Stelian Sirbu
Aktion „Lilie“
Verlag Neues Leben Berlin 1973
Titel des rumänischen Originals: Actiunea Crinul Ins De...
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Stelian Sirbu
Aktion „Lilie“
Verlag Neues Leben Berlin 1973
Titel des rumänischen Originals: Actiunea Crinul Ins Deutsche übertragen von Joachim Uhlisch Alle Rechte für die deutsche Ausgabe beim Verlag Neues Leben, Berlin 1973 Lizenz Nr. 303 (305/66/73) ES 9 A Umschlag und Illustrationen: Erhard Schreier Typografie: Walter Leipold Schrift: 8p Excelsior Gesamtherstellung: Druckerei Neues Deutschland Bestell-Nr. 6417127 EVP 0,25
An jenem Frühlingsabend wurde die Tür des Wohnblocks von einem etwa fünfzigjährigen Mann geöffnet, der bescheiden, aber sauber gekleidet war und eine abgenutzte Aktentasche trug. Da in der Pförtnerloge niemand war, ging er zu den Briefkästen, blickte auf die Namensschilder und stieg ins zweite Stockwerk hinauf. Vor einer Tür blieb er stehen und klingelte lange. Iosif Murgeanu öffnete und fragte ihn: „Zu wem wollen Sie?“ „Ich komme zur Überprüfung des Stromzählers“, antwortete der Mann. Murgeanu ließ ihn eintreten. Der Kontrolleur zog seinen abgetragenen Übergangsmantel aus, setzte die Mütze ab und hängte die Sachen an den Kleiderständer. Er öffnete die Aktentasche und legte auf einem Stuhl mehrere Schlüssel und Schraubenzieher zurecht. Danach zündete er sich eine Zigarette an und betrat zu Murgeanus Überraschung das Zimmer, wo er sich unaufgefordert in einem Sessel niederließ. Noch bevor Murgeanu irgend etwas vorbringen konnte, sagte der Kontrolleur unverschämt: „Gib mir einen Aschenbecher. Es wäre schade, wenn ich dir diesen guten Teppich schmutzig machen würde.“ „Was soll das heißen, dieser Ton?“ Der angebliche Kontrolleur hob den Finger und sagte: „Sei so gut und sprich leiser! Gib mir einen Aschenbecher und setz dich, Iosif Murgeanu. Es ist in deinem Interesse.“ Der Ton des Eindringlings lähmte Murgeanus Entschlußkraft. Er ließ sich in einen Sessel fallen, während der Unbekannte seine Hand nach dem Tisch ausstreckte, auf dem ein schwerer bronzener Aschenbecher stand. Er
nahm ihn, lächelte ironisch und zog genüßlich an der Zigarette. Murgeanus Augenlider zuckten nervös; er hatte Angst. „SS-Oberführer Hinder läßt dich grüßen!“ sagte der Unbekannte. Er machte eine Pause und drückte seine Zigarette aus. Dann fuhr er fort: „Es wird Zeit, daß du mit dieser Sache fertig wirst.“ Während des langen Schweigens kam Murgeanu langsam wieder zu sich. Ich hätte ihm diese Ruhepause nicht gönnen sollen, dachte der Unbekannte. In einem scharfen Ton, der unzweideutig sein sollte, sagte Murgeanu mit einer theatralischen Geste, wobei er zur Tür wies: „Verlassen Sie bitte meine Wohnung, Herr…“ „Alecu“, ergänzte der Unbekannte wohlwollend. „…sonst rufe ich die Miliz!“ beendete Murgeanu, rot vor Zorn, seinen Satz. „Die Miliz?“ wunderte sich der Unbekannte. „Warum nicht gleich den Staatssicherheitsdienst? Soviel ich weiß, befaßt sich die Miliz mit Gaunern. Du bist über dieses Stadium schon längst hinaus.“ Da Murgeanu die Hand ausgestreckt ließ, riet ihm Alecu wie einem Kind: „Nimm die Hand weg, das ermüdet dich nur. Lies!“ befahl er und hielt ihm ein Blatt Papier hin. Murgeanu ließ seinen Blick über die wenigen Zeilen schweifen, während der Unbekannte deren Wirkung am Zittern der Hände ablas. „Wenn ich mich nicht täusche, ist das die Anzeige, die du der Gestapo im Jahre 1944 über die Tätigkeit deines Wohnungsnachbarn und Schachpartners, des Ingenieurs Radan, gemacht hast. Erkennst du deine Unterschrift?
Das riecht nach Kriegsverbrecher!“ Murgeanu nahm sein Gesicht in die Hände und war von diesem Schuldbeweis niedergeschmettert. „Ich habe… sie aus Angst gemacht“, flüsterte er. „Ich will jetzt nicht mehr…. ich kann nicht mehr. Zeigen Sie mich an. Machen Sie schon. Es war ein Augenblick der Schwäche, der einzige… Man wird es berücksichtigen… Gehen Sie! Lassen Sie mich!“ „Augenblick der Schwäche!“ wiederholte der Unbekannte sarkastisch. „Mein Gott, du bist unbezahlbar. Wenn ich einmal ein Verbrechen begehen sollte, werde ich dich als Anwalt nehmen. Ganz sicher werde ich freigesprochen. Schwäche des Augenblicks, fertig, Freispruch. Und was ist das hier?“ Alecu breitete auf dem Tisch einige Fotografien aus, auf denen Murgeanu neben einigen SS-Offizieren zu sehen war. Auf einem Foto war der Augenblick festgehalten, als ihm ein Geldpacken überreicht wurde. Murgeanu betrachtete die Fotos mit scheinbarer Ruhe, dann legte er sie zusammen und schob sie fast angeekelt dem Unbekannten zu. „Fälschungen…. Lügen! Das Gericht wird sie nicht anerkennen.“ „Wie du sie auch bezeichnen magst“, sagte Alecu achselzuckend, „vor Gericht sind sie wie eine Anzeige. Niemand wird diese Beweisstücke, die, wie du feststellen mußt, nicht gefälscht sind, auf Grund der Behauptung eines…. entschuldige bitte den Ausdruck, Denunzianten in Zweifel ziehen. Du hast die Wahl zwischen fünfzehn, zwanzig Jahren Zuchthaus und einigen Monaten Arbeit für uns. Wir verlangen nicht viel von dir.“ Alecu erhob sich vom Sessel, als wolle er gehen, ob-
wohl das durchaus nicht seine Absicht war. Murgeanu versperrte ihm erschrocken den Weg. Er befand sich in einer Falle, aus der es keinen Ausweg gab, da er zu feige war, jetzt endlich einmal mit der Vergangenheit Schluß zu machen. Furcht und Feigheit bewogen ihn, auf den Wunsch des Unbekannten einzugehen. „Was soll ich tun?“ „Zunächst bekommst du das hier und unterschreibst die Quittung“, sagte er und warf ihm lässig ein Bündel Geldscheine hin. „Die ersten Repräsentationsspesen.“ „Nein, ich will nichts mehr unterschreiben“, sagte Murgeanu und sprang wie von der Tarantel gestochen auf. Alecu beruhigte ihn unsanft: „Fang nicht schon wieder an, sonst lasse ich dich ohne einen Pfennig sitzen!“ ereiferte er sich. Um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen, machte er eine Wendung zur Tür und fuhr fort: „Es tut mir leid, wenn ich dich gestört habe. Noch etwas, bevor wir auseinandergehen: Pack deinen Koffer! Vergiß die Zahnpasta nicht… Soviel ich weiß, gibt es so etwas im Zuchthaus nicht.“ „Bleiben Sie!“ rief Murgeanu. „Was willst du noch?“ „Gehen Sie nicht.“ Alecu hielt ihm wortlos Federhalter und Quittung hin. Murgeanu nahm beides, Alecu schob ihn zum Tisch. Dort unterschrieb er. Eine zitternde und gequälte Unterschrift, die er unter sein eigenes Todesurteil zu setzen schien. Murgeanu wachte von allein auf. Hätte er nicht das auf das Bett geworfene Geldbündel gesehen, so hätte er geglaubt, das Ganze wäre nur ein Alptraum gewesen.
