(HEYNE-ANTHOLOGIEN»)
HEXEN STORIES Deutsche Erstveröffentlichung
WILHELM H E Y N E VERLAG MÜNCHEN
HEYNE-ANTHOLOGIE...
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(HEYNE-ANTHOLOGIEN»)
HEXEN STORIES Deutsche Erstveröffentlichung
WILHELM H E Y N E VERLAG MÜNCHEN
HEYNE-ANTHOLOGIEN Band 37
Inhalt Dorothy Quick Bund mit dem Satan (TWO FOR A BARGAIN)
Seite 7
COPYRIGHT: BUND MIT DEM SATAN (Two For A Bargain) von Dorothy Quick: Street & Smith; übersetzt von Birgit Reß-Bohusch DIE ROTHAARIGE von Hans Kneifel: Wilhelm Heyne Verlag und Autor DAS ELIXIER (The Elixier) von Jane Rice: Unknown Worids; übersetzt von Birgit Reß-Bohusch DIE KRUMME JANET (Thrawn Janet) von Robert Louis Stevenson: Wilhelm Heyne Verlag; übersetzt von Birgit Reß-Bohusch HEXENHAMMER von Ernst Vicek: Wilhelm Heyne Verlag DAS AMULETT (The Amulet)) von Gordon R. Dickson: The Magazine of Fantasy & Science Fiction; übersetzt von Birgit Reß-Bohusch DAS HEXENEI (Hatchery Of Dreams) von Fritz Leiber: 1961 by Zirf Davis Publishing Company; übersetzt von Birgit Reß-Bohusch •
DIE GALGENPUPPE von Hubert Straßl: Wilhelm Heyne Verlag
MEINE HEKATE (My Darling Hecate) von Wyrnan Guin: 1953 by Galaxy Publishing Company; übersetzt von Birgit Reß-Bohusch NICHTS IST UMSONST (Capital Expenditure) von Fletcher Pratt: 1953 by Future Publications, Inc.; übersetzt von Birgit Reß-Bohusch DIE HEXE (The Witch) von A. E. van Vogt: A. E. van Vogt; übersetzt von Birgit Reß-Bohusch Copyright © 1973 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag München Printed in Belgium 1973 Umschlaggestaltung: Atelier Heinrichs, München Gesamtherstellung: Gerard & Cie, Verviers
Hans Kneifel Die Rothaarige Seite 55 Jane Rice Das Elixier (THE ELIXIR)
Seite 6l Robert Louis Stevenson Die krumme Janet (THRAWN JANET) Seite 91 Ernst Vkek Hexenhammer Seite 105 Gordon R. Dickson Das Amulett (THE AMULET)
Seite 127 Fritz Leiber Das Hexenei (HATCHERY OF DREAMS)
Seite 145
Hubert Straßl Die Galgenpuppe Seite 161 Wyman Guin Meine Hekate
Bund. mit dem Satan \ von ' Dorothy Quick
(MY DARLING HECATE)
Seite 171
Hetcher Pratt Nichts ist umsonst (CAPITAL EXPENDITURE)
Seite 191
A. £. van Vogt Die Hexe (THE WITCH) 251
Ich sah die aus Flicken zusammengesetzte Bettdecke an. Sie verwandelte das altmodische Himmelbett in ein glanzvolles Ding, würdig eines Königs. Die verschiedenfarbigen Materialien schimmerten im Schein meiner Nachttischlampe, und die merkwürdige, runenartige Stickerei, welche die Flicken zusammenhielt, glänzte wie Sonnenlicht auf bewegtem Wasser. Man mochte nicht glauben, daß etwas so Schönes düstere Dinge bergen konnte. ; Und doch hatte mir Tante Amabel sonderbare Geschichten über sie erzählt; daß eine Hexe sie gemacht habe und daß man durch jeden Flikj ken in die Vergangenheit zurückverS setzt werden könne, um noch einmal i die Geschichte des Menschen zu ' durchleben, der mit diesem besondei2 ren Material in Verbindung gestanH den hatte. »* Ich war immer noch skeptisch, obwohl ich eines Nachts im Schlafe die Hand auf ein blausilbernes Brokatstück gelegt hatte und durch den Raum in einen unheimlichen und schrecklichen Teil der französischen
