enrwicldung in Frank
reich wichtig. Sie beei n flu ß t sowohl das pol iti sche als auch das ökono
mi s ch e Leben der französischen Gesell schaft. Diese »Rückwirkung« der po l i ti s ch - ideo lo gi s ch e n Üb e rb au ten auf die ) Basis« bewegt sich
n icht in einem »luftleeren Raum« . Aber ihre genaue Richtung und Ten
denz i st nicht ausschl ießlich durch die Kräfte und Ve rhäl tni s se an der Basis, sondern auch durch die Kräfte u nd Verhältnisse des po li t i sch e n
Das »Politische« und das »Ökonomische«
45
und ideologischen Kampfes vorgegeben und durch al les was an ihnen spezifisch - relativ autonom ist. D ie Auswirkungen des Überbaus können auf die Entwicklung der Basis entweder fordernd oder bebin dernd »zurückwirken«. So schrieb Althusser, »daß der 'überdetermi nierte Widerspruch' überdeterminiert sein mag entweder im Sinn einer historischen Hemmung, einer echten Sperrung ( . . . ) oder im Sinn eines ,
revolutionären Bruchs, daß er sich aber unter diesen Bedingungen nie im 'reinen' Zustand darbietet. « (1968, 72f.) In seinem berühmten Brief an Conrad Schmidt sprach Engels genau diese Frage an und erklärte: »Die Rückwirkung de r Staatsmacht auf die ökonomische Entwicklung kann dreier lei Art sein: S ie kann in derse lben Richtung vorgehen , dann geht's rascher. Sie
kann dagegen angehn, ( . . . ), oder sie kann der ökonomischen Entwicklung be stimmte Richtungen abschneiden und andre vo rsch re ib en ( . . . )« (MEW 37. 490f.)
»Die Charakteristik der heiden Grenzsituationen«, so Althusser, »ist hier gut au fgeze igt 0968. 73, Fn. 32) . (Man beachte, daß d ieser Be griff von » Determinierung« sich von der weiter ausgebauten aber »for maleren( Konzeption einer Determination durch »strukturale Kausali tät« unterscheidet die Althusser und Balibar in Das Kapital lesen übernommen haben . Diese formalistischere Fassung war eine der. Hallptquellen der »theorizistischen Abweichung« Balibars . «
,
In der Einleitung zu den Grundrissen schreibt Marx, daß, sobald wir das Verhältnis zwischen den verschiedenen »Momenten« eines Prozes ses nicht mehr als ein identisches denken wir notwendig von Gliede rung s prec hen müssen (Grundrisse, 29) . Als Gliederung wird ein Be ,
ziehungstyp bezeichnet, in dem zwei Prozesse, die ihre jeweilige Spe z i fi k behalten und ihren eigenen Existenzbedingungen gehorchen, sich zu einem »komplexen Ganzen« verschlingen . Dieses Ganze ist daher das Ergebnis }) v i el e r Bestimmungen« , wobei die Existenzbedingungen d es einen nicht genau mit denen des anderen zusammenfaUen (Pol itik nicht mit Ökonomie, Zirkulation nicht mit Produktion) , auch wenn er steres der »bestim mte Effekt« des letzteren i st ; denn Politik und Zirku lation haben auch i h re eigenen inneren »Bestimmungen«. Die Beg riffe , die Marx
im
zum ersten Mal herausarbeitet und einsetzt - Bündnis, Block,. konstitutionelle For men, Regime, poli ti sch e Repräs entanten pol itisch e Ideologien od er , sind B eg ri ffe mit deren »Id een« , Fraktion en Gruppierungen etc. Hilfe wir die Komplexität dieser doppelten Determination denken können . Da diese politischen Formen und Verhältn isse ihrerseits durch die antagonisti schen Klassenverhältnisse der kapitalistischen Produ k tionsweise, in der sie auftreten , konstituiert werden, sind sie selbst die konkre te n Ob e kte der Praxen des Kla s senkampfe s - des KlassenAchtzehnten .Brumaire ,
,
-
,
»
j
«
46
Ausgewählte Schriften
kampfes auf der »politischen Bühne« . Der repräsentative Aspekt die
ses Verhältnisses wird durch den Ausdruck »Bühne« u nd d i e durchgän gige Dramaturgie der Darstellung im Achtzehnten Brumaire noch un
terstrichen . Diese Eben e ist in j eder entwickelten Gesellschaftsforma tion präsent, sie wird s tets auf d ie eine oder andere Weise »au sg efüllt « . Sie erfüllt für die Gesellschaftsformation als Ganzes eine »Funktion« ,
r \ 1I I
indem hier die Formen und Verhältnisse des PoE tis ch en auftauchen, in denen die verschiedenen Kapitalfraktio nen und ihre j eweiligen pol i t i schen Verbündeten kämpfen könne n - sowohl gegeneinander als auch
gegen die unterdrückten Klassen . Vermittels dieser Formen beherr
schen sie den Klassenkampf u nd bringen d ie KulturgeseH schaft , Poli tik, Ideologie und den Staat mit den breiten »Gmndbedürfnissen« der
sich entfaltenden Produktionswei se in Einklang. Aber diese »Bedürf nisse« ersch einen nie i n »Reinform« . Am Beispiel Großbritannien konnte Marx sogar sehen , daß die Hauptklassen des Kapitals nie in ihrer ganzen Pracht und vereint au ftreten , um selbst und in ihrem eige nen Namen »für das Kapital« »die Aufsicht über die Gesellschaftsfor m ation ,( zu übernehmen . Die Un terscheidu ng zwischen der »ökono
m isch her rsc hend en Klasse« und der » politi sc h führenden oder regie
renden Kaste« in den Schriften von Marx und Engels über Großbritan
nien wiederholt i n knapper Form die Unters chei du ngen , die im Acht zeh nten Brumaire ausführlich dargestellt wurden ; sie liefern den Schlüssel zur Entzifferung des Klassenkampfes i n Großbritannien :
Ii
»Die regierende Kaste ( . . . ) ist unter keinen Umständen mit der h err schenden Klasse i dentisch« (»Parties and Cliques«, in: Survey From Exile,
279) . Die pol itis ch e
Ebene bietet daher auch den notw endigen
Repräsentationsraum , in dem die Verhandlungen stattfinden , die Koa litionen und »labilen Gl ei chgewi ch te « ge b il d et und aufgelöst werden , die den )}Kapitalgesetzen« ihre einschläg.igen Ausw irkungen ermögli
chen. Folglich kann die Arbeiterklasse auch in diesem »Raum« - aber auch dessen spezifische Formen und Bez i eh u ng en nutzend - mit ihren politischen Kräften und Repräsentanten darum kämpfen , die Kap i tal macht zu kontrollieren, um so in einer günstigen politischen Situation die ökonomische S truktu r der Gesellschaft zu transformieren . Dabei
wird sie genau den Punkt zum Gegenstand ihres Kampfes machen, in dem sich d ie Struktur ve�dichtet - i n der Form des bü rg erl i chen Staa tes, das heißt in der politischen M a c ht . Wir dürfen uns also »den Klas senkampf« nicht so vorstellen , als seien die Klassen auf der Ebene des
Ö konom ischen zunächst als einfache und homogene Einheiten konsti tuiert und erst auf der Ebene d es Pohtischen gespalten . Die politische Ebene ist »abhängig« - determ iniert -, denn ihr )�Rohmaterial« stammt aus der Produktionsweise als Ganzer. In einem Prozeß der
,
I
Das »Poli tische« und dns
» 6konomische«
47
»Repräsentat ion « muß etwas zu repräsentieren sein. Aber die Konsti tuierung der Klassen ist ein komplexer Vorgang, der auf allen Ebenen der Gesellschaftsformation stattfindet - auf der ökonomischen, der politischen, der ideolog ischen . In der spezifischen Situation einer
konkreten historischen Fonnation den »Stand« des Krä fteverh ältni ss es zwischen den Klassen zu erfassen, bedeutet, die notwendige Komple
xität und die no twendi gen Verschiebungen in dieser »Einheit« zu erfas
sen . Nur in der einzigartigen Ausnahmesituation eines revolutionären Bruchs werden die In stanzen auf diesen verschiedenen Ebenen einan der entsprechen. Man kann also die »Einheit« des so konsti tuierten Klassenkampfes nur dann erfassen, wenn man die Klassenfrage in
ihrer widersprüchlichen Form begreift.
IV Zwanzig Jahre liegen zwischen dem Achtzehnten Brumaire und dem
Bürgerkrieg in Frankreich , wo Marx einige der damals entwickelten
Begriffe ausbaut. Die begrifflichen Weiterentwicklungen in d iesem
Text stehen in direktem Zus ammenhang mit einer revolutionären poli..
ti schen Ko nstellation, die einer ernsthaften Analyse bedurfte
(die Pari..
ser Kommune) , wie auch unter dem starken Einfluß der erneuten poli tischen Arbeit von Marx und Engel s im Rahmen der Internationalen (einschließlich des Kampfes gegen Ba kunin und die Anarchisten) . An
i
dieser Stelle können nur drei wkhtige Punkte aus dem politischen Schrifttum angeführt werden , die innerhalb der marxistischen Bewe
gung viel zu wenig bedacht und studiert werden . Der erste Punkt betrifft die absolute Notwendigkeit für die
Arbeiter
klasse, sich als »Partei« zu konstitu ieren , deren Ziel »die Eroberung
der politischen Macht« ist, deren Zweck das Zerbrechen des bürgerli
chen S taates und der Staatsmacht i st: dieses »nationale(n) Krieg swerk
z,eug (s) des Kapitals gegen die Arbeit« , dieser »öffentliche(n) Gewal t
zur Unterdrückung der Arbeiterklasse«, dieser »Maschine der Klas senherrschaft« ( ME W 17. 3 36f. ) . Diese »Lektion« wurde nachdruck
lich im Vo rwo rt zur deutschen
Ausg abe des Manifests von 1872 festge
halten : »Namentlich hat die Kommune den Beweis geliefert, daß die Arbeiterklasse nicht die fertige Staatsmaschine einfach in Besitz neh men und sie für ihre eignen Zwecke in Bewegung setzen kann .« (MEW
4 , 574) Die detaillierte A naly se der Kommune ist nicht nur Marx' aus
führlichste Schrift über die Fonnen der pol i tischen Macht des Proleta riats, sie enthält auch das entscheidende Argument für das , was Marx in s eine r Kritik des Gothaer Programms di e »revolutionäre Diktatur
des Proletariats« (MEW 19, 28) nennt , die ei nzige u nd notwendige
. !
48
Ausgewählte Schriften
Form , i n der die Arbeiterklasse »l ange Kämpfe und eine Reihe histori
scher Prozesse durchlaufen muß, in denen sie die Verhältnisse u nd die Menschen verändert. « (MESW, 291, aus dem eng! . Orig . übersetzt) In diesem Kontext kehrt Marx zu der bereits im Achtz.ehnten Brumai re
aufgeworfenen Frage zurück, welche Klassenkräfte du rch die Ge
stalt und Formation des Napol eonischen Staates repräsentiert wurden
und in wel ch er Beziehung die napoleonische »Lösung« zur ökonomi schen Entwicklung des Kapitalismus in Frankreich stand . Im Bürger
krieg in Frankreich a rbei tet Marx ausfüh r l ich die zunehmende Ver selbständigung der »zentralisierten Staatsmac ht« heraus (MEW 17,
3 36f. ) ; er faßt die konstituti onellen Formen der 1851er Krise zusam men, in denen diese Staatsm acht heranreifte und sich entwickelte -
das »objektive Werk« der Revolution und das poli ti s che Werk der Herr
schaft über die unterentw i ckelten Fraktionen, die es Napoleon ermög
lichten, das Werk zu vollenden.
Hier findet sich dje Grundlage für jen e Theorie, die den Staat als »Klassenstaat« faßt, als politische l1:rdichtung ; ei n e Theorie, der Lenin später zu einem so hohen SteUenwert verhelfen sollte (durch sei
nen Kmrunentar in Staat und Revolution zu den fragm enta ri schen Ein
sichten von Marx und Engels) . Auf eine der Konsequenzen� die diese
neue Theorie für un s er Verständni s vom Verhältnis
i schen dem poli
zw
ti s chen und dem ökonomi schen Aspekt des Klassenkampfes hat , we rd e ich sogl ei c h eingehen.
Marx zur Frage der »Repräsentation« zurück. Napoleo n , so schreibt e r, �gab vor, sich auf die Bau ern zu stützen , auf Zunächst aber kehrt
jene große Masse der Produ zen ten , die nicht u nm i t te lba r in den Kampf zw i schen Kapital und
Arbeit verwickelt waren{{
(MEW
17,. 337) . Die
ses Klasseni nteresse, d as scheinbar außerhalb des unmittelbaren
Schauspiels der Hauptklas sen stand , diente dazu, das vermeintliche Kampfgeschehen zu bestätigen
-
es sicherte seinem Staat�streich den
Schein der Autonomie. D am it war es ihm möglich , seine po l i tisch e In tervention als Verw irklichung des »)AHgemeininreresses« auszugeben - eine klassische ideo1ogische Funktion des Staates -, als »Repräsen
tation« aller Klassen (weil sie keine einzelne vertrat) , »der Nation«.
N ap ol eon s Intervention �gab ( . . . ) vor, all e KJ as sen zu vereinigen durch die Wied e r belebung de s Trugbildes des n ati o nalen Ruhms« (ebd . , 338) .
Marx weist dann darauf hin, auf welche Weise und warum d i ese po
litische Lösungsform mit d em direkten Kräfteverhältnis im Zentrum
Weise, als eine Repräsenta »In Wi rklichkei t war e s die einzig
des Kampfes verknüpft war: auf indirekte
tio n , als ihre eigene Zurückstellung.
Das » Politische« und das »Ökonomische«
49
mögliche Reg i erungsform zu einer Zeit, wo die Bourgeoi sie die Fähig
keit, die Nation zu beherrschen , schon verloren und wo die Arbeiter klas s e di ese Fähig kei t noch nicht erworben hatte. « (Ebd. ) Die »Zu
rückstellung'« einer politischen Lösung, die auf dem politischen Feld al s ei ns tweili ge aber verschobene »Herrschaft« einer abwesenden Kl a s s e auftritt (einer Klasse, die nicht in ihrem eigenen Namen auftre ten konnte) , war eine Fonn , die dem unterentwickelten Stand der Klas
senverhältnisse in der kapitalistischen Produktion Frankreichs ent sprach (aber kei ne swegs »unmittelbar« ) . D enn dieses »labil e Gleic hge
wicht« war die
Bed i ngung dafür, daß der
der Gesellschaft schweben«
zugleich auch
(338)
Staat »schei nbar hoch über .
konnte - als Verkörperung, aber
Maskierung des Klassenkampfes. Und in genau dieser Form - der Fonn eines »nationalen Kriegswerkzeugs des Kapitals gegen die Arbeit« (337) - entwickelte sich der Kapitali smus in Frank reich, natürlich mit all seinen widersprüchlichen
Auswi rkungen.
Diese Ausw irkungen zei gen sich noch heute in der eigentümlichen Form des �Etatismus«, in de r sich die kapitalis tische Entwicklung in der französischen Gesellschaftsformation manifestiert hat. Deutlicher lassen s ich die mäc htigen Auswirkungen des Politi schen
auf das Öko Und ebenso deutlich zeigt sich , daß das Poli ti
nomische kaum zeigen . sche und das Ökonomische miteinander verkoppelt sind , aber nicht im
S i n ne
einer identischen Beziehung.
In d iesem Zusammenhang sollten wir erwähnen, daß Marx zu einer
Manifest zurückkehrt , die wir oben angeführt haben, und e in en Punkt klars tellt , der - im Licht des Achtzehnten Brumaire - zu gl ei ch eine notwendi ge Korrektur ist. In seiner Kritik des Gothaer Pro Stelle im
gramms geht Marx auf Lassalles Fehlinterpretation ein , alle anderen
Klassen bildeten gegenüber der Arbeiterklasse »nur eine reaktionäre
Masse« (MEW 19, 22) ( das heißt, die These von der »Vereinfachung der
Klas s en im politischen Kampf) . Er führt zur KlarsteIlung zwei «
Punkte an. Erstens wiederholt er, daß die Bou rgeoisie au fgrund ihrer
hi storis chen Rolle »als Trägerin d er großen Industrie« zu der revolutio�
nären Klasse gegenüber den feudalen Klassen wurde. Auch das Prole
tariat erhält seine revolutionäre Stellung durch seine objektive Lage. Das aber heißt nicht, daß man alle anderen Klassen auf einen Haufen . zusammenwerfen kann . Die Überreste der feudalen Kla s sen können obj ektiv reaktion är sein , aber �}sie bilden ( . . . ) nicht zusammen mit der
Bou rgeoisie nur eine reaktionäre Masse« (ebd . , 23) . Das h eißt , kurz ges.a gt: Die pol iti sche Analyse erfordert eine Theorie der komplexen
Formierung von Klassenfraktionen zu Klassenbündnissen. Diese Bündnisse und nicht eine u ndefinierb are Verschmelzun g ganzer
i I I
Ausgewählte Schriften
50
Klassen - konstituieren das Terrain des politischen Klassenkampfes. - Marx und Engel s b etonen immer wieder - auf Grundlage der The sen der Internationale - die Notwendigkeit »der politischen Bewe
gung« als Mittel zur »ökonomischen Emanzipation der Arbeiterklasse«
(Rede auf der Feier zum siebten Jahrestag der Internationale, MEW 17,
432) . Je mehr die Theorie des Staates und die der zentralen Bedeutung der Staatsmacht für die Expansion des Kapitalismus weiterentwickelt wurde, desto wichtiger wurde die Ro He de s po litischen Kampfes im
Vorfeld der » S ozia len Revolution« . Fernbach hebt zu Recht hervor,. daß M arx und Engel s keine Theorie der korporativen Formen des politi schen und ökonomischen Kampfes der
Arb ei terklas se
ausgearbeitet
haben . Und er hat recht, wenn er ihr Fehlurteil über das Wesen der Ar beiterbewegung in Großbritannien dieser theoretischen Lücke zu
schreibt ( Fernb ach 1973, 22-24) . Man muß si ch schon Lenins Polemik
gegen Martynow u nd die »Ökonomisten« zuwenden, um eine adäquate
Theoretisierung dieser Tendenz zu erhalten. Das gesamte Kapitel über
»Trade-unionismus und sozialdemokratische Politik« in Lenins Was
tun ? sqllte im Zusammenhang mit diesem Problem gelesen werden
denn die Verwirrung, der Lenin dort entgegentritt, ist heute eher noch
gewach sen (LW 5, 409-455) . Leni n demontiert überzeugend die An sicht, daß der Kampf, der auf
wird,
der Ebene des Ökonomischen geführt
das (wie Martynow erklärt hatte) »weitest anwendbare M ittel«
sei , nur weil die Formen und Ergebnisse des Klassenkampfes in letzter
Instanz durch die ökonomischen Grundlagen und Verhältnisse
be
stimmt werden. Lenin nennt diese Behauptung die »Quintessenz des
Ökonomismus«; und diese Besti mmung führt ihn zur Analyse des kor
porativen Charakters eines Kampfes, der sich auf den Kampf »für gün stige Bedingungen des Verkaufs der Arbeitskraft, für die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeit« beschränkt , was
di
rekt ins Zentrum des sozialdemokratischen Reformi smu s und »Ökono
m ismus« führt - zu dem »gründlich gelehrten (und 'gründlich' oppor tunistischen) Ehepa a r Webb« und zu den englischen Gewerkschaften (ebd . , 471) . Lenins I nterventi on (und die folgende Weiterentwicklung
seiner Position im Rahmen seiner Im peri a lismustheor ie) markiert
weitaus klarer als die Marxsche den Schaden , der - von Marx und von späteren Marxisten - dadurch angeric htet wurde, daß sie den seI ben Beg riff - »das Ökonomische«
dazu
benutzten,
zwei völlig unter
schiedliche Dinge zu bezeichnen : die Produkti on sverhältnisse und
Produktivkräfte der Prod u ktio n swei se und de n Ort der Praxen und Kampfformen , deren spezifischer Gegenstand ökonomische Bezi e
hungen sind (wi e etwa A rbeitsbedi ngungen oder Lohn) .
Das >,Politische« und das »Ökonomische«
51
v Zum Schluß will ich kurz skizzieren , wie wir diese Begriffe und ihre Auswi rkungen au f d ie Kon sti tuierung von Klassen und Klassenkampf fassen könnten . »Hauptbegriff« ist der Begriff der Produktionsweise. Die »Produkti onsweise« ist zunächst die begriffliche und analytische Matrix, die es uns erlaubt, die Grundstrukturen der Verhältnisse zu denken, in denen die Menschen - unter bestimmten historischen, de terminierenden Bedingungen - ihre materiellen Lebensbedingungen produzieren und reproduzieren. Sie besteht aus »Kräften...< und »Ver hältnissen« - was allerdings nur eine zusammenfassende Formulie rung ist. Mit diesen scheinbar simplen Bestimmungen werden ver schiedene Gruppen von Verhältnissen erfaßt: Verhältnisse sowohl zwi
schen den Agenten der Produktion und ihren Werkzeugen als auch unter den Produktionsagenten selbst: die technische und gesellschaftli che A rbeitsteilung unter den sich entwickelnden kapitalistischen Be dingungen, wobei Marx dem »Gesellschaftlichen« gegenüber dem »Technischen« den Vorrang gibt. Aber die »gesellschaftlichen« Ver hältnisse sind nicht einfach : Sie verweisen sowohl auf das Eigentum an den Produktionsmitteln,. die Organisation des tatsächlichen Arbeits prozesses und auf die Macht, Menschen und Produktionsmittel auf be
stimmte Weise miteinander zu kombinieren. Unsere Zusamme nfa s sung des
13.
Kapitels des Kapital über »Ma
schinerie und große Industrie« sollte ausreichend gezeigt haben, auf
wel che verschi edenen Gruppen von Verhältnissen, in verschiedener Kombination , die griffige Formel »Kräfte und Verhältnisse« hinweist. Hinzuzufügen wäre noch das »korrespondierende Verhältnis« zwi
schen Zirkulation und Austausch , das den Kreislauf zur Reali sierung des Kapitals vervollständigt . Wenn wir sagen , der Begriff » Produk tionsweise« sei zunächst eine analytische Matrix , dann meinen wir damit nur, daß Bedingungen und Verhältnisse, Orte und Umstände näher bestimmt sein müssen , wenn wir einen Vorgang als »Produktio n unter kapitalistischen Verhältnissen« erkennen wonen . E r bezeichnet d ie zentralen Orte und Räume, auf die die Produktionsagenten und
-mittel verteilt werden und wo sie miteinander kombiniert werden müssen , damit di e kapitalistische Produktion voranschreiten kann . Er bezeichnet die ökonomische Struktur des Kapitalismus, als den zentra l en Ort de s Klassenverhältnisses, weil hier jede Position antagonisti sche Beziehungen beinhaltet . A ntagonismen, für die Marx in de r Ana
lyse im Kapital die »Personifikationen« von Kapitalist und Lohnarbei ter anführt. Die Klassenpositionen beinhalten keine Bestimmung »ganzer« Klassen als empirisch einheitlicher Gruppen von Männern
Ausgewählte Schriften
52
und Frauen ; sie verweisen vielmehr auf eine Funktion . Wie
jede
du rchdachte Theorie über die Anatomie von Klassen i n verschiedenen Phasen der kapitalistisc h en Entwicklung eindeutig ze igt , können Klas sen in bez ug auf ihre Funktion zumindest einige ihrer Positionen ver schieben , oder, anders ausgedruckt , sie können sozusagen �Funktio nen« auf beiden S ei ten des Klassenantagonismus ausüben . Dieser Punkt spiel t zum Beispiel bei der Bestimmung der neuen Mittelklassen eine große Rolle, die nicht alle. aber einige Funktionen sowohl des »we1tweiten Kapital s « als auch »des Gesamtarbeiters« (um Carchedis Begri ffe einmal zur Ill u stration zu b enutzen , Carchedi 1975) ausüben . In der tatsächlichen , konkreten Funktionsweise einer spezifi schen Produktionsweise in einer historisch konkreten Gesellschaft oder Gesellschaftsformation und in jeder spezifi schen Phase ihrer Ent wicklung ist also die Ko nstituierung von Klassen bereits auf dieser
»ökonomischen« Ebene ein kompl exer und in einigen , zum Tei l ent scheidenden Aspekten widers prüch li cher Vorgang. Die Vorstellung, wir kö nnten irgendwie du rch die Verwendung des Begriffes der »Pro duktionsweise« empirisch-konstituierte, »einheitliche Klassen« auf der
Ebene des Öko n om ischen zu Tage fördern , ist unhaltbar. Es gibt noch zwei weitere Gründe, warum das so sein muß. E rsten s erscheinen in realen , konkret-histori sehen Gese l lschaftsformationen die Produktionsweisen nicht s elbständig und in » reiner Form« . Sie sind stets mit vorangegangenen und untergeordneten Produktionsweisen und de ren korrespondierenden politischen u nd ideolo gischen Verhält nissen
-
auf komplexe Weise verknüpft, womi t jede Tendenz einer
»rei nen« Produktionsweise, eine Reihe von »reinen« Klassen zu produ zieren , durchkreuzt und überdeterminiert wird . Der zweite Grund wurde bereits angesprochen . Gesellschaftsforma tionen beste he n nicht ausschließ] ich aus miteinander verknüpften Pro
duktionsweisen, sie enthalten i m mer auch Überbauverhältnisse
das
Politische, das Juristische, das Id eol ogi s c he . Und da diese nicht bloße
Blüten der »Bas is« sind, haben sie auch eigene Auswirkungen - si e kompli zieren die Konstituierung der K1assen zusätzlich . Sie haben in zweierlei Hinsicht einen überdeterminierenden E ffekt : Zum einen
haben das Politische, das Juristische und das Ideologische Auswirkun
gen innerhalb dessen , was wir grob »das Ökonomische« nennen. In be sti mmten Phasen der kapitali stischen Entwicklung faHen das reale und
das rechtliche E ig entu m an den Prod u ktio nsmittel n zusammen . Aber
im Mono pol kap i tal is mu s fallen die beiden Funktionen zum Bei sp i el
nicht z usammen . Das Körperschaftseigentum kann juristisch ges,ehen gesellschaftlichen Gruppen »gehören« , die aber nicht die » real e«
·
Das " Politische« und das »Ökonomische«
53
Macht besitzen , die Instrumente dieses Eigentums in der Produktion einzusetzen . Zum anderen aber haben das Politische, Juristische und Ideologi sche auch ihre eigenen Auswirkungen , wie· sie auch ihre eige nen bestimmten Existenzbedingungen haben, die nicht auf »das Öko
nomische« reduzierbar sind. Wie wir zu zeigen versucht haben, sind
sie zwar aufeinander bezogene, aber » relativ autonome�< Praxen, und
damit die Orte bestimmter Formen des Klassenkampfes mit ihren eige nen Kampfzielen, die selbst wiederum relativ u nabhängig auf die »Basis« zurückwirken. Deshalb haben die Formen, in denen Klasse,
Klasseninteresse und Klassenkräfte auf jeder dieser Ebene auftreten,
keineswegs notwendig ein und dieselbe Bedeutung oder entsprechen einander. Das Beispiel der Bauernschaft, Napoleons, der Pattsituation zwischen den Hauptklassen , der Expansion von Staat und Kapital im
Achtzehn ten Bnmtaire sollte uns genügend von der Nicht-Unmittelbar keit, der Nicht-Transferierbarkeit zwischen beiden Ebenen überzeugt haben . Die Verallgemeinerbarkeit der Theorie über Klassen und Klas senkampf in ihren verschiedenen Aspekten wird von unserer Fähigkeit abhängen , die globale Auswirkung dieser komplexen, widersprüchli chen Auswirkungen zu erfassen. Das impliziert die These von der
Nicht-Homogenität der Klassen, einschließlich etwa der Nicht-Homo genität des Kapitals, einem Kürzel für die verschiedenen Kapitalfor men . Seine innere Zusammensetzung und jeweils unterschiedliche Stellung im Kreislauf führt. dazu, daß es selbst auf der ökonomischen
Ebene kein einheitliches, eindeutiges )�Interesse« verfolgt Von daher ist es höchst unwahrscheinli ch , daß es auf der politischen Bühne als
einheitliche Kraft auftritt, ganz zu schweigen davon, daß es auf der
ideologischen Ebene erscheinen könnte, wenn es sich sozusagen
»selbst dazu entschlo ssen hat« . In den vorangegangenen Kapiteln , habe ich versucht nachzuzeich
nen , wie MarK bei d en Bestimmungen dieser »)Nicht-Homogenität« an
langte und dann , wie er sie begrifflich ausfüllte. Um die prakti sche Re
l evanz dessen zu sehen, brauchen wir nur an die Zeiten in der jüngeren
europäischen Gesch i chte zu denken, in denen »das Kapital« auftrat und
seine unwiderstehliche i deologische Gewalt aus übte. indem es (um zwei Bilder aus dem Achtzehnten B ruma ire zu benutzen) sich die
. Maske des Kleinbürgertums aufsetzte bzw. sich in das Gewand des Kleinbürgertums kleidete (der Klasse, die, frei nach Marx , nichts zu . verlieren hatte als ihre moralische Rechtschaffenheit) . Diese ideologischen Verschiebungen und Maskierungen sind kei
neswegs auf die Vergangenheit beschränkt. Man könnte die ökonomi sche und politische Situation in Großbritannien seit den frühen 60er
54
Ausgewählte Schriften
Jahren als eine sich vertiefende Krise der ökonomischen Strukt u ren b egre ifen , die auf der politischen Ebene ihren »natürlichsten« Aus
druck in der Form einer Labo ur-Regi erun g annimmt
eine paradoxe
Situation , in der die in Krisenzeiten vom Kapital am m ei sten favori sierte Partei die »Partei der A rbeiterklasse« ist , Das mag a ber auch mit dem zu tun haben , was d ie se Partei tut, wenn sie an der Macht ist : Sie
hält sich fast wörtlich an die Be sch reibung, die Marx im Achtzehnten Bru11Ulire vo n der hi storischen RoUe der Sozialdemokratie gegeben
h at : Sie verlangt »demokrati sch-republikanische Institutionen als Mit te) (. , . ) , nicht um zwei E xtre me , Kapital u nd Lohnarbeit, aufzuheben ,
sondern u m ihren Gegensatz abzuschwächen und i n Harmonie zu ver wandeln« (MEW 8, 141) . Wenn die Sozialdemokratie versucht, sowohl dem Kapital zu di en e n als auch die A rbei ter ldasse zu vertreten , dann
gesch ieht das oft dadurch, daß s ie das » AHgemeininteresse« zum Prin zip ihrer :M.acht erhebt : In der Rhetorik der Sozialdemokratie erscheint d i eses Interesse d an n in d er i deo log i sc hen Personifikation »des Konsu
menten«. Auf der anderen Seite der pa rla menta ri s ch en Szene sehen
wir d ie Thatcher-Führung, wie sie s i ch auf d ie M a cht vorbereitet und einen autoritativen Massenkonsens konstitui ert, indem sie versucht, das Kapital i n d e r »ehrwürdigen Verkleidung u nd mit der erborgten Sprach e« , mit den »N amen, Parolen und Kostümen« e in e r verschwin
denden Klassenfraktion zu »vertreten« - denen der kleinen »Ladenbe
sitzer«. Das mag zwar anachronistisch anmuten, i st aber nichtsdesto we ni ger effektiv. Für 'j eden, der versucht, den roten Faden zu finden,
der diese wider streitenden Erscheinungen im Kl as se n kampf verbin
det, kann es wohl kein zwingenderes Arg ument für die Entwicklu ng
einer Theorie des Klassenkampfes geben . U nd zwar einer Theorie, der »Ei nheit« dieser wi der sprü chl i chen und verschobenen Repräsentatio nen der Klassenverhältnisse auf verschiedenen Ebenen oder in ver schiedenen Instanzen : des Ökonomischen, des Politischen , des Ideo]o
gi schen . Kurz , es geht um die Notwendigkeit einer marxistischen Theorie d er Repräs entation , der Darstellung . In dem Bemühen , auch den letzten Funken von Reduktionismus aus dem Marxismus zu verbannen , scheint Hirst die These der Nicht
Übertragbarkeit, der N ic h t - Homo genität zwischen den ökonomischen
und po 1 iti s c h en Ebenen des Klassenkampfes in ihr extremes Gegenteil
zu verkehren . Daraus folgt Hi rsts verwegene Formulierung der » not we nd ige n Nicht-Entsprechung« - ein Begriff, der sich e rheb li ch von
dem der »nicht notwendigen Entsprechung« unterscheidet. Und mir sch ein t, der Unterschied zw ischen beiden ist der zw ischen Autonomie und relativer Autonomie. » Rel ative Autonomie« s che i nt - im Hinblic k
Das ),Politische«
und das »Okonomische«
55
auf die von uns untersuchten Texte - die Richtung auszugeben , in der Marx die komplexe Einheit einer Gesellschaftsformation denkt (wobei
Komplexität und Einheit g1eichermaßen wichtig sind) . »Autonomie« oder die »notwendige Nicht-Entsprechung« dagegen, scheint mir aus dem theoretischen Rahmen des Marxismus vollständig herauszufallen. Marx gelangte - so haben die von mir untersuchten Passagen gezeigt - nicht auf irgendeine einfache. reduktionistische oder vereinheitli chende Weise zur Vorstellung der Nicht-Entsprechung. Er entwickelte die Begriffe, mit deren Hilfe wir in den historisch spezifischen Kon
stellationen die Verschiebungen denken können. Ebenso klar ist, daß
Marx - wie auch Althusser (1975) offen anerkannt hat - nach wie vor
die ökonomische Struktur als »determinierend« denkt, wenn auch nicht im reduktionistischen Sinne, und daß damit das
_ .
neue und ori
ginelle - Problem einer »Einheit« aufgeworfen wurdet die sich nicht
als eine einfache oder reduktionistische fassen läßt. Diese doppelte Be wegung ist das Thema des Achtzehnten Brumaire.
Dieses Theorem braucht die marxistische »Topographie« von Basis und Überbau . Ohne sie verliert der Marxismus seine Spezifik und wird zu etwas anderem
zu einer Theorie der absoluten Autonomie
von aUem und j edem . Im Lichte dieser fortdauernden Debatten schien es sinnvoll zu untersuchen , wie Marx selbst das Feld des Essentialis mus und der Vereinfachung verlassen hat und wie er gezwungen wurde, Begriffe zu entwickeln, die es ihm - und im Gefolge uns - ,er möglichten , die notwendig komplexe Praxis des Klassenkampfes zu begreifen.
Übersetzung: Gabriela Mischkowski
56
Antonio 'Gramscis Erneuerung des Marxismus
und ihre B edeutung für die Erforschung von »Rasse« und Ethnizität
Teil I Im folgenden möchte ich näher bestimmen., was ein Studium Gramscis zur Erforschung des Rassismus und zur Entwicldung von neuen Be griffen und Paradigme n auf di e sem Feld beitragen kann. In meinen
Augen ist Gramscis Werk keine universelle Sozialwissenschaft, mit de r man die sozialen Phänomene in Gesellschaften unterschiedlichster h i
storischer Epochen analysieren kann . Sein möglicher Nutzen i s t be schränkter,. dennoch bleibt sein Beitrag fruchtbar und wichtig. Er be weg t sich im marxistischen Paradigma , aber er hat viele Aspekte die
ses theoretischen Gedankengebäudes erneuert, weiterentwickelt und
überarbeitet , um es für di e gesellschaftlichen Realitäten des 20. Jahr
hunderts nutzbarer zu machen . Bevor wir ein inhaltliches Resümee
ziehen und die th eo reti s chen Leistungen Gramscis ei n s ,chätzen. kön
nen , müssen wir die Frage nach dem Status seines Werkes
no c h
weiter
klären .
