Andreas Müller – Gian Candrian – Juri Kropotov ADHS – Neurodiagnostik in der Praxis
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Andreas Müller – Gian Candrian – Juri Kropotov ADHS – Neurodiagnostik in der Praxis
Andreas Müller Gian Candrian Juri Kropotov
ADHS Neurodiagnostik in der Praxis Mit 138 Abbildungen und 7 Tabellen
Dr. Andreas Müller Gehirn- und Traumastiftung Graubünden Schweiz Brain and Trauma Foundation Grison Switzerland Poststraße 22 CH-7000 Chur, Schweiz
Prof. Dr. Juri Kropotov Institute of the Human Brain of Russian Academy of Sciences ul. Acad. Pavlova 9 RU-197376 St. Petersburg, Russian Federation
Gian Candrian, M.A., Gehirn- und Traumastiftung Graubünden Schweiz Brain and Trauma Foundation Grison Switzerland Poststraße 22 CH-7000 Chur, Schweiz
ISBN-13
978-3-642-20061-8 Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. SpringerMedizin Springer-Verlag GmbH ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Planung: Renate Scheddin, Heidelberg Projektmanagement: Renate Schulz, Heidelberg Lektorat: Dr. Astrid Horlacher, Dielheim Umschlaggestaltung: deblik Berlin Coverbild: © Lilly Satz: Fotosatz Detzner, Speyer SPIN: 80030526 Gedruckt auf säurefreiem Papier
18/5135 – 5 4 3 2 1 0
V
Vorwort jZur Entstehung
Die Entstehung des vorliegenden Buches hatte verschienene Ausgangspunkte. Zunächst war da das zunehmende Unbehagen in Bezug auf Objektivität und Aussagemöglichkeiten psychologisch-psychiatrischer Diagnostik, das sich während unserer praktischen Tätigkeit im Verlauf der letzten 30 Jahre entwickelt hatte. Obwohl die derzeit zur Verfügung stehenden psychometrischen Testmethoden eine lange Tradition haben und eine Vielzahl von Untersuchungen zu den Gütekriterien vorliegen, tragen sie in den meisten Fällen wenig zur Diagnose bei. Es ist zwar möglich, kognitiv-verhaltensmäßige Funktionen wie verschiedene Arten des Denkens und Problemlösens, Arbeitstempo, Gedächtnis sowie Aufmerksamkeit mit mehr oder weniger originellen Instrumenten zu erfassen und Zugänge zu den Emotionen und zum Verhalten mittels Fragebogen zu eröffnen. Das Problem bei allen diesen Erkenntnissen liegt aber darin, dass sie meist eine geringe ökologische Validität haben und zusätzlich wenig zum Verstehen menschlicher Andersartigkeit beitragen. Das führt dazu, dass der klinisch erhobene Psychostatus weitgehend durch die Schilderungen der Betroffenen und deren Angehörigen zustande kommt. Die Eindrücke des Beurteilers sind situativ geprägt und im Wesentlichen abhängig vom Empfinden der Fachperson selbst. Diese subjektive Prägung der Diagnostik und die damit verbundene Variabilität und Ungenauigkeit war sozusagen die »Triebfeder« für das Suchen nach neuen Möglichkeiten für eine objektivere Diagnostik. Obwohl die praktizierte Diagnostik in den letzten Jahren verstärkt, wenn auch oft in unklarer Art und Weise, systemische Modelle in die Erkenntnisgewinnung einbaut und so die lange kritisierte Individuumorientierung teilweise überwindet, werden neurobiologische Aspekte auch heute noch praktisch vollständig vernachlässigt. Die meisten Diagnostiker tun so als würde es das Gehirn gar nicht geben! Das ist auch darin begründet, dass die Möglichkeiten eines methodischen Zugangs zu den Prozessen praktisch nur in der Forschung bestehen. »Das Gehirn ist eine Blackbox«, hat vor kurzer Zeit ein renommierter Neurologe verlauten lassen. Die Neuropsychologie hat zwar im Laufe der Zeit einige gute Ansätze und Untersuchungsmittel entwickelt, die teilweise Schlüsse auf das Funktionieren dieser »Blackbox« zulassen, doch die unmittelbaren und spezifischen neuronalen Prozesse bleiben im praktischen Alltag weiterhin verborgen. Das Problem besteht darin, dass bei jeder vom Gehirn zu lösenden Aufgabe stets zahlreiche Netzwerke mit verschiedensten Funktionen involviert sind, die sich im Nachhinein kaum differenzieren lassen. In diesem Dilemma entstand der Wunsch nach neurobiologisch orientierten Untersuchungsinstrumenten. jZugrunde liegende therapeutische Denk- und Handlungsmodelle
Seit 1980 haben wir ein systemisch-theoretisches Modell als Ausgangspunkt zum Verstehen des Zusammenlebens und der gemeinsamen Entwicklung von Eltern, Kindern, Jugendlichen, Lehrpersonen, Schulen und Arbeitgebern und von verschiedenen Möglichkeiten des Denkens, Handelns und Fühlens erfolgreich entwickelt und angewandt. In dieser Zeit konnten wir viele Einsichten und Erfahrungen unter verschiedensten Aspekten erarbeiten (Müller 1991). Dr. Gottlieb Guntern, lange Zeit Direktor der psychiatrischen Klinik in Brig im Wallis/Schweiz und heute weltbekannter Kreativitätsforscher (Guntern 2010), ist hierbei als wichtigster Lehrer zu nennen. Er lehrte Systemdenken und Systemtherapie und führte gehaltvolle Meetings mit Persönlichkeiten und Pionieren systemischer Theorie wie Anatol
VI
Vorwort
Rappaport (1911–2007), Salvador Minuchin, Mara Selvini-Palazzoli (1916–1999), Francisco Varela (1946–2001) und anderen ausgezeichneten Denkern durch. Besonders die Begegnung mit dem leider viel zu früh verstorbenen Francisco Varela, einem Neurobiologen aus Chile, sollte unser Denken nachhaltig bestimmen. Varela und Maturana, die in den frühen 1970er Jahren eng zusammenarbeiteten, entwickelten von der Neurobiologie nachhaltig beeinflusste Erkenntnistheorien. Für unsere Belange ist die erkenntnistheoretische Grundfrage, wie weit Erkennen und Realität zwei voneinander unabhängige Entitäten sind und wie die Evolution dadurch beeinflusst wird von besonderer Bedeutung. Maturana und Varela postulieren, dass das Nervensystem in seiner funktionellen Dynamik nur verstanden werden kann, weil der Mensch als Teil des Systems eine vom System nicht unabhängige Welt durch eine Repräsentation erzeugt. Repräsentationen sind in diesem Sinn Konstruktionen oder Modelle der Realität, nie die objektive Welt selbst (Maturana u. Varela, 2009; Maturana u. Pörksen, 2008; Maturana 2008). Dadurch wird das Objekt vom Erkennen getrennt, d. h., dass das Phänomen des Erklärens und des Erkennens das Objektive in jedem Fall durch das angewendete Erkenntnismodell subjektiv werden lässt. Durch diese Zirkularität der Erkenntnis entsteht ein scheinbarer Widerspruch zur herbeigewünschten Objektivität in der Diagnostik. Diese Zirkularität des diagnostischen Erkennens ist aber kein Hindernis für das Verständnis des Erkennens, sondern ganz im Gegenteil: Gerade davon ausgehend ist es uns möglich, das Erkennen wissenschaftlich zu erklären und zu begründen. Die Vergegenwärtigung dieses Ansatzes ist besonders in der Praxis bedeutsam, denn dadurch kann die Relativität besser erkannt und entsprechend gehandhabt werden. Auch Bilder des Gehirns basieren auf Modellen und sind zuerst einmal nichts anderes als Annahmen, die der ständigen Weiterentwicklung und Überprüfung bedürfen. Der oben bereits erwähnte Gottlieb Guntern entwickelte selbst ein therapeutisches Denkund Handlungsmodell, das wesentlichen Anstoß für die Entwicklung dieses Buches gab. Das Modell ist die Grundlage für die personalisierte Medizin, weil es einerseits die Gesamtheit betont, aber gleichzeitig die Interaktion der einzelnen Teile sowohl auf der inter- als auch auf der intraindividuellen Ebene erkennen lässt. Damals, als diese Theorien in den späten 1970er Jahren entwickelt wurden, standen die heutigen Möglichkeiten der bildgebenden Analysen noch nicht zur Verfügung. Die Integration von neuen biologischen Erkenntnissen führt zu einer Weiterentwicklung des systemischen Denk- und Therapiemodells. jZugrunde liegende Forschungsprojekte
Das vorliegende Buch hat einen weiteren Ursprung im Jahr 2000 in Ulvik, einem kleinen Fischerdorf im Hardangerfiord in Norwegen. Das neuropsychologische Institut der Universität Bergen organisierte damals einen Workshop mit Barry Sterman, einem Pionier des quantitativen EEG. Verschiedene Fachleute des quantitativen EEG aus dem Norden Europas versammelten sich in dieser einsamen Kommune. Einige Teilnehmer kamen aus Russland, unter ihnen Juri Kropotov aus St. Petersburg. Die Begegnung mit Juri Kropotov, dem Direktor des Instituts für »Human Brain« in Sankt Petersburg, sollte zu einer anhaltenden Freundschaft führen, die zweifellos getrieben war durch das wissenschaftliche und praktische Erkenntnisinteresse. Seine Methoden zur Analyse des EEG und sein Wissen über neurophysiologische Prozesse im Gehirn ermöglichten uns praktisch Tätigen ein Feld zu erschließen, das bisher dem Bereich der »Black Box« zugewiesen war. Schon 2002 beschlossen wir, anlässlich eines Workshops von Juri Kropotov in Gas-
VII Vorwort
cais in der Nähe von Lissabon (Portugal), eine Datenbank als Referenzsystem für den Vergleich von individuellen Messungen bei Patienten zu entwickeln. Eine befriedigende Lösung gab es nämlich zu diesem Zeitpunkt noch nicht bzw. sie genügte unseren Ansprüchen nicht. In der Folge untersuchten wir im Rahmen des Datenbankprojektes (2003) 274 Kinder und Jugendliche im Alter von 7–16 Jahren mit dem Ziel, Normalität besser zu verstehen. Einige Kinder und Jugendliche mussten aufgrund von Schwierigkeiten von den Berechnungen ausgeschlossen werden, sodass schließlich 250 Kinder in der Datenbank verblieben. In der Folge wurden diese Referenzdaten an mehreren Orten auf der Welt im klinischen Feld getestet: Die Resultate und Rückmeldungen waren äußerst ermutigend! Bereits im Winter 2004, nachdem wir immer mehr Anfragen von Erwachsenen erhielten, war uns klar geworden, dass eine altersmäßige Erweiterung der Datenbank notwendig sein würde. In den zwei folgenden Jahren untersuchten wir im kleinen Team 540 weitere Versuchspersonen im Alter von 16–89 Jahren und kreierten daraus zusammen mit 230 Personen aus Trondheim und St. Petersburg die Human Brain Index-Referenzdatenbank mit insgesamt 1000 gesunden Personen. Die Untersuchung von Kindern mit ADHS ergab sich aus dem klinischen Alltag, als uns ab 2003 die damals neue Technologie zur Verfügung stand. Fortan wurden alle Kinder und Jugendlichen, die eine ADHS-Diagnose hatten, zusätzlich zu den herkömmlichen Tests mittels QEEG und ERP untersucht. Bereits nach einem guten Jahr hatten wir ca. 150 Kinder mit Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen überprüft und wesentliche Auffälligkeiten im Vergleich zu den ebenfalls 2003 untersuchten, nicht betroffenen Kindern gefunden. Die Analyse des EEG mittels Spektrogrammen hat uns damals fasziniert und wir konnten einige für die Alltagspraxis relevante Subtypen finden. Die Anwendung zeigte, dass die gefundenen Auffälligkeiten in den quantitativen Analysen des EEG die von den Eltern und Lehrpersonen berichteten Verhaltensweisen meistens besser erklärten als die psychologischen Testuntersuchungen. Ebenfalls zeigte sich eine hohe Übereinstimmung zwischen den gefundenen ADHS-Subtypen und der Wirkung von Medikamenten. Neben der quantitativen Analyse des EEG begannen wir, Kinder und Erwachsene mit standardisierten Designs für evozierte Potenziale zu untersuchen, anfänglich mit mehr Verwirrung als Erfolg. Erst nachdem uns im Sommer 2005 eine Nachricht von Juri Kropotov erreichte, seinem Team in St. Petersburg sei es gelungen, die unabhängige Komponentenanalyse auf die evozierten Potenziale anzuwenden – einer Methode, mit der auf bestimmte Signale fokussiert werden kann – gelang es uns die evozierten Potenziale besser zu verstehen. Das war der Anfang einer neuen Epoche, die uns völlig neue Möglichkeiten sowohl in der Praxis als auch in der Forschung eröffnete. Ab Sommer 2005 entwickelten wir Modelle für die Diagnostik und Therapie im Rahmen der praktischen Tätigkeit für Erwachsene mit ADHS. Meist waren es Eltern von Kindern, die bei sich ähnliche Symptome wie bei ihren Kindern beobachteten und sich diesbezüglich auch an ihre Kindheit erinnerten. Warum sollte das, was bei Kindern beobachtet werden konnte, nicht auch bei Erwachsenen zutreffen? Wir definierten ein Forschungsprojekt, in dem die Frage der Anwendbarkeit von QEEG und vor allem von evozierten Potenzialen umfassend bei Erwachsenen untersucht werden sollte und wurden von Prof. Jordan Pop-Jordanov dem Vorsitzenden einer Netzwerksaktion der Europäischen Union (Cost-B27: electric neuronal
VIII
Vorwort
oscillations and cognition, ENOC) eingeladen, das Projekt anlässlich einer Konferenz in Skopje (Mazedonien) vorzustellen. Das mittlerweile elaborierte Projekt wurde in der Folge von verschiedenen beteiligten Staaten der Cost-B27-Aktion mit Begeisterung aufgenommen. Innerhalb von Cost-B27 bildete sich ein ADHS-Netzwerk, dem Arbeitsgruppen aus Norwegen, Österreich, Deutschland, Schweiz, Italien, Mazedonien, Türkei und der USA als Gastland angehörten. Die Multicenterstudie wurde von Prof. E. Roy John (Bellevue Hospital Center, New York University School of Medicine/USA), Prof. Giuseppe Chiarenza (Ospedale G. Salvini, Mailand/Italien) und Andreas Müller (Gehirn- und Traumastiftung Graubünden/ Schweiz) geleitet. kGehirn- und Traumastiftung Graubünden/Schweiz
Ein weiterer Beweggrund das vorliegende Buch zu verfassen, ist in der Arbeit der Gehirnund Traumastiftung Graubünden/Schweiz begründet. Am Anfang dieser Stiftung stand die persönliche Betroffenheit, ausgelöst durch einen schweren Unfall des Sohnes eines nahestehenden Freundes und Kollegen. Wie durch ein Wunder erholte sich der Junge, und sein Gehirn fand seine Funktionen größtenteils wieder. Diese tiefgreifende Erfahrung machte vor allem eines klar: Neben viel Liebe und Geduld erfordert die Heilung Zugänge zur Neurobiologie. Die so gegründete Gehirn- und Traumastiftung (Graubünden/Schweiz) sollte in der Folge Trägerin für das gesamte Projekt »EEG-Subtypen bei Erwachsenen mit ADHS« werden. Die Gehirn-und Traumastiftung bezweckt, neben der Integration von Kindern und Erwachsenen nach Schädel-Hirn-Trauma und Schlaganfall in die Arbeitswelt, die Unterstützung von wissenschaftlichen Projekten, die praxisorientiert ausgelegt sind und somit ausschließlich Patienten dienen sollen. Dieses Projekt zur Untersuchung von ADHS bei Erwachsenen und das vorliegende Buch zielen genau darauf ab: Die erforschten Methoden wurden an verschiedenen Patientengruppen validiert und an mehreren Hundert Patienten mit Erfolg klinisch getestet. jGliederung
Das vorliegende Buch gliedert sich in vier Sektionen, die sich zu einer Ganzheit zusammenschließen sollen, sich aber auch sektions- bzw. kapitelweise lesen und verstehen lassen. kState of the Art 2011
Diese Sektion behandelt den Status quo von Diagnostik und Behandlung bei ADHS, unter besonderer Berücksichtigung der derzeitigen Behandlungsmethodik. kADHS – Hintergründe
Hier wird die historische Entwicklung vom einst genannten Zappelphilipp bis zu den Erkenntnissen der heutigen Zeit detailliert nachgezeichnet und es werden die für ADHS wichtigen neurobiologischen Strukturen und funktionalen Hirnsysteme eingehend beschrieben. Die Möglichkeiten der Neuropsychologie und ihre Konzepte zum Verstehen der Hirnsysteme sind genauso Teil dieser Sektion wie eine Darstellung der Untersuchungsergebnisse der neuropsychologischen Untersuchung des Forschungsprojektes. kBiomarker – Die neue Dimension in der Diagnostik
Diese Sektion führt in die Welt der Biomarker und den verwendeten Analysetools ein. Dazu gehört eine Darstellung von Entstehung und Inhalt der »Human Brain Index-Referenzdaten-
IX Vorwort
bank«. Die Kapitel über das quantitative EEG und die evozierten Potenziale bilden den Kern dieses dritten Teils. Die Spezifizierung der neurophysiologischen Biomarker in Bezug auf ADHS wird hier besonders herausgearbeitet. kState of the Art tomorrow
Dieser Teil des Buches enthält Ausführungen zu einem Konzept der personalisierten Medizin bei ADHS, das die Integration der verschiedenen Modelle anstrebt. Das Buch wird abgeschlossen mit Beispielen aus der Praxis. jDanksagung
Dieses Buch konnte nur durch die tatkräftige Unterstützung einer Vielzahl von Menschen entstehen. Dabei ist es schwierig eine Ordnung für die Danksagung zu finden, weil das Buch in einem Netzwerk entstanden ist, zu dem sowohl die Organisation, Geldgeber und Träger als auch die Betroffenen mit ADHS gehören. Danken möchten wir zuerst allen 350 Menschen und den mehreren Hundert Patienten mit Aufmerksamkeits- und Gedächtnisschwierigkeiten, mit Schwierigkeiten in der Organisation des Alltags sowie des Denkens und Handelns und mit Schwierigkeiten in der Emotionsregulation. Sie haben es uns ermöglicht, ein Verständnis für die Zusammenhänge zu entwickeln und neue Zugänge zur Analyse des Gehirns offenzulegen. Die vielen Kontakte mit diesen Menschen haben in uns eine tiefe emotionale Verbindung zu ihnen entstehen lassen, die weit mehr ist, als das, was in diesem Buch dargestellt werden kann. Forschen kostet Geld, sehr viel Geld sogar! Das ganze Projekt hat letztlich weit über eine halbe Million Schweizer Franken gekostet. Die Gehirn- und Traumastiftung, als Trägerin des gesamten Projektes und des vorliegenden Buches, konnte die Mittel dank ihrer vielen Kontakte zu anderen Stiftungen und Trägern beschaffen. Der Stiftungsrat mit seinem Geschäftsführer und Mitglied Dr. Andreas Müller hat jederzeit die Verantwortung für das Vorhaben getragen und sich dafür eingesetzt. Dem Präsidenten, Dr. Giusep Nay, und den Stiftungsräten Prof. Pius Baschera, Prof. Theo Leuenberger, lic. Phil. Paul Ruschetti und Dr. Eric Thomann sei an dieser Stelle besonders gedankt. Das schweizerische Staatssekretariat für Bildung und Forschung hat das erste Jahr des Forschungsprojekts mitfinanziert. Erfreulich war die Unterstützung von verschiedenen Institutionen, Stiftungen und Gönnern für das Projekt. Ein wesentlicher Dank geht an die Innovationsstiftung des Kantons Graubünden, die einen großen Teil der Kosten trug. Daneben gingen viele kleinere Beiträge ein, unter anderem von der Zürich-Versicherung. Ihnen allen sei für Ihren Mut mit uns neue Wege zu gehen, herzlichst gedankt. Das Gelingen des Projektes wäre auch nicht möglich gewesen ohne das Zutun der vielen Helferinnen und Helfer, die uns auf dem langen Weg der Entstehung dieses Buches begleitet haben. Dies sind Bruno Gasser, lic. phil. Nadia Meier, lic. phil. Jörg Schaller, und lic. phil. Daniela Wyss die uns bei der Datenerfassung enorm geholfen haben. Beatrice Coray, die die Versuchspersonen eingeladen hat, unsere Forscherkollegen der Cost-B27 Aktion, allen voran Jordan Pop-Jordanov, dem Leiter der Aktion, dem leider während des Projektes verstorbenen Prof. E. Roy John, der uns mit seinem enormen Wissen solange es ihm seine Kräfte erlaubte, kollegial zur Seite stand. Des Weiteren danken wir den Mitgliedern der Cost-B27 Aktion Stig Hollup und Venke Arntsberg Grane aus Norwegen, Silvana Markovska und Tanja Zorzec aus
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Vorwort
Mazedonien, Tomas Ros und Tony Steffert aus England die nicht nur gedanklich mittrugen, sondern auch dafür sorgten, dass die Zusammenkünfte und die Zusammenarbeit Spaß machten, und »last but not at least« Valery Ponomarev und Gian Marco Baschera, die dank hervorragender Ideen die Analysetools für die Datenauswertung auf einen auch international viel beachteten Standard brachten. Die praktische Anwendung systemischer Theoriebildung ist das Produkt einer langen Auseinandersetzung mit verschiedensten Menschen in den letzten 30 Jahren. Dazu gehören Dr. Gottlieb Guntern und Dr. Thomas Hess, aber auch berufliche Weggefährten wie Markus Schmid, Winfried Egeler, Esterina Degiacomi, Robert Ambühl, Eveline Collenberg, Christoph Eichhorn, Cathi Thöny, Jana Juran, Larissa Wild, Mara Marcoli, Georges Steffen, Jakob Müller, Maria Filli, Ursula Wolf und Jonas Meier. Allen ihnen sei an dieser Stelle ganz herzlich gedankt. Jonas Meier verstarb leider 2009 völlig unerwartet. Er war so etwas wie das systemische Gewissen und ein äußerst kreativer Kritiker und Denker. Ihm sei besonders gedankt und das Buch soll ihm als unvergesslichen und immens fehlenden Weggefährten gewidmet sein. Die Anwendung von nicht etablierten Methoden, wie dies vor mehr als einem halben Jahrzehnt bei den neurophysiologischen Biomarkern, so wie wir sie verwenden, der Fall war, bedarf des Supports. Dieser war ganz am Anfang vor allem durch Dr. Eric Thomann gegeben. Er hat uns bestärkt, den von uns vertretenen Weg zu gehen und machte uns stets wieder neuen Mut. Von seiner fantastischen Unterstützung und von seinem enormen Fachwissen als Kinderpsychiater konnten wir sehr profitierten. Mit im Boot waren auch die Kinderärzte der Region, vor allem Dr. Antonio Rampa, Dr. Hans Spescha, Dr. Walter Dorn, Dr. David Zach, Dr. Elmar Keller, Dr. Helmuth Knoblauch, Dr. Benedikt Malin, Dr. Reto Gambon, Dr. Urs Peter Suenderhauf, Dr. Marleen Grossheintz, Dr. Christian Heick, Dr. René Kindli und Dr. Dieter Walch. Ihnen allen sowie allen andern zuweisenden Ärzten gebührt unser herzlichster Dank für die große Unterstützung über all die Jahre hinweg. Danken möchten wir besonders auch Heidi Blattmann, die dafür besorgt war, dass das Buch auch für den interessierten Laien lesbar wurde, für ihre intensive Mitarbeit an verschiedenen Kapiteln und Dr. Renate Scheddin, Renate Schulz und Dr. Astrid Horlacher vom SpringerVerlag für die unendlich gute Unterstützung während der abschließenden Bearbeitung des Manuskripts.
Chur und St. Petersburg, im Mai 2011
Andreas Müller, Gian Candrian und Juri Kropotov
XI
Inhaltsverzeichnis
State of the art 2011
1 1.1 1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.2.4 1.2.5 1.2.6 1.2.7 1.2.8
1.3 1.3.1 1.3.2 1.3.3 1.3.4 1.4 1.4.1 1.4.2 1.5 1.5.1 1.5.2 1.5.3 1.5.4 1.5.5 1.5.6 1.5.7 1.5.8 1.5.9
ADHS heute – Diagnose und Therapien in der Praxis . . . . . . . . . . Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Phänomen ADHS und sein Vorkommen bei Kindern . . . . . . . . . ADHS bei Erwachsenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Charakteristika bei Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . Charakteristika bei Erwachsenen . . . . . . . . . . Diagnosekriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kritik an den DSM-IV-Kriterien . . . . . . . . . . . . . Kriterien der ICD-10 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ADHS in der Schweiz: das psychoorganische Syndrom . . . . . . . . . . . Diagnoseverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erfragung der Symptomatik . . . . . . . . . . . . . . . Das klinische Interview bei ADHS . . . . . . . . . . Neuropsychologische Tests . . . . . . . . . . . . . . . Probleme der ADHS-Diagnose . . . . . . . . . . . . Komorbiditäten bei ADHS: Eine Schwierigkeit kommt selten allein . . Weshalb ADHS zum Brandbeschleuniger wird . . . . . . . . . . . . . Komorbidität nach Brown . . . . . . . . . . . . . . . . . Wirkungsvolle Therapien bei ADHS . . . . . . Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapieempfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Medikamente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kognitive Verhaltenstherapien . . . . . . . . . . . . Selbstinstruktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Training des Arbeitsgedächtnisses . . . . . . . . Neurofeedback . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elternprogramme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erziehungsprogramme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergotherapie und psychomotorische Therapien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
ADHS – Hintergründe
3 4 5 5 6 6 8 8 9 10
2
Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
31
2.1 2.1.1
Erste Beschreibungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Zappel-Philipp« und »Hanns Guck-in-die-Luft« . . . . . . . . . . . . . Das zeitgeschichtliche Umfeld . . . . . . . . . . . . . Frühe Erklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entdeckung von Ritalin als Medikament der Wahl . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine Vielzahl von Namen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neue Diagnosetechniken bringen wieder neue Bezeichnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
32
2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.1.5 2.1.6
3 11 11 11 12 13 15 15 15 16 17 17 17 18 23 24 24 25
3.1 3.1.1 3.2
ADHS-Forschung heute – funktionelle Neuroanatomie . . . . . . . .
32 32 33 36 36 37
39
3.2.8 3.2.9 3.2.10 3.2.11 3.2.12 3.2.13
Begriffsklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lagebezeichnungen am Gehirn . . . . . . . . . . . Großhirnrinde und subkortikale Bereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einteilungen nach Brodmann – Brodmann-Areale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zentrales Nervensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . Präfrontaler Kortex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anteriorer cingulärer Kortex . . . . . . . . . . . . . . . Thalamus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Retikuläres Aktivierungssystem . . . . . . . . . . . Prämotorischer, sensomotorischer und motorischer Kortex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Parietallappen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Temporallappen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Okzipitallappen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cingulärer Kortex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hippocampus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Amygdala . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4
Funktionelle Gehirnsysteme . . . . . . . . .
4.1 4.2 4.2.1
Grundlegende Informationen . . . . . . . . . . . 66 Das exekutive System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Messung von Funktionen des exekutiven Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5 3.2.6 3.2.7
40 40 40 40 41 43 47 47 49 50 50 53 56 59 61 61
27 28
65
XII
Inhaltsverzeichnis
4.3 4.3.1 4.4 4.4.1 4.5 4.5.1 4.6 4.6.1 4.6.2
Das Aufmerksamkeitssystem . . . . . . . . . . . . Anatomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das sensorische System . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anatomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Emotionsregulationssystem . . . . . . . . . Anatomie des limbischen Systems . . . . . . . . . Gedächtnissysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verschiedene Gedächtnistypen . . . . . . . . . . . Prozesshaftes Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . .
70 70 73 73 74 74 75 75 79
Biomarker – die neue Dimension in der Diagnostik
8
Die Suche nach Biomarkern . . . . . . . . . . 113
8.1 8.1.1
Verfeinerung diagnostischer Kriterien . . . Kontinuierliche Suche nach Verbesserungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die konkreteren Diagnosekriterien des DSM-III . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Objektivere und neutralere Diagnosen . . Biologische Marker und Endophänotypen . Konzept der Endophänotypen oder Biomarker im Bereich mentaler Störungen . . . . . . . . . . . Charakteristika von Endophänotypen . . . . . . Untersuchungen zur Funktionsweise des Gehirns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine Vielzahl von Untersuchungsmethoden . . . . . . . . . . . . Quantitatives EEG und ereigniskorreliertes EEG . . . . . . . . . . . . . .
8.1.2
5
Genetik und Neurotransmitter . . . . . .
81
5.1 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4
Genetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pharmakologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dopamin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Noradrenalin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Serotonin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Acetylcholin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
82 82 82 86 86 87
6
Neuropsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
91
6.1
6.3.3 6.3.4
Verschiedene Aspekte neuropsychologischer Untersuchungen . Aufmerksamkeit, exekutive Funktionen, Motivation und Motorik . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufmerksamkeit und Bereitschaftszustand Exekutivfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neue Studie zu Erwachsenen mit ADHS – Untersuchungsergebnisse . . Amsterdamer neuropsychologische Testbatterie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stichprobe und Untersuchungsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . Untersuchungsergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
Theorien und Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . 105
7.1
Fehlender Bedürfnisaufschub als zentrales Element . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Impulshemmungsversagen (Inhibition) . Motivation (Unteraktivierung des gesamten Kortex) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Defizit beim Arbeitsgedächtnis . . . . . . . . . . Neuroaffektives Entwicklungsmodell . . . . Andere Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fließende Grenze zur Normalität . . . . . . . . . . »Hunters and Farmers« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Church of Scientology . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.2 6.2.1 6.2.2 6.3 6.3.1 6.3.2
7.2 7.3 7.4 7.5 7.6 7.6.1 7.6.2 7.6.3
8.2 8.2.1 8.2.2
8.2.3 8.3 8.3.1
92 8.3.2 92 92 93
95 96 102
106 106 107 108 108 109 109 109 109
114 116 118 118
118 119 121 121 122
9
EEG-Messung, Apparaturen, QEEG-/EKP-Datenbanken für Gesunde und Analysetools . . . . . . . 127
9.1
EEG-Aufnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . EEG-Aufnahmegeräte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufnahmesituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufnahme von ereigniskorrelierten Potenzialen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Referenzdatenbank für Spektraldaten und evozierte Potenziale . . . . . . . . . . . . . . . . . Pioniere der 1970er Jahre – Erwin Roy John und Robert W. Thatcher . . . . Das QEEG – die Wiederentdeckung des EEG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frühe Datenbanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Brain-Resource-International-Datenbank . . Charakteristiken der HBI-Datenbank und Analysetools . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Darstellung des Informationsprozesses im Gehirn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Normdaten zur Beurteilung klinischer Fälle Population der HBI-Datenbank . . . . . . . . . . . . Untersuchungsbedingungen der HBI-Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
95 95
114
9.1.1 9.1.2 9.1.3 9.2 9.2.1 9.2.2 9.2.3 9.2.4 9.3 9.3.1 9.3.2 9.3.3 9.3.4
128 128 128 129 129 129 130 131 132 132 132 133 133 133
XIII Inhaltsverzeichnis
9.3.5
139
10.11.4 Betawellen als Hinweis auf kortikale Aktivierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 10.11.5 Sensitivität der Betarhythmen gegenüber GABA-Agonisten . . . . . . . . . . . . . . 168 10.11.6 Funktionale Bedeutung der Betarhythmen 169
140
10.12 10.13
9.3.10 9.3.11
Maschinell unterstützte Korrektur von Artefakten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verwendung der richtigen Montage . . . . . . . Vergleich von Spektraldaten mit der Referenzdatenbank . . . . . . . . . . . . . . . Unabhängige Komponentenanalyse zur Bestimmung von EEG-Anteilen . . . . . . . . Lokalisation von EEG-Anteilen mittels sLoreta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Analysetools für die evozierten Potenziale . Verhaltensparameter und Ergebnisse . . . . . .
10
EEG-Rhythmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145
10.1 10.1.1
Grundlegende Gedanken . . . . . . . . . . . . . . . . EEG-Interpretationen: das Erkennen von Gestalten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elektroenzephalografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hirnelektrische Potenziale . . . . . . . . . . . . . . . . Ableitung des EEG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Artefakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quantitatives EEG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sehr langsame und langsame Rhythmen Deltarhythmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thetarhythmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hippocampus-Thetarhythmus oder »frontal midline theta« . . . . . . . . . . . . . . . Dysfunktionale Thetarhythmen . . . . . . . . . . Exzessives »frontal midline theta« . . . . . . . . . Thetarhythmen im gesamten Kortex . . . . . . . Thetarhythmen im zentralen Kortex . . . . . . . Thetarhythmen im linken und/oder rechten superioren temporalen Kortex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alpharhythmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Murhythmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Okzipitale Alpharhythmen . . . . . . . . . . . . . . . . Parietaler Alpharhythmus . . . . . . . . . . . . . . . . . Neuronale Grundlagen der Alpharhythmen Alphaaktivität während Aufgaben . . . . . . . . . Dysfunktionale Alpharhythmen . . . . . . . . . Absenz von Alpharhythmen . . . . . . . . . . . . . . . Alpharhythmen an unüblichen Ableitpunkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alphaasymmetrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beta- und Gammarhythmen . . . . . . . . . . . . . Rolandische Betarhythmen . . . . . . . . . . . . . . . Frontale Betarhythmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gammarhythmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9.3.6 9.3.7 9.3.8 9.3.9
10.2 10.2.1 10.3 10.3.1 10.4 10.5 10.6 10.7 10.7.1 10.8 10.8.1 10.8.2 10.8.3 10.8.4
10.9 10.9.1 10.9.2 10.9.3 10.9.4 10.9.5 10.10 10.10.1 10.10.2 10.10.3 10.11 10.11.1 10.11.2 10.11.3
138 138
142 142 144
10.13.1 10.13.2 10.13.3 10.13.4 10.13.5
Dysfunktionale Betarhythmen . . . . . . . . . . . Studie »EEG-basierte Subtypen bei Kindern mit ADHS« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . QEEG und ADHS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse und Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . ADHD-Subtypen für die Praxis . . . . . . . . . . . . . Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
Evozierte Potenziale . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
11.1 11.1.1 11.1.2 11.1.3
Die Messung des Informationsflusses . . . Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das umgekehrte U-Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenarbeit der verschiedenen Gehirnsysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Evozierte Potenziale als Index für das Antwortverhalten der neuronalen Netzwerke . . . . . . . . . . . . . . . . Die Messung evozierter Potenziale . . . . . . . . Berechnung von evozierten Potenzialen Extraktion aus dem EEG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erscheinungsbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schwierigkeit: genügend gültige Stimuli für die Berechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vergleich der evozierten Potenziale mit der Referenzdatenbank im Einzelfall . . . Bedeutung der einzelnen Potenziale . . . . EKP-Forschung und ADHS . . . . . . . . . . . . . . . Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ICA bei evozierten Potenzialen . . . . . . . . . . . . Sensorische und aufmerksamkeitsbezogene Komponenten Arbeitsgedächtniskomponenten . . . . . . . . . . Komponenten mit Bezug zu den Exekutivfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung der unabhängigen EKP-Komponenten . . . . . Studie »ADHS bei Erwachsenen« . . . . . . . . . Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Resultate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
170 170 170 171 171 173 174
147 147 148 148 150 151 154 155 155 156 156 157 157 157 157
158 158 159 160 162 163 163 164 164 164 166 167 167 167 167
11.1.4
11.1.5 11.2 11.2.1 11.2.2 11.2.3 11.2.4
11.3 11.4 11.4.1 11.4.2 11.4.3 11.4.4 11.4.5 11.4.6
11.5 11.5.1 11.5.2 11.5.3
176 176 176 177
178 178 181 181 181 181 183 183 187 187 187 188 190 190 193 193 194 194 201
XIV
Inhaltsverzeichnis
13.8.2
State of the Art tomorrow 13.8.3
12
Personalisierte Psychiatrie und Psychotherapie bei ADHS . . . . . . . 205
13
Rahmenkonzepte für psychotherapeutisches Handeln und Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209
13.1 13.1.1 13.1.2 13.1.3 13.2 13.2.1 13.2.2 13.2.3 13.2.4 13.3 13.3.1 13.3.2 13.4 13.4.1 13.4.2 13.4.3 13.4.4 13.4.5 13.4.6 13.4.7 13.4.8 13.4.9
13.5 13.6 13.7 13.7.1 13.7.2 13.7.3
13.8 13.8.1
Das Ökosystem und seine Wirkfaktoren . Systemtheorie und Systemtherapie . . . . . . . . Selbstorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alltagstheorien – »Theory of Mind« . . . . . . . . Das biosystemische Regulationsmodell . Ökosystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Organismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Biosoziale Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strukturell-physikalische Umwelt . . . . . . . . . . Materie-Energieund Informationsaustausch . . . . . . . . . . . . . . Individuelle Anpassungsprozesse . . . . . . . . . . Gesellschaftliche Anpassungsprozesse . . . . . Elemente des soziobiologischen Informationsaustausches . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Episteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hierarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kooperation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entscheidungsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konfliktmanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auseinandersetzungsstrategien . . . . . . . . . . . Etikettierungsprozesse – die Macht der Erwartungen . . . . . . . . . . . . . . . Individuelle Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die geschichtliche Dimension oder die neuroaffektive Entwicklung . . . . Wie die Vergangenheit das Heute beeinflusst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das familiäre Vorkommen von ADHS oder die Angst vor der Vergangenheit . . . . . Die individuelle Entstehungsgeschichte von ADHS als Wirkfaktor . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interaktionen Psychologie – Biologie . . . . Veränderungen im Genotyp durch Stressoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
211 211 211 212 212 212 213 213 215 217 217 217 219 219 219 222 223 224 224 225 225 226 227 228
Veränderungen des Verhaltens durch Stressoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 Verändert Psychotherapie die Biologie? . . . . 235
14
Multimodale Therapie bei ADHS – die Freilegung der Ressourcen . . . . . . 239
14.1
14.4.1 14.4.2 14.4.3 14.4.4
ADHS – ein Phänomen mit unterschiedlicher neurobiologischer Dynamik . . . . . . . . . . . . . Neurophysiologische Subtypen als Ausgangspunkt für das Verstehen und die Intervention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erfolg versprechend: multimodale Therapieansätze . . . . . . . . . . . . . Ressourcensuche im System im Zentrum der therapeutischen Bemühungen . . . . . . Veränderung heißt Training! . . . . . . . . . . . . . . . Strategien therapeutischer Intervention . . . Veränderung durch medikamentöse Therapien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Subtypen spezifischer medikamentöser Therapien bei ADHS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Veränderungen durch Psychotherapie und Trainingsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kognitive Verhaltenstherapie . . . . . . . . . . . . . . Neurofeedback . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Elektrische Stimulationsmethoden . . . . . . . . Training der Arbeitsspeicherung . . . . . . . . . .