Das Geld als stummer Zeuge des Vorfalls überzeugte ihn davon, daß sich alles wirklich so abgespielt hatte. Er kam plötzlich zu sich, stürzte zur Tür und drückte die Klinke herunter, die Tür war jedoch verschlossen. Merkwürdig, er erinnerte sich nicht, wann er die Tür abgeschlossen hatte. Er öffnete den Kühlschrank, nahm eine Flasche heraus und machte einen langen Zug. Er spürte, wie der Rum durch die Kehle rann und danach im Magen brannte. Das Getränk widerte ihn an. Er stellte die Flasche wieder weg und setzte sich in den Sessel. Irgendwo im darüberliegenden Stockwerk wurde eine Tür zugeschlagen. Murgeanu fuhr zusammen. Dann war es ruhig. Wenig später schrillte die Klingel kurz. Er stand erschrocken auf. Es klingelte wieder, und er hielt sich die
Ohren mit den Händen zu. Vielleicht wollten sie ihn schon abholen. Er hatte die Quittung unterschrieben und das Geld genommen. Wenn nun aber Alecu wiederkam? Langsam nahm er die Hände von den Ohren. Die Klingel war verstummt. Dann ertönte sie wieder. Sei es, sagte er sich und machte auf. „Guten Tag, Herr Murgeanu. Morgen nachmittag ist Hausversammlung“, teilte ihm der alte Hausmeister Sotir mit. „Gut, vielen Dank.“ Wie lange hatte er wohl so gesessen, die feuchten Hände auf den Armlehnen des Sessels? Durch die Jalousien schimmerte das Neonlicht von der Straße und warf schmale schwarz-weiße Streifen an die Wand. Wie ein Fenster mit senkrechten Gitterstäben. Das eigenartige Bild erinnerte ihn an den Ingenieur Radan, seinen Wohnungsnachbarn, an Hinder, an alles… Seit jener Zeit waren etwa fünfzehn Jahre vergangen, aber ihm schien es jetzt, als sei das alles erst gestern passiert. Das Ganze hatte sich an einem kalten Frühlingstag des Jahres 1944, vielleicht dem letzten kalten Tag des Jahres, ereignet. Er kehrte nachts nach Hause zurück, es war windig, und – er erinnerte sich nicht mehr genau – wahrscheinlich schneite es. Er fror und fürchtete sich. Vor der Dunkelheit, vor dem Fliegeralarm, der ihn weit von einem Keller überrascht hätte. Ein Mann ging an ihm vorbei, rempelte ihn mit der Schulter an und ließ ein Paket fallen. Ehe er zu sich kam, war der Mann in der Dunkelheit verschwunden. Neugierig hob er das Paket auf. Er dachte, daß derjenige, der plötzlich verschwunden war,
wiederkommen und es von ihm zurückverlangen würde. Kurz darauf hörte er hinter sich Stiefeltritte. Zwei starke Arme packten ihn und zerrten ihn in ein Auto. Er wurde in ein elegantes Büro gebracht und sah sich einem SSOffizier gegenüber. Später erfuhr er, daß dieser Hinder hieß. Der Deutsche blickte ihn scharf an und verlangte seine Papiere. Er las sie, und die Falte zwischen seinen Augenbrauen wurde etwas kleiner. In einem leicht tadelnden Ton sagte er zu ihm: „Na ja, Herr Murgeanu, warum müssen gerade Sie so etwas machen? Ich habe Ihren Vater, Herrn Iuliu Murgeanu, gekannt. Ich möchte sogar sagen, daß wir miteinander befreundet waren. Oder ist es vielleicht nur der gleiche Name, und Sie sind gar nicht der Sohn des verstorbenen Ingenieurs Murgeanu, des geschätzten Beraters in Erdölfragen?“ „Ich bin es.“ „Dann ist es ja um so schlimmer!“ fuhr er Murgeanu an und zeigte ihm das geöffnete Paket auf dem Schreibtisch. „Ich verstehe nicht!“ „Ach so, Sie verstehen nicht! Vielleicht wollen Sie noch sagen, dieses Paket sei nicht bei Ihnen gefunden worden.“ „Ich streite es nicht ab, aber jemand hat es vor meinen Augen verloren, und ich habe es aufgehoben.“ „Wirklich? Und wie wollen Sie uns das beweisen?“ Murgeanu begriff seine schwierige Lage. Minutenlang jammerte er Hinder etwas vor und beteuerte, daß er mit der Sache nichts zu tun habe. Der Oberführer blieb jedoch hartnäckig und glaubte nichts von dem, was er vorbrachte. Es folgten stundenlange Verhöre, in denen Hinder mit
Nachdruck herauszubekommen versuchte, von wem er die Flugblätter habe und mit wem er zusammenarbeite. Murgeanu konnte jedoch nichts anderes angeben. „Ich bin gezwungen, Sie hierzubehalten“, sagte Hinder zu ihm. Murgeanu wurde in Haft genommen. Am nächsten Tag wurde ein weiterer Häftling in die Zelle gebracht: ein großer Mann mit einem unruhigen Blick und einer roten Narbe auf der linken Wange. Murgeanu schien in ihm den Mann wiederzuerkennen, der die Flugblätter verloren hatte. Am nächsten Tag gestand er Hinder, daß der Mann in der Zelle derjenige sei, dem das Bündel Flugblätter entglitten war. „Ich habe ihn verhört, aber er will nichts gestehen.“ „Trotzdem glaube ich, daß er es war.“ „Versuchen Sie, etwas aus ihm herauszuholen“, spornte ihn Hinder an. Drei Tage hintereinander nahmen die Deutschen den Mann aus der Zelle ins Verhör. Er kam jedesmal zerschundener zurück. Da er merkte, daß er es nicht mehr aushalten konnte, gestand er Murgeanu, daß er der Mann mit den Flugblättern sei. Er bat ihn, bei seiner Entlassung einem gewissen Iancu aus der Narzissenstraße Mitteilung von dem Geschehenen zu machen. Murgeanu sagte Hinder, daß der Mann aus der Zelle gestanden habe. Nachdem ihm der Deutsche eine schriftliche Erklärung abgenommen hatte, stellte er ihn dem Schuldigen gegenüber. „Verräter!“ schrie dieser Murgeanu an. Sie zogen ihn an Händen und Füßen aus dem Zimmer. Hinder klopfte Murgeanu freundlich auf die Schulter und sagte ihm: „Sie haben Ihre Haut gerettet und uns enorm geholfen. Dieses Individuum ist ein gefährlicher Kommunist. Wir werden Ihnen stets dankbar sein.“
Murgeanu glaubte schon, von der Sache losgekommen zu sein, aber ungefähr nach einer Woche ließ ihn der Deutsche kommen und verlangte von ihm, er solle ihm bei einer anderen Sache behilflich sein. Er verdächtigte Ingenieur Radan, in einige Sabotageakte der letzten Zeit verwickelt zu sein. Radans Appartement lag Murgeanus Einraumwohnung genau gegenüber, so daß Murgeanu durch den Spion erkennen konnte, wer aus-und einging. Wenn ihm etwas verdächtig vorkam, sollte er Hinder sofort anrufen. Da Murgeanu zögerte, gab ihm der Deutsche sein „Ehrenwort“, daß dies der letzte Dienst sei, den er von ihm verlange. Die Zusage fiel Murgeanu schwer, weil Ingenieur Radan ein ruhiger und freundlicher Nachbar war, mit dem er oft Schach spielte. Hinder verlangte, daß er ihn beschatten sollte. Die Angst vor Hinder gab den Ausschlag, er ging auf dessen Forderung ein. An einem Tag Ende Juni erblickte Murgeanu durch den Spion einen Mann, der vor Radans Tür stehenblieb. Sein Gesicht konnte er nicht erkennen. In der Hand trug er ein Köfferchen, das für seine Größe recht schwer sein mußte. Der Ingenieur öffnete die Tür, und der Mann trat rasch ein. Nach zehn Minuten sah er ihn wieder gehen, allerdings ohne Koffer. In der Annahme, daß etwas „nicht in Ordnung“ sei, rief er Hinder an. Eine halbe Stunde später hielten vor dem Haus einige Militärfahrzeuge. Das Pflaster dröhnte unter den Stiefeltritten der SS-Männer, die vor der Tür Radans haltmachten und sie aus den Angeln hoben. Murgeanu hörte einen entsetzten Schrei des Ingenieurs, dann sah er, wie dieser von den SS-Männern auf die Treppe gezerrt wurde.
„Was wollen Sie von mir? Warum?“ schrie Radan. Die Mieter des Hauses liefen aus ihren Wohnungen, um zu sehen, was los sei. Radan wurde in ein Auto gestoßen, während der Standartenführer den erstaunten Mietern erklärte: „Radan ist ein Bolschewik.“ Um dies noch zu unterstreichen, zeigte er ihnen das in der Wohnung gefundene Köfferchen, in dem sich Granaten und Sprengstoff befanden. Murgeanu atmete erleichtert auf. Hinder hielt Wort und verlangte keinen weiteren Dienst mehr. Bis heute abend. Murgeanu nahm seinen Kopf in die Hände. Der Rum tat seine Wirkung… Nachdem Alecu Murgeanu verlassen hatte, stieg er von einer Straßenbahn in die andere, ging durch mehrere verwinkelte Gassen und kam schließlich, vom Laufen ganz erschöpft, zu Hause an. In der Wohnung fand er einen Umschlag vor, den ihm jemand unter der Tür durchgeschoben hatte. Er enthielt eine Kinokarte und einige Zeilen, die mit verstellter Schrift auf einen Zeitungsrand geschrieben waren: „Mach Blumenstrauß fertig. Erwarte Dich.“ Der Blumenstrauß war das Kennwort. Er betrachtete die Kinokarte und wußte, was zu tun sei. Er dachte, daß er unter der schützenden Hand eines genialen, umsichtigen und schlauen „Kopfes“ arbeitete, und freute sich. Er kannte ihn nicht, jedoch „fühlte“ er dessen Anwesenheit und die auf ihn gerichteten Augen. Bei der heutigen Anwerbung war er genau nach den erhaltenen Anweisungen vorgegangen, und alles war wie am Schnürchen gelaufen, obwohl er Lampenfieber wie ein junger Schauspieler
hatte. 1946 hatte man ihm nahegelegt, einen anderen Namen anzunehmen und sich ruhig zu verhalten. Man riet ihm, eine Reparaturwerkstatt für Motorräder aufzumachen, wofür er auch das notwendige Geld erhielt. Dann vergingen Jahre. Er hoffte schon, man habe ihn vergessen, ein Neuer im Informationsbüro habe seine Unterlagen verlegt. Aber er täuschte sich. Vor einer Woche, er wollte gerade nach Hause gehen, hatte das Treffen stattgefunden. Es war nach dem Regen, und er ging gemächlich. Während er durch die um diese Zeit menschenleere Gradina Icoanei schritt, hörte er hinter sich eilige Schritte und drehte sich um, um zu sehen, wer hinter ihm her ging. Ein Unbekannter mit dunkler Brille, den Hut tief im Gesicht, bat ihn um Feuer. Während er das Feuerzeug suchte, sagte der Fremde zu ihm: „Heute abend kommt der Komet.Er zitterte und antwortete auf das Kennwort:
„Halten Sie den Mond nur nicht für den Kometen. Wer sind Sie?“ „Der Gärtner, Laurentiu Turcu.“ Die letzten Worte überzeugten ihn, daß es der seit Jahren Erwartete war, da nämlich Laurentiu Turcu sein wirklicher Name war, den er 1946 abgelegt hatte. – Einige Tage später traf er sichwieder mit dem Mann. Dieser gab ihm den Auftrag, Murgeanu anzuwerben. Die Sache gelang, nun sollte er hinkommen und die Belohnung erhalten. So vermutete er wenigstens. Alecu ging fünf Minuten vor Vorstellungsbeginn in den Zuschauerraum des Kinos. Die Zeit verging, die Plätze neben ihm blieben jedoch leer. Schließlich setzte sich eine ältere Frau rechts neben ihn, dann wurde auch der Platz links neben ihm von einem jungen Mann besetzt, der Bonbons kaute und ihm auf die Nerven ging. Sollte der junge Mann derjenige sein, mit dem er sich treffen wollte? Der Film begann, doch konnte sich Alecu nicht auf das Geschehen auf der Leinwand konzentrieren. Nach den ersten Minuten fesselte ihn die Handlung des Films aber doch. Er hätte beinahe vergessen, weshalb er ins Kino gegangen war, als er kurz vor dem Schluß in seinem Nacken den Atem eines Menschen spürte, der ihm zuflüsterte: „Der Gärtner.“ Die Hand des Unbekannten stützte sich auf die Rückenlehne des Sessels, und wie aus Unachtsamkeit fiel ihm eine zusammengefaltete Zeitung auf die Knie. Alecu beeilte sich, ihm eine ebenso zusammengefaltete Zeitung zurückzugeben. Als das Licht wieder aufleuchtete, drehte er sich neugierig um, jedoch war der Sessel hinter ihm leer.