Gramsci war nie ausschließlich ein Theoretiker. Er hat nie berufs mäßig als Wissenschaftler oder Gelehrter gearbeitet . Von Anfang bis Ende blieb er ein politischer Intellektueller und sozialistischer Aktivist
i n der politischen Szene Italiens. Seine theoretischen Arbeiten hat er
· aus diesem o rgan isch en Engagement für die Gesellschaft seiner Zeit en twic kelt .
Er wol lte nicht einem abstrakten akademischen Zweck die-
nen , sondern theoretisches Wissen für die Fundierung der politischen
Praxis bereit stellen . Alles kommt darauf an , die Ebene, auf der die Begriffe Gramscis operieren , nicht mißzuverstehen . Zuallererst sah er sich als j emanden , der im weit gesteckten Rahmen des historischen Materialismus arbeitet , wie er i n der Tradition der marxistischen Schule von Marx und Engels und in den ersten Jahrzehnten des 20.
Jahrhunderts von Leuten wie Lenin , Rosa Luxembu rg,. Trotzki , Togliatti etc. ausgearbeitet wurde. (Ich führe diese Namen an , um
G ram sc i s Bez ug srahmen innerhalb des marxi stischen Denkens aufzu zeigen , und nicht etwa , um seine Posi ti o n
zu
diesen Pe rs onen
zu
be
stimmen . Das wäre ein weit komplexeres Unterfangen . ) Das hei ßt, alle
theoretischen Weiterentwicklu ngen , Verfeinerungen., Überarbeitun
gen , Fortschritte, weitergehenden Gedanken , neuen Begriffe und eige
nen FonnuHerungen Gramscis operieren innerhalb der weit gefaßten
57
Gramscis Erneuerung des Marxismus
Grenzen des Marxismus und müssen 50' gelesen und verstanden wer den. Dennoch war Gramsci nie ein Marxist im doktrinären, orthodo xen oder »religiösen« Sinn . Er wußte, daß der allgemeine Bezugsrah men der Marxschen Theorie ständig erweitert und den von Marx und Engels nicht vorhersehbaren neuen historischen Bedingungen und ge sellschaftlichen Entwicklungen angepaßt werden mußte. Gramscis Werk ist also weder eine »Fußnote« zu dem schon fertigen Gebäude des orthodoxen Marxismus noch eine zirkuläre, rituelle Be schwörung l ängst bekannter »Wahrheiten« . Er prakti ziert einen »offe nen« Marxismus, der viele Einsichten der marxistischen Theorie auf die neuen Fragen und Entwicklungen hin weiterentwickelt. Er bringt vor allem neue Begriffe ins Spiel, die im klassischen Marxismus ni cht enthalten waren , ohne die aber die komplexen gesellschaftlichen Phä norn en e unserer modernen Welt nicht verstanden werden könn�n. Gramscis Werk hat nicht den Status einer allgemeinen sozialwissen schaftlichen TheO'rie, wie etwa die Arbeiten solcher Gründungsväter, wie Max Weber oder Emile Durkheim. Es existiert auch nirgends in einer solchen erkennbaren, allgemeinen, zusammenhängenden Form . Der Hauptteil s ein er theoretischen Ideen findet sich verstreut in Essays . und in seinen polemischen Schriften (er war aktiver und produktiVier pol itis cher Journalist) und natürlich in der großen Sammlung von Hef ten, die er, ohne Zugang zu Bi"liO'theken oder anderen Quellen, wäh rend seiner erzwungenen Freizeit in MussO'linis Gefängni s in Thrin (1928-33) oder, nach seiner Entlassung (allerdings schon todkrank)., in . der Formia-Klinik (1934-35) geschrieben hat. 1 ..
Gramscis G edanken sind nicht nur in verschiedenen S chriften ver
streut, auch die Texte sind häufig eher fragmentarisch als durchgear beitet und »fertig« . Er schrieb O'ft unter den schlechtesten Bedingun .gen, z . B. unter dem wachsamen Auge des Gefangniszensors, ohne Bü cher, um sein Gedächtnis aufzu fris chen Unter diesen Umständen stel len die K!erkerhefte eine be merkenswerte intellektuelle Großtat d;ar. Trotzdem waren die »Kosten« die ser Produktionsweise, bei der er nie mals die Möglichkeit hatte., zu den Texten zurückzugehen, um sie nacb kritischer Reflexion abzurunden, beträchtlich . Die Hefte bestehen aus Notizen - kürzeren oder längeren -, die aber ni cht zu ei nem ausgear beitete n Diskurs o der einem kohärenten Text verwoben sind .. Manche seiner Hauptargum ente finden sich außerhalb des H aupttextes in lan gen Fußnoten Einige Passagen sind neu formuliert worden, aber ohne daß es Anhaltspunkte dafür gäbe, welche der vorhandenen VersiO'nen Gramsci für d en »definitiven« Text hielt. .
.
58
Ausgewählte Schriften
Als ob dieser »Fragmentcharakter« uns nicht mit genügend Schwie rigkeiten konfrontieren würde, erscheint Gramscis Arbeit noch in einem tieferen Sinn fragmentarisch . Er hat die Theorie immer benutzt ,
um ko n krete , historische Fälle oder politische Fragen zu beleuchten ;
er hat über umfangreiche Konzepte unter dem Gesicht spun kt nachge dacht, wie sie für konkrete, spezifische S ituationen nutzbar gemacht werden könnten . Info lgedessen erscheint Gramscis Werk manchmal zu
konkret, zu historisch-spezifisch , zu »)beschreibend« ana 1ytisch , zu zeit- und kontextgebunden , sein Bezugsrahmen zu eng begrenzt .
Gerade seine inspirierendsten Ideen und Formulierungen sind i n die ser typischen We i se kontextgebunden . Um a l lgemeineren Nutzen dar aus zu ziehen , müssen sie vorsichtig aus ihrem spezifischen , h istori schen Zusammenhang herausgenommen und mit besonderer Sorgfalt und Gedu1d in neuen Boden verpflanzt werden .
Ei n ig e Kriti ker haben behauptet, Gramscis Begriffe operierten auf
dieser Konkretionsebene, weil er weder die Zeit noch d i e Lust gehabt
hätte, sie auf ein höheres Niveau begrifflicher Allgemei nheit zu h eben - auf das erhabene Niveau , auf dem »theoretische Ideen« vermeint Hch zu wirken haben . Daher haben Althusser und Poulantzas unabhän
gig voneinander vorgeschlagen , die nicht ausreichend theoretisierten Texte Gramsci s zu ))theoreti sieren« . Diese Sichtweise sch e i nt mir Ver
feh1t. Wir müssen hie r aus epistemologischer Sicht a rgumentieren , um
zu verstehen , daß theoretische Konzeptionen auf sehr verschiedenen
Abstraktionsebenen operieren und daß dies oft beabsichtigt ist. Es kommt darauf an , die eine Abstraktionsebene nicht mit der anderen zu
verwechsel n . Wir setzen uns schwerwiegenden Fehleinschätzungen aus, wenn wir versuch en, Konzepte, die für ein höheres Abstraktions
n iveau entwickelt wurden , auf eine niedrige Konkretionsebene zu
übertragen , a] s würden sie dort automatisch dasselbe theoretis che
Re
su ltat produzieren . Im allgemejnen waren Gramscis Begriffe explizit für die »unteren« historischen Konkretionsebenen konzipiert . Er zielte
nicht auf das »Höhere« und verfehlte sein Ziel . Im Gegenteil : wir mü s sen diese h i storisch-konkrete Beschreibungsebene als Form verstehen , i n der G ramsci s ich auf den Marxismus b ezog . Wie wir eingangs gesagt haben, blieb Gramsci in dem Sinne Mar
xist, daß er seine Ideen innerhalb der ma rxistischen Theorie ent wi ckelte. Konzepte wie ))kapitalistische Produktionsweise« , »Produk
tivkräfte« und "Produktionsverhältnisse« waren sein Ausgangspunkt.
Diese Begriffe waren von Marx auf der allgemeinsten Abstraktions
ebene entwickelt worden . Das heißt, sie erlauben uns, d i e allgemei nen Prozesse zu begreifen � die die kapitalistische Produktionsweis e
Gramscis Erneuerung des Marxismus
59
- reduziert auf ihre g rundleg endsten Merkmale - aufjeder Stufe und in jedem Augenblick ihrer Entw i cklung organisieren und struktu rieren . Diese Begriffe sind »epoc ha l « , was i hre Reichweite und ihr Bezugs
system angeht Aber Gramsci wußte, daß ein Theoretiker gezwungen
ist, von der Ebene der » Produktionsweise« auf konkretere Bedeutungs ebenen herabzusteigen,. sobald er diese Begriffe auf spezifische histo
rische Gesellschaftsformationen, auf konkrete Gesellschaften, die sich
in einem bestimmten Entwicklungsstadium des Kapitalismus befin den, anwenden will . Dieser »Abstieg« erfordert nicht lediglich detail l i ertere historische Spezifikationen , sondern , wie Marx selbst gesagt hat , die Entwicklung neuer Begriffe und weiterer Determinationsebe nen, zusätzlich zu denen, die bloß das Ausbeutungsverhältnis von Ka pital und Arbeit betreffen. Denn dieses dient nur dazu , die Besonder heit der »kapital isti schen Produktionsweise« auf ihrem höchsten Ab straktionsniveau zu bestimmen. In der » Einleitung in die Grundrisse« von 1857, in der Marx seine Methode am genauesten ausgearbeitet hat , steHte er sich die »Produktion des Gedankenkonkretums« als eine Schrittfolge analytischer Annäheru ng e n vor, bei der in jedem Schritt
zusätzliche Bestimmungen zu den zwangsläufig s kel ettartigen und ab
strakten Begriffen hinzugefügt werden . Er war der Meinung , daß wir
das Konkrete nur in so1chen aufeinander aufbauenden Abstraktionse-:
benen denken können . Den Grund sah er darin, daß die konkrete Rea lität aus vielen »Bestimmungen und Beziehungen« (MEW 13, 631) be steht, denen sich die Abstral1:ionsebenen, in denen wir zu denken pfle gen , nur schrittweise gedanklich annähern können (vgl. zu diesen Fra gen Hall
1977) .
Wenn Gramsci das allgemeine Feld der entwickelten Marxschen Be
grifflichkeit (w ie es zum Beispiel im »Kapital« vo rl iegt) verläßt und zu spezifischen histori schen Zusammenhängen übergeht , kann er daher nach wie vor innerhalb ihres Bezugssystems arbeiten. Aber wenn er
beginnt, im einzelnen, sagen wir die italienische poli tische Situation
der 30er Jahre oder die sich verändernden , komplexer werdende.n , de mokratischen Klassengesell schaften des »Westens« nach dem Imperia lismus und dem Entsteh en der M as sendemokratie zu untersuchen ; oder wenn er die s pez ifischen Unterschiede zwischen »östli chen « und » westl ichen« Gesellschaftsformationen in Europa, oder den Politiktyp,
der den au fkommenden faschistischen Kräften etwas entgegen setzen kann , untersucht, oder wenn er d ie neuen Politikfo rmen zei gt , die der modeme kapitalistische Staat entwickelt , dann s ieht er die Notwendig
keit , die MarKSehen Be g ri ffe anzupassen, weiter zu entwickeln und sie
60
Ausgewllhlte Schriften
durch neue, eigenständige zu e rgllnzen . Erstens, weil Marx seine An strengungen darauf konzentrierte, seine Begriffe auf der höchsten Ab straktionsebene (vgl . das »Kapital«) und nicht auf der konkreten h i sto rischen Ebe ne zu entwickeln . (So gibt es z . B. keine wirkliche Analyse der besonderen Strukturen des englischen Staates im 19. Jahrhundert, obwohl es anregende Hinweise gibt.) Zweitens, weil die historischen Bedingungen , unter denen Gramsci schrieb, nicht dieselben waren,. wie die, unter denen und für die Marx und Engels geschrieben haben . (Gramsci hatte einen scharfen Sinn für die historischen Bedingungen theoretischer Produktion.) Drittens, weil Gramsci spürte, wie notwen dig theoretische Konzepte auf genau der Ebene waren , auf der die theoretische Arbeit von Marx arn unvollständigsten und skizzenhafte sten war, z . B was die Analyse spezifischer, historischer Wendepunkte oder die pol itischen und ideologischen Aspekte angeht - Dimensio nen , die der klassische Marxismus bei der Analys.e von Gesellschafts fonnationen stark vernachlässigt hat. Diese Gesichtspunkte helfen uns nicht nur, Gramsci innerhalb der marxistischen Tradition zu verorten , sondern sie machen auc h deut lich, auf welcher Ebene das Werk Gramscis positiv anzusiedeln ist . In ihm werden vor allem neue theoretische Entwürfe, Ideen und Paradig men entwickelt, die die politischen und ideologischen Aspekte von Ge sellschaftsformationen in der Periode nach 1820 betreffen. Gramsci hat niemals die entscheidenden ökonomischen Verhältnisse, die Grundlage der Gesell schaft, vergessen oder vernachlässigt. A ber zu die ser Analyseebene hat er relativ wenig E igenstä ndiges beigetragen . Er hat j edoch enorm viel beizutragen zu den darauf aufbauenden , häu fig vernachlässigten Bereichen wie Politik, Ideologie und Staat: der Charakter verschiedener Typen politischer Herrschaft, die Bedeutung der Kultur und national popularer Fragen sowie die Rolle der Zivilge sellschaft in dem sich verschiebenden Gleichgewicht unterschiedlicher gesellschaftlicher Kräfte waren Gegenstand seiner Untersuchung. Er i st einer der ersten schöpferischen, unabhängigen, marxistischen Theoretiker der historischen Bedingu ngen, die in der zweiten Hälfte. des 20. Jahrhunderts bestimmend geworden sind. Dennoch kann Gramscis eigenständiger Beitrag, insbesondere was den Rassismus betrifft, n ich t ohne weiteres als Ganzes aus dem Kon text seiner Arbeit herausgerissen und übertragen werden . Gramsci hat nicht darüber geschrieben , was Rassismus, Ethnizität und ",Rasse« heute bedeuten und wie sie sich heute darstellen . Genausowenig hat er eine tiefgreifende Analyse der kolonialen Erfahrungen mit dem Impe rialismus vorgelegt, aus denen sich so vi e l e Erfahrungen und Verhält-
Gramscis Erneuerung des Marxismus
61
nisse entwickelt haben, die für den Rassismus in der modernen Welt charakteristisch sind . Er beschäftigt sich vor allem mit seinem Hei
matland Italien und darüber hinaus mit den Problemen des Aufbaus des Sozialismus im westlichen und östlichen Europa, mit dem Schei tern der Revolution in den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften Westeuropas, mit der Bedrohung durch das Aufkommen des Faschis mus in der Periode zwischen den Kriegen und mit der Rolle der Partei bei der Gewinnung von H egemonie Oberflächlich gesehen mag dies .
so erscheinen, als gehöre Grarnsci zur erlesenen Zunft der sogenann ten »westl ichen Marxisten« , wie Perry Anderson sie definiert hat,. die
zu den großen Problemen in der nicht europäischen Welt oder zur »un -
gleichen Entwicklung« zwischen den imperialistischen, herrschenden
Nationen des kapitalistischen »Zentrums« und den weltweit kolonisier
ten Ländern der Peripherie nichts Wesentliches zu sagen haben, weil
sie befangen sind in ihrer Beschäftigung mit den »entwickelteren« Ge sellschaften . . Liest man Gramsci in dieser Weise, macht man den Febler, ihn zu
bucbstabengetreu zu Jesen . Doch genau so liest ihn
-
mit einigen Ab
strichen - Anderson . Wenn Gramsci auch nicht direkt über Rassis mus schreibt , können uns seine theoretischen Entwürfe bei unseren Versuchen , die Adäquathei t bestehender theoretischer Paradigmen in diesem Bereich zu durchdenken, doch nützlich sein . Auch hatten seine eigenen Erfahrungen und sein e persönliche Entwicldung ebenso wie
seine Arbeitsschwerpunkte viel mehr mit diesen Fragen zu tun, als es
auf den ersten , oberflächlichen Blick scheinen mag. Gramsci wurde
1891 in Sardinien geboren. Sardinien stand in einer »kolonialen« Be
ziehung zum italienischen Festland. Seinen ersten Kontakt mit radika
len, sozialistischen Ideen halte er im Zusammenhang mit dem wach senden sardischen Nationalismus, der von den Truppen des italieni
�·
schen Festlandes brutal unterdrückt wurde. Obwohl er nach seinem
U rnzng nach rurin und durch sein Engagement in der Thriner Arbei
terklasse seinen frühen »Nationalismus« ablegte, verlor er doch nie
mals seine in den ersten Jahren gewonnene Anteilnahme an den Pro
. blemen der Landarbeiter und sein Interesse für die komplexe Dialektik von Klassenlage und regionalem Faktor (vgl. Nowell-Smith/ Hoare
1971) . Gramsci war sich der scharfen Trennungslinie bewußt, die den sich industri alisierenden und modernisierenden »Norden« Italiens vom l ändlichen , unterentwickelten und abhängigen Süden trennte. Er trug
sehr viel zu der als »Süditalienische Frage« bekannt gewordenen De batte bei . Es ist ziem1ich sicher, daß er bei seiner Ankunft in Thrin die
Ausgewählte Schriften
62
sogenannte »Südländer-Position« einnahm. Zeit seines Lebens blieb er an den Beziehungen der Ungleichheit und Abhängigkeit zwischen »Norden« und »Süden« interessiert . Er beobachtete die komplexen Be ziehungen zwischen Stadt und Land , Bauern und Proletariat, Klientel system und offenem Arbeitsmarkt , feudalen und industriellen gesell schaftlichen Strukturen . Er kannte das Ausmaß, in dem die von den Klassenverhältnissen diktierten Spaltungen mit den quer dazu liegen� den Beziehungen regionaler, kulturell er und nationaler Unterschiede durchsetzt waren. Als Gramsci , einer der Gründer der itaHenischen kommunistischen Partei , 1923 den Titel
Unita
für die offizie1le Parteizeitung vorschlug,
war sein A rgument: »Weil wir der Frage des Südens besondere Auf merksamkeit schenken müssen .« In den Jahren vor und nach dem Er sten Weltkrieg vertiefte er sich in jeden Aspekt des politischen Lebens der Turiner Arbeiterklasse. Dadurch erwarb er intime Kenntnisse über eine der
am
weitesten entwickelten Formationen des indu striellen »Fa
brik«-Pr91etariats i n Europa . Er war ununterbrochen innerhalb dieses fortgeschrittenen Sektors der modernen Arbeiterklasse aktiv : zuerst als politischer Journalist i n der Redaktion der Wochenzeitung der so ziali stischen Partei »I] Grido DeI Po polo« (Der Schrei des Volkes) , dann als Aktivi st während der Welle von Unruhen (den sogenannten »roten Jahren«) in Turin bei den Fabrikbesetzungen und der Organisie rung von Arbeiterräten, schließlich , bis zur Gründung der Kommuni stischen Partei Ita1 iens, als Herausgeber der Zeitschrift »Ordine Nuovo« (Die neue Ordnung) .. Darüber hinaus dachte er weiterhin über Strategien und Formen po1itischer Aktion und Organ isation nac h , die die verschiedenen Kämpfe vereinheitlichen könnten . Er verfolgte die Frage, welche Basis sich in den vielfältigen Bündnissen und Beziehun gen zwischen den verschiedenen sozialen Schichten finden ließe, auf der ein spezifisch italien i scher, moderner Staat aufgebaut werden könnte. Die Beschäftigung mit Fragen der regionalen Besonderheiten,
der sozialen Bündnisse und der sozialen Fundamente des Staates sind unmittelbare Anknüpfungspunkte für Problemstellungen,
die wir
heute mit dem Stichwort »Nord-Süd«- oder » Ost-West«-Beziehung be zeichnen würden. Die frühen 20er Jahre begannen für Gramsci mit der schwierigen Aufgabe, eine Theorie neuer Parteiformen zu entwickeln und einen Entwicklungsweg für die besonderen nationalen Bedingungen Italiens zu finden , in Opposition zu dem Druck , der von der sowjeti sch domi nierten Komintern ausging. Daraus ergab sich schließlich der wichtige Beitrag, den die italienische KP zur Theoretisierung der »nationa len
Gramscis Erneuerung des Marxismus
Besonderheiten« geleistet hat. Diese
63
:BeSO'nderheiten bestanden in den
sehr unterschiedlichen Bedingungen , unter denen sich die westlichen und ö stlichen Gesellschaften historisch entwickelt hatten. Bis zu sei ner Verhaftung und Einkerkerung durch die Schergen Mussolinis 1929 richtete sich Gramscis Augenmerk vorrangig auf die wachsende fa schistische Bedrohung, und sie bestimmte daher auch den Inhalt s,einer Arbeiten . (Diese und andere biographische Einzelheiten sind in der ausgezeichneten Einführung in die Prison Notebooks von Nowell Smith/ Hoare 1971 nachzulesen .) Obwohl Gramsci also nicht direkt
über das Problem des Rassismus geschrieben hat, gibt es bedeutsame re Verbindungslinien zwischen den zentralen Themen seines Werkes
und zeitgenössischen Fragestellungen als ein erster, flüchtiger Blick auf seine Schriften nahelegen würde. Diesen Verbindungslinien und ihrer Produktivität bei der Suche nach angemesseneren Begriffsbil dungen in unserem Forschungsfeld wenden wir uns j etzt zu. Ich werde
versuchen , einige der zentralen Konzeptionen Gramscis, die in diese
Richtung weisen , zu erläutern,
Teil II Ich beginne mit einem Thema , das in gewisser Weise, wenn man chro nologisch an Gramscis Werk herangeht, mehr gegen Ende s eine s Le� hens auftaucht : Mit seinem unerbittlichen Angriff auf jede Spur von ÖkonorrUsmus und Reduktionismus im klassischen Marxismus. Wenn ich von Ökonomismus spreche, meine ich nicht _ wie ich hoffentlich ..
.
schon deutlich gemacht habe -, daß man die wichtige Rolle vernach lässigen soll , die die ökonomische Grundlage einer Gesellschaftsord nung spielt, oder daß die Bedeutung, die den ökonomischen Verhält nissen bei der Formung und Strukturierung des gesamten gesellschaft lichen Lebens zukommt , unterschätzt werden sollte. Ich meine einen bestimmten theoretischen Ansatz , der dazu neigt, in den ökonomi schen Grundlagen der Gesellschaft den einzigen determinierenden
Faktor zu sehen . Alle anderen Dimensionen der Gesell schaftsforma
tion werden als reine Spiegelbilder des »Ökonomischen« auf einer an
deren Artikulationsebene gesehen , die selbst keine strukturierende Kraft hat . Um es vereinfacht zu sagen , reduziert dieser Ansatz alle phänomene einer Gesellschaftsformation auf die ökonomische Ebene und denkt alle Typen sozialer Beziehungen als direkte und unmittelba
re Entsprechungen des Ökonomischen . Das läßt die .in mancher Hin s icht problematische Engelssehe Formulierung, das Ökonomische sei »in letzter Instanz bestimmend« , auf das reduktionistische Prinzip zu
sammenschrumpfen , das Ökonomische bestimme unmittelbar in der
64
Ausgewählte Schriften
ersten , mittleren und letzten Jnstanz . In diesem Sinne i st der » Ökono mismus« the o ret i s cher Reduktionismus. Er simpl ifi z ie rt die Struktu
ren einer Gesellschaftsformation , indem er ihre komplexen , horizonta len und ve rtikale n Beziehungen au f e i n en einzigen Determi nation s zu
sammenhang r ed uz i ert . Das Konzept der »Determiniertheit« selbst (das bei Marx eine sehr ko mpl exe Idee ist) wird auf eine bloß mechani
sche Funktion reduziert . Sämtliche Verm itt lungsstufen zwischen den ve rsc h iede n e n
Ebenen einer Ges e l l sch aft werden eingeebnet . G esell
schaftsformationen werden als einfache »expressive Totalität« (um mit Alth u sser zu reden) gedacht , i n der jede Artikulationsebene der ande ren entspricht u nd deren Struktur von Anfang bis Ende transp arent ist .
Ich zögere nic h t zu sagen , daß d i es eine gigantische B ana l i si e rung und
Simplifizierung des Marxschen Werks ist - genau die Art von Simpli fi zierung, die einst Marx dazu verzweifelt sagen ließ: »Wenn das Mar xismus ist, bin ich kein Marxist. « Dennoch finden sich in den Marx
sehen Schriften sicherlich A nha l tspu n kte , die in diese Richtung wei
sen . Der ökonomistische Ansatz i st der orthodoxen Version des Mar xismus sehr nahe, d ie zur Zei t der Zweiten Internationale ka noni s iert
wurde und die sogar oft noch heute für d ie rei ne Lehre des klassischen Marx ismus gehalten wird . Eine solche Theorie der Gesellschaftsfor
mation und der B ez ie hu ngen zwischen den verschiedenen Artikula
t io n se ben e n läßt (das sollte klar sein) wenig oder gar keinen Raum, um politische D i mensi one n zu denken, gesc hwei ge denn , daß damit ande
re Formen gesellschaftlicher Differe nzierung oder Wider sprü c he ge dacht werden könnten , w i e sie im Zusammenhang mit >l>Rasse«, Ethni
zität, Nati onal i tä t un d Ge schl echt ents teh en . Gramsci widersetzte sich von Anfang an diesem
Öko nom i s mus
und
po le m isierte in späteren Jahren unentwegt gegen dess en kanonische Einbindung in die klassische marxistische Tradition . Zwei B e is p i e l e
aus z wei ver schi edene n Arbeitsgebieten m ü ssen genügen, um d i esen Punkt zu iU u stri eren : In seinem Essay »Der moderne Fürst« diskutiert
Gramsci , wie man einen bestimmten his tori sch e n Zu sammenh ang an a lys i ert . An d ie Ste11 e des red uktioni sti schen Ansatzes, der die po l iti s c he n u nd ideo logi sch en Entwicklungen einfach von ihren ökonomi
sc hen Bestimmungen ablesen würde, se tzt er einen sehr v i el komple xeren und differenzierteren Anal ysetyp . Dieser geht nicht von einer einseitigen Determination aus , sondern beruht auf ei ner Analyse der
»Kräfteverhältnisse« und .zielt darauf ab, die »vers ch iedenen Momente oder
Stufen« (D326, I1583) der Entwicklung i n einem solchen Zu sam
m enh ang zu u n tersc heid en (statt sie als identisch zusammenfallen zu lassen) . Diese analytische Aufgabe spi tzt er in der Fo nnu l ie rung z u ,
I ·
Gramscis Erneuerung des Marxismus
65
es gehe um »den entscheidenden Übergang von der Basis zur Sphäre des komplexen Überbaus« (D327, 11584). Er setzt sich entschieden gegen jede Tendenz ab, den politischen und ideologischen Überbau auf die ökonomische Basis zu reduzieren . Für ihn ist das der w ichtigste
Angelpunkt im Kampf gegen den Reduktionismus. Um die Kräfte, die in einer bestimmten historischen Epoche wirksam sind , richtig zu ana lysieren und die Beziehungen zwischen ihnen zu bestimmen, muß man sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen Basis und Überbau genau zurechtlegen. (D323, 11578) Er fügt hinzu , Ökonomismus sei ein in adäquater theoretischer Weg, um dieses Beziehungsgeflecht zu begrei fen. Gramsci tendiert unter anderem dahin, eine Analyse, die auf den »unmittelbaren Klasseninteressen« beruht (mit der Frage: »wer profi tiert unmittelbar davon?«), zu ersetzen durch eine vol lständigere, rei cher strukturierte Analyse »ökonomischer Klassenformationen ( . . . ) mit an den darin enthaltenen Beziehungen , « (D314 , 11593) Er sch lägt
vor, auszuschließen , daß »unmittelbar ökonomische Krisen von selbst tiefgreifende Ereignisse zur Folge haben«. (D330, 11587) Heißt das, die Ökonomie spielt keine Rolle bei der Entstehung historischer Krisen? Keineswegs. Aber ihre RoHe besteht eben darin , den »Boden zu berei ten , auf dem bestimmte Denkweisen, eine bestimmte Art, Fragen zu stellen und zu lösen gedeihen kann, von der die gesamte weitere Ent wicklung des Staatslebens abhängt« . (Ebd .) Kurz: Bevor man n icht ge zeigt hat, wie die »objektiven ökonomischen Krisen« sich konkret ent wickeln , wie sie vermittels der sich verändernden sozialen Kräftever
hältnisse zur Krise von Staat und Gesellschaft und zu ethisch-politi schen Kämpfen und politischen Ideologien werden , die die Weltan schauung der Massen beeinflussen, hat man keine angemessene Ana lyse vorgenommen , die in dem entscheidenden und unumkehrbaren »Übergang« von der Basis zum Überbau wurzelt. Die unmittelbare Unfehlbarkeit, die der ökonomische Reduktionismus mit sich bringt; ist, so Gramsci , »billig zu haben« , Sie ist theoretisch bedeutungslos und von äußerst geringer politiSCher Tragweite und prakt ischer Wirk samkeit. Im allgemeinen produziert sie weiter nichts als Moralpredig. ten und endlose Fragen nach der Rolle der Personen . (D317, 115%) Die Konzeption basiert auf der .ehernen Überzeugung, es gäbe in der Ge schichte objektive Entwicklungsgesetze, ähnlich den Naturgesetzen und auf dem Glauben an eine fatalistische Teleologie ähnlich der reli
giösen (D318, 11596). Zu dieser VerfaBserscheinung., die l aut Gramsci «
fälschlicherweise mit dem historischen Materialismus identifiziert worden ist, gibt es nur eine Alternative: »die Hegemoniefrage konkret
zu stellen« .
66
Ausgewählte Schriften
Die allgemeine Stoßrichtung der Argumente in diesem Abschnitt zeigt. daß viele Schlüsselbegriffe und charakteristische theoretische Entwürfe Gramscis (z . B. Hegemonie, die Analyse der sozialen Kräfte verhältnisse) von ihm bewußt als Barriere gegen ökonomistisch-reduk tionistische Tendenzen in einigen Spielarten des Marxismus gedacht waren . In seine Kritik am »äkonomismu s « bezog er auch verwandte Tendenzen innerhalb des Marxismus ein , wie Positivismus, Empiris mus, »)Scientismus« und Objektivismus. Dies wird noch deutlicher in »Probleme des Marxismus«, einem Text, der ausdrücklich als Kritik am impliziten »Vulgärmarxismus« in Bucharins Theorie des histori schen Materialismus, Gemeinverständliches Lehrbuch der marxisti schen Soziologie (Hamburg 1921) geschrieben wurde. Bucharins Buch
wurde 1921 in Moskau veröffentlicht, hatte sehr viele Auflagen und 'wurde oft als Beispiel für den »orthodoxen« Marxismus zitiert (obwohl Lenin die Bemerkung machte, Bucharin habe von Dialektik leider keine Ahnung) . In » Kritische Bemerkungen zu einem Versuch , Sozio logie zu popularisieren« führt Gramsci einen scharfen Angriff gegen die epistemologischen Voraussetzungen von Ökonomismus und Positi vismus und die falsche Suche nach wissenschaftlichen Garantien . Sie gründeten aUe, argumentiert er, auf dem fal schen positivistischen Mo dell , demzufolge Entwicklungsgesetze der Gesell schaft und der menschlichen Geschichte nach dem Muster einer »Objektivität« funk tionieren, von der die SozialwissenschaftIer annahmen (zu Unrecht� wie wir heute wissen) , sie beherrsche die Welt der Naturwissenschaf ten . Begriffe wie »Regelmäßigkeit« , ))Gesetzmäßigkeit« , ) Notwendig keit«, »Gesetz« und »Determination�< dürfen laut Gramsci nicht al s »na turwissenschaftliche Ableitungen« gedacht werden, sondern als Aus arbeitung von Konzepten , die auf dem Boden der politischen Ökono mie gewachsen sind. Unter dem »determini.erenden Markt« sind also i n Wirklichkeit »determinierende soziale Kräfteverhältnisse innerhalb einer determinierenden Struktur des Produktionsapparates zu verste hen , wobei dieses Verhältnis garantiert wird (das heißt stabilisiert wird) durch einen bestimmten politischen, moralischen, juridischen Überbau« (D20I , Il477) . Die Ersetzung der alten durch diese neue Formulierung macht den Übergang von einer analytisch reduktiven , schwachen , positivistischen Formel zu einer komplexeren Theoretisie rung im Rahmen der Sozialwissenschaften deutl ich . » Der (als wesent liches Postulat des historischen Materialismus behauptete) Anspruch , jede Bewegung in Politik und Ideologie als unmittelbaren Ausdruck der Basis vorführen und auslegen zu können , muß als theoretischer In fantilismus zurückgewiesen und praktisch , mit Hilfe des authentischen Vermächtnisses von Marx , dem Autor so vieler konkreter, politischer
Gramscis Erneuerung des Marxismus
67
und historischer Arbeiten bekämpft werden.« (DI99f. , 1871) Diese Richtungsverschiebung, die Gramsei innerhalb des marxistischen Ter rains erreichen wollte, wurde sehr selbstbewußt vollzogen und war für die Stoßrichtung seines ganzen nachfolgenden Denkens entscheidend. Ohne diesen theoretischen Ausgangspunkt kann die komplizierte Be ziehung Gramscis zur Tradition marxistischer Gelehrsamkeit nicht richtig bestimmt werden . Wenn Gramsci die Simplifizierungen des Reduktionismus zurück wies, wie versuchte er selbst eine adäquate Analyse der sozialen For mation zu entwickeln? Hier könnte uns ein kurzer Abstecher helfen, wenn wir vorsichtig vorgehen. Alth usser (der stark von Gramsci be einflußt wurde) und seine Mitarbeiter haben in »Das Kapital lesen« (1972) eine wichtige Unterscheidung gemacht zwischen dem Begriff der Produktionsweise einerseits, der die ökonomischen Grund verhält nisse bezeichnet, die eine Gesellschaft charakterisieren, aber eine ana lytische Abstraktion ist, weil keine Gesellschaft lediglich durch ihre Ökonomie funktionieren kann - und der von ihnen so genannten »Ge sellschaftsformation« an derersei ts Mit di esem Begriff wollten sie dem Gedanken zum Durchbruch verhel fen , daß· Gesellschaften notwendi gerweise komplex strukturierte Totalitäten mit unterschiedlichen Arti kulationsebenen sind (den ökonomischen, politischen , ideologischen Instanzen in jeweils unterschiedlicher Zusammensetzung) ; wobei jede Zu samm ens ezung eine andere Konfiguration der sozialen Kräfte er gibt und damit einen anderen gesellschaftlichen Entwicklungstyp. Als Kriteriu m für eine »Gesellschaftsformation« gaben die Autoren an , es könnten in ihr verschiedene Produktionsweisen gleichzeitig existieren . Aber obwohl das richtig ist und wichtige Konsequenzen haben kann, (besonders für die nach-kolonia1en Gesellschaften, wie wir später sehen werden), i st dies meiner Meinung nach nicht das wichtigste Un terscheidungskriterium. Betrachtet man »Gesellschaftsfonnationen« , dan n behandelt man komplex s tru k tu ri e rte Gesellschaften, die sich aus ökonomischen , politischen und ideologischen Beziehungen" zusam mensetzen, deren unterschiedliche Artikulationsebenen keineswegs einfach aufeinander verweisen, oder s ich ineinander » spiegeln« , son dern sich - um mit Althussers (1965) treffender Metapher zu sprechen überdeterminiere n . Diese kom pl exe Struktur von unterschiedlichen Artikulationsebenen , nicht bloß die Existenz von mehr als einer Pro duktionsweise, macht den Unterschied zwischen dem Begriff der » Produktionswei s e« und dem notwendigerweise konkreteren und hi sto risch spezifischen Begriff der »Gesellschaftsformation« . Nun, dieser Begriff steht für die Konzeption, auf die Gramsci s ich bezog: Etwa, wenn er sagte, das Verhältnis zwischen Basis und Über.