15
Praktizierte personalisierte Medizin . 249
15.1 15.1.1 15.1.2 15.1.3
Fallbeispiel eines 13-jährigen Jungen . . . Zuweisung und Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neurobiologische Untersuchungen . . . . . . . . Ereigniskorrelierte Potenziale im Konzentrationsverlaufstest . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapieempfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
14.1.1
14.1.2
14.2 14.2.1 14.2.2 14.3 14.3.1
14.4
15.1.4 15.1.5 15.1.6
240
240 241 242 243 244 245 245 246 246 246 246 247
250 250 251 254 259 259 260
229
16
Vision – vom Biomarker zur klinischen Diagnose . . . . . . . . . . . . . . 263
16.1
Konstruktionsprozess der klinischen Diagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 Möglichkeiten und Grenzen von Biomarkern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264
230 230
16.2 231 233 234
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277
XV
Abkürzungsverzeichnis Abkürzung
Deutsch
Englisch
ACPT
Auditiver Konzentrationsverlaufstest
Auditory Continuous Performance Task
ANT
Amsterdamer neuropsychologische Testbatterie
Amsterdam Neuropsychological Tasks
BA
Brodmann-Areal
Brodmann area
CGL
Corpus geniculatum laterale
lateral geniculate body
CGM
Corpus geniculatum mediale
medial geniculate body
DBH
Dopamin-Beta-Hydroxylase
dopamine beta hydroxylase
DRD4, DRD5
Dopaminrezeptor D4 und D5
dopamine receptor D4 and D5
ECPT
Emotionaler Konzentrationsverlaufstest
Emotional Continuous Performance Task
EEG
Elektroenzephalogramm
electroencephalogram
EKP
ereigniskorrelierte Potenziale
event-related potentials (ERP)
ERN
Fehler-Negativität (Ne)
error-related negativity
fMRT
funktionelle Magnetresonanztomografie
functional magnetic resonance imaging (fMRI)
HBI-Referenzdatenbank
Human-Brain-Index-Referenzdatenbank
Human Brain Index Reference Database
HTR1B
Serotonin-1B-Rezeptor
5-hydroxytryptamine (serotonin) receptor 1B
HTT
Serotonintransporter
5-hydroxytryptamine (serotonin) transporter
IC
unabhängige Komponente
independent component
ICA
Unabhängigkeitsanalyse
independent component analysis
LP
Nucleus lateralis posterior
Lateral posterior nucleus
LTP
Langzeit-Potenzierung
long-term potentiation
MEG
Magnetoenzephalografie
magnetoencephalography
MMN
mismatch negativity
PET
Positronenemissionstomografie
Positron emission tomography
QEEG
quantitative Elektroenzephalografie
Quantitative electroencephalography
SMR
sensomotorischer Rhythmus
Sensory Motor Rhythm
SN
Substantia nigra
SPECT
Einzelphotonenemissionstomografie
single photon emission computed tomography
(S)SRI
(selektiver) Serotoninwiederaufnahmehemmer
(selective) serotonin reuptake inhibitor
tDCS
transkranielle Gleichstromstimulation
transcranial direct current stimulation
VCPT
visueller Konzentrationsverlaufstest
Visual Continuous Performance Task
VTA
ventrales tegmentales Areal
ventral tegmental area
1
State of the Art 2011 Kapitel 1
ADHS heute – Diagnose und Therapien in der Praxis – 3
3
ADHS heute – Diagnose und Therapien in der Praxis 1.1
Überblick – 4
1.2
Das Syndrom – 5
1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.2.4 1.2.5 1.2.6 1.2.7 1.2.8
Das Phänomen ADHS und sein Vorkommen bei Kindern – 5 ADHS bei Erwachsenen – 6 Charakteristika bei Kindern – 6 Charakteristika bei Erwachsenen – 8 Diagnosekriterien – 8 Kritik an den DSM-IV-Kriterien – 9 Kriterien der ICD-10 – 10 ADHS in der Schweiz: das psychoorganische Syndrom – 11
1.3
Diagnoseverfahren – 11
1.3.1 1.3.2 1.3.3 1.3.4
Erfragung der Symptomatik – 11 Das klinische Interview bei ADHS – 12 Neuropsychologische Tests – 13 Probleme der ADHS-Diagnose – 15
1.4
Komorbiditäten bei ADHS: Eine Schwierigkeit kommt selten allein – 15
1.4.1 1.4.2
Weshalb ADHS zum Brandbeschleuniger wird – 15 Komorbidität nach Brown – 16
1.5
Wirkungsvolle Therapien bei ADHS – 17
1.5.1 1.5.2 1.5.3 1.5.4 1.5.5 1.5.6 1.5.7 1.5.8 1.5.9
Vorbemerkung – 17 Therapieempfehlungen – 17 Medikamente – 18 Kognitive Verhaltenstherapien – 23 Selbstinstruktionen – 24 Training des Arbeitsgedächtnisses – 24 Neurofeedback – 25 Elternprogramme – Erziehungsprogramme – 27 Ergotherapie und psychomotorische Therapien – 28
1
4
Kapitel 1 · ADHS heute – Diagnose und Therapien in der Praxis
1.1
Überblick
1 Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) – im englischen Sprachraum »attention deficit hyperactivity disorder« (ADHD) – ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten in weiten Kreisen der Bevölkerung zu einem Begriff geworden. Die relativ hohe Verbreitung dieses Syndroms, auch unter Erwachsenen, wie man inzwischen weiß, und die anhaltende Diskussion über dessen medikamentöse Therapie sowie die dabei zum Einsatz kommenden Stimulanzien haben dazu geführt, dass heute fast jeder einmal von diesem Syndrom gehört hat. Entsprechend zahlreich ist die Literatur darüber und die Vielfalt von Webseiten, die sich mit diesem Thema befassen. Das Thema ist für viele deshalb besonders spannend, weil das Syndrom nicht nur eine Störung ist, dessen Symptome am Rand der Variabilität menschlichen Verhaltens angesiedelt sind und wobei der Übergang zur Störung fließend ist. Der Kern des Verhaltens bei Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivität – eine große Ablenkbarkeit, eine ständige Neugier und »Sucht« nach Neuem, Mühe, sich auf ein Thema zu konzentrieren und sich darin zu vertiefen – trifft zugleich den herrschenden Zeitgeist fast exemplarisch. Die mit der ganzen Welt über Mobiltelefone und Computer, über SMS, Twitter, Chatrooms und Internet gewährleistete Instantvernetzung scheint den ADHSTyp gewissermaßen zum modernen Weltenbürger par excellence zu prädestinieren. ADHS-Kinder und ebenso manche ADHS-Erwachsene sehen ihr Verhalten denn oft auch als »cool«, als besonders »in«. Anderseits macht es genau diese moderne Zeit mit ihren Tausenden von Ablenkungen durch die verschiedensten Medien den von ADHS betroffenen Kindern und Erwachsenen besonders schwierig, ihr Verhalten effizient zu gestalten. Dass dem so ist, hat – wie später in diesem Buch in vielen verschiedenen Facetten aufgezeigt werden soll – vorwiegend biologische Gründe im Nichtfunktionieren der Impulsbremse. Zu den fließenden Grenzen zwischen Norm und Syndrom trägt nicht zuletzt auch die vorherrschende Diagnostik bei, die die Störung anhand von selbst beobachteten und von anderen beschriebenen Verhalten definiert. Deren Wertung ist nicht
zuletzt auch vorwiegend umgebungsabhängig und stark von kulturellen Grundwerten geprägt. Was bei einem Kind in südlichen Ländern als muntere Aufgewecktheit wahrgenommen werden kann, mag in manchen nördlichen Ländern bereits als störend-unruhiges Verhalten auffallen. Die vielen Diskussionen des Phänomens der Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung entstehen durch die stark subjektiv geprägte Erkenntnislage vor dem kulturspezifischen Hintergrund: Dadurch sind Diagnosen vorwiegend durch die subjektiven Erkenntnisse des diagnostizierenden Arztes geprägt. Dies führt zu einem breiten Spielraum in Diagnostik und Behandlung: Vorgefasste Meinungen und Modelle werden häufig vorschnell über die Hilfe suchenden Menschen gestülpt. Es ist den auch nicht verwunderlich, dass dabei eine große Anzahl von falschen Diagnosen produziert wird. Elder et al. (Elder 2010) von der Michigan State University in den USA haben den diagnostischen Prozess bei ADHS in Abhängigkeit zum Alter der Kinder untersucht. Dabei wurde festgestellt, dass bei den über 18.000 untersuchten Kindern des 1. Kindergartenjahres erheblich mehr jüngere Kinder mit ADHS diagnostiziert wurden (8,4%) als ältere Kinder desselben Jahrgangs (5,1%). Diese Studie belegt, dass die Symptome häufig nur die emotionale und geistige Unreife widerspiegeln. Vor dem Hintergrund bestimmter Anforderungen und dem Druck diesen Anforderungen zu genügen werden die Kinder dann fälschlicherweise von den zuständigen Ärzten als krank und abnorm diagnostiziert. Die Arzneimittelkosten für die mutmaßlich falschen Diagnosen bezifferten die Autoren dieser Studie auf 320–500 Mio. USD allein für die USA. In dieser Situation ist der Ruf von allen Seiten nach objektiven Diagnosemodellen mehr als verständlich: 4 Patienten wollen verstehen und wissen, weshalb sie so sind, wie sie sind, 4 Ärzte und Psychotherapeuten wollen mehr Sicherheit im Diagnoseprozess, 4 Pharmafirmen fürchten eine vorschnelle Disqualifikation ihrer Produkte durch deren falschen Einsatz und die Kostenträger – denen die Subjektivität der Diagnosen bei mentalen Auffälligkeiten schon lange ein Dorn im Auge ist – erhoffen sich Kosteneinsparungen.
A. Müller et al., ADHS Neurodiagnostik in der Praxis, DOI 10.1007/978-3-642-20062-5_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
5 1.2 · Das Syndrom
Die Hoffnungsträger in dieser Situation sind die Biomarker. Diese sollen Eindeutigkeit hervorrufen, wo bislang Mehrdeutigkeit am Platz war. Die Biomarker sind auch die große Hoffnung der personalisierten Medizin, einer Ausrichtung, in der die biologische Konstellation in Abhängigkeit gebracht wird zu den emotionalen, kognitiven und verhaltensmäßigen Auffälligkeiten. Zweifellos haben die Erkenntnisse vieler verschiedener Fachrichtungen des Bereiches »Neuro« der letzten 10 Jahre bedeutend zu diesem Vorhaben beitragen können. Viele dieser Erkenntnisse von Genetik und Neurowissenschaften zeigen aber vor allem eines: Eine Kategorisierung in einfache Schemata wird es auch zukünftig nicht geben. Definition Biomarker Biomarker sind messbare, charakteristische Größen von lebenden Organismen. Die Biomarker können auf normale oder krankhafte Prozesse im Organismus hinweisen. Bei einem Biomarker kann es sich um verschiedene Merkmale wie z. B. Gene, Zellen, Moleküle wie Enzyme oder Hormone, aber auch um komplexe Funktionen von Organen handeln. In diesem Buch wird der Begriff Biomarker immer als messbare Größe von komplexen Funktionen des Gehirns verstanden.
Dieses Buch beschreibt eine Methode, die einen Zugang zu den Biomarkern bei ADHS offen legt. Die Methode ist in verschiedenen wissenschaftlichen Untersuchungen bei ADHS an größeren Patientengruppen getestet und validiert worden (Mueller et al. 2010, 2011). Neben der wissenschaftlichen Validierung der Methode zeigen sich aber auch ausgezeichnete Erfahrungen im klinischen Alltag mit vielen verschiedenen Patienten in allen Alterskategorien. Was hier vorgestellt wird, ist nicht in erster Linie für die wissenschaftliche Auseinandersetzung und Erkenntnisgewinnung, sondern vor allem für die Praxis bedeutsam: > Objektivität in der Diagnostik ist mit effizienten, evidenzbasierten und kostensparenden Methoden im klinischen Alltag bereits heute möglich.
1.2
Das Syndrom
1.2.1
Das Phänomen ADHS und sein Vorkommen bei Kindern
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Kinder mit ADHS, vielerorts auch als »Ritalin-Kinder« bekannt, und vor allem ihre medikamentöse Behandlung sind auch in Europa in den letzten Jahren immer mehr zum Gegenstand von Diskussionen in Familien, Schulen und selbst den Medien geworden. In den USA hatte bereits 1970 ein Artikel in der Washington Post Unruhe gestiftet, in dem behauptet wurde, in Omaha, Nebraska erhielten 5–10% aller Kinder verhaltensmoderierende Medikamente – Zahlen, die allerdings um einen Faktor 10 zu hoch lagen. Seit die »American Psychiatric Association« (APA) in ihrem dritten »Diagnostic and Statistical Manual of Mental Health (DSM-III)« ADHS als eigene Störung definierte – 1980 noch unter ADD (»attention deficit disorder«) und dann ab 1987 mehr oder weniger mit der heutigen Definition von ADHS – und diese Kriterien als Basis für die Diagnose Verwendung finden, ist die Anzahl der diagnostizierten Kinder weltweit weiter deutlich angestiegen. So hat sich etwa das Volumen der abgegebenen ADHS-Medikamente laut einer Untersuchung aus dem Jahr 2007 zwischen 1993 und 2003 weltweit mehr als verdreifacht, wobei das Wachstum sich ab 2000 zusätzlich beschleunigte. Mit 2,4 Mrd. USD 2003 insgesamt betrugen die Kosten für diese Medikamente das Neunfache der auf der ganzen Welt 1993 für ADHS-Medikamente bezahlten Summe. Der Anteil der in den USA abgegebenen Pillen ging dagegen von 86,8 auf 83,1% des globalen Konsums zurück (Scheffler et al. 2007). Schon früh wurde angesichts der raschen Zunahme befürchtet, dass Ritalin Kindern zu oft und zu unspezifisch verschrieben werde – als Antwort gewissermaßen auf einen wachsenden Anpassungsund Leistungsdruck. Ritalin ist ein Markenname für die am häufigsten eingesetzte pharmakologische Substanz, Methylphenidat. Es gilt seit vielen Jahrzehnten als das Medikament der Wahl für Kinder mit ADHS. Die Effekte der Substanz sind bei genauer Passung zwischen Medikament und Organismus außergewöhnlich gut. Kein anderes Psy-
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Kapitel 1 · ADHS heute – Diagnose und Therapien in der Praxis
chopharmaka kann so schnell verhaltensverändernde Wirkungen auslösen wie Methylphenidat. Voraussetzung dafür ist allerdings eine Dysfunktion des dopaminergen Systems, vorab im Striatum. Kein anderes Psychopharmaka hat aber auch bis jetzt eine so hohe Medienpräsenzerreicht. Dabei sind es vor allem Missbräuche, die gegeißelt werden. Die Bedenken wurzeln unter anderem in der Tatsache, dass Methylphenidat zu den Stimulanzien zählt. Es wirkt ähnlich wie Amphetamine und Kokain. Das Medikament hat denn auch Eingang in die Partyszene gefunden, wie z. B. die Stadt Zürich in ihrem Monitoringbericht »Drogen und Sucht 2010« feststellte (Bruggisser et al. 2010). In Fachkreisen wird denn auch betont, dass eine sorgfältige Untersuchung der Dysfunktionen zwingend und die Dosierung dieser Substanzen wichtig sei, aber auch, dass bis dahin kaum Medikamentenmissbrauch durch ADHS-Patienten dokumentiert wäre. Wissenschaftliche Studien, deren Daten auf seriösen Diagnosen basieren, gehen von einem Anteil von 3–10% aller Kinder aus, die von ADHS betroffen sind (Retz u. Klein 2010), unter ihnen mindestens 2- bis 3-mal so viele Jungen wie Mädchen. Die Zahlen variieren erheblich, unter anderem auch in Abhängigkeit der diagnostischen Methode und des Landes. ADHS gilt jedoch als die am häufigsten diagnostizierte kinderpsychiatrische Störung überhaupt.
1.2.2
ADHS bei Erwachsenen
ADHS wurde lange Zeit vor allem als eine vorübergehende Entwicklungsstörung von Kindern und Jugendlichen gesehen. Bereits in den 1970er Jahren stellte jedoch Paul H. Wender (Professor emeritus der Utah School of Medicine und inzwischen im Department of Psychiatry der Harvard Medical School in Boston) in Gesprächen fest, dass viele Eltern von ADHS-Kindern in ihrer eigenen Kindheit nicht nur dieselben Probleme gehabt hatten, sondern dass diese Probleme auch im späteren Leben präsent blieben (Krause u. Krause 2009). Erst seit Ende der 1990er Jahre begann sich jedoch die Forschung vermehrt auch der Störung bei Erwachsenen zu widmen.
Bei frühzeitiger Erkennung des Symptoms und gleichzeitig guter Behandlung sowie dem Erwerb guter Strategien ist es durchaus möglich, dass die Symptomatik im Erwachsenenalter weniger stark zum Vorschein kommt. Die Symptomatik wächst sich längst nicht bei allen Kindern mit dem Ende der Pubertät aus. Wender schätzt inzwischen, dass ein bis zwei Drittel der Kinder, die unter einem ADHS litten, ähnliche Symptome auch später im Erwachsenenalter aufweisen; das entspricht einem Anteil von 4–6% aller Erwachsenen (Wender u. Tomb 2010). Die Publikationen, die sich mit dieser großen Patientengruppe befassen, nehmen denn auch rasch zu. Noch gibt es in der zurzeit gültigen Version des DSM der APA, dem DSM-VI, allerdings keine allgemein anerkannte Diagnosemethode für ADHS bei Erwachsenen. Es kommen im Wesentlichen dieselben Kriterien zum Einsatz, die bei den Kindern verwendet werden. In der nächsten Ausgabe des DSM könnte sich das allerdings ändern. Diskutiert wird für den kombinierten Subtyp (unaufmerksam und hyperaktiv-impulsiv) eine Senkung der Anzahl erforderlichen Kriterien, die für eine Diagnose erfüllt sein müssen und spezifische Fragen für Erwachsene (APA 2010). Fundierte Diagnosekriterien auch für Erwachsene erscheinen umso wichtiger, als sich die Störung sowohl bei Kindern wie vor allem im späteren Leben zum Teil in ganz unterschiedlichen Formen äußern kann. Manche Elemente der Störung sind bei dem einen Patienten ausgeprägt, bei einem anderen dagegen wiederum gar nicht vorhanden – oder auch umgekehrt. Entsprechend werden heute verschiedene Subtypen unterschieden. Dieser heterogene Charakter wird zudem durch die Tatsache kompliziert, dass ADHS oft von anderen Störungen wie Depressionen, Suchterkrankungen, Tics, Tourette-Syndrom, Dyslexie, Dyskalkulie, Autismus und anderen Auffälligkeiten begleitet wird.
1.2.3
Charakteristika bei Kindern
Eine scharf konturierte Beschreibung des Syndroms ist auch gar nicht möglich. Jede Charakterisierung muss vielmehr als vages Herantasten an die Störung gesehen werden. Generell fallen bei Kindern als Erstes jedoch meist Aufmerksamkeitsstörungen
7 1.2 · Das Syndrom
auf, z. B. träumt ein Kind oft vor sich hin und versinkt in seine Traumwelt, etwas älter kann es z. B. kein kontinuierliches Gespräch führen, driftet plötzlich bei einem Stichwort gedanklich weg oder macht viele Flüchtigkeitsfehler. Ein zweites Element, das oft, aber nicht immer beobachtet wird, ist eine auffällige Hyperaktivität. So zappelt ein Kind möglicherweise dauernd mit den Füßen und kann nicht ruhig sitzen; es kann seine Bewegungen schlecht kontrollieren. Diese mangelhafte Kontrolle betrifft aber nicht nur die Motorik, sondern ist auch genereller zu beobachten. Viele solcher Kinder scheinen kaum zu denken, bevor sie sprechen; sie reden zum Teil ohne Unterlass und fast zusammenhangslos. Ein dritter wesentlicher Teil betrifft den Umgang mit den Gefühlen. Es kommt zu Affektdurchbrüchen und zu Schwierigkeiten, die eigenen Emotionen zu steuern. Oft ist auch ein Schwarz-Weiß-Denken zu sehen. Manchmal sind nur einzelne solcher Verhaltensweisen zu beobachten, manchmal verschiedene nebeneinander. Die folgenden drei Beispiele sollen ein Bild der verschiedenen ADHS-Ausprägungen aufzeigen: Beispiel: Valerio Valerio ist 8 Jahre alt. Er ist das jüngste von drei Geschwistern. Alle drei sind Jungen und bei allen drei ist vom Kinderarzt ADHS diagnostiziert worden. Die Mutter berichtete, dass der älteste Sohn vor allem das tue, was ihn interessiere, das aber sehr gut. Der Mittlere sei im Umgang am schwierigsten, weil bei ihm häufig emotionale Elemente mit eine Rolle spielen, er sich auch gegenüber dem jüngeren Bruder ständig zur Wehr setze, obwohl dies von außen betrachtet gar nicht notwendig sei. Der Jüngste zeichne sich wiederum durch eine ganz andere Symptomatik aus: In der Schule bekomme er das meiste gar nicht mit, obwohl die Lehrperson sich sehr um ihn kümmere. Er wisse aber nur selten um die Aufgaben, er kümmere sich auch nicht um die ihm aufgetragenen Pflichten. Die Schule gehe an ihm vorbei. Bedeutsam sei allerdings das Geschehen auf dem Pausenplatz sowie auf dem Schulweg. Wenn die Mutter mit ihm dann Aufgaben zu machen versuche, sei er völlig verloren, könne sich im Stoff nicht orientieren und vermöge dann unter Druck erst recht nichts zu leisten. Die Lehrerin beschreibe in als liebenswürdigen Jungen, der gehörig ausrasten könne. Er müsse aber ständig zur Mitarbeit
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angehalten werden. Wenn er nicht zusätzlich kontrolliert werde, versuche er ihren Anforderungen auszuweichen. Häufig tue er, als ob er arbeite, bei näherem Hinsehen zeige er jedoch keine zielgerichteten Handlungen.
Beispiel: Katrin Katrin ist 12 Jahre alt, ihre Eltern sind geschieden, sie lebt allein mit der Mutter. Die Mutter beschreibt ihre Tochter als überaus ruhig, sie ziehe sich gern zurück in ihr Zimmer. Im Zimmer liege sie oft auf dem Bett, wenn die Mutter sie dann anspreche, ob sie keine Aufgaben hätte, antworte sie wie in Trance. Manchmal denke sie, ihre Tochter stehe unter Drogen. Das Erledigen der Alltagsaufgaben im Haushalt vergesse sie oft, wenn sie daran erinnert werde, gehe sie dann schnell an die Arbeit, bräuchte dann jedoch viel länger als erwartet. Beim Tischdecken verliere sie sich oft in ihren Gedanken. In der Schule sei sie eigentlich eine gute Schülerin, die Lehrperson hätte sich jedoch anlässlich des letzten Elterngespräches sehr besorgt gezeigt. Katrin wirke oft abwesend und mit sich selbst beschäftigt. Wenn sie in der Klasse aufgerufen werde, könne sie die geforderten Leistungen dann aber ohne weiteres erbringen.
Beispiel: Nico Nico besucht die 2. Klasse der Oberstufe. Für ihn ist klar, er will einmal im Straßenbau arbeiten. Er hat sich auch schon um eine Lehrstelle bemüht. Daneben interessiert ihn jedoch vor allem die Punkszene in seinem Dorf. Sich zur Schau stellen mit entsprechenden Frisuren und ein allgemein rüder Umgangston unter den Gleichaltrigen gefallen ihm besonders. Er fühlt sich selbst auch als Schläger. In den letzten Monaten hat er in der Schule nun vermehrt Schwierigkeiten bekommen, weil er sich gegenüber Lehrpersonen respektlos verhalten hatte. Jetzt droht ihm der Schulausschluss. Er sieht zwar ein, dass sein Benehmen und Verhalten in der Schule so nicht geduldet werden können, will aber trotzdem den Kampf mit den Lehrpersonen weiterführen. Die Mutter berichtete, Nico sei schon immer derjenige gewesen, der mit Fäusten Situationen bereinigen wollte. Der Junge sei ihnen als Eltern völlig entglitten und er tue, was er wolle. Häufig komme er nicht mehr nach Hause abends, sondern schlafe bei Freunden. Bereits bei Kleinigkeiten begehre er auf, handle, ohne zu denken.
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Kapitel 1 · ADHS heute – Diagnose und Therapien in der Praxis
1.2.4
Charakteristika bei Erwachsenen
1 Bei Erwachsenen äußern sich Impulshemmungsstörungen dagegen leicht anders. Mit dem Älterwerden verringert sich die motorische Energie, entsprechend sind solche Auffälligkeiten weniger ausgeprägt. Dafür sprechen die Betroffenen oft von Gedankenrasen oder auch von Zwangsgedanken, die sie nicht stoppen können. Eines der großen Probleme bei Erwachsenen ist aber vor allem, sich zu organisieren, rechtzeitig zu einem Termin zu kommen, vorausschauend zu planen und alle Details zu berücksichtigen. Zahlreiche Dinge kommen dazwischen, die ablenken und verhindern, dass z. B. der Zeitplan eingehalten wird. Ein anderes Thema ist Langeweile. Vieles wird rasch als langweilig empfunden (nicht allein von Kindern), man will Neues sehen, erleben. Das trifft nicht nur für Betätigungen zu, sondern kann z. B. auch die Arbeitsstelle betreffen oder Beziehungen. Personen mit ADHS reagieren rasch auf Impulse von außen oder neue Begegnungen, verlieben sich schnell, wechseln den Partner aber auch schnell wieder. Auch da ist oft von Langeweile die Rede. Statt Vertiefung ist Wechsel die dominante Reaktionsweise. Beispiel: Frau B. Frau B., 28 Jahre alt, verheiratet, ist Mutter von zwei Kindern. Sie beschreibt ihren Alltag als ein Wettlaufen gegen die Zeit, immer sei sie zu spät dran, das meiste, was zu tun sei, werde nicht erledigt. So türmen sich ganze Berge von gebrauchter Wäsche, Einkaufstaschen würden nicht ausgepackt, Termine verpasst, das Leben sei zum Chaos geworden. Ganz zu schweigen von den Geldsorgen: Obwohl sie beide ordentlich verdienen würden, hätten sie am Ende des Monats nie Reserven. Seit das ältere von den zwei Kindern im Kindergarten sei, habe sich die Situation etwas verbessert: Wenigstens gelinge es ihr, das Kind täglich rechtzeitig zum Kindergarten zu bringen. Ihre Arbeit nehme sie jeweils auf, wenn der Vater der Kinder abends nach Hause komme. Sie serviere im Restaurationsbetrieb ihrer Eltern ab ca. 6.00 Uhr abends bis zum Schluss. So komme sie häufig erst um 1.00 Uhr nachts nach Hause, könne dann aber nicht sofort zu Bett gehen, sondern schaue noch 1 bis 2 Filme im Fernsehen. Konflikte, z. B. mit ihrem Ehemann, wür-
den äußerst intensiv und unnachgiebig ausgetragen, da würden schon auch mal die Fetzen fliegen. Nach dem Streit, der immer sofort ausgetragen würde, beruhigte sich die Situation aber wieder schnell. Sowohl sie als auch ihr Mann seien starke Raucher.
1.2.5
Diagnosekriterien
Die heutige Definition – das DSM-IV Die medizinische relevante Definition der Störung beruht heute im Wesentlichen auf dem »Diagnostic and Statistical Manual« (DSM), das die APA 1994 zum vierten Mal auflegte. Auch in Europa kommt bei ADHS in den meisten Fällen das DSM zum Einsatz, da das Syndrom darin genauer beschrieben wird als in dem von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) erarbeiteten Kriterienkatalog für Krankheiten, der »10. International Classification of Diseases« (ICD-10). Das DSM wurde zwar im Jahr 2000 revidiert, aber nicht bezüglich ADHS. Die Bezeichnung ADHD bzw. ADHS in der deutschen Sprache ist bereits seit 1987 in der revidierten 3. Auflage des DSM in Gebrauch. Das derzeit gültige DSM-IV kennt bei ADHS drei Subtypen: 4 vorwiegend unaufmerksamer Subtyp, 4 vorwiegend hyperaktiver Subtyp und 4 kombinierter Subtyp. Die überwiegende Mehrheit der Patienten ist zum kombinierten Subtyp zu zählen (ca. 80%), ca. 10% zum vorwiegend unaufmerksamen und 10% zum vorwiegend hyperaktiven Subtyp.
Die zurzeit gültigen DSM-Kriterien Die klinische Diagnose erfolgt, wie bei allen andern mentalen Störungen, aufgrund von vorgegebenen Symptomlisten. Sowohl die spezifische Ausprägung der Unaufmerksamkeit wie auch jene der Hyperaktivität/Impulsivität werden im DSM-IV durch je 9 Verhaltensweisen beschrieben, die im Alltag beobachtbar sind, wobei für eine Diagnose je mindestens 6 im vergangenen halben Jahr aufgetreten sein müssen. Auch der generelle Entwicklungszustand des Kindes ist dabei in Betracht zu ziehen. Diese Kriterien sind in der Regel von den Eltern und möglichst zusätzlich von einer fremden
9 1.2 · Das Syndrom
Person (Kindergärtnerin, Lehrperson, Betreuerin) zu beurteilen. jFolgende Symptome sind nach DSM-IV zu überprüfen
Bezüglich Aufmerksamkeitsverhalten (6 oder mehr der 9 Kriterien von Unaufmerksamkeit müssen während der letzten 6 Monate ständig in einem nicht mit dem Entwicklungsstand zu vereinbarenden Ausmaß vorhanden gewesen sein): 1. Beachtet häufig Einzelheiten nicht oder macht Flüchtigkeitsfehler bei den Schularbeiten bei der Arbeit oder bei anderen Tätigkeiten. 2. Hat oft Schwierigkeiten, längere Zeit die Aufmerksamkeit bei Aufgaben oder beim Spielen aufrechtzuerhalten. 3. Scheint häufig nicht zuzuhören, wenn andere ihn/sie ansprechen. 4. Führt häufig Anweisungen anderer nicht vollständig durch und kann Schularbeiten, andere Arbeiten oder Pflichten am Arbeitsplatz nicht zu Ende bringen. 5. Hat häufig Schwierigkeiten, Aufgaben und Aktivitäten zu organisieren. 6. Vermeidet häufig, hat eine Abneigung gegen oder beschäftigt sich häufig nur widerwillig mit Aufgaben, die länger andauernde geistige Anstrengungen erfordern. 7. Verliert häufig Gegenstände, die er/sie für Aufgaben oder Aktivitäten benötigt. 8. Lässt sich öfter durch äußere Reize leicht ablenken. 9. Ist bei Alltagstätigkeiten häufig vergesslich.
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5. Ist häufig »auf Achse« oder handelt oftmals, als wäre er/sie »getrieben« 6. Redet häufig übermäßig viel 7. Platzt häufig mit den Antworten heraus, bevor die Frage zu Ende gestellt ist 8. Kann nur schwer warten, bis er/sie an der Reihe ist 9. Unterbricht und stört andere häufig (platzt z. B. in Gespräche oder in Spiele anderer hinein)
Kriterien bei Diagnosestellung Gemäß DSM-IV müssen bei der Diagnosestellung weitere Kriterien erfüllt sein: 4 Gewisse Symptome der Hyperaktivität/ Impulsivität oder der Unaufmerksamkeit, die Beeinträchtigungen verursachen, müssen bereits vor dem Alter von 7 Jahren aufgetreten sein 4 Beeinträchtigungen durch diese Symptome müssen sich in 2 oder mehr Bereichen zeigen (z. B. in der Schule bzw. am Arbeitsplatz und zu Hause) 4 Es müssen deutliche Hinweise auf klinisch bedeutsame Beeinträchtigungen der sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionsfähigkeit vorhanden sein 4 Die Symptome treten nicht ausschließlich im Verlauf einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung, Schizophrenie oder einer anderen psychotischen Störung auf und können auch nicht durch eine andere psychische Störung besser erklärt werden
jKriterien der Hyperaktivität und Impulsivität
(6 oder mehr der 9 Symptome müssen während der letzten 6 Monate ständig in einem nicht mit dem Entwicklungsstand zu vereinbarenden Ausmaß vorhanden gewesen sein): 1. Zappelt häufig mit Händen oder Füßen oder rutscht auf dem Stuhl herum 2. Steht in der Klasse oder in anderen Situationen, in denen Sitzenbleiben erwartet wird, häufig auf 3. Läuft häufig herum oder klettert exzessiv in Situationen, in denen dies unpassend ist 4. Hat häufig Schwierigkeiten, ruhig zu spielen oder sich mit Freizeitaktivitäten ruhig zu beschäftigen
1.2.6
Kritik an den DSM-IV-Kriterien
Die Kritik aus der Praxis an den gängigen DSM-IVKriterien geht in drei Richtungen: 4 Das emotionale Verhalten wird zu wenig berücksichtigt. Dabei sind es oft emotional schwierige Verhaltensweisen, welche das Zusammenleben entweder im Klassenverband, im beruflichen Alltag oder in der Familie wesentlich erschweren. Emotionale Auffälligkeiten, wie sie bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen anzutreffen
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Kapitel 1 · ADHS heute – Diagnose und Therapien in der Praxis
sind, betreffen insbesondere die fehlende Frustrationstoleranz: Affektive Durchbrüche nach kleineren und mittleren erwartungswidrigen Reaktionen der Umwelt können häufig beobachtet werden. Stimmungslabilität, Schwierigkeiten im Akzeptieren von Regeln und Weisungen, häufige Déjà-vu Erlebnisse und vieles mehr belasten die Emotionsregulation und stehen häufig im Zusammenhang mit den berichteten Auffälligkeiten bei ADHS. Neurobiologisch sind diese emotionalen Auffälligkeiten entweder unmittelbar an den Schaltkreisen, die für die Impulshemmung zuständig sind oder emotional gefärbte Ereignisse sind allgemein gesprochen Stressoren, die zu mehr unkontrollierter Aktivität führen. Ein anderes Modell sieht die Verhaltensauffälligkeiten als Kompensationsleistungen. 4 Die geschlechtsspezifischen Besonderheiten, wie sie sich bei Frauen und Männern zeigen respektive bei Jungen und Mädchen, werden durch die DSM-IV-Kriterien überhaupt nicht berücksichtigt. Abgesehen davon, dass ADHS bei Jungen signifikant häufiger vorkommt als bei Mädchen – je nach Kriterienwahl zwischen 4 zu 1 und 9 zu 1 (ICD-10) –, wird ADHS bei Mädchen und Frauen häufig durch eine mehr depressive Symptomatik begleitet. 4 Die Beurteilung von Erwachsenen mit dem DSM-IV–V-Kriterienkatalog ist schwierig, weil die Kriterien nicht dem Erleben, Handeln und Denken der Erwachsenen entsprechen. Die Wirklichkeit der Erwachsenen ist eine andere. Ebenfalls werden die Anzahl der Symptome kritisiert (Barkley 2008; Barkley et al. 2008). Geschlechtsspezifische Unterschiede Frauen und Mädchen zeigen im Vergleich zu Männern und Jungen eine anders gelagerte Symptomatik bei ADHS. Die Symptome werden bei Frauen und Mädchen oft übersehen. Bei Mädchen dürfte der Grund in der Tatsache liegen, dass ihre Verhaltensweisen in der Schule weniger auffallen und somit auch zu weniger Klagen Anlass geben. Mädchen geben sich außerhalb des familiären Kontextes zurückhaltend, sie sind still, träumen vor sich hin oder getrauen sich nicht ihre Anliegen mitzuteilen. Frauen und Mütter erkennen ihre eigene ADHS häufig dann, nachdem eines ihrer Kinder eine entsprechende Diagnose erhalten hat. Frauen sind eher bereit über sich nachzudenken, wenn ihr Leben aus den Fugen ge-
raten ist: Wenn z. B. ihre Finanzen im Argen liegen oder ein Chaos mit der Administration wie Steuerfragen, Ausweispapieren, Krankenkassenbelegen, Termine bei Ärzten entstanden ist, besprechen sie dies häufig mit ihren vertrauten Ärzten (Quinn u. Nadeau 2002). Frauen zeigen im Vergleich zu Männern analog zu Mädchen häufiger Erschöpfungszustände, sie berichten ebenfalls häufiger von unangenehmen Stimmungen, Depressionen und Angststörungen. Frauen scheinen unter der ADHS-Symptomatik mehr zu leiden. Zusätzlich haben sie einen geringeren Selbstwert als Männer (Arcia u. Conners 1998; Katz et. al. 1998). Im Vergleich zu Frauen ohne ADHS leiden Frauen mit ADHS häufiger unter Ängsten die Bewältigung des Alltags betreffend. Sie zeigen häufiger zwanghafte Gedanken, haben ein geringeres Selbstwertgefühl und ihre Bewältigungsstrategien sind mehr emotional auf Stressabbau ausgerichtet. Dies führt häufig zu mehr Schwierigkeiten, weil Situationen dadurch stärker emotionalisiert werden (Quinn 2010). Die gleiche Autorin hat einen Fragebogen erarbeitet, der auf die spezifischen Auffälligkeiten weiblicher Symptomatik bei ADHS ausgerichtet ist (»Self-Assessment Symptom Inventory (SASI) for Women«, 7 http://www.addvance.com/bookstore/wom en.html#SASI).
1.2.7
Kriterien der ICD-10
Neben den Kriterien des DSM, dem im strengen Sinn nur für die USA gültigen Kriterienkatalog der amerikanischen Psychiater, kommen in Europa auch immer wieder die diagnostischen Beschreibungen der von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) erstellten »International Classification of Diseases« (ICD-10) zur Anwendung. Sie sind bei ADHS allerdings ausschließlich auf die Hyperaktivität fokussiert und erfassen die Störung, wie sie hier verstanden wird, daher nur zum Teil. In vielen Ländern sind ICD-10-Kategorien für Anträge an Versicherungen und Krankenkassen vorgeschrieben, was die Situation für die Ärzte im Fall von ADHS schwierig macht. Für den kombinierten Typ des DSM-IV gilt beim derzeit gültigen ICD-10 die Klassifikation F90: »hyperkinetische Störungen«. Laut der ICD10-Definition ist diese Gruppe von Störungen durch einen frühen Beginn charakterisiert, meist in den ersten fünf Lebensjahren sowie einen Mangel an Ausdauer bei Beschäftigungen, die kognitiven Einsatz verlangen, und mit der Tendenz, von einer Tätigkeit zu einer anderen zu wechseln, ohne etwas zu Ende zu bringen; hinzu kommt eine desorgani-
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sierte, mangelhaft regulierte und überschießende Aktivität. Verschiedene andere Auffälligkeiten können gemäß ICD-10 zusätzlich vorliegen. Hyperkinetische Kinder sind oft achtlos und impulsiv, neigen zu Unfällen und werden oft bestraft, weil sie eher aus Unachtsamkeit als vorsätzlich Regeln verletzen. Ihre Beziehung zu Erwachsenen ist oft von einer Distanzstörung und einem Mangel an normaler Vorsicht und Zurückhaltung geprägt. Bei anderen Kindern sind sie unbeliebt und können isoliert sein. Eine Beeinträchtigung kognitiver Funktionen ist häufig, spezifische Verzögerungen der motorischen und sprachlichen Entwicklung kommen überproportional oft vor. Sekundäre Komplikationen sind dissoziales Verhalten und niedriges Selbstwertgefühl. Nicht zu der hyperkinetischen Störung zu zählen sind laut der ICD-10-Patienten, die eine der folgenden Diagnosen besitzen: 4 Affektive Störungen (F30–F39), 4 Angststörungen (F41, F93), 4 Schizophrenie (F20) oder 4 tiefgreifende Entwicklungsstörungen (F84). Die Diagnose des Leidens wird bei der ICD ähnlich wie beim DSM anhand von Kriterienlisten gestellt. Für den Typ, dem im DSM-IV ein vorwiegend hyperaktiver-impulsiver Zug innewohnt, ist in der ICD-10 die Beschreibung F90.1 zu wählen: »hyperkinetische Störung verbunden mit Störung des Sozialverhaltens«. Für den vor allem unaufmerksamen Typ findet sich in der ICD-10 eine Klassifizierung unter dem eher vagen Sammelbegriff F98: »andere Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend«. Es handelt sich um die Unterkategorie F98.8 »sonstige näher bezeichnete Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend«. Zu diesen wird u. a. die Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität gezählt.
1.2.8
ADHS in der Schweiz: das psychoorganische Syndrom
Eine Sonderkategorie kennt zudem die Schweiz mit dem frühkindlichen psychoorganischen Syndrom (POS), einem Begriff, der im gesetzlichen Kontext
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für die Entschädigungspflicht der eidgenössischen Invalidenversicherung eine Rolle spielt. Diese staatliche Versicherung erkennt bis heute nur das POS als entschädigungspflichtig an, nicht jedoch eine ADHS-Diagnose. Das Krankheitsbild des schweren psychoorganischen Syndroms umfasst neben den Aufmerksamkeits-/Impulsivität- und Hyperaktivitätsstörungen zusätzlich Wahrnehmungs-, Merkfähigkeit- und affektive Störungen. Die Kriterien müssen kumulativ vorhanden sein, damit ein schweres psychoorganisches Syndrom diagnostiziert werden kann. Die Anmeldung an die Invalidenversicherung muss vor der Beendigung des 9. Lebensjahres erfolgt sein, außerdem muss vor dem 9. Lebensjahr bereits eine Therapie begonnen worden sein (medikamentöse Therapie, Psychotherapie, Ergotherapie).
1.3
Diagnoseverfahren
1.3.1
Erfragung der Symptomatik
Die Symptome werden meist mit Fragebögen erhoben, wobei jedes einzelne Kriterium mittels »Ratings« erhoben wird. Bei Kindern und Jugendlichen werden die Einstufungen von den Eltern und einer zusätzlichen Person vorgenommen, bei den Erwachsenen von der betroffenen Person selbst sowie von der mit der Person am nächsten in Verbindung stehenden Person. Das Erfragen der Situation während der Kindheit geschieht meist über die Eltern oder eines Geschwisters der betroffenen Person. Bei der Analyse der Antworten ist stets die Beobachterposition mit zu berücksichtigen. Eltern und Lehrperson stehen in einer unterschiedlichen Position zum Kind, Schule und Familie sind von völlig verschiedenen Bedingungen geprägt. Zuhause hat das Kind eine bestimmte Rolle, die ihm innerhalb der Familie zuteil wird, in der Schule geschieht das Gleiche, zusätzlich allerdings in einer erheblich erhöhten Komplexität. Dabei spielen kulturspezifische Eigenarten genauso eine Rolle wie die in einer Schule vorherrschende Philosophie sowie Wesen und Kenntnisstand der Lehrpersonen (Müller 1991). Diese von außen und von einem selbst zugewiesenen Rollen sind mitverantwortlich für das Verhalten, Denken und Fühlen. Leben entsteht
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Kapitel 1 · ADHS heute – Diagnose und Therapien in der Praxis
demnach in einer Interdependenz, d. h., dass die Beobachtungen stets als nicht neutrale Konstruktionen des Alltags zu bewerten sind, in die viele verschiedene Aspekte und Absichten einfließen. So z. B. können die Beobachtungen der Eltern völlig divergent sein, der Vater beurteilt seinen Sohn anders als die Mutter, die Lehrpersonen geben wiederum andere Beurteilungen wieder. Bei den Erwachsenen ist die Komplexität meist noch größer, weil nicht nur aktuelle Begebenheiten beurteilt werden müssen, sondern gewisse Beurteilungen aus der Erinnerung heraus vorgenommen werden. Diese Erinnerungen sind stark »zweck- und beziehungsgebunden«. Es muss weiter in Betracht gezogen werden, dass ADHS-Patienten häufig über ein beträchtliches Wissen über das Krankheitsbild verfügen und daher genau wissen, wie geantwortet werden muss. Folgende Fragebögen werden neben anderen eingesetzt:
Für Erwachsene 4 »Wender Utah Rating Scale« (Für Erwachsene) (7 Springerlink: Retz-Junginger et al. 2002) 4 Barkley-Skala für Erwachsene (Barkley 2008) 4 HASE-Homburger-ADHS-Skalen für Erwachsene (Rösler et al. 2008) 4 YABCL-Elternfragebogen über das Verhalten junger Erwachsener nach Achenbach 4 YASR-Fragebögen für junge Erwachsene. Eine deutsche Version dieser Fragebögen ist ebenfalls an der Geschäftsstelle der Kinder-, Jugend- und Familiendiagnostik in Köln erhältlich
1.3.2 Für Kinder und Jugendliche 4 ADHS-Ckeckliste nach DSM-IV (im Internet in Deutsch abrufbar) 4 Barkley-Skala und Interview (Barkley et al. 2008; Barkley 1990), deutsche Übersetzung bei den Autoren erhältlich 4 »The SNAP-IV Teacher and Parent Rating Scale« (7 http://www.ADHS.net/SNAP_ SWAN.pdf ) 4 »Conners’ Rating Scales–Revised« (CRS–R), (7 deutsch: http://www.medizinfo.de/ kinder/probleme/conners.htm) 4 CBCL 1,5–5 nach Achenbach (Elternfragebögen für Klein-und Vorschulkinder) 4 CBCL 4–18 nach Achenbach (Elternfragebögen über das Verhalten von Kindern und Jugendlichen von 6–18 Jahren). Eine deutsche Version dieser Fragebögen wird durch die Arbeitsgruppe Kinder-, Jugend- und Familiendiagnostik (KJFD), der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindesund Jugendalters der Universität Köln, Robert Koch Straße 10, 50931 Köln angeboten
Das klinische Interview bei ADHS
Das klinische Interview soll Denken, Fühlen und Verhalten des Patienten in der aktuellen Situation in der Familie und in der Schule/Beruf, aber auch in der Freizeit erfragen. Zusätzlich zu diesen Informationen ist die Entstehungsgeschichte für die Diagnose äußerst bedeutsam. Die problematischen Verhaltensweisen haben sich häufig bereits im Kleinkind- und vor allem im Schulalter gezeigt. Zudem muss im Zusammenhang mit ADHS immer auch nach Unfällen mit und ohne Bewusstseinsverlust und nach traumatisierenden Ereignissen gefragt werden. Letzteres wird in den letzten Jahren zunehmend mit Erfolg postuliert: Neben der Vererbung neurobiologischer Konstellationen haben Modelle bezüglich frühkindlich erlittener Traumata sowohl beim Kind als auch bei der Mutter für die Entwicklung neurobiologischer Zustände eine zunehmend größere Bedeutung. Neben diesem generellen Teil im klinischen Interview bedarf der ADHS-spezifische Teil der Fokussierung auf das Sozialverhalten gegenüber Erwachsenen und Gleichaltrigen, auf ein auffälliges oppositionelles Trotzverhalten des Kindes oder des Jugendlichen innerhalb der Familie und in Schule und Freizeit, bei Erwachsenen auf das Konfliktma-
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nagement innerhalb der Familie oder im beruflichen Alltag; auf Ängste, depressive Verstimmungen und Stimmungslabilität, auf das Lernen und die damit in Zusammenhang stehenden Auffälligkeiten, auf die motorische Entwicklung, auf die Schlafgewohnheiten und zusätzlich auf allenfalls vorhandene Ticstörungen. Die problematischen Verhaltensweisen der Betroffenen treten bei spezifischen Tätigkeiten auf, die immer auch erfragt werden sollten wie die Planung und Organisation des Alltags im Beruf und in der Familie, die Steuerung des Verhaltens und Denkens bei Mahlzeiten, beim Einkaufen oder während spezifischer Tätigkeiten, wie Hausaufgaben verrichten oder die Erfüllung von administrativen Pflichten im Alltag. Ein besonderes Augenmerk ist während des klinischen Interviews hierbei auf das Aktivitätsniveau zu richten: Kinder und Jugendliche halten das gemeinsame Gespräch oft nicht aus, versinken während der Interaktion mit den Eltern in ihre eigene Welt oder aber sind mit diesen auch während des Interviews im Dauerclinch. Dabei wird jede Aussage der Eltern in Bezug auf das Verhalten der Kinder und Jugendlichen bestritten. Bedeutsam ist auch das Kommunikationsverhalten der Eltern oder der Betroffenen selbst: Dieses ist oft durch einen stetigen Wechsel im Aktivitätsniveau geprägt, in gewissen Situationen sind sie voll da, in anderen Situationen versinken sie in ihre eigenen Gedanken. Wenn innerhalb des Interviews die Bedingungen durch den Interviewer weniger strukturiert werden, die Aktivierung des Gespräches durch den Interviewer bewusst zurückgehalten wird, passiert es oft, dass die Betroffenen den Fokus verlieren. Dies sind wichtige Informationen, denn problematische Verhaltensweisen bei ADHS treten unter unstrukturierten Bedingungen, in langweiligen Situationen, bei sich ständig wiederholenden Aufgaben, bei geringer Kontrolle von außen und bei selbst organisierter Aktivität häufiger auf. Neben der Fokussierung auf die Schwierigkeiten soll ein wesentlicher Teil des Interviews für Lösungsversuche und Ressourcen der Familie und des Patienten selbst aufgebracht werden. Oft zeigt es sich, dass die Symptome unter hoch strukturierten Bedingungen, bei interessierenden Aktivitäten, bei erhöhter Zuwendung und Kontrolle und bei
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kontinuierlicher Verstärkung wesentlich weniger häufig auftreten. Als Leitfaden im klinischen Interview können bereits bestehende Interviewanleitungen für ADHS-Diagnosen herangezogen werden. Bei Kindern und Jugendlichen empfiehlt sich z. B. das Kinder-Diagnostik-System (KIDS) (Döpfner et al. 2006a), bei Erwachsenen der Interviewleitfaden von Barkley (2008), eine deutsche Version ist bei den Autoren erhältlich. Diagnosen durch Kinderarzt oder Psychiater? In den letzten Jahren entstand eine Kontroverse, ob die Diagnose ADHS mehr eine Domäne der Kinderärzte oder der Kinderpsychiater/Psychiater sei. Bei der Diagnose von Kindern haben die Kinderärzte gegenüber den psychiatrischen Fachärzten oft einen großen Vorteil, weil sie die Entstehungsgeschichte von Verhalten, Denken Fühlen bestens kennen, weil sie die Kinder bereits im Säuglingsalter beobachten können. Kinderpsychiater haben dagegen bei komplexeren Auffälligkeiten eine breitere Erfahrung und können oft differenzialdiagnostisch zusätzliche Informationen bereitstellen. Bei Erwachsenen ist klar, dass die Diagnose in jedem Fall vom Psychiater gestellt werden muss, weil häufig verschiedene auftretende Komorbiditäten existieren.