In einem Taschenspiegel betrachtete Hauptmann Valeriu Neagu aufmerksam den blauen Fleck in seinem Gesicht, der zwar nicht sehr groß, aber trotzdem deutlich zu sehen war. Er schnitt eine Grimasse und schien sichtlich verärgert über sein Aussehen. Auf der weißen glatten Haut hob sich dieser verfluchte blaue Fleck, den er sich nur wegen seiner Hartnäckigkeit zugezogen hatte, deutlich ab. Unter anderen Umständen hätte er sich nicht den Kopf darüber zerbrochen, aber jetzt war das ausgesprochen unpassend. Gerade heute abend sollten seine Eltern ihren fünfunddreißigsten Hochzeitstag feiern und hatten dazu einige Freunde und Bekannte eingeladen. Zweifellos würden ihn alle fragen, was er mit seinem Gesicht gemacht habe. Insbesondere fürchtete er die zweideutigen Bemerkungen seiner Schwester Anna. Das Komische daran war ja gerade, daß sie ihm die Wahrheit nicht glauben würden, wenn er sie ihnen erzählte. Sie war einfach zu banal. Er seufzte bekümmert und sagte sich, daß bis heute abend ja noch etwas Zeit bliebe. Vielleicht würde der blaue Fleck bis dahin die Intensität seines Farbtons mindern. Die Tür wurde ohne Ankündigung geöffnet, so daß er gerade noch Zeit hatte, seinen Spiegel zu verstecken. Auf der Schwelle stand Leutnant Dura und lächelte. „Wir haben wieder eine neue Botschaft aufgenommen, auf derselben Wellenlänge, Genosse Hauptmann. Diesmal wurde sie von einem anderen Ort gesendet. Ich glaube, daß… Was ist denn mit Ihnen passiert, Genosse Hauptmann?“ fragte Dura und schaute ihn verwundert an. „Hören Sie, Dura, wenn Sie noch einmal hereinkom-
men, ohne anzuklopfen, schicke ich Sie in die Wüste!“ fuhr ihn der Hauptmann an und wurde noch ärgerlicher, als er das Erstaunen des Untergebenen bemerkte. „Sehen Sie, ich…“ „Ich will nichts sehen, ich will das Klopfen an der Tür hören. Nehmen Sie Platz!“ Dura setzte sich gehorsam, warf aber noch einen Seitenblick auf den blauen Fleck im Gesicht des Hauptmanns. „Also handelt es sich um einen fahrbaren Sender, wie
ich angenommen habe“, sagte Neagu besänftigt. Dura nickte und reichte ihm die Botschaft. Neagu las sie laut: „Möglich, Lilie zu bekommen. Blumentopf hat einen
Sprung. Narzisse im gleichen Topf wie Wegwarte. Mit Landwirt nicht gesprochen, ist krank. Werde mich um Dünger für Blumen bemühen, damit keine verdorrt. Gärtner.“ „Was sagen Sie dazu?“ fragte er Dura. Da dieser nichts dazu sagte, fuhr Neagu fort: „Bringen Sie mir auch die erste Botschaft. Warten Sie“, er hielt ihn zurück, „bringen Sie auch die Kennzeichen der beiden Sendungen mit.“ Neagu las die Zeilen auf dem Papier noch einmal und fragte sich, ob es sich vielleicht um die Spielerei eines Amateurfunkers handelte. In diesem Fall wäre die Annahme, daß die Sendung über eine fahrbare Station erfolgte, unerklärlich gewesen. Hinzu kam die Tatsache, daß beide verschlüsselt waren. Das ging über den Amateurfunker hinaus. Es mußte ein Sinn in diesem „ungereimten“ Text gefunden werden. Jemand hämmerte an die Tür. Neagu rief lauter als notwendig: „Herein!“ Es war Dura. „Wenn Sie nicht anklopfen, wie es sich gehört, sondern mir die Tür einschlagen, schicke ich Sie trotzdem in die Wüste. Geben Sie mir die Kennzeichen.“ Neagu las die erste Botschaft noch einmal laut: „Habe Paket bekommen. Landwirt krank. Nur sprechen, wenn dringend. Habe mich um Wegwarte gekümmert. Gärtner.“ Dann betrachtete er sich die Kennzeichen der beiden Sendungen aufmerksamer und pfiff erstaunt: „Die Botschaften wurden von zwei verschiedenen Funkern gesendet, obwohl sich beide ähneln. Junge“, sagte er und wandte sich an Dura, „mir scheint, unsere Freizeit ist
vorbei!“ Das Telefon klingelte. Neagu hörte Annas Stimme. Sie bat ihn, so bald wie möglich nach Hause zu kommen. „Es könnte ja sein, daß du dich noch etwas verspätest… bis vier Uhr. Ißt du vielleicht im ,Ambassador’?“ „Sei vernünftig, zum Scherzen habe ich keine Zeit.“ „Schade“, bedauerte Anna scheinheilig. „Ich hatte…“ „Wenn du nicht aufhörst, lege ich auf!“ fuhr er sie an. „Herzlichen Glückwunsch zum Sieg! Du bist bald Meister!“ hörte er Annas Stimme am anderen Ende der Leitung. Dann wurde aufgelegt. Neagu schaute Dura an und bildete sich ein, über das dunkle Gesicht des Leutnants husche ein Lächeln. „Hören Sie, Dura, haben Sie mit Anna telefoniert?“ „Ich, Genosse Hauptmann? Ich kenne sie nicht so gut, daß…“ „Lassen Sie die Verschwörung! Ich weiß, daß ihr befreundet seid. Wenn Sie es ihr nicht gesagt haben, wer denn sonst? Nur Sie wußten, daß ich heute früh in der Halle war.“ Unbeabsichtigt fuhr er sich mit der Handfläche über das Gesicht. „Es liegt eine Verwechslung vor, Genosse Hauptmann, ich glaube, daß…“ „Sie glauben, ich ziehe die Hose mit der Kneifzange an!“ knurrte Neagu. Dann kam er wieder auf den Funkspruch zu sprechen. „Beide Botschaften wurden Samstag nachmittag gesendet. Die Person wollte den starken Verkehr auf der Landstraße ausnutzen, um schnell zu entwischen. Veranlassen Sie, daß die Funkpeilwagen Tag und Nacht bereitstehen.“ „Sie stehen schon bereit, Genosse Hauptmann.“
„Dann überprüfen Sie sie“, beharrte Neagu. „Sie haften persönlich für jede Panne.“ Bis vier Uhr bewegte sich Neagu nicht vom Büro weg. Wenn ihn jemand so auf dem Stuhl zurückgelehnt und rauchend gesehen hätte, würde er annehmen, Neagu langweile sich, aber er war weit davon entfernt. Er drehte sich in einem Kreis mit Fragezeichen, auf die er keine Antwort wußte. Eins war sicher: Es gab einen Zusammenhang zwischen beiden Funkern. Den beiden Botschaften konnte er mit etwas Phantasie entnehmen, daß irgend jemand irgend etwas haben wollte. Wahrscheinlich die Lilie. Was aber war die Lilie? Er ahnte, daß hier der Schlüssel zu dem Problem lag und alle Fäden an dieser Stelle zusammenliefen. In beiden Botschaften wurde darauf verwiesen, daß der Landwirt krank sei und nur in einem äußerst dringenden Fall mit ihm Verbindung aufgenommen werden dürfe. Folglich, sagte sich Neagu, steht dieser Landwirt nicht auf festem Boden. Vielleicht hat er den Eindruck, daß er verdächtig wirkt. Fürchtet er sich vor etwas, vor jemandem? Sind Narzisse und Wegwarte Gegenstände oder Menschen? Wenn es Menschen sind, dann könnte „Habe mich um Wegwarte gekümmert“ bedeuten, daß der Gärtner vor kurzem jemanden kennengelernt hatte, den er unbedingt brauchte. Zehn vor vier rief Anna an. Sie erinnerte ihn daran, nach Hause zu kommen, es erwartete ihn eine Überraschung. Gärtner, Landwirt, Narzisse und Wegwarte beschäftigten ihn noch unterwegs. Je mehr er sich aber dem Hause näherte, um so mehr dachte er an den blauen Fleck auf der Wange. Ich lasse das blöde Boxen, entschloß er sich und erinnerte sich dabei an den Augenblick am Morgen, als ihm der Sandsack einen Schlag versetzt hatte.