t
_
Ausgewählte Schriften
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bau bzw. der Durchgang jeder organischen historischen Bewegung durch die gesamte Gesellschaftsformation , von der ökonomischen
Basis bis zur Sphäre der ethisch-politischen Verhältnisse, müss,e das Herzstück
j eder
Analyse sein .
nicht-reduktioni stischen ,
Diese Frage zu stellen und
nicht-ökonomistischen
zu lösen , hieß eine Untersu
chung durchzuführen, d i e wirklich darauf beruhte, die komplexen Be
ziehungen der Überdetermination verschiedener sozialer Praxen in
jeder GeseUschaftsformation zu begreifen . Diesem Prinzip folgte Gramsci , als er in »Der moderne Fürst« seine s pezifische Methode,
»Situationen zu analysieren« , skizzierte. Die Einzelhei ten sind vielfal
tig und können hier nicht in ihrer ganzen Vielschichtigkeit ausgeführt
werden , aber es lohnt sich , die Umrisse zu ze ichn en , und sei es nur, u m sie mit dem ökonomistischen bzw. reduktionistischen Ansatz zu vergleichen . Er hielt diese Schrift für »eine grundlegende Darstellung der Wissenschaft und Kunst der Politik« , die verstanden werden sollte als ein »Satz praktischer Regeln zur Forschung und zu r detaillierten Beob achtu ng , mit dem das Interesse an der wirklichen Realität wieder geweckt und radikalere, wirksamere politische Erkenntnisse ausgelöst
werden« könnten (D322, 11561) . Diese D ars tel 1 u ng , so fügte er hinzu ,
müsse strategischen Charakter haben. Zuallererst müsse man die Grundstruktur - die objek tiven Verhältnisse
in
einer Gesellschaft
-
oder den »Stand der Produktivkraftentwicklung« verstehen , denn diese" setzt die wesentlichen G renzen und Bed ingungen für die Art u nd Weise
menschlicher Entwicklung. Aus dieser Grundstruktur entwickeln sich einige der HaupUendenzen , die
möglicherweise
diese oder jene Ent
wicklungsrichtung begünstigen . Der Fehler des Reduktionismus be· steht nun darin , diese Tendenzen und Zwänge unmittelbar in von ihnen vollständig determinierte politische und ideologische Effekte zu über
setzen ; oder alternativ dazu , sie als abstrakte »eherne Gesetze der Not
wen di gkeit « zu be gr eifen . In Wi rkl i ch ke i t strukturieren und determi
nieren sie nur insofern , als sie das Feld abstecken , auf dem die histori
schen Kräfte sich bewegen - sie definieren den Horizont der Möglich keiten . Aber sie können weder in letzter noch in erster Instanz den In halt der poli t i s ch en und ökonomi s ch en Kämpfe vollständig definieren und noch viel wen iger das Ergebnis solcher Kämpfe objektiv fixieren
oder garantieren . Der nächste Analyseschritt besteht darin, » o rgani sche« »h isto ri s che Entwicklungen« , d ie relativ lang anhaUen und tief i n die Gesellschaft eindringen ,
von
eher »gelegentlichen, s ch nellen , fast
zu fäll igen Entwi c klungen « zu unterscheiden . In diesem Zusammen
hang erinnert uns Gramsci daran , daß eine »Krise«, wenn sie organisch
ist,. »Jahrzehnte andauern kann« . (D324 , Il579f. ) Sie ist kein statisches Phänomen , sondern gekennzeichnet durch ständige Bewegungen und
Gramscis Erneuerung des Marxismus
69
Gegenbewegungen, durch Kämpfe etc. , die den Versuch verschiedener Seiten darstellen, die Krise zu überwinden oder zu lösen , und zwar in einer Weise, die ihre jeweilige Hegemonie langfristi g begünstigt . Die theoretischen Gefahren liegen, so Gramsci , darin , »Ursachen als un
mittelbar wirksam darzustellen , die in Wirklichkeit nur indi rekt wir ken, oder die unmittelbaren Ursachen für di e einzig wirksamen hal ten«. Das erste führt zu einem »exzessiven 'Ökonomismus' «, das zwei te zu einem »exzessiven 'Ideologismus' «. (D324, nS80) (Gramsci war besorgt über das besonders in Zeiten der Niederlage fatale Oszillieren
zwischen den beiden Extremen , die in Wirklichkeit nur das jeweils verkehrte Spiegelbild des anderen sind.) Er war weit davon entfernt zu glauben, irgendei n Gesetz der Notwendigkeit werde mit »gesetzesähn
licher« Sicherheit dafür sorgen , daß die ökonomischen U rsachen sich
unmittelbar i n politische Folgen verwandel n . Er insi stie rte darauf,
eine Analyse könne nur dann nützlich und »wahr« sein, wenn die ihr
zugrundeliegenden Annahmen zu einer neuen Realität würden (vgl . ebd . ) . Die Ersetzung der positivistischen Gewißheit durch die Kondi tionalfom1 i st hier entscheidend. Als nächstes hob Gramsci hervor, daß Länge und Komplexität von
Krisen nicht mechanisch vorausgesagt werden könnten, sondern sich über längere h i storis che Abschnitte, Per ioden hinweg e ntwi ckelten .
Perioden relativer »Stabilität« und Perioden schneller und umwälzen
der Veränderungen wechselten sich ab. Infolgedessen sei die Periodi sierung ein Schlüsselaspekt der Analyse. Dies entspricht dem vorher erwähnten Interesse an der historischen Spezifik. »Gerade das Studi um dieser 'Intervalle' unterschiedlicher Frequenz macht es möglich, auf der e i nen Seite die B eziehungen zwischen Basis und Überbau und
auf der anderen die zwischen organischen und ko nju nkturel len Ent
wicklungen an der Basis zu rekonstruieren . « (D326, 11582) Es geht dabei nicht darum, etwas Mechanisches oder gesetzmäßig Vorge schriebenes zu »studieren« . Nachdem er so die G ru ndlage n für eine dynamische historische
Rahmenana]yse gelegt hat, wendet er sicb den Bewegungen der histori
schen Kräfte - den KräfteverhäHnissen zu , die das aktuelle Feld poli tischer und sozialer Kämpfe und Entwicklungen ko nstituieren . Hier führt er einen wichtigen Gesichtspunkt ein : Es geht weder darum, nach dem absoluten Sieg der einen Seite über die andere,. noch nach
der totalen Einverleibung eines Teils der gesellschaftlichen Kräfte du rch den anderen zu suchen . Es m uß also nach einer bestimmten Re
lation gefragt werden , und zwar vor dem Hintergrund eines labilen Gleichgew ichts bzw. eines ständigen Prozesses des Auf- u nd Abbaus
70
Ausgewählte
Schriften
instabiler K räftegleichgewichte. Die zentrale Frage lautet: Inwiefern sind »die Kräfteverhältnisse für die eine oder für die andere Seite gün
stig . « (D326, I1582f. ; Hervorh . d . Verf. ) Die Betonung der Begriffe
»Beziehung« , »Verhältn is« und »labiles Gleichgewicht« eri nnert uns
daran , daß soziale Kräfte, die i n einer bestimmten historischen Periode unterlegen sind , nicht vom Kampfplatz verschwinden ; auch der Kampf ist u nter diesen Bedingungen nicht ausgesetzt . So ist zum Beispiel die Vorstellung eines »absoluten« und totalen Sieges der Bourgeoisie über die A rbeiterklasse, oder die einer totalen Integrati on der Arbeiterklas se in das bürgerl iche Proj ekt, Gramscis Definition von Hegemonie vöBig fremd - in gelehrten Kommentaren wird j edoch häufig das eine mit dem anderen verwechselt. Es kommt immer auf das tendenzielle Gleichgewicht de r Kräfte an .
Gramsci differenziert dann verschiedene Stadien der »Kräfteverhält nisse« . Er untersteHt keine notwendige teleologische Evolution zwi schen ihnen . Die erste Differenzierung hat mit der Einschätzung der obj ektiven Bed i ngu ngen zu tun , die den verschiedenen gesellschaftli
chen Kräften i hren Platz zuweisen. Die zweite bezieht sich auf ein po l i tisches Stad ium: auf den »Grad der Homogenität, der Selbsterkennt nis und auf den Organisationsgrad , den die gesellschaftlichen Klassen j ewei l s erreicht haben« (D327, Il583) . An dieser Stelle ist es wicht ig
festzuhalten , daß die sogenannte Einheit der Klasse nie a priori u nter
s tel1t w i rd . Es wird davon ausgegangen , daß Klassen , obwohl ihnen be
s timmte, ähnliche Existenzbedingungen gemeinsam sind , gleichzeiti g
durch gegensätzliche Interessen gespalten sind und im Zuge ihrer hi storischen Formierung segmentiert und fragmentiert wurden . Die Ein heit der Klasse schließt a l so notwendigerweise Vielfalt ein und muß erst produziert werden
als Resultat spezifischer ökonomischer, poli
tischer und ideologischer Prozesse. Sie kann sich niemals automatisch herstellen oder als » gegeben« vorausgesetzt werden . In Zusammen
hang mit d ieser radikalen Historisierung der tief im Herzen des funda mentalistischen Marxismus verankerten mechanischen Klassenkon zeption entwickelt Gramsci Marx' Unterscheidung zwischen der »Klasse an sich« und der »Klasse für sich{( weiter. Er bestimmt die un terschiedlicheI1 Stadien , die das Klassenbewußtsei n . der Organisa tionsgrad und die Einheit der Klasse unter bestimmten Bedingungen durchlaufen. Da ist das »ökonomisch korporative Stadium«, in dem bestimmte Berufsgruppen gemeinsame Grundinteressen erkennen, aber kein Bewußtsein weitergehender Klassensolidarität h aben . Dann gibt es das »klassen-korporatisti sche« Stadium, in dem sich Klassenso l i darität aufgrund gleicher Interessen entwickelt, aber nur im
ökono-
!'
Gramscis Erneuerung des Marxismus
71
mischen Bereich. Schließlich gibt es das Stadium der »Hegemonie«, das die korporativen Schranken einer rein ökonomischen Solidarität überwindet und beginnt , sich » in der Gesellschaft auszubreiten« , die Interessen anderer unterdrückter Gruppen einzubeziehen, sowohl in tell ektuelle und moralische als auch ökonomische und politische Ein
he it zu schaffen , die »Fragen zu formulieren, um die die Kämpfe ent brannt sind ( ) und so die Hegemonie einer zentralen gesellschaftli . . .
chen Gruppe über eine Reihe untergeordneter Gruppen herzustellen« (D327f. , 11584) . Dieser Prozeß, in dem die dominante Gruppe ihre In teressen mit den allgemeinen Interessen anderer Gruppen und mit dem Staatsgefiige als ganzem koordiniert, kon s tituiert die »Hegemonie«
eines bestimmten » historischen Blocks«. Nur in solchen Momenten einer »national-popularen
E i nhe it«
wird die Formierung eines,. wie
Gramsci es nennt, »kollektiven Willens« möglich . Gramsci erinnert uns jedoch daran, daß selbst dieses außergewöhnliche Maß organi scher Einheit den Ausgang der jeweiligen Kämpfe nicht garantiert.
Sie
können gewonnen oder verloren werden aufgrund bestimmter aus schlaggebender, taktischer Entscheidungen und des politisch-militäri schen Kräfteverhältnisses. Aber er besteht darauf, daß » die Politik
Vorrang vor dem militärischen Aspekt hat und daß nur sie die Mög lichkeiten für militärische Manöver und Fortschritte schafft. « (D343) Dre i Bemerkungen zu dieser Formulierung : Erstens i st »Hegemonie« ein sehr außergewöhnlicher, historisch spezifischer und vorübergehen
»Augenblick« im Leben einer Gesellschaft. Denn selten wird ein solcher Grad an Einheit erreicht, der es einer Gesellschaft ermöglicht,
der
u nter Führung einer bestimmten Formation oder Konstellation gesell schaftlich er Kräfte eine neue historische Epoche zu beginnen. Es i st unwahrschein1ich , daß solche Perioden des »Ausgleichs« ewig andau ern. Sie existieren keinesfalls automatisch weiter. Sie müssen aktiv konstruiert u nd erhalten werden . Krisen markieren den Beginn ihrer Auflösung. Zweitens müssen wir in Betracht ziehen , daß Hegemonie
sich auf viele Dimensionen und Bereiche bezieht. Sie kann nich t nur an einer Kampffront errichtet und erhalten werden (z. B. im ökonomi schen Bereich) . Hegemonie haben bedeutet, eine ganze Reihe von »ge
sellschaftlichen Positionen« gleichzeitig zu besetzen . Diese Vormacht stellung ist nicht e infach Resultat von Zwang oder Unterdrückung. Sie
ist das Ergebnis eines Prozesses) in dem ein beträchtliches Maß an Zu stimmung im Volk gewonnen wurde. Sie ist also ein Zeichen für einen
hohen Grad an sozialer und moralischer Autorität, nicht nur bei ihren
unmittelbaren Anhängern. sondern in der Gesellschaft als Ganzes.
Diese Autorität und die Anzahl u nd Vielfältigkeit der Bereiche, in
d enen d ie »Führung« übernommen wird, ermöglicht einige
Zeit lang
72
Ausgewählte Schriften
die Ausbreitung eines intellektuellen, moralischen, politischen und ökonomischen kollektiven Willens in der ganzen Gesellschaft. Drit tens,. die in einer Periode der Hegemonie »Führenden« werden nicht mehr als »herrschende Klasse« bezeichnet, wie im traditioneHen Sprachgebrauch, sondern als h istorischer Block. Aber es werden nicht ganze Klassen al s einheitliche historische Akteure unmittelbar auf die politisch-ideologische Bühne befordert, obwohl der Bezug zur »Klas se« die AnaJyseebene entscheidend bestimmt . Die »führenden Grup
pen« in einem historischen Block mögen lediglich eine Fraktion der
herrschenden ökonomischen Klasse seil1 - z.B. das Finanzkapital und nicht das industrielle Kapital ; das national e und nicht das internationa
le KapitaL Mit ihnen im »Block« verbündet werden Schichten der un tergeordneten und beherrschten Klassen sein, die aufgrund bestimmter Kon�ssionen und Kompromisse gewonnen wurden und die Teil der gesellschaftlichen Konstellation sind, aber eine untergeordnete Rolle spielen . » Breite Bündnisse« wurden geschmiedet, um diese Sektionen zu gewinnen. Sie festigen den historischen Block unter einer bestimm ten Führung und geben ihm allgemeinverbindJichen Charakter. Jede hegemoniale Formation hat daher ihre eigene, spezifische Zusammen setzung und Gestalt. Dies ist eine ganz andere Art, einen Begriff für das zu bilden, was gemeinhin sehr u ngenau und nachlässig mit dem Ausdruck »herrschende Klasse« bezeichnet wird . Gramsci
war
natür
lich nicht der Erfinder des Begriffs Hegemonie. Lenin benutzte ihn im analytischen Sinn und bezeichnete damit die Führungsposition , die das Proletariat bei den Kämpfen um die Gründung des sozialistischen Staa
tes über die Bauernschaft g ew inne n mußte. Diese Verwendungsweise ist selbst schon interessant. Beim Studium sich entwickelnder
Gesell
schaften , die nicht den »klassischen« EntwickJungsweg gegangen sind, der Marx im »Kapital« als Vorbild diente (d . h . das Beispiel
Großbri
tanniens) , i st eine der Schlüsselfragen, die nach dem Kräftegleichge wicht bzw. nach dem Kräfteverhältnis zwischen den verschiedenen so
zialen Klassen, die um ihre nationale Unabhängigkeit und ökonomi sche Entwicklung kämpfen . Interessant ist die relative Bedeutungslo sigkeit des industriellen Proletariats im engeren Sinne in Gesellschaf ten, mit niedrigem industriellen Entwicklungsstand; und zu untersu chen ist vor allem das Ausmaß, in dem die bäuerliche Klasse eine füh rende RoHe in den Kämpfen spielt, aus denen der Nationalstaat hervor geht und sogar in einigen Fällen (das herausragende Beispiel ist China, aber auch Cuba und Vietnam sind bemerkenswerte Beispiele) diefüh
rende revolutionäre Klasse ist. In einem ähnlichen Kontext entwickelt
Gramsci zuerst den B egriff der Hegemonie. In »Die Süditalienische Frage« von 1920 schrieb er, das Proletariat in Italien könne nur dann
73
Gramscis Erneuerung des Marxismus
zur führenden Klasse werden , »wenn es ein System von Bündnissen schafft. das es ihm erlaubt, die Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung gegen den Kapi tal i smu s und den bürgerlichen Staat zu mobilisieren , d . h . in dem Maße, in dem es ihm gelingt die Zustimmung der breiten Masse der Bauern zu gewinnen .« (Gramsci 1980, 191) Dies ist schon eine theoretisch vielschichtige und reichhalt ige Formulierung. Sie be sagt, daß die soziale oder pol itische Kraft, die im Augenblick einer or ganischen Krise entscheidende Bedeutung gewinnt , nicht aus einer ho mogenen Klasse besteht , sondern vielschichtig zusammengesetzt sein wird . Sie besagt zweitens, daß ihre Stellung im Produktionsprozeß nicht automatisch die Grundlage ihrer Einheit ist, sondern daß dies e »
«.
.
durch ein System
von Bündnissen hergestellt
werden muß. Drittens :
ihre Wurzeln in der grundlegenden Klassenteilung der Gesellschaft hat werden die jewei ligen Formen ihrer politi sch en Kämpfe eine breitere soziale Basis haben - sie werden die Gesell schaft nicht nur ent lang der Klassellli nien spalten , sondern sie so polarisieren , daß auf der einen Seite des gesellschaftlichen Antagonismus eine breite Front gebildet wird, die die »Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung« umfaßt. Zum Bei sp iel wird es eine Polarisierung geben zwischen allen Volksklassen auf der einen Seite und a11 denen , die die Interessen des Kapitals und des um den Staat gruppierten Machtblocks vertreten, auf der anderen . Bei na tionalen und ethnischen Befreiungskämpfen in der modemen Welt ist das Kampffeld oft genau in d ieser kompl exen und differenzierten. Wei s e polarisiert. Die Schwierigkeit liegt darin daß dieses Feld immer noch mit einer theoreti s chen Begrifflichkeit beschrieben wird , d ie seine vielschichtige soziale Zusammensetzung mit deskriptiven , simplifizierenden Begriffen auf einen Kampf zwischen zwei scheinbar einfachen, homogenen Klassen reduziert. Im Zuge seiner theoreti schen Neuerungen setzt Gramsci darüber hinaus solche zentralen stra teg ischen Fragen auf die Tagesordnung wie die, auf welche Weise ei�e Kla sse wie die der Bauern für den nationalen Kampf gewonnen werden kann , und zwar nicht durch Zwang sondern indem man »ihre Zustim mung gew innt
obwohl eine soJche soziale und politische Kraft
,
,.
,
«.
Laufe seiner späteren Schriften hat er das Konzept der Hegemo nie noch we iter au sgedeh n t: Er löste sich davon, sie im wesentlichen als »Klassenbündnis« zu denke n . Zu nä chs t wird »Hegemonie« zu einem allgemeinen Begriff, der auf die Strategien aller Klassen ange wandt werden kann� die Fonn ierung aller führenden · historischen Blöcke kann damit analysiert werden , nicht nur die Strategie des Pro letariats . Auf diese Weise verwandelt er das Konzept in einen a llge Im
-
Ausgewählte Schriften
74
meineren, analytischeren Begriff. Seine Anwen dbarkeit in dieser all gemeinen Form liegt auf d e r Hand. Eine Vielzahl konkreter histori
sche r Situationen kann bedeutend klarer erkannt werden, wenn das
Konzept weiterentwickelt wird : z . B. , wie der südafrikanische Staat durch das Interessenbündnis zwischen weißer, herrschender Klasse
und weißen Arbeitern gegen die Schwarzen aufrecht erhalten wird ; oder die wichtige Rolle, die in der südafrikanischen Politik die Versu che gespielt haben, die »Zustimmung bestimmter untergeordneter Klassen und Gruppen zu gewinnen«
z . B. die der Farb igen oder die
der in »Stämmen« lebenden Schwarzen -, um Bündnisse gegen die Masse der Schwarzen auf dem Land und in der Industrie zu schmie den ; oder der »gemischte« Kla ss e ncha rakter aller Kämpfe um nationa
le Unabhängigkeit der s ich entwickelnden , nachkolonialen Gesell
schaften .
Die zweite Weiterentwicklung liegt in der von Gramsci formulierten Unterscheidung zwischen einer Klasse, die »herrscht«, und einer Klas se, die »führt«. Herrschaft und Zwang können die Vormachtstellung
ei ner bestimmten Klasse in der Gesellschaft erhalten . Aber ihre Reich weite ist begrenzt. Sie muß sich beständig auf Zwangsmittel s tützen ,
statt auf die Gew i nn un g von Zu s timmung . Daher kann sie die aktive Beteiligung verschiedener Tei le der Gesellschaft für das historische
Projekt der Erneuerung oder Transformation des Staates nicht gewin
nen . Auf der anderen Seite hat auch »Führerschaft« Aspekte von »Zwang« . Im Vordergrund steht jedoch der Versuch , Zustimmung zu
gewinnen, untergeordnete Interessen einzubeziehen, populär zu wer den . Für Gramsei gibt es keinen Fall reinen Zwangs oder reiner Zu stimmung - es gibt nur verschiedene Zusammensetzungen beider
Ökonomie und der Verwaltung beg renz t sie schl i eßt ei ne Füh ru n g spos ition auf den Ge bieten der Kultur, der Moral, der Ethik und im Bereich des geistigen Lebens ein . Nur unter solchen Bedingungen kann ein l angfris ti ges , hi s tori sches Projekt auf die Tagesordnung gesetzt werden , wie z . B. die Gesellschaft zu modernisieren, ihre Leistungsfähigkeit auf eine höhere Stufe zu heben, oder die Grundlagen der nationalen Politik umzuwäl zen . Es hat sich gezeigt, daß Gramsci das Konzept von Hegemonie er weitert, in de m er eine Reihe von strategi schen Unterscheidungen macht, z . B. Herrschaft/ Führung, Zwang /Zustimmung, ökonomisch korporativ /moralisch und gei stig. Diese Erweiteru ng wird von e in er weiteren Unterscheidung gestützt, auf der G ramscis grundlegende hi
Aspekte. Hegemonie ist n icht nur au f das Feld der ,
storische These basiert, der zwischen »Staat und Zivilgesellschaft«. In seinem Aufsatz gleichen Namens hat er diese Differenzierung in
Gramscis Erneuerung des Marxismus
75
verschiedene Richtungen ausgearbeitet. Zunächst unterschied er zwei taktischer Kam pfformen : den »Bewegungskrieg« (war of manoevre) Bewegungskrieg, bei dem sich alles auf eine Front und auf einen Au genblick des Kampfes konzentriert, wo es einen einzigen strategischen Durchbruch in das »Verteidigungssystem des Feindes« gibt, der, einmal durchgeführt� den neuen Kräften ermöglicht) ) ·einzubrechen und einen endgültigen, strategischen Sieg zu erringen«, Andererseits gibt es den »Stellungskrieg« , ein langwieriger Krieg, der entlang vieler verschie dener und sich verändernder Kampffronten geführt werden muß ; bei dem es selten einen einzelnen Durchbruch g ibt durch den der Krieg ein für allemal - blitzartig, wie Gramsci sagt - gewonnen werden kann. In diesem Stellungskrieg komme es nicht auf die »vorgeschobe nen Schützengräben (um die mili tärische Metapher beizubehalten) des Feindes an, sondern auf das ganze ökonomische System und die Orga nisation des Hinterlandes der kämpfenden Armee« (vgL 1859) , das heißt, auf die gesamte Gesellschaftsstruktur, einschließlich der Struk. turen und Institutionen der Zivilgesellschaft. Für Gramsci war »1917« v ielleicht das letzte Beispiei eines erfolgreichen »taktischen ß ewe g ungs kri eges « : es war ))der entscheidende Wendepunkt in der Ge schichte der Kunst und Wissenschaft von der Politik« (D346, 1860) . Gramsei ver knüpfte dies mit einer zweiten Unterscheidung, der zwi sehen »Ost« und »)West«. Sie sind für ihn Metaphern, die den Unter schied zwischen dem östlichen und westlichen Europa benennen, zwi schen dem Modell der russischen Revolution und den Formen des poli tischen Kampfes die dem sehr viel schwierigeren Terrain der indu strialisierten, liberalen Demokratien des »Westens« angemessen sind. Hier spricht Gramsci ein sehr wichtiges Thema an, dem viele Marxi sten l ange ausgewichen sind: Daß ähnliche politische Bedingungen, wie die, die in Rußland ein 1917 ermöglichten, »im Wes ten« ausgeblie ben sind. Das ist ein zentraler Sachverhalt, denn trotz dieser grundle genden Unterschiede (und dem daraus folgenden Ausbleiben des klas- . sischen Typs einer proletarischen Revolution im »Westen«) blieben die Marxisten von dem Gedanken einer Politik und einer Revolution nach dem Modell des »Winterpalastes« besessen. Gramsci hingegen macht eine wichtige analytische Unterscheidung zwischen dem vorrevolutio nären Rußland, mit seiner weit hinterherhinkenden Modernisierung, seinem aufgeblähten Staatsapparat und der aufgeblähten Bürokratie, seiner relativ unterentw ickelten Zivilgesellschaft und dem niedrigen Stand kapitalistischer Entwicklung einerseits und dem »Westen« ande rerseits, mit seinen Fonnen von Mas sendemokratie, seiner komplexen Zivilgesel1schaft , der Konsolidierung des Massenkonsensus durch die politische Demokratie, die dem Staat eine auf Konsens aufgebaute =
,
.
,
76
Ausgewählte Schriften
Gru ndlag e verschaffte. »Im Osten war de r S taat al le s , d i e Z ivilgesell schaft befand si ch in einem gallertartigen Urspr ungsstadium . Im We
s ten gab es ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Staat und Zivilge seIlschaft, und wenn der Staat wankte, zeig te sich sofort die wider
standsfähi ge Struktur der Zivilg esell scha ft. Der Staat war n u r de r vor geschobene S chützengraben , mit einem mächtige n System von Fe stungsa nlagen im Rück en : mehr oder weniger entwickel t von Staat zu Staat ( . . . ) genau desha1 b war eine genaue Erforschung des jeweiligen n atio na len Charakters nötig.« (D347, 1866) Gramsci weist nicht nur auf einen bestimmten historischen Unter schied hin. Er beschreibt ein h i sto ri sche s Übergangsstadium . Offen
s ichtHch - und das wird in »Staat u nd Zivilgesellschaft« deutlich � sieht er den »Stellungskrieg« zunehmend den » B ewegungs kr ieg « ver- . drängen , und zwar in dem Maße, in d em die Bedingungen des »We s tens « das modeme pol iti s ch e Terrain in einem Land nach dem ande
ren charakterisieren . (H ie r ist der Begri ff »der Westen« keine geogra
ph ische Bezeichnung mehr : er steht für ein neues politisches Terrain, hervorgeb racht durch neu entsteh e nde Staatsformen und Formen der Zivilgesellschaft und durch die v iel schi ch ti gen B eziehu ngen zwischen
heiden . ) In diesen »fortgeschritteneren« Gesellschaften , i n denen die »ZiviIgesellschaft ei ne sehr komplexe Struktur geworden i st, wider standsfähig gegenüber katas trop hen f6rm igen 'Einbrüchen' unmittel
bar ökonomi s che r Faktoren, ( . . . ) sind die Überbauten der Zivilgesell schaft w ie ein S ystem von S ch ütze ngräbe n in der modernen Kriegsfüh rung.« (D345, 1860) D i es em neuen Handlungsfeld entsprich t ein ande rer Typus poli ti scher St ra tegie n . » Der Beweg ung skrieg « wird auf eine taktische Funktion reduziert, er verliert seine strateg ische Bedeutung . Man geht vom »Frontalangriff« zum »Stel1ungskrieg�< über, der eine nie dagewesene »Konzentration von Hegemonie« er fo rde rt . Er ist »in tensiv, schw ierig und erfordert ein außergewöh nl i ch es Maß an G eduld
und Erfindungsreichturn« . Denn einmal gewonnen , i s t di eser Kampf endgül tig entschieden (vgl . D348, 1802) . Gramsci beg ründet d i es en
» Übergang von einer Politikform zur anderen« historisch . Er findet nach 1870 im We sten statt und ist gl eichz us etzen mit der
koloniale n
»
Expansion Europas« , dem Entstehen der mod er nen Massendemokra
t ie, einer Vervielfältigung der Organi sationsformen und der Rolle des Staates und ei ner nie dag ewes enen Vervollkommnung der Strukturen und Prozesse »ku ltu reller Hegemonie« . Was Gramsci hier hervo rhebt , ist ein Teil der Divers i fizi e run g der sozialen
Antagoni sme n , die »Dis
persion« , Dezentralisierung der Macht in Gesell schaften , deren Hege monie n ic ht mehr au ss chli eßli ch durch Zwangsinstrumente des Staates
77
Gl'Q1YtScis Ern eu e rung des Marxismus
erhalten wird , sondern sich auf die Beziehungen und Institutionen der Zivilgesellschafl grundet. In diesen Gesellschaften werden die priva
ten Vere ine , die Beziehungen und Institutionen in der ZivilgeseUschaft - Schule, die Familie, Kirchen und das reli giö se Leben, sogenannte Privatbeziehungen , geschlechtsspezifische, sexuel le und ethnische Identitäten , kulturell e Organisationen - »für die Kunst der Poli tik zu 'Schützengräben' und dauerhaften Festungen der Front im Stenungs� krieg: Das Bewegungselement, das vorher den 'ganzen' Krieg aus machte, wird zum bloßen 'Teilelernent'« (D356, 11566) . Diesen Er kenntnissen liegt ei ne gründliche, theoretische Neudefinition zugrun de. Tatsächlich arbeitet Gramsci nach und nach di e für einige Versio nen des Marxismus typische, beschränkte Staatsdefirution um, die ihn auf ein von der herrschenden Klasse geprägtes und benutztes Zwangs instrument reduzieren , das nur transformiert werden kann, indem man es mit einem e inz i gen Schlag zertrümmert. Er betont nicht nur die
komplexe Formation einer modernen Zi vilgesellschaft, sondern auch die parallele Entwicklung einer komplexer werdenden Ausformung des modernen Staates. Der Staat wird nicht mehr b10ß als admi ni strati ver Zwangsapparat gesehen - er wirkt auch »erzieherisch und bil dend« . Er ist der Ausgangspunkt, von dem aus die Hegemonie über die GeseHschaft als ganzes letztendlich ausgeübt wird (obwohl er nicht der einzige Ort ist, an dem Hegemonie errichtet wird) . Der Staat ist der Ort der Verdi chtung - nicht nur weil alle Formen VOll Zwangsherr schaft notwendigerweise von diesem Apparat ausgehen,. sondern weil in seiner widersprüchlichen Struktur eine Vielfalt verschiedener Be ziehungen und Praxen si ch zu einem definitiven Regelsystem verdich
ten. Jeder Staat, so Gramsci, hat insofern eine ethi sche Funktion , als es eine seiner wichtigsten Aufgaben ist, »d ie große Masse der Bevöl ke rung auf eine bestimmte kulturelle und moralische Ebene zu heben, die den Entwicklungsbedürfnissen der Produkti vkräfte entspricht und .
(11049) .
Man beachte hier, wie Gramsci neue Dimensionen von Macht und Politi k i n den Vordergrund ruckt, neue Bereiche, in denen Kämpfe stattfinden und Antagon ismen herrschen: das Ethische, das Kulturel le, die Moral.
damit den Interessen der herrschenden Klasse«
Wie er schließlich zu den »traditionelleren« Fragen zurückkehrt - den »Entwicldungsbedürfnissen der Produktivkräfte« , den Interessen der »herrschenden Klasse« -, aber nicht umstandslos oder reduktioni stisch. Sie können nur mittelbar angegangen werden, über eine Reihe notwendiger Verschiebungen und Scbal tstellen : das he ißt, vermittelt über den »unumkehrbaren Übergang von der Basis zur Sphäre des komplexen Überbaus« .
Ausgewählte Schriften
78
In diesem Rahmen entwickelt Gramsci seine Staats konzeption Der .
modeme Staat übernimmt die Führung auf mo ral i schem und päd ago gischem Gebi et
- »er
plant , initiiert , umwirbt und straft« . Im Staat
und durch den Staat erhält der ihn beherrschende soziale Block nicht nur seine Macht, sondern er gewinnt durch Führerschaft und Autorität
die aktive Zus timm ung derje n igen über die er regiert. In sofern s pi elt !
er eine zentrale Rolle bei der Konstruktion von Hegemonie. Nach die
ser Lesart ist der S taat kei n Di ng, dessen Größe abgeschätzt und das
dann gestürzt oder mit einem einzigen Schlag zerschmettert wird. Er ist eine komplexe Formation in einer modernen Gesellschaft! die zum
Brennpu nkt verschi edener Strategien und Kämpfe werden muß, weil er der Ort verschiedenster sozialer Auseinandersetzungen ist. Es sollte jetzt klar geworden sein , wie diese Differenzierungen und
die Entwicklungen im Denken Gramscis au f das G rundkonzept der »Hegemonie« zurückwirken und es b er e iche r n
.
G ramscis konkrete
Fo rm ulierungen zum Staat u nd zur Zivilgesellschaft sind von Text zu Text verschi ed en und haben eine Reihe von Mißverständnissen hervor
gebrach t. Aber die Stoßrichtung seines Denkens in bezug auf dieses Probl em steht außer Frage.
Sie zielt unmißverständlich auf die wachsende Komplexität der gegenseitigen Beziehungen zwischen Staat
und Zivi1gesellschaft in modernen Gesellschaften . Zusammenge nommen ergeben diese B ezi ehungen ein vielschichtiges »System«, das
G egenstand vielfältiger Formen politischer Strategien sein muß, die an unterschiedl ichen Fronten gleichzeitig zur Wirkung kommen m üs s en
.
Wendet man eine solche Staats theorie an, stellt sich ein Großteil der Literatur über d en sogenannten »nachkolonialen Staat« in
ei nem
völlig anderen Licht dar. Denn dort wurde oft von dem schlichten Modell
einer herrschenden ,
i nstrumentellen
Staats macht
ausge
gangen . In diesem Zusammenhang sollte Gramscis Unterscheidung zwi
schen »Ost« und »West« nicht allzu wörtlich genommen werden . Viele der sogenannten E ntw ickl u n g s l ä nd er haben schon kompl exe demo ,.
kratische politische Reg i e ru ngen das heißt, nach Gramscis Term ino ,
logie gehöre n sie zum »Westen«. In anderen hat der Staat selbst einige erzieherische Funktionen u nd Führungsaufgaben übernomme n , die in
den liberalen Demokratien des industrial i sierten Westens i n der Zivil ges ell s chaft stattfinden . Es kommt deshalb darauf an, Gramscis Diffe renzier ungen nicht wörtlich oder mechanisch anz uwenden
,
sondern
seine Einsichten zu nut zen , um die sich verändernden , kom pl exen Be ziehungen zwischen Staat und Zivilgesellschaft in der modernen Welt
zu entwirren und zu zeigen , daß diese historische Tran sfo rmation e in e
79
Gramscis Erneuerung des Marxismus
entscheidende Verschiebung i m vorherrschenden Charakter der strate gi schen , politischen Kämpfe hervorgebracht hat, insbesondere die Einbeziehung der Zivilgesellschaft und des Staates als wichtige, inte
grale Bestandteile des Kampfes. Ein erweiterter Staatsbegriff, argu mentiert Gramsci an einer Stelle, muß die ltpolitische Gesellschaft«, die »Zivilgesellschaft« und die durch Waffengewalt geschützte Hege
monie einschließen. (I 763) Er untersucht besonders, wie diese ver schiedenen Bereiche in verschiedenen Gesellschaften jeweils unter schiedlich verknüpft sind : z . B. in den liberalen, parlamentarischen Demokratien, in denen Gewaltenteilung herrscht und im Gegensatz
dazu in den faschistischen Staaten , in denen die Gewalten zentralisiert sind .