1.3.3
Neuropsychologische Tests
Zugleich werden für die Diagnose von ADHS in der Regel zusätzlich neuropsychologische Tests zur Erfassung verschiedener allgemeiner mentaler Funktionen verwendet. Die Aussagekraft neuropsychologischer Tests ist im Hinblick auf ein ADHS umstritten. Dies ist zweifellos so, dass neuropsychologische Tests zwischen Kindern mit und ohne ADHS unterscheiden. Allerdings ist ihr Beitrag zur klinischen Diagnose oft unklar. Drechsler et al. vom Zentrum für Kinder-und Jugendpsychiatrie der Universität Zürich (Drechsler et al. 2009) untersuchten 50 Kinder mit ADHS und 50 gesunde Kinder im Alter von 7–10 Jahren. Die Untersuchung erfolgte mittels einer computergestützten Testbatterie zur Aufmerksamkeitsprüfung für Kinder (KITAP, Kinderversion der Testbatterie zur Aufmerksamkeitsprüfung). Die Untertests zu »Alertness«, Flexibilität, Inhibitionskontrolle, Daueraufmerksamkeit, geteilte Aufmerksamkeit und Ablenkbarkeit wurden durchgeführt. Es zeigte sich, dass verschiedene Aufgaben signifikante Unter-
14
1
Kapitel 1 · ADHS heute – Diagnose und Therapien in der Praxis
schiede zwischen den beiden Gruppen erbrachten, für klinisch-diagnostische Zwecke erwies sich das Verfahren aber als unzureichend. Die Autoren schließen aus den Ergebnissen, dass die computergestützte Testbatterie wichtige Hinweise auf das individuelle Leistungsprofil gibt. Allerdings kann sich eine Diagnose von Kindern nicht auf diese Testbatterie stützen. Es zeigten sich nämlich sowohl bei den Kindern mit ADHS als auch bei den gesunden Kindern der Kontrollgruppe etwa gleich viele Probanden in den Prozentrangbereichen unter 16. Die Anwendung dieser neuropsychologischen Testbatterie würde folglich dazu führen, dass viele gesunde Kinder mit ADHS diagnostiziert würden.
Konzentrationsverlaufstests oder Go-/No-go-Tests Von den Untertests zeigten jene, die in Bezug auf die Impulskontrolle besonders sensitiv sind, sog. Go-/No-go-Tests die besten Ergebnisse. Dies bestätigte auch die Untersuchung der Autorengruppe. In diesen sog. Konzentrationsverlaufstests werden den Probanden am Bildschirm Bilderpaare mit kurzen Darbietungszeiten dargeboten. Das Ziel ist es, jene Bilderpaare zu erkennen, die eine bestimmte Bedingung erfüllen. In dem von den Autoren entwickelten Verfahren muss z. B. immer dann auf eine Taste gedrückt werden, wenn zwei gleiche Tiere erscheinen (Go-Bedingung). Immer dann, wenn auf ein Tier eine Pflanze folgt, muss das Drücken der Taste unterdrückt werden. Neurophysiologisch gesprochen handelt es sich dabei um eine Hemmung der vorbereiteten Antwort (no go). Solche Tests sind meist langweilig, d. h., die Motivation muss vom Probanden her immer wieder neu aufgebracht werden. Mit anderen Worten, der Proband muss sich selbst immer wieder neu aktivieren (go) und in bestimmten Situationen einen Impuls unterdrücken (no go). Aktivierung über längere Zeit (mind. 20 min) in langweiligen Situationen (Aufmerksamkeit und Konstanz) und Impulskontrolle sind spezifische Fertigkeiten, die bei ADHS-Patienten häufig schlecht ausgebildet sind. Darauf wird in diesem Buch später noch ausführlich eingegangen werden (7 S. 94). Bei diesen Konzentrationsverlaufstests werden in der Regel vier verschiedene Messwerte erhoben:
4 Anzahl Fehler während der Go-Bedingung (Aufmerksamkeit), 4 Anzahl Fehler während der No-go-Bedingung (Impulsivität), 4 Reaktionszeit und 4 Variabilität der Reaktionszeit (Konstanz). Die Erfahrungen mit Konzentrationsverlaufstests, die es in verschiedenen Variationen gibt (visuell, auditorisch, emotional) zeigen, dass einerseits die Anzahl der Fehler während der Go-Bedingung, also die Unfähigkeit die Aufmerksamkeit in langweiligen Situationen über längere Zeit aufrecht zu erhalten, und andererseits der Wert der Variabilität der Reaktionszeit (inkonstante Reaktionszeiten) gute Indikatoren für das Aufmerksamkeitsverhalten sind. Das Problem dieser Konzentrationsverlaufstests ist die mangelnde ökologische Invalidität. Die Situation während der Testsituation vor dem Bildschirm entspricht nicht den Bedingungen, wie sie z. B. in einer Schulklasse vorherrschen. Auch hat es sich gezeigt, dass intelligente Kinder oder Kinder, die mit PC-Spielen eine große Erfahrung haben – und das sind nicht wenige unter den ADHS-Kindern –, in diesen Tests normalerweise gut abschneiden. Ebenfalls kann aufgrund der Werte in diesen Verfahren nicht auf die geeignete Medikation geschlossen werden, da hohe Fehlerzahlen oder eine hohe Variabilität der Reaktionszeit durch verschiedene neurobiologische Auffälligkeiten zustande kommen können. Kritisch zu werten sind die Ergebnisse auch aufgrund der Tagesform der Patienten: Es gelingt Kindern an gewissen Tagen relativ gut, sich auf die Aufgaben einzulassen und dem Geschehen auf dem Bildschirm zu folgen, an anderen Tagen sind sie durch Ereignisse vor oder nach der Untersuchung abgelenkt und erreichen entsprechend schlechte Ergebnisse.
Andere Untersuchungsverfahren Viele neuropsychologische Testverfahren zu anderen Aspekten der Aufmerksamkeit sind für die ADHS-Diagnose weniger sensitiv und tragen keine zusätzliche Information im Hinblick auf die Diagnose bei. Allerdings kann für das Verstehen des Patienten die Untersuchung verschiedener neuropsychologischer Funktionen sinnvoll sein. Die kli-
15 1.4 · Komorbiditäten bei ADHS
nische Untersuchung sollte in jedem Fall so gestaltet sein, dass Aussagen gemacht werden können zu den Funktionen der Sprache, der Motorik und des Gedächtnisses, über die Art und Weise des Lernens und Wahrnehmens und in Bezug auf die Denkund Problemlösungsfähigkeit. Bei Schulkindern muss zudem das Lesen, Schreiben und Rechnen im Auge behalten werden.
1.3.4
Probleme der ADHS-Diagnose
Die Diagnose ADHS beruht vorwiegend auf dem diagnostischen und statistischen Manual (DSMIV–V). Die Diagnosekriterien sind an Kindern gewonnen worden. Für die Erwachsenen sind sie größtenteils ungeeignet. Die Erfassungsmethoden der klinischen Diagnostik sind Fragebögen, neuropsychologische Testbatterien, das klinische Interview und Beobachtungen im klinischen Alltag. Da die Fragebogenbeantwortung subjektiv ist und von der Beobachtungsperspektive des Beobachters abhängt und neuropsychologische Testbatterien nur unzureichend zwischen Menschen mit ADHS und gesunden Menschen unterscheiden können, ist die Diagnostik stark subjektiv geprägt.
1.4
Komorbiditäten bei ADHS: Eine Schwierigkeit kommt selten allein
bei Erwachsenen im praktischen Alltag vielfach eine Komplexität an Symptomen und bereits vorbestehenden Diagnosen, die ihrerseits auf eine bestimmte Art auf das Denken, Fühlen und Handeln einwirken. Die Tatsache einer Diagnose führt nicht selten zu einer Verfestigung und Fixierung der Denk- und Verhaltensweisen. Die häufig auftretenden Begleiterkrankungen sind bei ADHS jedoch wissenschaftlich erhoben worden. Die bekannte multimodal angelegte MTA-Studie in den USA, bei der insgesamt 579 Kinder sorgfältig mit ADHS diagnostiziert wurden, zeigte, dass 70% dieser Kinder im Alter von 7–9 Jahren zusätzlich mindestens eine vollumfänglich diagnostizierbare mentale Erkrankung aufwiesen (Jensen et. al. 2001). In der MTA-Studie wiesen 40% der Versuchspersonen eine komorbide Störung mit oppositionellem Trotzverhalten, 14% eine Störung des Sozialverhaltens, 33,5% eine Angststörung und 3,8% eine affektive Störung sowie 11% eine Ticstörung auf (Molina et al. 2009; MTA Cooperative Group 2004a, 2004b). Die MTA-Studie belegt bezüglich Komorbiditäten in der Psychiatrie bei ADHS eine markant höhere Wahrscheinlichkeit irgendeinmal im Leben mindestens eine zusätzliche Diagnose zu haben als bei anderen Erkrankungen. In Europa sind ähnliche Zahlen vorhanden. In der Untersuchung, die diesem Buch zugrunde liegt, wurde neben der ADHSDiagnose im Durchschnitt bei den Probanden 1,4 Begleiterkrankungen festgestellt.
1.4.1
Morbidus ist ein lateinischer Begriff und bedeutet krank. Komorbidität meint demnach eine Begleiterkrankung. Die Begleiterkrankung muss nicht zwangsläufig auf den Ursachen der Grunderkrankung aufbauen, weil in der Medizin besonders auch mit fortschreitendem Alter häufig verschiedene Beschwerden, die unabhängig voneinander sind, auftreten. Bei mehreren, gleichzeitig auftretenden mentalen Erkrankungen besteht meist ein Zusammenhang und die Differenzialdiagnose ist oft schwierig zu definieren, weil die verschiedenen Auffälligkeiten ineinander verschachtelt sind. Bei ADHS zeigen sich in der Praxis häufig mehrere Schwierigkeiten. Während bei Kindern die Situation häufig vermeintlich einfacher ist, zeigt sich
1
Weshalb ADHS zum Brandbeschleuniger wird
Bevor auf die verschiedenen Begleiterkrankungen eingegangen wird, soll zuerst der Frage nachgegangen werden, weshalb bei ADHS häufig zusätzliche Schwierigkeiten auftreten. Wie in diesem und in den anderen Kapiteln dieses Buches aufgezeigt wird, sind bei ADHS häufig viele verschiedene grundlegende Funktionssysteme fundamental betroffen. Insbesondere das System der exekutiven Funktionen, aber auch das System der Aufmerksamkeit und damit zusammenhängend das sensorische System sind wesentlich beeinträchtigt. In vielen Fällen zeigen sich zusätzlich noch Auffälligkeiten im Emotionssystem. Allein schon das Vor-
16
1
Kapitel 1 · ADHS heute – Diagnose und Therapien in der Praxis
liegen von Beeinträchtigungen in den exekutiven Funktionen führt zu Schwierigkeiten in vielen Bereichen des Lebens. Die exekutiven Funktionen steuern, wie später eingehend dargestellt wird, die Prozesse in vielen Bereichen des Kortex. Es ist wie, wenn der Dirigent eines Orchesters ausfällt oder zumindest wenn der Dirigent die Partitur nicht kennt: Der innere Zusammenhang des Orchesters dürfte verloren gehen und die Musik für die Zuhörer ungenießbar sein. Die exekutiven Funktionen sind ein Zusammenspiel von mehreren Unterfunktionen wie Impulshemmung, Aktivierung, Monitoring und Arbeitsspeicherung. Dies führt dazu, dass z. B. aufgrund von Schwierigkeiten der Impulshemmung wesentliche Auffälligkeiten im Alltag auftreten können: Planung, Gestaltung, Steuerung und Kontrolle der Handlungen sind sicher betroffen, ebenso die Entscheidungsfindung und das vorausschauende Denken. Es handelt sich dabei aber um die gesamte Organisation des Alltags. Dies sind dermaßen fundamentale Funktionen, dass bei zusätzlichen Schwierigkeiten in einem anderen System, z. B. im Emotionsregulationssystem des präfrontalen Kortex, ohne weiteres zusätzlich andere Diagnosen gestellt werden können. Am Zustandekommen von ADHS sind mehrere Wirkfaktoren beteiligt. Neben den genetischen und biologischen Auffälligkeiten sind insbesondere Umweltfaktoren zu nennen, die Stress induzieren können. Dabei spielen die Bedingungen in der Schule oder am Arbeitsplatz, die Zusammensetzung der Gleichaltrigengruppe, die Erwartungen der Familienangehörigen oder des Partners/der Partnerin eine erhebliche Rolle. Diese Kontextbedingungen ermöglichen einerseits in der positiven Sicht Strategien zu entwickeln, wie der Alltag trotz schlechten biologischen Voraussetzungen gut organisiert werden kann, andererseits in der negativen Perspektive können sie entscheidend dazu beitragen, dass Stress aufgebaut wird, sodass Schwierigkeiten im Alltag stärker und prägnanter zum Vorschein kommen. Schwierigkeiten in den exekutiven Funktionen sind bei zusätzlich schlechten Bedingungen so etwas wie ein Brandbeschleuniger. Bei Kindern sieht die Situation anders aus. Hudziak u. Todd (Todd et al. 2001) untersuchten Familien mit ADHS-Kindern. Die nachgewiese-
. Tab. 1.1 Komorbiditäten bei Kindern Störungen
Nennungen [%]
ODD (oppositionelle Defizitstörung)
35
Schwere Verhaltensstörung
50
Stimmungsschwankungen
15–75
Angststörungen
25
Lernstörungen
10–92
nen Auffälligkeiten sind in . Tab. 1.1 zusammengefasst. Entsprechend der damaligen Zeit, als weitgehend Jungen mit ADHS diagnostiziert wurden, handelt es sich um eine Zusammenstellung, die vorwiegend durch die Befragung von Familien mit Jungen entstanden ist.
1.4.2
Komorbidität nach Brown
Im Jahr 2009 ist ein ausgezeichnetes Buch von Brown et al. zum Thema Komorbidität bei ADHS erschienen (Brown 2009). Die verschiedenen Auffälligkeiten werden hierin sorgfältig beschrieben in Bezug auf ihre Relation zu ADHS, aber auch hinsichtlich Differenzialdiagnose und Behandlungsmöglichkeiten. Die Zusammenstellung umfasst die emotionaldepressiven Begleiterkrankungen der Stimmungsstörungen und Angsterkrankungen sowie Schlafstörungen. Bei diesen Auffälligkeiten ist meist die adäquate Aktivierung im Zentrum. Sowohl Unterals auch Überaktivierung im Zusammenhang mit Dysfunktionen des affektiven Systems dürften dann zu den Stimmungsstörungen führen. Die Schwierigkeiten in Bezug auf das Verhalten bei Oppositionsstörungen und Zwangsstörungen sowie zusätzlich Suchtmittelerkrankungen haben häufig einen Zusammenhang mit Schwierigkeiten der exekutiven Funktionen. Die im Buch von Brown zusammen mit der kanadischen Expertin für ADHS, Tannock beschrie-
1
17 1.5 · Wirkungsvolle Therapien bei ADHS
benen Lern- und Entwicklungsschwierigkeiten stellen Lese- und Rechtschreibschwäche sowie Rechenschwierigkeiten ins Zentrum des Interesses. Die grundlegenden fehlenden Mechanismen bei diesen Störungen sind neben den exekutiven Funktionen vor allem Auffälligkeiten im sensorischen System sowie in den räumlich-konstruktiven Assoziationsarealen. Die mehr entwicklungsmäßigen Auffälligkeiten wie Autismus, Asperger- und Tourette-Syndrom sind komplexe Auffälligkeiten, die mit rechtshemisphärischer Überaktivierung in Zusammenhang stehen.
Komorbiditäten in der Untersuchung der Autoren Die Autoren dieses Buches führten zwischen 2006 und 2010 eine Studie zum Thema »EEG-Subtypen bei Erwachsenen mit ADHD« durch, auf die immer wieder Bezug genommen wird (7 »Vorwort« S. VII). Folgende Komorbiditäten wurden in der Untersuchung bei 174 Erwachsenen mit ADHS erhoben (. Tab. 1.2). Pro Patient wurden im Durchschnitt 1,4 Begleiterkrankungen oder Komorbiditäten festgestellt.
. Tab. 1.2 Komorbiditäten bei ADHS Anzahl
[%]
Schlafstörungen
50
28,7
Depression
44
25,3
Appetitstörungen
37
21,3
Angststörungen
33
19
Phobische Erkrankungen
27
15,5
Zwangsstörungen
18
10,3
Panikattacken
14
8,0
Besessenheit
11
6,3
Bipolare Störungen
11
6,3
6
3,4
Verhaltensstörungen/soziale Störungen
weise zum Einsatz entsprechender Medikamente bei den verschiedenen neurobiologischen Konstellationen.
1.5.2 1.5
1.5.1
Wirkungsvolle Therapien bei ADHS Vorbemerkung
Dieses Buch handelt insbesondere von den diagnostischen Grundlagen bei ADHS. Das diagnostisch-therapeutische Verständnis der Autoren, wonach Diagnostik und Therapie eine Einheit bilden, macht eine übersichtsartige Darstellung der in der Praxis sinnvoll anzuwendenden therapeutischen Möglichkeiten notwendig. Die Palette der Interventionsmöglichkeiten bei ADHS ist insbesondere durch die in jüngster Zeit entwickelten neurobiologisch orientierten Trainings- und Therapieverfahren sowie kognitiv- verhaltenstherapeutisch orientierter Programme erweitert worden. Die in diesem Kapitel abgegebenen Empfehlungen insbesondere in Bezug auf die Medikamente sind allgemeiner Natur. Im Kapitel über die personalisierte Medizin finden sich dann präzise Hin-
Therapieempfehlungen
Die amerikanische Akademie der Kinderärzte veröffentlicht regelmäßig Listen der Maßnahmen, die bei Kindern und Jugendlichen mit ADHS empfohlen werden und deren Beurteilung auf der Auswertung neuester Studien beruht. Dabei werden die Therapien gemäß ihrer Wirkung in verschiedene Gruppen eingestuft werden. In der Auflage für das Sommerhalbjahr 2010 werden unter der Stufe 1 (beste Unterstützung) bei ADHS »Medikamente« und »Verhaltenstherapie« sowie »Selbstinstruktion« aufgeführt. Zur zweiten Stufe (gute Unterstützung) werden »Biofeedback«, »Kontingenzmanagement«, »Erziehung«, »Bewältigungstraining für die Eltern«, »körperliche Übungen« und »Entspannung und körperliche Übungen«, »soziale Fähigkeiten und Medikamente« und »Training des Arbeitsgedächtnisses« gezählt. Während die 3. Stufe (mäßige Unterstützung) leer bleibt, wird alles andere unter minimale Unterstützung oder gar keine Unterstützung (Stufen 4 und 5) aufgelistet.
18
Kapitel 1 · ADHS heute – Diagnose und Therapien in der Praxis
1.5.3
Medikamente
1 An erster Stelle steht für die Therapie von ADHSPatienten, Kindern und Erwachsenen, bei den meisten Fachleuten nach wie vor die Verschreibung von Medikamenten. Zwar sind insbesondere Stimulanzien seit Längerem mancherorts in Verruf geraten, weil ein Missbrauch der Substanzen befürchtet wird. In Deutschland ist gar per Gesetz vorgeschrieben worden, dass Methylphenidate nur noch eingesetzt werden dürfen, wenn alle anderen therapeutischen Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Diese Anordnung kann als Resultat der Hilflosigkeit der Diagnostik angesehen werden: Wäre es bisher bereits möglich gewesen, aufgrund diagnostischer Verfahren objektive Indikationsstellungen für die Medikation anzugeben und gleichzeitig die richtigen therapeutischen Modelle anzuordnen, wäre der therapeutische Prozess weniger zu einem Versuchs- und Irrtumsverhalten verkommen. Wirkungsvolle Medikamente den leidenden Patienten vorzuenthalten ist genauso falsch, wie Medikamente unreflektiert und reihenweise zu verschreiben. Man muss aber ehrlicherweise zugeben, dass sich die psychiatrisch-pädiatrische-psychologische Diagnostik heute in etwa auf dem gleichen Stand befindet, wie die Chirurgie vor der Erfindung des Röntgenapparates. Es bleibt daher zu hoffen, dass diese Zeiten im nächsten Jahrzehnt der Vergangenheit angehören. Dieses Buch soll hierzu einen Anfang machen.
Übersicht . Tab. 1.3 gibt einen Überblick über die wichtigsten
Medikamente bei ADHS.
Methylphenidate (Ritalin, Concerta, Medikinet) Die pharmakologische Substanz der Wahl ist auch heute noch das vor gut 50 Jahren lancierte Methylphenidat, eine amphetaminähnliche Substanz, die in den Dopaminhaushalt eingreift. Die Wirkungsweise im Menschen ist noch nicht vollständig geklärt, man geht jedoch davon aus, dass es zu einer Hemmung der Dopaminwiederaufnahme an den Synapsen im Striatum kommt (. Abb. 1.1), ohne Triggerung der Dopaminfreisetzung (Beipackzettel Novartis 2009). Das steigert, so die Theorie, die
Verfügbarkeit von Dopamin in den Synapsen, da die Rückführung der freigesetzten Dopaminmoleküle in die feuernde Nervenzelle durch die Dopamintransporter verhindert wird. Anderseits stimuliert es im Frontalhirn die Dopaminrezeptoren und die Noradrenalinrezeptoren der das Signal empfangenden Nervenzelle (Vaidya u. Stollstorff 2008). Methylphenidat wird z. B. unter den Markennamen Ritalin, Medikinet, Concerta oder auch Focalin (Dextromethylphenidat) verkauft. Eine wesentliche Erweiterung der Verabreichung von Methylphenidat war die Entwicklung der OROS-Technologie (OROS-Methylphenidat), eine Verpackungsart des Wirkstoffs, die es erlaubt, bei einmaliger Einnahme des Medikaments am Morgen während der Dauer eines Arbeitstages mehrere Rationen des Wirkstoffs zu erhalten. Mit dieser Methode ist es möglich, das Medikament genau nach den täglichen Leistungsspitzen zu dosieren, ohne dass eine mehrmalige Einnahme nötig ist. Das Medikament muss allerdings etwas höher dosiert verabreicht werden. Gleichzeitig ist die Wirkungsweise von Concerta vor allem am frühen Morgen während der ersten Schul- oder Arbeitsstunden geringer. Bei Patienten, die am Morgen Mühe haben auf Touren zu kommen, wird das Medikament ergänzt durch die Einnahme einer 5-mg-Dosis Ritalin.
Ritalin als »Prügelknabe« in den Medien Die Therapie mit Methylphenidat, meist als Ritalin bekannt, ist jedoch nicht allein die häufigste Therapie bei ADHS, Ritalin ist auch zum eigentlichen »Prügelknaben« in der Diskussion um ADHS bei Kindern und in der schulischen Erziehung geworden. Seit Jahrzehnten wird diese Verschreibungspraxis immer wieder angefeindet. In den 1990er Jahren heizten in den USA neben den rasch steigenden Verkaufszahlen Berichte, dass der damalige Ritalin-Hersteller Ciba-Geigy jährlich mit Hunderttausenden von Dollar die ADHS-Familienselbsthilfeorganisation »Childern and Adult with Attention Deficit Disorder« (CHADD) unterstützt habe, die unter anderem die Eltern für die Störung zu sensibilisieren sucht, die Stimmung unter den Kritikern an. Zu Anfang des neuen Jahrtausends versuchten in den USA dann verschiedene Anwälte mit Sammelklagen CHADD, Novartis (die Nachfolgefirma von Ciba-Geigy) und der Amerika-
19 1.5 · Wirkungsvolle Therapien bei ADHS
. Tab. 1.3 Übersicht der Medikamente bei ADHS Medikament
Wirkungsphase
Wie verabreicht
Dosierung [mg/kg KG]
Zulassung
Ritalin
3–4 h
5, 10, 20 mg Tabl.
≤ 1,0 mg
Kinder und Jugendliche
Ritalin SR
3–8 h
20 mg Tabl.
≤ 1,0 mg
Für Kinder und Jugendliche
Ritalin LA
8h
20, 30, 40 mg Kaps.
≤ 2,0 mg
Für Kinder und Jugendliche
Concerta
12 h
18, 27, 36, 54 mg
≤ 2,0 mg
Für Kinder und Jugendliche
Medikinet
3–4 h
5, 10, 20 mg
≤ 1,0 mg
Für Kinder und Jugendliche
3–5 h
2,5, 5, 10 mg
≤ 0,5 mg
Für Kinder, Jugendliche und Erwachsene
Dexamine
4–5 h
5 mg
0,35 mg
D/A/CH nicht zugelassen. Apotheken stellen das Medikament in CH z. T. selber her.
Lisdexamphetamin Dimesylate
12 h
20, 30, 40, 50, 60 mg
0,15–1,0 mg
Zulassung nur in USA und Kanada, ab 2012 Österreich (?)
Methylphenidate
Dexmethylphenidate Focalin
Amphetamine
Gemischte Amphetaminsalze Adderall
4–6 h
5, 7,5, 10,12,5, 15, 20, 30 mg
≤ 1,0 mg
D/A/CH: nicht zugelassen
Adderall XR
8h
5, 10, 15, 20, 25, 30 mg
≤ 1,0 mg
D/A/CH: nicht zugelassen
5 h Plasma orientiert
10, 18, 25, 40, 60, 80 mg Kapseln
≤ 1,2 mg absolute Dosis
D/A/CH: Kinder, Jugendliche und Erwachsene
37,5, 75, 150 mg
Dosierung und Behandlungsdauer sind individuell der Art und dem Schweregrad der Erkrankung sowie dem Befinden und dem Alter des Patienten anzupassen
Zulassung D/A/CH
Atomexetin Strattera
Serotoninaufnahmehemmer Ef(f )exor (Venlafaxin)
Plasma orientiert
1
20
Kapitel 1 · ADHS heute – Diagnose und Therapien in der Praxis
1
a)
Dopamin-Moleküle Präsynaptische Membran Postsynaptische Membran
Ca2+ b)
c)
Reuptake Inhibition
d)
g)
f) e)
. Abb. 1.1a–g Synapse mit Wiederaufnahmehemmung. a Dopamin wird synthetisiert und in Neurotransmitterbläschen gespeichert. b Die Depolarisation der präsynaptischen Membrane führt zur Öffnung der spannungsgesteuerten Kalzium (Ca2+)-Kanäle c Ca2+-Ionen fließen ins Innere der Zelle und d ermöglichen den Neurotransmitterbläschen, sich mit der präsynaptischen Membran zu vereinigen und
Dopamin kann in den synaptischen Spalt einströmen. e Dopamin bindet an die Dopaminrezeptoren der postsynaptischen Memban, wodurch exzitatorische oder inhibitorische Potenziale erzeugt werden. f die Neurotransmitterbläschen werden wiederum in die Zelle aufgenommen (reuptake). g Die Reuptake-Hemmung verursacht durch Methylphenidate
nischen Psychiatrischen Vereinigung (APA) eine Verschwörung nachzuweisen, weil sie zum eigenen Vorteil gemeinsam eine Krankheit definiert und propagiert hätten, um dafür Medikamente verkaufen zu können. Sie wollten die Beklagten zwingen, Eltern von ADHS-Kindern Entschädigungen zu bezahlen. 2003 wurde das letzte dieser Verfahren eingestellt, nachdem die Angeklagten in den zentralen Punkten entlastet worden waren. Ungeachtet dessen hat Methylphenidat über mehr als ein halbes Jahrhundert seine Stellung als Medikament der ersten Wahl für ADHS halten können. Die lange Erfahrung relativiert laut Meinung vieler Experten die Befürchtungen, dass es bei langfristiger Anwendung zu Missbrauch und Sucht und als Spätfolge zu einer parkinsonschen Erkrankung kommen könnte. Ein durch Methylphenidat entstandenes Suchtverhalten sei wissen-
schaftlich nicht dokumentiert und auch eine Zunahme von Parkinson-Erkrankungen sei nicht verzeichnet worden. Allerdings ist nicht zu leugnen, dass Ritalin längst als »Party-Droge« missbraucht wird und die Verschreibung des rezeptpflichtigen Medikaments nicht überall restriktiv erfolgt – ein Dauerthema im Schulbereich. Der rasche Anstieg des Medikamentenverbrauchs zur Behandlung von Kindern zwischen 5 und 19 Jahren – zwischen 1993 und 2003 hat sich die Zahl weltweit verdreifacht – hat daher auch bei Medizinern die Befürchtung ausgelöst, dass möglicherweise zu schnell ADHS diagnostiziert und die Störung gleichzeitig zu schnell mit Medikamenten behandelt werde. Die häufige Einnahme von Ritalin bei Studenten, die das Medikament auf dem Schwarzmarkt kaufen, wurde in den Medien als »Neurodoping« gebrandmarkt. In der
21 1.5 · Wirkungsvolle Therapien bei ADHS
Tat ist dies eine höchst problematische Entwicklung, die wahrscheinlich ebenfalls mit der großen Verunsicherung zu tun hat, wann ein Medikament verschrieben und eingenommen werden soll. Allerdings wäre es völlig verfehlt, den »Schwarzen Peter« der Ärzteschaft zu zuschieben: Der Zwang vieler junger Menschen, ein Studium erfolgreich abzuschließen, ist letzten Endes ein gesamtgesellschaftliches Problem. Seit 2007 verlangt die Arzneimittelbehörde der USA (FDA) zudem, dass bei diesen ADHS-Medikamenten darauf hingewiesen wird, dass es bei zu hohen Dosen zu Herz-Kreislauf- und psychiatrischen Problemen kommen könne, etwa zu visuellen und taktilen Halluzinationen oder verfolgungswahnartigen Gefühlen (Kraemer et al. 2010; Ross 2006; Cherland u. Fitzpatrick 1999). Sodann sind Langzeitfolgen ein wichtiges Thema, da die Medikamente nicht zu einer Heilung führen, sondern einzig helfen, sich besser zu konzentrieren und besser zu lernen. Sie werden in vielen Fällen daher lebenslang genommen. Sorgen über mögliche negative Auswirkungen der Medikamente, insbesondere bei Kindern auf die Entwicklung des Gehirns, konnten bis heute wissenschaftlich auch nicht völlig entkräftet werden und dürften die Diskussion noch lange in Gang halten. Statistisch gesichert scheint jedoch ein reduziertes Wachstum bei Kindern, die ADHS-Medikamente einnehmen. Dieses wird laut den Untersuchungen auch später nicht mehr kompensiert (Higgins 2009).
Amphetamine Amphetamine sind in drei verschiedenen Formen erhältlich: 4 Dextroamphetamine (Dexamin, Dexedrin), 4 gemischte Amphetaminsalze (Aderall) und 4 Lisdexamphetaminen (Vyvanse). Amphetamine wurden früher häufiger für Auffälligkeiten bei Aufmerksamkeit und Aktivität verschrieben. Heute werden sie nur noch selten verabreicht und sind in den europäischen Ländern weitgehend verboten.
Dextroamphetaminsulfat Dexamphetamin, das ursprünglich die Zulassung in der Schweiz für eine andere Indikation hatte, ist
1
in der Schweiz jetzt nicht mehr auf der Medikamentenliste (im Gegensatz zur USA und EU). Dexamphetamin wird bei ADHS, Typ Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität, also bei einem unteraktivierten vegetativen Nervensystem zur Aktivierung des Arousals durch Aktivierung von D2-Rezeptoren im Striatum, mit sekundärer Noradrenalinfreisetzung, eingesetzt. Amphetamine steigern die Wachheit (Vigilanz und Aufmerksamkeit) und verstärken die Geräusch-/Lärmdifferenzierung, was für die Wahrnehmungsfilterung und Organisation von Kognitionen und Verhalten essenziell ist. Methylphenidat hingegen erhöht die Dopaminkonzentration, wie oben dargestellt wurde, in den Synapsen durch Blockade der Wiederaufnahme (. Abb. 1.1). Ungefähr 15% der Menschen mit ADHS sprechen in der Regel erfolgreich auf Dexamphetaminsulfat an. Da die Wirkungsweisen und -orte im ZNS von Methylphenidat und Dexamphetamin verschieden sind, kann Dexamphetamin auch nicht mit Methylphenidat beliebig ausgetauscht werden. Es zeigt sich aber auch in anderen Studien, dass Dexamphetaminsulfat bezüglich Ansprechrate und Nebenwirkungen dem Methylphenidat mindestens gleichwertig, wenn nicht sogar überlegen ist (Arnold 2000). Die Behandlung mit Dexamphetamin ist kostengünstig. ! Bei peripherer und pulmonalarterieller Hypertonie und kardiovaskulären Leiden ist das Medikament kontraindiziert. Blutdruck und Puls müssen vor der Verabreichung auf Normalität untersucht werden.
Gemischte Amphetaminsalze Gemischte Amphetaminsalze beinhalten gleiche Teile von Dextroamphetaminsulfaten, Dextro-/Levoamphetaminsulfaten, Dextroamphetaminaspartate, Levoamphetaminaspartat und Dextroamphetaminsaccharat. Die beiden Isomere haben unterschiedliche pharmakologische Eigenschaften. Die Wirkungsweise der Isomere bei ADHS ist noch ungeklärt. Die Effektivität der gemischten Amphetaminsalze ist bei jüngeren Kindern durch Befragung von Eltern und Lehrpersonen (Ahmann et al. 2001) und bei Erwachsenen durch Einstufungsskalen des
22
1
Kapitel 1 · ADHS heute – Diagnose und Therapien in der Praxis
spezifischen und globalen Befindens (Spencer et al. 2001) dokumentiert. Beides waren Doppelblindstudien. Allerdings ist erstaunlich, dass in der Studie von Spencer relativ wenige Versuchspersonen (n=27) untersucht wurden. Weiter kann bemängelt werden, dass in beiden Studien keine Veränderungen bei biologischen Markern kontrolliert wurden. Das Medikament mit dem Markennamen Adderall enthält ähnlich wie die OROS-Technologie schnell wirkende und später wirkende Anteile. ! Wie alle Amphetaminpräparate hat Adderall einen starken Einfluss auf die Zunahme des Blutdruckes. Bei Kindern und Erwachsenen mit Auffälligkeiten bezüglich Blutdruck, Puls und kardiovaskulären Eigenschaften darf das Medikament nicht abgegeben werden.
Lisdexamphetamin Im Zuge der Suche nach einer Substanz, die nach Möglichkeit kein oder nur ein sehr geringes Missbrauchspotenzial hat, wurde Lisdexamphetamin entwickelt, das als D-Amphetamin-Prodrug fungiert. Das D-Amphetamin ist dabei amidartig mit der natürlich vorkommenden Aminosäure L-Lysin verknüpft. Die Verbindung ist zunächst pharmakologisch inaktiv und wird erst im Verdauungstrakt langsam unter Freisetzung von Amphetamin hydrolisiert, wobei die Wirksamkeitsdauer für einen ganzen Tag reicht. Die Ergebnisse von Studien mit 6- bis 12-Jährigen und unterschiedlichen Dosierungen (30, 50 und 70 mg) belegten im Vergleich zu einem Placebo eindeutig eine Verbesserung der ADHS-Symptomatik. Brown et al. (2010) haben positive Effekte von Lisdexamphetamin auf die exekutiven Funktionen beobachten können. ! Wie bei allen anderen Amphetaminmedikamenten ist es Vorschrift, Blut, Blutdruck und kardiovaskuläre Eigenschaften ständig zu kontrollieren. Ebenfalls scheint das Medikament Einfluss zu haben auf Wachstum und Gewichtszunahme (Faraone et al. 2010).
auf Atomoxetin zurückgegriffen. Atomoxetinhydrochlorid (Markenname Strattera) wurde als Antidepressivum entwickelt, erwies sich bei Depressionen jedoch als nicht wirksam. Es scheint aber die Wiederaufnahme von Noradrenalin aus dem synaptischen Spalt selektiv zu hemmen und ähnelt in seiner Struktur dem Antidepressivum Fluoxetin, einem selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI). Atomoxetin hat keine direkte Wirkung auf den Serotonin- und Dopaminhaushalt (Arzneimittel-Kompendium der Schweiz 2011). Als Vorteil wird jedoch gesehen, dass es, im Gegensatz zu Methylphenidat und Dexamphetamin kein Psychostimulans ist und damit kein Missbrauchspotenzial besteht. Allerdings musste die Herstellerfirma Eli Lilly 2005 eine Warnung erlassen, wonach bei rund 1300 ADHS-Kindern im Alter von 7–12 Jahren, die mit Strattera gegen ADHS behandelt wurden, eine statistisch signifikant höhere Selbstmordrate (5 Suizidgedanken bzw. 1 Suizidversuch) festgestellt worden ist als bei den mit Placebo behandelten ca. 850 Kindern. Zudem hat im selben Jahr die britische Arzneimittelaufsichtbehörde vor selten auftretenden schweren Leberschäden gewarnt. Das Medikament, das auch für Erwachsene zugelassen ist, darf zudem nicht gleichzeitig mit bestimmten Antidepressiva (Monoaminooxydase(MAO-)Hemmern) eingenommen werden. Atomoxetin ist in den USA seit 2002, in Deutschland seit Ende 2004, in Österreich seit 2006 und in der Schweiz seit dem Frühjahr 2009 zugelassen.
Venlaflaxin Eine weitere Medikamentengruppe basiert auf der Substanz Venlaflaxin [Markennamen Efectin (A), Efexor (CH), Trevilor (D) sowie Generika], einem neuartigen Antidepressivum für Erwachsene, das 1993 auf den Markt kam (Fa. Wyeth, jetzt Fa. Pfizer). Es handelt sich um ein modernes Antidepressivum, einen selektiven Serotonin-Noradrenalinwiederaufnahmehemmer (SSNRI), der auch die Dopaminaufnahme leicht hemmt. Venlaflaxin soll allerdings nicht bei Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren eingesetzt werden.
Atomoxetin Erweist sich Methylphenidat oder ein Amphetaminpräparat als nicht erfolgreich, was in etwa einem Drittel der Fälle zutrifft, wird heute vielfach
Weitere Medikamente Daneben gibt es verschiedene andere Medikamente, die gelegentlich beim ADHS eingesetzt wer-
23 1.5 · Wirkungsvolle Therapien bei ADHS
1
Neben den Medikamenten wird von amerikanischen Kinderärzten zurzeit die Verhaltenstherapie in die Kategorie »beste Unterstützung« eingestuft. Die bisher größte Vergleichsstudie von Kindern mit ADHS des kombinierten Typs wurde vom National Institute of Mental Health in den USA in den 1990er Jahren in Auftrag gegeben.