Schweigend aß er und war über die Ernsthaftigkeit Annas erstaunt, die das Thema „Sieg“ nicht mehr erwähnte. Als die Gäste am Abend allmählich kamen, war er sogar gut aufgelegt. Gegen neun Uhr kam ein Bote mit zwei Blumensträußen. Einer war mit Glück- und Segenswünschen von Bekannten für seine Eltern, der andere für ihn. Erstaunt nahm er ihn und öffnete den dazugehörigen Umschlag: „Herzlichen Glückwunsch, ich warte auf die Revanche. Cassius Clay.“ Ungeschickt steckte er den Umschlag in die Tasche. Anna fragte ihn laut, so daß es alles hören konnten: „Valeriu, wer hat dir denn die Blumen geschickt?“ Er tat so, als ob er nichts gehört habe, aber Anna ließ nicht locker. Er trat hinter sie und flüsterte ihr zu: „Hör mal, du Biest, wenn du nicht aufhörst, versohl ich dir, so groß wie du bist, vor allen Leuten den Hintern.“ Anna funkelte ihn mit ihren grünen Augen an und war sich darüber im klaren, daß Valeriu durchaus dazu fähig wäre. Sie schwieg lieber. Als Maria Spineanu vom Dienst nach Hause kam, war ihre Tochter Sanda gerade beim Staubwischen und sang so laut, daß man es im ganzen Haus hörte. „Laß gut sein, Sanda, es ist sauber genug.“ „Weißt du, ich habe Emil heute abend zu uns zum Essen eingeladen“, sagte sie, faßte ihre Mutter voller Freude an der Hand und schwenkte sie herum. „Schon gut, Sanda, ich bin damit einverstanden, aber laß mich jetzt, mir wird schwindlig. Ich bin nicht mehr 22 wie du.“ Das Mädchen ließ sie nicht los und zog sie auf das Sofa. Begeistert erzählte sie eine Menge belangloser Dinge
kunterbunt durcheinander; ihre Ansicht über Emil, der keine Mängel hatte, Ereignisse aus ihrem Betrieb. Plötzlich merkte sie, daß die Mutter ihr nicht zuhörte. „Mama, du denkst an etwas anderes. Hast du Geheimnisse vor mir?“ Sanda hatte nicht unrecht, Maria Spineanu dachte an die langen Jahre des Alleinseins, die gleichförmig vergingen, bei denen sie auf Freuden verzichtete und ihre Zeit für den Dienst und die Erziehung der Tochter verwendete. Gewiß, sie war damit zufrieden, aber in ihrem Innern war manchmal eine Leere, die sie nicht auszufüllen vermochte. Jetzt sollte in ihrem Alter – und mit 41 war sie noch nicht alt – plötzlich jemand diese Gefühle wiedererwekken, die sie für vergessen hielt! Dieser Jemand schlich sich langsam in ihr Herz ein. Sie freute sich, wenn sie ihn sah, errötete bei seinen Aufmerksamkeiten und Komplimenten. War sie etwa verliebt? Selbst wenn sie es wäre, so erschien es ihr als Frau in ihrem Alter lächerlich, ja grotesk, sich dies einzugestehen. Wie sollte sie ihrer Tochter den Besuch dieses Mannes heute abend erklären? Sie mußte es ihr irgendwie sagen. Aber wie? „Hör zu, Sanda“, sagte ihre Mutter etwas zögernd, „heute abend kommt noch jemand zu uns, ein Arbeitskollege.“ Sanda klatschte wie ein Kind in die Hände: „Dann werde ich endlich einmal das Geheimnis der Blumensträuße kennenlernen, von denen du mir erzählt hast, sie seien gekauft.“ Maria Spineanu hustete verlegen. Obwohl sie einen grimmigen Eindruck machen wollte, gelang es ihr nicht. Sanda zog ihren Kopf an sich und küßte sie laut auf die Wangen:
„So, so, meine Mama ist verliebt. Du bist die schönste und beste Mama auf der Welt.“ „Sanda, was sollen diese Reden?“ fragte Maria Spineanu verlegen. Sanda fuhr aber mit demselben Ton fort: „So, Mama, jetzt geht’s an die Arbeit. Wir wollen ihnen zeigen, was wir für Hausfrauen sind.“ Beim Essen waren sie zu viert. Maria Spineanu, etwas strenger als sonst, Sanda, die sich beherrschen mußte, um nicht jeden Augenblick mit dem Lachen herauszuplatzen, der Ingenieur Emil Dobre, ein junger Mann von 29 Jahren, der Sanda die ganze Zeit anschaute, und Maria Spineanus Arbeitskollege Iosif Murgeanu, korrekt geleidet, Maria gegenüber sehr aufmerksam, redselig und geistreich. Während des ganzen Essens führten er und Sanda die Unterhaltung. Sanda verfolgte Murgeanus Bewegungen. Da sie auch mit seinem Äußeren einverstanden war, konnte sie die Entscheidung der Mutter nur begrüßen. Sanda war glücklich und wollte, daß alle um sie herum ebenso glücklich wären. Mit Emil hatte sie sich geeinigt, daß sie im Sommer heiraten und danach irgendwo im Gebirge oder am Meer Urlaub machen wollten. Als sie nach dem Essen einen Kaffee tranken, redeten die beiden Männer über alltägliche Dinge. Bald jedoch kamen sie auf ihre berufliche Tätigkeit zu sprechen. Murgeanu schilderte seine Arbeit sehr eingehend. Emil, so schien es, zeigte sich zurückhaltender. Selbst einige neugierige, direkte Fragen Murgeanus konnten ihm nur einfache und allgemeine Angaben entlocken. „Wenn der Fall möglich gewesen wäre, daß ich mein Leben von Anfang an hätte selbst gestalten können, so wäre ich leidenschaftlich gern Ingenieur geworden“, sag-
te Murgeanu plötzlich. „Was für Aussichten, insbesondere in der Elektronik und Kybernetik.“ Emil antwortete wohlmeinend: „Sie schmeicheln mir.“ „Überhaupt nicht, ich träumte davon, Ingenieur zu werden, aber das Leben zwang mich, darauf zu verzichten.“ „Das Leben ist wohl etwas zuviel gesagt“, bemerkte Maria. Murgeanu stimmte ihr lächelnd zu. Spätnachts verabschiedeten sich die beiden Männer von den Gastgeberinnen. Im Treppenhaus nahm Sanda Emil am Arm: „Einen Monat lang werde ich dich nicht sehen, Emil. Eine lange Zeit!
Versprichst du mir, daß du schreibst? Jeden Tag, nicht wahr? Ich werde dir auch so antworten. Ach“, besann sie sich, „ich werde dir jeden Tag zwei Briefe schreiben, einen früh, den anderen abends. So habe ich den Eindruck, daß ich mich mit dir unterhalte.“
An der halbgeöffneten Tür sagten sie sich noch einmal gute Nacht und trennten sich. „Sanda liebt Sie sehr“, sagte Murgeanu Unterwegs zu Emil Dobre. „Ich liebe sie auch“, antwortete Emil schlicht. Murgeanu war plötzlich neidisch auf diesen Menschen neben ihm, der offensichtlich glücklich war. Er hatte keine anderen Sorgen außer seiner Arbeit und seiner Liebe. Es sah so aus, als ob er in beiden Glück hätte. „Fahren Sie weit weg?“ fragte er Emil. „Es kommt darauf an, was Sie unter weit verstehen“, gab ihm der Ingenieur zur Antwort. „Bei den heutigen Verkehrsmitteln beginnt der Begriff ,weit’ auf unserem Planeten an Wert zu verlieren.“ „Wirklich, Sie haben recht“, sagte Murgeanu und bemühte sich, so ungezwungen wie möglich zu lachen. Er merkte, daß sich der Ingenieur um eine genaue Antwort drückte, und so drang er nicht weiter in ihn. Tüt-tüt-tüt! Töne, die sich in Strichen und Punkten auflösten, schlugen in den Kopfhörern des im Peilwagen sitzenden Funkers an. Die Geräte zeigten, daß die Funksignale irgendwo im Nordwesten aus einer Entfernung von ungefähr zehn Kilometern abgegeben wurden. Der Fahrer gab Gas, das Auto fuhr davon. Es begann zu dämmern. Von Westen her schien die Nacht eine riesige Leinwandrolle mit immer dunkler werdenden Flecken abzuwickeln. Das Auto hielt, die Zeichen in den Kopfhörern wurden deutlicher. Der Sendeort konnte höchstens 200 Meter links von der Straße in einem Weidengehölz liegen. Neagu und Dura waren soeben aus dem Auto ge-
stiegen, als die Zeichen aufhörten. Sie hatten ungefähr 50 Meter zurückgelegt, als sie ein Motorrad knattern hörten. Das Licht seines Scheinwerfers schimmerte schwach durch die Bäume und schwenkte über einen Pfad zur Landstraße. Sie liefen zum Auto zurück, doch das Motorrad war schon auf der Teerstraße angelangt und jagte auf die Stadt zu. Das Auto wendete und nahm die Verfolgung auf. Weit vorn sahen sie das Rücklicht des Motorrades näher kommen, doch der Motorradfahrer, der merkte, daß er verfolgt wurde, drehte das Gas bis zum Anschlag auf und entfernte sich wieder. Aber auch der Wagen fuhr nun schneller. Die Entfernung verringerte sich: 300 Meter, 200,100,50. Vor sich sahen sie schon den gebeugten Rücken des Motorradfahrers, der einen Rucksack trug. Der Verfolgte drehte sich flüchtig um und duckte sich dann wieder über den Lenker. Er war sich darüber im klaren, daß er eingeholt würde, trotzdem versuchte er, das letzte aus seiner Maschine herauszuholen. An einer Kreuzung bog er in voller Geschwindigkeit nach rechts ab und streifte fast einen Kilometerstein. Am Ausgang der Kurve rutschte er jedoch weg. Das Motorrad drehte sich um die eigene Achse, der Motorradfahrer wurde in hohem Bogen in den Straßengraben geschleudert. Alles ging blitzschnell. Der Wagen des Staatssicherheitsdienstes war sofort zur Stelle. Jemand zog den Zündschlüssel aus dem Motorrad. Der Motor hörte auf zu laufen. Die Männer liefen zum Straßengraben. Der Fahrer lag mit dem Gesicht nach oben und wurde in der Mitte von dem auf seinem Rücken befindlichen Rucksack angehoben. Er gab kein Lebenszeichen mehr von sich. Vor Hauptmann Neagu lag auf dem Schreibtisch die
Botschaft, die der Motorradfahrer vor dem Unfall gesendet hatte. „Weiß, wohin Lilie verlagert wurde. Fahre Samstag nach Codlea, versuche, sie zu kaufen. Habe Treffen im Lido. Wegwarte ist im Knopfloch der Dame. Gärtner.“ In Neagu erhärtete sich der Verdacht, daß die Lilie ein Gegenstand sein müsse, den der Gärtner in die Hand bekommen wollte. Aber was war es: eine Anlage, ein Plan oder einfach eine Liste mit Informationen? Codlea… Möglicherweise befand sich das Objekt irgendwo im Bezirk Brasov, vielleicht sogar in der Stadt. Aber was sollte denn ,Habe Treffen im Lido’ heißen? Neagu konnte sich nichts darunter vorstellen. War das ein Deckname, oder sollte es sich wirklich um ein Treffen im Lido handeln? Am nächsten Morgen stellte Neagu Nachforschungen über Objekte im Raum Brasov an. Er bekam detaillierte Angaben über alle Dinge, die für Spione hätten interessant sein können. Die Worte der Botschaft, die sich auf das Treffen im Lido bezogen, gingen ihm nicht aus dem Sinn. Als Dura gegen Mittag ins Büro kam, fragte ihn Neagu: „Na, Junge, was machst du heute nachmittag?“ „Vielleicht gehe ich zum Tei-See baden, Genosse Hauptmann.“ „Wunderbar, dann gehen wir zusammen ins Lido-Bad.“ Dura machte ein finsteres Gesicht, und Neagu sagte zu ihm: „Was zum Teufel suchst du am Tei-See? Ich werde Anna überreden, daß sie mit mir kommt. Wenn du nicht willst, dann geh meinetwegen zum Tei-See, ich jedenfalls bin nicht allein.“