Die traditionelle Prioritätensetzung, in der die verschiedenen Typen
des Kampfes , z .B. um das Schulwesen, um Kultur oder um Sexualpoli
tik, um die Institutionen der ZivilgeseUschaft (wie Familie, traditio
nelle soziale Organ i sationen , ethnische und kulturelle Institutionen
und ähn liches) alle einem ökonomischen Kampf untergeordnet, um
den Arbeitsplatz zentriert und auf die schlichte Alternative zwischen gewerkschaftlichem Widers tand oder
Parlamentarismus reduziert
werden � diese traditionelle Prioritätensetzung wird von Gramsci Punkt für Punkt in Frage gestellt und verworfen. Die Konsequenzen für eine
neue Politiklwnzeption sind geradezu elektrisierend .
Aus den vielen interessanten Themen und Gegenständen in Gramscis
Werk, die wir behandeln könnten , greifen wir zum Schluß· die frucht
bare Arbeit über Ideologie, Kultur, die Rolle der Intellektuellen und den Charakter dessen, was er »national-popular« nennt, heraus.
Gramsci übernimmt eine Definition von Ideologie, die zunächst ziem
lich traditionell erscheint: Ideologie i st »j ede Weltanschauung , jede
Philosophie, die zu einer kulturellen Bewegung wird, zu einer 'Reli
gion' zu einem 'Glauben'. « Jede Aktivität und jeder Wille, die »implizit eine Philosophie als theoretische Prämisse enthalten«, können als Ideologie bezeichnet werden . Er fügt hinzu� »man mag von Ideologie
sprechen , wenn man den Begriff im besten Sinne verwendet, als Welt
anschauung, die sich implizit in der Kunst , im Recht, in ökonomischen
Aktivitäten und in allen individuellen und kollektiven Lebensäußenm
gen manifestiert. « (D134 , 11380) Es folgt ein Versuch, das Problem
ldar zu defi nieren , das sich in bezug auf die soziale Funktion von Ideo
logie stellt: »Das Problem besteht darin, die ideologische Einheit des
sozialen Blocks zu erhalten, der durch diese Ideologie zementiert und
vereinheitlicht
wird.« (Ebd .)
Diese Definition ist nicht so simpel
wie sie aussieht, denn sie unterstellt eine Verbindung zwischen dem
80
Ausgewählte Schriften
philosophischen Kern oder der Prämisse im Zentrum der jeweiligen Ideologie oder Weltanschauung und der notwendigen Ausarbeitung
dieses Kemkonzepts zu einer pra kti sch en, im Volk verankerten Be wußtsein sfoml, die die breiten Massen beeinflußt , indem sie eine kul
turel1e Bewegung formt, eine politische Richtung, einen Glauben oder eine Religion. Gramsci befaßt sich niemals nur mit dem ph ilosophi
schen Herzstück einer Ideologie. Immer sind organische Ideologien
sein Gegenstand , das heißt Ideologien , die bestimmte, praktische For men des Alltagsbew u ßtseins aufgreifen und so »Menschenmassen or
ganisieren und das Feld schaffen,. auf dem Menschen s ich bewegen, sich ihrer Position bewußt werden , kämpfen etc . « (DI70, 1868f. ) Dies i st die Grundlage für Gramscis wichtige Unterscheidung zwi schen »P hilosoph ie « und »AHtagsbewußtsein«. Ideologie besteht a us
zwei unterschiedlichen »Stockwerken« . Die Kohärenz einer Ideologie
hängt davon ab, wie weit sie philosoph i sch au sgearbei tet. i s t . Aber diese forma l e Kohärenz kann nicht ihre historische, organische Effek
tivität garantieren. Nur dort, wo p h ilosop hisc h e Strömungen in das Massenbewußtsein einfließen , es modifizieren und transformieren, ist Ideologie effektiv, wird sie zum A Htags bewuß tsein . Das AUtagsbe wußtsein ist nicht kohärent : e s ist norm alerwe i se unzusammenhän
gend , fragmentarisch . widersprüchlich . Im Laufe der Zeit haben ko
härentere Philosophien darin Spuren hinterlassen , sich in verschiede nen »Schichten abgelagert«., ohne einen k1aren Bestand zu bilden (vgL D131, Il376) . Es präsentiert sich selbst als »traditionelle, j ahrhunderte al te Wei sheit oder Wahrheit« , aber in Wirklich keit ist es ein du rch und durch geschichtliches Produkt, »Tei l eines historischen Prozesses«
(I1378) . Warum i st das Alltagsbewußtsein so wichtig? Weil es das Ter rain ist, auf dem Begriffe und Kategorien sich bilden , auf dem das prakti sche Bewußtsein der Volksmassen konkret geformt wird. Es i st
dieses schon bestellte Feld der »Selbstverständlichkeiten« , auf dem ko härentere Ideologien und Philosophien um den Vorrang ringen müs sen . Neue Weltanschauungen müssen von diesem Feld ausgehen, u m
e s kämpfen und 6S tran sformieren , wenn s i e die Weltanschauungen der Massen fonnen und auf diese Weise historisch wirksam werden wol
len. »Jede philosophische Strömung hinterläßt eine Spur i m Alltagsbe wußtsein; das d o kumentiert ihre hi storische Wirksamkeit. Das All
tagsbewußtsein ist n icht starr und unbeweglich � sondern verändert sich
unaufhörlich , indem es sich mit wissenschaftlichen Ideen und philoso phischen Auffassunge n bereichert, die ins gewöhnlich e Alltagsleben
eingedrungen sind. Da s Alltagsbewußtsein kreiert die folklore der Zukunft, d . h . eine zeitlich u nd örtlich relativ starre Phase des
Volks-
81
Gramscis Erneuerung des Marxismus
wissens« (E326, FN5) . Daß er sich mit
die ser Struktur des Volksden
kens auseinandersetzt, unterscheidet Gramscis Ideologietheorie von an dere n . Er heb t
hervor, daß jede i r, indem sieler denkt� ein/e Philo soph / in ist , denn alles Denken, jede Handlung und jedes Sprec hen sind reflexiv, beinhalten also ein bewußte s moralisches Verhalten und stützen daher ei n e b estimmte Weltan s c hau ung (obwohl nicht jede! r die spezialisierte Funktion »einer I eines Intellektuell en« hat) ,
.
Darüber hinaus wird eine Klasse
das Wesen der Zwänge und
der
Ausbeutungsformen , denen sie unterworfen ist, immer instinktiv ver
stehen , wenn d ieses Verständnis auch eher spontan und anschaulich
ist, als daß es kohärent und phi lo s ophi sch au sgear beitet wäre. Grarnsd
ge sunden Menschenverstand« (buon senso) . Um aber diese Ko ns t rukti onen des Alltagsdenken s in eine kohärentere pol i ti s che Th eorie od er phil o soph i s che Ström ung zu verwandeln, be
bezeichnete dies als den
»
darf es immer einer weitergehenderen politischen Erziehung, einer Politi k des Kulturellen . Die Weiterentwicklung des Al l tagsdenken s ist Teil des Prozesses, i n dem ein kollektiver Wille gefo rmt wird, und er
fordert eine umfassende Organisierung der gei stigen Arbeit - sie ist ein entscheidender Teil jeder hegemonialen politischen Strategie. Die Kultur eines Volkes und sein Glaube, sei ne Überzeugun ge n - sagt
Gramsei
-
sind Kampffelder, die nicht sich selbst überlassen werden
können . Sie sind selbst »materielle Kräfte« (11595) . Um ei ne geistige
oder ethische Einheit herzustellen , ist also ein umfassender kultureHer
und
ideologischer Kampf nötig. Nur so kann Hege monie geschaffen werden : Der Kampf fi nd et zwischen den hegemo nial en Kräften« und den ih ne n entgegengesetzten Strömungen statt, »zunächst auf dem Feld der Ethik, dann auf dem der Politik s elbst (D138, 11385) Dies bezieht sich u nmittel bar auf den Typus des sozialen Kampfes, den wir mit n a tional en, antikolonialen, antirassistischen Bewegungen verbinden. Bei der Anwendung dieser Ideen greift Gramsci niemals auf ein simplifi zierendes FortschrittsmodeU zurück. Z .B. erkennt er im Falle Italiens das Fehlen e iner genuin nationalen Volkskultur, die eine gute Grundla ge fur die Fo rmierung eines kollektiven Volksw ill en s bilden könnte. In vielen Arbeiten über Kultur, popul äre Literatur u nd Religion e rkundet er das poten tielle Terrain un d die Tendenzen in der Gesellschaft und im Leben Italiens, die eine Basis für ei ne solche Entwicklung hergeben »
.«
·
könnten . So zeigt er z . B. , wie der Katholizismus es in Italien geschafft hat, zu einer genuinen »popu l aren Kraft« von u nten zu werden und eine ge Bedeutung bei der Formung der traditionellen Denkwei .e inz igarti sen der Vo lksklassen zu gewinnen . Gramsei führt dies zum Tei l zurück
auf
die gewissenhafte
Aufmerksamkeit�
die
der Katholizismus der
Ausgewählte Schriften
82
Organisation von Ideen schenkte, insbesondere auf die Sorgfalt, mit der die Beziehung zwischen dem philosophischen Denken oder der philosophischen Doktrin und dem Leben des Volkes oder dem Alltags bewußtsein sichergestellt wurde. Gramsci weist alle Vorstellungen
zu
rück , die beh au pten , Ideen und Ideologien entwickelten sich spontan
und in jede Richtung. Wie j ede andere Sphäre des kulturellen Lebens
muß auch die Religion organisiert werden . Sie hat spezifische Ent
w icklungsformen , durchläuft eigene Transformationsprozesse und kennt s pezifi sche Kampfpraxen . »Die Bezie hu ng zwi schen dem All
tagsbewußtsein und dem höheren Niveau der Philosophie« , erklärt Gramsci , »wird durch Politik« gewährleistet
(0136, 11383).
Die Ver
mittlungsstel1en in diesem Prozeß sind natürlich pädagogische und re
ligiöse I n stitut i o ne n , die Familie und Privatvereine; aber auch politi sche Parteien , die Zen tre n ideologischer und kultureller Fonnierung
sind. D ie Hauptagenten sind Intellektuelle, die eine besondere Verant wortung für die Artikulierung und Entwicklung von Kultur und Ideo
logie tragen und darauf spezialisiert sind . Sie versuchen s ich mit der bestehenden Anordnung der sozialen und intellektuellen Kräfte
(= tra
ditionelle Intellektuelle) oder mit den entstehenden Volkskräften zu verbünden und neue Denkrichtungen zu entwickeln
o rg a ni sche In
te l lektue lle) . GTamsci ze igt deutl ich die w ichti ge Funktion , die die tra
ditionellen Intellektuellen , die mit den klassischen Denkfabriken der
Gelehrten oder Kleriker zusammenarbeiteten, i m Falle Italiens spiel ten , u nd die relative Schwäche der neu entstehenden intellektuellen Sch icht. Gramscis Denken in dieser Frage enthält neue und radikale Wege, die ideologischen
Subjekte zu theoretisieren. Diese sind Gegenstand
einer ganzen Reihe gegenwärtiger Theoretisierungsversuche. Er wei st jede Vorstellung eines vorgegebenen, einheitlichen i deolo g i schen Sub
jekts zurück - z . B. die Idee eines Proletariers mit wahren revolutionä
ren Ideen oder eines Schwarzen m it garantiert anti-rassistischem Be wußtsein. Er anerkennt die Plural1tät der Individuen und Identitäten ,
aus denen das sogenannte »Subjekt« des Denkens und der Vorstellun gen zusammengesetzt ist . Dieser facettenreiche Charakter des Be wußtseins i st seiner Meinung nach kein i ndividuelles, sondern ein kol
lektives Phänomen, eine Folge der Beziehung zwischen »dem Selbst« und den ideologischen Diskursen , aus denen das kulturelle Feld der Gesell schaft zusammengesetzt ist. Er beobachtet. daß die Persönlich
keit merkwürdig zusammengesetzt ist . »Sie vereint in sich Elemente
aus der Steinzeit und Prinzipien d er modernsten, entwickelten Wissen
schaft, sowie Vorurteile aus allen vergangenen Phasen der Geschichte
Gramscis Erneuerung des Marxismus
83
( . . . ) intuitive Vorwegnahmen einer künftigen Ph ilo s ophie« (D130,
11376) . Grams ci lenkt die Aufmerksamkeit auf das widersprüchliche Bewußtsein: Die Weltanschauung, d ie sich , wie flüchtig auch immer, in Aktion manifestiert, kann im Widerspruch stehen zu derj enigen, die verbal und gedanklich von derselben Gruppe vertreten wird. Diese Konzeption eines komplexen, fragmentarischen und widersprüchli
ch en Bewußtseins ist ein bemerkenswerter Fo rtschr itt gegenüber tradi
tionellen marxistischen Theorien, die für ihre Erklärungen das Kon zept eines »fa1schen Bewußtseins« zu r Hilfe nehmen . Diese Erklärung beruht auf Selbstbetrug. Indem Gramsci erkennt, daß Fragen der Ideo
l og ie sich auf die Gesellschaft und auf Kollektive beziehen und nicht auf Individuen, betont er die Komplexität und d en interdiskursiven Charakter des ideologischen Feldes. Es gibt niemals eine einzige ein heitliche und kohärente »dominante I deologie die alles durchdringt . «,
»Viele Systeme und Strömungen philosophischen Denkens koexistie ren miteinander. « (D133, 11379) Der Gegenstand der Analyse ist daher
nicht ei n e einzelne Strömung »herrschender Gedanken«, in die alles und jede/ r absorbiert wurde, sondern die Ideologie in einem ausdiffe renzierten Terrain , die verschiedenen diskursiven Strömungen, ihre Verknüpfungspunkte und Bruchstel len , sowie die zwischen ihnen herr s chende n Machtbeziehungen . Kurz : ein komplexes Ensemble ideolo
gischer Verhältnisse oder eine d i skurs ive Formation . D ie Frage ist, wi e diese ideologischen Strömungen sich ausbreiten und warum sie in diesem Prozeß der Ausbreitung entlang bestimmter Linien stimmte Richtungen auseinanderbrechen . « (Ebd . )
und
in be
Ich glaube, aus dieser A rgume n tation läßt sich klar ableiten , daß das
ideologische Feld bei Gramsci obwoh l immer mit verschiedenen so zialen und politi s che n Positionen verknüpft - in seiner Form und �
Struktur nicht genau der Klassenstruktur der Gesellschaft entspricht oder sie widerspiegelt und auch nicht i hr Echo ist. Es kann auch nicht auf seinen ökonomischen Inhalt o der seine ökonomische Struktur re duziert werden . Ideen , so arg u m entiert
er,
haben ein Zentrum , von
dem aus sie sich formieren , ausstrahlen , sich verbreiten , Überzeu gungskraft gewinnen. Sie werden nicht in jedem individuellen Kopf »spontan geboren« . Sie sind nicht psychologisch oder moralisch zu er klären, sie haben »organ i s ch en erkenntnistheoretischen Ch arakter«
(11595) . Daraus folgt, daß Ideologien nicht dadurch umgewälzt wer den, daß eine ganze. fe rti ge Welta ns chauung durch e i ne andere ersetzt wird , sondern dadurch , daß eine schon existierende Aktivität aufge griffen u nd zur entscheidenden Kraft ge mach t w ird.« Der vielstimmi ge interdiskursive Charakter des Ideologischen w ird von Gramsci aus»
Ausgewählte Schriften
84
drücklich he rvorgehoben wenn er zum Beispie l beschreibt, wie eine alte Weltanschauung nach und nach durch eine andere Denkweise er setzt von innen umge arbeitet und umgewälzt wird : »Wichtig ist die Kritik , der solch ein ide o lo gi scher Komplex u n te rwo rfe n wird. ( . . . ) Sie ermöglicht einen Prozeß der Di ffere nzie ru ng und der Veränderung des rel ativen Gewichts, das die Elemente der alten Ideologie vorher hatten; was zuvor zweitrangig und untergeordnet war, ( . . . ) wird zum Ausgangspunkt eines neuen i deologi schen und theoretischen Komple xes. In d e m Maße, in dem di e untergeordneten El emente sich gesell schaftlich entwickeln , wird sich das a lte Kollektiv in seine wider sprüchlichen Bestandteile au flös e n eie . « (Il058) Dies trifft auch auf das jeweils historisch bestimmte kulturelle Feld zu , auf dem jede »neue« philosophische und theoretische Strömung agiert und mit dem sie zurechtkommen muß. Er macht darauf aufmerksam , daß dieses Terra in eine jeweils gegebene Struktur hat und daß die Prozesse der Dekonstruktion und Rekonstruktion , durch die alte Bündnisse zwi schen sozialen Kräften und Ideen aufgelöst u nd neue Bündnisse herge stellt werden , sehr vi elschichtig sind . Di e i deol ogisc he Wende ge schieht nicht durch Ersetzung d e r al te n Ideolo gien oder die Oktfoyie ru ng ei n er neuen , so nd er n eher durch die Verknüpfung und Trennung , d urch d i e Artikulation und Desartikulation von Ideen . ,
,
Teil III Nun bleibt noch die Aufgabe, zu skizzi eren wie Stand punkt und Per spektive in Gramscis Theorie genutzt werden können , um einige der bei der Analyse von Rassismus und verwandter sozialer Phänomene benutzten Paradig men und Theorien zu verändern und umzuarbeiten . Ich betone n och mal s , daß es nicht darum geht, die Ideen Gramscis Un mittelbar auf diese Fragen zu übe rtragen Es geht vielmehr darum , die ursprüngJichen theoretischen und an alytisch en Probleme, die das Feld d efi niere n aus einer an dere n theoretischen Perspektive zu betrachten. ,
.
,
Erstens : Ich würde die Hervorhebung der historischen Spez i fik un terstreichen . Zweifel10s gibt es bestimmte al l ge mei ne Züge des Rassis mu s. Aber noch bedeutsamer sind die Formen , in denen diese allge meinen Züge durch den hi s tori sch spezifischen Kontext u nd di e jewei
lige Umwel t, in denen sie wirksam werden . modifiziert und transfor miert werden . Bei der Analyse bestimmter historischer Formen des Rassismus würden wir g u t daran tun, auf einer konkreten, hi sto ri Sch spezifizierten Ebene zu op er i eren (z .B. nicht über Rassismus a llge mein zu sp rec h en sondern über Rassismen) . Selbst wenn ich in dem ,
85
Gramscis Erneuerung des Marxismus beschränkten Rahmen bleibe, den ich nien) , würde ich
sage n ,
am
besten kenne (Großbritan
daß die Unterschiede zw ischen dem britischen
Rassismus in der »Hochzeit« seiner imperialistischen Periode und dem
Rassismus� der die gegenwärtige britische Gesellschaftsformation kennzeichnet, größer und entscheidender sind als die Gemeinsamkei ten. Heute sind w ir mit dem Thema in ei ner Periode relativen ökono
mischen Niedergangs konfrontiert, Es existiert nicht in ,einer kolonia len Situation, sondern innerhalb der einheimischen Arbeiterschaft und unter dem Akkumulationsgesetz der i nländischen Wirtschaft. Oft ist
es nicht mehr als eine Äuß,erlichkeit, die uns zu dem Fehl schluß verlei tet, Rassismus sei , nur weil er immer und überall eine zutiefst un
men sch li ch e und antisoziale Praxis ist, auch überall dasselbe - so
wohl was seine Form als auch seine Beziehungen zu anderen Struktu ren und Prozessen oder seine Folgen angeht. Ich glaube, Gramsci hilft uns, diese Homogenisierung endgü ltig zu durchbrechen .
Zweitens : In enger Verbindung zum ersten Punkt steht die große Be deutung, di e Gramsci aufgrund der historischen Erfahrungen in Italien den nationalen Besonderheiten beimaß. Sie sind für ihn ebenso w ie die
regionalen Ungleichhei ten ein wichtiger D etenninationsfaktor. Es gibt kein einheitliches »Entwicklungsgesetz«, das sich in gleicher Weise auf aBe Facetten einer sozialen Formation auswirkt . Wir m üs sen die Widersprüche und Spannungen besser verstehen Jemen, die sich aus dem u ngleichen Tem po und den unterschiedli chen Richtungen histori scher Entwicklungen ergeben . Rassismus und rassistische Praxen und Strukturen treten häufig in einigen , aber nicht in allen Sektoren einer gesellschaftlichen Formation auf; ihre Folgen dringen in andere Berei
che ein , aber unterschiedlich ; und gerade diese Unterschiedlichkeit
kann dazu führen, die widerstreitenden Gegensätz e zwischen den Sek
to ren zu vertiefen und zu verschärfen .
Drittens : Ich würde die nicht-reduktionistische Herangehensweise
an Fragen wie d ie nach dem Verhältnis zwi schen Klasse und »Rasse« unterstreichen . Diese Frage hat sich als e ines der vielschicntigsten und schwi er i gsten
th eoretischen Probleme h erausges tellt und hat oft zur
Annahme entgegengesetzter, extremer Positionen geführt: Entweder gibt man den grundlegenden Klassenbeziehungen den Vor rang und
hebt hervor, daß aUe Arbeitskräfte, auch wenn sie sich aufgrund ethni� scher und »rassischer« Merkmale un terscheiden , der gleichen Ausbeu
tung durch das Kapital unterworfen sind ; oder man betont die Bedeu
tung ethnischer und »rassischer« Kategorien und Spaltungen und läßt dabei die fundamentale Klassenstruktur der Gesellschaft außer acht. Obwohl diese Extreme wie po lare Gegensätze aussehen, sind s ie in
86
Ausgewählte Schriften
\Virklichkeit das Spiegelb i ld des j ewe il s anderen; und zwar in dem
S i nn e , daß heide sich a ufgefo rdert fühlen , ein einziges und exklusives
determinierendes Artikulationsprinzip zu behaupten - Klasse oder »Rasse« - selbst wenn sie sich nicht einig sind , welches von beiden das Markenzeichen �vorrangig« erhalten soHte. Ich glaube, die nicht redu ktioni st i sch e Weise, i n der
G ram s ei
sich den Klas sen fragen zu
wend et , und sein Verständnis der historischen Form i erung j eder Ge
sellschaftsformation sind eine Hilfe, um einen Weg in R ich tung auf
eine nicht-reduktionistiscbe Herangehensweise an »Rassen«- /KJassen fragen einzuschlagen . Hinzu kommt die Aufmerksamkeit, die Gramsei
der, wie w ir es nennen könnten , besonderen kulturellen Qualität der
Formierung der Kl assen i n jeder historisch spezifischen Gesellschaft widmet . Er mac ht n iemals den Fehler zu denken , die Homogenisie
rung_ der Arbeiterschaft könne i n i rgendeiner Gesellschaft als vollzo
gen unterstellt werden , weil das allgemeine Wertgesetz die Tendenz hat , sie im Ver l au f der kapital istisc hen Epoche zu vereinhei tl ichen . Ich
g l a ube im Gegenteil , Gramsci s ganzer Ansatz führt uns dazu , den
Wert d ieses allgemeinen Gesetzes i n seiner traditio nellen Form in
Fr age zu stellen . Denn es hat uns gerade dazu ermutigt, d i e Fo rmen Zu
ve rn ac hl äs s i gen , in denen das Wertges etz , das auf globaler und nicht au f loka l er Ebene wirkt, durch u nd gerade wegen des jeweil s spezifi
schen kulturellen Charakters der Arbeiterklasse funkti on iert , und
nicht
-
wie die klassische Theorie uns glauben machen will
indem
es diese Unterschiede im Zuge seiner epochalen historischen Tendenz , ausl öscht. \Vann immer w i r uns vom »eurozentrischen Modell« der ka
pitalistischen Entwicklung entfernen (und sogar innerhalb dieses Mo deUs) , finden wir die vielen Formen , in denen d as Kap i tal diese beson
de ren Qualitäten der Arbeitskraft konservieren, seiner Entwicklung
anp a s s en , sie ausbeuten und für sich ei nspann en kann , indem es sie in
sein Regime einbaut. Die ethnische und »rassische« Strukturierung der A rbeitskraft mag, ebenso wie ihre geschlechtsspezifische Zusammen
setzung, ein Hemmnis für die rat i o nalisti sch geplanten »globalen« Ten
de nzen des Kapitals sel n . Und doch s i nd diese U nterschiede im Zuge
der globalen Expa ns i on der kapitali sti schen Produktionswei s e beibe
h alten , sogar entwickelt und verfeinert worden . S ie d ienten als M ittel ,
d i e versc hiedenen Fraktionen der Arbeiterschaft auf unterschiedliche
Weise auszubeuten . Ihre politi schen , ökonomi schen und sozialen Fol gen i n diesem Zusammenhang waren enorm . Wir würden viel bes ser
ve rstehen , wie das kapita1istische System durch D i fferenzieru ng und
Ähnl ichkeit und Identität funktionieren kann kulturellen, sozialen , nationalen , eth n i schen und
Unterschiede statt durch wenn wir die
,
gesch lechtsspezifi schen Zusammensetzungen historisch bestimmter,
Gramscis Em.euerung des Marxismus
87
jeweils untersch iedlicher Fannen der Arbeiterklasse ernst nehmen würden. Obwohl Gramsci keine allgemeine Theorie der kapitalisti schen Produktionsweise entwickelte, weist uns seine Arbeit unmißver ständlich in diese Richtung. Darüber hinaus verweist uns seine A nalyse auf die Art und Weise, in der verschiedene Produktionsweisen innerhalb derselben gesel1schaft lichen Formation kombiniert werden können. Das führt nicht nur zu regionalen Besonderheiten und U ng1 e i chheiten sondern auch zu un terschiedlichen Formen der Einverleibung sogenannter »rückständ i ger« Sektoren in das gesellschaftliche Herrschaftssystem des Kapitalis mus : z.B. Süd italien innerhalb der italienischen Formation; der medi terrane Süden innerhalb der fortgeschritteneren »nördlichen« Sektoren des industriellen Europa ; die »Bauern-Wirtschaften«, das Hinterland der asiatischen und lateinamerikanischen Gesellschaften auf dem Weg in eine kapitalismusabhängige Entwicklung ; »kolonialeo!< Enklaven in nerhalb des sich entwickelnden, kapitalistischen Systems in den Me tropolen ; historisch früher: die Sldavenhaltergesellschaften als inte graler Teil der ursprünglichen kapitalistischen Akkumulation in den Metropolen : ImmigrantInnen als Arbeitskräfte auf dem inländischen Arbeitsmarkt ; »Bantustans« in den sogenannten aufgeklärten, kulti vierten , kapitalistischen Ökonomien, usw. Theoretisch muß die Auf merksamkeit auf die Art und Weise gelenkt werden, in der diese spezi fischen, jeweils unterschiedlichen Formen der Einverleibung fortwäh rend mit rassistischen, ethnisch segregierenden und ähnlichen sozialen Erscheinungen verknüpft worden sind. ,
,
Viertens : Ein weiterer wichtiger Punkt ist der nicht-homogene Cha
rakter des »)Klassensubjekts«. Herangehensweisen, die die Klasse als solche im Gegensatz zu einer »rassischeno!< Strukturierung von Arbei ter- oder Bauernklassen hervorheben, treffen ihre Aussagen unter der Voraussetzung, das »Klassensubjekt« der Ausbeutung müsse nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch und ideologisch einheitlich sein,. , e infach weil die Ausbeutung durch das Kapital die gleiche ist . Wie ich gerade weiter oben ausgeführt habe, gibt es keinen vernünftigen Grund, die Art und Weise, in der Ausbeutungsmechanismen gegen über d en unterschiedlichen Sektoren der Arbeiterklasse funktionieren , als »gleich« zu qualifizieren . Auf jeden Fall unterscheidet Gramscis Ansatz zwischen den Bedingungen des Prozesses, seinen verschiede .. nen Momenten und den Zufälligkeiten des Übergangs von der »Klasse an sich« zur »Klasse für sich« oder von den »ökonomisch-korporati ven« zu den »hegemonialen« Momenten der gesellschaftlichen Ent wicklung. Ein vereinfachender Begriff von Einheit wird radikal und
88
Ausgewählte Schriften
entschieden i n Frage gestellt. Selbst ) Hegemonie« wird nicht mehr als
ein Zustand einfacher Einheit gedacht. sondern als ein Einigungspro
zeß, der niemals abgeschlossen ist, gegründet auf strategischen Allian zen zwischen verschiedenen Sektoren , nicht auf einer vorgegebenen Einheit . Der Charakter der Hegemonie wird durch die Grunderkennt nis bestimmt, daß es keine automatische Identität oder Entsprechung
zwischen den ökonomischen , politischen und ideologischen Praxen gibt. So kann man beginnen zu erklären , warum ethnische und »rassi sche« Differenzen als ein System ökonomischer, politischer oder ideo logischer Antagoni smen innerhalb einer Klasse konstituiert werden können , d ie im Hinblick auf de n Besitz bzw. die »Enteignung der P ro duktionsmittel� ansonsten ähnlichen Ausbeutungsformen unterworfen ist. Die »Enteignung der Produktionsmittel« i st zu einer Art magi schem Talisman geworden, der die marxistische Klassendefinition vo n
pluralistis�hen Schichtmodellen und Definitionen unterscheidet. Ihre theoretische Brauchbarkeit, wenn es darum geht, die aktuelle und kon krete Dynam ik in und zwischen den verschiedenen Sektoren und Seg
menten der Klassen zu erklären , hat diese Definition längst überlebt . Fünftens: Ich b i n schon darauf eingegangen, daß i n Gramscis Denk
modell keine Entsprechungen zwis(�hen ökononllschen , politischen und ideologischen Dimensionen u nterstellt werden. Hier möchte i ch aber die politi schen Konsequenzen dieser Nicht-Entsprechung hervor_ heben . Sie zwingt uns dazu , konkret zu studieren, wie Klassen sich ge genwärtig unter realen hi sto ri sch en Bedingungen wirklich verhalten�
statt schematisch zu konstruieren, wie sie sich idealerweise verhalten
sollten . Eine der Konsequenzen des alten »Entsprechungsmodell s« be stand darin , die Analyse der Klassen und verwandter gesellschaftli_
cher Kräfte als politische Kräfte, und das Studium des politischen Fel
des selbst zu einer automatischen, schematischen Resttätigkeit zu Ula ehen. Natürlich , wenn es eine »Entsprechung« gab und noch dazu das »Primat« des Ökonomischen vor anderen determinierenden Faktoren ,
warum sollte man seine Zeit damit verschwenden, das Terrain der Poli-
tik zu analysieren, da dieses doch nur ein verschobener Reflex der »in letzter Instanz« determinierenden Ökon omie war. Gramsci würd e s i cherlich diese Art von Reduktionismus nicht einen Moment lan g nlit
machen . Er weiß, daß er eine komplizierte Struktur, keine simple und
transparente Formation u ntersucht . Er weiß, daß Politik ihre eigene, »relativ autonome« Form hat, die in ihrer eigenen Berechtigung , mit
den ihr entsprechenden Begriffen studiert werden muß . Darüber hinaus hat Gramsci einige Schlüsselbegriffe ins Spiel gebracht, die
helfen , dieses Gebiet theoretisch zu di fferenzi e ren . Solche Begriffe
89
Gramscis Erneuerung des Marxismus
wie Hegemonie, historischer Block, Partei im weiteren Sinne, »passive Revolution«, Übergang,. traditionelle und organische Intellektuelle sowie strategi sche Allianz sind nur der Beginn einer sehr ausgeprägten
Es bleibt zu zeigen , wie das Studium strukturierten oder dominierten Situationen
und eigenständigen Begriffsreihe.
der Pol itik
in
»rassisch«
durch die konsequente Anwendung dieser neu formulierten Konzepte vorangebracht werden könnte. Sechstens: Ein ähnliches Argument könnte im Hinblick
auf
den
Staat geltend gemacht werden. Das Verhalten des Staates in bezug auf »rassische« und ethnische Klassenkämpfe ist immer ausschließlich in Kategorien von Zwang, Herrschaft und Verschwörung beschrieben worden. Gramsci bricht unwiderruflich mit allen dreien . Seine Unter scheidung zwischen Herrschaft und Führung sowie die Beschreibung der »erzieherischen« Rolle des Staates, seines »ideologischen« Charak ters , seiner Rolle bei der Entwicklung hegemonialer Strategien könnte, wie grob auch immer Gramscis ursprüngliche Formulierungen waren , sowohl die
Untersuchungen
der rassistischen Praxen des Staates als
auch die des damit zusammenhängenden Phänomens des »post-kolo nialen« Staates gründlich umwälzen . Gramscis subtile Unterscheidung von Staat und ZivHgeseUschaft - auch wenn sie innerhalb seiner eige nen Arbeit fluktuiert - ist ein extrem flexibles theoretisches Werk zeug, und sie mag Theoretiker dazu e rmutigen, den Institutionen der sogenannten Zivilgesell schaft in »rassisch« strukturierten sozialen Formationen viel mehr Aufmerksamkeit zu schenken als in der Ver gangenheit.
Das
Schulwesen, kulturelle Organisationen, Familie und
Sexualleben, die Muster und Schablonen privater Vereine, Kirchen und Religionen; Institutionen der jeweiligen ethnischen Gruppen und viele andere solcher Orte spielen eine absolut zentrale Rolle dabei , verschiedene Gesellschaften in »rassisch« strukturierten Fonnen zu produzieren, zu erhalten und zu reproduzieren . Siebtens: Verfolgen wir den
gleichen
Gedanken weiter, bemerken
wir das Gewicht, das Gramsci dem kulturellen Faktor in der gesell schaftlichen Entwicklung bei mißt. Unter Kultur verstehe ich hier das . j eweilige Feld der Praxen , Repräsentationen, Sprachen und Bräuche i n jeder historisch bestimmten Gesellschaft. Ich meine die widersprüch lichen Formen des
Alltagsbewußtseins,
die im alltäglichen Leben ver
wurzelt sind und dazu beigetragen haben ,
es zu formen
.
Auch die
ganze Reihe verschiedenster Fragen, die Gramsci im Begriff des Na tional-popularen
zusammengefaßt
hat,
wü rde
ich
einbeziehen .
National-populare als den zentralen Ort, an dem eine populare Hegemonie konstituiert wird. Es ist der Haupteinsatz in
Gramsci versteht das
· 1
Ausgewählte Schriften
90
den po l i t isc hen und ideologischen Kämpfen und Praxen . Es ist eine na
tionale QueUe der Veränderung ebenso w ie eine po t ent i elle S chranke für die Entwicklung eines neuen kollektiven Willens.