Die Gruppe jener Kinder, die sowohl mit Medikamenten behandelt worden waren als auch eine Verhaltenstherapie erhalten hatten, erzielte dagegen in 12 von 19 Bewertungskategorien die besten Noten, während das für die Gruppe, der nur mit Medikamenten behandelten Kinder, lediglich für 4 Bewertungskategorien der Fall war. Anderseits war die Wirksamkeit der Verhaltenstherapie allein gering. Die Symptome in dieser Gruppe hatten sich gegenüber Kindern der Kontrollgruppe, die im Rahmen der MTA-Studie nur beobachtet wurden, jedoch die gängige Behandlung kommunaler psychiatrischer Gesundheitsdienste erhalten hatten (rund zwei Drittel erhielten dabei auch Medikamente, allerdings etwas geringere Mengen als die »Medikamentengruppe«) nur wenig verbessert. Während der 14 Behandlungsmonate waren all diese Unterschiede aber deutlich messbar. Nach Absetzen der Medikamente, bzw. der Therapie schwächte sich der Unterschied zwischen den beiden Gruppen ebenso wie die Wirkung innerhalb weniger Jahre jedoch generell ab, nach 8 Jahren waren keine Unterschiede zwischen den Gruppen mehr messbar (Molina et al. 2009). Sie schnitten aber alle schlechter ab als eine Vergleichsgruppe von Kindern, die kein ADHS hatten. Das bedeutet, dass meist eine lange anhaltende Therapie notwendig und sinnvoll ist.
Die MTA-Studie
Indikation zur Verhaltenstherapie
Insgesamt 579 Kinder im Alter zwischen 7 und 9,9 Jahren wurden Ende der 1990er Jahre während 14 Monaten auf unterschiedliche Arten behandelt. Diese »Multimodal Treatment Study of Children with ADHS« (MTA) zeigt, dass die Kernsymptome von ADHS in der Beurteilung von Eltern und Lehrern mit einem sorgfältig aufgestellten Medikamentenregime direkt nach Abschluss der Versuchsphase klar stärker zurückgingen als mit einer reinen Verhaltenstherapie. Die Kinder dieser Medikamentengruppe schnitten praktisch gleich gut ab, wie jene Kinder, die sowohl Medikamente wie auch die Verhaltenstherapie erhielten. Bei allen anderen Aspekten, z. B. störrisches Verhalten, den Beziehungen zu den Gleichaltrigen oder schulischer Erfolg, unterschieden sich die reine Medikamentengruppe und die reine Verhaltenstherapiegruppe jedoch nicht signifikant.
Die Verhaltenstherapie gewinnt an Bedeutung, da es nach wie vor auch unter den Experten ein Unbehagen über mögliche Spätfolgen gibt bei langfristiger Einnahme von Medikamenten, die den Haushalt der Neurotransmitter beeinflussen. Verschiedene Ärzte und Forscher empfehlen heute einen zurückhaltenderen Einsatz von Stimulanzien wie Ritalin; einige wollen enger und klarer definierte Diagnosekriterien und dass nur noch jenen Patienten solche Medikamente verschrieben werden, die diese Kriterien wirklich erfüllen. Andere votieren für eine Verhaltenstherapie als die erste Maßnahme (Higgins u. George 2007). Verhaltenstherapien basieren auf einer bewussten Strukturierung des Alltags und der Abläufe. Zusammen mit dem Therapeuten werden zuerst diese Abläufe und allfällige Probleme dabei analysiert und dann gemeinsam Ziele für das Verhalten
den (z. B. Clonidin, Guanfacine), auf die hier aber nicht im Einzelnen eingegangen werden soll. Die Frage nach dem geeignetsten Medikament stellt sich bei Erwachsenen zum Teil etwas anders. Eine ausführliche Diskussion zu diesem Thema findet sich im 2009 neu aufgelegten Buch ADHS im Erwachsenenalter (Krause u. Krause 2009). Zusätzlich gibt es verschiedene Versuche mittels homöopathischen Arzneimitteln. Obwohl bei verschiedenen Wirkstoffen, wie z. B. Omega-nFettsäuren, Studien gemacht wurden, die eine Wirksamkeit bei ADHS belegen, wird nicht weiter auf diese Medikamente eingegangen. Die Untersuchungslage ist unklar, oft abhängig von der Motivation des Untersuchenden selbst. Hinweise auf die Wirkung dieser Präparate auf Biomarker sind nicht bekannt.
1.5.4
Kognitive Verhaltenstherapien
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1
Kapitel 1 · ADHS heute – Diagnose und Therapien in der Praxis
gesetzt, z. B. immer die gleichen Abläufe vor dem in die Schule gehen. Das Einhalten dieser strukturierten Abläufe wird mit kleinen in den Ablauf eingebauten Belohnungen eingeübt und gefestigt. So werden etwa eine angemessene Strukturierung des Tages, eine schrittweise Vorgehensweise bei schwierigen Aufgaben oder andere Techniken zur Bewältigung schwieriger Situationen eingeübt. Auch für erwachsene ADHS-Patienten wurden entsprechende Verhaltenstherapieprogramme entwickelt (Safren 2005; Safren u. Sobanski 2009).
1.5.5
Selbstinstruktionen
Ebenfalls in der höchsten Kategorie der Empfehlungen der amerikanischen Kinderärzte figuriert die Selbstinstruktionstechnik (»self-verbalization«). Dabei geht es darum, Verhaltensweisen, die man erlernen oder im Leben etablieren möchte, immer wieder verbal ins Gedächtnis zu rufen. Es wird ein inneres Sprechen trainiert mit dem Ziel, das Lösen von Problemen oder schwierigen Situationen zu erleichtern. D. h., der Patient fragt sich regelmäßig, was will ich genau? Wie gehe ich das an? Wie kann ich das in kleine Schritte aufteilen? Und Ähnliches. Nicht allein die amerikanischen Pädiater, auch eine Gruppe deutscher Wissenschafter, die einen Selbstinstruktionsansatz entwickelt haben und damit arbeiten, beurteilen das Selbstinstruktionstraining als wirksam für ADHS-Patienten (Döpfner et al. 1997; Döpfner et al. 2006). Die Autoren dieses Buches konnten aber in ihren Erfahrungen eine derartige positive Wirkung nicht bestätigen. Zwar funktioniert der Selbstinstruktionsansatz gut, solange die Betroffenen präsent sind, d. h. sich in einem Zustand hoher Aktivierung (Vigilanz und Arousal) befinden. In diesen Situationen ist jedoch meist keine Selbstinstruktion notwendig. Sobald ein Kind jedoch danach z. B. zu spielen beginnt und in seine Welt versinkt, verschwinden auch die Selbstinstruktionen wieder.
1.5.6
Training des Arbeitsgedächtnisses
Nicht zu den Verhaltenstherapien im engeren Sinn sind die Methoden zu zählen, die das Arbeitsgedächtnis gezielt trainieren. Vor allem der Schwede Klingberg hat in diesem Bereich Pionierarbeit geleistet. Seine Methode, die er inzwischen über die von ihm zusammen mit anderen 2001 gegründete Fa. Cogmed (7 www.cogmed.com) lizenzierten Experten zur Verfügung stellt, basiert auf der Erkenntnis, dass das Arbeitsgedächtnis zu den für Handlungen und Kontrolle wichtigen Exekutivfunktionen des Gehirns gehört, die nach heutigem Wissensstand auch bei ADHS eine zentrale Rolle spielen. Ein Training des Arbeitsgedächtnisses stärkt daher auch die Exekutivfunktionen und damit die Steuerung des Verhaltens generell. Während im Frühjahr 2009 Wissenschafter in der Wissenschaftszeitschrift Nature berichteten, sie hätten in einer Untersuchung keine Belege dafür gefunden, dass die kommerziell verfügbaren Hirntrainingsprogramme sich auch positiv auf nicht im Programm trainierte Aufgaben auswirken, publizierte Klingberg praktisch gleichzeitig im Wissenschaftsmagazin Science Daten, die zeigten, dass sich bei 13 männlichen gesunden Freiwilligen nach Absolvierung eines fünfwöchigen Trainings die Dichte der Dopaminrezeptoren verändert hatte (McNab et al. 2009, McNab u. Klingberg 2008; McNab et al. 2008). Allerdings setzt das Training von Klingberg 3- bis 4-mal soviel Zeit pro Tag voraus, als die von den Autoren in der Zeitschrift Nature bewerteten Trainingsprogramme, nämlich während 5 Wochen 5-mal 30–45 min. Im Nature-Artikel war die Anzahl der Trainingseinheiten zwar vergleichbar, die Länge einer Einheit jedoch nur mindestens 10 min. Die Autoren der Nature-Veröffentlichung schlossen denn auch nicht aus, dass ein intensiveres Training allenfalls Wirkung zeitigen könnte. Konkret werden zu Beginn des Trainings, das mit Aufgaben erfolgt, die am Computer zu lösen sind und deren Erledigung mit Belohnungen honoriert wird, in einer Startsitzung mit einem lizenzierten Trainer Ziel, Verlauf und Kontrolle der Therapie festgelegt. Wichtig ist, dass die Trainingszeit von 5–6 Wochen mit den fünfwöchentlichen Sitzungen durchgehalten und bei Kindern auch von
25 1.5 · Wirkungsvolle Therapien bei ADHS
einer Betreuungsperson überwacht wird. Das Programm wird mit einer speziellen Software zu Hause durchgeführt, die Ergebnisse dann zentral auf einem Server gespeichert, sodass sie sowohl für den Trainierenden als auch für den Trainingscoach einsehbar sind. Dadurch können die Erfolge durch den Trainer und einen Coach beobachtet werden und die Erfahrungen ins Coaching des Patienten einfließen. Ohne ein konsequentes Einhalten der festgelegten Sitzungen kann jedoch nicht mit einem Fortschritt der Behandlung gerechnet werden.
1.5.7
Neurofeedback
Eine weitere Gruppe von Methoden, die immer häufiger angewandt wird, sind Biofeedbackmethoden, im ADHS-Bereich vor allem Neurofeedback. Deren Wirksamkeit galt bis vor wenigen Jahren allerdings als nicht gesichert. Es gab zwar eine Vielzahl von Artikeln zu Einzelfällen, aber praktisch keine statistisch auswertbaren Studien von groß angelegten Untersuchungen mit Kontrollgruppen. In den letzten Jahren gelang es jedoch unter anderem drei Untersuchungsgruppen im deutschsprachigen Raum fundiert zu belegen, dass Neurofeedback tatsächlich einen hohen Behandlungserfolg aufweist (Arns et al. 2009; Heinrich et al. 2007; Strehl et al. 2006; außerdem Gevensleben et al. 2009, 2010; Wangler et al. 2011). Auch in der Liste der amerikanischen Pädiater ist die Methode inzwischen auf Stufe 2 (gute Unterstützung) vorgerückt.
Frühe Erfahrungen Das Neurofeedback hat seine historischen Wurzeln zum einen in den Erkenntnissen von Petrovich Pawlow, der am Institut für experimentelle Medizin in St. Petersburg 1910–1930 die Bedeutung von konditionierten Reflexen für das Verhalten von Tieren studierte, und zum anderen in der gleichzeitigen Einführung des Feedbacksystems in die Biologie durch den amerikanischen Mathematiker Norbert Wiener und den mexikanischen Arzt und Physiologen Arturo Rosenblueth. Zusammen mit dem amerikanischen Elektroingenieur Julian Bigelow legten Wiener u. Rosenblueth in einem Artikel 1943 die Basis für die Disziplin der Kybernetik. In den späten 1960er Jahren entwickelte Nikolay N.
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Vasilevsky, der am selben Institut wie zuvor Pawlow tätig war und die zellulären Mechanismen des Biofeedbacks studierte, eine revolutionäre Methode zur willentlichen Selbststeuerung von biologischen Prozessen im Körper. Sie wurde später zur bewussten Steuerung des Herzschlags bei Kosmonauten weiterentwickelt. Gleichzeitig begann Joe Kamyia, ein Psychologe an der University of Chicago damit, Probanden die gezielte Verstärkung von Alphawellen durch ein entsprechendes Feedback beizubringen. Ein Artikel 1968 über seine Arbeiten in Psychology today führte zu einem Boom von Arbeiten in diesem Gebiet. Ein Mangel an Alphawellen wird heute mit Ängstlichkeit und der Unfähigkeit, zu entspannen in Verbindung gebracht. Ein spezielles Alpha-/Thetatraining wird inzwischen z. B. bei der Entwöhnung von Alkohol eingesetzt. Auch Elmer Green, der in den 1960er Jahren zusammen mit seiner Frau Alyce Biofeedbacktrainings, z. B. gegen Migräne, entwickelte, studierte an der Menninger Klinik in Kansas den Zusammenhang zwischen Hirnwellen und Entspannungszuständen und arbeitete unter anderem mit östlichen Yogis. Er entdeckte, dass diese ihre Hirnzustände in der Meditation bewusst steuern können. Neurofeedback machte damit in der »FlowerPower-Zeit« auch als eine andersartige Droge Karriere.
Sensomotorische Rhythmen Maurice Barry Sterman experimentierte gleichzeitig an der University of California in Los Angeles (UCLA) mit Katzen, denen er mit Belohnungsmethoden beibrachte, ihre Hirnfrequenzen zu regulieren. Er entdeckte dabei ein Wellenfrequenzband im Gehirn der Katzen, das mit höchster Aufmerksamkeit einherging und das er sensomotorischen Rhythmus nannte (SMR). Ein Training dieser Hirnfrequenzen schützte, wie er zufällig entdeckte, die Tiere unter anderem vor experimentell ausgelösten epileptischen Anfällen. Mit einem analogen Training gelang es ihm, eine Frau von ihren epileptischen Anfällen zu befreien. Wenig später beobachtete Joel Lubar von der University of Tennessee in Knoxville, dass mit SMR-Neurofeedback behandelte Patienten insgesamt aufmerksamer und ruhiger wurden, und kam auf die Idee, die Methode auch bei ADHS-Patienten einzusetzen.
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Kapitel 1 · ADHS heute – Diagnose und Therapien in der Praxis
In den 1970er Jahren geriet die inzwischen offiziell Biofeedback genannte Methode allerdings in Misskredit. Dies geschah unter anderem, weil sie zum Teil missbraucht und klinisch zu rasch und zu wenig sorgfältig eingesetzt wurde. Es wurden Zweifel an ihrer Wirksamkeit laut (Müller et al. 2011). Die Erforschung von Methoden mit Biofeedback, heute meist EEG-Biofeedback oder Neurofeedback genannt, ging jedoch weiter. Inzwischen liegt eine Vielzahl von Fallstudien vor, in denen von Patienten berichtet wird, die mit verschiedenen Neurofeedbackmethoden erfolgreich behandelt wurden. Das gilt auch für ADHS-Patienten.
Das Prinzip von EEG-Biofeedback Das Prinzip von Neurofeedbacktechniken ist einfach: Man analysiert die Hirnwellen des Patienten und stellt fest, wo unerwünschte Abweichungen gegenüber der Norm vorliegen. In diesem Bereich (Frequenz und Position der Elektrode) wird der momentane Zustand der entsprechenden Aktivität dem Probanden in einer geeigneten Form sichtbar gemacht, z. B. in einem Computerspiel als Höhe eines Balles auf einem Bildschirm oder als unerwünschtes Rauschen in einem Bildsignal. Der Patient versucht nun, durch eine Veränderung seines mentalen Zustandes diesen Ball auf eine bestimmte Höhe des Bildschirms zu heben, bzw. ihn auf Befehl hin wieder sinken zu lassen – oder das Rauschen im Bild zu reduzieren, um das Bild klarer zu sehen. Praktisch allen Probanden gelingt es, diese Steuerung der Hirnaktivitäten nach einigen Versuchen mit der Zeit auch tatsächlich zu lernen. Bei einem erfolgreichen Manövrieren des Balles erhält der Patient eine Belohnung – oder beim Rauschen auf dem Bildschirm sieht er das Bild endlich klar.
Unterschiedliche Protokolle Die einzelnen Therapieprotokolle unterscheiden sich aber nicht nur in der Art, wie der Aktivierungszustand des Gehirns auf ein sichtbares Signal umgerechnet wird. Es werden auch unterschiedliche Hirnbereiche und -frequenzen angesteuert und zu beeinflussen versucht. Verbreitet ist das Training von sog. sensomotorischen Rhythmen (SMR-Training), dessen Wirkung bei ADHS Lubar bereits vor Jahrzehnten entdeckt hatte. Die senso-
motorischen Rhythmen sind nach dem Areal benannt, über welchem die für diese Rhythmen wichtigen Elektroden liegen (C3 und C4). Sie befinden sich zuoberst auf dem Kopf über der Zentralfurche (Rolando-Furche, Sulcus centralis). Sie werden daher auch rolandische Rhythmen genannt und liegen beim Menschen im Frequenzband von 9–13 Hz (bei Katzen, die Sterman ursprünglich untersuchte, umfassen die Rhythmen ein Frequenzband von 12–15 Hz). Die sensomotorischen Rhythmen beim Menschen (auch Murhythmen), da ihre Form an den griechischen Buchstaben μ erinnert, liegen im Bereich hoher Alphafrequenzen (8–13 Hz), allenfalls tiefer Betafrequenzen (ab 13 Hz). In einem entspannten Zustand sind die Rhythmen stärker als bei einer Anspannung der Muskeln. Inzwischen wurde deutlich, dass ein SMR-Training effizienter ist, wenn etwas höherfrequente Wellen, die im Betaband liegen, verstärkt werden und dagegen versucht wird, niederfrequente Wellen im Thetabereich (4–8 Hz) zu reduzieren. Je nach Forschergruppe kommen jedoch verschiedene leicht abweichende Protokolle zum Einsatz (Gevensleben et al. 2010; Gevensleben et al. 2009).
Slow cortical potentials Neurofeedback wird aber auch in anderen Frequenzbereichen angewandt, insbesondere im Bereich der langsamen Hirnrindenpotenziale (»slow cortical potentials«, SCP). Das sind sehr tiefe Frequenzen der Hirnrinde, die von einem konventionellen Elektroenzephalogramm gar nicht mehr erfasst werden (< 0,1 Hz). Es wird davon ausgegangen, dass die Erregbarkeit der Hirnrinde mit diesen langsamen Wellen verknüpft ist und es mittels eines entsprechenden Neurofeedbacktrainings möglich ist, diese gezielt zu steuern. Gleich zwei deutsche Forschungsgruppen (Strehl et al. 2006; Gevensleben et al. 2009) haben 2006 und 2009 Studien veröffentlicht, die die Wirksamkeit von Neurofeedbackprogrammen, die auch »slow cortical potentials« umfassen, bei Kindern dokumentieren. Mit ultralangsamen Rhythmen arbeiten seit längerem auch Susan und Siegfried Othmer, die seit Jahren ihr eigenes EEG-Institut in Los Angeles betreiben. Sie haben eine eigene Methode entwickelt, die auf der Annahme basiert, dass die subjektive Re-
27 1.5 · Wirkungsvolle Therapien bei ADHS
aktion des Patienten auf Neurofeedback eine zentrale Rolle spielt. Sie passen die Neurofeedbackparameter daher entsprechend den Gefühlen an, mit denen der Patient auf das Neurofeedback reagiert.
Review und Metaanalyse von EEG-Biofeedback Eine Metastudie, in die 15 Untersuchungen und knapp 1200 Personen einbezogen waren, ergab 2009 (Arns et al. 2009), dass beide der oben dargestellten Arten von Neurofeedback eine große Wirkung bei Unaufmerksamkeit und Impulsivität hatten, nur eine mittlere jedoch bei Hyperaktivität. Keine Unterschiede konnten dagegen zwischen den verschiedenen Protokollen gefunden werden. Als Gegenargument wurde jedoch von manchen Spezialisten mit Blick auf die Gesundheitspolitik ins Feld geführt, dass die Kosten für Neurofeedback sehr viel höher seien als für die Medikamente. Was den Vergleich der Neurofeedbackmethoden mit der Wirkung von Medikamenten angeht, hatte übrigens bereits 2003 Jahren eine sorgfältige Studie gezeigt, dass Medikamente laut der Befragung von Eltern und Lehrern zwar schneller wirkten als das Neurofeedback (Fuchs et al. 2003), nach einem Jahr waren die Unterschiede zwischen Methylphenidat- und Neurofeedbackpatienten (SMR-Feedback) jedoch verschwunden. Sowohl in der Befragung wie in Aufmerksamkeitstests hatten sich beide Gruppen signifikant verbessert.
1.5.8
Elternprogramme – Erziehungsprogramme
Die Unterstützung der Eltern in der Erziehung ihres ADHS-Kindes ist in jedem Fall eine lohnenswerte Intervention, denn diese Kinder stellen ihre Eltern vor häufig fast unlösbare Aufgaben. Ihr Verhalten provoziert oft dermaßen, dass Eltern – gleich welcher Herkunft und Vorbildung – sehr häufig an den Rand ihrer Möglichkeiten kommen.
ADHS-Unterstützungsprogramm für Eltern nach Barkley Elternprogramme sind von verschiedener Seite entwickelt worden. Barkley, sicher der Pionier und Vordenker im ADHS Bereich, hat selbst ein spezi-
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fisches Elterntrainingsprogramm für Eltern mit ADHS entwickelt (Barkley u. Wengenroth 2005).
Haim Omer: Die gewaltlose Erziehung durch Präsenz Ein weiterer expliziter Ansatz, Eltern von Kindern mit ADHS zu unterstützen, stammt aus der systemisch therapeutischen Gruppe, gestützt von den Forschungsergebnissen Omers. Dieser Ansatz stellt die erzieherische Präsenz von Lehrpersonen und Eltern in den Mittelpunkt ihrer Arbeit. Die Präsenz und Bereitschaft der Eltern soll dem Kind Unterstützung und Lenkung in jenen Bereichen vermittelten, die die Biologie ungenügend oder nicht entwickelt hat. Die Interaktion ist gewaltfrei und nicht hierarchieorientiert. Die Präsenz ersetzt gewissermaßen die Hierarchie (Omer u. Schlippe 2004; Omer u. Schlippe 2002).
Triple P: positive parenting program Ein weiteres Programm, das Eltern von ADHSKindern oft anwenden, nennt sich Triple P (PPP: »positive parenting program«). Triple P wurde in Australien an der Universität von Queensland von Sanders als positives Erziehungsprogramm entwickelt. Für deutschsprachige Verhältnisse hat eine Forschergruppe der Universität Braunschweig eine adaptierte Version erarbeitet. Triple P basiert auf dem aktuellen Forschungsstand der Lerntheorie und der Verhaltenstherapie. Die Wirksamkeit des Programms wird wissenschaftlich überprüft. Triple P ist ein einfaches und konkretes Programm, das die Eltern in bestimmten Situationen darin unterstützt, wie sie effektiv mit alltäglichen Erziehungssituationen umgehen können. Während des Kurses werden konkrete Strategien erarbeitet, die die Eltern in ihrer Erziehungskompetenz unterstützen. Dabei werden den Eltern konkrete Handlungsmöglichkeiten mit auf den Weg gegeben, wie sie möglichst einfache, klare und dennoch kindbezogene Erziehungsmethoden zu Hause umsetzen können (Sanders et al. 1999; Nestle 2008).
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28
Kapitel 1 · ADHS heute – Diagnose und Therapien in der Praxis
1.5.9
Ergotherapie und psychomotorische Therapien
Eine wesentliche Schwierigkeit von ADHS-Kindern im Vorschulalter – sowie während der ersten Schuljahre – ist die Handlungsinitiierung und -kontrolle in verschiedensten Situationen des Alltags. Hier setzt die Ergotherapie geschickt an, in der Kinder lernen, das sensorische System mit dem Aufmerksamkeits- und dem exekutiven System zu integrieren. Dadurch lernen sie wesentliche Aspekte in der Bewältigung des Alltags: Handlungen richtig zu planen, sich angemessen zu steuern und die Handlung zu kontrollieren. Vor allem auch in Deutschland ist zu beobachten, dass sich Ergotherapeuten zunehmend mit der neurobiologischen Stimulation auseinandersetzen (z. B. Neurofeedback) und diese Techniken im Alltag erfolgreich einsetzen.
29
ADHS – Hintergründe Kapitel 2
Geschichte – 31
Kapitel 3
ADHS-Forschung heute – funktionelle Neuroanatomie – 39
Kapitel 4
Funktionelle Gehirnsysteme – 65
Kapitel 5
Genetik und Neurotransmitter – 81
Kapitel 6
Neuropsychologie – 91
Kapitel 7
Theorien und Modelle – 105
31
Geschichte 2.1
Erste Beschreibungen – 32
2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.1.5 2.1.6
»Zappel-Philipp« und »Hanns Guck-in-die-Luft« – 32 Das zeitgeschichtliche Umfeld – 32 Frühe Erklärungen – 33 Die Entdeckung von Ritalin als Medikament der Wahl – 36 Eine Vielzahl von Namen – 36 Neue Diagnosetechniken bringen wieder neue Bezeichnungen – 37
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2
32
Kapitel 2 · Geschichte
2.1
Erste Beschreibungen
2.1.1
»Zappel-Philipp« und »Hanns Guck-in-die-Luft«
Auch wenn die Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) vor allem in den letzten zwei, drei Jahrzehnten ins Bewusstsein breiter Bevölkerungskreise gedrungen ist und vielfach im Zusammenhang mit einer hektischen Lebensweise mit vielen Ablenkungen gesehen wird, sind viele Fachleute überzeugt, dass es sich keineswegs um ein neues Phänomen handelt. Die erste, wenn auch indirekte Beschreibung von ADHS, auf die immer wieder Bezug genommen wird, stammt aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Der in Frankfurt praktizierende Mediziner Heinrich Hoffmann (1809– 1894), ab 1851 Direktor der Frankfurter »Anstalt für Irre und Epileptische«, war nicht nur ein begnadeter Arzt, sondern auch politisch engagiert und betätigte sich nebenbei als Schriftsteller. Zudem war er ein guter Pädagoge, der seine kleinen Patienten unter anderem mit Zeichnungen und kurzen Gedichten in seinen Bann zu nehmen versuchte. Hoffmann gehörte zu den fortschrittlichsten Nervenärzten seiner Zeit. Heute kennt man ihn jedoch vor allem als den Autor des Struwwelpeter, einem Klassiker unter den Kinderbüchern, der zwischenzeitlich in 40 Sprachen und über 70 deutsche Dialekte übersetzt wurde. Das Buch wurde allein im Verlag Rütten & Loening, der bis 1925 über die alleinigen Rechte dafür verfügte, über 600-mal aufgelegt. Das Bändchen, mit eigenen Illustrationen versehen, enthält neben den in Versform erzählten Geschichten über den Struwwelpeter oder den Suppen-Kaspar auch jene über Hanns Guck-indie-Luft und den Zappel-Philipp. Die beiden Letzteren werden als Beschreibung von ADHS-Kindern interpretiert, der Zappel-Philipp, der schließlich das Tischtuch mit dem Essen vom Tisch zieht, wegen seiner Hyperaktivität, Hanns Guck-in-die-Luft, wegen seiner Verträumtheit, dem Aufmerksamkeitsdefizit, das ihn schnurstracks in den Fluss marschieren lässt (. Abb. 2.1). Der Struwwelpeter war allerdings nicht als Beschreibung einer bestimmten Patientengruppe gedacht, sondern als Weihnachtsgeschenk für Hoffmanns dreijährigen Sohn. Die erste Auflage mit
dem Titel Lustige Geschichten und drollige Bilder erschien unter dem Pseudonym »Reimerich Kinderlieb«. Die Urfassung des Struwwelpeter von 1845 enthielt sechs Geschichten, für die 28. Auflage 1859 kamen nochmals vier Geschichten hinzu. Die Zeichnungen des anhaltend populären Kinderbuches zeigen charakteristische Situationen, die den Alltag einer Familie mit einem ADHS-Kind prägen können: Der Vater, der mit der provozierenden Frage »ob der Philipp heute still wohl bei Tische sitzen will?« und erhobenem Zeigefinger das Mittagessen beginnen will, schaut im ersten Bild streng zu seinem Sohn. Das Kind zappelt vor sich hin, der Vater klopft mit dem Messer auf den Tisch. Im zweiten Bild verliert Philipp das Gleichgewicht und hält sich am Tischtuch fest, der Vater versucht, die vom Tisch gleitende Decke festzuhalten – vergeblich. »Und die Mutter blicket stumm auf dem ganzen Tisch herum«, gleichzeitig versucht sie im dritten Bild dem Vater Einhalt zu gebieten, der aufgestanden ist und seine Arme bedrohlich gegen den Knaben erhoben hat, denn »beide sind gar zornig sehr, haben nichts zu essen mehr«. Hoffmann hat mit der Geschichte eine Metapher geschaffen, die sowohl die Eigenart eines von ADHS betroffenen Kindes darstellt als auch die soziodynamische Situation, in dem es sich oft befindet.
2.1.2
Das zeitgeschichtliche Umfeld
Die starke Aufmerksamkeit, die das Phänomen des unruhigen oder verträumten Kindes damals erhielt, hing nicht zuletzt mit der gesellschaftlichen Situation Mitte des 19. Jahrhunderts zusammen. Es war nicht einfach als Krankheit des Individuums allein aufgefallen. Vielmehr gab es einen unmittelbaren Zusammenhang mit den Lebensbedingungen im Zeitalter der fortschreitenden Industrialisierung, die gleichzeitig schlechte Arbeitsbedingungen und soziale sowie politische Unruhe brachte. Dies zeigte unter anderem die deutsche Diskussion im auslaufenden 19. Jahrhundert. Die Ideale des deutschen Imperialismus unter Kaiser Wilhelm II. und der Zeitgeist des Sozialdarwinismus, der auf die bahnbrechenden Publikationen des britischen Naturforschers Charles Darwin (1809–1882) zur Evolutionsbiologie ab 1859 folgte, hatten im Rahmen der ge-
A. Müller et al., ADHS Neurodiagnostik in der Praxis, DOI 10.1007/978-3-642-20062-5_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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33 2.1 · Erste Beschreibungen
sellschaftlichen Entwicklung auch Auswirkungen auf Familie und Schule: Es waren nun Tugenden gefragt wie Ordnung, Pünktlichkeit und Selbstbeherrschung. Daher begannen die unruhigen Kinder stärker aufzufallen als zuvor; sie konnten den geltenden Anforderungen nicht entsprechen. Der deutsche Philosoph und Pädagoge Ludwig von Strümpell (1812–1899) klassierte Unruhe und Unaufmerksamkeit 1890 nun als konstitutionellen Charakterfehler (Seidler 2004).
2.1.3
Frühe Erklärungen
Mentale Störungen als Erkrankungen des Gehirns In der gleichen Zeit wie Hoffmann die erste Fassung des Struwwelpeter veröffentlichte, erschien 1845 von seinem Landsmann, dem aus Stuttgart stammenden Wilhelm Griesinger (1817–1868) das Buch Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten. Darin machte er deutlich, dass er mentale Störungen als Erkrankungen des Gehirns einstufte. Griesinger, der sich in Paris weitergebildet hatte, wird zu den Pionieren der Hirnforschung gezählt. Er erklärte zum Beispiel als einer der Ersten Demenz als eine Erkrankung des Gehirns (Finger 1994). In seinem 1882 auch ins Englische übersetzten Lehrbuch bezeichnete er das Gehirn als »psychisches Organ« und seine Funktionsstörungen als »psychische Krankheiten«. Er schrieb über Kinder, die »keinen Augenblick Ruhe halten … und gar keine Aufmerksamkeit zeigen« hätten eine »nervöse Konstitution« und litten unter einer gestörten Reaktion des Zentralorgans (Seidler 2004).
Hypermetamorphosis – eine Reizüberflutung Der Breslauer Arzt Heinrich Neumann (1814– 1884) sah dagegen das Phänomen vor allem als Entwicklungsstörung – er führte die gesteigerte Unruhe von Kindern auf eine zu rasche Entwicklung zurück. Neumann hatte nach Jahren als Militärchirurg für innere Medizin habilitiert und war schließlich Direktor einer städtischen psychiatrischen Klinik in Breslau; er prägte in seinen Büchern den – heute praktisch verschwundenen – Begriff der »Hypermetamorphosis«. Unter Metamorpho-
. Abb. 2.1 Titelbild Struwwelpeter. (Mit freundlicher Genehmigung des Löwe Verlags)
sis verstand er die Vermittlung zwischen der Leitung von Nervenimpulsen und dem Bewusstsein; als Hypermetamorphose bezeichnete er einen Zustand, in dem die Aufmerksamkeit fortwährend durch die Sinnenwelt in Anspruch genommen wird, also eine Reizüberflutung stattfindet. 1859 hielt er fest:
» Solche Kinder haben etwas Ruheloses, sie sind in ewiger Bewegung, höchst flüchtig in ihren Neigungen, unstet in ihren Bewegungen, schwer zum Sitzen zu bringen, langsam in der Erlernung des Positiven, aber oft blendend durch rasche und dreiste Antwor(Seidler 2004, S. 241). ten
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Neumann schilderte den Zustand der Hypermetamorphosis aber auch anhand des Verhaltens von Erwachsenen, deren Interessen sich ständig verlagern.
» Der Kranke ist lebhaft empfänglich für jeden Augenblick, sei es nun eine schöne Gegend, eine geliebte Person, eine Tasse Kaffee, eine Dose, ein herausgezogenes Schnupftuch … Kaum hat er sich irgendwo niedergelassen, so muss er schon wieder fort; er muss spazieren gehen, einen Freund besuchen, unnütze Einkäufe machen (zit. nach Danek 2007, S. 344).
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34
Kapitel 2 · Geschichte
Genetische Ursache
2
Zwanzig Jahre später rückte der 30 Jahre jüngere Hermann Emminghaus (1845–1904) genetische Ursachen in den Vordergrund. Er stellte 1878 die Vermutung an, dass die Ursachen des Phänomens »Vererbung und Degeneration« sein dürften. Emminghaus gehörte zur damaligen Elite der deutschen Psychiater. Er war nach der Lehrtätigkeit an verschiedenen Universitäten in Deutschland und zuletzt an der deutschsprachigen Universität in Dorpat, dem heute estnischen Tartu, an den 1886 neu geschaffenen Lehrstuhl für Psychiatrie der Universität Freiburg berufen worden. Dorpat gehörte in jener Zeit zum russischen Reich. In Dorpat, wo 1880 erstmals ein Lehrstuhl für Psychiatrie geschaffen wurde und wo 1895 eine der einzigen drei Universitätskliniken für Geisteskranke in ganz Russland lag, hatte Emminghausen übrigens einen ebenso bedeutenden Nachfolger, Emil Kraepelin – dieser hatte sich laut Emminghausen unter den jüngeren Psychiatern mit hervorragenden Forschungsarbeiten und selbstständigen Erfahrungen den ersten Platz in der Psychiatrie errungen. Kraepelins spätere Arbeiten zur systematischen Beschreibung psychischer Leiden – und damit auch zur Diagnose von ADHS – sollten bis heute nachwirken.
Affektives und moralisches Irresein Jenseits des Kanals hatte der damals berühmte Londoner Mediziner Henry Maudsley (1835–1918), der 1867 die erste Auflage seines Lehrbuches Die Psychologie und Pathologie des Geistes veröffentlichte, ebenfalls Mitte des 19. Jahrhunderts eine erste Einordnung der unruhigen Kinder in eine Systematik vorgenommen. Er ordnete sie einer Krankheitsgruppe des »affektiven und moralischen Irreseins« zu. Maudsley, der zu den maßgebenden Gelehrten seiner Zeit zählte, war unter anderem mit Charles Darwin bekannt und hat auch dessen Arbeit beeinflusst.
Eine Erschöpfung des Zentralnervensystems In den USA entwickelte gleichzeitig der junge Mediziner und Yale-Absolvent George Miller Beard (1839–1883), der als Student im Bürgerkrieg als Militärchirurg gearbeitet hatte, eine Theorie zur Erklärung verschiedener psychischer Zustände. Er
sah sie, ebenso wie z. B. Kopfschmerz, als Folge der Erschöpfung des Zentralnervensystems und fasste Zustände reizbarer Schwäche 1869 unter dem Begriff »Neurasthenie« zusammen. Auch Zustände von ADHS-Kindern subsummierte er darunter. Beard hat sich in der Wissenschaftsgeschichte vor allem auch mit einer Jahre später verfassten Arbeit einen Platz gesichert, in der er »Jumping Frenchmen« beschrieb, ein Phänomen, das später als Teil des Tourette-Syndroms interpretiert wurde, einer Bewegungsstörung mit Tics, Grimassen und ungewöhnlichen Lauten. Beard charakterisierte 1880 seine etwa 50 »springenden Franzosen« als bescheidene, ruhige und gesunde Männer, die jedoch Befehle irgendwelcher Art reflexartig ausführten und offenbar auch unter Echolalie (unwillentliches Nachahmen von Lauten) und Echopraxie (unwillentliche Imitation von Bewegungen) litten. Das Tourette-Syndrom, benannt nach seinem Entdecker Gilles de la Tourette (1857–1904), gehört zu den Komorbiditäten von ADHS, also Leiden, die oft gleichzeitig mit ADHS auftreten. Beards Begriff der Neurasthenie, der verschiedentlich auch für unruhige und unreife Kinder verwendet wurde, erfuhr zwar eine große Verbreitung, er hat inzwischen allerdings eine andere Bedeutung erhalten und bezieht sich, vor allem in der »International Classification of Diseases« (ICD) der WHO, in erster Linie auf Leiden mit einer Fatigue.
Frederic Still – »defect in moral control« Als der eigentliche Entdecker der ADHS-Störung wird in der angelsächsischen Welt aber immer wieder der englische Kinderarzt Frederic Still (1868– 1941) genannt. Still beschrieb 1902 in einem Vortrag vor dem Royal College of Physicians in London (Barkley 1997) 43 Kinder aus seiner Praxis, die große Probleme damit hatten, anhaltend aufmerksam zu sein. Die meisten waren auch überaktiv. Sie zeigten nach Still wenig Willenskraft, sich zurückzuhalten (»inhibitory volition«). Er stufte die Unruhe der Kinder als einen »defect in moral control« ein. Bei 23 der Fälle konnte er diesen Mangel der intellektuellen Zurückgebliebenheit der Kinder zuschreiben, die restlichen 20 dagegen waren praktisch als normal-intelligent zu bezeichnen. Still, der am Schluss seiner Medizinkarriere am englischen Hof arbeitete, wird vielfach als der »Vater der
35 2.1 · Erste Beschreibungen
britischen Kinderärzte« bezeichnet. In seinen frühen Jahren als Arzt hatte er an verschiedenen Kliniken gearbeitet und dort auch Erziehung und Verhalten unterschiedlichster Schichten kennengelernt. Keine gute Meinung scheint er übrigens von den Erziehungsbemühungen vieler Mütter gehabt zu haben.
Adalbert Czerny – schwererziehbare Kinder Still war jedoch keineswegs der einzige, der das Syndrom früh als solches erkannte. Auf dem europäischen Festland beschrieb im gleichen Jahrzehnt der aus Galizien stammende und in Wien aufgewachsene Kinderarzt Adalbert Czerny (1863– 1941), damals in Breslau, eine Zwischenstufe von Kindern zwischen normalen und psychisch abnormen mit folgenden Merkmalen:
» Großer Bewegungsdrang, mangelnde Ausdauer im Spiel und bei jeder Beschäftigung, Unfolgsamkeit und mangelhafte Konzentrationsfähigkeit der (Seidler 2004, Aufmerksamkeit beim Unterricht S. 241).
«
Czerny, der in Prag studiert hatte und anschließend in Breslau, wo er eine moderne Kinderklinik aufbaute, und in Straßburg als Professor wirkte, wurde 1913 an die Charité in Berlin berufen. Er wies unter anderem früh auf die Bedeutung der von Pawlow entwickelten Konditionierungstheorie des Verhaltens hin und postulierte, dass der Charakter eines Kindes ausschließlich vom Gesundheitszustand und von der Erziehung bestimmt würden. Die mit Bewegungsdrang und mangelnder Aufmerksamkeit beschriebenen Kinder führte er in seiner Vorlesung »Der Arzt als Erzieher des Kindes«, die er erstmals 1908 hielt, in der Kategorie der schwer erziehbaren Kinder auf. Damit hatte er zugleich den Begriff der schwererziehbaren Kinder geprägt.
Keine spezielle Erwähnung in der Sonderpädgogik/Heilpädagogik Interessant ist dabei jedoch, dass eine pädagogische bzw. sonderpädagogische Diskussion dieser Kinder nie explizit stattfand. Der in St. Peterzell (St. Gallen/ Schweiz) geborene Heinrich Hanselmann (1885– 1960), ein Pionier der schweizerischen Heilpädagogik, sprach zwar von den nervösen und verträum-
2
ten Kindern. Eine bestimmte Bedeutung haben diese Kinder jedoch als separate Patientengruppe in der Sonderpädagogik nicht. Sie wurden im Rahmen der pädagogischen Konzepte für schwer erziehbare, verhaltensauffällige oder im besten Fall nervöse Kinder unterrichtet und erzogen. Es ist davon auszugehen, dass eine Vielzahl jener Jungen und Mädchen, die in den Heimen für schwer erziehbare Kinder landeten, eigentlich Kinder mit AHDS waren. Bis heute noch wird in der Diskussion der Sonderpädagogik und der Pädagogik allgemein die Problematik nicht gesondert behandelt. Es existieren keine pädagogischen Konzepte für die Schulung von Kindern mit ADHS, die in den deutschsprachigen Ländern im Rahmen von Sonderschulungen oder Klassen für Verhaltensauffällige – bzw. seit der Integration der schwächeren Schüler in die Klassenverbände der Regelklasse – diskutiert werden. »Störende Elemente«, egal welcher Herkunft die Störungen sind, werden für eine bestimmte Zeit aus dem Klassenverband herausgenommen, um sie gesondert zu schulen. Es kann auch davon ausgegangen werden, dass ein Großteil der Schüler von Time-out-Klassen Kinder oder Jugendliche mit nicht erkannter ADHS sind. Es bleibt die Frage, inwieweit das Nichterkennen von spezifischen Auffälligkeiten pädagogisch relevant ist oder anders gefragt, kann das Erkennen von ADHS die pädagogische Interaktion und damit die schulische Entwicklung eines Kindes entscheidend beeinflussen? Diese Frage kann zwar nicht abschließend beantwortet werden, doch zeigt die Erfahrung, dass Lehrpersonen das Verhalten eines Kindes oder Jugendlichen für sich neu definieren können, wenn sie über die spezifischen Schwierigkeiten informiert sind. Dadurch verändert sich auch die soziale Interaktion entscheidend und die Chance auf eine positive Veränderung besteht. Ganz abgesehen davon, dass es heute möglich ist, mit gezielten Interventionen diese Kinder speziell zu unterstützen. Zusätzlich kann die Interaktion der Lehrpersonen mit den Eltern durch das Erkennen der Störung wesentlich verändert werden.