„Ich war wirklich noch nie im Lido“, versicherte Dura. Dann wolltest du dich mit Anna treffen, dachte Neagu. Neagu stand unbeweglich und blickte versunken auf die Wellen, während Dura und Anna etwas entfernt von ihm schwammen. Das Wasser plätscherte, Neagu schloß die Augen und stellte sich vor, er sei irgendwo am Meer in der Sonne, die sich in dem unendlichen Wasser bricht. Er blinzelte. Am Beckenrand spritzte das Wasser hoch. Die Tropfen glitzerten wie Diamanten, filterten die Sonnenstrahlen und zerlegten sie in die Regenbogenfarben. Lido… Wellen…. Meer. Das war es. Er gab Dura und Anna mit der Hand ein Zeichen. „Ich gehe“, sagte er zu ihnen. „Ihr bleibt wohl hoch.“ „Gehst du nach Hause?“ fragte ihn Anna. „Ich glaube nicht…“ „Um so besser“, sagte das Mädchen und bespritzte ihn. Neagu hatte gerade am letzten Abend erfahren, daß in Constanta in zwei Tagen ein ferngesteuertes Hydroskop erprobt werden sollte. In der Botschaft hieß es: „Ich fahre Samstag weg.“ Der Tag stimmte also überein. Sollte die Lilie wirklich das Hydroskop sein? Das Hydroskop war auf jeden Fall etwas, wofür ein westlicher Geheimdienst alles unternommen hätte, um in den Besitz der Baupläne zu kommen. Wenn das wirklich die Absicht des Gärtners war, wie hatte er dann Ort und Zeit der Erprobung des Hydroskops herausbekommen? Dieser Probelauf war auch den Sicherheitsorganen bekannt. Nach Neagus Informationen waren alle Maßnahmen zur Wahrung des Geheimnisses getroffen worden. Also hatte einer derjenigen, die vom Hydroskop und der Erprobung wußten, gesprochen. Neagu kombinierte. Jener Satz aus der zweiten Botschaft,
dessen Sinn er damals nicht herausbekommen hatte, lautete: „Blumentopf hat einen Sprung.“- Also war es möglich gewesen, das Geheimnis von jemandem zu erfahren, schlußfolgerte er. Wer war jene Person? Vom Probelauf des Hydroskops wußten nur drei Personen: Ingenieur Emil Dobre, der Konstrukteur, sowie zwei weitere Ingenieure, die ihm beim Bau des Hydroskops assistiert hatten. Neagu schaute auf die Uhr, es war kurz nach sechs. Er nahm den Telefonhörer ab und rief Dura an. „Junge, wir fahren zusammen nach Constanta.“ „Wann, Genosse Hauptmann?“ „In zehn Minuten komme ich bei Ihnen vorbei und hole Sie ab.“ Keine fünf Minuten waren verstrichen, als Dura zum Hauptmann kam. „Ich bin soweit!“ sagte er und erwartete eine Erklärung. Neagu erriet seine Ungeduld. „Wir fahren weg, um einen Probelauf zu verschieben. Ich möchte noch mit drei Ingenieuren sprechen. Alles Weitere erzähle ich Ihnen im Flugzeug.“ – „Ehrlich gesagt, Genosse Hauptmann, ich bin sehr aufgeregt“, sagte Sanda, nachdem sie der Hauptmann aufgefordert hatte, im Sessel Platz zu nehmen. „Wieso denn? Beim Zahnarzt würde ich das noch verstehen“, meinte Neagu scherzend. „Aber doch nicht bei uns. Rauchen Sie?“ fragte er und hielt ihr das Zigarettenetui hin. Sanda lehnte ab und sagte: „Raucher mag ich nicht.“ „Dann mache ich eben meine Zigarette aus“, sagte Nea-
gu und zerdrückte sie im Aschenbecher. Sanda wurde rot und sagte: „Oh, Genosse Hauptmann, ich habe nicht Sie gemeint, sondern ganz… allgemein.“ „Fräulein Sanda, vergessen Sie nicht, daß ich hinsichtlich des Rauchens auch zur Allgemeinheit gehöre.“ „Wie alt sind Sie?“ fragte Neagu scheinbar ohne Zusammenhang. „Zweiundzwanzig“, antwortete Sanda. „Gehören Sie dem Jugendverband an?“ „Aber ja“, betonte Sanda, als ob das selbstverständlich sei. „Wie ich erfahren habe, wollen Sie bald heiraten?“ „Ja“, antwortete Sanda leise. „Wo arbeitet Ihr künftiger Ehemann?“ „Im Institut für Elektrotechnik.“ „Ist er zur Zeit in Bukarest?“ Als Sanda diese Frage hörte, wurde sie blaß. Sie ahnte, daß etwas mit Emil passiert sein müsse, wenn ihr der Hauptmann eine derartige Frage stellte. Erregt platzte sie heraus: „Ist Emil etwas zugestoßen? Bitte reden Sie nicht länger herum und sagen Sie es mir!“ „Beruhigen Sie sich, Fräulein Sanda. Ingenieur Dobre ist genauso wohlauf wie Sie.“ Sanda beruhigte sich. Der Hauptmann sprach von Emil, aber Emil war gesund. Was wollte er dann wissen? Denn zweifellos verschwendete er seine Zeit nicht grundlos mit ihr. „Wußten Sie, wohin Emil reisen wollte?“ Wenn er ihn Emil nennt, handelt es sich bestimmt um nichts Schlechtes, dachte Sanda und antwortete: „Ja.“ Sanda zögerte, bevor sie weitersprach. Da sie aber ge-
sagt hatte, sie wisse es, hatte es keinen Sinn mehr zu leugnen. „Ans Meer“, sagte sie und teilte Neagu die genaue Anschrift mit. „Wer hat sie Ihnen gegeben?“ „Wer? Emil natürlich. Er hat mir aber auch gesagt, daß ich sie niemandem geben soll.“ „Nicht einmal Ihrer Mutter?“ „Nicht einmal ihr.“ „Mir scheint, Sie haben Ihr Versprechen nicht gehalten“, sagte der Hauptmann und drohte ihr scherzhaft mit dem Finger. „Das ist nicht wahr“, rief Sanda aus, wobei ihre Augen
vor Empörung funkelten. „Haben Sie auch nicht versehentlich irgendwo etwas gesagt? Als Sie ihm geschrieben haben: vielleicht haben
Sie den Brief von jemandem einstecken lassen?“ Sanda sagte, ohne nachzudenken: „Nein, Genosse Hauptmann. Doch jetzt möchte ich Ihnen eine Frage stellen: Ist Emils Adresse wirklich so wichtig?“ „Ja, sie ist sehr wichtig, Fräulein Sanda“, antwortete ihr Neagu ernst. Sanda biß auf ihre Unterlippe, und es schien, als dachte sie angestrengt nach. Fast flüsternd sagte sie: „Mutter könnte ich nicht beschuldigen, einfach weil sie meine Mutter ist. Aber jemand anders. Ich weiß nicht“, sagte Sanda und machte eine Handbewegung, „wir bekommen wenig Besuch. In letzter Zeit war eigentlich nur Herr Murgeanu bei uns.“ „Wer ist dieser Herr Murgeanu?“ „Ein… Freund.“ Neagu kam es vor, als zögere das Mädchen. „Ihr Freund?“ „Nein, Mutters Freund“, sagte Sanda in einem Atemzug. Damit Neagu nicht irgend etwas vermutete, fügte sie ergänzend hinzu: „Ein Kollege aus dem Büro. Er möchte Mutter heiraten.“ „Vielleicht haben Sie ihm etwas gesagt, es wäre ja denkbar, er ist schließlich ein Freund Ihrer Mutter. Oder Sie haben ihm einen Brief für Ingenieur Dobre gegeben, den er zur Post bringen sollte?“ „Wie sollte ich gerade ihm etwas sagen?“ empörte sich Sanda. „Was den Brief anbetrifft, niemals. Außerdem ist Herr Murgeanu ein anständiger Mensch.“ „Habe ich etwa gesagt, er sei ein schlechter Mensch?“ „Nein“, gab Sanda zu und ärgerte sich über ihre Unbe-
herrschtheit. In einem sanfteren Ton fügte sie hinzu: „Nehmen Sie es mir nicht übel, aber Mutter hält große Stücke auf ihn. Sie hat Menschenkenntnis.“ „Und Sie?“ , „Ich kenne ihn noch zuwenig. Er scheint Mutter sehr zu achten, und das sagt mir schon genug.“ „Möglicherweise besucht Sie Herr Murgeanu auch heute“, sagte Neagu ohne Zusammenhang. . „Nein, er ist zu einem Verwandten nach Iasi gefahren. Er sagte uns, er komme am Dienstag wieder.“ „Wann ist er weggefahren?“ „Freitag morgen.“ „Ich bitte Sie, mit niemandem über unser Treffen zu sprechen. Auch nicht mit Ihrer Mutter.“ Den ganzen Sonntag über fand Neagu keine Ruhe. Sollte er sich in seinen Vermutungen getäuscht haben? Er zog Erkundigungen ein und erfuhr, daß Murgeanu tatsächlich einen Vetter in Iasi hatte. Sollte Murgeanu doch nicht in die ganze Sache verwickelt sein? Dann hatte er den Text der Botschaft nicht richtig gedeutet. Wegwarte ist im Knopfloch der Dame. Es war also ein einfacher Zufall, daß die Dinge so verliefen. Dienstag mittag berichtete Dura, daß Murgeanu mit einem Zug aus Richtung Constanja angekommen sei. – Der alte Sotir, der Hausmeister des Blocks, drehte seine Mütze verlegen in der Hand und wollte sie trotz der Aufforderung Neagus nicht an den Kleiderständer hängen. Er war seit mehr als einer Stunde mit Neagu im Gespräch, dabei rauchten sie fast den gesamten Zigarettenvorrat des Hauptmanns auf. „Wenn es so ist, will ich Ihnen gern helfen, Genosse.
Wir sind beide Kommunisten. Was Sie von mir verlangen, ist nicht viel“, sagte Sotir schließlich. „Gewiß, es ist nicht viel, wie Sie sagen, Genosse Sotir, aber für uns ist es schon sehr wichtig. Wenn an Ihrem Heizkessel eine Schraube fehlt, funktioniert er dann? Er funktioniert nicht“, beantwortete Neagu selbst die Frage. „So ist es“, stimmte der alte Sotir zu. „Aber es gibt noch eine Schwierigkeit, nämlich wie ich meine Alte dazu bringe wegzufahren.“ „Es ist für alles gesorgt, ich habe ihr einen Freiplatz im Heilbad beschafft. Sie sagten doch, daß sie öfters über Schmerzen in den Beinen klagt. Sie geben ihr den Schein und sagen ihr einfach, Sie hätten ihn von der Sozialversicherung bekommen. Überreden müssen Sie sie allerdings allein.“ „Als sie ein junges Mädchen war, konnte ich sie überzeugen, mich zum Mann zu nehmen, aber jetzt kann ich sie zu nichts mehr überreden“, sagte der alte Sotir lachend. „Sie müssen mir nur rechtzeitig das Bürschchen zeigen, das mein Neffe sein soll“, sagte der Alte noch. „Und wenn ich nun der Neffe wäre?“ „Sie?“ „Meinen Sie etwa, ich sei zu alt dazu? Vergangenen Monat bin ich erst neunundzwanzig geworden.“ „Ich sehe, daß Ihr schwarzes Haar noch keinen weißen Faden hat.“ Zu Hause nahm der alte Sotir seine Frau beiseite und drückte ihr den Schein für das Heilbad in die Hand. Er redete ihr gut zu, und nachdem seine Frau überzeugt war, bereitete sie noch am selben Abend alles vor, obwohl sie erst in zwei Tagen abfahren sollte. Zwei Tage später brachte der alte Sotir seine Frau zum Bahnhof und wünschte ihr verschmitzt „gute Reise“.