Z.B.
hat
Gram s ci sehr gut begriffen, wie sich der »populare Katholizismus«
u nter den s pezi fis ch en italienischen Bedingungen als hervorragende Alternative zur Entwicklung einer säkularen »national-popularen«
Kultur konstituierte, und d aß man diesen Katholizismus in Italien ein
binden mußte und ihn nicht einfach
wegw ü n schen
konnte. 1m Gegen
satz zu v ielen anderen verstand er auch die RoHe, d ie der Faschismus
in Ital ien s pielte , i ndem er den rückständigen Charakter der national
popularen Kultur in Italien »hegemon i sierte« ., ihn in einer reaktio nären, nationalen Fo rmation wieder modern machte und ihm eine ei gene Basis und U ntersrutz ung im Volk verschaffte. Ü bertragen auf an
dere, vergleichba re Situationen, in denen »Rasse« und Ethnizität mäch tige, kulturelle, national-populare Konnotationen hatten und hab en , müßte sich Gramscis Schwerpunktsetzung als enonn erhe ll end erweisen .
Zum Schluß möchte ich die Arbeit G ram sci s auf dem Gebiet der Ideologie hervorheben. Es i st klar, daß » Ra s si smus« , wenn es auch
kein ausschließlich ideol ogi s ch es Phänomen i st, doch wesentli che i deologische Dimen sionen hat. Daher hat sich die relativ grobe , re duktion istische Vorgehensweise der materialistischen Ideo logie als ei n Hindernis für die notwendige Analysearbeit auf di e sem Gebiet erwie
sen . Besonders durch die homogeni sierende, widerspruchsfreie Kon z ept ion von Bewußtsein und I d eo logie erstanden verkürzte Anal ys en ,
d i e die me i sten Kommentatoren zutiefst hilflos gel assen haben, wenn
sie genötlgt wa ren . einen Grund für den Einfluß rassistischer Ideolo
g i en , sagen w i r, innerhalb der Arbeiterklasse anzugeben oder in Ins ti tutionen w i e den Gewerkschafte n , die, abstrakt gesehen , eigentlich
anti-rassistische Positionen hätten einnehmen müssen . Das Phänom en
des » Rassi smus i n der Arbeiterklasse« hat s ich, obwohl es keineswegS
die einzige Art von Rassi smus i s t , die erklärt werden muß, als außeroT_ dentlich analyse-resistent erwiesen .
Gramsci zeigt , daß untergeordnete Ideolog i e n unvermeidlich wider_
sprüchlich s i nd : » s teinzeitliehe Elemente und Prinz ipi en e iner ent wickelteren Wissenschaft, Vorurteile aus allen vergangenen Ph asen
der Gesch ichte
(. . .)
und Versatzstücke ei ner z u künft igen Phil oso_
phie« . Er zeigt, daß das s ogenan nte ).Selbst«, das diese ideologi sc hen
Formationen stützt , nicht aus einheitlichen , sondern aus w idersp rü ch_
lichen Subjekten und sozialen Konstruktionen besteht . Auf di ese Weise hilft er uns, eine der häufigsten , am wenigsten geklärten Er
scheinungen des Rassismus zu verstehen : die »Unterwerfung« der
Gramscis Erneuerung des Marxismus
91
Opfer des Rassismus unter die Mystifikationen gerade der rassisti schen Ideologien , die sie fesseln und definieren. Er zeigt, wie unter schiedlich und oft widersprüchlich die Elemente in verschiedenen theoretischen Diskursen integriert und miteinander verwoben sein können: aber auch die Spezifik , den Wert des ideologischen Kampfes, in dem versucht wird, die Ideen und das AHtagsbewußtsein der Massen umzuwälzen . All dies ist zentral für die Analyse rassistischer Ideolo gien und für die Bedeutung des ideologischen Kampfes gegen rassisti sche Ideologien . In a11 diesen verschiedenen Aspekten und zweifellos i n anderen , die ich hier nicht die Zeit hatte zu entwickeln , stellt sich
Gramsci bei näherer Betrachtung und trotz seiner offensichtlich »euro zentrischen« Position als einer der theoretisch fruchtbarsten, am we nigsten bekannten und am wenigsten verstandenen Quellen heraus, aus denen neue Ideen, Paradigmen und Perspektiven für aktu elle Untersu chungen »rassistisch« strukturierter gesellschaftlicher Phänomene ge wonnen werden können . Übersetzung: Nora Räthzel
Anmerkung 1
Di ese fragmentarischen S ch ri fte n , einschließlich der Kerkerhefte, befinden si ch im wesentlichen im Gramsci-Institut in Rom ,
wo
eine zusammenfussende
kritische Ausgabe seines Werkes immer noch für die Veröffentlichung vorbe
reitet wird . Während dies gesch rieben wird, sind vier Bände der geplanten achtbändigen Ausgabe von Einaudi in Thein schon als »Scritti« veröffentlicht. In englis,che r Sprache gibt es eine Reihe von Sammlungen seiner Werke u nter verschiedenen Titeln, darunter die ausgezeichnete Ausgabe der
»Selections
from ehe Prison Notebook.s«, herausgegeben von NoweH Smith und Hoare (1971) , und die zwei Bän de ausgewählte »Political Writings«, 1910-1920 (1985), herausgegeben von NoweU Smith und Forgoes. (S.H . ) In deutscher Übersetzung liegen ebenfalls einige Schriften vor. Die hier zitier� ten Passagen finden sich zum größten Teil in der Ausgabe von Riechers. Da mir
die Übersetzung meist inadäquat schi en , habe ich die entsprechenden Stellen auS der i tal i enischen Ausgabe von Einaudi direkt übersetzt. Hinter jedem Zitat
ist jeweils (soweit zu finden) die Seitenzahl in
ten
Riechers mit einem vorangestel1�
»D« und die der italienischen Ausgabe mit einem vorangestellten ))1« aufge (N.�)
ffihrt.
92
Massenkultur und Staat »( . . ,) jeder Staat
ist ethisch , i nsofern eine seiner wichtigsten Funktionen darin be
steht , die breite Masse der Bevölkerung auf ein bestimmtes kulturelles und morali
sches Niveau zu heben , das den Entwicldungsbedürfnissen der Produktivkräfte entspricht und damit den Interessen der herrschenden Klassen. Die wichtigsten Staatstätigkeiten in diesem Sinne sind die Schule als eine positive erzieherische
Funktion; in Wirklichkeit jedoch verfo1gen eine Vielzahl von anderen sogenannten privaten Initiativen und A ktivitäten dasselbe Ziel - Initiativen und Aktivitäten ,
weiche die Apparate der pol itischen und kulturellen Hegemonie der herrschenden
Klassen bil den. « (Gramsci I, 1049)
Die Probleme der Theorie des Staates, die
heften entwickelt,
Gramsci in den Kerker
sind wohlbekannt. Die Sphäre des Staates wird der
art ausgedehnt und reicht in die ti efsten Winkel der Zivilgesellschaft ,
so daß sich in einigen Formulierungen die Un ersche idung zwischen t
den beiden, S phären vö l l ig verflüchtigt . Einen höchst eins chläg igen
Anhaltspunkt l iefert eine frühere Passage in den
Kerkerheften,
wo
Gramsei den Staat definiert als »den gesamten Komplex von prakti schen und theoretischen Initiativen, durch welche die herrschende Klasse nicht nur ihre Herrs ch aft rechtfertigt, sondern die aktive Zustimmung derer zu gewinnen vermag, ü ber die sie herrscht«
1765) .
(1,
Die entscheidende Bedeutung von Gramscis We rk , das ei ne wahre
koperni kani sch e Revolution der marxistischen Staatsauffassung dar
stellt , besteht in der Betonung der pos i t i ven , produktiven Seiten de s Staates gegenüber den bloß negativen und repres s ive n Funkt ionen .
Zudem stellte Gramsci als erster Fragen der Kultur - speziell de r Massenkultur - ins Zentrum der Staatstätig keiten . Der modeme de mokratische Staat , meint Gramsci , gestaltet u nd o rgan is iert die Gesell_
schaft nicht nur im wirtschaftlichen Leben , sondern auf breiter Fro nt. »Sein Ziel ist es immer ( . . . ), die 'Zivilisation' und die Sitten der breite_
sten Volksmas sen den Notwendigkeiten ständiger Entwickl ung de s
öko nomisch en Produktionsapparats anzup assen « (I, 1565f. ) .
Der Staat ist, nach dieser Betrachtungsweise� der O rt eines perma nenten Kampfes darum , den ganzen Komplex von gesellschaftlichen
Verhältni s sen einschließlich derer der Ziv i l ge s el l sch a ft mit den Impe
rativen der Entwicklung in einer Gesellschaftsformation in Einklang zu bringen . Er stellt eine der Hauptkräfte dar, die zwischen ku lturell en Formationen und Klassenverhältnissen vermitteln , indem er diese in
besti mm te Konfigurationen b ri ngt und spezifischen hegemonialen Strategien anp aßt .
Massenkultur und Staat
93
leh will diese g ramscianische Blickrichtung auf den Staat benu tzen , um die Gelegenheiten zu beleuchten , bei denen der britische Staat je weil s en tscheidend dazu beigetragen hat, d i e Massenkultur an die
herrschende Kultur anzupassen . Eine detaillierte Geschichte der Staatsinterventionen in die Sphäre der Massenkultur kann hier nicht
geboten werden , sondern allenfalls eine Reihe von »Schnappschüssen«
verschiedener Au genblicke in der Geschichte der Bez iehu ngen StaatlMassenkultur in Großbri tanni en : die Roll e des Rechts bei der Vermittlung von Klassen-Kulturverhältnissen im 18. Jahrhundert; die
B ezi ehu nge n zwischen dem Staat und der »freien Presse« im 19. Jahr
hundert; und die jüngere Entwicklung von Rundfunk und Fern sehen unter Berücksichti gung ihrer »relativen Autonomie« gegenüber dem Staat. Wenn wir die Unte rsuch ung auf einen so la ngen historischen
Zeitabschnitt ausdehnen , müssen wir uns darüber im klare n sein, daß
weder der Staat noch die Massenkultur eine kon tinu ierlich e , bruchlose Identität aufwe isen . Die Zusammensetzung des S taates wie der Mas
s e nkultu r ändert sich ebenso wie die Beziehu ngen zwischen be iden . Ihr veränderter Zustand ist sogar teils ein Effekt veränderter Beziehun gen zwischen ihnen und der Art und Wei se , wie solche Veränderungen wiederum zu epochaleren Vers chieb u ngen der Klassen-Kultur-Ver
hältnisse beigetragen haben . D iese brachten wiederum Veränderungen
der Forme n und Mechanismen mit sich , in denen die herrschende Klasse i hre Heg emo n ie praktiz ierte.
Ich will daher insbesonder,e herausarbeiten , daß es keine einfach e historische Evolution der Mass enkul tur von einer Periode zur nächsten g ibt . Die Erforschung der Massenkultur ist du rch den deskriptiven An s atz ziemlich geschädigt worden: verfolgt wurde die innere Ent wicklu ng des Zeitvertreibs, von der B ärenjag d bis zum Sammeln von Gartenzwergen , nach der Vorstell ung e iner Entwicklungskette von
»Dingen« , aus denen mit der Zeit andere D inge »werden« , Dagegen möchte ich darauf bestehen , daß w ir auf B ruche und Diskontinuitäten
der Geschichte achten müssen: auf die Wendepunkte , an denen ein ganzes Bündel von Mu stern und Verhältnissen drastisch umgestaltet
oder tran sformiert wird. Wir müs sen versuchen , die Perioden relativer
»Stabilisierung« herauszufind en , in denen nicht nur das Inventar der Ma ssenkultur, sondern die B ez iehungen zwischen Massenkulturen und her rschenden Kulturen relativ beständig sind. Dann müs sen wir
d ie Wendepunkte herausfinden, an denen die B ezi ehungen qualitativ u mges taltet und transformiert werden : die Überga ngs mome nte .
Dadurch wird sich eine historische Periodisierung ergeben, die über das bloß Deskriptive h inausgeht und die Bewegungen in den kulturellen
94
Ausgewählte Schriften
Verhältnissen zu erfassen erlaubt , welche die Entwicklung der Mas senkultur gliedern. Diese Wendepunkte treten nicht ein, wenn sich das Inventar (der Inhalt) der Massenkultur ändert, sondern wenn s ich die kulturellen Verhältnisse zwischen Massen- und herrschenden Kulturen verschieben. Dieser Punkt wird konkreter, wenn seine Implikationen von denjenigen zweier gängiger »historischer« Methoden, Verände rungen in der Massenkultur zu betrachten , unterschieden werden. Die eine betont Entwicklung und Kontinuität und vergleicht traditionellen Dorffußball mit der modernen , vom »Fußballverband geregelten« Ver sion des Spiels. Die andere erkennt d en Wandel , sieht ihn aber ledig l ich als Wandel des Inhalts : hier werden Hahnenkampf, Bullenhetze und andere ländl iche, blutrünstige Sportarten durch den modernen Fußball ersetzt, wobei alle funktionell »gleich« erachtet werden, da sie j a alle bei d en Volksklassen ihrer Zeit populär waren. Nun hat der tra ditionel le Dorffußball gewiß Ähnlichkeit mit dem Pokal- und Liga spi el des 20. Jahrhunderts. Diese Ähnlichkeiten sagen uns allerdings historisch wenig: gerade die Unterschiede sagen etwas. Der vorindu strielle Fußbal1 war sehr wenig geregelt, nicht formalisiert, ohne allge meine Regel n (der Ball konnte getragen , geworfen, weggeri ssen oder geschossen werden; das einzige Verbot bestand darin , daß er nicht an »einen weniger belagerten Freund«, das heißt auf eine feine Art weiter gegeben werden durfte). An einem Spiel waren mitunter Hunderte von Mitwirkenden beteiligt, es fand auf nichtmarkierten Feldern oder in den Straßen statt. Jedes Spiel war lokalen Traditionen unterworfen , nicht selten endete es, w ie Malcolmson bemerkt, mit einer Verwar nung nach dem Gesetz gegen Aufruhr (1973, 40) . Das moderne Spi el ist im Gegensatz dazu i n hohem Maße geregelt und schematisiert, zen tral verwaltet und organi siert nach allgemein beachteten und a nge wandten Regeln. Die Höhepunkte des Fußballs sind national und inter national , nicht lokal , auch wenn die lokalen Bindungen stark bleiben . Das Spiel ist nun eher zum Zu sch auen als zum Mitmachen geei g net, der »Tumult« entsteht eher auf den Tribünen als auf dem Spielfeld . Diese Gegenüberstellung verweist auf qualitative Unterschiede: zwi schen einer ländlichen Gesellschaft, die durch Gewohnheit ) lokale Tra dition u nd durch den Partikularismus kleiner, unmittelbarer Gemein schaften reguliert ist, und einer städtisch-zentralisierten Gesellschaft, die von allgemein angewandten Regeln und einer legalen/rationalen Re gu lationsweise regiert wird. Es gab allerdings keine glatte Entwicklung von der einen zur anderen. Das traditionelle Spiel wurde zum Gegen stand massiver Angriffe von seiten der regierenden Klassen und Obrig keiten, Teil eines allgemeinen Angriffes auf Massenbelustigungen nut
Massenkultur und Staat
95
dem Ziel , die ärmeren Klassen zu moralisieren und sie kontrollierba rer und fleißiger zu machen . Die Trennung des Spiels vom ländlichen Gemeinschaftsleben und Raum rührte von jener Zerstörung alter Le bensweis en her und ihrer durchgreifenden Ne uorga n isation unter neuen moralischen und sozialen Vorzeichen in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts. - Die zweite Methode verfolgt eine Entwicklung, sagen w i r vom Hahnenkampf
(im 18.1h. populär)
Fußball (im 20.1h. populär)
Das ist jedoch nur sinnvoll, wenn die Betätigung von den kulturellen Bedeutungen und sozialen Verhältnissen, in die sie eingebettet ist, iso l iert wird . Das Beispiel verändert sich sofort, wenn wir statt dessen auf
die verschiebungen in dem ganzen Komplex von gesellschaftlichen l-er
hältnissen schauen, nicht nur auf die Beschäftigung selbst:
Hahnenkampf Landadel
Fußball
Bourgeoisie
Dorf
Stadt
Gemeinde
Vorstadt
Gewohnheit
Recht
Gewohnheitsrechte lokale Sanktionen
Eigenturnsrechte öffentliche Ordnung
Wir betrachten hier die »Entwicklung« der Massenkultur über eine ganze Reihe wichtiger historischer Transformationen: einer Änderung zwischen gesch i chtlichen Epoch en und nicht nur von einer Freizeitbe
schäftigung zu einer anderen. Der Hahnenkampf wurde nicht nur ille
galisiert, weil die »feinen Leute« über ihn die Stirn runzelten (das taten sie immer schon) , sondern weil einige feine Leute die Mittel dazu hat ten, dem Landleben städtische Gewohnheiten und Normen aufzuzwin gen (ei nschl ießl ich der Veränderungen in Staat und Recht) ; und weil
Vornehmheit eine neue, züchtige und evangelische Bedeutung erhie1t (mit Veränderungen im religiösen und moralischen Verhalten) . Diese Ver änderungen i n der kulturellen Praxis und Ideologie sagten etwas aus über einen tiefen Wandel der Klassenverhältnisse. Teile der beiden agrari schen Hauptklassen der Gesellschaft ergingen sich in den blutigen Sportarten gerade wegen ihres blutrünstigen Charakters »feine« landadelige (arme Arbeiter und bukolischer Landadel -
Damen , die Hahnenkämpfe führen, sind nicht überliefert) , und dies in nerhalb des komplexen Gewebes althergebrachten Selbstverständnis
ses (die paternalistisch-plebejischen Verhältnisse) , das so viele Bezie bungen zwischen den ländlichen Klassen umrahmte. Wir wollen dieses »organische« Verhältnis nicht romantisieren. Da die hergebrachten
96
Ausgewählte Schriften
Normen lokal gesetzt und die Macht über ihre Ausübung loka1 verteilt
wurde, konnten s ich ein Gutsbesitzer und sein Pächter bei einem Hah
nenkampf individuell begegnen , ohne daß einer von ihnen nur für einen Moment davon ausging, er könne den enormen Abstand zwi
sch e n den l andbesitzenden und den arbeitenden Klassen überbrücken .
Die Klassen , die am modernen Fußbal l beteil igt sind , verbindet ein ganz anderes Beziehungsgewebe und ein anderes Selbstverständnis .
Das heutige Kicken ist nicht mehr in diesem Sinne lokal, auch wenn
eine starke lokale Verbundenheit bleibt. Das Spiel wird ebensosehr durch das MassenpubJikum der modernen Medien wie durch unmittel bare Beteiligung »realisiert« . Es wird , was die Kultur des unmittelba
ren Mittuns angeht, durch die städtisch-industriellen Klassen (und ihre
entsprechenden Profis) bestimmt. Die herrschenden Klassen sind
of
fenbar weithin abwesen d , wenngleich sie häufig bei der Finanzierung, Verwaltung und im Vereinsvorstand präsent s ind
.
Di�se heiden Beschäftigungen sind nur in einem oberflächlichen , bedeutungslosen und sehr allgemeinen Sinn »dieselben«. Beide waren in ein Netz von klassen-kulturellen Beziehungen eingebettet und tru gen zu dessen Erhaltung bei ; aber j ede vermittelte und stützte ein
je
weHs anderes Netz . Heide waren »populär« . »Popularität« war jedoch jeweils verschieden artikuliert. D as Verhältnis Paternalismus/Ehr
erbietung, welches die erste Beschäftigung prägt, gehört einer Kultur an, welche die Hauptklassen der agrarkapitalistischen Gesellschaft des
18. Jahrhunderts zugleich verband und trennte. Die zweite Beschäfti gung bildet sich durch die Herauslösung der Hauptklassen des fortge
schrittenen Industriekapitalismus und ihrer
Neuzusammensetzung als
»Masse« . Es sind daher die Brüche, Diskontinuitäten , Transformatio
nen , die Asymmetrie, welche in diesem Beispiel für die Geschichte der Massenkultur von Bedeutung sind : die scharf unterschiedenen Artiku
lationen des kulturellen Raumes i n den beiden Perioden . Ebensowenig wie ein Wesen , genannt »Staat« , gibt es eine »Massen
kultur« , die sich über Jahrhunderte entfaltete und dabei dieselbe blieb. In den vergangenen drei Jahrhunderten veränderte sich das Aktionsfeld
des Staates fast unmerklich. Der Staat des 18. Jahrhunderts hatte keine reguläre Polizei, kein stehendes Heer und beruhte auf einem sehr
re
striktiven Wahlrecht, das nur für Männer galt. Der Staat des 19. Jah r hunderts besaß keine Industrieunternehmen , beaufsichtigte kein allge meines Bi1dungswesen , war nicht
verant wortli ch
für d ie Wirtschafts_
politik oder für ein Netzwerk von sozialstaat lichen Leistungen . Es gibt keine stetige, ungebrochene Entwicklungslinie von »kleinen Anfän gen« zum interventionistischen Monolithen . Im Merkantilsystem, das
I
t
'
Massenkultur und Staat
97
von der Mitte des 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts seine Blütezeit hatte, während zugleich die frühe Handelsexpansio n Großbritanniens stattfand , spielte der Staat eine d irekte Rolle in der Wirtschaft: er regu lierte den Handel, b ildete verbriefte Handelsmonopole und sicherte
vorteilhafte terms oftrade. Die pol i tische Ökonomie des Laissez-jaire, di e den Merkantilismus als Wirtschaftslehre ablöste und ihren Höhe punkt im 19. Jahrhundert erreichte, als Großbritannien die »Werkstatt
der Welt wurde, gründete in diametral entgegengesetzten Prinzipien: der Markt florierte am b esten wenn er - o hne Einmischung des Staa «
,
tes
-
seinen eigenen Regein überlassen blieb.
Die Veränderungen in der politischen Zu sammensetzung des Staates waren fast ebenso dramatisch . Im 18. Jahrhundert hatte die breite
Masse der Volksklassen fast überhaupt kein Wahlrecht. Das 19. Jahr
hundert war vom Kampf der Volksklassen um die Erweiterung des Wahlrechts beherrscht - dieser Prozeß verzögerte sich lange durch eine Reihe von »letzten« Widerständen von seiten der Mächtigen . Der Widerstand gegen das Frauenwahlrecht bildete eine der letzten (und schmutzigsten) Episoden dieses ganzen Kampfes, so daß das volle Wahlrecht für Erwachsene erst im 20. Jahrhundert (im Jahre 1928) erre icht war . Es wird oft gesagt � das 20. Jahrhundert habe die Ausdehnung des all umfassenden Staates (von der Wiege bis zur Bahre) erlebt Die RoHe des Staates kann jedoch nur verstanden werden , wenn man ihn von
dem abgrenzen kann, was er nicht ist. Der Staat ist bei des : Staat der und S taat über der Gesellschaft. Er e ntsteht aus der Ges,ellschaft, aber er reflektiert in seinen Opera tionen auch die Gesellschaft, über di e er Autorität und Herrschaft ausübt. Er ist Teil der Gesellschaft und doch von ihr geschieden Daher gibt es immer eine Trennungslinie zwi .
schen »öffentlichen« Angelegenheiten (bei denen der Staat ein legiti
mes Recht beansprucht, sich ei nzumi schen) und »privaten« Sphären (die zu den freiwilligen Vereinbarungen unter Individuen gehören , ab seits von staatlicher Regulierung) . Es ist mitunter schwer anzugeben ,
wo genau diese Linie verläuft. Sie wechselt von einer Zei tperiod e zur
nächsten oder von ei ner Gesellschaft zu r anderen. Im 19. Jahrhundert stellte die häusliche Privatheit des »Heims« für den Engländer sein (privates) castle dar, seine Frau war im »Privaten« so gefange n daß sie kein eigenes Eigentum besitzen � nicht wählen und kein öffentliches Amt bekle id en durfte. Im 20. Jahrhundert i s t die Familie zunehmend ,
zum Gegenstand wachsender Staatseingriffe geworden, so daß sie immer weiter in die »öffentliche« Sphäre hineingezogen worden i st . Im
Laissez-jaire-Kapitalismus
waren die Wirtschaft, die Erziehung und
Ausgewählte Schriften
98
die Presse Privateigentum, sie wurden privat organi si ert un d gel eitet ;
sie gehörten zur »Zivilgesellschaft« . H eu te , im entwickelten Kapitalis
mus, ist die Wirtsc ha ft weithin p riva t , auch wenn es einen bedeutenden »öffentlichen« oder staatlichen Sektor gibt; die Erziehung ist im We
sentlichen » öffen tlich« - wenngleich die public schools in Großbritan
nien immer noch privat sind! Und die Presse befindet sich in privatem Eigentum . (Könnte sie sonst »frei« sein?) Hieran können wir sehen , inwiefern das
theoretische Probl em , wel
ches Gramsds Werk hi ns ich tlich der Beziehungen zwischen Staat und Zivilgesellschaft aufwirft, zugleich ein historisches Problem darstellt . Die Linie Staat/ Zivilgesellschaft ist eine der beweglichen Grenzli nien , deren Vers ch ie bungen uns sehr viel über de n sich ändernden
C h arakter des Staates sagen . So is t es Z . B. e in wichtige r Einschnitt,
wenn die Kultur kein Privileg und kein Vorrecht zur Kultivierung von Privatindividuen mehr ist und der Staat anfangt, d afür öffentliche Ver
antwortung zu übernehmen . Im Lichte dieser Überlegungen mu ß man
sich daran erinnern , daß G ramscis erweiterte Staatsbestimmung weni ger als eine Theorie von Staatsformen allgemein gedacht war ; sie sollte vielmehr speziell auf den modernen demokratischen S taat und den
Von
ihm reklamierten e rweite rten Kreis von Fu nkti on en passen , die so tief i n die Z ivilge sell schaft hineinreichen , daß die für das 19. Jahrhunden
zu verlässige
Untersch eidung
Staat/ Ziv i lgesell s chaft
ins
Wanken
gerät. Das sol1 nicht heißen , das man sich die Entwicklu ng der S taats
formen als ein s tändiges , schrittweises Vorrücken des Staates auf das
Gebiet der Zivilgesellschaft vorstel l en kann. Die Entwicklu ng der Rolle des Staates im Verhältnis zur Massenkultur vom 18. zum 20.
Jahrhundert zeugt nicht nur von einer quantitativen Zunahme der Be deutung des Staates bei der Regu li erung von Kultur, sondern auch VOn
einer Reihe qualitativer Transformationen in den Bez iehungen vOn
S taat und Kultur.
1 . Recht , Klasse und Kultur :
ein Beispiel aus dem 18. Jahrhundert
Die Klasse, die aus dem Sieg des Hauses Hannover im Jahre
168 8
in . erster Linie Nutzen zog, war die landed interest, der Großgru ndbe sitz Sie bestand aus Männern mit großem Landbesitz , Aristokraten oder
Bürgern, di e sich nach u nd nach al s eine »blendend erfolgreiche und selbstbewußte Kapitalistenklasse« einrichteten (Thompson 1965,. 9) .
Sie sicherten ihr jährliches Einkommen durch Re n ten und land win_
schaftliche Verbesserungen, dehnten ihre Ländereien d u rch kluge
99
Massenkultur und Staat
Heiratspolitik und Einhegu ngen aus ; s ie spekulierten im Handel auf
grund der expand ierenden Märkte im 1n- und Ausland , und sie fingen an, kleine Hausindustrien zu entwi cke ln Land, Handel und der Markt schufen eine u ng eheure Ans ammlu ng agrarkapitalistischen Reichtums von Eigentum und Macht : die materielle Basis einer Klasse - zutiefst kapi tali stisch in der Denkungsart ( . . . ) zitternd vor Habgier und pein lich genau in ihrer Beachtung der Buchfü hrung (ebd.), also die erste bürgerliche Kultur«< , die die Welt je gesehen hatte. .
. .
»
«
YStimme«, eine Quel le kultureller Macht und ei n Mittel der Selbst-Identifikation als Klasse. Neue Formen und Praxen wie der Roman , die großen l iterarischen Pe riodika, die Zeitungen , Schreiben und Veröffentlichen für
Geld
,
Re
zensieren wurd en für dieses neue Publikum geschaffen und handelten von ihm : sie formten seine Erfahrung und verschafften seinen kulturel
len Idealen und Sehnsüchten Ausdruck. Die berühmten Zeitschriften der Zeit , der Tatler, der Spectator, das Gentleman 's Magazine., trugen zur Formung des sozialen Geschmacks und der Gewohnheiten von Männern nach dem Bild des bürgerlichen »Gentleman die rasch von Marconi dominien i
wurde - ei n Ol igo pol ganz neuer Art.
Die strategische Bedeutung de s
Funks wurde erst während des Ersten Weltkr i egs offensichtlich . D amit
tauchte e i n neuer Faktor auf: die Frage der Kontrolle. Seine strategi_
sche Bedeutung machte den Funk für das militärische u nd Verteid i
gungs-Establi shment sehr interessant. Nach dem Wireless Telegraphy Act von 1904 mußten »alle Sender ode r Empfanger von Funksign al en eine Lizenz haben, deren Bestimmungen und Bedingungen von de r Post festge1egt werden« . Amateursender wurden zwischen 1914 und
1919 verboten . Das Imperial Communications Committee beschwene
sich im Jahr 1920, daß die S ender von Marconi »wichtige Send ung n
e
stören« (Briggs 1961, 48f. ) . Wenngleich die allgemeine Struktur de s Run dfunks noch c haotisch und sein ganzes Potential noch nicht er
kannt war, hatte der Staat bereits » ein Interesse« begründet .
Dann w irkten mehrere Faktoren zusammen, dieses Chaos i n eine sehr besti mmte und neue Fo rmati on umzuwandel n . Zue,rst wollte n d i e
Produzenten ihre kommerzi elle Vorherrschaft gegen die Konkurrenz
von Amateuren und kleineren Rivalen konsolidieren : dazu mußten
sie
abe r zunächst die Konkurrenz u ntereinand er der Konsolidieru ng ih re s Monopols unterordnen . Das wurde durch eine Vers chmel zung der »großen Sechs(( (Marconi , Metropolitan Vickers, General Electric
Radio Communications, Hotpoint und Western Electric) mit den »b i� e den kl ei ne n « Gesellschaften {Burndept und Siemens) e rl edi gt . Die s e
r
I
Massenkultur und Staat
1 17
Entwicklung wurde von der Regierung ausdrücklich ermutigt. So b il dete sich die kommerzielle und industrielle Basis de r British Broadca sting Company. Das war ein m achtvoller und restriktiver Zusammen schluß; ein w en i ge r höflicher Name dafür wäre Kartell . Ein zweites Element kam hinzu . Die Bed ingungen des »booms« , unter denen sich das Rad io in den Vere in igten Staaten in der ersten Zeit (1914-1929) au sbreite te sollten als furchtb are Warnun g dienen. Das am erikani sche Radio existierte in einer u ngerege lten und zügel lo sen Konkurrenz, was zu Wellensalat und Stö ru n gen« führte . Das Senden wurde zu ein em offenen Rennen , einem Kampf um das »Geschäft mit dem Radio«, ein Feld 1ukrativer Investitionen und ein Kanal für ko n ,
»
der ei nen Seite beschleunigte diese kom merzielle Ko nkurrenz »Störung und Überlagerung, ein Knäuel vo n S ign alen und die gegenseitige S törung u nd Unte rdrückun g ri vali s ie ren der Prog ramme « (ebd . , 64) . Andererseits fOrderte die ungeregelte Art des Funkmaterials einen »sorglosen« Umgang mit dem Medium es war eher ein ), Spielzeug zu r Un terhal tung von Ki ndern als ein Dien st an der Menschheit« (ebd. , 48) . kurrierende Werbung . Auf
die Regierung wandten sich i n Großbritannien ent schieden gegen das »Chaos im Äther « , das sie auf die unl izenzierte und unregulierte Art der kommerziellen Konkurrenz zu rü ckfüh rte n (also auf eben jenen Markt, der angeblich die Freiheit der Presse so gut be wahrt h atte) der kein öffentliches Interesse oder ernsthaftes gesell schaftliches Anliegen aufgezw ungen werden könnte. Da sich die kom merziell en Interessen nun ei nm al durch eine Verschmelzung heraus ge bildet hatten und der Staat mit diesem Monopol verhandel n konnte, trat er in ei ne Art kulturelle Partnerschaft m it diesem ein Im Januar 1923 ertei lte die Post der vereinigten British Broadcasting Company im Januar 1923 eine exklusive Lizenz, »Nachrichten, Information Kon zerte, Vorträge, Bildungsprogramme, Reden, Wetternachrichten, Theater-Unterhaltung und j egli che andere Sendungen ( . . . ) im Rahmen und im U m fang der besagte n Lizenz zu s en den ( . . . )« (ebd. , 127) . Dieses kü n stli che U ngeheuer wu rd e zur Basis de s öffentlichen Run dfunks in Großbritann ien : eine »Sendeautorität, ei n nur notdürftig verkleidetes In strument des privaten U ntern ehmertum s , das doch merkwürdige Ähnlichkeit mit einem offiziell abge segn eten Monopol hatte« (Boy le 1972, 128) . Al s erster Spitzenmanager der C ompany wurde lW.C. Reith ernan n t , der ihr kulturell es Geschick leiten sollte. Die
Post und
,
,
.
,
.
war eine Kulturinstitution ganz neuen Typs. Die Regelung durch »reine Marktkräfte«, durch offene und ungehi nderte Konk.ur� renz, die zu r »Befreiu ng « der Presse g edient hatte, war nicht m eh r Die BBC
' I
!
118
Ausgewählte
Sch riften
geeignet, um i n einer auf e in technisches Medium von so enormer ge sellschaftlicher und politis cher Macht gestützten Massendemokratie einen n eue n Ort kultu relle r Autorität zu erhalten. Da b rauchte ma..ll eben eine neue Art von Partnerschaft zwischen Monopolkapital,
Volk
und Staat . Eine dera rtige Institution brauchte auch eine neue »Philoso
phie« . Die lieferte in e rste r Linie Reith . Hochherzig und geme i ns innig
wie Amold, wenn auch mora li sc h str eng er u nd se lb stgerechter , war Re ith davon überzeugt, daß - angesichts des »Chaos« rivalisie render Parteien, Krä fte und Doktrinen in ei ner Demokratie - die Gesell schaft eine feste morali sc he Führung , Achtung vor den traditionellen Werten und vor ei nem »bes se re n Selbst« brauche. Die Zustimmung u nd das Vertrauen der Leute müssen für ein e Autorität gewonnen wer den , die öffentli chen Geschmack und Werte nicht nur über das Medi um des freien Marktes widerspiegelt, sondern die den öffentl ich e n Ge
schmack erzieht, führt, formt und auf »höh ere Werte« l enkt . Rei th er l egte dem Rundfunk ein hohes, strenges, idealistisches und traditiona_ listisches ethisches Regi me auf. So eine Aufgabe, eine Berufung�
konnte aber seiner Mei nung nach n icht ohne die volle Autorität des Staates erfüllt werden . Nu r der Staat konnte den Rundfunk mi t der Le g itimität kultureller Führung ausstatten . Reith war, in di esem Si nn e"
wenn auch keineswegs ein »Kollektivist« , so doch eine neue Art von i n
tellektuellem Wächter
ein organischer Intellektueller des Staates .
Das neue Instrument kultureller Erziehung brauchte, seiner Auffas_ sung nach , ein Ideal vom Dienst an der Öffentli ch ke it , einen Geist mo
ralischer Ve rpfl ic htu ng und ges ic herte Finanzen . All d ies war unmög_ l i ch ohne das, was er die »rohe Gewalt des Monopols« nannte (B r iggs 1961 , 238). Und so führte der Mann , d er zum C h efma nager eines li
zenz i erten Monopols ernannt worden war, vor dem Crawford COITUnit_ tee Argu mente an, die dieses von der No twe ndi gkei t überzeugte, die )}Company« in eine »Corporation� zu verwandeln: eine öffentliche Be
hörde mit Reith al s ihrem ersten Generaldirektor! Die Formel für d ie se neue Art kultureller In stituti o n wurde von Reith fein füh lig wie gewöhn_ lich, aber präzise fo rmu liert : »eine öffentliche D iens tlei stung , nicht nUr ihrer Ausführung, so ndern auch ihrer Verfassung nach - aber geWiß
kein Staatsministerium« (Reith 1949, 102). Diese fei nsinnige Ve ro rtun g - im Staat, vom Staat Autorität beziehend, aber nicht staatlich - ist Sei t jeher die Gr und lage der kulturellen Arb eit der BBC, die Begründun ihrer »Abhängigkeit« wie ihrer »Unabhängigkeit« .
g
Das gesamte Schwe rgewich t der BBC lag, wie b eim Staat, deSsen Entwicklu ng sie gewissermaßen spiegelte, auf »Zentralisiemng « .