36
Kapitel 2 · Geschichte
2.1.4
Die Entdeckung von Ritalin als Medikament der Wahl
2.1.5
Eine Vielzahl von Namen
Minimal brain damage
2
Charles Bradley entdeckt die Wirkung von Amphetaminen Nach Czerny dauerte es nochmals über ein halbes Jahrhundert, bis allgemein anerkannte diagnostische Kriterien vorlagen. Viel früher jedoch wurden Medikamente zur Behandlung der Störung gefunden. Wahrscheinlich der größte Einfluss auf die klinische Behandlung von ADHS-Patienten ging von einer Entdeckung in den USA durch Charles Bradley (1902–1979) aus. Bradley, damals Direktor des »Emma Pendleton Bradley Home« (heute Bradley Hospital) in East Providence, Rhode Island, berichtete 1937 im American Journal of Psychiatry von einem Zufallsbefund bei der Therapie verhaltensgestörter Kinder mit dem als Stimulans wirkenden Amphetamin Benzedrin. Bereits nach einer Woche Einnahme von Benzedrin zeigten 14 von 30 dieser Kinder »eine erstaunliche Verhaltensänderung« (Bradley 1950). Bradley konnte zwar nicht erklären, weshalb ausgerechnet Stimulanzien hyperaktive Kinder ruhig machen sollten, er vermochte aber die Tatsache so überzeugend darzustellen, dass die Behandlung mit Stimulanzien bis heute vielerorts im Zentrum der ADHS-Therapie steht.
Methylphenidat Als es Leandro Panizzon, einem Forscher der Fa. Ciba in Basel (heute Novartis) 1944 gelang, ein Stimulans herzustellen, das nicht zu den Amphetaminen zählt, erhielt die Stimulanzientherapie bei der Behandlung von ADHS-Kindern einen immensen Stellenwert. Panizzon hatte nach einem Ersatz für Amphetamine ohne deren Nebenwirkungen und deren Missbrauchspotenzial gesucht. Er synthetisierte den Wirkstoff Methylphenidat, den er und seine Frau anschließend im Selbstversuch erprobten. Vor allem seine Frau Marguerite, kurz Rita, die offenbar unter niedrigem Blutdruck litt, habe die Pille geschätzt und in der Folge gern zur Leistungssteigerung beim Tennisspiel genutzt, heisst es. Der Wirkstoff Methylphenidat, der heute unter verschiedenen Bezeichnungen vertrieben wird, ist daher auch vor allem unter dem – Panizzons Frau gewidmeten – Markennamen Ritalin bekannt (Neuhaus 2009).
Die Diskussionen über die Ursprünge, die Definition und in der Folge die Bezeichnung der Störung gingen derweil weiter. Je nach Epoche und Forschungsstand standen unterschiedliche Bezeichnungen für dasselbe Syndrom im Vordergrund. So publizierten zehn Jahre nach Bradleys epochemachender Entdeckung 1947 z. B. die Psychologen Alfred A. Strauss und Laura E. Lehtinen, die einer Schule für hirnverletzte Kinder in Racine, Wisconsin vorstanden, ein Buch über die Psychopathologie und Erziehung von hirnverletzten Kindern, indem sie über Verhalten wie »Hyperkinese« bei Kindern berichteten, die eine Hirnhautentzündung durchgemacht hatten (»postencephaletic«). Damit wurde das Verhalten erstmals dem neuen organischen Merkmal einer minimalen Hirnschädigung (»minimal brain injury«, »minimal brain damage«) zugeordnet (Harbauer 1980; Lempp 1970; Wender 1971).
Hyperkinetic impulse disorder Im Jahr 1954 wurde dann von Maurice W. Laufer, der an derselben Institution wie Bradley tätig war, im Rahmen einer Präsentation am »International Institute on Child Psychiatry« in Toronto für das Verhaltensmuster von ADHS-Kindern erstmals der Begriff »hyperkinetic impulse disorder« benutzt. Die Wahl der Bezeichnung begründete er mit der Tatsache, dass die Hyperaktivität die auffälligste Eigenschaft sei; sie steht übrigens auch heute noch im Vordergrund der von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) erarbeiteten Kategorisierung, der der ICD-10. Seine Untersuchungsergebnisse publizierte Laufer dann zusammen mit Kollegen 1957 in einen entsprechenden Fachartikel (Laufer u. Denhoff 1957).
Minimal brain dysfunction (MBD) Nach wie vor wurde jedoch eine ganze Reihe von Begriffen für das zum Teil immer wieder leicht anders beschriebene Verhalten des »Zappel-Philipp« verwendet. Die 1966 erschienene dritte Monografie des »National Institute of Neurological Diseases and Blindness« des US-Departments »of Health,
37 2.1 · Erste Beschreibungen
Education, and Welfare« zählte 38 Namen auf, die für diese Störungen verwendet wurden. Der Bericht selbst führte die Bezeichnung »minimal brain dysfunction« (MBD) ein (Conrad 1975). Dieser Begriff stellte nun nicht mehr die Hirnschädigung in den Vordergrund, sondern die Funktionsstörungen. MBD wurde damit ab Mitte der 1960er Jahre vielerorts zur zentralen Formel für die Diagnose. Zunehmend erschienen nun auch Artikel in den Massenmedien und bis Mitte der 1970er Jahre wurde das Syndrom bereits zum häufigsten Problem der Kinderpsychiatrie (Conrad 1975). Schon 1970 schrieb die Washington Post, wie erwähnt, 5–10% der Primarschüler in Omaha, Nebraska würden mit verhaltensmodifizierenden Medikamenten behandelt. Auch wenn die Zahl offenbar zu hoch gegriffen war und zwar um einen Faktor 10, löste sie doch eine Untersuchung des amerikanischen Kongresses aus. Und bereits damals wurde Kritik an der äußerst aktiven Vermarktung durch die Medikamentenhersteller Ciba (Ritalin) und Smith, Kline and French (Dexedrine) laut (Conrad 1975).
2.1.6
Neue Diagnosetechniken bringen wieder neue Bezeichnungen
Durch die immer intensivere Beschäftigung mit der Störung rückte auch die Notwendigkeit in den Vordergrund, eine vereinheitlichte Diagnosetechnik zu entwickeln. Dies war nicht zuletzt auch wichtig, um die Erforschung des Syndroms voranzutreiben. Die allgemeine wissenschaftliche Diskussion spiegelte sich dabei auch in der Charakterisierung der Störung in den Diagnosegrundlagen und führte erneut zu verschiedenen Namensänderungen.
Hyperkinetische Reaktion Basierend auf den Arbeiten von Strauss, Lehtinen und Laufer wurde in der 1968 erschienen zweiten Ausgabe des »Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders« (DSM), dem seit 1952 in den USA maßgebenden Manual für psychische Störungen und Krankheiten, unter der Ziffer 308.0 die Diagnose »hyperkinetische Reaktion in der Kindheit (oder Heranwachsende)« aufgelistet. Die Stö-
2
rung wurde charakterisiert durch Überaktivität, Ruhelosigkeit, Ablenkbarkeit und kurze Aufmerksamkeitsspanne, besonders bei kleinen Kindern; das Verhalten reduziere sich üblicherweise in der Adoleszenz. Im DSM-I von 1952 dagegen lässt sich noch keine solche Kategorie finden.
Attention deficit disorder (ADD) In der dritten Auflage des Manuals (DSM-III), die 1980 erschien, erfolgte jedoch ein fundamentaler Wechsel des Fokus weg von der Hyperaktivität hin zum Aufmerksamkeitsdefizit. Der entsprechende Begriff hieß nun »Attention Deficit Disorder« (ADD), wobei es zwei Subtypen gab, einen mit und einen ohne Hyperaktivität. Die neue Diagnose war nicht nur bemerkenswert, weil die mangelnde Aufmerksamkeit in den Vordergrund rückte, sondern auch weil nun erstmals genaue Kriterien festgelegt wurden, die bei einer Diagnose erfüllt sein mussten. Es waren 5 Symptome für Unaufmerksamkeit, 6 für Impulsivität und 5 für Hyperaktivität aufgelistet, von denen bei der Unaufmerksamkeit und der Impulsivität bei Kindern zwischen 8 und 10 Jahren mindestens 3 und bei der Hyperaktivität mindestens 2 beobachtet werden mussten. Bei jüngeren Kindern waren mehr, bei älteren weniger Symptome zu erwarten. Zugleich musste die Störung vor dem Alter von 7 Jahren manifest geworden und während mindestens einem halben Jahr beobachtet worden sein. Auch mussten verschiedene andere Störungen wie Schizophrenie, affektive Störungen oder geistige Zurückgebliebenheit ausgeschlossen werden können.
Attention deficit hyperacitivity disorder (ADHD) Die Revision des DSM-III 1987 ließ im DSM-III-R den Subtyp »ohne Hyperaktivität« dann fast ganz fallen, es gab keine Untergruppen von Symptomen mehr und die Störung wurde nun zum »attention deficit hyperactivity disorder« (ADHD), deutsch: Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom (ADHS). Allerdings gab es daneben noch eine Kategorie »undifferentiated attention deficit disorder«. Inzwischen ist das DSM-IV-TR in Kraft. Die Bezeichnung ADHD bzw. ADHS hat sich seit 1987 aber nicht mehr geändert, das derzeit gültige DSMIV aus dem Jahr 1994 (revidiert 2000, aber nicht
38
2
Kapitel 2 · Geschichte
bezüglich ADHS, DSM-IV-TR) brachte aber erneut eine Aufteilung in drei Subtypen: 4 vorwiegend unaufmerksamer, 4 vorwiegend hyperaktiver und 4 kombinierter Subtyp.
Die ICD-10-Diagnose Im Gegensatz zum DSM steht bei der ICD der WHO, die die Krankheit, wie erwähnt, seit der ersten Nennung 1974 im ICD-8 fast ausschließlich und bis heute auf hyperkinetische Kriterien beschränkt, die Hyperaktivität im Vordergrund. Die ICD-Kriterien kommen bei der Diagnostizierung von ADHS praktisch nicht zum Tragen, obwohl die ICD-Diagnose eindeutiger ist, jedoch wesentliche Aspekte – insbesondere jene der Emotionalität – völlig außer Acht lässt. Die großen Unterschiede zwischen ICD und DSM sind für die Praxis nicht immer einfach, vor allem dann, wenn die ICDKlassifikation von der Krankenkasse vorgeschrieben wird. Es ist auch nicht einsehbar, weshalb die beiden Klassifikationsmanuale im Hinblick auf ADHS keine Annäherung anstreben.
Die nächste Generation diagnostischer Kriterien Zurzeit sind die Arbeiten für eine neue Ausgabe sowohl des DSM wie der ICD im Gange. Das DSMV soll im Jahre 2013 erscheinen, die ICD-11 im Jahr 2014. Im Bereich von ADHS sollen in den neuen Diagnoselisten laut den derzeitigen Diskussionen nur geringfügige Anpassungen der Formulierungen und allenfalls der relevanten Alterspanne erfolgen. Die derzeitige Diagnose basiert sowohl beim DSM-IV wie bei der ICD-10 stark auf der subjektiven Beurteilung und der Beurteilung durch andere Personen und ist deshalb auch sehr situationsgebunden. Ebenfalls problematisch ist die Forderung beim DSM, dass erste Symptome vor dem Alter von 7 Jahren aufgetreten sein müssen. Dies kann zu einer Vermischung zwischen einer verspäteten Normalentwicklung und einer tatsächlichen Störungen führen, denn die Variabilität in der Altersspanne (4–8 Jahre) ist groß; gerade die Impulskontrolle ist sehr stark entwicklungsbedingten Schwankungen unterworfen. Weiter ist in den letzten Jahren klar geworden, dass die Symptomliste für die Diagnos-
tik von Aufmerksamkeitsstörungen bei Erwachsenen – und zum Teil auch Jugendlichen ab etwa 16 Jahren – nicht mehr ausreicht und der Überarbeitung bedarf. Es braucht eigene Diagnosekriterien für Erwachsene, und auch geschlechtsspezifische Unterschiede müssen berücksichtigt werden.
39
ADHS-Forschung heute – funktionelle Neuroanatomie 3.1
Begriffsklärungen – 40
3.1.1
Lagebezeichnungen am Gehirn – 40
3.2
Großhirnrinde und subkortikale Bereiche – 40
3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5 3.2.6 3.2.7 3.2.8 3.2.9 3.2.10 3.2.11 3.2.12 3.2.13
Einteilungen nach Brodmann – Brodmann-Areale – 40 Zentrales Nervensystem – 41 Präfrontaler Kortex – 43 Anteriorer cingulärer Kortex – 47 Thalamus – 47 Retikuläres Aktivierungssystem – 49 Prämotorischer, sensomotorischer und motorischer Kortex – 50 Parietallappen – 50 Temporallappen – 53 Okzipitallappen – 56 Cingulärer Kortex – 59 Hippocampus – 61 Amygdala – 61
3
40
3
Kapitel 3 · ADHS-Forschung heute – funktionelle Neuroanatomie
Dieses Buch soll dem Leser einen Überblick über den aktuellen Stand der ADHS-Forschung geben. Entsprechend fällt das Abwägen zwischen Detailorientierung und Gesamtschau nicht einfach. Eine Beschreibung der kortikalen und subkortikalen Strukturen, die für ADHS von Bedeutung sind, ist hierzu notwendig, auch wenn die manchmal etwas komplizierte Sprache der Neurophysiologie dazu benutzt werden muss. Neben der Darstellung bestimmter Strukturen sollen im Anschluss daran die funktionellen Hirnsysteme der Aufmerksamkeit und der exekutiven Funktionen dargestellt werden. Auch die anderen funktionellen Hirnsysteme der sensorischen Verarbeitung, des Gedächtnisses und der Emotionalität sind ebenfalls bedeutsam, diese sollen jedoch nur im Überblick dargestellt werden. Bei der Beschreibung der kortikalen Strukturen wird die Einteilung nach Brodmann benutzt, wohl wissend, dass diese durch die verbesserten Möglichkeiten der funktionellen Bildgebung differenzierteren Strukturmodellen weichen wird. Für die vorliegenden Belange sind die um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert entwickelten Areale jedoch genügend, weil die in diesem Buch verwendeten Messmöglichkeiten keine höhere Auflösung erlauben.
3.1
Begriffsklärungen
Damit Abbildungen und Sachverhalte der Neurophysiologie besprochen werden können, bedarf es einer systematischen Methode, die dreidimensional beschreiben kann.
3.1.1
Lagebezeichnungen am Gehirn
Wie aus . Abb. 3.1 zu ersehen ist, werden manchmal Begriffe auch unterschiedlich gehandhabt: Ventral bedeutet je nach Perspektive und Sichtweise einmal »inferior« oder »unten«, ein anderes Mal »anterior« oder »vorn«. Dies ist abhängig vom entsprechenden Schnitt.
jEfferenzen und Afferenzen
Jede Struktur im Gehirn erhält Informationen von verschiedenen anderen Strukturen und gibt Informationen weiter. Diese Bahnen werden Efferenzen und Afferenzen genannt. Definition Afferenzen und Efferenzen Der Informationsfluss im Nervensystem verläuft über afferente und efferente Bahnen. Die Informationszuleitung zu einer Struktur nennt man Afferenz, die Weiterleitung der Information nennt man Efferenz.
3.2
Großhirnrinde und subkortikale Bereiche
Die Großhirnrinde (. Abb. 3.2) ist die äußere an Neuronen reiche Schicht des Großhirns. Rinde heißt zu lateinisch »cortex«. Der Kortex bezeichnet die gesamte Hirnrinde; kortikal bedeutet fachsprachlich die gesamte Großhirnrinde betreffend. Die Rinde ist je nach Region nur 2–5 mm dick. Die Nervenfasern der Neuronen des Kortex verlaufen unterhalb der Hirnrinde und bilden die weiße Substanz des Großhirns. Die weiße Substanz wird auch als Mark bezeichnet. Im subkortikalen Bereich befinden sich u. a. die Basalganglien und der Thalamus.
3.2.1
Einteilungen nach Brodmann – Brodmann-Areale
Korbinian Brodmann (1868–1918) war ein deutscher Arzt, der sich intensiv mit neurowissenschaftlicher Grundlagenforschung beschäftigte. Er tat dies auf Anregung von Alois Alzheimer am neurobiologischen Laboratorium der Universität Berlin, aus dem 1915 das Kaiser-Wilhelm-Institut hervorging. 1909 erstellte er an diesem Institut sein Hauptwerk Vergleichende Lokalisationslehre der Großhirnrinde. In diesem epochalen Werk teilte er die Großhirnrinde nach histologischen Kriterien in 52 Felder ein, die nach ihm heute als Brodmann-
A. Müller et al., ADHS Neurodiagnostik in der Praxis, DOI 10.1007/978-3-642-20062-5_3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
41 3.2 · Großhirnrinde und subkortikale Bereiche
3
. Abb. 3.1 Lagebezeichnung am Gehirn
. Abb. 3.2 Großhirnrinde
Areale (BA) benannt sind. Auf den folgenden Seiten wird immer wieder auf die Brodmann-Areale Bezug genommen werden. Die folgenden Abbildungen geben dem Leser die Möglichkeit, sich zu orientieren (. Abb. 3.3).
3.2.2
Zentrales Nervensystem
Das zentrale Nervensystem setzt sich aus fünf verschiedenen Teilen zusammen (. Abb. 3.4).
42
Kapitel 3 · ADHS-Forschung heute – funktionelle Neuroanatomie
3
. Abb. 3.3 Brodmann-Areale der Großhirnrinde von außen (links) und von innen (rechts)
Der Hirnstamm und seine Bedeutung Nach dem Rückenmark (in . Abb. 3.4 blau dargestellt) wird die erste wesentliche Struktur des Gehirns Myelencephalon oder lateinisch Medulla oblongata genannt. Diese Region reguliert vitale Funktionen, wie Herzrate, Verdauung, Atmung, Blutdruck oder Erbrechen und Hustenreiz. Weiter oben liegt dann das Metencephalon mit dem Kleinhirn (Cerebellum) und Pons. Hier befindet sich die Formatio reticularis, eine Ansammlung von vielen verschiedenen kleinen Kernen, die untereinander ein Netzwerk bilden. Dieses Netzwerk ist wichtig für Vigilanz und Wachheit, entsprechend auch für die Aufmerksamkeit, für den Schlaf und den Muskeltonus. Die wichtigsten Kerne dieses Netzwerkes für ADHS sind der Locus caeruleus, und die Raphe-Kerne (Nuclei raphes). Der Locus caeruleus beherbergt besonders viele Zellen des norepinephrinen oder noradrenergen Systems. Die Raphe-Kerne sind die Quelle für viele Neuronen im ZNS, für die Serotonin von Bedeutung ist. Das Kleinhirn, das hinten oder dorsal am Hirnstamm aufgelagert ist, ist ein wichtiges sensomotorisches Zentrum, das visuellen, auditorischen und somatosensorischen Input erhält und dadurch Informationen bezüglich der Körperposition und dem Gleichgewicht des vestibulären Systems entwickelt. Gemäß der Arbeitsgruppe um Castellanos am »Child Medical Center« in New York ist die Vermis, ein Wurmfortsatz, der die Kleinhirnhemisphären verbindet, für ADHS bedeutsam. Dieser Kleinhirnwurm setzt sich aus vielen verschiedenen Fasern und Kernen zusammen. Die Vermis ist
neben vestibulären, somatosensorischen auch an emotionalen Prozessen beteiligt und unterhält viele Verbindungen zum limbischen System. Entsprechend wird dieser Teil auch als limbisches Cerebellum bezeichnet. Im weiteren Verlauf nach oben folgt dann das Mittelhirn oder das Mesencephalon. Das Mesencephalon hat im Wesentlichen zwei Teile, die beide für ADHS von ausschlaggebende Bedeutung sind: Das Tegmentum und die Substantia nigra. Beide Teile produzieren Dopamin. Die Substantia nigra bildet zusammen mit dem Striatum, einem Teil der Basalganglien den nigrostriatalen Pfad, der für die Initiierung, Steuerung und Modulation sowie Kontrolle von Bewegungen von großer Bedeutung ist. Der andere für ADHS wesentliche Teil ist das ventrale Tegmentum oder das ventrale tegmentale Areal. Die Zellen dieses Areals projizieren zu den Strukturen des Globus pallidus, zum Nucleus accumbens, beides Teile der Basalganglien, aber auch zur Amygdala und anderen limbischen Strukturen des Frontalhirns. Dieser Trakt wird auch der mesolimbische Trakt genannt und ist von großer Bedeutung für das Belohnungsverhalten. Bei Störungen desselben zeigt sich eine tiefe Frustrationstoleranz. Ebenfalls vom ventralen Tegmentum ausgehend besteht ein dopaminerger Pfad, der zu Strukturen des präfrontalen Kortex und des cingulären Kortex projiziert. Dieser Pfad beeinflusst die exekutiven Funktionen, die wesentlich durch den frontostriatalen Loop gekennzeichnet sind. Der frontostriatale Loop ist durch bestimmte Areale des Kortex, der Basalganglien und den ventralen Kern des Thalamus definiert.
43 3.2 · Großhirnrinde und subkortikale Bereiche
3
Der Thalamus als Fenster zum Gehirn Das Diencephalon (. Abb. 3.4) beinhaltet zwei Strukturen, die für ADHS, aber auch für das gesamte Verhalten, Denken und Fühlen und damit auch für alle Krankheiten von größter Bedeutung sind: Thalamus und Hypothalamus. Der Thalamus ist gewissermaßen das Fenster zum Neokortex. Von hier aus bestehen Verbindungen zu sämtlichen Teilen des Kortex: Sensorische Informationen werden zum Thalamus gesendet, dort verarbeitet und wiederum der zuständigen Stelle im Kortex zurückgesendet. Insofern ist der Thalamus eine Art Relaisstation: z. B. erhält der laterale Kniehöcker (Corpus geniculatum laterale) Information des Auges über den Nervus opticus, verarbeitet diese Information und leitet sie an den primären visuellen Kortex weiter. Der zweite wichtige Teil des Diencephalons ist der Hypothalamus. Der Hypothalamus ist viel kleiner als der Thalamus und besteht aus vielen verschiedenen Kernen, die im Zusammenhang mit dem Überleben eine bedeutsame Rolle spielen. Er erhält von vielen verschiedenen Teilen des Gehirns Informationen über die Befindlichkeit und in Koordination und Absprache mit den nahe gelegenen Strukturen des limbischen Systems steuert er die inneren Zustände. Wahrscheinlich wird es dadurch möglich, innerhalb des Gehirns das Gleichgewicht zwischen verschiedenen Funktionen und Zuständen herzustellen. Der Hypothalamus hat dementsprechend auch eine bedeutsame Funktion im Ausgleich zwischen dem autonomen Nervensystem, dem endokrinen System und den parasympathischen Kontrollsystemen.
. Abb. 3.4 Zentrales Nervensystem und seine Strukturen. 1 Myelencephalon (Medulla oblongata), 2 Metencaphalon mit Formatio reticularis und Cerebellum, 3 Mesencephalon mit Tegmentum und Substantia nigra, 4 Diencephalon mit Thalamus und Hypothalamus, 5 Telencephalon mit kortikalen und subkortikalen Strukturen
leus accumbens besteht. Diese werden in der Folge eingehend dargestellt. Zuvor soll eine schematische Darstellung eingeführt werden, die im Folgenden häufig zur Anwendung kommen wird. Die darin verwendeten Abkürzungen sind hier einmalig vollständig aufgelistet und auch für die folgenden vergleichbaren Abbildungen gültig. Diese schematische Darstellung bedeutsamer kortikaler und subkortikaler Strukturen zeigt . Abb. 3.6.
3.2.3
Kortikale und subkortikale Strukturen des Telencephalons Die kortikalen und subkortikalen Strukturen sind nachfolgend abgebildet (. Abb. 3.5). Zu den kortikalen Strukturen zählen der präfrontale Kortex, der prämotorische, motorische und sensomotorische Kortex, der Parietallappen, der okzipitale Kortex und der Temporalkortex. Zu den subkortikalen Strukturen zählen die Basalganglien und das limbische System, das aus dem cingulären Kortex, dem Hippocampus, bestimmten Teilen des Kortex, der Amygdala und dem Nuc-
Präfrontaler Kortex
jLokalisierung und Verbindungen
Der präfrontale Kortex (PFC) besteht aus dem dorsolateralen und ventrolateralen präfrontalen Kortex, dem orbitofrontalen Kortex, dem frontopolaren Kortex und dem medialen frontalen Kortex (. Abb. 3.7). jAfferenzen
Wichtige Verbindungen zum präfrontalen Kortex kommen aus zahlreichen Hirnrindenregionen, sowohl ipsilateral als auch kontralateral. Kortikale
44
Kapitel 3 · ADHS-Forschung heute – funktionelle Neuroanatomie
supplementär-motorischer Kortex (BA-6)
3
primärer motorischen Kortex (BA-4) primärer somatosensorischer Kortex (BA-1, BA-2, BA-3) sekundärer somatosensorischer Kortex (BA-5, BA-7)
präfrontaler Kortex (BA-10, BA-9) sekundärer visueller Kortex (BA-18, BA-19) orbitofrontaler Kortex (BA-11, BA-12)
temporaler Assoziationskortex primärer visueller Kortex (BA-17) primärer akustischer Kortex (BA-41)
a
supplementär-motorischer Kortex (BA-6)
präfrontaler Kortex (BA-10, BA-9)
sekundärer akustischer Kortex (BA-42,BA-22)
primärer motorischen primärer Kortex (BA-4) somatosensorischer Kortex (BA-1,BA-2, BA-3)
cingulärer Kortex sekundärer visueller Kortex (BA-18, BA-19)
primärer visueller Kortex (BA-17)
b
Hippocampus
. Abb. 3.5a,b Bedeutsame kortikale Strukturen. a Ansicht von links lateral, b Ansicht von medial
Ursprungsgebiete der Projektionsbahnen zum dorsolateralen präfrontalen Kortex liegen vor allem im Parietallappen und im prämotorischen Kortex. Im Gegensatz dazu erhält der ventrolaterale präfrontale Kortex seine Afferenzen vor allem aus dem Temporallappen. Dies bedeutet aber nicht, dass der
dorsolaterale und der ventrolaterale präfrontale Kortex zwei völlig getrennte Systeme bilden. Im Gegenteil, sie sind intensiv miteinander verknüpft. Die vordere Region des insulären Kortex ist die wichtigste Verbindung zum ventrolateralen präfrontalen Kortex, der seinerseits mit der Amygdala,
3
45 3.2 · Großhirnrinde und subkortikale Bereiche
1
4
3 5
MC
6
2
SS
45
24
32
44
VLPC 47
31
25
Basalganglia
AN
Putamen
Striatum
Globus Pallidus
29
PUL LGB VL VPL
V1
46
DLPC 9
OFC
34
V2 V3 V4 V5
40 13 16 27 14 Insula 15
AM HIP
11
35
28
18
43
42 41
34
EC
17
39
MB
47 8
19
Thalamus 30
NA
V5 V4 V3 V2
26
DL
Nucleus caudatus
FPC
PCC
23
33
ACC
12
10
7
PC
SMC/PMC
22
IT
20
19
38 37
18
36
12 VT
SN
38
21
Cerebellum
LC
RN
. Abb. 3.6 Kortex mit schematischer Darstellung. Oben links laterale Sicht, oben rechts Sagittalschnitt, unten schematische Struktur aller genannten Einheiten: OFC orbitofrontaler Kortex, DLPFC dorsolateraler präfrontaler Kortex, FPC frontopolarer Kortex, VLPC ventrolateraler präfrontaler Kortex, ACC anteriorer cingulärer Kortex (FMC fronomedialer Kortex, SMC/PMC suplementärmotorischer Kortex/prämotorischer Kortex, M motorischer Kortex, SS somatosensorischer Kortex, PC Parietalkortex, V1, V2, V4 kortikale Areale des visuellen Systems, IT inferior-temporal Kor-
tex, EC entorhinaler Kortex, HIP Hippocampus, Insula insulärer Kortex, AM Amygdala, MB Mamillarkörper, PCC posteriorer cingulärer Kortex, Basalganglien mit den Strukturen Globus pallidus, Striatum, Nucleus accumbens, Thalamus anteriorer Nukleus des Thalamus, VL ventral-lateraler Nukleus des Thalamus, DL dorsolateraler Nukleus des Thalamus, VPL ventral-posterolateraler Nukleus, Pul Pulvinar, LGB Nucleus geniculatus lateralis, RN Nuclei raphes, SN Substantia nigra, LC Locus caeroleus, VT ventrales Tegmentum, RAS retikuläres Aktivierungssystem
46
Kapitel 3 · ADHS-Forschung heute – funktionelle Neuroanatomie
1
4
3 5
MC
6
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VLPC
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Basalganglia
Putamen
Striatum
Globus Pallidus
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PUL AN LGB VL VPL
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HIP
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Thalamus
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V5 V4 V3 V2
26
DL
Nucleus caudatus
FPC
PCC
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IT
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19
38 37
18
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12 VT
SN
38
21
Cerebellum
LC
RN . Abb. 3.7 Struktur des präfrontalen Kortex. Dorsolateraler präfrontaler Kortex umfasst die BA-8, BA-9 und BA-46, ventrolateraler präfrontale Kortex die BA-44, BA-45 und BA47/12, orbitofrontaler Kortex die BA-11, BA-12, frontopo-
dem basalen Vorderhirn und dem anterioren Kern des Thalamus verbunden ist. jEfferenzen
Aus dem präfrontalen Kortex ziehen viele Verbindungen zu zahlreichen ipsi- und kontralateralen Kortexarealen, aber auch zu subkortikalen Zielgebieten, z. B. zum Striatum und zum dorsalen Thalamus. Der dorsolaterale präfrontale Kortex sendet starke Projektionen zum Pulvinar, das seinerseits den cingulären Kortex und eine ganze Reihe sensorischer Areale beeinflusst. jIntrakortikale Verbindungen
Die wesentlichen kortikalen Afferenzen zum präfrontalen Kortex entspringen in vielen anderen
larer Kortex das BA-10 und der anteriore cinguläre Kortex die BA-24, BA-25, BA-32, BA-33; betreffende BA-Areale sind grün markiert
kortikalen Arealen der gleichen und der kontralateralen Hemisphäre. Diese Verbindungen sind reziprok organisiert. Von besonderer Bedeutung ist die reziproke Verschaltung mit den parietalen, temporalen und visuellen Assoziationsarealen. jVerbindungen mit limbischen Strukturen
Der PFC stellt die einzige neokortikale Region dar, in der eine Repräsentation von Informationen aus limbischen Netzwerken erfolgt. Die anatomische Grundlage dazu ist durch die direkten Verbindungen zum limbischen Kortex (anteriorer cingulärer Kortex und Gyrus hippocampalis, Amygdala), den thalamischen Relaiskernen sowie Pulvinar gegeben.
47 3.2 · Großhirnrinde und subkortikale Bereiche
Funktionen des präfrontalen Kortex Der präfrontale Kortex ist die anatomische Basis zahlreicher kognitiver Leistungen. Die Diskrimination von Tonsequenzen, die Planung und Kalkulation von Handlungsabläufen und die kategoriale Identifikation von Objekten sind unter anderem mit dem BA-10 verbunden. Arbeitsgedächtnis, Lernen, Assoziationsfähigkeit, Diskrimination und Wiedererkennung sensorischer Reize, antizipatorische Einstellung, Steuerung von Aufmerksamkeit und Abstraktionsfähigkeit und einige Leistungen mehr werden dem gesamten Netzwerk des präfrontalen Kortex zugeschrieben. Ebenfalls bedeutsam ist der präfrontale Kortex für die Emotionsregulation. Die dorsolaterale Region des präfrontalen Kortex ist mit der Gedächtnisbildung und Leistungen des Arbeitsgedächtnisses assoziiert. Der orbitopräfrontale Kortex ist entscheidend für das soziale Verhalten und die Beurteilung sozialer Konsequenzen. Diese Struktur hat zusätzlich eine entscheidende Funktion bei der Bewertung von Belohnungssituationen. Eine wesentliche Rolle bei der Aktionsregulation spielt der frontomediale Kortex oder besser bekannt als der anteriore cinguläre Kortex (ACC).
Input erhalten. Diese motorischen Areale speichern das genaue Bild einer geplanten Aktion. Der ACC hat viele reziproke Verbindungen mit dem lateralen, anterioren und medial präfrontalen Kortex. Diese Verbindungen sind meistens im kognitiven Bereich des ACC abgebildet (BA-32). Der mehr ventrale limbische Teil des ACC (BA-24 und -25) erhält Input vom limbischen System (z. B. von der Amygdala) direkt oder indirekt via dem anterioren Nukleus des Thalamus (. Abb. 3.8). Etliche PET- und fMRT-Studien belegen, dass der dorsale Teil des ACC mit kognitiven Inhalten in Verbindung steht, während der ventrale Teil mit der Emotionsregulation sowie der Motivation zusammenhängt (Clark et al. 2005). Wenn z. B. traurige oder wütende Affekte vorgestellt werden, ist der ventrale Teil stimuliert. Wenn Patienten mit Angststörungen, OCD oder posttraumatischem Stresssyndrom Stimuli vorgegeben werden, die deren Symptome triggern, kann eine deutliche Aktivierung des ventralen Teils des ACC, also im BA-25 beobachtet werden. Im Vergleich dazu zeigen depressive Patienten im ventralen Teil des ACC einen herabgesetzten metabolischen Prozess.
3.2.5 3.2.4
Anteriorer cingulärer Kortex
jLokalisierung
Der ventrale Teil ist am unteren Rand des Gyrus cingularis lokalisiert und beinhaltet die BA-24a, 24b und das Areal 25. Dieser ventrale Teil wird oft als der limbische Teil des anterioren cingulären Kortex (ACC) bezeichnet. Der dorsale Teil, der stärker mit kognitiven Aspekten assoziiert ist, liegt superior. Er beinhaltet die BA-24c und -32. Zusätzlich wird das BA-33 zum ACC gezählt. jAfferenzen und Efferenzen
Der ACC ist keine homogene Struktur: Er beinhaltet verschiedene Felder mit unterschiedlicher interner Struktur und unterschiedlichen afferenten (Output) und efferenten (Input) Verbindungen. Zuerst einmal beinhaltet der ACC Bereiche, die vom primären motorischen, von den motorischen und von den suplementären motorischen Arealen
3
Thalamus
Der Thalamus ist das Fenster zum Kortex (7 oben). Informationen aus verschiedenen Teilen werden im Thalamus aufbereitet und an den Kortex weitergegeben. Der Thalamus ist eine Verbindung von verschiedenen Kernen und Kerngruppen, die Relaiskerne für die Verbindungen zu den verschiedenen Bereichen des Kortex sind (. Abb. 3.9). Gelber Schaltkreis Anteriorer Nukleus (Nucleus an-
teriores, AN): Der AN erhält seinen Input von den Mamillarkörpern und ist damit ein Teil des PapezSchaltkreises und sendet zum anterioren cingulären Kortex. Seine Funktionen: Gedächtnis und Lernen sowie Emotionsregulation. Grüner Schaltkreis Ventral-lateraler Nukleus (Nuc-
leus ventralis lateralis, VL/VA): Dies sind Relaiskerne, die Informationen aus dem Kleinhirn und aus den Basalganglien zu den BA-4, BA-6 und BA-8 weiterleiten und zusätzlich zum anterioren cingu-
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Kapitel 3 · ADHS-Forschung heute – funktionelle Neuroanatomie
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kognitiver Teil des ACC
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emotionaler Teil des ACC 25
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SN
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Cerebellum
LC
RN . Abb. 3.8 Emotionale (violett) und kognitive (orange) Anteile des anterioren cingulären Kortex (ACC)
lären Kortex. Der ventrolaterale Nukleus des Thalamus ist Teil des frontostriatalen Loops. Dieser Thalamuskern hat motorische Funktionen, er ist an der Willkürmotorik beteiligt und übermittelt Informationen über Körperhaltung, Koordination und Muskeltonus. Die Planung, Initiierung und Kontrolle von Bewegungen stehen im Zentrum der Funktionen. Blauer Schaltkreis Ventral-posterolateraler Nukleus (Nucleus ventralis posterolateralis, VPL): Dies ist ein Relaiskern des somatosensorischen Kortex (BA-1, BA-2, BA-3). Er erhält Input vom Hirnstamm und von Okzipitallappen und sendet zum Parietalkortex. Dieser Relaiskern übermittelt Informationen bezüglich Lageempfindung, Vibration, Druck,
Hautoberfläche, Tasten, Schmerz und Temperatur von Rumpf und Extremitäten. Er hat eine große Bedeutung für die sensorische Integration. Roter Schaltkreis Dorsolateraler Nukleus (Nucleus
lateralis dorsalis, DL): Dieser Kern ist an der Integration somatosensorischer und motorischer Prozesse beteiligt und hat eine Funktion in der emotionalen Auseinandersetzung. Grauer Schaltkreis Das Pulvinar ist mit den Asso-
ziationsgebieten des parietal-okzipitalen Kortex verbunden und hat eine sensorisch-integrative Funktion. Unterschiedliche Teile des Pulvinars projizieren zu verschiedenen Assoziationsarealen.
49 3.2 · Großhirnrinde und subkortikale Bereiche
: Reti RAS
kuläres Aktivieru
Thalamus
AN
ys t
PUL LGB VL VPL
em
DL
ngs s
3
. Abb. 3.9 Thalamus und wichtige Verbindungen. Gelber Schaltkreis AN anteriorer Nukleus; grüner Schaltkreis VL Nucleus ventralis lateralis; blauer Schaltkreis VPL Nucleus ventra-
lis posterolateralis; roter Schaltkreis DL Nucleus lateralis dorsalis; grauer Schaltkreis Pulvinar; hellblauer Schaltkreis LGB Nucleus geniculatus lateralis
Hellblauer Schaltkreis Nucleus geniculatus lateralis. Dieser Relaiskern ist mit der Sehbahn verbunden und leitet die Informationen der Sehbahn zum primären visuellen Kortex (BA-17) weiter.
Das tonische System der Formatio reticularis reguliert über den Hypothalamus die Neurotransmitter Noradrenalin und Serotonin, die eine Langzeitwirkung in Bezug auf die Aktivierung und Dämpfung erzeugen. Das phasische System ist zuständig für Kurzzeitaktivierungen einzelner Rindenteile. Dieses System umgibt den Thalamus und seine verschiedenen Kerne. Das phasische System des retikulären Aktivierungssystems operiert als Relaisstation für die Signale vom Thalamus zur Großhirnrinde: Sie ist ein Selektiv für einzelne Areale, indem sie bestimmte Signale zu bestimmten Arealen sendet,
3.2.6
Retikuläres Aktivierungssystem
Das retikuläre Aktivierungssystem (RAS) ist so etwas wie der Hirnschrittmacher. Es existieren zwei Aktivierungswirkungen der Formatio reticularis, das tonische System und das phasische System.
50
3
Kapitel 3 · ADHS-Forschung heute – funktionelle Neuroanatomie
andere Areale aber gleichzeitig abschirmt. Das phasische retikuläre Aktivierungssystem ist ebenfalls mitverantwortlich für den Stoffwechsel im Kortex. Alphawellen im EEG werden z. B. durch das phasische retikuläre Aktivierungssystem mitbestimmt. Deshalb besteht ein Zusammenhang zwischen vermindertem Stoffwechsel und Alphawellen.
3.2.7
Prämotorischer, sensomotorischer und motorischer Kortex
Im zentralen Kortex finden sich wichtige motorische, sensomotorische und prämotorische Rindengebiete, die durch Brodmann wie folgt eingeteilt wurden (. Abb. 3.10). jEfferenzen und Afferenzen kVerbindungen von BA-4 Afferenzen BA-4 erhält Informationen von Thalamuskernen (Nucleus ventralis posterolateralis) und von zahlreichen kortikalen Gebieten. Efferenzen Die wichtigste Efferenz von BA-4 ist die
Pyramidalbahn. kVerbindungen von BA-6 Afferenzen Ebenfalls bestehen intensive Verbindungen zum cingulären Kortex sowie zu bestimmten Kernen des Thalamus. Efferenzen Dieses Areal feuert zu den Basalgang-
lien. Es bestehen sowohl Afferenzen wie auch Efferenzen zum dorsolateralen präfrontalen Kortex. Damit wird das BA-6 zum Anfangs- und Endpunkt des frontostriatalen Loops, der bei den exekutiven Funktionen eine wesentliche Rolle spielt. kVerbindungen des somatosensorischen Kortex (BA-1, BA-2, BA-3 und BA-43)
Verbindungen bestehen zum Thalamus (Gesichtsrepräsentation, Rumpf- und Extremitätenrepräsentation). Verbindungen zu den Spiegelneuronen frontal der BA-44 und BA-45 bestehen ebenfalls, wie auch zum insulären Kortex. Ebenfalls bestehen Verbindungen zum parietalen Kortex über das von Brodmann als präparietal bezeichnete BA-5.
jFunktionen
Die Funktion dieses Areals ist zusammen mit dem BA-6 die Steuerung von komplexen Bewegungen, insbesondere von Händen und Fingern. Prämotorischer und supplementär-motorischer Kortex spielen eine wichtige Rolle bei der Handlungsplanung, weil sie von verschiedenen Regionen Input erhalten und diese über die Basalganglien an den Thalamus weiterleiten. Wahrscheinlich bestehen zusammen mit dem anterioren cingulären Kortex zusätzlich wesentliche Funktionen in Bezug auf die Umsetzung von kognitiven Elementen. Die Verbindungen der diversen Unterareale in BA-6 ermöglichen eine Kontrolle sensomotorischer Aktivität und kontrolliert zusammen mit dem BA8 die Motorik der Augenbewegungen. Somatosensorischer Kortex: Hier wird die bewusste Wahrnehmung von Temperatur und Schmerzreizen, von leichtem Druck auf der Hautoberfläche, auch das Wahrnehmen von Vibrationen und Lageempfindungen gesteuert. Die somatosensorischen Areale sind für die Identitätsentwicklung des Menschen von wesentlicher Bedeutung. Viele körperliche Repräsentationen von bestimmten Erfahrungen werden im somatosensorischen Kortex gespeichert. Die engen Verbindungen zu bestimmten Gebieten des insulären Kortex sowie die Verbindungen zu den Spiegelneuronen frontal ermöglichen die Verbindung nach außen: Rückmeldungen werden auf diesem Weg in die Identitätsentwicklung einbezogen. Vermutlich haben diese Areale eine bedeutende Funktion bei traumatisierenden Ereignissen, weil sie somatosensorische aufbereitete, emotionale Informationen erhalten.