Nach zwei weiteren Tagen kam der „Neffe“ aus Siebenbürgen an. Iosif war unruhig. Alecu hatte seit Freitag kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben. Und heute war Samstag. Diese acht Tage kamen ihm wie acht Jahre vor. Er machte weiterhin seine Besuche bei Maria Spineanu, die ihn immer gut aufnahm. Sanda schien ihm verändert. Er ertappte sie einige Male, als sie ihn heimlich aufmerksam anblickte, als wollte sie seine Gedanken erraten. Er hatte mit seinem Nachbarn Victor Radan zuvor einige Partien Schach gespielt und war nicht einmal imstande gewesen, ein Remis zu erzielen. Nach der Befreiung war Radan im Herbst 1944 wieder in seine alte Wohnung gezogen. Wie durch ein Wunder war er von der Gestapo unbehelligt gelassen worden. Er war zu Murgeanu freundlich wie eh und je, doch kam diesem in den ersten Jahren immer, wenn er Radan sah, seine Anzeige in den Sinn, und er erinnerte sich deutlich an jede Einzelheit. Jedesmal, wenn er mit Radan zusammentraf, hatte er von diesem das eine Wort befürchtet, das für ihn wie ein Peitschenhieb gewesen wäre: Denunziant. Aber Radan wußte von nichts. Sie spielten wie früher zusammen Schach, und mit der Zeit wurden Murgeanus Gewissensbisse weniger quälend. Das ging schon fast 15 Jahre so. An jenem Abend verlor er drei Partien hintereinander. Bei der letzten Runde bemerkte sogar Radan, daß Murgeanus Gedanken nicht beim Spiel waren. Er sagte: „Entweder sind Sie müde oder verliebt, anders kann ich mir die Fehler, die Sie machen, nicht erklären!“ „Sowohl als auch“, hatte Murgeanu scherzend erklärt.
Nun saß er Samstag abend mutterseelenallein in seinen vier Wänden. Wohin sollte er gehen? Maria hatte ihm beim Mittagessen gesagt, daß sie bei einer Verwandten eingeladen sei. Im Kino drängten sich die Leute. Er könnte in ein Restaurant gehen. Aber allein hatte das keinen Sinn. „Ach, dieses Leben ist fürchterlich!“ Er lag auf dem Rücken, das Licht brannte. Er war wohl eingenickt. Die Türklingel weckte ihn aus dem leichten Schlaf. Er öffnete die Tür. Niemand. Auf dem Flur lag ein weißes Papier mit aufgeklebten Zeitungsbuchstaben. Er las es, und das Blut schoß ihm in die Wangen. „Erwarte Dich heute abend um zehn Uhr in der Gradina Icoanei. Setz Dich auf eine Bank im Dunkeln. Ich finde Dich schon. Sieh zu, daß Dich niemand verfolgt.“ Es war neun Uhr, als er sich anzuziehen begann. Als er hinunterging, traf er im Hausflur den alten Sotir, der sich in einem angeregten Gespräch mit einem jungen dunkelhaarigen Mann mit offenem Gesicht, grünen und kindlichgütigen Augen befand. „Mein Neffe“, stellte ihn der alte Sotir vor, nachdem er ihm guten Abend gesagt hatte. „Der Sohn meiner Schwägerin. Er hat Urlaub und ist nach Bukarest gekommen, um etwas zu sehen.“ Kaum war Murgeanu zur Tür hinaus, stürzte der „Neffe“ in das Zimmer des alten Sotir, nahm den Hörer des Telefons ab, wählte eine Nummer und machte folgende Mitteilung: „Er ist vor zwei Minuten in Richtung Straßenbahn gegangen. Ihr habt genug Zeit.“ Als der alte Sotir hereinkam, legte der „Neffe“ den Telefonhörer wieder auf die Gabel.
Murgeanu setzte sich fünf vor zehn auf eine zwischen Büschen versteckte Bank. Obwohl es erst Ende August war, spürte er die Nachtkühle deutlich. Unvorsichtigerweise war er nur im Anzug weggegangen, und die Kühle ließ ihn frösteln. Er wartete fast zehn Minuten, und als er schon ungeduldig zu werden begann, setzte sich ein Fremder mit einem dunklen Sommermantel neben ihn. Sein Gesicht war unter der Hutkrempe und dem hochgeklappten Mantelkragen nicht zu erkennen. Unvermittelt flüsterte er zwischen den Zähnen: „Rück näher!“ Murgeanu rückte näher, und der Unbekannte fuhr mit offensichtlich verstellter Stimme fort: „Narzisse, du arbeitest jetzt direkt mit mir zusammen. Für dich bin ich der Gärtner.“ „Und wo ist Alecu?“ fragte Murgeanu neugierig. „Das werde ich dir später sagen“, antwortete der Gärtner schroff. „Hör jetzt zu und merk dir alles, was ich dir sage. Ingenieur Emil Dobre wird in Kürze zurückkommen. Wir brauchen die Baupläne des Hydroskops unbedingt. Stell dir immer vor, daß dir dies Geld und Ruhm einbringt. Ja, er ist stumm wie ein Fisch, du kennst ihn ja. Dann müssen wir eben anders angreifen. Im Institut arbeitet ein alter Elektriker, Grigore Vrabie. 1944 geriet sein Sohn Marin, der als Freiwilliger in der Tatra kämpfte, in Gefangenschaft. Der Alte hat seitdem keine Nachricht mehr von ihm bekommen. In seinem letzten Brief schrieb er ihm nun, daß er in die Heimat zurückkehren wird und gerade die Formalitäten für die Rückführung erledigt. Der Alte liebt sein Kind, es ist sein einziger Sohn, seine Frau ist vor fünf Jahren gestorben. Nutze das aus und wirb ihn an. Wenn er uns hilft, sieht er seinen Sohn wie-
der, wenn nicht, adieu. Gib ihm etwas Geld. Und vergiß die Unterschrift auf der Quittung nicht, uns liegt viel daran. Nun zu unserem Kommunikationssystem: Den ersten Bericht legst du in deinen Briefkasten. Danach werde ich dich benachrichtigen. Das Verbindungssystem ist genau so, wie es dir Alecu erklärt hat. Besonders wichtige Berichte nehme ich persönlich entgegen. Wie, wird dir rechtzeitig mitgeteilt. Nimm das Geld hier. Ich gehe jetzt“, sagte er und stand auf. „Was Alecu anbetrifft, so denke nicht an ihn, er hat einen neuen Auftrag bekom-
men.“ Diesmal log der Unbekannte. Laurentiu Turcu alias Naeru Alexandru kam bei einem Motorradunfall am Samstag ums Leben. In seinem Rucksack wurde ein Sende-und Empfangsgerät, in den Taschen außer den Papieren eine Kinokarte, die tags zuvor für eine Vorstellung
Samstag 21.30 Uhr gekauft worden war, gefunden. Als der Gärtner Murgeanu verließ, hatte er das unangenehme Gefühl, verfolgt zu werden. Er drehte sich um, konnte aber nichts bemerken. Ein Mann, der eilig hinter ihm herkam, ging an ihm vorbei und bog um die nächste Ecke. Ein freies Taxi kam vorüber. Er hielt es an und fuhr bis zur Calea Doroban. An der Ecke Eminescustraße ließ er anhalten, bezahlte und ging zu Fuß weiter. Es fiel ihm nicht auf, daß ungefähr 50 Meter vor ihm ein Auto hielt, aus dem zwei „angeheiterte“ Paare ausstiegen. Eines davon verfolgte den Gärtner, der langsamer ging und das Gefühl hatte, etwas sei nicht in Ordnung. Wurde er wirklich verfolgt, oder waren nur seine Nerven daran schuld? Er konnte es nicht herausbekommen. Plötzlich machte er kehrt und begegnete dem Pärchen, das zärtlich miteinander flüsterte, ging über die Straße und betrat das Restaurant „Poarta Alba“. Wenig später folgte ihm das zweite angeheiterte Paar, das in der Eminescustraße geblieben war. Der Gärtner schlenderte an der Bar vorbei und öffnete die Tür, die über einen kleinen Hof zur Toilette führte. Es war noch keine Minute vergangen, als an dem Paar, das an einem Tisch neben der Tür Platz genommen hatte, ein schnauzbärtiger Mann in einem beigefarbenen Sommermantel und mit einer Baskenmütze vorbeiging. Das angeheiterte Pärchen wartete lange, ohne daß „ihr“ Mann wiederkam. Sie vermuteten auch nicht, daß sie der Gärtner an der Nase herumgeführt hatte. Auf dem Nachhauseweg dachte der Gärtner, daß das Risiko des Entdecktwerdens seit Alecus Verschwinden beträchtlich größer geworden sei. Zum einen sollte er mit Alecu, einem sehr, erfahrenen Mann, zum anderen mit