B r ei te und Vielfalt, die i n der Presse durch freie und u ngeregelte
Massenkultur und Staat
1 19
Konkurrenz erreich t w u rd en , mu ß ten irge ndw ie al s Strategie in der vermi sc hten Programmpolitik ein er korporativen Institution angelegt werden. Die Rundfunldeu te , ihre kulturellen Hüter, sollten die öffent licbe Verantwortung übernehmen, die Kultur des gesamten Volkes als eine organische nationale Ku ltu r darstellen und zug leich traditionelle Werte und Maßstäbe verteidigen und den Massengeschmack zu seinem »besseren Selbst« erziehen . Für diese Kon zep tion nationaler Kultur petitk stand eher der S taat selbst Modell (der alle Interessen in s ich
ausbalancieren und interessenunabhängig handeln soll)
als der Markt.
Ein Instrument der Natiortalkultur In der Zeit zwischen ihrem Ausbau als »öffentli ches Dienstleistungs sy stern« und dem Zweiten Weltkrieg wurde die BBC zu einer nationalen, kulturellen I nstitution. Zwei Wörter, die sich in dieser Periode mit der BBC verban den , liefern einen Schlüssel zum Vers tändni s dieser kultu relle n Vormachtstellung. Die BBC wurde als »Autorität« betrachtet.
Und sie war ei ne »)Körperschaft« . Beide Wörter müssen buchstäbl i ch und in ihrem metaphorischen Sinn verstanden werden . Die BBC war bu chstäblich autorisiert worden, das heißt, sie haUe die Lizenz, sich über d en Rundfunk an die Nation zu wenden. Bildlich gesprochen jedoch baute sie eine M ach tstellu n g (d.h. Autorität) gegen
über ihrem Publikum auf. Ihre Maßstäbe, die sp ez ifische Zusammen stellung von Programmen , die gültigen Sprechweis en , der musikali sche Gesch mac k, Bildung und die Auswahl von Un terhaltu ng , ihr »Rundfunkverhalten« (eine Zeitla ng trugen alle Nachrichtensprec h er von Re ith Abendanzug und schwarzen Schlips, obwohl s i e ja nicht ge
sehen wurden) setzten die autoritativen Maßstäbe, nach denen der öf
fentliche Rundfunk selb st beurteil t wurde.. Und die BBC war b uchstäblich eine »Körperschaft« : s ie ve rein igte in einer Institution alle Elemente, die für Aufbau und Erhaltung eines na
tionalen Rundfunkmediums als n otwe nd ig erachtet wurden . Bildlich gesprochen aber inkorporierte sie alle Publikumsgruppen der Nation, das h eißt , sie faßte sie zu einer organischen , we nn auch in sich viel schich tigen Einhe it zusammen : regionale., lokale, metropol itane Grup pen; sie vereinigte auch alle Geschmacksrichtungen und Interessen in
der Nation. Die BBC war integrativ in dem Sinn , daß s ie für an diese Klassen un d Arten von Publikum einen Platz schuf. Sie a rrangi erte und organisierte sie jedoch in einer bestimmten Hie rarchie. Der
Schwerpunkt lag auf den gebi lde ten , toleranten , ernsten, kultivierten, gemeinsinnigen , s elbstlo se n Mittelklassen - Arnolds Tugendwächter. Sie entwarf aber auch einen annehmbaren, wenngleich untergeordneten
Ausgewählte Sch riften
1 20
Platz für die vielen regionalen und der Arbeiterklasse angehörenden
Hörerschaften und fügte sie dadurch in die nationale Hörerschaft ein (vg l . dazu Cardiff/ Scannell 1982, 44) . Auf dies e Wei se identifizierte sich die BBC m it einer bestimmten D arstellu ng der Na tion , sie war ein nationales (kein regionales) Medium für eine nationale Hörerschaft.
In ihren Programmen und Politiken richtet sich di e BBC an die von ihr
konstruierte N ati o n , indem sie die viel en e ngl i sc he n Stimmen in ihrer
»Stimme« ve rsöh n te. Die gan ze Skala von
»
natio n ale n Stimmen«
wurde der Nation durch das Medium der Schallwellen zUfÜckgespi e
gelt. Und doch - die Standardstimme, der akzeptierte Akzent , die üb
liche Aussprach e und der To n fal l der ) BBC-Stimme« , setzte i hne n i hre
Schranken und wies ihnen ihren Ort zu . Das war natürlich weder » Cockney« noch ) Scouse« , nicht einmal das echte »Oxbridge« . E s war
eine sy n theti sche Spi elart der gebildeten Mittelklassensprache aus d en
an London g renzenden Grafschaften. Eben diese Stimme las die Nach richten , leitete die Programme ein, beschrieb die Symph o n i en , inter viewte offizielle Sprech erI nnen , machte die Ansagen , fü l lte die LÜk.
ken zwis chen den Programmen : Sie war der Zement , der den Rund
funk zusammenhielt . In den anderen Programmbereichen der BBC, i n ihrer mehr pol itischen , weniger kulturel1en Rolle, s p i elte sich in vi el er
Hinsicht derselbe Prozeß ab. Auch hier stellte sich die BBC al s di e Stimm e der Nation dar, nicht als die des Staates, der Regierung ode r
gar » des Volkes « . Eine Schlüsselepisode bei dies er Verwa n dlung in eine nati onale Institution war der Generals trei k . Während des Gen e ralstreiIcs
1926 war das Land e ntlang der Klassenl in ie n und politiSch en
Gräben tief gespalten . Das Kabinett Baldwln dachte, von Chu rch i U an getri eb en , erns thaft daran , die BBC unter sein Kommando zu stelle n :J
wie es das mit der Presse getan hatte. Reith focht hart darum, die »U n-
abhängigkeit« der BBC zu erhalten , wenngleich er mit der Reg i erungs_
seite sympathisierte. Zum er sten Mal w u rde in diesem Moment die vOn
den Prinzipien und Praktiken der » Unparteilichkeit und Ausgeglichen _ heit« gesc hü tzte Autonomie der EBe geg enüber dem Staat mit NaCh_
druck verkündet und verteidigt. In ei n em vertraulichen Schreiben an das l eitende Personal faßte Reith , als der Streik beendet war, das emp_
findl iche Gl eich gewicht , auf dem diese Autonomie beruht, in Merk_ sätze. Indem »wir« unabhängig blieben , argum entierte Reith, »bewahr_
ten u nd erhi el ten w i r das Wohlwollen und sogar die Zuneigu ng der Leute ; ( . . . ) vertraute man uns, daß w i r j ederzeit das Rechte tun; ( . . . )
wir waren eine nationale Institution und sogar ein nationale r Wen . «
» Auf der a nderen Seite« , fuhr Reith fort, >:.da die BBC eine national e Einrichtung war und da die Regi e rung i n dieser Krise für das Vo lk han_ delte ( . . . ) war die BBC in dieser Krise auch für die Regierung«.
Briggs
12 1
Massenkultur und Staat
bemerkt, diese vers c hlungene Grundsatzaussage »macht den Wunsch der BBC deutlich , 'authenti sch e, u npartei liche Nachrichten' zu über mitteln und zugl eich in jeder Bedeutung des Wortes 'eine Organ i s.ation
im Rahmen der Verfassun g' zu bleiben« (Briggs 1961, 365f.). Der komplizierte Balanceakt, durch den die BBC zu gle ich im Staat blei bt und doch von ihm - von der Regi erung wie vorn Volke - unabhängig bleibt, ist in diesen doppeldeutigen Formulierungen gut bezeugt . Das i st , sehr knapp skizziert, die Geschichte, wie sich die BB C eine Identität al s nationale, kulturelle Institution schu f, wie sie zur selben Zeit dazu d iente, die klturellen Maßstäbe u nd Werte oder he rrschen u
den Klas senkul turen aufrechtzuerhalten , i ndem sie diese in einer e in zigen »Stimme« o rgani s i erte und di e anderen Klassen- und reg ional e n », Stimmen« i n ihren o rga ni sc he n , korporativen Rahmen integrierte. Wie die BBC dann nicht nu r einfach eine >�nationale« , son dern eine
Volksinstitution wurde und zeitweise mi t dem Schicksal und Glück des ganzen britischen Volkes i denti fiziert wurde, das ist die Ge schichte des großen Aufschwungs, den die BBC in den Jahren des Zweiten Welt krieg s nahm , a ls sie viele der Dinge symbolisieren sollte, für die Eng- .
länder zu kämpfen glaubten .
Rundfunk - der »Schattenstaat« Sobald alle rdings der Geist »nationaler Ei nheit« ange sichts des Feindes abebbte, wurde das Modell, nach dem die BBC gegründet worden war
und das sie über drei Jahrzehn te ausgebil det hatte, auf die Probe ge
stellt . Mit den neuen Experimenten im Fernsehen tauchte der Reiz
eines neuen und höchst lukrativen, zu m Radio altern ativen Mediums
erstmalig i n den friihen SOer Jahren auf. Die Fragen nach dem am be
sten geeigneten Moden kultureller Füh rung kamen wieder auf. Die
Thtsache, daß man sich 1954 für einen ITV Kanal (d . h . einen kommer
nicht für eine zweite BBC (d. h . eine öffentliche entsc h ied , zeigt, daß die &egulierung und Ordnung der Kul
zieHen Se nder) und
Behörde) tur du rch den freien Markt in Ges e ll sch a ften wie G roß.britannien auch
in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine lebendige Alternative zur staatlichen »Inkorporierung« bleibt Die Bevorzugung des Marktes gegenüber der staatlichen Reg uli e rung hat sich ja seit den 50er Jahren eher noch verstärkt. Das zei gt wiederum, daß die führenden Gesell schaftsldassen
z w isch e n
mindestens zwei verschiedenen und konkur
rierenden, kulturellen und ökon omi schen }>Modellen« gespalten bl ei
ben; freier Markt oder Staalsunterstützung . Das erinnert un s auch
daran, daß
der Staat zwar das notwend ige Zentrum ist t durch den
. die vielen Konfliktlinien der
Politik
zusammengezogen und zu einem
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1 22
Ausgewählte Schriften .
kohärenteren H and l u ngsimpul s der Regierung verknüpft werden , daß
ab er die »Einheit« des Staates ni emal s voll s tänd ig ist. Der Staat bleibt w ide rsprüchl i c h , angetri eb e n du rch konfl i g i erende Pers pektiven und
poli ti sche Interessen ; diese reflektieren häufig die wi rklichen Uneinig kei ten zwischen und in den vers ch i edenen Teil en der h er r sch enden Kl as s e .
Die konservative Partei war zum B eis pi el über die Frage tief gespal ten, ob der zwei te Kanal als eine »öffentliche Dien stleistu ng oder als »marktorientierter kommerzieller« Sender aufgebau t werden sollte. Selwy n Lloyd u nter s ch rieb in Opp ositi o n zu den eher »paternali sti_ seh en M itgliedern s e i n er Partei (z . B . Lord Hail s h am) ei n M i nd erhe i tengutachten an das Beveridge Committee, von dem das Marktpri nzip bevorzugt wurde. A l s der Television Act von 1953, der zur Ei nrich tu ng «
«
_
des ITV Senders führte, s chli eßlich verabschiedet wurde, trug eine pressure group von konservativen Hinterbänklern im Bündnis mit den-
, selben kommerziellen Interessen, die in den ersten Tagen der BBC darum gekämpft hatten, diese zu kol o ni si ere n , den Sieg davon (Her stelle r von Ausrü s tungen , Werbeagenturen,. große Investoren U8W�).
D er zweite Kan al wurde nicht durch eine staatliche Lizenz, sondern
durch Verkauf von Werbezeiten solide finanziert . Er muß te sich daher d er Logik de s Marktes u nterwerfen . Das bedeutete eine exp li z i te Au s ri chtung auf ein M ass en pubHku m und sei ne Konsumtionsform du rch Progranune, die den herrschenden Publikumsgeschmack unmi ttelbar ansprechen . So wettei fer ten in Großbritannien in der
ersten Zeit nach
dem Beginn der Radio- und Fernsehära zwei Arten von kulturel l en Einr i c htu ngen miteinander um die kul turelle Führung, d ie
auf zWei
konk u rrierenden kulturellen Modellen gründeten und die Ver hältni sse
zwischen den Klassen und Kulturen auf zwei kontrasti erende Wei s en orchestrierten - die »patemali stische« BBC und der »populisti sche « ITV.
Di e Wi r ku n ge n des W ettbewerb s waren jedoch komplex. Di e BBC
mußte in ihrem Kampf um die M ehrh eit des Publikums populisti scher
werden , be s ch ei dene r, mehr auf Konkurrenz bedacht sein. Aber der ITV verbrei t erte und variierte auch mit der Zeit seine Produkti o n , pro duzierte auf öffentliche Kr iti k hin einen größe ren Anteil von »wertVOl_ lem« MateriaL So kam es, daß die b eiden Kanäle mehr Gemeins amkei _ ten als Unterschiede haben .
Andererseits kann diese »friedliche Koexistenz« Cd . h . sc harfe
Kon-.
kurrenz) zwischen diesen beiden Elementen des Duopol s , das seith er das Fernsehe n im Lande beherrscht hat, lei cht mi ßverstanden werde n wa s die Ei nm i schung des Staates in die Kultur angeht . Denn das
ITV
Massenkultur und
1 23
Staat
(wie der neue vierte Kanal) ist nicht und war niemals eine reine Instanz des kommerziellen Modells, wie es die Presse des 19. Jahrhunderts
war. Wenngleich ITV unabhängig organisiert und finanziert war, hatte
ihm der Staat durch die Bestimmungen der Gründungsakte ( i m Prin zip) und durch die ihm vorgesetzte Aufsichts»behörde« , der Indepen den t Broadcasting Authority (IBA) , viele Maßstäbe, Kri terien und An forderungen des öffentlichen Sektors aufgezwungen . Vom ITV wird erwartet, daß es auf seine Weise »der Nation dient« und einem Ideal öf fentlicher Dienstleistung genügt. Es muß auch bestimmte festgelegte Programmkriterien und -maßstäbe erfüllen; einer breiten Skala von
Publikumsinteressen und -ges chmack dienen ; es muß sich also an die Nation wenden . Seine Arbeit wird durch die mA koordiniert . Seine Anträge auf Sendcrechte müssen (auch wenn die Einzelheiten privat
b leiben) bestimmten Anforderungen genügen , und im Bereich von Nachrichten und politi schen Sendungen sind die Anforderungen an »Ausgewogenheit, Neutralität, Unparteilichkeit« - die Bedingungen, nach denen das Fernsehen zugleich »unabhängig{( und doch ))im Rah
men der Verfassung{( bleiben darf - weitgehend dieselben wie die in
der Praxis der BBC herrschenden. Sie sind sogar in dem [1V Act klarer und formaler gefaßt als in der Charter der BBC (vgl. Kumar 1977) . Das Fernsehen ist also mit vielen sichtbaren und unsichtbaren Fäden, direkt und indirekt , mit dem Staat verbunden . Die Rundfunk leute und die allgemeinen Strateg ien der Sender bleiben zwar in ihrer täglich en Arbeit ziemlich unabhängig , sind aber innerhalb des staatli chen Bereichs und der Staatsgewalt organisiert. Die Definitionen poli tischer Wirklichkeit, die innerhalb des Staates als »legitim« angesehen werden , bilden zugleich die Grenzen , in denen sich die Medienversion der Wirklichkeit bewegt. Die Sendeanstalten werden nicht direkt eine
Regierungsmeinung reproduzieren ; sie sind nicht in diesem Sinne das
bloße Sprachrohr der regierenden Partei . Aber w ie der Staat nicht den
einen U nternehmer gegenüber dem anderen bevorzugt , sondern das System� des privaten Unternehmertums
als
ganzes
aufrechterhält,
so
wirft kein Sender illegal sein Gewicht in die Waagschale der einen
oder anderen politischen Partei ; er achtet und pflegt aber den ganzen ideologischen Rah men , die Grundstruktur gesellschaftlicher Verhält
nisse, die bestehende Verfügung über Reichtum� Macht, Einfluß, Pre stige - auf deren Fundamenten er sch1ießHch selbst ruht. Wenn Rund
funk und Fernsehen irgendeine dieser Fragen behandeln, si nd ihre
Ausgangspunkte, ihre Parameter und Bezugsrahmen dieselben wie
diej enigen , die der Staat für die Gesellschaft gesetzt hat. Die für den Staat neuralgisch en Punkte (Nordirland , Streiks, Gewerkschaftsmachl,
Ausgewählte Sch riften
1 24
atomare Strategie, Inflation, linke Vorstöße in den politischen Partei en) werden früher oder später auch zu neuralgischen Punkten vo n
Rundfunk und Fernsehen . Die Anstalten orientieren sich ständig an
den Verschiebungen und Trends in der etablierten po1itische n Kul tur und passen sich ihnen an . Wenn ein kontroverses Problem erörtert werden soll, wird jeder Mensch vom Rundfunk oder vom Fernsehen
mit einem gewissen Instinkt fürs Überleben die herrschende Defini tion des Problems als Ausgangspunkt nehmen . Wenn die
Nation
ge
spalten i st, wenn bestimmte Probleme die Parteien und Klassen zer reißen , dann bildet der vom Staat repräsentierte letzte Rest von Ko n
sens den ei nzige n Ruhepunkt oder die letzte Autorität, die für Rund funk und Fernsehen ein gewisses Element von Legitimität bewa hrt .
Allgemein scheint es so, daß sich BBC und ITV in diesem neue n Modell - wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß - bewegen , sich nach dem Vorbild des Staates modellieren und dessen Praxen zu repro
duzieren suchen . In Zeiten relativer Ruhe oder nationaler Einheit Ver sorgt der allgemeine Konsens (der nach der liberal-demokratischen
Theorie vom Staat repräsentiert werden soll) Rundfunk und Fernsehen mit seiner Autorität , Legitimität und mit praktischer Orientierung . In
Zeiten des Streits und sozialer oder politischer Spaltungen umschi ffen wie die Beatn_ die Rundfunkleute d i e Gräben im Konsens, indem sie -
ten - eine »über den Kämpfen schwebende« Position der Unparteilic h_ keit und Neutralität einnehmen . Dieses Bündel von grundlegenden Parallelen zwischen den Sende_ ansta1ten und dem Staat (besonders stark in den Bereichen NaChrich_
ten , aktuelle Ereigni sse und politischer Kommentar) kann man in der aktuellen Praxis einzelner Programme verfolgen . Aktuelle (poli ti sChe) Fernsehprogramme weisen der Form nach auf nichts so deutli ch hin
wie gerade auf die Quelle ihres Zusammenhalts : den Staat. Sie sin d S o organisiert, als sei die BBC wirklich eine Art von »Schattenstaat« : d as Studio - ein M ikrokosmos des Parlaments; die FernsehmitarbeiterIn _ nen - niemand anders als die »Sprecherinnen des hohen Hauses« selbst; und die »FachkommentatorInnen« - die Entsprechungen Z u den höheren Beamten und Staatssekretären mit ihren neutralen Schri ft_ sätzen
-
selbstlose Wächter des »öffentli chen Interesses« (vgJ .
auch S. 126ff. in diesem Band) .
dazu
Massenkultur und Staat
1 25
4. Schlußfolgerungen Ich habe zu zeigen versucht, wie kulturelle Institutionen und Praxen ein bestimmtes Muster von Verhältnissen zwischen den Kulturen und Klassen in der Gesellschaft institutionalisieren (einrichten , fixieren ,
bewahren , stabilisieren). Diese Konfigurationen versch ieben sich par
i Ci
allel zu viel weitreichenderen »epochalen« Verschiebungen und histo rischen Übergängen. Sie sind aber nicht einfach Neuanordnungen eines bestehenden Musters . Sie führen zur Errichtung neuer »Kräfte verhältnisse« zwischen den Klassen und den Kulturen. Sie modellieren den Charakter kultureller Führung in der Gesellschaft neu und geben ihr eine neue Gestalt . Sie mobilisieren Zustimmung und tragen dazu bei, die Unterstützung der Massen für verschiedene Typen von klas sen-kultureller Macht zu gewinnen und zu bewahren. Der Umbau die ser Verhältnisse spielt in d en Prozessen eine zentrale Rolle, durch die Hegemonie in bestimmten , h istorischen Perioden gewonnen oder nicht
"
gewonnen wird . Ich habe g ezeigt , wie in jedem der drei betrachteten Fälle ein anderes Modell kulture l 1 er Autorität ausgeformt worden i st; wie dies Modell für eine gewisse Zeit eine Art von Vorherrschaft er l angt hat und dadurch (wiederum für eine gewisse Zeit) die kul turel le
Führung einer bestimmten sozialen Kraft oder eines Bündnisses sozia ler Kräfte absicherte , indem sie die beherrschten Klassen in der U nter ordnung po sitionierte und festhielt . Ich habe auch den Druck skizziert, der zur Auflösung eines jeden dieser Modelle und zu seiner Ablösung durch ein anderes Moden führte.
Es g ibt offensichtlich keinen linearen Fortschritt beim Übergang von
einem Modell zum anderen in bezug auf die Rolle des Staates. Selbst im Rundfunk- und Fernsehmodell des 20. Jahrhunderts wurden die Be ziehungen zwischen Staat und Kultur unterschiedlich organisiert, und
e s gibt sogar d eutliche Belege dafür - stärker zunehmend unter dem Thatcherismus -, daß sich die herrschenden Klassen darüber uneinig sind, wie diese Beziehungen organisiert werden sollten . Gleichwohl ist
die allgemein e Tendenz (der wichtigste Punkt in Gramsc i s erweitertem
'
Staatsbegriff) nicht zu leugnen : die Hegemonie in Massendemokratien m uß sich zunehmend auf di e erweiterte kulturelle Rolle des Staates stützen .
Übersetzung: Wie land Elfferding
'· ,1
die Radio- und Fernsehgesellschaften zusammen) sehr dicht
konzen_
triert . Nicht nur »Nachrichten« und »Information« , sondern auch Bi l der und ein Gefühl für das, was w i chti g u nd » bedeutend« i st was die Nation heute beschäftigt -, bindet die britische Gesellscha ft
Süd e n bis Norden täglich zusammen . Durch die Auswahl
ber ichtet u nd was gezeigt
dessen,
wird , bestimmen die Med ien mit ,
Von
Was;
welche
und im nationalen Maßstab. Wenn w i r
Themen täglich auf die öffentliche Tagesordnung gesetzt werd en ,
sie tun dies im großen und ganzen
daß di e Medien dazu beitragen, die Gesellschaft zu » i ntegrie ren« , meinen wir d a m i t nur, daß sie das Wissen von und den Kontakt zwischen verschiedenen wechselnden Gruppen i n der Gesellsc h aft er höhen . Früher brauchte es Wochen , bis »Nachri chten« aus London ab seits l iegende Regi onen erreichten , und vieHeicht Monate, bis ein e päpstliche Bulle der Katho1 ischen Kirche in Rom die engli sehe Provinz erreichte. Aus der Tat sache daß· die Leute heutzutage miteinander und mit dem Landeszentru m »in Kontakt« stehen , folgt nicht not wendigerweise, daß sie au ch stärker miteinander » üb ereinstimm en« sagen ,
_
,
_
-
...
besser zu sagen , Sle erwen:em uno Iormen unser generelles. soziales Wissen - unsere B i lder von der Welt« über Ereignis se in un se re r »
-
Ge sellschaft und an a nde ren Orten . Noch einmal , »soziologisch« betrachtet , überbrücken die Massen medien eine Reihe von entscheidenden Rissen in unserer Gesellschaft.
Die Art »sozialen Wis sens« , das die Medien vermitteln, verbindet,
rob gefaßt , zwei getrennte Gruppen in der Gesellschaft. Erstens über g brückt es die Distanz zwischen den »Mächtigen« und den »Machtlo sen«. Die Masse des Medienpublikums setzt sich aus ein fachen Bür
gern zu sammen, die in ihrem Alltag kaum Zugang zur oder Informa
tionen über die große Politik
und Strategie oder über Entscheidungen
und Ereignisse haben , die wahrscheinlich früher oder später ihr Leben unmittelb ar betreffen werden. Zweitens überbrückt es die Distanz zwi
schen denjenigen , die »wissend« sind - den »Informierten« - , und denen, die hinsichtlich der Funktionsweise von Mach t »unwissend«
haben von diesen als zwei offensichtlich verschiedenen Gruppen gesprochen . Doch man wi rd sehen , daß sie sich oftmals sind. Wir
128
Ausgewählte Schriften
überschneiden . Diej enigen , die jeden Tag nationale Entscheidungen
treffen, wissen tendenziell auch
be sser
Bescheid - aus viel fält ige n
Gründen. Diejenigen , die dies nicht tun , mögen eine hohe Bildung be
sitzen , aber sie haben kaum Zugang zu d er Art von privilegiertem Wis
sen , das wir hier meinen . Anders au sgedrückt : Die M assenmedien funktionieren und werden geformt durch
die Art und Wei se,
und Wissen i n der Gesel lschaft (ungleich) verteilt s i nd .
wie Macht
In diesem Artikel b esch ä ftigen wir u n s besonders m i t » Nachrichten «
(im weiten Sinne) über bedeutende n ationale und internationale Ereig
nis s e �
Erei gn i s s e
von pol itischer, ökonomischer oder sozialer Be
deutung. Ein we se ntliche r Teil der M edi en zeit und der beträchtl ichen
technischen , sozialen und fi nanziellen Mittel werd en in unseren Me diensystemen in diesen Berei ch des »pr aktischen sozialen Wissens« in vestiert. Aber was sind » Nachr ichten« - wer sagt, daß das , was
wir
bekommen, »die Nachrich ten « sind? Wir können diese Frage auf zwei
e rl ei Weise angehen : Erstens durch eine allgemeine Definition ; Z Wei tens im Hinblick auf die Praxis derj enigen , die Informatio nen und
Wissen zu Nac h r ichten verarbeiten . Zur Verdeutli chu ng können w ir uns einen »stabilen Zustand« der Welt vorstellen, in der sich von einern auf den anderen Tag absolut nichts ände rt . Das Leben geht weite r
wie
zuvor. Im strengen Sinne gäbe es nichts »Neues�� zu berichten . Man er zählt si ch , daß zu r Zeit von Lord Reith , al s BBC-Nachrichtensprech er
S chli ps erschienen � ein An sager tatsächlich eines Ab ends a uftrat und sagte: »Es g ibt heute keine NaCh_ noch im Smoking und mit schwarzem
ri chten . « Der Punkt ist, daß »Nachrichten«, wörtlich genommen , In forma tion darüber sind , wie sich die Dinge geändert haben , seit wir zuletzt eine Bilanz des We1tgeschehens zogen .
Gewöhnl ich , ni Cht
immer, ändern sie si c h zum Schlechteren . De swegen gibt es so wenig »gute Nachrichten« und deswegen sin d �>schlechte Nachrichten «
fast
immer »Nachrichten« , Diese Nachrichten üb er Verände run gen und
n eue
Entwicklungen können natürlich
men . Sie
können über etwas
verschied e
ne
Formen a nn eh_
berichten , das wie ein BUtz aus hei terem
Himmel kam - völJig unerwartet : ein Erdbeben i n
Süd italien
Und
seine Folgen . Sie können uns über eine Richtungsänderung in ei nelll
Prozeß be rich ten , den wir schon kennen: die Wiede raufnahme von
Kampfhandl ungen im Nahen Osten oder ein e Wende in der Wi rt
schaftspolitik der Regi e rung. Sie können über etwas berichten ,
das
zwar an anderen Orten alltäglich , für uns aber »Nachricht« ist: WUßten .
Sie,
daß in Kambodscha immer noch M illionen verhunge� �? Wußte n Sie, da ß Tausende von PalästinenserInnen immer noch in Ubergang S�
lagern leben? Was immer es auch ist , die Nachricht kommt zu
un s al s
Die strukturierte Vermittlung von Ereignissen
129
etwas U nerwartetes, etwas Ungewöhnliches und Unvorhersehbares.
Sie durchbricht die gewohnte Erwartung, die wir im Hinterkopf haben,
daß »die Dinge einfach weitergehen werden wie bisher« . In diesem S inne können uns die Nachrichten auf Veränderungen i n der Welt vor
bereiten - fast immer jedoch »überraschen« sie uns bis zu einem ge wissen Grad (und beunruhigen uns deswegen vielleicht, weil sich die
Welt entgegen unseren Erwartungen und Hoffnungen als immer weni ger stabil, vorhersagbar und sicher erweist) .
Diese allgemeine Definition hilft, die Praxis der Nachrichtenleute
und Iournalistlnnen und den »Nachrichten-Wert« eines Ereignisses zu
erklären , nach dem sie entscheiden, worüber sie berichten und wor
:j
.. j
, \
, :j
i
über nicht. Wenn Nachrichten an Veränderungen geknüpft sind , dann werden die größten , dramatischsten, unerwartetsten . weitreichendsten
Veränderungen auch die wichtigsten »Nachrichten« sein. Natur- und von Menschen verursachte Katastrophen , Konflikte, die in offene Ge
walt ausbrechen , dramatische .Änderungen i n der Politik und bei den
Machthabern ! der dramatische Auf- und Abstieg bedeutender Persön lichkeiten und Regierungen , entscheidende Durchbrüche, unerwartete
Beschlüsse oder Kompromisse - aU diese Er,eignisse tendieren dazu,
ganz »von selbst« den Weg an die Spitze der Nachrichten-Liste zu fin den . Auf dem festen Hintergrund einer Welt im »stabilen Zustand«
werden Katastrophen, Konflikte, Kontroversen und plötzliche U m
schwünge immer einen hohen »Nachrichten-Wert« haben . Es h at kei
nen Zweck, den NachrichtensprecherInnen die Schuld zu geben, weil
das,. was sie uns berichten , den gleichmäßigen Verlauf unseres Lebens
stört. Dramatische Richtungsumschwünge stellen das Hauptkriterium
für den »Nachrichten-Wert« dar, aber es ist nicht das einzige. Die
Nachrichten
sind auch
ethnozentrisch: Eine Katastrophe in fremden
Ländern, die Großbritannien nicht betrifft, wird niedriger rangieren,
weil sie für uns weniger wichtig ist (j edenfalls den Nachrichtenredak
teurInnen zufolge) als eine kleine Katastrophe, die dieses Land direkt
betrifft. Sie kennen bestimmt den Witz über die Nachrichtenmeldung,
die besagte: »Tausende starben bei Erdbebenkatastrophe. Dre i Englän der verletzt. « Darin liegt mehr als etn Körnchen Wahrheit. Auch sind Nachrichten stark an Macht oder an mächtigen und prominenten Leu ten und Persönlichkeiten orientiert. Auf Macht kommt es natürlich an,
da eine bedeutende Entscheidung, von 20 Leuten im Kabinettsraum ge troffen, Folgen für die gesamte Bevölkerung haben kann. Die Nach richten sind also fasziniert von Macht
-
und von Leuten ,. die Macht
ausüben, einschließlich der Art von Macht, die prominente Persön
lichkeiten wie SportlerInnen und UnterhaltungskünstlerInnen haben .
.!
I
l 30
Ausgewählte Schriften
Ein Teil der Nachrichten haben einen mehr »feierlichen« Charakter _ auch wenn kein dramatischer Umschwung der Ereignisse zu verzeich nen ist. Nationale Ereignisse, wie die Parlamentseröffnung - Rituale, -
die die Offentlichkeit mit dem symbolischen Leben der Mächtigen Und
der Nation verbinden - haben immer einen Anspruch auf einen Pl atz in den Nachrichten , obwohl sie nichts Ungewöhnliches beinhalten
Aber
und regelmäßig jedes Jahr zu einer bestimmten Zeit stattfinden .
Nachrichtengruppe i st die,
welche Katastrophe n , Kon fl i kte, Kontroversen, Wandel , dramati sche Umschwünge und Gewalt
die wichtigste umfaßt.
Über diesen Prozeß der »Versorgung mit sozialem Wissen« in un se
rer Gesellschaft gibt es eine Reihe von Fiktionen . Zwei davon will
ich
kurz betrachten . Die erste Fiktion ist die, daß die Information ihrem Wesen nach sachlich ist oder weitgehend auf Tatsachen beruht . Da
ganz besonders das Fernsehen nicht nur Informationen über, sondern
tatsächlich »lebende« Bilder von Ereignissen in der Welt übermi tteln
passi ert relativ »reines« , nicht
kann, denkt man im allgemeinen, es zeige, »was tatsächlich es öffne »ein Fenster zur Welt« und bringe uns
«
,
durch Meinung verunreinigtes Wissen . Dies könnten wir als naturali_
meint zur Zirkulation von Information
stische Auffassung von Fernsehinformation bezeichnen . Daher
man, sie trage zum »freien Fluß« bzw.
in unserer Gesellschaft bei . Diese Vorstellung vom »freien Fluß« Wie derum wird untermauert und gestützt durch die wesentlichen Ein
schränkungen, denen Fernseh- und RundfunksprecherInnen in unSe_ rem System unterliegen , damit gesichert ist, daß sie »die Fakten« niCht illegitimerweise durch ihre eigene Meinung verunrei nigen. Diese E in schränkungen sind in den A nforderu ngen enthalten , die Art von
Infor_
mationen im Fernsehen müßte »objektiv«, »ausgewogen« und »unpar_
teiisch« sein.
»Objektivität« heißt,
die FernsehjournalistInnen müs se
n
das berichten , was sie als »Fakten des FaUes« herausgefunden haben bzw. was sie dafür halten , ohne diese mit ihren persönlichen
Ansichten
zu vermischen. »Ausgewogen« bedeutet, daß,. wenn es zwei S ei ten 2':U einer Frage gibt oder zwei wesentliche Meinungen dazu, so muß he i den gleichermaßen Gehör verschafft werden . »Unparteiisch« heißt je
doch : selbst wenn jede Seite in einem Streit eine sehr festgefaßte An sicht vertritt, dürfen die Berichterstatterinnen nicht zwischen heid urteilen oder ihre persönliche Ansicht darüber äußern, welche
en
Seite
recht hat. Diese geltenden Fiktionen und Praxen sollen Rundfunk Und Fernsehen, die mächtige Instrumente sind, daran hindern , illegitilll er_ weise Entscheidungen zu beeinflussen, di e eigent li ch Regierungen
Politikerlnnen oder das Volk entscheiden sollten . Sie zw i ngen
di�
Die strukturierte Vermittlung von Ereignissen
131
BerichterstatterInnen, ihr einflußreiches »Recht zu berichten« nicht auszunutzen . Da die tägliche Verantwortung für die Sendungen bei den Angestell ten der Rundfunk- und Femsehgesellschaften und -anstalten liegt, die
i l ,
nicht (außer den jeweiligen Vorstandsmitgliedern) politisch ernannt sind oder im Sold der Regierung stehen , sollen diese Einschränkungen zwei Dinge sicherstellen : erstens, daß Rundfunk und Fernsehen unab
hängig vom politischen System sind; zweitens, daß Rundfunk und
Fernsehen dem Volk al s unabhängige Informationsquelle dienen kön
nen und (wie die Presse) als eine Art »vierter Stand« funktionieren. In der Praxis sind diese Beziehungen natürlich ausgedehnten und kompli zierten Verhandlungen unterworfen . Aber im großen und ganzen nimmt man an , alle diese
Faktoren zusammen würden sicherstellen,
' "
daß Rundfunk und Fernsehen eine » freie, unabhängige und zuverlässi ge«
Quelle praktischen sozialen Wissens sind.