3.2.8
Parietallappen
Der Parietalkortex ist der wichtigste kortikale Assoziationsbereich, hier werden Informationen aufbereitet und zwischengespeichert. Linkshemisphärische Anteile unterscheiden sich in ihrer Funktion von rechtshemisphärischen Bereichen. Der Parietallappen besteht aus folgenden 4 BA: BA-5, BA-7, BA-39 und BA-40 (. Abb. 3.11). Diese 4 Areale bilden zusammen den parietalen Assoziationskortex. Neuere bildgebende Untersuchungen haben gezeigt, dass diese Einteilung viel
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51 3.2 · Großhirnrinde und subkortikale Bereiche
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RN . Abb. 3.10 Prämotorischer und supplementärmotorischer Kortex (SMS/PMC, BA-6), motorischer Kortex (MC, BA-4) und die sensomotorischen Areale (SS, BA-1, BA-2, BA-3 und BA-43); betreffende BA-Areale sind grün markiert
zu grobmaschig ist. In dieser Untersuchung soll aber vorläufig an der Einteilung nach Brodmann festgehalten werden. jAfferenzen und Efferenzen
Es bestehen intensive Verbindungen zum frontalen Kortex, wie . Abb. 3.12 zeigt. Zusätzlich erhält der parietale Kortex Informationen vom Thalamus über das retikuläre Aktivierungssystem, insbesondere vom Pulvinar und von den primären sensorischen Inputarealen. jFunktionen
Die Schaltkreise des parietalen Kortex, respektive die Transformation somatosensorischer und visueller Informationen zur Kontrolle zielgerichteter Handlungen, sind für das Wahrnehmen und Loka-
lisieren von Objekten im Raum von zentraler Bedeutung. Zudem bestehen Verbindungen zwischen dem prämotorischen Kortex und dem Parietalkortex (BA-40). Diese Verbindung ist für die Erkennung des Raumes innerhalb des Körpers von zentraler Bedeutung. Dadurch lassen sich zielgerichtete Greifbewegungen speichern und wieder initialisieren. Es werden allerdings auch Objekteigenschaften, wie Größe, Form und Orientierung kodiert. Ein weiterer Schaltkreis zwischen dem Parietallappen und dem Feld, das die Augenbewegungen steuert, ist für die visuomotorische Koordination von entscheidender Bedeutung. Dadurch kann ein räumliches Referenzsystem entwickelt werden, das zielgerichtete Handlungen und Bewegungen ermöglicht. Bewegungen werden von Parietallappen im Raum in der reinen Vorstellung aktiviert, aber
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Kapitel 3 · ADHS-Forschung heute – funktionelle Neuroanatomie
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RN . Abb. 3.11 Parietallappen umfasst den Teil unmittelbar hinter dem sensomotorischen Areal (BA-5), den Precuneus (BA-7), den inferioren Parietallappen (BA-40) und den superioren Temporallappen (BA-39); betreffende BA-Areale sind grün markiert
Obere frontal-parietal/okzipitale Fasern Obere Longitudinalfasern
Untere frontal-parietal/okzipitale Fasern
Untere Longitudinalfasern
. Abb. 3.12 Frontoparietale Faserverläufe. Obere frontal-okzipitale Fasern (grün), obere Longitudinalfasern (blau), untere frontal-okzipitale Fasern (rot) und untere Longitudinalfasern (meergrün)
53 3.2 · Großhirnrinde und subkortikale Bereiche
auch in der vorweggenommenen Beurteilung der Bewegungen, ebenso bei der Wahrnehmung von bestimmten räumlichen Situationen sowie die daraus folgenden Entscheidungen und sogar die Beobachtungen von anderen in der Bewegung werden parietal registriert. Bedeutsam ist der Parietalkortex für die logisch-räumlichen Konstruktionen. Während dies bei Bildern und deren Wahrnehmung über das visuelle System plausibel ist, hat sich in den letzten Jahren gezeigt, dass selbst Töne oder Klänge als räumliche Repräsentation gespeichert werden. Ebenfalls besteht eine wichtige Verbindung von parietalen Aktivierungen bei der Repräsentation von Zahlen und Buchstaben. Wenn Zahlen und Buchstaben als Grapheme mit den entsprechenden Phonemen gekoppelt werden, entstehen bestimmte räumliche Verknüpfungen, die im Parietalkortex abgelegt sind. Wie das Zahlenbeispiel zeigt, handelt es sich bei den Aktivitäten des parietalen Kortex nicht nur um räumliche bzw. körperliche Bewegungsmodalitäten, sondern gewissermaßen auch um die Verbindung von verschiedenen Modalitäten des Denkens auf höherem Niveau.
3.2.9
Temporallappen
Der Temporallappen besteht aus einer großen Anzahl kortikaler Areale, die sich von der Funktion her wesentlich unterscheiden. jBrodmann-Areale im Temporalkortex
4 auditiver Kortex (BA-41, BA-42 und BA-22), 4 Wernicke-Sprachareal (BA-22 posterior), 4 inferiorer Temporallappen (BA-20, BA-21, BA36, BA-37) 4 medialer Temporallappen oder entorhinaler Kortex (BA-21, BA-22 anterior, BA-28, BA-38). Die Lage dieser Areale ist in . Abb. 3.13 dargestellt.
Primärer auditorischer Kortex: BA-41 jAfferenzen und Efferenzen
Der primäre auditorische Kortex erhält Input aus dem Thalamus und sendet zu den BA-42 und BA-22.
3
jFunktionen
Töne und einfache Laute von unterschiedlicher Frequenz und Lautstärke werden wahrgenommen. Das Richtungshören ist entscheidend durch den primären auditiven Kortex beeinflusst. Schwierigkeiten im primären auditiven Kortex führen zu Lautunterscheidungsschwierigkeiten.
Sekundärer auditorischer Kortex: BA-42 zusammen mit Teilen des BA-22 jAfferenzen und Efferenzen
Der sekundäre auditorische Kortex erhält Informationen vom BA-41 und sendet zu vielen verschiedenen anderen Regionen. Dies ist bedeutsam für die Entwicklung von Sprachlauten und das verstehen von Sprache ganz allgemein. Für die Sprache ist die Verbindung zum Wernicke-Zentrum entscheidend. jFunktionen
Der sekundäre auditorische Kortex ist ein Assoziationsareal für Töne und Klänge. Die auditiven Informationen werden in diesem Areal analysiert und mit akustischen Erinnerungen als Einheit erkannt (Vergleichsoperation im auditiven Bereich). Die linke Seite sorgte für das Erkennen von Sprachlauten, die rechte Seite für das Erkennen von Tönen und Melodien (Sprache und Musik).
Wernicke-Areal: BA-22 jAfferenzen und Efferenzen
Das Wernicke-Sprachzentrum erhält Informationen, insbesondere von den sensorischen Inputund Assoziationsarealen. Ausgehende Verbindungen bestehen zum Broca-Sprachzentrum. jFunktionen
Komplexe Sprachfunktionen: Sprachverständnis, Grammatik, Worterkennung. Zusammen mit dem BA-39 sorgt das Wernicke-Areal führt das Sprachverständnis und damit für die Sinnerfassung gehörter oder gelesener Sprache. Man geht davon aus, dass das BA-22 bedeutungstragende Einheiten speichert. Bei einer Schädigung des Wernicke-Areals (Wernicke-Aphasie) werden Wörter verwechselt oder die Wörter werden im Satz fehlerhaft angeordnet und das Sprachverständnis ist massiv gestört. Nicht betroffen ist die Artikulation von Wörtern und
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Kapitel 3 · ADHS-Forschung heute – funktionelle Neuroanatomie
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RN . Abb. 3.13 Brodmann-Areale im Temporalkortex. Auditiver Kortex BA-41, BA-42, Wernicke-Sprachareal BA-22 posterior, inferiorer Temporallappen BA-20, BA-21, BA-36, BA-37,
medialer Temporallappen oder entorhinaler Kortex BA-21, BA-22 anterior, BA-28, BA-38; betreffende BA-Areale sind grün markiert
Sätzen sowie die Sprachmelodie. Die rechte Seite des Kortex (BA-22) erkennt Sprachmelodie, Klangfärbung der Sprache und den Sprachrhythmus.
jFunktionen
Inferiorer temporaler Kortex (IT) BA-37: multimodales Assoziationsareal jAfferenzen und Efferenzen
Das BA-37 als multimodales Assoziationsareal erhält Informationen von den sensorischen Inputarealen (BA-42, BA-22) sowie vom visuellen Inputareal BA-19. Nach der Verarbeitung im BA-37 werden die Informationen an das BA-20/21 sowie an BA-39 und an den Parahippocampus gesendet.
Der Beginn des ventralen Astes des visuellen Systems wird durch dieses Areal gebildet. Das BA-37 verbindet Elemente der Was-Bahn (ventraler Ast der visuellen Informationsverarbeitung) und der Wo-Bahn (dorsaler Ast der visuellen Informationsverarbeitung): Bewegungsgeschwindigkeit, Bewegungsrichtung und viele Aspekte des dreidimensionalen Sehens werden durch dieses BA ermöglicht. Zusammen mit den BA-20 und BA-21 bildet dies das multimodale Assoziationsareal des Temporallappens.
55 3.2 · Großhirnrinde und subkortikale Bereiche
BA-20: multimodales Assoziationsareal jAfferenzen und Efferenzen
Es bestehen intensive Verbindungen insbesondere zu den visuellen Assoziationsarealen 36 und 37. Zusätzlich bestehen Verbindungen zum Hippocampus und zum Parahippocampus. Das BA-20 bildet zusammen mit dem BA-21 den temporalen Assoziationskortex und feuert demnach vor allem zum BA-21. jFunktionen
Das BA-21 und BA-20 bilden zusammen den Assoziationskortex für höhere visuelle Assoziationen, auf der linken Seite werden Wortbilder erkannt und auf der rechten Hemisphäre Gesichter und komplexe ganzheitlich zu betrachtende Figuren. Dabei spielt der Informationsaustausch zwischen den Hemisphären eine entscheidende Rolle: Es ist davon auszugehen, dass das Endergebnis des Erkennens in einem Analyse- (linkshemisphärisch) und Syntheseprozess (rechtshemisphärisch) erreicht wird. Dieser Analyse-und Syntheseprozess erfordert ein dauerndes Neustrukturieren und -gruppieren von Wahrnehmungseinheiten. Entscheidend für den Strukturierungs- und Gruppierungsprozess ist das sog. Wiedererkennen von Formen und Bedeutungen. Der Analyse- und Syntheseprozess ist ein generelles assoziatives Erkennungselement.
3
Funktion in Bezug auf das Erkennen und Wiedererkennen von Objekten und deren Bedeutung. Es ist gewissermaßen das Bedeutungsgedächtnis für visuelle Eindrücke. Diese werden mit Bedeutungen in diesen Arealen verbunden, ebenso Zeichnungen und Bilder, ja die ganze visuelle Welt wird in diesen Arealen wiedererkannt. Die engen Verbindungen dieser Areale mit dem Hippocampus ermöglichen Lernen und die Weiterentwicklung von Konzepten und Schemata. Schädigungen dieser Areale haben weitreichende Einflüsse in Bezug auf das Wiedererkennen und Erleben. Sind die Verbindungen zum Hippocampus dysfunktional, entstehen Halluzinationen und Wahnvorstellungen. Wenn die Verbindungen getrennt werden oder im Alterungsprozess unterbrochen sind, können keine Erinnerungen aus dem aktuellen Alltagsgeschehen in den Erkennungsprozess einfließen. Dies ist bei der Alzheimer-Erkrankung entscheidend.
BA-38: multimodales Assoziationsareal jAfferenzen und Efferenzen
Das BA-38 erhält Informationen vom orbitofrontalen Kortex, von naheliegenden Arealen des präfrontalen Kortex, vom insulären Kortex und von den anderen multimodalen Assoziationsarealen des Temporallappens. Es sendet Informationen zum präfrontalen Kortex und zum Parahippocampus.
BA-21: multimodales Assoziationsareal
jFunktionen
jAfferenzen und Efferenzen
Dieses Areal wird auch Temporalpol bezeichnet, weil es den Temporalkortex abschließt. Dieses Areal ist eng mit dem orbitofrontalen Kortex verbunden. Das BA-38 ist dann aktiv, wenn aus einzelnen Teilen sinnvolle Zusammenhänge erarbeitet werden. Zusammen mit den BA-20 und 21 ist es an der Verarbeitung von höheren Informationen beteiligt. Der rechte Temporalpol ist zusammen mit dem rechten orbitofrontalen Kortex am Abruf vom episodischen Gedächtnisinhalten beteiligt, der linke Temporalpol am Abruf semantischer Gedächtnisinhalte. Da der orbitofrontale Kortex wesentliche Anteile des sozialen Zusammenlebens beinhaltet, ermöglicht die enge Verbindung des Temporalpols zu den sozialen Begebenheiten einen Miteinbezug sozialer Aspekte im Gedächtnis.
Das BA-21 erhält Informationen vom BA-20 und weiteren Assoziationsarealen. Zusätzlich vom insulären Kortex sowie vom präfrontalen Kortex (dorsolateraler Kortex, orbitofrontaler Kortex und ventrolateraler Kortex) und leitet die verarbeitete Information weiter zu den BA-38, BA-28 und zum Hippocampus jFunktionen
Die BA-20 und BA-21 bilden den Assoziationskortex für visuelle Eindrücke und komplexe Objekte. Die Hemisphärenasymmetrie ist zu beachten, Gesichter werden eher in der rechten Hemisphäre erkannt, Schriftbilder mehr in der linken Hemisphäre. Die beiden Areale haben eine sehr wichtige
56
3
Kapitel 3 · ADHS-Forschung heute – funktionelle Neuroanatomie
Entorhinaler Kortex:BA-28 und BA-34 (Parahippocampus)
3.2.10
jAfferenzen und Efferenzen
Der entorhinale Kortex erhält Informationen vom insulären Kortex via Amygdala, von den multimodalen temporalen Assoziationsarealen, von den Verbindungen vom Riechhirn (BA-34) sowie vom orbitofrontalen Kortex. Er sendet insbesondere zum Hippocampus und zu verschiedenen temporalen Assoziationsarealen (BA-20, BA-21 und BA-38).
Der Okzipitallappen hat intensive Verbindungen zu verschiedenen Teilen des Frontalhirns (7 oben), aber auch zu allen anderen Teilen des Gehirns. Der visuelle Input und die Aufarbeitung des Inputs geschieht im Okzipitallappen, zum dem der primäre visuelle Kortex (BA-17, 18) und das primäre visuelle Assoziationsareal (BA-19) gehören (. Abb. 3.14).
jFunktionen
Visueller Input im BA-17
Der entorhinale Kortex ist das Tor zum Hippocampus. Informationen von verschiedenen sensorischen Input-und Assoziationsarealen, außerdem Projektionen vom insulären Kortex und vom präfrontalen Kortex kommen zusammen und werden zu höheren Assoziationsleistungen verarbeitet. Entsprechend seiner Funktion als multimodaler Hub hat der entorhinale Kortex eine bedeutsame Funktion in Bezug auf die Speicherung und den Abruf von Gedächtnisleistungen.
jAfferenzen und Efferenzen
Insulärer Kortex (BA-13, BA-14, BA-15, BA-16) jAfferenzen und Efferenzen
Die Insula erhält Informationen von der Amygdala, vom Thalamus, vom somatosensorischen Kortex vom präfrontalen Kortex, vom Temporalkortex, vom anterioren cingulären Kortex sowie vom Kleinhirn. Die komplexen Strukturen innerhalb der Insula senden zum Hippocampus, zum Parahippocampus und zum orbitofrontalen Kortex. jFunktionen
Die Insula ist an vielen verschiedenen Aspekten von Denken, Handeln und Fühlen beteiligt. Durch den insulären Kortex werden kommunikative Interaktionen gefärbt, die Fähigkeit zur Empathie wird wesentlich durch den insulären Kortex unterstützt. Der insuläre Kortex ist so etwas wie der »Wettermacher« im Gehirn. Durch die Verbindung zum Riechhirn wird evident, weshalb Gerüche in Bezug auf Erinnerungen eine dermaßen wichtige Funktion haben.
Okzipitallappen
Das primäre visuelle System erhält Input vom Thalamus, genauer vom Nucleus geniculatus lateralis, wohin die primäre Sehbahn vom Auge über die Sehbahnkreuzung führt. Die einkommenden Informationen werden zum BA-18 weitergeleitet. jFunktionen
Dieses Areal wird als primärer visueller Kortex bezeichnet. In diesem Areal wird abgebildet, was über die Netzhaut aufgenommen wird. Die Informationen erhält das BA-17 von Nucleus geniculatus lateralis des Thalamus. Dies sind Informationen über Kontrast und Bewegung sowie über Form und Farbe (Orientierung/Farbe/Form). Der primäre visuelle Kortex verarbeitet die eingehenden visuellen Reize nach bestimmten Prinzipien. Dabei spielen Dominanzfragen eine wichtige Rolle, ebenso das Zusammengehen der Informationen von beiden Augen, das dann zu einem späteren Zeitpunkt das Tiefensehen, also den dreidimensionalen Raum, ermöglicht.
Sekundärer visueller Input im BA-18 jAfferenzen und Efferenzen
Das sekundäre visuelle Inputsystem erhält Informationen vom BA-17 und leitet diese weiter an das BA-19. jFunktionen
In diesem Areal werden die Informationen weiterverarbeitet, Orientierungsinformationen werden zu Konturen und Umrissgestalten, Bewegungen werden genau hinsichtlich ihrer Frequenz analysiert. Die Separierung der beiden Erkennungs-
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PC
SMC/PMC
22
IT
20
19
38 37
18
36
12 VT
SN
38
21
Cerebellum
LC
RN . Abb. 3.14 Okzipitallappen mit den BA-17, BA-18, BA-19; betreffende BA-Areale sind grün markiert
bahnen (Was-Bahn/Wo-Bahn) zum ventralen Ast (Was-Bahn) bzw. zum dorsalen Ast (Wo-Bahn) beginnt im BA-18. Ziel der Separierung ist letztendlich die Objekterkennung.
Erstes visuelles Assoziationsareal: BA-19 jAfferenzen und Efferenzen
Das BA-19 bekommt hauptsächlich Informationen vom BA-18, aber auch von verschiedenen anderen Assoziationsarealen. Es projiziert dann zu verschiedenen Arealen im Temporalkortex (BA-36), aber auch im Parietalkortex (BA-7, BA-39), zum Parahippocampus (BA-28) und zum frontalen Kortex im Rahmen der frontoparietalen Verbindungen.
jFunktionen
Das BA-19 ist bereits Teil des Assoziationskortex. Es enthält wesentliche Informationen (Afferenzen) vom Pulvinar (hinterer Teil des Thalamus). Das Areal enthält 3 verschiedene Bereiche: V3, V4 und V5. V3 ist an der optischen Aufmerksamkeitssteuerung beteiligt. V4 ist zuständig für die Farbkonstanz, V5 reagiert auf Bewegungen. Das BA-19 erstellt bereits Vergleichsoperationen und ist damit auch ein Gedächtnisareal.
Basalganglien jLokalisierung und Verbindungen (. Abb. 3.15) jStruktur
Entsprechend der klassischen Definition werden die Basalganglien durch 5 Kerne gebildet. Diese
58
Kapitel 3 · ADHS-Forschung heute – funktionelle Neuroanatomie
3
. Abb. 3.15 Schematischer Sagittalschnitt. Basalganglien mit Striatum und Globus Pallidus
sind: Nucleus caudatus, Putamen, Globus pallidus (externe and interne Bereiche), subthalamischer Nucleus und Substantia nigra. Zudem gehört der Nucleus accumbens (auch ventrales Striatum genannt) sowie das ventrale Pallidum ebenfalls zu den Basalganglien. jAfferenzen und Efferenzen Afferenzen Die Inputkerne sind der Nucleus cauda-
tus und das Putamen (die zusammen das Striatum bilden) sowie der Nucleus accumbens. Diese drei Kerne erhalten Input beinahe vom gesamten Kortex (ausgenommen von den primären sensorischen Zentren). Efferenzen Der Outputnukleus der Basalganglien
ist der innere Teil der Basalganglien. Dieser projiziert zu den Assoziationskernen des Thalamus. Diese Assoziationskerne erhalten zudem Input vom präfrontalen Kortex und projizieren zurück auf den Kortex. jFunktionen
Die Basalganglien erhalten Information von fast allen kortikalen Bereichen, verarbeiten diese und senden die Ergebnisse durch den Thalamus zurück zum präfrontalen Kortex und anderen Bereichen des Kortex.
Die Basalganglien haben eine äußerst wichtige Funktion im Zusammenhang mit der Aktionsplanung, -steuerung und -kontrolle. Handlungen (motorisch, kognitiv, emotional) werden einem räumlichen und zeitlichen Neustrukturierungsprozess unterworfen, dadurch werden die Handlungen so lange verändert, bis ein situativ adäquater Handlungsentwurf bereitgestellt ist. Diese Aktionshandlungen sind entscheidend für die Ausführung der Handlungen, die Steuerung und Kontrolle derselben. jFunktionen der Basalganglien im Zusammenhang mit dem exekutiven System
Der sog. frontostriatale Loop ist für die exekutiven Funktionen entscheidend. Der frontostriatale Loop ist eine Verbindung vom Kortex zu den Inputkernen der Basalganglien, danach werden die verschiedenen Aktionen innerhalb der Basalganglien aktiv, gelangen dann über die Outputkerne der Basalganglien zum ventrolateralen Inputkern des Thalamus und werden vom Thalamus wieder zurück zum Kortex projiziert, wo die Handlungen ausgeführt oder wieder zurück in den Prozess des frontostriatalen Loops gesendet werden (. Abb. 3.16).
3
59 3.2 · Großhirnrinde und subkortikale Bereiche
1
4
3 5
MC
6
2
SS
45
VLPC 47
25
Putamen
Striatum
Globus Pallidus
PUL AN LGB VL VPL
29
V1 30
9
OFC
34
V2 V3 V4 V5
40
47 8
13 16 27 14 Insula 15
AM HIP
11
35
28
18
43
42 41
34
EC
17
39
MB
NA
19
Thalamus
46
DLPC
V5 V4 V3 V2
26
em
Basalganglia
31 etikuläres Aktivierun S: R gss RA ys t
DL
Nucleus caudatus
FPC
PCC
23
33
ACC
12
10
24
32
44
7
PC
SMC/PMC
22
IT
20
19
38 37
18
36
12 VT
SN
21
38
Cerebellum
LC
RN . Abb. 3.16 Basalganglien und frontostriataler Loop (orangefarbene Pfeile)
Das exekutive System ist die Basis für die Aktionsselektion (Planung, Steuerung, Kontrolle) für das Monitoring der Aktionen und für die Arbeitsspeicherung. Es handelt sich dabei um motorische, kognitive, emotionale und sensorische Aktionen. Bei den zugrunde liegenden Operationen handelt es sich neurophysiologisch betrachtet um Aktivierungs- resp. Deaktivierungsprogramme. Diese Programme werden von kortikalen und subkortikalen Ressourcen im Hinblick auf eine zielorientierte Handlung oder Aktion ermöglicht. Diese Aktivierungsprogramme implizieren die Existenz eines aktiven Prozesses im Gehirn, der die voreingestellten Hemmungsmechanismen der kortikalen Neuronen überwindet. Dagegen arbeiten die Deaktivierungsprogramme komplementär zu den Aktivierungsprogrammen, indem sie voreingestellte Aktivierungsmechanismen hemmen.
3.2.11
Cingulärer Kortex
jLokalisation
Der cinguläre Kortex (. Abb. 3.17) erstreckt sich vom Frontalhirn zum Parietallappen und liegt oberhalb der Kommissur. Der cinguläre Kortex ist in zwei Bereiche unterteilt, einem vorderen, anterioren Teil und einem hinteren, posterioren Teil. Der anteriore cinguläre Kortex wurde bereits bei den Funktionen des präfrontalen Kortex diskutiert (7 Abschn. 3.2.4). Der cinguläre Kortex erstreckt sich vom präfrontalen Kortex zum Parietallappen. jAfferenzen und Efferenzen Afferenzen Der anteriore cinguläre Kortex hat enge
Verbindungen zu allen Teilen des präfrontalen Kortex, von verschiedenen Kernen des Thalamus,
60
Kapitel 3 · ADHS-Forschung heute – funktionelle Neuroanatomie
Pre cu
Fr on t
al l
n pe p a
ne us
3
posteriorer cingulärer Kortex
Cingulum
anteriorer cingulärer Kortex
. Abb. 3.17 Cingulum mit dem anterioren und dem posterioren Teil
insbesondere vom anterioren Nukleus und vom ventralen tegmentalen Areal im Hirnstamm. Efferenzen Zu allen Bereichen des präfrontalen
Kortex, zum limbischen System und zu den Motoneuronen. jPosteriorer cingulärer Kortex: BA-24, BA-23 Afferenzen Afferente Verbindungen bestehen vom anterioren Nukleus des Thalamus, vom präfrontalen Kortex und vom ventralen tegmentalen Areal. Efferenzen Verschiedene Bereiche im präfrontalen
Kortex, Basalganglien, direkte Verbindungen zum motorischen Bereich. jFunktion
Das BA-24 hat wichtige Funktionen in vielen verschiedenen Bereichen des Lebens, so z. B. in der Regulation der Motorik, in der Aufmerksamkeit, im motivationalen und emotionalen Verhalten, im Bereich von vegetativen Reaktionen und in der Schmerzwahrnehmung. Bei schwierigen Herausforderungen mit entsprechender Unsicherheit werden Suchfunktionen aktiviert in Richtung ver-
mehrter Sicherheit, z. B. durch die Wahl von früheren Verhaltensstrategien. Das Abwägen von Risikosituationen gehört mit zur Kosten-NutzenAnalyse. Die Aufmerksamkeitssteuerung geschieht über die Zusammenarbeit mit verschiedenen Gebieten des präfrontalen Kortex, die am allgemeinen Bewusstsein beteiligt sind, z. B. dem dorsolateralen präfrontalen Kortex (BA-9). Die engen Verbindungen dieses Areals zu Bereichen des insulären Kortex und damit zum limbischen System weisen dem Areal eine wichtige Funktion in Bezug auf die Selbstwahrnehmung der eigenen Verhaltensweisen zu. Zusammen mit dem BA-25 erfolgt die interne Auseinandersetzung zwischen der eigenen Erwartungshaltung und den tatsächlich erfolgten eigenen Verhaltensweisen. Ergibt sich im inneren Abgleich eine Differenz, wird dies verhaltensverändernd eingesetzt. Diese Funktion wird als Selbst- oder Konfliktmonitoring bezeichnet. Der posteriore Teil des BA-24 ist an den motorischen Handlungsplänen beteiligt. Er wird auch cingulärer motorischer Bereich genannt. Motorische Handlungen erhalten durch die Beteiligung des cingulären Kortex Antrieb. Eine hohe Motivation unterstützt den Antrieb, Angstverhalten und Schmerzbefürchtungen hemmen den Antrieb.
61 3.2 · Großhirnrinde und subkortikale Bereiche
Zusammen mit anderen Arealen, wie dem dorsolateralen präfrontalen Kortex und dem orbitofrontalen Kortex, ergeben sich wichtige Netzwerke, die bei Menschen mit Depressionen, weniger aktiv sind.
Posteriorer Teil des cingulären Kortex BA-25 jAfferenzen und Efferenzen Afferenzen Das BA-25 erhält Informationen von der
Amygdala über den insulären Kortex und von bestimmten Kernen des Thalamus. Das Areal ist Teil des sog. basolateralen-limbischen Schaltkreises. Efferenzen Zu den präfrontalen Arealen, zu den
Basalganglien, zu den anderen Arealen des anterioren cingulären Kortex. jFunktion
Als Folge der emotionalen Informationsverarbeitung werden durch dieses Areal das parasympathische und das endokrine System beeinflusst. Es ist deshalb an der emotionalen Bewertung von Information beteiligt. Bei emotionalen Schwierigkeiten ist die Gedächtnisleistung bedeutend beeinflusst durch eine Negativbewertung. Die Reaktion kann dann depressiv oder aggressiv erfolgen (zu starke Hemmung oder zu geringe Hemmung) je nachdem, in welchem Kontext und welche Präferenzrouten gewählt werden.
3.2.12
Hippocampus
3
tere Efferenzen zu den Mamillarkörpern und von dort zum Nucleus accumbens (. Abb. 3.19). jFunktionen
Im Hippocampus und im Parahippocampus fließen Informationen verschiedener sensorischer Systeme zusammen (z. B. dem visuellen und dem auditiven System), die verarbeitet, integriert und von dort zum Kortex zurückgesandt werden. Schwierigkeiten zeigen sich bei Menschen, deren Hippocampi entfernt oder zerstört wurden, im Erinnern von neuen Episoden. Alte Erinnerungen bleiben jedoch meist erhalten. Der Hippocampus wird somit als Struktur gesehen, die Erinnerungen generiert, während die Gedächtnisinhalte an verschiedenen anderen Stellen im Kortex gespeichert werden. Die Hippocampusstruktur ist eng mit dem Lernen verbunden. Da der Hippocampus viele Verbindungen zum limbischen System hat und stark von diesem beeinflusst wird, wird klar, weshalb das Lernen in hohem Maße von den Emotionen, insbesondere von der Angst, beeinflusst wird.
3.2.13
Amygdala
jLokalisation und Verbindungen
Die Amygdala (. Abb. 3.20) liegt rostral zum Hippocampus und setzt sich aus mehreren Kernen zusammen, die allerdings keine einheitliche Struktur haben. jAfferenzen und Efferenzen Afferenzen Andauernde Informationen von Thala-
Der Hippocampus zählt zu den ältesten Strukturen des Gehirns. Er gilt als Schaltstation des limbischen Systems. jLokalisierung und Verbindungen
Zum Hippocampus gehören mehrere Strukturen (daher wird auch von einer Hippocampusformation gesprochen) (. Abb. 3.18). jAfferenzen und Efferenzen Afferenzen BA-28 (zweiseitige Verbindung) Efferenzen BA-28 von da indirekte Projektionen zu
verschiedenen anderen Assoziationsarealen, wei-
mus und verschiedenen Teilen des Kortex, aber auch von subkortikalen Bereichen. Efferenzen Die Amygdala hat diverse doppelläufige
Verbindungen zum Kortex, insbesondere zum orbitofrontalen Kortex. Über die Insula, die eine Art Relaisstation für die Amygdala ist, gelangen die Verbindungen über den entorhinalen Kortex zum Hippocampus. Ebenfalls bestehen intensive Verbindungen zum Thalamus, zum Hypothalamus, zum Kleinhirn (Cerebellum) und zu verschiedenen Kernen im Hirnstamm. Ebenfalls besteht eine starke Verwendung zum retikulären System.
62
Kapitel 3 · ADHS-Forschung heute – funktionelle Neuroanatomie
Corpus callosum
3
Ansicht der linken Hemisphäre von medial/von innen Gyrus dentatus
Fornix
Ammonshorn Hippocampus
Ansicht von rechts-lateral Subiculum Informationsfluss
Entorhinaler Kortex . Abb. 3.18 Hippocampus (oben) und Teilbereiche. Subiculum Übergang vom entorhinalen Kortex zum Hippocampus, Gyrus dentatus Eingangsstation des Hippocampus, Ammons-
jFunktionen
Die Amygdala steuerte emotionale Prozesse der Wut, Angst, Panik, Furcht, Lust und löst Reaktionen aus, die über das vegetative Nervensystem unter anderem den Blutdruck und Puls, die Atemund Herzfrequenz sowie andere vegetativ organisierte Symptome triggern.
horn (Cornu ammonis); orangefarbener Pfeil markiert den Beginn des Informationsflusses vom entorhinalen Kortex über das Subiculum zum Hippocampus
63 3.2 · Großhirnrinde und subkortikale Bereiche
Informationsverarbeitungsprozess im Hippocamus Temporaler Kortex Cingulärer Kortex Amygdala
Entorhinaler Kortex Subiculum Gyrus Dentatus
Ca3
Ca1 Fornix Strukturen des Hippocampus
Septumkerne Mamillarkörper
. Abb. 3.19 Informationsverarbeitung im und zum Hippocampus
Thalamus Basalganglien Hippocampus Amygdala
. Abb. 3.20 Lokalisation der Amygdala
3
65
Funktionelle Gehirnsysteme 4.1
Grundlegende Informationen – 66
4.2
Das exekutive System – 66
4.2.1
Messung von Funktionen des exekutiven Systems – 68
4.3
Das Aufmerksamkeitssystem – 70
4.3.1
Anatomie – 70
4.4
Das sensorische System – 73
4.4.1
Anatomie – 73
4.5
Das Emotionsregulationssystem – 74
4.5.1
Anatomie des limbischen Systems – 74
4.6
Gedächtnissysteme – 75
4.6.1 4.6.2
Verschiedene Gedächtnistypen – 75 Prozesshaftes Gedächtnis – 79
4
4
66
Kapitel 4 · Funktionelle Gehirnsysteme
4.1
Grundlegende Informationen
Im vorhergehenden Kapitel wurden die einzelnen neurobiologischen Gehirnstrukturen aufgezeigt. In diesem Kapitel soll nun der biologische Informationsverarbeitungsprozess näher untersucht und beschrieben werden. Der Informationsverarbeitungsprozess wird von verschiedenen Systemen und Strukturen beeinflusst, die alle auf ihre Art dazu beitragen, dass Kommunikation und Zusammenleben möglich ist. Thematisch beschäftigt dies die Menschen seit Urzeiten und folglich stellt sich die Frage, was Kommunikation und Zusammenleben letztlich ist und was der Einzelne in welcher Art dazu beiträgt und wie, und – falls notwendig – ob hierbei eine Beeinflussung überhaupt möglich ist. Wir können uns Leben und Zusammenleben als das Agieren und Interagieren von einem, zwei oder mehreren Gehirnen vorstellen. Ohne Hände, Füße, Haut, Körpergeruch sowie ohne Mimik und Gestik. Nehmen wir an, das Gehirn wäre genauso aktiv (was es sicher in Wirklichkeit nicht ist!), und gehen wir davon aus, dass die Wechselwirkungsprozesse genauso stattfinden würden (was sicher auch nicht der Fall wäre!). Wenn dieses zweifellos etwas makabere Bild weitergesponnen würde, das Leben also nichts anderes wäre, als 1,3 kg, wie würde dann Interaktion der Gehirne untereinander resp. mit Objekten stattfinden? Welche Informationsverarbeitungsprozesse würden wie ausgelöst? Und wie könnten z. B. gemeinsame Schwingungen ausgelöst werden? Wie könnte ein Gehirn dem anderen zu verstehen geben: »Ich mag dich«, oder »Ich verstehe dich«, oder »Ich fühle mit dir«? Welche Prozesse müssten genau in Gang gesetzt werden, damit Kommunikation entsteht? Was, wenn ein Gehirn das andere erziehen möchte? Was, wenn ein oder beide Gehirne (falls es nur zwei sind) plötzlich sexuelle Lust verspüren würden? Im Grunde ist dies die Anordnung, wie sie sich die Hirnforschung wünschen würde, ein Leben ohne Artefakte, nur reduziert auf die Prozesse! Das Bild ist aber auch aus einer anderen Perspektive interessant: Interaktion findet letztlich in jedem Gehirn separat statt, es ist eine Konstruktion jedes Einzelnen mit seinen Möglichkeiten und Talenten, beeinflusst von den Genen, von der Funk-
tionsweise der Neuroanatomie und von den epigenetischen Programmen, also jenen Programmen, die über die Jahrhunderte Menschen in einer bestimmten Kultur geprägt haben. Trotz dieser immensen Variabilität unserer Spezies kann davon ausgegangen werden, dass bestimmte Wirkmechanismen im Gehirn über Kulturen und individuellen Erlebniswegen hinweg, gleich sind. Die einzelnen in diesem Kapitel beschriebenen Systeme sind grundlegender Natur und betreffen die Wahrnehmung, die Konstruktionsprozesse der Assoziationsareale, die Kurz- und Langzeitspeicherung, das Emotionssystem und die diese Prozesse unterstützenden Leistungen der Aufmerksamkeit und der exekutiven Funktionen. Gleichzeitig hat dieser Teil des Buches unter anderem einen Zusammenhang mit den evozierten Potenzialen: Mit den evozierten Potenzialen lassen sich einzelne Stadien des Informationsverarbeitungsprozesses messen und darstellen. Keine andere Methode vermag derzeit die Prozesse im Zeitverlauf so gut darzustellen, wie die evozierten Potenziale. Das Antwortverhalten des Gehirns auf bestimmte Stimuli kann genau festgelegt werden. Dazu gehören die wahrnehmenden, die verarbeitenden aber auch die Speichersysteme. Die Zeiträume, die dabei eine Rolle spielen sind zwischen 0 bis ca. 600 ms. Gemessene Zeiten über 300 ms werden gewöhnlich den bewussten kognitiven Prozessen zugemessen (späte Potenziale), die früheren Reaktionen betreffen die sensorischen Systeme (frühe Potenziale). Jede Aufgabe ist mit bestimmten psychologischen Leistungen verbunden. Jede Leistung ist an einem bestimmten Zeitraum gebunden, in welchem sie sich durch Aktivierung und/oder Hemmung bestimmter Neuronen in einer bestimmten Hirnregion ereignen sollte. Die Summe der synchron generierten, ereignisbezogenen Potenziale kann in einer räumlich und zeitlich festgelegten Begrenzung dargestellt werden (7 Kap. 11).
4.2
Das exekutive System
Der Begriff »exekutive Funktionen« bezieht sich auf die Planung, Steuerung und Kontrolle der motorischen, kognitiven und emotionalen Aktionen
A. Müller et al., ADHS Neurodiagnostik in der Praxis, DOI 10.1007/978-3-642-20062-5_4, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
67 4.2 · Das exekutive System
zur Erreichung bestimmter Ziele. Lange Zeit wurde der Begriff »exekutive Funktionen« in der Neuropsychologie als Synonym für Frontallappenfunktion verwendet. Der Begriff sollte die Notwendigkeit für einen Kontrollmechanismus im alltäglichen Leben oder beim Verrichten von bestimmten Aufgaben definieren, z. B. für jene Situationen, die eine Selektion aus einer Vielzahl von möglichen Aktionen erfordert. Man wollte auch definieren können, wie situativ ungeeignete aber bereits vorbereitete Aktionen gestoppt werden können. Gleichzeitig sollte eine Vorstellung darüber bestehen, wie eine Aktion geplant, gesteuert und kontrolliert werden könnte und welche Rolle hierbei der Arbeitsspeicher spielt. Mit diesem Begriff sollte auch erklärt werden, inwieweit eine Überwachung und gegebenenfalls Modulierung und Anpassung von Aktionen möglich wäre. Die im Alltag häufig beobachtete Vorwegnahme einer Aktion war des Weiteren Gegenstand eines psychologischen Erklärungsansatzes. Hierzu zählen z. B. Situationen, wenn die Erwartung einer Verstärkung oder Belohnung aufgrund von ungünstig verlaufenden Aktionen nicht aufgebaut werden kann. Mit dem Begriff exekutive Funktionen oder exekutives System konnte eine Vielzahl von Funktionen zusammengefasst werden, die für das menschliche Verhalten und Zusammenleben ausschlaggebend sind: Handlungsplanung, Handlungsselektion, Handlungsantizipation und Handlungskontrolle sind mit dem Begriff verstehund erklärbar geworden. Die Definition der exekutiven Funktionen fällt allerdings in der Literatur unterschiedlich aus (Miyake et al. 2000a; Miyake et al. 2000b). Eine allgemein akzeptierte, übergreifende Definition der exekutiven Funktionen existiert bislang nicht, da zahlreiche, sehr unterschiedliche und hoch komplexe kognitive Prozesse zusammengefasst werden sollen. Häufig werden handlungsassoziierte Funktionen zusammengefasst, also all jene Funktionen, die notwendig sind, um zielgerichtete Handlungen auszuführen. Andere Umschreibungen fassen alle »höheren« kognitiven Prozesse wie Planung oder logisches Denken unter diesem Begriff zusammen. Grafman et al. haben bereits 1995 in Maryland in den USA, damals im Zusammenhang mit der progressiven Kinderlähmung, eine Aufzählung dysfunktionaler Systeme im präfrontalen Kortex
4
erarbeitet (Grafman 1995): Gemäß dieser Arbeitsgruppe fanden sich bei den Kindern, die in Bezug auf die Handlungsplanung, -steuerung und -kontrolle große Mühe bekundeten, Auffälligkeiten im orbitofrontalen Kortex, im anterioren cingulären Kortex, im dorsolateralen präfrontalen Kortex sowie im anterioren präfrontalen Kortex. Smith et al. von der Universität Michigan (Smith u. Jonides 1999) unterscheiden fünf Komponenten exekutiver Funktionen, die jenen von Matthes-von Cramon u. von Cramon (Matthes-von Cramon u. von Cramon 2000) gleichen: Unter den exekutiven Funktionen subsumierten diese Autoren: 4 die Fokussierung der Aufmerksamkeit, 4 das Aufgabenmanagement, worunter sie die Planung und Koordination einzelner Prozesse in komplexen Aufgaben verstehen, 4 generell die Planung in Bezug auf eine zielgerichtete und sinnvolle Aktivität, 4 die Überwachung und Kontrolle der Aktivität und nötigenfalls die Korrektur derselben sowie 4 die Leistungen des Arbeitsgedächtnisses. Bereits 1997 postulierte Barkley, dass ADHS eine Störung der Entwicklung der exekutiven Funktionen sei, in erster Linie eine Impulsinhibitionsstörung (Barkley 1997). Der bekannte Kliniker und Referent, Thomas E. Brown publizierte 2000 (Brown 2000) seine Sicht in Bezug auf ADHS. Er ortete die Ursache von ADHS bei den exekutiven Funktionen und arbeitete dann in der Folge weiter an seinem Konzept, wonach ADHS vor allem eine Dysfunktion der exekutiven Funktionen sei. Dabei nennt er insgesamt sechs verschiedene Funktionen, die bei ADHS gestört sein können: 4 Aktivierung, 4 Fokussierung, 4 Effort (Regulation der Vigilanz, Daueraufmerksamkeit und Arbeitsgeschwindigkeit), 4 Emotion, 4 Gedächtnis und 4 Monitoring. Kropotov (2009) hat in seinem Buch den exekutiven Funktionen die Engagementoperation, die Hemmungsoperation, die Arbeitsspeicherung und
68
4
Kapitel 4 · Funktionelle Gehirnsysteme
Konfliktmonitoring zugeordnet. Dies ist im Vergleich zur Darstellung von Brown weniger umfassend, wobei sich der Anwendungsbereich der verschiedenen Komponenten weitgehend deckt. Brown hat zusätzlich eine Emotionsfunktion miteinbezogen. Der Unterschied der Sichtweisen liegt wohl darin, dass Brown als klinisch tätiger Psychotherapeut versucht, den Alltag in seinem Modell abzubilden. Kropotov dagegen orientiert sich ausschließlich an der biologischen Informationsverarbeitung und hat nur jene Funktionen in seine Definition aufgenommen, die biologisch erklärbar und elektrophysiologisch mit den heute zur Verfügung stehenden Mitteln messbar sind. Kropotov steuert zu jeder Funktion eine genaue biologisch orientierte Definition bei. Gemäß seiner Darstellung zeigen die verschiedenen Operationen oder Unterfunktionen folgenden exekutiven Mechanismus (. Tab. 4.1).