Murgeanu zusammenarbeiten. Murgeanu arbeitete bis jetzt zufriedenstellend. Auch der Landwirt, mit dem er vor einigen Tagen zusammengetroffen war, schätzte das so ein. Als er ihm sagte, Murgeanu sei etwa ängstlich, fand der Landwirt diese Eigenschaft nicht schlecht. „Sehr gut, die Angst macht ihn vorsichtig, soll er sich vor seinem eigenen Schatten fürchten! Schließlich bringt er den notwendigen Mut auf, der beste Beweis dafür ist die Tatsache, daß er für uns arbeitet. Bedeutet das etwa keinen Mut?“ Obwohl der Gärtner noch geringfügige Bedenken hatte, teilte er letztlich die Meinung des Landwirts. Dennoch war er sich nicht sicher, ob es Murgeanu gelingen würde, den alten Grigore Vrabie anzuwerben. Nachdem ihm der Landwirt Einzelheiten über den weiteren Ablauf der Aktion mitgeteilt hatte, untersuchte er nun die Aufgabe von allen Seiten. Wie würde er anstelle des alten Vrabie handeln? Er ist alt und von dem einzigen Wunsch beseelt, seinen Jungen noch einmal zu sehen. Ein harmlos aussehendes Geschäft wurde ihm vorgeschlagen. Man gibt ihm Geld dafür, der Sohn, den er 14 Jahre lang nicht gesehen hat, wird ihm wiedergegeben. Ja, er würde zusagen. Als die Haustür verschlossen war, zog sich der alte Sotir zusammen mit seinem Neffen in sein Zimmer zurück. Der „Neffe“ hielt sich nun schon eine Woche bei Sotir auf. Wenn er telefonieren wollte, verließ Sotir das Zimmer, wie wenn er schon in der Wiege mit den Gepflogenheiten der Geheimhaltung vertraut gemacht worden wäre. Er tat dies, ohne daß ihn der „Neffe“ ein einziges Mal dazu aufgefordert hätte. Neagu hatte sich hingelegt und das Licht gelöscht, stieg
dann jedoch wieder aus dem Bett und machte sich an der Tür zum Treppenhaus zu schaffen. Durch den Spion konnte er die Briefkästen, die Fahrstuhltür und den Treppenabsatz überlicken. Eines Abends glaubte er leise Schritte zu hören. Er hatte sich nicht getäuscht und sah, wie Murgeanu etwas in einen Briefkasten steckte. Er merkte sich den Briefkasten, ging später leise hinaus und zog mit zwei Stäbchen eine zusammengefaltete Zeitung heraus. Was ihn in Erstaunen versetzte, war, daß Murgeanu die Zeitung in seinen eigenen Briefkasten gesteckt hatte. Dann ging er ins Zimmer zurück, machte Licht und las aufmerksam die Zeitung. Nach einer Weile bemerkte er, daß bestimmte Wörter und Buchstaben durchlöchert waren. Er schrieb sie ab, notierte das Datum der Zeitung und steckte sie behutsam wieder in den Briefkasten, aus dem er sie genommen hatte. Es müßte also jemand kommen und sie abholen. Aber wann? Jetzt war die Haustür verschlossen. Vielleicht morgen früh. Mit diesen Gedanken verfiel Neagu in einen traumlosen Schlaf. Als er am anderen Morgen zeitig erwachte und in den Briefkasten schaute, war die Zeitung verschwunden. Er ging an die Haustür und fand, daß sie zugeschlossen war. Lange grübelte er, ohne daß er eine Erklärung fand. Grigore war eine Neubauwohnung angeboten worden, er hatte jedoch abgelehnt. „Ich bin gewöhnt, mit einem Brunnen und mit Blumen im Hof zu leben. Das ist so eine wohltuende Ruhe.“ Vergangenen Herbst war er 56 Jahre alt geworden, aber er sah viel älter aus. Ein Kummer nach dem anderen hatte ihn heimgesucht. Erst war der Sohn an der Front vermißt worden, dann seine Frau gestorben. Vor einem Monat
tauchte ein Hoffnungsschimmer auf. Er erhielt von seinem Sohn Marin einen Brief, in dem er ihm mitteilte, daß er in die Heimat zurückkehren wolle. Aber dieser schwache Schimmer, der ihn wieder aufrichtete, wurde von einem Mann zerstört. Ein ekelhafter Kerl, dachte Grigore Vrabie verbittert. Dieser Mann sprach indirekt von seinem Sohn. Als er ihm erzählt hatte, er habe einen Brief von seinem Sohn erhalten, fragte dieser hinterlistig, was er denn sagen würde, wenn der Sohn nun doch nicht zurückkäme. Grigore hatte ihn verwirrt angeschaut. Warum sollte er denn nicht zurückkommen? Weil…. und dann redete dieser Mann ihm ein Loch in den Bauch. Er war so durcheinander, daß er nicht mehr wußte, wann er ja gesagt hatte. Er bekam etwas Geld und unterschrieb eine Quittung. Nach zwei Tagen kam der Unbekannte wieder, drückte ihm einfach eine Lampe in die Hand und sagte, er solle sie über dem Reißbrett, an dem Ingenieur Emil Dobre gewöhnlich arbeite, anbringen. Das war alles. Nein, er sagte noch, er komme noch einmal wieder, um die Lampe abzuholen. Inzwischen solle er sie dort anbringen, wo er gesagt habe. Als er wegging, machte ihn der Fremde darauf aufmerksam, daß er nicht unter die Lampe treten solle. Auch dürfe er mit niemandem darüber sprechen, sonst sehe er seinen Jungen nicht wieder. Grigore untersuchte die Lampe von allen Seiten, aber es schien eine gewöhnliche Lampe zu sein. Als er intensiver darüber nachdachte, sah er die Dinge klarer. Wenn es eine gewöhnliche Lampe gewesen wäre, hätte der Fremde sie ihm nicht gegeben, damit er sie über das Reißbrett des Ingenieurs hängen solle. Man wollte ihn also in eine häßliche und schmutzige Sache verwickeln. Gerade er, Grigore Vrabie, der sein ganzes Leben lang eine weiße
Weste gehabt hatte, sollte sich jetzt noch schmutzig machen? Elender Lump! Warum ließ er ihn überhaupt zu sich kommen? Weshalb schlug er ihn nicht nieder? Hier kamen seine Gedanken durcheinander, und der Zorn wurde ihm zur Last. Und was würde aus Marin werden, seinem Sohn? Wie sehnsüchtig er ihn erwartete! Wie mag er wohl aussehen? Auch er ist älter geworden. Auf jeden Fall ist es sein Junge, das einzige auf der Welt, seit seine Frau gestorben ist. Mein Junge, wie ist es dir ergangen, seit ich dich nicht mehr gesehen habe? Wie ist es dir in der Fremde ergangen? Hattest du ein Dach über dem Kopf? Du wirst kommen, ich werde dich sehen. Wir werden weinen, einer an die Schulter des anderen gelehnt, mit wenigen Tränen. Draußen war es schon lange dunkel geworden. Feiner Regen trommelte ans Fenster. Grigore Vrabie zog seinen Anzug an, wickelte die Lampe in Papier ein und lief schnell durch den Regen. Schnell, immer schneller rannte er durch die Finsternis in Erwartung eines Lichtstrahls.
Ungefähr zwei Wochen, nachdem Ingenieur Emil Dobre ans Meer gekommen war und die Pläne überarbeitet hatte, wurde Grigore Vrabie auf dem Nachhauseweg von demselben Mann, der ihm den Auftrag gegeben hatte, angesprochen. Dieser sagte ihm, er komme morgen abend, um die Lampe abzuholen. Am nächsten Abend gab ihm Grigore die Lampe und verwünschte ihn innerlich. Der Unbekannte bedankte sich bei ihm, steckte die Lampe in einen Beutel und pfiff beim Weggehen unbeschwert vor sich hin. Am gleichen Abend sah Neagu durch den Spion, wie Murgeanu einen Umschlag in seinen eigenen Briefkasten steckte. Er wartete, bis Murgeanu weg war, und zog den Umschlag heraus. Er befühlte und beroch ihn von allen Seiten, steckte ihn zurück, nahm einen Stuhl und wandte das Auge nicht vom Spion. Nach ein Uhr nachts kam immer noch niemand. Neagu wurde müde. Die Augen schmerzten ihm von der Anspannung. Er mußte unbedingt wach bleiben, damit ihm nicht dasselbe wie letztes Mal passierte. Murgeanu hatte den Briefkasten längere Zeit nicht mehr benutzt. Aber heute abend… Hatte er Schritte gehört? Nein, wohl nicht. Es sind Schritte, leichte Schritte, wie das Schleichen einer Katze. Auf der Treppe erscheint ein Fuß, dann der Körper, das Gesicht. Jemand öffnet den Briefkasten, nimmt den Umschlag heraus, schließt wieder zu und geht weg… Verwirrt rieb sich Neagu die Augen. Von der Müdigkeit überwältigt, war er kurz eingenickt und hatte geträumt. Jedoch zeigte ihm der Briefkasten ohne Umschlag, daß es kein Traum war.