Die Gegner dieser Meinung sind in der Minderheit, aber sie wird in
einigen Bereichen stark vertreten und hat in den letzten jahren an Ge
wicht gewonnen . Sie zeigt die zahlreichen Möglichkeiten auf, die Be richterstatterInnen haben , zu entscheiden, au szu wählen , zu präsentie
fen und zu v e rmittel n Sie verweist auf die häufige Wiederholung herr .
schender Meinungen, die im Fernsehen in einem günstigen Licht prä sentiert werden, wogegen alternative oder Minderheitsansichten selten dargestellt werden. Sie weist auf die finanzielle Abhängigkeit von Rund funk und Fernsehen von der Regierung und auf die engen Bezie hungen zwischen BerichterstatterInnen und ihren mächtigen Informa
tionsquellen hin . Und sie behauptet, Fernsehen und Rundfunk seien alles andere als unabhängig und häufig vielleicht systematisch »vorein genommen« in i hre n Präsentationen . Im fol genden will ich d ie Implikationen dieser beiden Ansichten »frei und unabhängig« kontra )�voreingenommen« - genauer untersu
chen und eine Alternative aufzeigen . Ich möchte den Streitpunkt an
d ieser SteHe kurz zusammenfassen : leh meine, es gibt mehrere über zeugen de Gründe dafür, warum das Bild »frei und unabhängig« in adäquat ist, um die Funktionsweise von Rundfunk und Fernsehen und das, was sie machen , zu verstehen - obwohl es nicht völlig falsch ist.
Ich b ehaupte weiterhin , die einfache Vorstellung von der »Voreinge
nommenheit
«
.. den BerichterstatterInnen die illegitime Äußerung
ihrer eigenen Meinungen oder das »Kippen« der Ausgewogenheit vor� zuwerfen - i st auch inadäquat, obwohl wiederum nicht völlig falsch.
Statt dessen will ich heide Ansichten ersetzen durch eine Sicht de s kommunikativen Prozesses als eines notwendigerweise strukturierten
: ,! ,)
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·1
1 32
Ausgewählte Schriften
Prozesses. H iermit meine ich , daß die Art
Kommunikation , wie i c h sie beschrieben habe, innerhalb bestimmter Strukturen stattfindet
der
und von diesen d ahe r stark beeinflußt , geformt und bestimmt w ird . Zweitens meine ich damit, daß Rundfunk und Fernsehen nicht eine
Sache (»frei« oder
»voreingenommen«) ,
Prozeß sind , der über eine bestimmte Zeit hinweg stattfindet, bestimmte Beziehungs_
sondern ein
muster der darin involv ierten Gruppen be i nhaltet , davon abhängt, welche Wei se soziale Praxen miteinander verknüpft
sind
und
auf
der be
stimmte vorhersagbare und erkennbare Resultate besitzt. Diese ResUl tate sind nicht zufällig . Wenn wir die Strukturen, die Bez iehungen , die Praxen , die Ideen oder Ideologien , die sie beeinflussen, d ie Bedi ngun_ gen, unter denen sie funktionieren , die anderen Teile der Gesellschaft , zu denen sie in Beziehung stehen, begreifen , dann können w ir die Mu-
ster identifizieren
und d am it diesen Typus von Kommunikati on als einen sozialen Prozeß besser verstehen . Deswegen ne nne ich die Ver sorgung mit sozialem Wissen durch Rundfunk und Fernsehen ei nen -
strukturierten Prozeß. Ich wiU nun eine Reihe von Aspekten d a rstell en um diese Behauptung zu untennauern .
"
Beginnen wir mit dem »freien Fluß« von Infonnationen -
Rundfunk und Fernsehen als » offener Kreislauf« . Es ist wahr, daß Runkfunk Und Fernsehen oft darüber berichten� was Leu te tun und sagen und daß diesen die »Nachrichten« durch die Medien wieder zurückgespielt -
werden, ebenso w ie sie zu Massen von a nderen Leuten gelangen . Je
doch in keiner Hinsicht können Rundfunk- und Fernsehanstalten Und das Volk, das Publikum, in diesem zirkul ären Austausch gleiche Part ner sein Die Sender verwalten und monopolisieren ni cht nur di e Mit lei (tec hn i sc he sozia]e, finanzielle ) , um Informationen zu finden und .
,
zu übermitteln. Sie müssen immer auch selektieren . Es gibt Millio nen
von
wichtigen
Ereignissen in der Welt, die j ede Minute passieren .
Es
gibt nur eine halbe Stunde Nachrichten und vi el l ei cht zehn Haupt_ punkte
dabei . Nicht
nur, welc h e r
Punkt in
welcher
Rei henfolge son_ dern auch welcher Aspekt eines Ereignisses berichtet werden soU , l iegt i n der Vera ntwortung der BerichterstatterInnen . Jeder Beri cht von ,
JournalistInnen , der von der Arbeit vor Ort zurückkommt , ist ei ne Auswahl aus »allem, was pas sie rt ist«. ReporterInnen oder Ka meral e _ u te haben jeweils ein oder zwei Aspekte für die Berichterstattung ausge_
D avon wiederum müssen die Nachrichtenredakteurinne n U nd -redakteure, wenn es hochkommt,. ein paar Sekunden, die gezeigt Wer� den sollen , auswählen . Einzelne Berichte müssen bearbeitet und für
sucht.
die Nachrichtensendung zurechtgeschniuen werden . Länge, der Art und dem Format der
Sie müss en d er Programme angepaßt werd n e .
Die strukturierte Vermittlung von Ereignissen
133
Kommentar und begleitende B ilder oder Informationen müssen in eine
Re ihenfolge gebracht werden . Übergänge müssen zwischen den ein
I
zelnen Berichten hergestellt werden . In gew isser Weise stimmt es, daß
!
I
I
die »Nachrichten« von den Leuten wieder zu ihnen zurückfließen. Ric htiger aber ist, daß es die BerichterstatterInnen sind, die den Kom munikationskreislauf ini ti ieren und strukturieren ; was s ie nicht einge ben , wird auch nicht zirkulieren. Dieser Prozeß der »Initiierung« von Kommunikation ist festges chrieben und beinhaltet weitreichende edi torische Eingriffe . viele Verfahren des Fonnens und der Auswahl, wel che nicht nur auf den vorhandenen , zur Verfügung stehenden techni schen Mitteln basieren , sond ern auf Urteilen - z . B. auf Vorstellungen davon, was »bedeutend« . »wichtig« und »dramatisch« ist, was einen »Nachrichtenwert« hat und was nicht . Was zuerst ein naturalistischer Prozeß zu sein schien (die Welt zu zeigen, wie sie ist) , offenbart sich nun als eine sehr komplexe soziale Praxis - die Praxi s des Nachrich
tenmachens
�
des Produzierens von Information. Was zuerst ein per
fekter Kreis zu sein schien, kann jetzt als ein Kreislauf gesehen wer den, der zwischen ungleich gewichteten Elementen hergestellt wurde. BerichterstatterInnen kommunizieren ; das Publikum »empfangt« ihre Kommunikation . »Freier Fluß« ist in Wirklichkeit strukturierter Fluß. Sehen wir un s diese Praxen des Produzierens und d e s Empfangens von Information etwas genauer an. Ein Ereignis hat stattgefunden: eine Regierung ist gestürzt worden. Doch wie soll dieses »Faktum« gezeigt
werden? Es kann ni cht alles gezeig t werden - teilweise, weil es mögli cherweise schon über viele Monate in Vorbere itung war, teilweise, weil währenddessen möglicherweise gerade keine ReporterInnen vor
Ort waren , teil weise. w eil man niemals alles filmen kann und zum Teil, weil zu wenig Zeit i st , alles zu zeigen, auch wenn man alles gefilmt
hätte. Daher werden sehr wenige gefilmte Sequenzen :oder Aufnahmen mit höchstens ein paar Minuten Reportage oder Kommentar in der Nachrichtensendung »)rur« das Ereignis »stehen« müssen: einige Feu
erstöße auS einem Gewehr, dazu eine Aufnahme von Panzern, die auf den Hof des »Regierungspalastes« rollen und dazu ein Kommentar. Dies ist natürlich ein genaues Bild davon, »wie es passiert ist« , in dem S inne, daß die Bilder nicht gefälscht sind und die ReporterInnen vor Ort uns so genau wie möglich schildern, »was passiert ist« . Aber im
weiteren Sinne muß alles von Bedeutung ausgelassen werden - alle Dinge, die zum Umsturz führten, die damit verknüpften, komplexen Faktoren, die verschiedenen Fraktionen , die eine Rolle spielen, die Resultate innerhalb der nächsten paar Tage, d ie langfristigen Folgen für das globale Machtgefüge und die Auswirkungen auf unser Leben .
, 1
1 34
Ausgewtihlte Schriften .
Und was gezeigt wird, muß gewissermaßen das »repräsentieren «, was tat säc hlich passiert ist, aber nicht gesehen werden kann . Fernsehen kann daher das, was in der Welt passiert, nicht »widerspiegeln« oder »reflektieren« . Es muß Ereignisse in Geschichten übersetzen
in Worte und Bilder. Später am Abend könnten die Geschehnisse in einer aktueHen Dokumentation ausführlicher, über einen längeren Zeitraum -
untersucht werden (doch selbst dann b leiben die Darstellungen not
wendigerweise selektiv u n d parteiisch) . Was zu Anfang berichtet
wurde, wird m ög licherwei se noch ei n mal gezeigt werden und wird die »Fakten-Grundlage« z . B.
für eine Studiodiskussion zwischen verschie
denen ExpertInnen bilden . Fernsehen kann al so nicht umfassend
gen au sein - nicht weil JournalistInnen »voreingenommen« sind , s on dern weil es objektiv unmöglich ist. Sie müssen die Welt repräsentie
ren . Sie übers etzen komplexe historische E rei gn i sse in
»
Han dl ungs _
szenarien«. Sie müssen unter Verwendung einer i mpliz i e rten Erklä
rungslogik ein Ereignis mit dem anderen verbinden . Rund funk und Fernsehen sind per definitionem mit dem vielschichtigen Geschäft be faßt, Ereignisse i n der Welt nach etwas au s s ehen zu lassen. Sie produ
zieren Bedeutungen über die Welt. Dies ist eine soziale, keine natürli
che Praxis, die Praxis der Bedeutungsproduktion .
Doch Ereignisse in der Welt s i nd bekanntermaßen zweideuti g . Sie bedeuten ni ch t von sich aus irgend etwas. Sicherl ich , di e s owj eti sc hen
Panzer sind in Kabul - und die Kamera zeigt sie uns. Aber was b edeu
tet die »Invasion in Afghanistan«? Sowjetisches Eindringen oder das Resultat verdeckter amerikaniseher Einmi schu ng? Ein Fortschritt od er
Rücksc h ri tt? Expans ionistisch oder defensiv? Populär oder unpopulär
in Afghanistan - und bei wem und bei wie vielen? Was die Zu
schauerinnen betrifft, so spielt es keine RoHe, was sie über die SOwjeti _
sche Invasion denken . Man kann sicher sein : sogar wenn dieselben ak
tuellen Bilder übermittelt werden, wird das Ereign i s auf dem B ild schirm in Moskau � Washingto n , London und Karats chi verschied en dargestellt werden und j eweils etwas anderes bedeuten . Sehr wenige
»Tatsachen« - besonders über Konflikte und kontroverse Ereig niss e _ erreichen uns j emal s in Form von »reiner Information«. Wi r würd en
nichts mit i hnen anzufangen wissen, wenn das der Fall wäre. Ihnen wird ständig Sinn gegeben durch die Einbettung in einen
sinnvollen
erkltirenden Kontext. Auch wenn die BerichterstatterInnen keine »Mei � nung« äußern - und sicherHch nicht ihre eigene Ansicht -� so mÜSSen sie doch einen Interpretationsrahmen benutzen , ande rn falls würden die Worte und Bilder keinen Sinn ergeben . und d i e
Nach ri chten WÜr_
den nichts für uns bedeuten . Nachrichten zu produzieren bedeute t. die
I
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I
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,
Die strukturierte Vermittlung von Ereignissen
135
Realität zu interpretieren . Dingen einen Sinn zu geben , ist per defini tionem ein Interpretationsprozeß. Ob sie es wissen oder nicht (oder ob sie wollen oder nicht) , BerichterstatterInnen interpretieren ständig die Welt für uns, deuten die Ereignisse, die sie dokumentieren, definieren Realität . Dies hat wenig oder nichts mit offener oder bewußter Vorein genommenheit zu tun . Aber gleichzeitig tfifft es auch zu, daß diese In
'J
terpretationsschemata um so mächtiger sind , j e unbewußter die Inter pretationsvorgänge sind, je mehr wir ihre Existenz leugnen, je weniger wir darüber nachdenken , woher sie kommen . Sie formen und deuten weiterhin die Realität - aber sie tun dies unbemerkt und werden zur »Selbstv:erständlichkeit« und arbeiten deswegen, wie man sagt, »hinter dem Rücken der Leute«. Wir können nun den »Fluß« des Kommunikationskreislaufs auf ziemlich unterschiedliche Weise betrachten. BerichterstatterInnen de finieren , was Nachrichten sind , wählen Nachrichten aus, ordnen, redi gieren und formen sie, übersetzen Ereignisse in ihre repräsentativen Bilder, transponieren Geschehnisse in eine 1imitierte Anzahl von Wor ten und Bildern , um daraus eine »Geschichte« zu machen , und benut zen Interpretationsschemata , um uns die soziale Realität zu erklären . Wir nennen dies den Kodierungsprozeß : Nachrichten sind nicht »Reali tät« , sondern Repräsentanten von Realität , kodiert in Botschaften und Bedeutungen . Es wird jedoch oft angenommen , diese kodierte Realitd t
gelange auf durchsichtige und unvermittelte Weise zu den Zuschaue rInnen. Die einzigen Unterbrechungen im Kommunikationskreislauf werden als umständebedingt (sieht das Publikum zu?) und technikbe dingt angesehen (können die Leute eigentlich verstehen , was sie sehen und hören? Ist der Schnitt zu abrupt und anspruchsvoll? Ist die Sprache zu komplex?) . In der Tat, genauso wie die Kodierung von Realität eine soziale Praxis ist (oder eine Reihe von Praxen) , so auch »der Empfang der Botschaft« . Das Publikum oder der Empfanger muß auch einen In terpretationsrahmen entwickeln , damit die »Botschaft ankommt« und die »Bedeutung begriffen w ird«. Auch dies ist keine natürliche, son dern eine soziale Praxis. Sender und Empfänger müssen eine gemein same Sprache sprechen: Die Nachrichten in Chinesisch würden bei
ITN (Independent Television Network) wenig Sinn ergeben .. Sender und Empfänger müssen das gleiche perzeptorische System teilen , das dem Empf4:inger erlaubt, d ie durch elektronische Impulse übertragenen
Zei len und Punkte auf einem flachen Bildschirm zu »dekodieren« als »Repräsentation« einer erkennbaren Gruppe von Objekten und Men schen in der Welt: die »dunkle Masse« ist ein sowjetischer Panzer.
Aber zweifellos muß das Pub1ikum auch bis zu einem gewissen Grad
,
.1
Ausgewählte
1 36
Schriften
den Interpr etations rahme n oder die Kodes, die die BerichterstatterIn
nen benutzen , sowie eine ganze Menge von verfügbarem allge meinen
sozialen Wissen teilen. Wenn jemand nicht weiß, was das Wort »Infla tion« bedeutet , oder daß es dazu eine Regierungspolitik gibt, welchen
Sinn ergäben für diej enige ! denj enigen ein paar Punkte u nd Zeilen auf
dem Bildschirm zusammen mit einem Kommentar, der lautet : »Es hat
d ie s en Monat einen starken An stieg der Inflation gegeb en «(? Der Satz
»Sowjetische Panzer rollten heute in Afghanistan ein« wird wenig
oder
nichts bedeuten ohne einen Sinn dafür, daß dies die Machtbalance zwi
schen Ost und West beeinträchtigt. Die BerichterstatterInnen werden einen großen Teil dieser Art von Kontextwissen voraussetzen m üs sen - sie können nicht jedesmal zu den Anfängen der modernen interna
tionalen Beziehungen zurückgehen, wenn es eine neue Wende i n den Ereignissen g ibt . Sie müssen dieses Wissen beim PubHkum vorau s set
zen , und das Publikum w ird es haben müssen , um dem, was gezeigt w ird u nd zu hören ist, eine Bedeutung zu geben . B ed eu tung ist abhän gig von gemeins amen Sys temen , gemei n samen Kodes, gemeinsamem
Wissen und einem gemeinsamen Interpretationsrahmen zwi sche n
Kommunikator und Empfänger. Andernfalls wird keine Info rmation
nach B gel angen - und es wird keinen Kreislauf geben . Wenn A " kl )J lcrt«, d ann muß B (das Publiku m) }}dekodieren«, Beides ist eine soz iale Praxis. Beides erford ert einen breiten Hintergrund gemeinsa Vt l n
A
mer Voraus setzungen .
Bei den meisten Nachrichten
gibt es solche gemeinsamen Perspekti_
ven . Hier können wir den Begriff des Konsenses als deskriptiven Ter
minu s einführen . D ie Berichterstattung geht beim Publikum wie selbstverständlich von einem konsensuellen H intergru nd w i ssen und B ezu g s rah men aus. Doch wir müssen uns hüten, diese Bedeutung des
auf die weitere Bedeutung von })Konsen s« i:l u s z uJ�hnen - als wäre Zustimmung m itgemeint . Ich kann wohl s ehr Bcgn tT.;; n i cht vorschnell
genau verstehen , was di e Premierrninisterin in den Neu n -U hr- Nach_
richten sagt.
Ich s timme
dem nur zufallig n icht zu .
Es
gibt einen U n � terschied zwischen dem Verstehen der wörtlichen Bede utung vo n Wor� ten und Bildern (der denotativen Bedeutung) und entweder dem Ver
oder,
wichtig er noch , dem Übereinstim men mit der i nterpre�
dne genaue
ist
stehen
tierten Bed eutung (der konnotativen Bedeutung) . Es ist nicht ei nfach
Tren n lini e zwischen diesen beiden zu ziehen, aber e s ei n e nütz1iche U n ters cheidung . U nd man ka nn sehen, daß es e inen »Konsens« über die wörtliche Be deutung geben kann , während g l eich_
zeitig eine Divergenz oder ein Konflikt über die Interpretation be steht . Dies ist besonders d a der Fall , wo über
Konflikte
oder Kontroversel1
137
Die strukturierte Vennittlung von Ereignissen
berichtet wird (geradezu der Kern von Nachrichten) , vor allem, wenn es sicb um einen Konflikt oder eine Kontroverse über wichtige Angelegen heiten handelt, die die Nation nicht nur berühren, sondern auch spalten . Denn in solchen Fällen gibt es üblicherweise unter den verschiedenen Gruppen im Publikum keinen großen »Konsens« im zweiten Sinne. Damit ist unmittelbar das berührt, was man die »Objektivität« der
Beri cbterstatterI nnen nennen kann . Wo sie einen generellen Konsens über eine Angelegenheit oder ein Ereignis voraussetzen können
beide , die BerichterstatterInnen und die große Mehrheit der Nation, sind übereingekommen , die Angelegenheit in dieser Weise zu deu ten - , ist »Objekti v i tät« gesichert. Dies kann bei auswärtigen Angele
_
genheiten der Fan sein
-
ist es aber nicht immer. Würde irgend je
mand einem BBC-Ansager einen Mangel an »Obj ektivität« vorgewo r fen hab�n , wenn er im Jahre
1940 einen deutschen Bomber,. durch
Flak-Feu er abgeschossen , als ein »Feindflugzeug« bezei chnet hätte?
Aber j e näher man dem e igenen Lebensbereicb kommt und je mehr es
sich dabei um Konfl ikte und Kontroversen handelt; desto weniger kön
nen BerichterstatterInnen einen »Konsens« voraussetzen . Dies i s t ihr
Dilemma - und wieder hat es wenig mit })Voreingenommenheit« an sich zu tun. Streikende ArbeiterInnen als »militant« zu bezeichnen. .
wird von der Regierung (die Lohnforderungen niedrig
zu
halten ver
sucht) und von den Arbeitgebern (die die Produktion in Gang und pro
fitabel zu halten versuchen) begrüßt werden - und es lnag von einer Mehrheit des Publikums (die von Streikmaßnahmen neg ativ betroffen
ist) gebilligt werden . Aus genau demselben Grund wird dies von der i n den Streik verwickelten Gewerkschaft als )Noreingenornmenheit« an
ge sehen werden und bei den ArbeiterInnen tiefe Empörung hervorru
fen (d ie vielleicht nur widerwillig in Streik gegangen sind und glau
ben , einen guten Grund dafür zu haben) . Die BerichterstatterInnen
müssen dabei unwilikürlich in die Schußlinie geraten . Konflikte und Kontroversen sind das tägliche Brot von Rundfunk und Fernsehen. Gleichzeitig sind sie aber auch der BerichterstatterInnen tödlichste Feinde, weil sie die Praxis der Bedeurungsproduktion als das offenle gen . was sie ist. Sie untenninieren die Fiktion von der »reinen Tatsa che« und der »vollkommenen Objektivität« , weil sie zeigen , daß diese
Objektivität auf bestimmten B ed i ngungen beruht (z .B. auf der Exi
stenz von Konsens über eine Ange1egenheit) . Wenn diese B edil1g ungen nicht erfüllt werden , wird d er eingeschränkte, problematische Charak ter der »Objektivität« von Rundfunk u nd Fernsehen si chtb ar.
Objektivität ist ei n anderer (höflicherer oder zweckmäßigerer) Name für Konsens. Die Berichterstattung kann »obj ektiv « sein� vor�
Ausgewählte Schriften
138
ausgesetzt der Konsens hält . Zerbricht er, ist die Objektivität in Schwierigkeiten . Es fol gt weiterhin, daß Rundfunk und Fernsehen zur
Wahrung der » Objektivi tä t ständig dazu genötigt sind , eine konsen «
suelle Position einzunehmen , Konsens zu finden (sogar wenn er nicht existiert) und , wenn erst einmal Streit losgebrochen ist, Konsens ZU
produzieren. Wenn die BerichterstatterInnen annehmen können, die Mehrheit glaube, al l e Streikenden seien »militant«, könne n sie diese
interpretierende Kategorie ungestraft benutzen; aber bei v ie l en ande
ren Angel egenheiten ist es ex trem schwi erig festzustellen , wo rin der
Konsens tatsächlich besteht. Bei
kontroversen Fragen verschiebt er
sich ständig. Er wird von vielen Faktoren beeinflußt . In solchen Fällen
werden BerichterstatterInnen unweigerlich vor die heikle Aufgabe ge
stellt , abzuschätzen und zu beurteilen , wohin sich die »M einu ngsba_
lance« bewegt - oder
in welchem zulä ssigen Rahmen . In Zeiten w ie in den 70er Jahren als die öffentliche Meinung krasse Sprünge vo llzog , ,
ist dies eine komplizierte Angelegenheit . Die BerichterstatterI nnen
entscheiden auch darüber, wer eine Meinung am besten vertritt , che Ansichten von Rechts wegen dargestellt werden müssen u nd
wel wel
so marginal sind , daß sie ausgelassen werden können. D iese AU f gabe der Erforschung des Konsenses wifd noch dadurch erschwert daß Konfliktsituationen oftmals einen Kampf darüber b ei nhalte n wel-
che
�
,
che �>Definitionen der Situatio n« sich durchsetzen werden . Ei n i ge den zwangsläufig mehr als andere davon profitieren, wo die
wer
Ansied_
lung des Konsenses vermutet wird . Einen Streik als »militant« od er das
Aufstellen von Streikposten allein als »Gewa1t« zu definieren, hil ft Und befriedigt unwei gerlic h Reg ierung und Arbe itgebern und nicht Strei kenden und Streikposten. Wiederum hat dies wenig oder Voreinge nomm enheit« zu tun .
nichts Illit
»
Wichtiger noch , solche »Definitionen der Situatio n« sind
von
ent
scheidender Bedeutung. Wenn sie die Oberhand gewinnen und zum Konsens werden , können sie zum Beispiel die Bereitschaft der Leute erhöhen eine geg en die S treikenden gerichtete antigewerkschaftliChe Gesetzgebung zu unterstützen . Wie Leute Situationen definieren , ha t Auswirkungen darauf, was sie tun und welche Politik sie zu u nters tüt zen bereit sind . Definitionen werden daher zu Faktoren für die Art Un d Weise der Kon fliktlös ung Sie beeinflussen das Gleichgewicht sozial e r ,
,
_
.
Katnpf
K räfte . Aber dies ist ein entscheidendes Moment in jedem
denn es beein flußt
die Fähigkeit der einen oder anderen Seite rur ,
,
di�
eigene Politik öffentliche U ntersrutzung zu beanspruchen und drunit
das »nationale Interes se«
zu
repr äsentieren . Indem sie eine b e stinunte
Definition a] s »bestehenden Konsens« voraussetzen, tragen Bericht_
r, Die strukturierte Vermittlung von Ereignissen
139
sie erst recht dazu zu machen (eine Art »self fulfill ing prophecy «) . Wennjeder Streik der gewerkschaftl ichen Mili tanz« zugeschrieben wird,. wird dies zur v rhe rrsche nden , selbstver
erstatterInnen dazu bei,
» o
ständlichen Definition werden. Sie wird sozusagen konsensualisiert _ .
ein Prozeß, kein Ding, und zudem einer, bei dem Rundfunk und Fern sehen eine festgelegte Rolle spielen . Durch die »Gestaltung des Kon
senses« werden Rundfunk und Fernsehen dazu beigetragen haben, Zu stimmung herzustellen. So kann als s ch on feststehende Tatsache zu sarnmengefaßt werden: »Die große M ehrhei t des britischen Volkes ist gegen Streiks und gewerks chaftl iche Militanz . . . « Die umstrittene An nahme ist zur anerkannten Weisheit geworden . GegnerInnen dieser S ich t müssen jetzt ihre Sach e gegen den Hintergrund einer offenbar uni versel len Übereinkunft (Konsens) vertreten, daß »Streiken« »mili ta nt sein« bedeutet (wobei »mil itant« = schlecht , »ge mäßigt« = gut ist) . Ich habe dieses Beispiel gewählt , weil die Mediensprache in den 70er Jahren hinsichtlich der Beziehungen zwischen Arbeit und Kapital geradezu durchdrungen war von der Verwendung dieser beiden offen s ichtlich deskri ptiven , j edoc h hoch emotionalen , politisch aufgelade nen Begriffe - dem Gegensatz zwischen »Militanten« und »Gemäßig ten« . Die Medi en entwickeln ein - objektiv - quasi selbstverständli ches Interesse an »der M i tte« , an Mäßigung. In diesem Sinne können wir sagen, daß die Medien nicht nur den Konsens in irgendeme r Ange l egenheit widerspiegeln , sondern auf v ielfache Art dazu beitragen, Kon sen s zu konstrui eren , zu formen und zu beeinflussen. Das ist eine bittere Tatsache, mit der BerichterstatterInnen leben müssen. Kehren wir für einen M oment zurück zur Beziehung zwischen Mit teilen und Empfangen, »Kodieren« und »Dekodieren«: Es kann jetzt festgehalten werden, daß die »Übermi ttlung« sozialen Wissens nicht wie ein offener Kanal funktioniert, in dem Tatsachen oder Ereignisse »für sich selbst« s p rechen , durch den die ei nfache , unproblematische · Bedeutung der Ereignisse übertragen wird, um am anderen Ende in genau derse lben Wei se empfangen zu werden . Statt dessen müssen Be richterstatterInnen Ereig niss e i n terpretieren , den Erklärungsrahmen oder Kontext auswählen, in den diese gestellt werden sollen, die Be deutu ng , die ihnen sinnvoll ersch ei nt , b evorzugen oder »vor-ziehen« und so eine Bedeutung kodieren. Wie die BerichterstatterInnen hat auch das Publikum seine eigenen (sehr verschiedenen) Positionen, l ebt in (verschiedenen) Beziehungen u nd Situationen , hat sei ne eigene (wiederum j eweils verschiedene) Bez iehung zur Macht � zur Informa tion und zu deren Quellen und bri ngt sein eigenes Interpretationssy stem zum Tragen , um eine Bedeutung zu verstehen oder die Botschaft
Ausgcwtihlte Schriften
1 40 zu dekodieren . Statt »perfekter
Übermittlung
«
oder »freiern Fluß« kön
nen wir drei typische Positionen feststellen , die ein Publikum wahlwei se zur angebotenen Bedeutung einnehmen kann . Das Publikum kann
die Bedeutung
,
mit der Ereignisse vorgeprägt un d kodie rt wurden � an
erkennen . In diesem Falle richtet es seinen Interpretationsrahmen am Send er aus und dekodiert innerhalb der herrschenden, bevorzugten
oder »hegemon ialen « Definition der Ereignisse . Oder es kann di e an gebotene allgemeine Bedeutung annehmen, aber Ausnahmen machen ,
die diese B edeutung modifizieren, wenn es die Ereignisse zu seiner ei genen S i tuation in Beziehu ng setzt . Ein Beispiel hierfür wäre, wenn
ein Publikum zwar die herrschende Definition teilt , »Streiks ruinieren
die Nation«, dies aber auf seine Situation in folgender Form anwende te: » Wir j edoch sind schlecht bezahlt und wären berechtigt, für bessere Löhne zu streiken«. Hier i st die herrschende Definition mit
der eige
nen Situation vermittelt worden. Drittens mag die herrschende Defini tion zwar genau verstanden , doch in entgegenge setzter Richtung gele
sen oder dekodiert worden sein. Streikende könnten die D efinition gut und gern fo lge ndermaßen lesen : » Sie müssen das natürlich sagen - es
paßt in ihr Konz,ept . Ich bin nicht der Meinun g , daß Streiks ,
sondern
schl echtes Management oder geringe Investitionen die Ursache un se
rer ökonomischen
Übel sind . « Hier dekodiert das Publikum oppositio_
nell . Die BerichterstatterInnen können nicht garantieren, daß das Pu blikum Ereignisse innerhalb des hegemonialen Rahmens dekodi eren wird ! auch wenn sie den Kommunikationskreislauf ini tiieren
und des
wegen als erste die M öglichkeit haben, »den Vorgängen in der Welt Be deutung zu geben« . Es gib t daher keine »perfekte« Kommunikation 11
keine reine Transparenz zwischen Quelle und Empfänger. Das Vollkommen transparente Medium wäre das vollkommen zensierte oder eines, in dem die einzigen vorhandenen Ideen, die der Welt Bedeutung
geben würden, die dominanten oder »herrschenden« Ideen wären . Da Ereig nisse mehr als eine Bedeutung haben können und
Gruppen d ie
Ereignisse verschieden , j e nach ihren Interessen oder gesellsc h aftli
_
chen Positionen deuten und Konflikte die Gesellschaft z wangs läufig
genau darüber spalten, welche Definition der sozialen Realität s i ch durchsetzen wird oder soll , werden Massenkommunikationssysteme
in uns erer Art von Gesellschaft immer das b1 eiben , was Enzensbergel" »undichte Systeme« nennt. Aber j etzt müssen wir fragen , woher d er Interpretationsrahmen und die »Defin itionen von Situationen « kormnen , welche die Berichterstat_
terInnen entwickeln . Dies ist eine komplexere Frage als es zuerst den Anschein haben mag. Die Medien sind gehalten, sowohl »ausgewogen"'«
Die strukturierte Vermittlung von Ereignissen
141
als auch objektiv zu sein. Dies garantiert, daß hinsichtlich jedes Kon flikts oder jeder Kontroverse mehr als eine Ansicht dargestellt werden wird . In diesem Sinne ist die Kommunikation öffentlicher Angelegen heiten sehr stark nach dem Modell des »Zweiparteien-Systems« struk turiert. Es gibt immer mindestens zwei Seiten , zwei Ansichten - mit
MedienvertreterInnen als neutralen und u npartei ischen Vorsitzenden
oder »SprecherInnen«, di e die Debatte leiten, in der Mitte. Dies ver hind ert , daß sich eine einzelne, monolithische Ansicht durchsetzt, und ga rantiert ein gewi sses Maß an Plura1ismus un d Verschiedenheit. Wir
müssen jedoch weite r untersuchen , wie »Ausgewogenheit« und »Un parteilichkeit« tatsächlich in der Praxis funktionieren .
D a die BerichterstatterInnen immer, um in den Worten einer wichti
gen Richtlinie zu sprechen , die letzten sein sollten , wenn überhaupt, die eine Meinung äußern , müssen die Ansichten zu einem Konflikt, die dargestellt werden , von auß.erhalb der Medien kommen. Bei politi
schen Ereignissen werden di es die An s ichten der Pressesprecher der beiden großen politischen Parteien sein, und diese werden zitiert wer den (verbal od er visuell) - oft Wort für Wort vor laufender Kamera gewissermaßen als Zeugen für die Objektivität der BerichterstatterIn nen. Es ist der »Arbeitsminister«, nicht etwa BBC oder ITN, der fest s tellt : »Streikposten sind nicht typisc h ,. sie sind in der Tat sehr un typisch für die Art, wie der durchschnittliche britische Arbeiter oder
Gewerkschafter d enkt . « Ebenso wird im Tarifstreit sowohl den Arbeit gebern als auch den Gewerkschaftsmitgliedem Zeit eingeräumt wer den, ihre Definition dessen, was vor sich geht, anzubieten . Dies wahrt in der Tat die Unparteilichkeit der BerichterstatterInnen. Gleichzeitig bedeutet es, daß die etablierten Stimmen der mächtigen korporativen Gruppen gewöhnlich , rechtmäßig, die erste Möglichkeit haben wer den, und zwar ausführlich, eine Konfliktsituation zu definieren . Die Mächtigen erha1ten die primäre Definitionsmacht bei diesen Konflik ten. Sie haben Zugang zum Thema, sie stellen die Regeln der Debatte auf, sie legen fest , was für die Art und Weise, wie das Thema behan
delt werden wird , »relevant« und was » irrelevant« ist. So können sie bei schwierigen ökonomischen Bedingungen einen Streik als »Bedrohung
für eine schon schwache Wirtschaft« definieren. Dies wird zur »bevor zugten� Definition (Konsens) . Andere, die (wie wir zeigen werden) notwend igerweise später kommen, müssen die Angelegenheit in diesen Begriffen diskutieren . Es w ird ihnen äußerst schwer fallen, die
Diskussi onsthem en »niedriger Lohn« oder »Vergleichbarkeit« als gleichermaßen plausible Arten , den Streik zu diskutieren, einzu führen . Die primäre Definition eines Themas gewinnt enorme Glaub-
Ausgewählte Schriften
1 42
w ürd i gkeit und Autorität und ist nur schwer zu ve rschi eben .