4.2.1
Messung von Funktionen des exekutiven Systems
Engagementoperation Der Ursprung des Engagements des Organismus für das Denken, Handeln und Fühlen liegt im retikulären Aktivierungssystem. Das tonische Aktivierungssystem wird im Hirnstamm von diversen Kernen der Formatio reticularis gebildet, das phasische Aktivierungssystem von einer den Thalamus umgebenden Hülle des retikulären Aktivierungssystems. Das biochemische System, das den Antrieb steuert, ist hauptsächlich das noradrenerge Neurotransmittersystem, das vom Locus caeruleus aus verschiedene Netzwerke beeinflusst. Polich et al. (Polich 2007; Polich u. Criado 2006) haben die Bedeutung der evozierten Potenziale im Zusammenhang mit den verschiedenen Neurotransmittern untersucht. Neurophysiologisch besteht ein Link zwischen einem elektrischen Potenzial im parietalen Kortex und der Aktivierungsoder Engagementoperation. Das elektrische Potenzial tritt nach ungefähr 300 ms auf, wie . Abb. 4.1 zeigt, und kann im Precuneus lokalisiert werden. Diese Komponente ist eng auch mit dem Aufmerksamkeitssystem verbunden.
Die Engagementoperation kann mittels neuropsychologischen Untersuchungen nur indirekt erschlossen werden. Vigilanz und Arousal können z. B. in einem langandauernden Konzentrationsverlaufstest (Go-/No-go-Test) durch die Variabilität der Reaktionszeit in Zusammenhang mit der Aufmerksamkeitsleistung zum Teil festgestellt werden.
Hemmungsoperation oder die Impulsinhibition Im Alltag besteht häufig die Aufgabe, Impulse zu unterdrücken. Man geht davon aus, dass dies bei 90 % aller Impulse notwendig ist. Diese Operation wird von einem komplizierten Hemmungssystem gebildet, an dem der laterale präfrontale Kortex beteiligt ist. Hemmungsmechanismen treten also im Vergleich zu Aktivierungsmechanismen viel häufiger auf. Ein Hemmungsmechanismus tritt z. B. dann auf, wenn in einem Konzentrationsverlaufstest bestimmte Impulse unterdrückt werden müssen. Die Unterdrückung besteht in diesem Fall in einer Hemmung des motorischen Impulses. Im Alltag ist die Hemmungsfunktion besonders bedeutsam, denn dadurch können Aktionen zielgerichtet geplant, gesteuert und kontrolliert werden. Inhibitions- oder Hemmungsoperationen, insbesondere neurophysiologische, werden durch den frontostriatalen Loop ermöglicht. Auf diesen wurde bereits an verschiedenen Stellen hingewiesen. Die für diesen Mechanismus zentralen Strukturen liegen in den Basalganglien, in den hemmenden Verbindungen zwischen dem Striatum und dem Globus pallidus sowie dem Thalamus. Die neurochemische Zusammensetzung dieses Loops ist vorwiegend durch den Neurotransmitter Dopamin bestimmt. Die mangelnde Inhibition kann neurophysiologisch im prämotorischen, im supplementär-motorischen und im motorischen Areal gemessen werden (. Abb. 4.2). Mittels neuropsychologischen Untersuchungsverfahren kann die Inhibitionskomponente der exekutiven Funktionen, z. B. wie oben erwähnt mittels Konzentrationsverlaufstests, aber auch mittels Verfahren, in denen eine Reaktion auf Störreize unterdrückt werden muss, hervorgerufen werden. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, Hinweise bei Planungsaufgaben, wie z. B. dem Vorgehen
69 4.2 · Das exekutive System
4
. Tab. 4.1 Exekutive Funktionen Exekutive Funktionen
Exekutiver Mechanismus
Engagementoperation
Aktivieren von Neuronen des frontalen und parietalen Kortex, die eine geplante Aktion repräsentieren, mit dem Ziel die Handlungsoperation auszuführen
Hemmungsoperation
Hemmen von Neuronen des frontalen Kortex, die eine geplante Aktion repräsentieren, mit dem Ziel die geplante Aktion nicht durchzuführen
Arbeitsspeicherung
Speichern der Aktionspläne für einige Sekunden bis Stunden, für die aktive Umsetzung der Informationen hinsichtlich Engagement- oder Hemmungsoperation
Monitoringoperation
Vergleichen der Ergebnisse der ausgeführten mit der geplanten Aktion, mit dem Ziel eine neue Aktion zu initiieren, um eine eventuelle Diskrepanz zu eliminieren
. Abb. 4.1 Aktivierungskomponente, die im Parietalkortex auftritt und ungefähr 300 ms nach Erscheinen des zweiten Stimulus eine positive Welle zeigt. Links Topografie der Kom-
ponente, Mitte zeitlicher Verlauf (schwarz No-go-Durchgänge, rot Go-Durchgänge), rechts Lokalisierung der Komponente mittels sLORETA
. Abb. 4.2 Neurophysiologisches Korrelat der Hemmungsoperation. Links Topografie, Mitte zeitlicher Verlauf des elektrischen Potenzials mit der positiven Welle rund 330 ms
nach Erscheinen des zweiten Stimulus (schwarz No-goDurchgänge, rot Go-Durchgänge), rechts Lokalisierung der Komponente mittels sLORETA (BA-6)
beim Test »Turm von Hannoi«, zu erhalten. Häufig zeigen sich bei neuropsychologischen Untersuchungen der Inhibition jedoch Schwierigkeiten in Bezug auf die Zuverlässigkeit der Testmessungen.
abgeschlossen wurden. Dies deutet darauf hin, dass der präfrontale Kortex Repräsentation von Stimuli und Aktionen behalten kann und sie zur Verfolgung der Ziele einzusetzen vermag. Aus neurophysiologischer Sicht basiert der Arbeitsspeicher auf mehreren gegenseitigen Verbindungen innerhalb der Hirnrinde. Diese gegenseitigen Verbindungen sind Feedbackschleifen vor allem zum dorsolateralen präfrontalen Kortex sowie solche des frontostriatalen Schaltkreises. Obwohl die Fähigkeit In-
Arbeitsspeicherung Eines der auffälligsten Merkmale von Neuronen im präfrontalen Kortex ist ihre Fähigkeit, über längere Zeiträume hinweg und quer durch verschiedene Events zu feuern, auch wenn diese bereits länger
70
Kapitel 4 · Funktionelle Gehirnsysteme
formationen über längere Zeiträume hinweg zu erhalten ein allgemeines Merkmal des präfrontalen Kortex ist, gliedert sich die »working memory« in drei Modalitäten:
Modalitäten der Arbeitsspeicherung
4
4 Visuell-räumliche Modalität 4 Modalität von Form und Farbe 4 Verbale Modalität
Die drei Modalitäten spielen sich in unterschiedlichen Netzwerken ab, die untereinander in verschiedenen Schichten des Kortex verbunden sind. Die visuell räumliche Modalität entspricht dem dorsolateralen-parietalen Netzwerk, die Modalität von Form und Farbe jenem des inferioren-temporalen Bereichs und die verbale Modalität der Arbeitsspeicherung wird in der Verbindung zwischen dem Broca- und dem Wernike-Areal gebildet. Die umfangreiche Forschung im Bereich von Arbeitsspeicherung und Gedächtnis zeigt vor allem eines auf: Alle kortikalen und subkortikalen Netzwerke müssen mit Arbeitsspeicherfunktionen ausgerüstet sein, um funktionsfähig zu sein. Bei der Messung von Arbeitsspeicherung oder Gedächtnis hängt es deshalb sehr davon ab, was genau gemessen werden soll. Im Konzentrationsverlaufstest, wie er in diesem Buch mehrfach dargestellt wird, besteht Arbeitsspeicherung z. B. darin, dass bestimmte Zielreize in Form von Bildern kurzfristig behalten werden müssen, um dann wieder erkannt und abgerufen werden zu können. In der Analysemethode des Konzentrationsverlaufstests werden Informationen zur Arbeitsspeicherung über die dorsolaterale präfrontale Komponente sowie im Parietalbereich zugänglich. Die Untersuchung der Gedächtnisfunktionen hat eine lange Tradition in der Neuropsychologie und kann dementsprechend, z. B. mittels Zahlen nachsprechen, vor- und rückwärts problemlos erfasst werden.
Monitoringoperation Die Monitoringkomponente umfasst jene Funktionen, die als Überwachung des Informationsverarbeitungsprozesses im Hinblick auf bestimmte Ope-
rationen stattfinden. Dies ist ein Prozess, der die eigene Erwartungshaltung mit der erbrachten Leistung abgleicht. Im Grunde genommen bedeutet dies nichts anderes als ein normaler Vorgang in jedem arbeitenden System: Es bestehen Vorstellungen darüber, wie eine Arbeit erbracht werden muss und gleichzeitig Kontrollmechanismen über die tatsächlich erbrachte Leistung. Wenn diese beiden Größen nicht übereinstimmen, kommt es zu einem Ungleichgewicht, was zur Folge hat, entweder die erbrachte Leistung zu verbessern oder die Erwartungshaltung zu reduzieren. Neurophysiologisch sind bestimmte Netzwerke im anterioren cingulären Kortex für die Erbringung dieses Monitoringprozesses verantwortlich: Die BA-25 und BA-24 des anterioren cingulären Kortex bilden ein Netzwerk, das diesen Abgleich biologisch bewerkstelligt. Bedeutsam ist, dass dieses Netzwerk stark durch limbische Strukturen, insbesondere den Hippocampus, beeinflusst wird. Die Monitoringoperation kann im Konzentrationsverlaufstest als Endergebnis des Informationsverlaufsprozesses nach ungefähr 400 ms im anterioren cingulären Kortex gemessen werden (. Abb. 4.3). Die Feststellung der Monitoringoperation mittels neuropsychologischen Untersuchungen ist derzeit noch nicht möglich.
4.3
Das Aufmerksamkeitssystem
4.3.1
Anatomie
Für die Beschreibung des Aufmerksamkeitssystems muss zunächst die Verbindung mit dem sensorischen System und zum Teil auch mit dem exekutiven System beschrieben werden.
Sensorisches System Die verschiedenen Inputmodalitäten und die anschließende Verarbeitung derselben ist ein äußerst komplizierter Prozess, an dem letztlich alle Netzwerke des Gehirns beteiligt sind. Eine besondere Bedeutung haben dabei die Aufmerksamkeitsprozesse, die bei jeder Verarbeitung von sensorischem Input mitbeteiligt sind. Die Aufmerksamkeitsprozesse sind diesbezüglich eine Art Überwachungs-
71 4.3 · Das Aufmerksamkeitssystem
4
. Abb. 4.3 Monitoringoperation. Links Topografie der Monitoringoperation, Mitte zeitlicher Verlauf der Komponente mit der ca. 400 ms nach Erscheinen des zweiten Stimulus
auftretenden positiven Welle (schwarz No-go-Durchgänge, rot Go-Durchgänge), rechts Lokalisierung der Komponente mittels sLORETA im cingulären Kortex
system, das für eine adäquate Aktivierung sorgt. Dabei handelt es sich nicht nur um kortikale Prozesse, sondern auch um die reziproke Verbindung zwischen kortikalen und subkortikalen Arealen. Die Information gelangt von den Sinnesorganen, einschließlich der »Wahrnehmungen« in verschiedenen sensorischen internen Arealen, zum Thalamus. Beispielsweise wird dann vom Pulvinar ausgehend, einem Kern im hinteren Teil des Thalamus, durch die reziproken Verbindungen zum Parietalkortex dieser Bereich in der angemessenen Art aktiviert unter Beteiligung des retikulären Aktivierungssystems, das den hinteren Teil des Thalamus umgibt. Dadurch erhält der Parietalkortex die notwendige Aktivität. Dieser Prozess wird durch das Aufmerksamkeitssystem überwacht (. Abb. 4.4).
Modulation des sensorischen Informationsflusses
Exekutives Aufmerksamkeitssystem Aufmerksamkeit bedingt selektive Operationen im sensorischen System. Allerdings können sensorische Ereignisse nicht getrennt werden von der Gesamtaktion. So z. B. müssen schon bei einfachen Leistungen wie dem Wechsel der Aufmerksamkeit von einer Szene zu einer andern, verschiedene Leistungen erbracht werden: Augenbewegungen, Neueinstellung der Pupille, Bewegung der Pupille etc. Zu diesem Zweck haben die parietalen kortikalen Bereiche der sensorischen Systeme reziproke interkortikale Verbindungen mit den anterioren kortikalen Bereichen des exekutiven Systems. So sind die interkortikalen Verbindungen involviert in die Selektion der Aktionen, die für die Detailanpassung des wahrnehmenden Systems bedeutsam sind. Die Aktionsselektion ist ein Teil des frontostriatalen Loops (7 oben).
Der überwiegende Teil unseres neurophysiologischen Wissens stammt von Experimenten mit Affen (Reynolds u. Desimone 1999), insbesondere über deren visuelles System. Die Impulsaktivität wurde gemessen, während visuelle Stimuli verabreicht wurden. Bei einfachen Aufgaben (1 Stimulus) zeigten sich zwei Teile der Reaktion: eine frühe und eine späte Reaktion. Bei komplexeren Aufgaben (2 Stimuli gleichzeitig), bei denen Aufmerksamkeit wichtig war, wurde die späte Reaktion des Neurons unterdrückt. Dies zeigt, dass die beiden Stimuli nicht unabhängig voneinander wahrgenommen werden. Kurz gesagt: Aufmerksamkeit scheint ein Prozess zu sein, der dem mentalen System hilft, Aktionen zu selektieren, wenn die Komplexität hoch genug ist. Dabei wird der erwarteten Information mehr Beachtung geschenkt und die Beachtung der unerwarteten Reaktion unterdrückt.
Aufmerksamkeit und Wachheit Wahrnehmung hat sehr viel mit Wachheit zu tun. Nur in einem wachen Zustand können Ereignisse verfolgt werden, wie z. B. im Straßenverkehr. Benommenheit ist der tiefste Grad von Wachheit, Hypervigilanz der höchste. Im Zustand der Schläfrigkeit oder der Benommenheit können wir wenig wahrnehmen, weil die Schwelle zur Aktivierung des sensorischen Systems zu hoch ist. Auch relevante Stimuli vermögen diesen Zustand nur zu verändern, wenn sie eine innere Weckfunktion haben. Deshalb können Kinder in der Schule in ihre eigenen Gedanken vertieft sein, wenn die Lehrperson normal unterrichtet. Konsequenterweise ist die
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RN . Abb. 4.4 Sensorisches Aufmerksamkeitssystem. Prozess der visuellen sensorischen Bahn mit den beiden verschiedenen Pfaden (ventraler Ast »Was-Pfad« und dorsaler Ast
»Wo-Pfad«); hellblaue Pfeile stellen den Prozess als Ganzes dar; graue Pfeile Aktvierungssystem vom Pulvinar zum parietalen Kortex
Leistungsfähigkeit des Aufmerksamkeitssystems dann tief. Wenn jedoch der Unterricht intensiv ist und das Kind dadurch angesprochen wird, kann die Schwelle der Aktivierung überwunden werden. Im Status der Hypervigilanz sind wir durch viele unwichtige Stimuli abgelenkt, weil auch irrelevante Stimuli die Schwelle der sensorischen Aktivierung passieren. Das Aufmerksamkeitssystem erbringt in diesem Zustand ebenfalls keine Leistung. Wachheit oder Vigilanz und Arousal bilden eine fundamentale Eigenschaft des Verhaltens, Denkens und Fühlens. Wichtig dabei ist die Schwelle, welche individuell sehr verschieden ist. Die Schwellen werden aber auch je nach Situation gesetzt. In subjektiv als erregend definierten Situationen ist die Schwelle tiefer, in langweiligen Situationen
höher. Sie ist ebenfalls abhängig vom Motivationssystem des Individuums.
Aufmerksamkeitsbezogene Reaktionen in evozierten Potenzialen Aufmerksamkeitsprozesse können mittels evozierten Potenzialen mit dem Konzentrationsverlaufstest unterschiedlich gemessen werden: So besteht die Möglichkeit die beiden Pfade der visuellen Verarbeitung, nämlich den ventralen und den dorsalen Pfad zu betrachten. Der dorsale Pfad fällt zusammen mit der Aktivierungs- oder Engagementoperation (. Abb. 4.1). Der aufmerksamkeitsbezogene Teil des ventralen Pfades spiegelt sich in der in . Abb. 4.5 dargestellten Komponente wider.
73 4.4 · Das sensorische System
. Abb. 4.5 Aufmerksamkeitskomponente. Komponente, die die temporale Aktivität des linken ventralen visuellen Astes beschreibt. Links Topografie; Mitte zeitlicher Verlauf
4.4
Das sensorische System
4.4.1
Anatomie
4
(schwarz No-go-Durchgänge, rot Go-Durchgänge), rechts die Lokalisierung der Komponente mittels sLORETA im BA-39
tem kann aber jederzeit in einen aktiven Modus wechseln.
Parallele Pfade Die sensorischen Signale der empfangenen Organe werden von den primären sensorischen Arealen des Kortex über die sog. Relaiskerne des Thalamus aufgenommen. Folgende Areale sind in die Grundmodalitäten der Inputsysteme involviert: BA-17 (primärer visueller Kortex), BA-41 (primärer auditiver Kortex) und BA-1, BA-2 und BA-3 (für den somatosensorischen Kortex). Die Relaiskerne des Thalamus sind: der laterale Kniehöcker (Corpus geniculatum laterale, CGL) für den visuellen Input, der mediale Kniehöcker (Corpus geniculatum mediale, CGM) für den auditiven Input und der Nucleus lateralis posterior (LP) für den somatosensorischen Input.
Topografische Organisation der primären sensorischen Areale Jedes primäre sensorische Areal ist durch eine topografische Ordnung der Projektionen charakterisiert. Die topografische Ordnung bedeutet, dass Zellen eines rezeptiven Organs zu anderen benachbarten Zellen projizieren. Diese bildet eine Struktur des rezeptiven Organs im Kortex. Die primären sensorischen Prozesse und die entsprechenden thalamischen Zellen bilden gegenseitig verbundene neuronale Netzwerke. Eine Besonderheit dieser thalamokortikalen Netzwerke ist die Fähigkeit zur Bildung von Alpharhythmen. Die Funktion dieser Alpharhythmen ist die Aufrechterhaltung von sog. Idling-Rhythmen (eigentlich Leerlaufrhythmen). In diesem Zustand werden keine sensorischen Informationen aktiviert. Das Sys-
Die parallel im Gehirn ablaufenden Prozesse sollen anhand der visuellen Modalität beschrieben werden. Visuelle Wahrnehmung ist im Grunde nichts anderes, als verschiedene Farben und Formen zu erkennen, die sich in einem oder in mehreren Räumen befinden und die sich mit unterschiedlicher Geschwindigkeit bewegen oder nicht bewegen. Das visuelle System analysiert, was sich im Raum befindet, wo genau dieses »Was« sich befindet und wie das Subjekt das »Was« manipulieren kann im Hinblick auf seine eigene Welt. Die Natur hat zwei unterschiedliche Pfade entwickelt, um diese verschiedenen Informationen zu erfassen. Diese verschiedenen Informationsflüsse werden bereits auf der Stufe des lateralen Nucleus geniculatus entworfen. Der eine Pfad oder Ast wird ventraler (oder Was-) Pfad genannt und umfasst die BA-17, BA-18, BA-19 und den inferioren temporalen Kortex. In diesen verschiedenen Arealen wird die Information hierarchisch in immer höhere Schichten transferiert, bis eine Wiedererkennung möglich ist. Die Funktion dieser ständigen Veränderung der Information ist die Zerlegung des Signals in verschiedene Eigenschaften wie Orientierung, räumliches Vorkommen und Farbe. Der andere Pfad wird dorsaler Ast genannt und wird in den BA-39, BA-7 und zum Teil BA-19 ähnlich dem ventralen Pfad in die Submodalitäten Geschwindigkeit und Position zerlegt. Der dorsale Pfad führt vorwiegend in den parietalen Bereich. Es muss betont werden, dass der parietale Kortex nicht nur für die Erkennung von Geschwindig-
74
4
Kapitel 4 · Funktionelle Gehirnsysteme
keit und Position zuständig ist, sondern auch für die Organisation der visuellen und motorischen Prozesse (Wie-Prozesse). Posterior sich befindende parietale Areale sind mit den prämotorischen Arealen des frontalen Kortex verbunden. Dies ermöglicht die Orientierung im Raum und die Aktivierung einer vorstellungsmäßigen motorischen Aktion. Deshalb ist es möglich, dass die Augen sich bereits auf eine angenommene Position eines vorbeiziehenden Objektes richten, um das Objekt verfolgen zu können. Die beiden Pfade operieren nur bedingt parallel: Sie interagieren miteinander auf verschiedenen Stufen der beschriebenen hierarchischen Prozesse. Zusätzlich bestehen in beiden Pfaden wiederkehrende, rekursive Verbindungen, über die hierarchisch höhere Schichten tieferliegenden Schichten Information zusenden. Diese rekursiven Verbindungen ermöglichen Top-down-Prozesse, die für die Aufmerksamkeit und die Speicherung von großer Bedeutung sind.
4.5
Das Emotionsregulationssystem
4.5.1
Anatomie des limbischen Systems
Das affektive System fügt dem Exekutiv- und Aufmerksamkeitssystem eine neue Dimension hinzu, nämlich jene der Emotion/Motivation. Dieses System reguliert das gesamte Verhalten: die Suche nach positiven Emotionen und das Vermeiden von negativen Gefühlen. Aus der Sicht des Informationsverarbeitungsprozesses ist das affektive System notwendig, um wichtige Ereignisse, die das Überleben sichern, zu verstärken und diesen eine hohe Bedeutung zuzumessen. Das limbische System ist in erster Linie anatomisch definiert: Es beinhaltet Strukturen, die rund um das Corpus callosum, um die Basalganglien und um den Thalamus organisiert sind. Zum limbischen System gehören u. a. die Amygdala, der insuläre Kortex, der Hippocampus, die Fornix, der Hypothalamus, die Mamillarkörper, bestimmte Kerne des Thalamus (anteriorer Nukleus), der anteriore cinguläre Kortex, das Kleinhirn, der entorhinale Kortex und der orbitofrontale Kortex. Diese Strukturen unterhalten wichtige funktio-
nelle Verbindungen zu Steuerungszentren in anderen Hirnregionen. Als Schaltzentrale des limbischen Kortex gilt die Amygdala (7 Kap. 3).
Papez-Kreis: Ein bedeutsames Netzwerk für die Emotionsregulation Eine erste Annäherung zum affektiven System machte James Papez 1937. Papez postulierte, dass der Hippocampus Teil des limbischen Systems sei. In der Tat, die Amygdala sendet über die Insula Signale zum entorhinalen Kortex, vom entorhinalen Kortex führt der Weg über das BA-28 zum Hippocampus und vom Hippocampus zur Fornix, von wo die Information weiter zu den Mamillarkörpern gesendet wird. Die Mamillarkörper projizieren zum anterioren Nukleus des Thalamus und von da geht der Weg weiter zum anterioren cingulären Kortex. Der Hippocampus seinerseits erhält Input vom anterioren cingulären Kortex aufgrund der reziproken Verbindung, was den Kreis schließt (deshalb Papez-Kreis, . Abb. 4.6). Dieser Kreis ermöglicht es den Emotionen, die durch den Hypothalamus getriggert sind, ins Bewusstsein zu kommen. Auf der andern Seite ermöglichen höhere kognitive Funktionen des cingulären Kortex, sich mit Emotionen zu verbinden.
Kortikale und subkortikale Elemente des affektiven Systems Die neuere anatomische und neurophysiologische Forschung zeigt, dass das limbische System nicht als eigene Entität angesehen werden kann, sondern dass es in verschiedene Subsysteme unterteilt werden muss, die unterschiedliche funktionale Rollen spielen. Diese verschiedenen Subsysteme sind nicht nur bei Funktionen wie Emotion/Motivation, sondern auch in Bezug auf die episodische Speicherung und auf die exekutiven Funktionen bedeutsam. Der Hippocampus unterhält reziproke Verbindungen mit dem Assoziationskortex der sensorischen Systeme (BA-19, BA-20, BA-21, BA-22, BA36, BA-37, BA-39), sodass bilaterale Läsionen sowohl zu retrograden als auch anteriograden Hemmungen führen. Weiter oben wurde schon gezeigt, dass er anteriore cinguläre Kortex in Bezug auf Aufmerksamkeit und Fehlerkorrektur eine wichtige Rolle spielt, beides sind Elemente der exekutiven Funktionen.
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RN . Abb. 4.6 Papez-Kreis als Teil des limbischen Systems. Blaue Pfeile von der Amygdala (AM) wird zum insulären Kortex projiziert, von der Insula zum entorhinalen Kortex (BA28) und von da gelangt die Information über den Hippo-
campus und die Fornix zu den Mamillarkörpern (MB). Von den MB verläuft die Information über den anterioren Kern des Thalamus zum anterioren cingulären Kortex und dann wieder zurück über den entorhinalen Kortex zum Thalamus
Das affektive System ist also ein Komplex von kortikalen und subkortikalen Strukturen, die untereinander gegenseitig verbunden sind, um eine funktionale Emotionalität zu entwickeln, die auf interne und externe Stimuli adäquat reagieren kann. Die kortikalen Strukturen sind der orbitofrontale Kortex, der anteriore cinguläre Kortex, die Insula und somatosensorische kortikale Bereiche. Die subkortikalen Strukturen beinhalten die Amygdala, der anteriore Hypothalamus und das ventrale Striatum (Nucleus accumbens). Die meisten dieser Strukturen gehören zu den Tiefenstrukturen des Gehirns. Das macht es unmöglich, das emotionale System in einem EEG abzubilden. Über die evozierten Potenziale lassen sich die Strukturen des
anterioren cingulären Kortex erfassen. Zukünftige Forschung mit entsprechend emotional ausgerichtetem Testverfahren wird es möglich machen, die Beteiligung des Affektivsystems an der Informationsverarbeitung besser zu verstehen.
4.6
Gedächtnissysteme
4.6.1
Verschiedene Gedächtnistypen
Eine wesentliche Errungenschaft der Forschung im Bereich der Kognitions- und Neurowissenschaften ist die Erkenntnis, dass es verschiedene Gedächtnissysteme gibt, in die unterschiedliche Gehirnsys-
76
Kapitel 4 · Funktionelle Gehirnsysteme
teme involviert sind. Eine Unterscheidung kann z. B hinsichtlich des zeitlichen Ablaufs der verschiedenen Systeme gemacht werden, wie Ultrakurzzeitgedächtnis, Kurzzeitgedächtnis und Langzeitspeicher. Die Langzeitspeicherung kann in verschiedene Gedächtnissysteme unterteilt werden (. Tab. 4.2).
4
Explizites Gedächtnis Für das explizite Gedächtnis ein funktionierendes Bewusstsein notwendig. Dagegen ist bei den impliziten Gedächtnisvorgängen Wachheit resp. Bewusstsein nicht unbedingt notwendig. Das prozesshafte Gedächtnis ist ein Untertyp des impliziten Gedächtnisses und basiert auf dem Lernen und Abrufen von motorischen und kognitiven Fertigkeiten (z. B. Lesen). Wenn ein Organismus lernt, ist eine ganze Anzahl von Gehirnsystemen und -strukturen involviert. Es gibt jedoch ein kritisches Gehirnsystem, das bei einer Schädigung permanente Schwierigkeiten verursacht und das Lernen und Behalten bleibend beeinträchtigt: Es handelt sich um die medial-temporalen Bereiche, die bei den deklarativen Gedächtnisleistungen stark involviert sind (BA-20, BA-21).
Deklaratives Gedächtnis Anatomie und Physiologie Der in der Literatur berühmt gewordene Patient H. M. zeigte, dass die medial-temporalen Bereiche (BA-20/21) für das Lernen und Behalten weitreichende Konsequenzen haben. Diese medial-temporalen Strukturen sind hierarchisch organisiert: Die Region des Hippocampus ist stark mit dem entorhinalen Kortex verbunden, der wiederum stark mit dem perirhinalen Kortex und dem Parahippocampus verbunden ist. Diese sind wiederum extensiv mit temporalen und parietalen neokortikalen Bereichen verknüpft. Der Hippocampus projiziert zu den Mamillarkörpern des Hypothalamus und zum anterioren Nukleus des Thalamus (. Abb. 4.7). Mittels hochauflösender funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT) konnte gezeigt werden, dass die Mamillarkörper und der anteriore Kern des Thalamus beim Korsakoff-Syndrom, bei
dem es in erster Linie zu Amnesien kommt, beschädigt sind. Diese Befunde wurden in Tierversuchen bestätigt. Wie . Abb. 4.7 zeigt, operiert der mediale Temporallappen nicht alleine als homogene Einheit: Viele verschiedene Systeme (das limbische System, der orbitofrontale Kortex, der ventrolaterale frontale Kortex und das gesamte Netzwerk des Temporallappens inklusive entorhinaler Kortex) organisieren gemeinsam ein komplexes Zusammenspiel. Durch den gesamten medial-temporalen Komplex werden Einspeicherung (»Enkoding«), Konsolidieren der Information und Gedächtnisabruf möglich. Es muss betont werden, dass Gedächtnisinhalte in temporal-parietal-frontalen Bereichen gespeichert werden, während der Hippocampus als Referenz zu den Inhalten operiert. Die Inhalte können deshalb unabhängig von den medial-temporalen Bereichen gespeichert werden und sind dann abhängig von anderen neokortikalen Systemen. Deshalb können deklarative Gedächtnisinhalte auch über den ventralen Pfad des visuellen Systems abgerufen werden. Dieses System führt über die inferioren und lateralen temporalen Strukturen und unterstützt die Objektwahrnehmungen. Diese Repräsentationen sind assoziiert mit der Wiedererkennung und Identifikation von Objekten und der Langzeitspeicherung des Wissens. Das ventrale System der visuellen Wahrnehmung kann deshalb auch als speicherbasiertes System betrachtet werden, das visuelle Repräsentationen in das deklarative Langzeitgedächtnis führt. Dort werden diese neuen Repräsentationen mit dem Vorhandenen verglichen. Ein bekanntes Gesicht oder eine bekannte Szene kann deshalb spontan eine Gedächtnisspur öffnen. Die meisten Gedächtnisaktionen werden jedoch durch zielorientiertes Handeln und Denken ausgelöst. In diese Aktionen ist der präfrontale Kortex involviert. Wie man von den Ausführungen zum exekutiven System weiß, erhalten diese Bereiche Informationen durch die posterioren Assoziationsareale, speichern den Aktionsplan und bereiten die Handlung vor. Dabei sind Arbeitsspeicher-, Selektions-, Initiations- und Hemmungsprozesse involviert.
77 4.6 · Gedächtnissysteme
4
. Tab. 4.2 Gedächtnissysteme Kategorie
Subkategorie
Was wird gespeichert?
Welche Gehirnstrukturen sind beteiligt?
Deklaratives oder explizites Gedächtnis
Episodisch
Persönliche Events
Hippocampus – sensorisch multimodal – präfrontal
Deklaratives oder explizites Gedächtnis
Semantisch
Generelle Tatsachen ohne Referenz zu persönlichen Ereignissen
Hippocampus – sensorisch multimodal – präfrontal
Nicht deklaratives Gedächtnis (implizites G.)
Prozesshaft
Aktionen wie Sprache oder andere Automatismen
Präfrontaler Kortex – Basalganglien – Thalamus Netzwerk
Nicht deklaratives Gedächtnis (implizites G.)
Instrumentell und konditionierte Reflexe
Assoziationsgedächtnis
Sensorisch multimodal, kortikal, Cerebellum, Amygdala
Nicht deklaratives Gedächtnis (implizites G.)
Priming
Aktivierung von Teilen von Repräsentationen kurz vor dem Ausführen einer Aktion
Vermutlich kurzzeitige Modifikationen in den Synapsen der Neuronen, die an der Stimulusrepräsentation beteiligt sind
Nicht deklaratives Gedächtnis (implizites G.)
Gewöhnung
Nicht assoziatives Gedächtnis, resultierend au seiner Verminderung der Antworten nach wiederholter Präsentation eines Stimulus
Kurzzeitiges Herunterfahren der Aktion in den Synapsen
Neuronale Modelle des Gedächtnisses Enkodierung und Dekodierung Damit sind Prozesse des Einspeicherns und Abrufens von Informationen gemeint. Die Bereiche des Einspeicherns (Enkodierung) und des Speicherabrufs (Dekodierung) stimmen oft (aber nicht notwendigerweise) mit den Bereichen des sensorischen Systems überein. Diese Erkenntnisse wurden bereits früh von Penfield et al. (1963) gemacht: Er stimulierte mittels elektrischen Impulsen bestimmte Areale des Gehirns (okzipitale und temporale Bereiche) und fand, dass diese Stimulationen in vielen Fällen zu Gedächtnisabruf führten. Positronenemissionstomografie- (PET-) und fMRT-Studien, z. B. beschrieben von Buckner et al. (2000), zeigten das gleiche Bild: Die Regionen der Enkodierung und des Abrufs (Dekodierung) stimmen hochsignifikant überein.
Rugg u. Yonelinas (2003) teilten die Abrufoperation in zwei unterschiedliche Prozesse auf und bezeichnete diese einerseits als vertraute Information und zu erinnernde Operation. Bei der zu erinnernden Operation führen konstruktive Prozesse zum Abruferfolg.
Das neuronale Modell Dieses wurde bereits an andern Orten dieser Arbeit im Zusammenhang mit dem Hippocampus referiert (7 Abschn. 3.2.12). Kurz: Die sensorischen Anteile einer Episode werden im parietalen Temporallappen enkodiert, während die aktionsbezogenen Anteile der Episode im Frontallappen gespeichert sind. Ohne Hippocampusanteil, kann die Spur nur kurzzeitig aktiviert bleiben in einer Art des Widerhallens der neuronalen Impulse und ist dann sehr störungsanfällig. Der Hippocampus ist die Struk-
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RN . Abb. 4.7 Verschiedene kortikale und subkortikale Komponenten des episodischen Gedächtnisses; hellblaue Pfeile PapezKreis, dunkelblaue Pfeile kortikale Gedächnisloops
tur, in der die verschiedenen Repräsentationen einer Information wieder zu einer Aktionseinheit zusammenkommen. Dadurch können Informationen längerfristig gespeichert werden. Diese Aktion ist neurophysiologisch von einem »Thetaburst« begleitet (7 Abschn. 10.7.1). Die hippocampale Repräsentation wird in verschiedenen Situationen gebraucht, z. B. in einem expliziten Abruf von Gedächtnisinhalten oder beim Erinnern von Multiplikationsergebnissen. Die Repräsentationen im Hippocampus werden aber auch bei unbewussten Prozessen abgerufen, z. B. während des Schlafens.
QEEG- und EKP-Indizes des episodischen Gedächtnisses Es gibt verschiedene Paradigmen von evozierten Potenzialen, um das episodische Gedächtnis zu studieren. In allen Situationen werden den Versuchspersonen Stimuli zur Einspeicherung präsentiert und während der Abrufphase getestet.
Alt-neu-Paradigma Im »Alt-neu-Paradigma« geht es um »alte« Impulse, d. h. solche, die während einer Lernphase behalten werden müssen und »neuen« Impulsen, d. h. solchen, die während der Lernphase nicht vorkommen. Der Unterschied zwischen den EKP-Kurven der alten und der neuen Impulsen ergibt eine Diffe-
79 4.6 · Gedächtnissysteme
renzkurve, die über dem linken temporal-parietalen Areal generiert wird (Allan u. Rugg 1997).
Erinnern-vergessen-Effekt in ereigniskorrelierten Potenzialen Im »Encoding«-Paradigma können neurobiologische Korrelate des episodischen Gedächtnisses überprüft werden. Die Parameter werden während der Einprägungsphase erhoben. EEG und EKP werden dann für nachfolgende übereinstimmende oder nicht übereinstimmende Stimuli gemessen. Der Unterschied zwischen den Kurven derjenigen Stimuli, die erinnert werden und jenen, die vergessen werden, gibt dann den neurobiologischen »Erinnert-vergessen-Effekt« wieder. Die Untersuchungen, unter anderem von Klimesch et al. (2010, 2006), zeigen, dass erinnerte Inhalte höhere Amplituden zeigen als vergessene. Daneben waren eine stärkere Kohärenz im Gamma-Band zwischen dem entorhinalen Kortex und dem Hippocampus und stärkere neuronale Impulse im Hippocampus zu beobachten.
4.6.2
Prozesshaftes Gedächtnis
Das prozesshafte Gedächtnis ist eng mit dem Lernen von neuen Inhalten und dem Kontrollieren von erworbenen sensorisch-motorischen und kognitiven Aktionen verbunden. Sensorisch-motorische Aktionen sind z. B. Tennisspielen, Autofahren, Klavierspielen, Schreiben, Lesen etc. – kurz alle Aktionen, die automatisiert ablaufen können.
Neuronale Lokalisation Wie in den vorangehenden Abschnitten gezeigt wurde, kann das Gehirn grob in einen sensorisch bezogenen Teil (sensorische Systeme, Aufmerksamkeitssystem, z. T. affektives oder emotionales System) und in einen aktionsbezogenen Teil (exekutives System) unterteilt werden. Der sensorische Teil operiert vornehmlich mit den sensorischen Informationen und speichert diese Informationen in unterschiedlichen Repräsentationen. Dazu wird der Hippocampus zur Festlegung dieser Repräsentationen aktiviert.
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Wie verschiedentlich zum exekutiven System bereits gezeigt wurde, werden durch dieses System insbesondere die Aktionen geplant, gesteuert, mit den Erwartungen abgeglichen und entsprechend kontrolliert und in einem Feedbackloop wieder eingespeist. Diese Aktionen sind im Präfrontalund Frontallappen sowie in den Basalganglien lokalisiert. Die Prozessspeicherung benötigt immer das gleiche System für die Enkodierung und die Konsolidierung der Aktion. Das prozesshafte Gedächtnis umfasst folgende Netzwerke des Gehirns: Die frontal-parietalen Areale projizieren zum dorsalen und ventralen Striatum (Nukleus accumbens), der frontostriatale Loop (Kortex-Basalganglien-Thalamus-Kortex) projiziert zurück über den Thalamus zu den frontalen parietalen Arealen. Das Kleinhirn kann als unabhängiges aber ebenfalls zum prozesshaften Gedächtnis beitragendes Netzwerk angesehen werden. Über den direkten Pfad des frontostriatalen Loops gelangen positive Informationen zum frontalen Kortex, über den indirekten Pfad negative Informationen (. Abb. 4.8).
EEG-/EKP-Befunde zum prozeduralen Gedächtnis Mit dem Konzentrationsverlaufstest ist es möglich, die bewusste Speicherung zu analysieren. Die GoBedingung, die bei der Erhebung von evozierten Potenzialen gemessen wird, gibt Hinweise über die bewusste Entscheidung für die Übereinstimmung zwischen zwei aufeinanderfolgenden Stimuli. Sie zeigt sich frontal als P2-Komponente, d. h. als ein positives Potenzial, das ungefähr 200 ms nach Auftreten eines externen Stimulus auftritt.
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RN . Abb. 4.8 Prozedurales Gedächtnis. Pfade des prozeduralen Gedächtnisses: In den Basalganglien werden laufend Aktionen verarbeitet, die im gesamten frontal-parietalen Kortex angelegt und verteilt sind (orangefarbene Pfeile), die
Basalganglien projizieren dann die Aktionen über direkte und indirekte Pfade (orangefarbene gewellte Pfeile) zum Thalamus und über den Thalamus gelangen die Aktionen wieder zurück zum Frontallappen (blaue Pfeile)
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Genetik und Neurotransmitter 5.1
Genetik – 82
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Dopamin – 82 Noradrenalin – 86 Serotonin – 86 Acetylcholin – 87
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Kapitel 5 · Genetik und Neurotransmitter
Die raschen Fortschritte in der Hirnforschung, der Entzifferung des Genoms und die Erfolge der Pharmakologie der letzten Jahrzehnte haben zusammen mit den andern Disziplinen das Bild des bereits vor über 150 Jahren beschriebenen »ZappelphilippSyndroms« verfeinert.
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Genetik
In den letzten Jahrzehnten – und insbesondere seit die Entzifferung des menschlichen Genoms Anfang des Jahrtausends große Hoffnungen für die Medizin geweckt hat – sind eine Vielzahl genetischer Untersuchungen auch zu ADHS gemacht worden. Bereits zuvor war man aufgrund von Familien- und Zwillingsstudien zur Überzeugung gekommen, dass ADHS zu 70–80 % vererbbar ist – die Zahlen variieren je nach Quelle. Dennoch konnten bis heute keine dominierenden Risikogene für ADHS gefunden werden. Vielmehr dürfte es sich um eine Störung handeln, die durch viele Genveränderungen mitverursacht wird. Von mindestens 18 Genen wird berichtet, die mit dem Syndrom assoziiert seien. Dazu zählen vor allem Gene für die Dopaminrezeptoren 4 und 5 (DRD4, DRD5) und für einen Dopamintransporter (DAT1), das DopaminBeta-Hydroxylase-Gen (DBH) sowie das Gen für den Serotonin-1B-Rezeptor- (HTR1B) und das Serotonintransportergen (HTT) oder auch das synapsenassoziierte Protein-25-Gen (SNAP-25). Genomstudien haben zudem Bezüge zu verschiedenen Chromosomen erkennbar werden lassen (Curatolo et al. 2009). Allerdings sind signifikante Korrelationen zwischen dem Auftreten von ADHS und möglichen Kandidatengenen klein und erklären maximal 5 % der Verhaltensabweichung (Steinhausen 2009). Insgesamt zeigen die Untersuchungen vor allem auch, dass die genetische Architektur von AHDS komplex ist (Faraone u. Mick 2010). Vermutlich handelt es sich bei der genetischen Disposition um eine Mischung von dominanten und rezessiven Genen, die zusammenspielen und deren Wirkung durch weitere komplexe Transmissionsmuster bestimmt wird (Sharp et al. 2009). Überraschenderweise hat auch eine weitere Metaanalyse keine erheblichen Zusammenhänge zwischen einzelnen
Genen und dem ADHS-Verhalten gezeigt (Neale et al. 2010a; Neale et al. 2010b). Umwelteinflüsse scheinen bei gewissen genetischen Dispositionen das Risiko für ADHS zu erhöhen. Dies ist zum Beispiel der Fall bei Mutationen des Dopamintransportergens (DAT1) in Verbindung mit Alkoholkonsum in der Schwangerschaft (Steinhausen et al. 2008). Auch ließ sich nachweisen, dass die Wirkung von Medikamenten vom Typ des DAT-Gens abhängig ist. So führt eine vorgeburtliche Nikotinexposition zu einer größeren Wahrscheinlichkeit für ADHS (Kieling et al. 2008). Den Zwillings-, Familien-und Adoptionsstudien muss zugutegehalten werden, dass sie zu einem fundierten Verständnis genetischer und umweltlicher Wirkfaktoren bei ADHS beigetragen haben. Die Erblichkeitsschätzungen für ADHS liegen bei ca. 70 %. Dies übersteigt die meisten anderen psychiatrischen Störungen. Das gehäufte Auftreten von ADHS in Familien konnte in Studien von verschiedener Seite bestätigt werden (Biederman et al. 1992). Aufgrund der bisher wenig aussagekräftigen Festlegung einzelner Gene einerseits und andererseits dem lange bekannten Phänomen des gehäuften Auftretens von ADHS in einzelnen Familien wird der biosozialen Interaktion eine zunehmend größere Bedeutung beigemessen: Immer mehr wird die Ansicht vertreten, dass das Zusammenspiel zwischen genetischen, entwicklungsmäßigen, neuroanatomischen sowie physiologischen, kulturellen und umweltlichen Wirkfaktoren zur Diagnose ADHS führt. Ein entsprechendes Modell wird in 7 Kap. 13 und 14 eingehend besprochen.