Es war ein herrlicher Abend mit klarem Himmel ohne ein Wölkchen, und kleinen flackernden Sternen. Die Parkwege wurden immer leerer. Der Gärtner schlenderte rauchend durch den Park. Er warf die Zigarette weg. Schließlich war er nicht in den Park gekommen, um die Natur zu bewundern. In der Tasche hatte er ein winziges Paket, das ihn bei jeder Berührung mit den Fingern schaudern machte, ihm aber gleichzeitig ein Gefühl der Befriedigung einflößte. Kurze Zeit noch, dann würde er sich der kleinen Last entledigen, die ihm ein unbestimmtes Gefühl der Unsicherheit gab. Er zündete sich noch eine Zigarette an (die wievielte an diesem Abend eigentlich?) und trat unter das Laubdach der Bäume am Ende eines Seitenweges. Auf diesem Weg gab es keine Bänke, er würde niemandem begegnen; der Weg führte zu einer alten Mauer. Er blieb stehen. Hatten die Sträucher am Rand geraschelt? Er wartete ein Weilchen, aber man hörte nur entfernte Geräusche von Autos. Er war am Ende des Weges, an der Mauer, angekommen. Dort bückte er sich und drückte die Zweige eines Jasminstrauches beiseite. Mit der Hand griff er nach einem Stein, der ein Loch am Fundament der Mauer zustopfte. Als er das Päckchen hineinschieben wollte, stürzten sich zwei Schatten auf ihn. Bevor er noch eine Bewegung machen konnte, war er umklammert. Eine Stunde war vergangen, seit der Gärtner verhaftet worden war. Ein neuer „Liebhaber“ dieser Parkecke ging gemächlich auf den Jasminstrauch an der Mauer zu. Er bückte sich, nahm den Stein beiseite, zog das Päckchen heraus und schob es in die Tasche. Als er seine Knie abklopfen wollte, rief ihn eine Stimme aus der Nähe an:
„Hände hoch, Landwirt!“ Zwei Arme hielten ihn fest. Der Landwirt war kräftig, es gelang ihm, eine Hand frei zu bekommen, die er blitzschnell zum Mund führte. „Ihr könnt mich in der Hölle verhören“, rief er und brach zusammen. Hauptmann Neagu hatte verstanden. Der Landwirt hatte sich vergiftet. Er zog diese Lösung vor. In den Taschen des Landwirts fand Neagu nichts, was zur Identifizierung des Selbstmörders hätte führen können. Später erfuhr er, daß der Landwirt in Wirklichkeit der ehemalige SSOberführer Hinder war, der jetzt für einen westlichen Geheimdienst arbeitete. Neagu wartete auf die Antwort des Verhafteten, dessen Kopf auf die Brust gesunken war. Die Anschuldigungen schienen ihn niederzuschmettern. Mühsam hob er den Kopf, und Neagu sah in Iosif Murgeanus Gesicht tiefe Falten. Die Augen starrten ins Leere. Um seine Hartnäkkigkeit zu brechen und ein Geständnis zu bekommen, hatte ihm Neagu Beweis um Beweis vor Augen führen und auch den Elektriker Grigore Vrabie gegenüberstellen müssen. Erst als Neagu zu ihm sagte, er werde auch Maria und Sanda Spineanu vorführen, bat ihn Murgeanu: „Herr Kommissar, es hat keinen Sinn mehr, ich sage alles.“ „Ach, auf einmal“, sagte der Hauptmann. „Ich weiß nicht, es wäre mir irgendwie peinlich.“ „Peinlich!“ Neagu zog die Augenbrauen hoch. Murgeanu versuchte, seine wirren Gedanken zu ordnen. „Nun, Herr Narzisse, oder ist Ihnen Murgeanu lieber?“ Die Stimme des Hauptmanns kam von weither. Er hatte ein Gefühl, als stecke sein Kopf unter Wasser. Langsam und stockend legte er sein Geständnis ab:
„An jenem Abend traf ich mich mit dem Gärtner. Ich weiß nicht, wer er ist. Mir wurde gesagt, Alecu habe einen anderen Auftrag bekommen.“ Murgeanu strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. „Kann ich vielleicht eine Zigarette bekommen?“ fragte er. Neagu hielt ihm die Schachtel hin. Murgeanu fuhr fort: „Der Gärtner erklärte mir später, daß es gut wäre, wenn ich irgendwie über Frau Spineanu Ingenieur Dobre kennenlernen würde. Den Ort, an dem Ingenieur Dobre das Hydroskop erprobte, erfuhr ich von Sanda. In einem belanglosen Gespräch sagte Sanda, ohne daß sie sich bewußt war, ein Geheimnis preiszugeben: ,Emil ist Fischer geworden und fängt Gründeln. Er sagte mir, daß wir am Samstag jede Menge davon hätten.’ Also war er am Meer, der Probelauf fand dort statt. Er wurde jedoch verschoben. Der Gärtner sagte mir, wir müßten auf Biegen und Brechen die Baupläne der Anlage haben. Es war unmöglich, an Emil Dobre heranzukommen. Er ist äußerst mißtrauisch. Wir konnten ihm also kein Geld für die Baupläne anbieten. Der Gärtner dachte eben, wir zwingen den Ingenieur, uns das zu liefern, was wir brauchten. Grigore Vrabie wurde angeworben, wie, habe ich Ihnen auch schon gesagt. Ich ließ die Lampe über dem Reißbrett des Ingenieurs anbringen. Das eingebaute automatische Gerät löste alle 15 Minuten nach dem Einschalten aus. Wir wollten einen Mikrofilm von den Zeichnungen bekommen, dann den Ingenieur zu einem Glas Wein locken und ihm ein Betäubungsmittel geben, damit er wie betrunken aussieht. Danach wollten wir ihn irgendwohin bringen, wo wir ihn…“ Murgeanu hielt inne und suchte nach dem richtigen Wort. „… erpressen konn-
ten“, ergänzte der Hauptmann. „Ja“, sagte Murgeanu, „er sollte für uns arbeiten. Das ist alles, Herr Kommissar.“ „Gut“, meinte Neagu, „ich bitte Sie jetzt, sich mit dem Stuhl zur Wand zu drehen. Genosse Leutnant“, sagte
Neagu zu Dura, „lassen Sie den Gärtner holen.“ Murgeanus Schultern zitterten. Er würde jetzt dem Mann gegenüberstehen, dessen Befehle er ohne Murren ausgeführt hatte, der drohend mit ihm gesprochen und ihm zu verstehen gegeben hatte, daß er ihn beim geringsten Aufbegehren fallenlasse. Er hörte, wie die Tür geöffnet und geschlossen wurde, gedämpfte Schritte auf dem Teppich, dann Neagus Stimme. „Nehmen Sie Platz, Herr Gärtner!“ Und zu Murgeanu: „Sie können sich um-
drehen!“ Beim Anblick des Mannes, den Hauptmann Neagu Gärtner genannt hatte, verzerrte sich Murgeanus Gesicht wie bei einem unerträglichen Schmerz. Seine fahlen Lippen zuckten, mit heiserer Stimme krächzte er: „Victor Radan, der Ingenieur. Nein, nein, das ist nicht möglich!“ Er schlug die Hände vors Gesicht. „Genosse Leutnant“, sagte Neagu zu Dura, „bringen Sie Herrn Murgeanu bitte weg.“ Während Murgeanu aus dem Zimmer gebracht wurde, blieb Victor Radan unbewegt. Er hatte einen harten Zug um den Mund, seine Lippen waren ein Strich. Nur seine Nasenflügel bebten heftig, und die Halsschlagader bewegte sich rhythmisch. „Einer der beiden Mittäter, Herr Radan, ich mache Sie darauf aufmerksam, daß er alles gestanden hat.“ „Herr Kommissar, Sie müssen aber berücksichtigen, daß ich in der Zeit des Faschismus gekämpft habe, während andere wie die Hasen weggelaufen sind. Ich habe Flugblätter verteilt, Sabotageakte organisiert“, sagte Radan und hob den Kopf. „Ich hatte eine schwache Stunde, das ist wahr.“ Neagu betrachtete seine graugrünen Augen, die wie die einer Katze aussahen. Da schau einer diesen kecken Kerl an! Mit welcher Gelassenheit er vom Kampf gegen den Faschismus spricht! „Wo haben Sie studiert?“ fragte Neagu unvermittelt. Radan feuchtete seine Lippen an und antwortete: „In Deutschland, aber das heißt nicht, daß…“ „Selbstverständlich hat es keine Bedeutung“, sagte der Hauptmann, und Radan wußte nicht, ob es Neagu ironisch meinte oder nicht. Er war auf der Hut. „Haben Sie
mal von Canaris gehört?“ Radans Augen wurden schmaler, er versuchte ungezwungen zu antworten: „Sicher, alle haben von ihm gehört. Ich habe einige Bücher gelesen, in denen die Rede von diesem Canaris war.“ „Wenn Sie gern lesen, so haben Sie sich wahrscheinlich auch dort über illegale Aktionen der Antifaschisten informiert.“ „Ich weiß nicht, was Sie meinen.“ „Illegale Tätigkeit“, antwortete Neagu treuherzig, „Sabotage, Verteilung von Flugblättern.“ „Sie wollen mich auf den Arm nehmen, Herr Kommissar, zu Unrecht.“ „Überhaupt nicht, es ist mein voller Ernst.“ „Dann ziehen Sie meine Betätigung als antifaschistischer Kämpfer in Zweifel“, sagte Radan mit bebender Stimme. „Soll ich das nicht?“ fragte Neagu und zog die Augenbrauen hoch. „Ich weiß, was es heißt, etwas in Zweifel zu ziehen, einer Sache nicht sicher zu sein. Das ist aber nicht der Fall. Sie als Intellektueller haben schon verstanden, was ich meine.“ „Ich muß sagen, nein, Herr Kommissar.“ „Ist das so schwierig? Nun, ich habe den Eindruck, daß ich die Dinge beim Namen genannt habe. Übrigens“, sagte Neagu und machte einen Gedankensprung, „wie geht es Herrn Leber? Ich hoffe, daß die Frage nicht so schwierig ist und Sie mir darauf eine Antwort geben können.“ „Danke, gut“, antwortete Radan ruhig. „Es würde mich interessieren, ob die Behandlung, die
Sie 1943 in Baden-Baden bekommen haben, Erfolg hatte.“ Radan richtete sich kerzengerade auf dem Stuhl auf und entgegnete hart: „Wenn Sie mich weiter auf den Arm nehmen, antworte ich nicht mehr. Ich habe Ihnen gestern schon gesagt, daß ich eine Kur in der Tschechoslowakei gemacht habe.“ „Na ja, nach Baden-Baden waren Sie in der Tschechoslowakei“, sagte Neagu. „Wie dem auch sei, BadenBaden ist Ihnen nicht gut bekommen, sonst wären Sie nicht wieder hier gelandet.“ Radan hielt dem Blick des Hauptmanns stand. Er hätte gern gewußt, was im Kopf des Hauptmanns vor sich ging, welche Beweise er gegen ihn hatte. Aber Neagus Augen waren grün und sanft, und Radan wußte, daß ihn der Mann gegenüber in der Hand hatte. Er sprach von Canaris… Für ihn hatte er gearbeitet. Dann von BadenBaden… Radan erinnerte sich, daß er dort an einem Lehrgang für Spione teilgenommen hatte, zur Vervollkommnung… Sollte der Hauptmann auch über… „Den Landwirt, oder wenn Ihnen der Name vertrauter ist, SS-Oberführer Hinder“, hörte Radan als Antwort auf seine Gedanken, „haben wir auch geschnappt“, informierte ihn Neagu. „Ja, Hinder, Sie haben richtig gehört. Der Mann, der Ihnen zum Lebenslauf eines antifaschistischen Kämpfers verholfen hat.“ Die Ruhe des Verhafteten war dahin. Seine Hände waren feucht, seine Augen verloren jegliche Sicherheit, die Gesichtsmuskeln verzerrten sich. Er schluckte trocken. Er hatte den Eindruck, als habe man ein schwarzes Tuch über ihn geworfen, das ihm die Sicht nahm und ihn erstickte. Auf dem Teppich des Büros, an dem seine Blicke
hängenblieben, schienen die Bilder seiner eigenen Vergangenheit entlangzulaufen. Er saß da und betrachtete sie, konnte seine Augen nicht davon losreißen. Die Vergangenheit ließ ihn nicht los, und er durchlebte noch einmal jede Etappe. Maria Spineanu stellte ihre Handtasche auf den Tisch. Sanda kam zu ihr und legte ihr den Arm um die Schultern. „Worüber hast du denn mit Hauptmann Neagu gesprochen, Mama?“ „Über die Liebe, meine Tochter. Über die Menschen und die Liebe.“
Jack London Baugrund in Tra-Li Kit und Shorty stießen am „Elkhorn-Saloon“ aufeinander. „Wo willst du hin?“ fragte Kit munter. „Weiß ich selber nicht“, antwortete Shorty, „dabei bin ich so versessen drauf, irgendwas zu erleben, daß ich durch die Straßen renne in der Hoffnung, wenigstes ‘ne Hundebeißerei zu sehen oder ‘n Streit.“ – „Ich hab was Besseres an der Hand“, antwortete ihm Kit, „komm mit.“ „Wohin denn?“ fragte Shorty.
„Über den Fluß, ich will Dwight Sanderson besuchen.“ „Nie gehört von dem“, sagte Shorty gelangweilt, „was ist mit ihm?“ „Der hat was zu verkaufen.“ „Hunde? Eine Goldmine? Tabak? Gummistiefel?“ fragte Shorty. Kit schüttelte bei jeder Frage den Kopf. „Komm mit, dann wirst du sehen!“