- Natür
lich werden auch andere Ansichten dargestellt werden . Aber sie wer
den darauf hinauslaufen, den Sachverhalt im Bezugsrahmen der primä
ren Definition zu verhandeln . Es ist viel schwerer� ein bestehendes Be
zugssystem zu durchbrechen und eine ebenso glaubwürdige Alternati
ve dagegenzu setzen . Um ein anderes B eis p i el zu n eh m en : Wenn die
vorher rschen de Definition der Probleme,. die Schwarze in dieser Ge
sellschaft haben , lautet: ) Die U rsache des Problem s lieg t darin, daß es
hier zu v ie le von ihnen gibt«, dann wird die aner kannte alternative An
sicht wahrscheinlich diese sein : »Die Zahlen sind nicht so hoch wie von öffentl ichen Quellen a ngegeben « , Man kann sehen � daß diese An sichten sich unterscheiden. Man kann aber genauso sehen , daß sie auc h übereinstimmen, nämlich insofern, als sie unter derselben Prä
misse bzw. Annahme funktionieren - daß es sich um ein Problem der
Znhl handelt (zu viele
VS.
weniger als angenommen) . Rassenprobleme
'werden so als Zahlenprobleme defi niert . Ist diese Definition erst ein
mal eingeführt, werden Hunderte von Sendungen u nendli ch e Variatio
nen dieses Themas spielen , ohne einmal die zugrunde liegende Ann ah
me oder die verwendete Logi k , d i e d arau s fo lgt , anzuzweifel n . Es wäre eine äußerst lange und geschickt gefüh rte Kam pagne notw endig , das zweifelhafte Zahlenspiel zu verdrängen und durch
Erklärungssystem zu e rs etzen
ein alternatives
wi e Z . B. : »Das grundl egende Pro blem ist nicht eines der Zahlen, so ndern es besteht in der Fei nds eli g_ _ .
keit von Weißen gegenüber Schwarzen. «
Solche radikalen Verschi ebu ngen gibt es nur vereinzelt . Und wenn sie vorkommen , dann zumeist de swegen ,. weil die Bedi n gu nge n inne r
halb der Elite selbst sich verschoben haben oder weil die Ge sellSchaft
ei ndeutig in gleiche Teile gespalten ist . In den 70er Jahren he rrschte die Auffassun g vor, die »Einkommenspolitik« sei die Lösung für unse
re ökonomischen Schwierigkeiten . Da dies vom Staat a l s »iID na tiona_ len Interesse« definiert wurde, wurde es übernommen und diente als
Bereich durch die »Not
Grundli nie der Medienberichterstattung über einen großen ökonomischer Probleme. Jetzt, da dieses Allheilmittel
wendigkeit zur Kontrolle der Geldversorgung« ersetzt word en ist , dient dies als unausgesprochene Prämisse der Medienberichte rstat_
tu ng. Eine Interviewerin wü rd e als einwandfrei unparteiisch beurtei lt
werden, wenn sie eine Frage unter der Prä mi s se formulieren Würde » Da
Sie selbstverständlich nicht die von der Regierung vorg egebenen
Geldmengengrenzen übersch reiten können
. « Doch d ies konunt daher, weil der N eokeynesianismus, dem sich auf verschiedene We ise heide, sowohl die Labour- al s auch die Regierungen der Konservativen ..
Die strukturiene Vermittlung von Ereignissen
143
Frau Thatchers Zeit, verschrieben hatten, durch eine neue, mone tarische Orthodoxie ersetzt worden ist. Systemverschiebungen inner halb der M achtebene werden schnell zur Grundlinie der »Realität« in den Medien , denn es ist Teil ihrer Aufgabe, sol chen Verschiebungen gegenüber sensibel zu sein . Fü r Quellen außerhalb des Machtgefüges ist es extrem schwer die Diskussionsbedingungen zu durchbrechen oder zu ändern . Obwohl es daher zutrifft , daß sich eine einzelne, mo nolithische Definition fast nie unangefochten du rchsetzt - die Deutun gen in den Medien sind in diesem Sinne »plural« -, ist die Bandbreite der zulässigen Definitionen systematisch begrenzt (d. h . nicht »plurali stisch«) . Die Medien stehen nicht »im Lohn« einer bestimmten Partei oder Gruppe - und die BerichterstatterInnen wachen eifersüchtig über diese Unabhängigkeit. Dies widerspricht nicht der Tatsache, daß die Medien sich im Kräftefeld der Mächtigen orientieren und daß sie ihre Definitionen systematisch darauf hin zurechtbiegen, wie die Macht kräfte in der Gesellschaft die politische Realität definieren. vor
,
.
Dies ist eine Frage der Struktur, nicht des Personals. Es legt in der Tat die Unzul änglichkeiten des Ko nzepts von der »Voreingenommen heit offen . Voreingeno mmenhei t muß in versteckter oder verdeckter Weise funktionieren. Aber die Ausrichtung der Medien innerhalb des Machtapparates ist eine Frage der Position von Rundfunk und Fernse hen (und nicht der Voreingenommenheit der Berichterstatterlnnen) und funktioniert recht offen und unverde,ckt. Per definitionem sind es di e Mächtigen, die Ereignisse deuten � das mei nen wir, wenn wir sie die »Mächtigen(( nennen. Da ihnen öffentlich die Verantwortung für d ie Führung der Geschäfte aufgetragen i st sind sie die anerkannten, legitimen, autoritativen Quellen der Nachrichten. Da ihre Entschei dungen und Handlungen sich auf die gesamte Bevölkerung und die Zu kunft der Nation auswirken werden, könnte keine verantwortungsbe wußte Sendeanstalt sie regelmäßig ignorieren . Und da Rundfunk und Fernsehen selbst nich(bei der Beeinflussung von Meinungen ertappt werden dürfen, sondern anerkannte Externe zitieren müssen, müssen sie sich in der Tat aufdiese verlassen, um die Diskussionsbedingungen festzulegen. Andernfalls könnten sie leicht (wie auch schon gesche hen) in Verdacht geraten, den Prozeß der öffentlichen und politischen Rechenschaftslegung zu usurpieren . Die Definitionen der Situation legen zwangsläufig die Bedingungen fest, unter denen Probleme disku tiert und entschieden werden. Daran ist nichts »Verstecktes« oder Ve r de cktes «
»
«
,
-
.
Die Medien sind jedoch nicht lediglich die Bauchredner der Macht, weil man von ihnen verlangt, die offiziellen und alternativen Ansichten
Ausgewählte
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Schriften
»auszubalancieren«. Aber so wie Rundfunk und Fernsehen zuerst den Konsens definieren müssen, um s ich auf ihn berufen und mit ihm ar beiten zu können,. so müssen sie auch definieren, was »Ausgewogen heit« ist. Wiederum kommt es auf die Analogie zum parlamentari schen S ystem an . Diejenigen, die ein einzuforderndes »Recht auf Ant wort« haben, werden vorzugsweise aus »den Reihen der anderen offi ziellen Seite, der Opposition«, innerhalb des Machtapparates ausge wählt werden. Den »Ausgleich« zu einer Regierungsmeinung bildet die Meinung der »Opposition« . Den »Ausgleich« zu einer Arbeitgeberan sicht b ild et die eines Gewerkschaftsführers. So wird in der Diskussion »Pluralismus« sichergestellt. Aber es wird auch systematisch die Band breite begrenzt, innerhalb derer sich »Ausgewogenheit« bewegen darf. Obwohl Behauptung und Gegenbehauptung eine lebhafte, manchmal scharfe, demokratische Debatte garantieren , ist es oftmals auch ein Gespräch zwischen Gruppen, die viele grundlegende Bezugspunkte . gemeinsam haben Der heutige Arbeitsminister des Schattenkabinetts wird die Industrieprobleme von m orgen erben . Beide, der Fina nzmin i ster und sein »Schatten«, h aben mit monetaristischen Lösungen her umgewerkelt Beide Arbeitsminister glauben an die Notwendigkeit, »die Macht der Gewerkschaften einzuschränken« , obwohl sie s i ch hin sichtlich der Mittel un d des Maßes unterscheiden. Doch simplifizieren wir nicht das Problem ! Diskussion und nicht die monolithische Dar stellung einer einzelnen Ansicht prägen das britische Fernsehe n in bezug auf »Tagesereignisse«. Daher mangelt es der einfachen Ver schwörungs theorie an Glaubwürdigkeit. Aber überschätzen wir den »Pluralismus« ni cht Die Bandbreite, innerhalb derer sich die Disku s sion bewegen kann, bevor sie hart an die Grenzen stößt, durch die au ßerhalb des Konsenses liegende Ansichten als » extremi s tisch , »unver antwortlich«, »partikularistisch« oder »irrational« defini ert we rden i st äuße rs t schmal, und die Grenzen sind systematisch strukturiert, nicht zufiil lig. .
.
«
,
Wenn die Medien diese zulässigen Grenzen überschreiten, geraten sie in schwieriges Fahrwasser. Wenn sie zu sehr in die Breite gehen wird man ihnen vorwerfen , extremistischen Ansichten oder Minderheitsmeinungen Glaubwürdigkeit zu verleihen. In jedem Falle kenn en sie die anerkannten Quellen gut , doch jenseits des ko rp orat ive n Krei ses von Macht und Einfluß ist die Meinungsbewegung weitgehend Un erforschtes Gebiet. Bei kontroversen Fragen , z.B. hinsichtlich Polizei_ gewalt, haben der Innenminister, sein »Schauen« , der P01izeipräsi dent und der Polizisten-Verband rechtm äßig Zugang zu dem Gegenstand. Das Nationale Bürgerrechtskomitee kann, oder kann auch nicht , Ulll ,
Die strukturierte Venniu.lung von Ereignissen eine Meinungsäußerung gebeten werden
-
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es wird aber klar als eine
minoritäre »pressure group« gekennzeichnet werden. Die Hackord� Dung innerhalb des Machtsystems ist genau definiert. Wie sollten die BerichterstatterInnen wissen, wer außerhalb dieser Ordnung zählt?
Wann ist die »alternative ökonomische Strategie« des linken Flügels von Labour glaubwürdig genug, um als Alternative zur ökonomischen Politik der Konservativen und von Labour anerkannt zu werden? Wann
ist die Bewegung für nukleare Abrüstung genügend »legitimiert« , um ihre Ansichten als glaubwürdige Alternative denen des Verteidigungs ministers gegenüberzustellen? Dies sind Fragen , die einer sehr subti
len Beu rteilu n g bedürfen, und wie BerichterstatterInnen sie lösen , wird dazu beitragen, »Ausgewogenheit« nicht etwa w iderzuspiegeln ,. sondern sie zu konstruieren . Alternative Gesichtspunkte werden manchmal im Namen e in er Pressure-Group »eingefügt« , nicht durch
deren e igen e Aussage, sondern über die Fragenden oder Interviewe rInnen. Man wird oftmals Sir Robin Day zu einem Minister sagen hören : »N atürlich, einige Leute würden sagen . . . « Doch in solchen Fällen spielen die Medien eine vermittelnde Rolle. Diejenigen, deren Ansichten »eingefügt« sind , werden in die Diskussion eintreten, wenn
auch auf indirekte Weise. Diejenigen, die auf den sensiblen politischen Sei s mographen der BerichterstatterInnen keinen Ausschlag verursa chen, bleiben außen vor. Wie »Objektivität« und »Unparteilichkeit« , so ist auch »Au sgewogenhei t« nicht eine Tatsache, sondern ein Prozeß .
Sie i st das Resultat einer sozialen Praxis. Diese findet innerhalb eines ganz bestimmten Machtsystems bzw. einer Machtstruktur statt . Die Konzep te )�Ausg ewogenh eit« und »Konsens« sind daher eng mit
einander verwoben . »Konsens« impliziert nicht eine einzelne, einheit
liche Position , der s ich die gesamte Gesellschaft verschrieben hat . Er bildet den grundSätzlichen gemeinsamen Boden - die zugrunde lie genden Werte und Prämissen -, auf dem d ie heiden Positionen sich bewegen , die i m Detail scharf d ive rgi e ren können . »Konsens« ist be
dingt durch strukturierte U nein igkeit - all diese gemei n s amen Prä missen, die es ermöglichen, daß »Hinz und Kunz übereinkommen, mitei nander zu streiten«. »Ausgewogenheit« wird daher durch Konsens
eingera hmt . Labour und die Konservativen sind sich in bezug auf die richtige Wirts ch a ftspo l iti k zutiefst u nein ig . Aber beide heißen das Zweiparteien -System gut . Der l! Diskussion, da sie den Konsens über den g rund legend en Charakter des
p oli ti sc hen Systems nicht teilt. Gruppen , die nicht so »weit außerhalb
s tehen , die aber auch nicht »zum Zentrum des Systems« gehören , be
finden sich am Rande des Konsenses - und von daher am Rande der in den Medien gewöhnlich praktizierten »Ausgewogenheit« . Im großen und ganzen sind die Medien gewi ssenhaft und fair, unpar
teiisch und »ausgewogen« innerhalb des Bezugssystems des Kons enses,
so wie wir (und sie) ihn defi n i ert haben . So sind sie im g roßen un d gan zen auch nicht für
die Regierungs
-
oder Oppositionspartei »ei ngenom
men« . Sie sind aber »eingenommen« für das System und für die »)Defi�
Andem Art »Partei im Exil« zu werden
ni ti onen der politischen Realität« , die das System definiert. falls würden sie Gefahr laufen , eine
_
J1lit eigener mächtiger Stinune! Rundfunk und Fernsehen können sich nicht darauf festlegen , ob die Wirtschaftspolitik von A oder von B die
Räder der Industrie in Gang halten wird . Aber sie sind darauf fes tge
l egt , »die Produktion in Gang zu halten« , da sowohl A wie auch B dies als »im nationalen Interesse« definieren. Was j eweils g laubw ürdig als
» nationales Interesse« definiert und behau ptet werden kann , wi rd ZUr Grundlage , von der aus die BerichterstatterInnen a rbeiten müssen . Ein
früheres verdientes Mitglied des Verwaltungsrates von BBC, Sir Charles
eurran , fonnulierte den Punkt einmal auf treffende Weise : »Ja , wir sind vorei ngenomm en - vo reingenommen für die p arl amentari Sche Demokratie. « Und denkt man einmal darüber nach - könnte die Situa
t ion denn anders s ein? Könnte eine Se ndean stalt lange in Großbritan_ nien überl eben , wenn sie »fiir eine Einparteien-Diktatur ei ngenom_ men« wäre? Könnte sie überhaupt glaubhaft entstehen oder überleben?
Di es heißt nicht, daß di e Grenzen , innerhalb derer » Ausgewogenheit«
zur Zeit funkt ioniert , nicht er we itert oder ausgedehnt werden könnten .
Aber der »Konsens«-Charakter von Rundfunk und Fernsehen entsteht nicht aus »Voreingenommenheit« im übli chen Sinn, sondern is t eine strukturelle B edi ngung , von der das gesamte Rundfunk- u nd Fe mseh_
unternehmen abhängt . Wir haben die A nalogi e des »Parlaments« benutzt , aber tatsäc hlich wäre es besser. uns das Funktionieren von Rundfunk und Fernsehen in
Ana logie zum Staat zu denken . Sie müssen, wie der Staat, auf dem Boden d es » nationalen Interesses« stehen . Sie müssen Offensichtl iCh außerhalb von und über dem Spiel der Parteiinteressen stehen . Si e müssen widerstrei te nde Interessen ausg leichen . Ihr Personal muß, Wi e das des Staates. »neutral« , aber dem »System als Ganzes« verpflichtet
se in . Die Parallelen sind sogar noch enger. Denn da Rund funk und
Die strukturierte Vennittlung von Ereignissen
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Fernsehen nicht zu einem »Staat im Staate« werden dürfen, müssen sie
ihre »Definition der politischen Realität«
vom Staat übernehmen.
Was
der Staat als » legitim « definiert, ist »der Bezugspunkt für die Form
aller im Fernsehen gezeigten Realität«. Natürlich besitzen Rundfunk und Fernsehen andere, ausglei chende Verantwortlichkeiten, welche
diese Wiedergabe weniger monolithisch machen. Denn sie müssen
auch Konflikte behandeln (auch wenn dies den Mächtigen Unannehm lichkeiten bereitet) , über Trends berichten, die »schlechte Nachrich
ten« für den Staat sind, bis zu einem gewi ssen Grad Meinungsverschie
denheiten in der Gesellschaft wiedergeben, offizielle Ansichten in
Frage stellen und untersuchen und die offizielle Politik auf ihre Kohä
renz und i nneren Widersprüche hin überprüfen . Dies trägt dazu bei ,
Rundfunk und Fernsehen »offen« zu haIten, und schafft oft ein Klima des »Kalten Krieges« zwischen BerichterstatterInnen und PolitikerIn nen . Dies wiederum erweitert die Möglichkeiten der Medien , »Kon
sens« wied erzugeben und zu konstruieren, aber es verschiebt nicht
ihre grunds ätzliche Aus richtung . Was als » leg itime Opposition« defi niert wird, besitzt rechtmäßigen Zugang zur Diskussion im Fernsehen.
Was am Rande der staatlichen Definition von Konsens liegt, w ird für
den Fernsehdiskurs marginal sei n . Was die U nversehrtheit des Staates bedroht - besonders wenn es mit Mitteln der Gewalt geschieht - , kann beim Fernsehen nicht gezeigt werden , es sei denn nach ausdruck li eh er Erlaubnis (z .B. Interviews mit IRA-Sprechern) . Der Staat defi
niert letztendlich das Terrain, auf dem di e Repräsentationen der We1t im Fernsehen konstruiert werden. Bedeutet dies, daß Fernsehen einfach - wie einige Leute behauptet haben :"- ein »ideologischer A pparat« des Staates ist? In einigen Län dern trifft das tatsächlich zu .
Aber in Großbritannien wird die Bezie
hung zwischen Rundfunk und Fernsehen und dem Staat - wie die der
Justiz - durch die klassische Doktrin der »Gewaltenteilung« geregelt .
Andernfall s könnten sie ihre geforderte Funktion nicht erfüllen , s o
wohl »unparteiische Wissensquelle« als auch »Teil des Systems« zu
sei n . Curran machte die treffende Beobachtung, daß die »BBC die Po sition einer quasi-j uristischen Unparteilichkeit hat« . Trotz wi rkli cher
Unterschiede in Organisation und Finanzierung gi l t dies auch für den ITV-Kompl ex , wo es um politische Kontroversen und Ausgewogenheit
geht. Dies heiß t nicht, ,:" ie eurran behauptet ,. daß Rundfunk und Fern sehen völlig autonom smd und nur äußerem Einfluß und Druck unter liegen . Aber sie sind formal unabhängig - relativ autonom . Während
des Gen eralstreiks (1926), in der Frühzeit der BBC, argumentierte Lord Rei th überzeugend, es wäre im besten Interesse der Regierung,
148
Ausgewdhlte
Schriften
die BBC nicht unter ihre Befehlsgewalt zu stellen, wie Churchill es
wünschte, sondern sie als unabhängige Informationsquelle zu belas
sen . Er stellte an den Rundfunk eine doppelte Anforderung : Er soUte »seine Position im Lande selbst bestimmen« und »in der Krise für die Regierung« s ein. Er schaffte die Quadratur des Kreises bei diesem of
fensichtlichen Widerspruch durch eine subtile und delikate Formulie rung : »Da die BBC eine nationale Institution war und da die Regierung
in dieser Kris e für das Volk handelte, war die BBC in dieser Krise auch
für die Regierung. «
Wir haben somit behauptet, daß keine der dominanten Erklärungen
»unabhängig und unparteiisch« oder »voreingenommen« - adäquat ist,. denn sie können das determinierte Verhältn is nicht fassen, in dem
Rundfunk und Fernsehen in unserer Gesellschaft stehen . Nur das Kon
.z,ept der determinierten Struktur erlaubt uns dies.
In diesem Artikel haben wir die ideologische RoHe der Medien erör
tert. Es i st schwer, diesen Begriff genau zu definieren , aber wir haben
ihn auf recht einfache Wei se benutzt. Unter »Ideologie« verstehe n wir
keine hoch systematischen und kohärenten »Philosophien« der GeseU
schaft, sondern die Summe der verfügbaren Wege, die gesellschaftli_ che Wirklichkeit zu interpretieren, definieren, verstehen und zu erklä ren . In jeder Gesellschaft wird die Bandbreite der verfügbaren Ideo lo gien begrenzt sein . Darüber hinaus sind diese »praktischen AnSchau_ ungen« keine vereinzelten Ideen, sondern zu ErkJärungsketten ver knüpft. Sie sind nicht »frei fließend« , sondern determiniert, in be
stimmter Weise strukturiert,. geformt und i n der Gesellschaft verteilt. Obwohl sie einerseits genau die »Ideen in den Köpfen der Leute« dar über sind , was die Gesellschaft ist und wie sie funktioniert, entstehen
diese » Ideen« andererseits aus der Art und Weise, wie die Gesellschaft organisiert ist, sie sind historisch geformt; sie werden durch komplexe soziale Organisationen und unter Verwendung fortgeschrittener tech
nischer Mittel vermittelt und verbreitet.
Darüber hinaus haben sie praktische Auswirkungen , weil es di e Ideen sind, die das Handeln sozialer Gruppen und Klassen organisie_ ren, die Einfluß darauf haben, wie diese Gruppen Realität definie ren wie sie widerstreitende gesellschaftliche Interessen wahrn ehmen
und
daher auch darauf, was Leute tun, wen sie unterstützen und für welche Politik sie sich einsetzen . Ideologien dringen in die soziale und mate riene Organisation der Gesellschaft ein und beeinflu ssen prakti sch e Resultate. Sie sind oder können materiell wirksam werden . Es is t daher von großer Bedeutung., welche Ideen oder »Ideologien« GlaUb würdigkeit gewinnen und ständig benutzt werden , um Probleme �u ..
Die strukturierte
Vermittlung von Ereignissen
1 49
definieren und zu verstehen, welche uns als adäquate Führer durch diese Probleme dienen oder als Landkarte der sozialen Welt und damit konsensuell werden . Die quasi-monopolistische Position von Rund
funk und Fernsehen g ibt ihnen in unserer Gesellschaft eine große kul
turelle Macht darüber, welche Ideen ständig zirkulieren , welche als »legitim« definiert und welche als »irrelevant« oder » marginal« klassi fiziert werden . Dies ist eine Frage ideologischer Macht - und Institu tionen wie Rundfunk und Fernsehen und die Presse, die über die Mittel zur »Definition der Realität« verfügen , spielen zwangsläufig eine ideo logische Rolle, wie lästig diese Tatsache den Berichterstattern auch ist.
Wir haben versucht zu zeigen, warum unser Rundfunk- und Fernseh
system
per definitionem nicht eine einzelne, einfache, monolithische
Gruppe von »herrschenden Ideen« über die soziale Welt verbreiten kann . Aber w ir haben auch gezeigt , warum das Machen von Sendun gen selbst eine ideologische Praxis ist und sein muß, und warum es bei
den Definitionen der Situationen , die Rundfunk und Fernsehen kon struieren� systemati sch die Tendenz gibt , die vorherrschenden sozia len , politischen und ökonomischen Anordnungen, von denen sie selbst ein bestimmender Teil sind, zu begünstige n . Obersetzung : Gottfried Polage
1 50
Die Konstruktion von »Rasse« in den Medien In diesem Artikel geht es mir um zwei zusammenhängende Probleme.
Zum einen handelt es sich u m die Art und Weise, wie die M edien _ zum Teil vorsätzlich, zum Teil unbewußt - die Frage der Rasse defi
nieren und konstruieren , mit dem Effekt der Reproduktion rassisti scher Ideologien . Zum anderen geht es um die komplizierten Fragen von Strategie und Taktik, die dann entstehen , we�n die Linke in
die
Konstruktionsweise von »Rasse« in den Medien einzugreifen versucht , um die selbstverständl ichen Annahmen , auf denen ein Großteil der Med ienpraxi s fußt, zu dekonstruieren. Wir müssen beide Fragen in ihrem Zusammenhang denken: die oft komplexen und su bti len Weisen , i n denen die Ideologien des Rassis mus in unserer Ku ltur aufrechterhalten werden , u nd die genauso kom
plizierte Frage, was ihnen im praktisch-ideologischen Kampf entge genzusetzen ist. Beides zusammen bildet die Grundlage für eine um.. fas sendere antirassi stische Strategie, i n der wie ich hier zeigen will die Vernachlässigung der ideologischen Dimensionen gefährlic h ist.
Eine Art rassistischen Alltagsbewußtseins durchdringt aus sehr viel fältigen Gründen unsere Gesellschaft. Die Medien arbeiten viel mi t
Wir H il fe
d iesem AHtagsbewußtsein , sie benutzen es als ihre Ausgangsba s i s . müssen Wege und Mittel finden , und zwar dringend, mit deren
wir ein antirassi stisches Alltagsbewußtsein konstruieren kön nen -- in Ergänzung der ebenso dringenden und notwendigen politis chen AUf-
gabe, den offen organisierten Rassisten und ultrarechten Organisatio_ nen den Weg zur Macht zu verbauen. Diese Aufgabe der Popul ari sie_
'
rung antirass istischer Ansichten ist bzw. muß Teil eines breiteren , de mokratischen Kampfes sein , bei dem es nicht so sehr um die rechtsex_
tremi stischen »Hardliner« geht oder gar um die kleine Zahl bereits En
gagierter und
Überzeugter
,
sondern um aUe Aspekte des gesunden
Menschenverstandes in der gesamten Bevölkerung - vor allem in der arbeitenden Bevölkerung, denn sie wird letztendl ich der Grun dpfeil er im Kampf um den Aufbau eines antirassistischen Volksblocks s ein.
Das Thema Rassismus und die Medien berührt unmittelbar di e Frage der »Ideologie«, da die Medien überwiegend in der Sphäre de r
Prod uktion und Transformation von Ideologien operieren. Eine Inter_ vention in die Konstruktion von »Rasse« in den Medien ist daher eine
Intervention in das ideologische Kampffel d . Was die L iteratu r zUm
Ideologiebegriff angeht , so ist da in den letzten Jahren viel trübes Was_ ser den Fluß heruntergeflossen ; hier ist jedoch nicht der Ort, sich
damit theoretisch auseinanderzusetzen .. Ich verwende den Begri ff, ulll
.
Die Konstruktion von »Rasse« in den Medien
151
mich auf solche Bilder, Konzepte und Prämissen z u beziehen, durch die wir bestimmte Aspekte des gesellschaftlichen Lebens darstellen ,
interpretieren , verstehen und ihnen einen Sinn geben . Sprache und Ideologie sind nicht das gleiche - der gleich e l inguisti sche Begriff (z.B. »Demokratie« oder »Freiheit«) kann innerhalb verschiedener ideol ogisch er Diskurse verwandt werden . Andererseits ist Sprache das wichtigste Medium , in dem die verschiedenen ideologischen Diskurse au sgearbe itet we rden .
Um d as folgende verständli ch zu machen, müsse n noch drei wichti ge Dinge über Ideolog i e gesa gt werden . Erstens, Ideologien b estehen nicht aus i sol ierten und voneinander getrennten Begriffen , sondern aus
der A rtiku lation verschiedener Elemente zu einem bestimmten Satz oder einer bestimmten Kette von Bedeutungen . In der liberalen Ideolo gie ist »Freiheit« mit Individualismus und freier Marktwirtschaft ver
knüpft , in der sozialistischen Ideologie ist »Freiheit« mit dem Kollekti ven verknüpft. Sie i st abhängig von gleichen Lebensbedingungen und
steht nicht im Gegensatz zu ihnen wie in der libera len Ideologie. Der gleiche Begriff wird in der Logik verschiedener ideologischer Diskur se untersch iedlich positioniert . Eine Mög lichkeit de s ideolo gis ch en Kampfes und der Transformation von Ideo1ogien besteht darin, die ein
zelnen Elemente anders zu arti kuH eren und dabei eine andere Bedeu
tung zu prod uzieren - die Kette, in der sie gegenwärtig ihren festen
Ort haben , auseinanderzubrechen (»demokratisch« = der » freie« We
s.ten) und eine neue Artikulation festzuschreiben (»demokratisch « Vertiefung der demokratischen Inhalte des politischen Lebens) . Na
=
türlich ist das »Auseinanderbrechen der Kette« nicht auf den Kopf be schrä nkt - es findet im Rahmen einer gesellschaftlichen Praxis und im politis chen Kampf statt . Zweitens, ideol ogisc he Aussagen werden
von
Individu en getroffen
aber Ideo1ogien entstammen nicht einem individuellen Bewußtsein oder indiv iduellen Absichten. Vielmehr formulieren wir unsere Ab
_
sichten innerhalb von Ideologien. Sie waren vor d en einzelnen Indivi
duen da und bUden einen Teil der determinierenden gesellschaftlichen Formen und Verhältnisse, in die die Individuen hinein geb oren werden.
Wir müssen »durch« die Ideologien hindurch
s preche n , die i n unserer
Gesellschaft wirksam sind, und mit deren Hilfe wir uns au f die gesell
schaftl ichen Verhältnisse und unseren Platz darin »einen Reim machen« .
Von daher ist die Transformation von Ideologien kein individueller, son dern ein kollektiver Vorgang bzw. eine kollektive Praxis. Diese Prozesse wirken überwiegend unbewu.ßt, sie folgen kaum bewußten Ziel setzunge n . Es sind die Ideologien , die versch iedene gesellsch aftliche
Ausgewdhue Schrij1en
1 52
Bewußtseinsformen produz ieren , und nicht umgekehrt. Sie sind dann
am wi rks ams ten , wenn uns nicht bewußt ist, daß der Art, wie w ir eine Auss age formulieren und zusammenbauen, id eologi sch e Prämissen
zugrundel i egen , und wenn es so aussieht, als seien unsere Formulie
rungen nur schlichte B e s ch rei b ungen dessen, w ie die D inge sind .
»Kleine Jungen spielen gerne
Spiele, kleine M ädch en aber s ind süß und niedlich« basiert anreinern ganzen Satz ideologischer Prämis rau he
sen, obwohl diese Aussage ein Aphorismus zu sein scheint, der auf der Natur selbst gründet, nicht darauf, wie Männlichkeit und Weibl i chkeit
historisch und kulturell geseUschaftlich kon stru iert werden . Ideolo
gien haben die Ten denz , hinter der selbstverständl ichen, »)naturalisier
ten« Welt des »gesunden Menschenverstandes« au s dem Bl i ckfeld zu geraten.
Drittens , die Funktionsweise von Ideologien beruht auf der >�Lei ( ind ivi duel len oder kollektiven) Subjekten stu ng« , ihren
Identifikations- und Wissenspositionen zu bauen , die es ihnen ermög_ lichen , ideologische Wahrh e ite n als authentische, originäre Wahrhei
te n zu »äuß ern « . Nicht, weil sie tatsächlich unserer innersten , authenti_
schen , einma li gen Erfahrung entstammen , sondern weil w ir uns in de n Positionen gespi egelt sehen , die im M ittel pu n kt der Diskurse stehe n .. ,
und von denen aus die von uns formu l i erten Außeru ngen » S inn ergeben« . D i e gl ei ch en Subjekte (d . h . ökonom i sch e Klassen oder ethni .. sehe Gruppen) können daher in verschiedenen Ideologien verschi eden
kons truiert werden . Wenn Mrs . Thateher sagt : »Wir können
es
uns
nicht lei sten , uns selbst höhere Löhne zu zahlen , ohne sie durch eine höhere Produktivität zu verdienen« � dann versucht sie im Zentrum i hres Diskurses eine Identifikation für ArbeiterInnen zu konstruieren
,
die sich selbst nicht mehr als in Opposition oder als in e i nem antagoni_
stischen Gegensatz zum Kapi tal stehend sehen , sondern zu nehmend
im Rahmen einer Interessenidentität von Arbeitern und Kapital . Aber au ch dieser Vorgang ist n icht nur eine Frage des Kopfes. Entlas sun ge n sind ein wirksames materielles M ittel ; »Kopf u nd Herz« zu beein_ flussen .
Die Wi rkungsweise von Ideolog ien besteht also in der Transforma _ tio n von Diskursen (der Desartikulation und Reartiku1ation ideolog i _
scher Elemente) und der Transformation (dem Auseinandernehmen
un d Neuzusammensetzen) der handelnden Subjekte. Es sp i el t ei n e Rolle, wie wir uns selbst und uns e re sozialen Beziehungen »sehen1.
,
Das ist einer der zentralen Kri tikpunkte an der CARM-Sendung: Sie habe sich zu sehr mit der Entlarvung der Medien befaßt und nicht gene reU die Sache des Antirassismus vertreten. Über diesen Punkt kann es was auch der Fall ist � grundsätzlich geteilte Meinungen geb en AI, lerdings haben es die Kri ti ker wie ich fürchte, vorgezogen, diese Unter schiede nicht auf die grundsätzliche Problematik politischer Einschät zung zurückzuführen, sondern auf )}mangelndes Zutrauen« unsererseits (vgl. Z.B. Gardner und Henry) . Ich war der Ansicht, daß die begre nzte Mögl ichkeit die Open Door bot, mit al1 den Problemen (außerhal b der Hauptsendezeit, niedrjges Budget,. wenig Studiozeit, begrenzter Zugang zur Ausrüstung etc.) arn be sten zu nutzen war, indem wir ein bestimmtes die Medien ein einziges Mal gegen die herr Ziel im Auge behielten schende Praxis der Medien selbst zu .lesen und damit ei n iges über ihre normale Funktionsweise zum Vorschein zu bringen . Das bedeu tet , die zu behandelnden Themen einzuschränken , eher Schmalspur zu fahren als ein Sperrfeuer über Geschichte und Ursachen des Rassismus im all gemeinen loszulassen . Viell eicht war das falsch Wenn, dann lag d as aber nicht unbedingt daran, daß wir unsere »linken« Nerven verloren hätten worin so scheint mir der größte und geläufigste Vorwurf liegt. -
.
,
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-
.
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,
Die Konstruktion von »Rasse«
in den Medien
1 69
Eine weitere K r itik bezieht sich auf den Adressatenkreis. So kritisie
re n z .B. Gardner und Henry an der CARM-Gruppe, daß sie sich an das » allgemeine Publikum« wandte , was ih rer Meinung nach der Übernah me de s traditionellen Medienstandpunktes gleichkommt, der im Publi kum eine undifferenzierte, passive Masse sieht. Sie hätten es vorgezo gen , wenn die S endung �die schwarze, l inke und anti rassistische Bewe gung mit Instrumenten und Wissen über die Funktionsweise des Fern
seh -Ras si smus ausgestattet hätte« (G ardnel' / Henry 1979,
275) . Auch
hier hande l t es s ich um eine grundsätzliche Meinungsverschiedenheit.
Die andere Sich twei se - die meinige - geht davon au s , daß s chwarze , linke und
antirassistische
Gruppen ,
schen Kampf engagieren, zu
die
sich bereits im antirassisti
den letzten gehören,
die darüber aufge
klärt werden müssen, wie der Fernseh-Rassismus funktioniert -
schon gar nicht in einer fünfundzwanzigminutigen Sendung auf einem öffentlich-rechtlichen Kanal . Die o rgani sierten Aktivisten sind für diese Zwecke im Besitz we itaus blem ist die
pure Tatsache
effektiverer, inte rner Kanäle.
Ihr Pro
eines zunehmend rassistischen Alltagsbe
wußtseins und d er feh lende »Zugang« zu den Mitteln, mit de ren Hilfe sie sich mit d ies em verbreiteten Bewußtseinstyp auseinandersetzen könnten . Ich fürchte allerdings, daß der Kampf
auf dieser Ebene der
popularisierung ein e ganz anders geartete politische Aufgabe d arstellt al s die Bestätigu ng der bereits bes tätigten Ansichten der bereits Über zeugten.
Da heißt es, um das schmudd elige und verworrene Mittelfeld
zu kämpfen - das Feld , auf dem Powellismus, Thatcherismus und die
National Front in den le tzten Jahren so ungeheuer viel Vorsprung ge won nen haben . Wollen wir in dem l ang wi eri gen Stellungskrieg an
Boden gewi nnen , dann muß nich t nur das »Mittelfeld�( Gegenstand des
Kampfes werden,
sondern das libera l e
Bewußtsein se1bsL Denn der
»liberale Konsens« ist der Dreh- und Angelpu nkt dessen, was i ch den »impl iziten Rassismus