5.2
Pharmakologie
5.2.1
Dopamin
Der Nachweis, dass Dopamin für ADHS ein Schlüsseltransmitter ist, wurde von verschiedener Seite erbracht (Krause u. Krause 2009). Über die Frage, wie genau es wirkt, bestehen verschiedene Hypothesen. Castellanos et al. hegten bereits 1997 den Verdacht einer defizitären Dichte im kortikalen und subkortikalen Dopaminsystem (Castellanos et
A. Müller et al., ADHS Neurodiagnostik in der Praxis, DOI 10.1007/978-3-642-20062-5_5, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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al. 1997). Diese Hypothese wurde im Folgenden von vielen weiteren Forschergruppen bestätigt. Verschiedene Arbeiten (Volkow et al. 2008; Volkow et al. 2009) konnten mittels PET-Technologie aufzeigen, dass das Belohnungssystem im Nucleus accumbens sowie im linken Nucleus caudate bei Menschen mit ADHS im Vergleich zu Gesunden unterschiedlich arbeitet. Im Vergleich zu anderen Neurotransmittern wirkt das Dopaminsystem in spezifischen und abgrenzbaren Netzwerken einzelner Hirngebiete. Die hauptsächlich mit Dopamin versehenen Neuronen entspringen zwei verschiedenen Kernen des Mittelhirns: Der Substantia nigra (SN) und dem ventralen tegmentalen Areal (VTA) (. Abb. 5.1). Der nigrostriatale Pfad (blaue Pfeile) führt von der Substantia nigra zum Nucleus caudatus und zum Putamen und definiert vorwiegend die motorische Kontrolle. Die Hyperaktivität und wahrscheinlich auch die Hypoaktivität bei ADHS-Patienten sind das Resultat eines dysfunktionalen nigrostriatalen Pfades. Zwei weitere Dopaminsysteme gehen vom ventralen tegmentalen Areal aus: der mesolimbische und der mesokortikale Dopaminpfad. Der mesolimbische Dopaminpfad (. Abb. 5.1: rote Pfeile) führt zu den limbischen Strukturen des Nucleus accumbens, des Hippocampus und der Amygdala und wird allgemein als Belohnungspfad bezeichnet. Bei Patienten mit ADHS ist der mesolimbische Pfad insofern bedeutsam, als die Möglichkeiten des Bedürfnisaufschubs häufig gering sind und deshalb bereits unbedeutende Ereignisse zu emotionalen Katastrophen führen. In diesem Zusammenhang ist auch die mangelnde Frustrationstoleranz zu verstehen. Der mesokortikale dopaminerge Pfad (. Abb. 5.1: gelbe Pfeile) führt vom ventralen tegmentalen Areal besonders zu den Arealen des Frontalhirns, aber auch zu vielen anderen kortikalen Arealen. Dieser Pfad steht in Zusammenhang mit dem allgemeinen Aktivierungs- und Erregungssystem. Bei Patienten mit ADHS kann häufig eine frontale Unteraktivierung beobachtet werden. Bei der Gabe von Methylphenidaten zeigt sich häufig schnell eine Verbesserung der allgemeinen Präsenz. Allerdings muss gleichzeitig auch betont werden, dass die Effekte von Methylphenidaten schnell nachlassen und dann häufig die Dosis erhöht wird. Dieser Prozess führt zu Schwierigkeiten, weil die
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Dosen letztendlich zu hoch eingenommen werden (bis zu 200 mg mehrmals täglich), was zu einem deutlichen Suchtpotenzial führt.
Dopaminaustausch in der Synapse Die wesentliche Rolle von Neurotransmittern bzw. pharmakologischen Substanzen bei ADHS, zeigte sich schon früh in der modernen ADHS-Forschung. Bereits 1937 entdeckte Charles Bradley die Wirkung von Amphetaminen auf verhaltensgestörte Kinder – nur 16 Jahre, nachdem der erste Neurotransmitter überhaupt 1921 entdeckt worden war. Die Erfahrung, dass mit Amphetaminen die Symptome der heute als ADHS bekannten Störung gemildert werden können, führte dann schließlich auch zum Einsatz der amphetaminähnlichen Substanz Methylphenidat, die 1955 von der »Food and Drug Administration« zugelassen wurde und die als Psychostimulans unter dem Namen Ritalin bis heute als das Medikament der Wahl für ADHS gilt. Methylphenidat greift nach heutiger Erkenntnis in den Haushalt der Neurotransmitterklasse der Katecholamine ein, insbesondere in die Verfügbarkeit von Dopamin in den Synapsen. Die Funktionsweise von Dopamin bei der Übertragung von elektrischen Impulsen zeigt . Abb. 5.2. Die Darstellung bildet den Dopamintransport von einem Neuron zum anderen ab. Die Dopamin-Molekül-Bläschen werden in der Substantia nigra resp. im ventralen tegmentalen Areal gebildet und von da den verschiedenen dopaminergen Strukturen durch elektrische Impulse und Entladungen zugeführt. In der Nähe der präsynaptischen Membran angekommen, werden über die Depolarisation der präsynaptischen Membran Kalziumkanäle geöffnet, in die die Kalziumionen einfließen. Diese Kalziumionen ermöglichen den Bläschen sich mit der präsynaptischen Membran zu vereinigen, und die Neurotransmittermoleküle können so in den synaptischen Spalt eingeschwemmt werden. Die Dopaminmoleküle verbinden sich mit den Rezeptoren der postsynaptischen Membran, die ganz gezielt bestimmte Molekülgruppen aufnehmen können. Die nicht gebrauchten Dopaminmoleküle gehen zurück mit den wieder aufzubereitenden Neurotransmitterbläschen. Man geht davon aus, dass bei Patienten mit ADHS zu wenig Dopamin in den synaptischen
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RN . Abb. 5.1 Drei verschiedene Dopaminsysteme. Verlauf vom Hirnstamm zu verschiedenen Teilen des Gehirns: nigrostriataler Pfad (blau): von der Substantia nigra zu Striatum, Nucleus caudate, Putamen; mesolimbischer Pfad (rot): vom
ventralen tegmentalen Areal zu Nucleus accumbens, Amygdala und Hippocampus; mesokortikaler Pfad (gelb): vom ventralen tegmentalen Areal zu den verschiedenen frontalen kortikalen Arealen
Spalt eingeschwemmt wird. Durch die Hemmung der Wiederaufnahme, z. B. durch die Gabe von Methylphenidaten, kann die Dichte an Dopaminmolekülen im synaptischen Spalt vergrößert werden. Die Chance, dass die Moleküle von den Rezeptoren aufgenommen werden, erhöht sich so entscheidend.
telungen des Kortex. Bei Tierversuchen (Lesting et al. 2005) zeigte sich, dass die dopaminergen Fasern des präfrontalen Kortex sich deutlich später entwickeln als jene des Nucleus accumbens und des Hippocampus. Auch ließ sich beobachten, dass die postnatalen Reifungsprozesse sehr stark abhängig sind von den äußeren Einflussfaktoren. Dies unterstützt die These, wonach frühkindliche Deprivation oder traumatisierende Erfahrungen während der Schwangerschaft, während der Geburt oder im frühen Kindesalter besonders große Auswirkungen haben auf das Aufmerksamkeitssystem und auf das System der exekutiven Funktionen. Bei solch einschneidenden Ereignissen sind jedoch nicht nur die Neurotransmittersysteme aktiv,
Reifung der dopaminergen Bahnen durch Entwicklung Eine weitere äußerst interessante Überlegung ist die entwicklungsmäßige Reifung der unterschiedlichen dopaminergen Bahnen (7 oben; . Abb. 5.1). Prinzipiell reifen diese Bahnen von ihrem Ursprung, also dem Hirnstamm zu den feinen Veräs-
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a)
Dopamin-Moleküle Präsynaptische Membran Postsynaptische Membran
Ca2+ b)
c)
Reuptake Inhibition
d)
g)
f) e)
. Abb. 5.2 Funktionsweise der Dopaminfreisetzung und die Wiederaufnahmehemmung. (Erläuterungen . Abb. 1.1)
sondern in ganz besonderem Maß auch die stressbezogenen Hormonsysteme. Bei Tierversuchen mit Ratten konnten Minderentwicklungen der neuronalen Systeme im präfrontalen Kortex beobachtet werden (Zhang et al. 2002). Beim Älterwerden wurden diese Tiere dann verschiedenen Belastungen ausgesetzt. Sie reagierten mit erheblich höherem Stressverhalten, waren ängstlicher und orientierungsloser. In 7 Abschn. 13.7 werden die Zusammenhänge zwischen psychosozialem Stress während der Entwicklung und der Ausbildung von Aufmerksamkeitsstörungen und Hyperaktivität nochmals eingehend beschrieben. Eine Dysfunktion des Dopaminsystems zeigt sich, außer bei ADHS, insbesondere bei Morbus Parkinson und Schizophrenie. Die in diesem Buch immer wieder vertretende Annahme, wonach bei ADHS neben Auffälligkeiten des Aufmerksamkeitssystems auch Störungen des exekutiven Systems vorliegen, wird durch die Dopaminhypothese gestützt: Der Dopaminmangel führt zu einer Impulshemmungsstörung, die sich entweder in einem Zuviel oder Zuwenig an Hemmung zeigt. Beim hyperkinetischen Syndrom, das im ICD-Katalog aufgeführt wird, kann von einem Zuwenig an Dopamin in der Synapse ausgegangen werden. Durch
den Wiederaufnahmehemmungsprozess von Methylphenidaten haben diese beim hyperkinetischen Syndrom fast immer einen günstigen Effekt.
Gedankenrasen als Inhibitionsstörung bei Erwachsenen Psychologisch betrachtet ist die Inhibitionsstörung eine Form der fehlenden Kontrollmechanismen von Handlungsaktionen. Es dürften jedoch nicht nur die motorischen Operationen betroffen sein: Erwachsene mit ADHS berichtet häufig von »Gedankenrasen«. Bei emotionaler Desinhibition, also bei jenen Menschen mit ADHS, die häufige Affektdurchbrüche zeigen, ist die Inhibition der emotionalen Impulse betroffen. Gemäß Barkley ist dies ein Subtyp von ADHS. Wie später noch aufgezeigt werden wird, ist bei der emotionalen Desinhibition zwischen dem durch den Hippocampus gesteuerten Subtyp und dem emotionalen Desinhibitionssubtyp zu unterscheiden. Dies ist deshalb bedeutsam, weil nur die Desinhibition, die durch die Dysfunktionen der Basalganglien und damit der exekutiven Funktionen verursacht ist, auf Methylphenidate anspricht.
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Kapitel 5 · Genetik und Neurotransmitter
5.2.2
Noradrenalin
Während das Dopaminsystem schon seit längerer Zeit mit Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen in Verbindung steht, ist dieser Zusammenhang bei Noradrenalin weit weniger klar. Eine mögliche Wechselwirkung wurde erst mit dem Aufkommen eines neuen Medikaments (Strattera) vermehrt ins Bewusstsein gebracht. Allerdings weiß man schon längere Zeit, dass das noradrenerge System in Bezug auf Vigilanz und Wachheit eine bedeutende Rolle spielt. Ebenfalls steht der Schlaf mit Norepinephrin, einem Synonym für Noradrenalin, in Zusammenhang: Während des Schlafes wurde in Tierversuchen keinerlei noradrenerge Aktivität gemessen. Sobald jedoch ein neuer Reiz, ein sog. Novel-Stimulus, gesendet wurde, aktivierte sich das noradrenerge System sofort.
Lokalisation und Steuerung durch Noradrenalin Noradrenalin wird vom Locus caeruleus, der viele noradrenerge Zellen aufweist, an verschiedenste Stellen im Kortex und im Neokortex gesendet. Besonders starke Verbindungen vom Locus caeruleus bestehen zum Kleinhirn, zum Hypothalamus, zum Thalamus und auch zu anderen Teilen des Kortex einschließlich des Hippocampus. Noradrenalin findet sich aber nicht nur als Neurotransmitter, sondern auch als Hormon, das über die Blutbahn z. B. zum Herz befördert wird. Allerdings kann Noradrenalin oder Norepinephrin im Gehirn ausschließlich als Neurotransmitter aktiv werden, weil es als Hormon nicht durch die Gehirn-Blut-Schranke durchgelassen wird (. Abb. 5.3). Norepinephrin ist ein spezifischer Neurotransmitter für ADHS. Weil er im Speziellen zuständig ist für Wachheit und Vigilanz, spielt er bei allen Auffälligkeiten in Zusammenhang mit zu hoher Spannung, auch in Form von Stress, aber auch zu tiefer Spannung, in Form von Unteraktivierung, eine zentrale Rolle. Die Beeinflussung der Noradrenalinachse kann im Alltag durch eine bewusste Eigenaktivierung geschehen. Dies verlangt, wie man später noch sehen wird, einen gut strukturierten Alltag, in dem sich Phasen der Aktivität und Entspannung ideal ablösen. Medikamentös kann das System je nach
klinischer Erscheinung durch Amphetamine, am besten D2-Amphetamine, durch Methylphenidate oder durch Noradrenalinwiederaufnahmehemmer beeinflusst werden.
5.2.3
Serotonin
Auch der Neurotransmitter Serotonin, dürfte indirekt bei ADHS involviert sein, das haben sowohl pharmakologische Erfahrungen als auch genetische Studien gezeigt.
Lokalisation und serotoninerge Fasern Die Organisation des serotoninergen Systems wurde wie die anderen Katecholamine in den 1960er Jahren durch schwedische Forscher entdeckt. Dabei fanden sich alle Serotoninneurone nahe beieinander in den Raphe-Kernen des Hirnstamms angeordnet. Die Fasern der serotoninergen Neuronen reichen von den Raphe-Kernen in alle Teile des Gehirns. Besonders viele dieser Fasern führen zum präfrontalen Kortex, namentlich zum anterioren cingulären Kortex, einem Teil des Frontalhirns. Dem serotoninergen System werden Funktionen im Zusammenhang mit der Erwartungshaltung im Hinblick auf bestimmte Ereignisse zugeschrieben. Dies können Erwartungen kognitiver, emotionaler, aber auch motorischer Art sein. Verhaltensmäßig wirken sich Läsionen in den Raphe-Kernen hinsichtlich der Nahrungsaufnahme, der Schmerzempfindlichkeit, dem Lernen und dem Erinnern aus (. Abb. 5.4).
Serotonin und ADHS Verschiedene Studien haben in letzter Zeit auf die Zusammenhänge zwischen ADHS und Serotonin hingewiesen: Ein niedriges Serotoninniveau unterstützt die Entwicklung von emotionalen Defiziten, Lernschwierigkeiten und in Kombination mit Dopamin die Störung der Impulsinhibition (Halmoy et al. 2010; Figueroa 2010; Zepf et al. 2010; Gainetdinov et al. 1999). Ebenso wird ein Zusammenhang gesehen zwischen der Einnahme von Methylphenidaten und Veränderungen im Serotoninniveau. Es wird immer mehr davon ausgegangen, dass letztlich das richtige Zusammenspiel der verschiedenen Neurotransmitter nach der Gabe von Medi-
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RN . Abb. 5.3 Noradrenalinsystem. Vom Locus caeruleus (LC) senden Neurone zu fast allen Teilen des Kortex (grüne Pfeile), insbesondere aber zu gewissen Kernen des Thalamus, zum
Hypothalamus, zu allen Bereichen des Frontalhirns und zum Kleinhirn
kamenten entscheidend ist für die erfolgreiche Pharmakotherapie. Serotonindysfunktionen wirken sich sicher indirekt auf die ADHS-Problematik aus, in dem Sinne, dass Komorbiditäten wie depressive Zustände, Instabilität oder zwanghaftes Verhalten zusammen mit ADHS auftreten und Aufmerksamkeit sowie adäquates Funktionieren des exekutiven Systems beeinflussen. Durch die enge Verbindung des Neurotransmitters Serotonin mit der Erwartungshaltung ergibt sich auf der Verhaltensebene die Möglichkeit der Beeinflussung dieses Neurotransmitters durch innere Stabilität und die Suche nach einfacher und klarer Auseinandersetzung im Alltag. Kürzlich erregte eine Studie von Yu Aufsehen, indem gezeigt
werden konnte, dass die Aktivierung des anterioren präfrontalen Kortex mittels Zenmeditation das Serotoninniveau erheblich erhöhte (Yu et al. 2011). Diese Studie beweist auch den Nutzen von gezielten nichtmedikamentösen psychotherapeutischen Interventionen auf das Wechselspiel neurobiologischer Prozesse.
5.2.4
Acetylcholin
Diskutiert wird zunehmend auch die Rolle von Acetylcholin, einem Neurotransmitter, der sehr ähnlich aufgebaut ist wie Nikotin und sich an dieselben Rezeptoren bindet. Dass die Acetylcholinregulierung bei ADHS involviert sein dürfte, darauf
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RN . Abb. 5.4 Serotoninsystem. Ausgehend von verschiedenen Raphe-Kernen (RN) im Hirnstamm führen serotoninerge Bahnen in fast alle Teile des Kortex (gelbe Pfeile). Für ADHS
sind die Bahnen in den Frontalkortex sowie zu den Basalganglien von großer Bedeutung
weist unter anderem die Beobachtung hin, dass Rauchen und ADHS vielfach miteinander einhergehen. Rauchen tritt ähnlich häufig als Komorbidität bei ADHS auf (ca. 40 %) wie andere mentale Störungen (McClernon u. Kollins 2008).
Acetylcholin und ADHS
Lokalisation und Organisation Die Organisation des cholinergen Systems ist zweigeteilt: Vom Striatum führen Fasern zu vielen Teilen des Frontalhirns. Bedeutsam für Systeme der Aufmerksamkeit und der exekutiven Funktionen sind zweifellos die Verbindung zwischen dem Hippocampus und dem anterioren cingulären Kortex. Bestimmte Auffälligkeiten des Gedächtnisses und der Emotionssteuerung sind durch das Acetylcholin getriggert (. Abb. 5.5).
Dieser Neurotransmitter steht mit Morbus Alzheimer in direktem Zusammenhang, ebenso mit übermäßigem Nikotinkonsum. Die medikamentöse Beeinflussung bei ADHS ist schwierig und bisher ungelöst. Dysfunktionen des cholinergen Systems lassen sich bei betroffener Gedächtnisfunktion verhaltensmäßig durch häufige und strukturierte Repetitionen teilweise auffangen.
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RN . Abb. 5.5 Acetylcholinsystem. Das Acetylcholinsystem und die dazugehörigen Neuronen haben ihren Ursprung im Striatum (zusammen mit dem Nucleus accumbens), im Nucleus basalis, im medialen Septum und im dorsolateralen tegmentalen Nukleus. Von den cholinergen Neuronenverbän-
den werden verschiedene spezifische Strukturen angesteuert (dunkelblaue Pfeile). Die Verbindung zwischen dem medialen Septum, dem Hippocampus und dem anterioren cingulären Kortex dürfte für ADHS bedeutsam sein
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Neuropsychologie 6.1
Verschiedene Aspekte neuropsychologischer Untersuchungen – 92
6.2
Aufmerksamkeit, exekutive Funktionen, Motivation und Motorik – 92
6.2.1 6.2.2
Aufmerksamkeit und Bereitschaftszustand – 92 Exekutivfunktionen – 93
6.3
Neue Studie zu Erwachsenen mit ADHS – Untersuchungsergebnisse – 95
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Amsterdamer neuropsychologische Testbatterie – 95 Stichprobe und Untersuchungsbedingungen – 95 Untersuchungsergebnisse – 96 Zusammenfassung – 102
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Kapitel 6 · Neuropsychologie
6.1
Verschiedene Aspekte neuropsychologischer Untersuchungen
Die Neuropsychologie hat bereits früh erkannt, dass die Untersuchung mittels Tests bedeutsame Hinweise in Bezug auf das Funktionieren des Gehirns zu geben vermag. Dies war bereits der Fall, lange bevor in den letzten zwei Jahrzehnten bildgebende Darstellungen des Gehirns immer häufiger eingesetzt wurden. Die Frage bestand vor allem darin, welche Tests wie konstruiert sein müssen, damit Aussagen in Bezug auf die Funktion biologischer Systeme gemacht werden können. Seit Jahrzehnten wird in Bezug auf ADHS versucht, mittels solcher neuropsychologischen Tests zu klären, welche neuropsychologisch messbaren Hirnfunktionen bei ADHS konkret in ihrer Wirkung beeinträchtigt sind. Zwar gelten heute reine neuropsychologische Tests im Hinblick auf die Diagnose eines ADHS-Patienten als wenig geeignet, zusammen mit den modernen bildgebenden Verfahren haben sie in vielen Studien jedoch zahlreiche Hinweise darauf gegeben, welche Funktionen im Gehirn von ADHSPatienten oft Defizite aufweisen. Im Folgenden werden einige wichtige Informationsverarbeitungsprozesse, die sich in der fast unüberblickbaren Zahl von Studien der letzten Jahre und Jahrzehnte als relevant für die Entstehung des ADHS-Syndroms herausgestellt haben, kurz charakterisiert. Die Resultate solcher Studien bilden zugleich oft die Basis für die Formulierung der verschiedenen Theorien zur Erklärung von ADHS, die im nächsten Kapitel dargestellt werden. Die hier präsentierte Zusammenstellung basiert im Wesentlichen auf Publikationen des amerikanischen ADHS-Spezialisten Joel T. Nigg, der am Departement für Psychiatrie der Oregon Health and Science University in Portland lehrt und forscht (Nigg et al. 2004; Nigg 2006; Nigg u. Casey 2005).
6.2
Aufmerksamkeit, exekutive Funktionen, Motivation und Motorik
Im Zentrum stehen vier psychologische Funktionen:
4 Aufmerksamkeit und Bereitschaftszustand (Arousal), 4 Exekutivfunktionen oder kognitive Kontrolle, 4 Motivation sowie 4 motorische Kontrolle inklusive zeitliche Steuerung der Verarbeitung von Informationen.
6.2.1
Aufmerksamkeit und Bereitschaftszustand
Die Funktion der Aufmerksamkeit ist auch in der Neuropsychologie ein komplexes Phänomen; es wird meist in verschiedene Unterkategorien aufgeteilt. Dabei ist zu beachten, dass die verschiedenen Gehirnfunktionen in der Wissenschaft je nach Autor und Schule unterschiedlich definiert werden. Bei der Definition von Aufmerksamkeit spielen im Wesentlichen zwei Prozessarten eine Rolle, eine primäre relativ automatisch ausgelöste Aufmerksamkeit, die durch externe Stimuli, z. B. visuelle Marker, hervorgerufen wird, und eine bewusste, mit Anstrengung verknüpfte und zielorientierte Aufmerksamkeit. Dabei unterteilt Nigg die Aufmerksamkeit in drei Domänen: die selektive Aufmerksamkeit, die Orientierung in Raum und Zeit sowie den Bereitschaftszustand bzw. die Wachheit oder Vigilanz. Symptome der Unaufmerksamkeit spielen eine entscheidende Rolle bei der Definition der ADHSSubtypen. Der Zusammenhang zwischen ADHSSubtypen und den verschiedenen Unterformen der Aufmerksamkeit ist jedoch noch wenig erforscht.
Selektive Aufmerksamkeit Selektive Aufmerksamkeit bezeichnet die Fähigkeit, die große Fülle an Informationen rund um uns herum zu filtern und uns auf einen bestimmten Reiz zu fokussieren. Zumindest, was ADHS-Kinder des kombinierten Typus betrifft, scheint die selektive Aufmerksamkeit weitgehend normal zu sein. Denkbar ist jedoch, dass kognitiv langsame Kinder in Bezug auf das Fokussieren Auffälligkeiten aufweisen. Auch Defizite in der räumlichen Orientierung werden heute angesichts der vielen, sich zum Teil widersprechenden Resultate nicht als ein bestimmender Faktor von ADHS gesehen.
A. Müller et al., ADHS Neurodiagnostik in der Praxis, DOI 10.1007/978-3-642-20062-5_6, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
93 6.2 · Aufmerksamkeit, exekutive Funktionen, Motivation und Motorik
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Aufrechterhalten der Aufmerksamkeit
Arbeitsspeicherung
In der Praxis wird häufig berichtet, sowohl von Kindern als auch von Erwachsenen mit ADHS, dass das »nicht lange Dranbleiben können« eine zentrale Schwierigkeit sei. So gelingt es Kindern und Jugendlichen häufig kaum, ihre Hausaufgaben an einem Stück zu machen: Sie stehen oft auf, essen oder trinken etwas, lassen sich von Gegenständen im Zimmer ablenken oder schauen gedankenverloren aus dem Fenster. Ebenfalls berichten Erwachsene, dass es ihnen nicht gelingt, eine Arbeit fertig zu stellen. Eigenartigerweise – dies ist für viele ein unerklärbares Phänomen – können aber diese Kinder dann über längere Zeit z. B. mit Lego spielen oder Erwachsene können konzentriert einem Hobby nachgehen: Tätigkeiten, die motivieren und das Interesse wecken. Das »nicht Dranbleiben können«, Arbeiten nicht zu Ende führen, sich dauernd ablenken lassen sind laut manchen Autoren für Menschen mit ADHS die Schlüsselstellen im Alltag (Ogrin u. Arnsberg Grane 2011). Laut Nigg liegt die Schwäche im situationsangepassten Empfinden von Vigilanz und Wachheit, einem mentalen Zustand, der ermöglicht, ein neues Signal wahrzunehmen. Mangelnde Vigilanz und Wachheit führen zu vielen Fehlern, die sich im Alltag durch Vergesslichkeit kennzeichnen sowie zu inkonstantem Handeln, Fühlen und Denken führen. Konzentrationsverlaufstests, bei denen Probanden über einen Zeitraum von mindestens 20 min langweilige Aufgaben lösen müssen, haben sich als beste Möglichkeit herauskristallisiert, das Aufrechterhalten der Aufmerksamkeit zu messen.
Menschen mit ADHS beklagen sich auch, dass es ihnen schwer fällt, verschiedene Informationen gleichzeitig präsent zu halten. Studien von Klingberg (Karolinska Universität in Stockholm), zufolge, hängt dies u. a. mit einer Schwäche des Arbeitsgedächtnisses zusammenhängen. Klingberg, der sich auf das Gedächtnismodell von Baddeley stützt, unterteilt Arbeitsspeicherung in visuelle, räumliche und phonologische Einheiten, die miteinander verbunden sind. Lokalisatorisch wird die Arbeitsspeicherung in frontale und parietale Areale unterteilt. Arbeitsspeicherprozesse haben immer auch sensorische Anteile. Sie könnten deshalb gut auch als Teil des Aufmerksamkeitssystems betrachtet werden. Die Tatsache, dass die Arbeitsspeicherung ein wichtiges Element im exekutiven Zusammenspiel darstellt, lässt sie als Teil der exekutiven Funktionen definieren. Bei ADHS-Kindern des kombinierten Typs steht bei der bewussten, kognitiven Kontrolle und den sog. Exekutivfunktionen das erwähnte Defizit beim Arbeitsgedächtnis, als erkennbare Abweichung gegenüber gesunden Kindern im Vordergrund (Nigg 2006).
6.2.2
Exekutivfunktionen
Von Menschen mit ADHS oder deren Angehörigen werden oft Schwierigkeiten berichtet, den Alltag sinnvoll zu organisieren. Ein alltägliches Chaos in Bezug auf Einhalten von Terminen und Abmachungen, Ordnungen einzuhalten, Handlungen zu planen und zu steuern begleitet Menschen mit ADHS durch den Alltag. Planen und steuern, aber auch das Kontrollieren von Handlungen, Emotionen und Denkprozessen sind wesentliche Kriterien der exekutiven Funktionen.
Aktivierung Gleichzeitig berichten aber auch viele Menschen mit ADHS, dass es ihnen leicht fällt, verschiedene Aufgaben gleichzeitig auszuführen. So z. B. berichtet ein Junge, dass er während dem Verrichten der Hausaufgaben zusätzlich einen Film am Fernsehen anschaue und im Internet surfe. Das gleichzeitige Ausführen verschiedener Aufgaben wird »Multitasking« genannt. Bei vielen Berufen – z. B. an der Börse – eine Notwendigkeit, um zu einem bestimmten Zeitpunkt die richtigen Entscheidungen zu treffen. Diese Menschen tun sich in stimulusarmen Situationen schwer. Sie beklagen dann Langeweile. Offenbar gelingt es ihnen nicht, ohne diese ständige Stimulation das Gefühl von Wachheit aufrechtzuerhalten. Dies ist auf eine Unterfunktion der Aktivierungsmechanismen oder eben, wie oben schon dargestellt wurde, auf mangelnde Vigilanz zurückzuführen. Neuropsychologische Tests zur Untersuchung der Vigilanz sind zwar entwickelt worden, doch zeigen sie keine einheitliche Datenbasis in Untersuchungen.
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Impulshemmung
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Wahrscheinlich betrifft die zentrale Schwierigkeit bei ADHS die Hemmung von Impulsen. Impulshemmung ist die zentrale Fähigkeit bei jeglicher Art der Verhaltensorganisation: Wenn Impulse nicht gehemmt werden können, entsteht keine logisch konsequente Organisation, sondern chaotisches Versuchen und Irren. Bei kleinen Kindern kann dies in der Praxis gut beobachtet werden: Bevor sie richtig wissen, was in einer Aufgabe zu tun ist, haben sie ihre Handlung bereits in Gang gesetzt, indem sie z. B. mit der Maus des Computers irgendwohin klicken. Bei erwachsenen Menschen zeigt sich die mangelnde Impulssteuerung weniger in unüberlegten motorischen Aktionen, als vielmehr in überhastetem Denken und zum Teil auch Fühlen. Neuropsychologisch handelt es sich um eine reduzierte Fähigkeit, eine Handlung zu unterbrechen. Damit eine Handlung unterbrochen werden kann, muss die Impulshemmung funktionieren. Im Alltag zeigt sich das Phänomen der Impulshemmungsstörung sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen mit ADHS in verschiedener Art und Weise: Sie springen auf Ereignisse sofort an, sie können nicht warten, bis sie an der Reihe sind oder platzen mit Antworten heraus, obwohl sie gar nicht gefragt sind. Ein Kind mit Impulshemmungsstörungen verlässt seinen Arbeitsplatz, wenn seinem Klassenkameraden, der zwei Bankreihen weiter vorne sitzt, ein Gummi auf den Boden fällt, obwohl es damit gegen die Regeln im Klassenzimmer verstößt. Erwachsene mit Impulshemmungsstörungen neigen zu unüberlegten Handlungen. Viele Erwachsene berichten auch von rasenden, immer wiederkehrenden Gedanken. In Konfliktsituationen eskalieren die Gefühle und sie verletzen dann häufig ihr Gegenüber. Sie können häufig auch nicht warten, bis ein günstiger Moment vorliegt: Sie bestürmen an ihrem Arbeitsplatz ihre Vorgesetzten oder Mitarbeiter mit unwichtigen Anliegen. Oft tun sie dies dermaßen vehement, dass den Vorgesetzten und Mitarbeitern nur noch der Rückzug bleibt. Die Impulshemmung kann in neuropsychologischen Untersuchungen mittels Go-/No-go-Aufgaben gemessen werden. Bei diesem Aufgabentyp geht es darum, dass die Person in den einzelnen
Durchgängen der Aufgabe die Ausführung einer bestimmten Handlung (»go«) vorbereiten soll, diese Handlung in gewissen Durchgängen aber unterdrücken muss (»no-go«). In einer bestimmten Unterart der Go-/No-go-Aufgabe z. B. besteht ein Durchgang aus der Präsentation zweier nacheinander dargebotener Bilder. Folgt auf ein zuvor definiertes Bild, z. B. das Bild eines Tieres, erneut ein Tierbild, soll eine Taste gedrückt werden. Folgt auf das Tierbild ein Bild einer Pflanze, muss der Tastendruck unterlassen werden. Wenn das erste Bild des Bilderpaares der Zielbedingung entspricht, also ein Tier zeigt, wird die Erwartung aufgebaut, dass auch das zweite Bild ein Tier sein könnte. Der Organismus bereitet sich darauf vor, möglichst schnell auf die Taste zu drücken. Trifft dies nun aber nicht zu und statt des erwarteten Tierbildes folgt ein Bild einer Pflanze, muss der Organismus den vorbereiteten Impuls zurückhalten oder hemmen. Dies ist die No-go-Bedingung. Psychologisch gesprochen weisen Fehler bei der No-go-Bedingung auf eine hohe Impulsivität hin. Häufig ist es jedoch so, dass die Aufgaben wenig schwierig sind, sodass relativ wenig Impulsivitätsfehler vorkommen. Deshalb zeigen neuropsychologische Untersuchungsergebnisse oft eine geringe Differenzierung zwischen Menschen mit ADHS und Gesunden. Wie bereits schon ausgeführt wurde, vermögen viele Patienten mit ADHS diese Aufgaben gut zu bewältigen, weil sie es gewohnt sind, am PC über 20 min konzentriert zu arbeiten oder weil sie ihre Aufmerksamkeit während dieser Zeit ausreichend gut steuern können.
Konfliktmonitoring Ein weiterer Aspekt der exekutiven Funktionen ist das Selbst- oder Konfliktmonitoring. Gemeint ist das Zusammenspiel zwischen Erwartung und tatsächlich erbrachter Leistung. Dies ist eine Art Selbstregulationsprozess: Driftet die erbrachte Leistung und die damit verbundene Erwartung zu stark auseinander, kommt es zu einer internen Rückmeldung eines Defizits. Entsprechend dem Defizit kommt es zu einer Neuausrichtung und Anpassung der eigenen Anstrengung. Bei Menschen mit ADHS, sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen, fehlt diese Möglichkeit zur Feinjustierung oder aber die eigenen Erwar-
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tungen sind zu hoch, sodass es zwangsläufig zu einer Differenz kommt. Konfliktmonitoring kann mit den Möglichkeiten der neuropsychologischen Testung kaum erfasst werden.
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Neue Studie zu Erwachsenen mit ADHS – Untersuchungsergebnisse
6.3.1
Amsterdamer neuropsychologische Testbatterie
Motivation Im Bereich der Motivationen gibt es vor allem Hinweise auf Probleme mit dem Belohnungs- und Bestätigungssystem. Nigg (2006) stufte die Evidenz der neuropsychologischen Untersuchung für solche Probleme allerdings noch als schwach ein. Viele Studien haben allerdings eine Tendenz bei ADHSKindern und -Erwachsenen gezeigt, stärker auf eine sofortige Belohnung und Bestätigung für ihre Motivation angewiesen zu sein, als normale Kinder.
Motorische Kontrolle und die Verarbeitung zeitlicher Informationen Viele ADHS-Kinder wirken motorisch unbeholfen und fallen durch eine unregelmäßige Handschrift auf. Dennoch zählen motorische Schwierigkeiten nicht zu den diagnostischen Elementen bei ADHS. Inwieweit schlecht koordinierte Bewegungen ein spezifisches Problem von ADHS sind und allenfalls auf eine konkrete neurologische Ursache zurückgeführt werden können, oder ob sie zu den Schwierigkeiten gezählt werden müssen, die von Problemen der Exekutivfunktionen verursacht werden, ist zurzeit eine offene Frage. Ebenso ob bei ADHS allenfalls eine gestörte zeitliche Prozesssteuerung vorliegt, ist ein Thema, das in Zukunft mehr Gewicht erhalten könnte (Nigg 2006). Diskutiert werden zudem sprachliche Probleme als Teil des Erscheinungsbildes, die auch mit Lernproblemen einhergehen könnten. Offen ist, ob sich solche Symptome einer der obigen Funktionen zuordnen lassen oder ob es sich um eine unabhängige Erscheinung handelt (Ogrin u. Arnsberg Grane 2011).
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Die Amsterdamer neuropsychologische Testbatterie (»Amsterdam Neuropsychological Tasks«) (ANT) sind eine aus über 30 Aufgaben bestehende neuropsychologische Testbatterie zur systematischen Einschätzung der Aufmerksamkeit und der Informationsverarbeitung von Kindern und Erwachsenen. Das am Computer durchgeführte Programm umfasst die Evaluation der fokussierten, der geteilten und der Daueraufmerksamkeit sowie die Untersuchung von exekutiven Funktionen wie Flexibilität der Aufmerksamkeit, Inhibition, Arbeitsgedächtnis und visuomotorische Koordination. Im Weiteren sind in den ANT Aufgaben enthalten, die der Untersuchung von sozialer Informationsverarbeitung wie der Gesichtserkennung und der Identifizierung von Emotionen dienen. Zusammenfassung der Studienergebnisse
Im Rahmen der von der Gehirn- und Traumastiftung durchgeführten Studie »ADHS bei Erwachsenen« kam zur Untersuchung der neuropsychologischen Funktionen von Patienten mit ADHS eine Auswahl von 10 Aufgaben der ANT zum Einsatz. Als wichtigste Ergebnisse zeigten sich Beeinträchtigungen im Bereich der Daueraufmerksamkeit, der fokussierten Aufmerksamkeit, der Flexibilität der Aufmerksamkeit sowie der visuomotorischen Leistungen.
6.3.2
Stichprobe und Untersuchungsbedingungen
Die untersuchte Stichprobe bestand aus 174 Erwachsenen mit ADHS im Alter von 18–50 Jahren. Die Einnahme von Methylphenidaten wurde mindestens 24 h vor der Untersuchung abgesetzt. Probanden mit der Einnahme anderer Psychopharmaka setzten die Medikamente nicht ab. Vereinzelte Probanden mussten von der Analyse bestimmter
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Tests ausgeschlossen werden, da die entsprechenden Tests nicht oder nicht zu Ende durchgeführt worden waren. Die Untersuchungsergebnisse basieren auf dem Vergleich der Leistungen der Probanden mit ADHS mit einer im ANT-Programm enthaltenen normativen Datenbank. Für die Tests zur Gesichtererkennung und der Identifikation von Gesichtsausdrücken lagen zum Untersuchungszeitpunkt für Personen im Alter von über 38 bzw. 33 Jahren keine Normen vor. Der Vergleich mit der Norm erfolgt durch die Berechnung von z-Werten, wobei der z-Wert die Abweichung eines Wertes vom Normmittelwert ausdrückt. Ist der z-Wert negativ, dann liegt der Wert des Probanden unter dem Normmittelwert, ist er positiv, dann liegt er über dem Mittelwert der Norm. Die Wahl der Messvariablen erfolgte so, dass positive z-Werte eine im Vergleich zur Norm schlechtere Leistung (langsamere Reaktionszeit, höhere Fehleranzahl) und negative z-Werte eine vergleichsweise gute Leistung (schnellere Reaktionszeit, tiefere Fehleranzahl) anzeigen. Signifikanzangaben beziehen sich auf den Vergleich der ADHS-Stichprobe mit der Norm mittels tTests.
6.3.3
Untersuchungsergebnisse
Im Folgenden findet sich eine Beschreibung der in der Untersuchung verwendeten ANT-Aufgaben, der Messvariablen und der wichtigsten Untersuchungsergebnisse.
Test für die automatische motorische Reaktion (»Baseline-Speed«) In der Mitte des Computerbildschirms wird ein Kreuz als Fixationspunkt angezeigt. An der Stelle des Kreuzes erscheint dann ein weißes Quadrat, worauf die Probanden so schnell wie möglich die Maustaste betätigen müssen. Nach Drücken der Taste erscheint wiederum das Kreuz, und die Sequenz wiederholt sich. Das Zeitintervall vom Drücken der Taste bis zum Erscheinen des nächsten Stimulus variiert zwischen 500 und 2500 ms, um Antizipationsstrategien zu vermeiden. Die Aufgabe besteht aus jeweils 32 Durchgängen pro Hand, wobei stets mit der nichtdominanten Hand begonnen wird.
Die Aufgabe stellt minimale kognitive Anforderungen und kann deshalb als Messung für die automatische motorische Reaktion eingesetzt werden. Als Messvariablen wurden die durchschnittliche Reaktionszeit (gemittelt über beide Hände) und die Standardabweichung der Reaktionszeiten (gemittelt über beide Hände) gewählt. Ein klares Ergebnis zeigte sich in Bezug auf die Standardabweichung der Reaktionszeiten. Die Probanden mit ADHS wiesen im Vergleich zur Norm eine signifikant höhere Variabilität der Reaktionszeiten auf (. Abb. 6.1).
Test für fokussierte Aufmerksamkeit (»Focused Attention 4 Letters«) Auf dem Bildschirm werden vier Buchstaben angezeigt, wobei die Positionen in den Ecken eines virtuellen Quadrats liegen. Die Probanden sollen den Fokus auf den Buchstaben in der linken unteren Ecke und auf den Buchstaben in der rechten oberen Ecke richten, da diese Diagonale die relevante Achse darstellt. Als Zielstimulus (»Target«) fungiert der Buchstabe »c«. Die Aufgabe der Probanden besteht darin, immer dann so schnell wie möglich die rechte Maustaste zu drücken, wenn auf einer der beiden Positionen der relevanten Achse der Buchstabe »c« erscheint. In allen anderen Fällen, d. h., wenn auf diesen beiden Positionen kein Zielstimulus erscheint oder wenn der Zielstimulus auf der irrelevanten Achse erscheint, soll so schnell wie möglich die rechte Maustaste gedrückt werden. Linkshänder benutzen die linke Maustaste als Ja-Knopf und die rechte Taste als Nein-Knopf. Das Zeitintervall vom Drücken der Taste bis zum Erscheinen des nächsten Stimulus beträgt 1200 ms, die Darbietungsdauer der Stimuli ist variabel (bis zum Tastendruck, nicht länger als 6000 ms). Die Aufgabe besteht pro Testteil aus jeweils 40 Durchgängen mit relevanten Zielreizen, 20 Durchgängen mit irrelevanten Zielreizen und 20 Durchgängen ohne Zielreize (»Non-Targets«), die in zufälliger Reihenfolge präsentiert werden (. Abb. 6.2). Die Aufgabe misst die Fähigkeit zur Fokussierung der Aufmerksamkeit bzw. die Fähigkeit, relevante von irrelevanter Information zu unterscheiden. Als Messvariablen wurden die durchschnittliche Reaktionszeit für korrekt identifizierte relevante Zielreize, für korrekt identifizierte irrelevante
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. Abb. 6.1 Ergebnisse des Tests automatische motorische Reaktion. Die Reaktionszeiten der Probanden mit ADHS variieren signifikant stärker. RZ Reaktionszeit; ***=p