Geschichte geschleudert worden war. Später ging ich sogar noch weiter zurück, nach Babylon, zu unheimlichen Ereignissen, die ich in einem früheren Leben durchgemacht hatte; was zumindest für mich der Beweis war,, daß es so etwas wie die Wiedergeburt gab. Ich betrachtete die Decke. Sie sah harmlos genug aus, und doch schien die Stickerei etwas aussagen zu wollen. Und als ich die goldenen Fäden berührte, war es, als berührte ich etwas Lebendiges. Nach Tante Amabel hatte ein Mann mit der Hand auf einem der Flicken geschlafen, und am nächsten Morgen war er wahnsinnig gewesen. Nach ihrem Dienstmädchen, Hester, hatte eine Frau mit der Hand auf einem der Flicken geschlafen und war arn nächsten Morgen tot gewesen! Weder Tante Amabel noch Hester wußten, welcher Flicken Wahnsinn und welcher Vernichtung brachte, aber sie baten mich inständig, kein Risiko einzugehen und die Decke nicht mehr zu benutzen.
DOROTHY QUICK
Aber ich mußte es tun. Ich glaubte nicht, daß es einen Flicken gab, dessen Geschichte für mich entweder Wahnsinn oder Tod enthalten würde, doch es war ein seltsames, dreieckiges Stück aus einem pergamentähnlichen Material da, das wie Menschenhaut aussah. Ich mußte wissen, was es war - welche Geschichte es beinhaltete —, und meine Neugier war stärker als meine Furcht. Außerdem wollte ich, mehr als alles andere in der Welt, erfahren, ob ich in einem Abenteuer noch einmal den Mann wiedersehen würde, dem ich mich in meiner letzten Vision für alle Zeiten versprochen hatte. Ich kletterte in das hohe Bett, ließ mich tief in die Decken sinken und zog sie bis an den Hals herauf, denn die schottische Luft, die von den Mooren hereindrang, war sehr kalt. Dann suchte ich den Flicken, auf den ich es abgesehen hatte - diesen harten, ledrigen Flicken, der wie Menschenhaut aussah —, und legte meine linke Hand darauf. Ich zuckte ein wenig zusammen, denn es war, als berührte ich eine andere Hand. Dann machte ich schnell, bevor ich mich anders entschließen würde, das Licht aus. Ich wartete im Dunkel, die Hand auf dem Flicken, die Gedanken sonderbar wach. Ich wollte einschlafen, damit das Abenteuer beginnen konnte - wenn es überhaupt eines gab -, aber nichts geschah. Nur die kalte
Luft war da, die mir ums Gesicht blies, und das seltsame Gefühl, daß meine Hand auf einer anderen Hand ruhte, ein Gefühl, das auch durch angestrengte Bemühungen der Logik nicht verschwinden wollte. Plötzlich erkannte ich, daß ich nicht mehr den Flicken festhielt, der wie Menschenhaut aussah. Statt dessen berührte meine Hand tatsächlich Haut, echte Haut - eine andere Hand! Wieder einmal hatte ein Abenteuer der Flickendecke begonnen. Ich sah herunter auf zwei Hände mit dünnen, nervösen Fingern, die sich ineinander verschränkten. Es waren die abstoßendsten Hände, die ich je gesehen hatte, leichenähnlich, mit langen spitzen Nägeln, die sich am Ende wie Vogelkrallen krümmten. Bis dahin hatte ich wohl einige schaurige Ereignisse durchlebt, aber die Körper, in denen der Geist von Alice Strand - mein Geist - durch den Zauber der Flickendecke gefangen gewesen war, hatten anziehend gewirkt. Nachdem ich diese abstoßenden Hände betrachtet hatte, wußte ich, daß das diesmal nicht so sein konnte. Ich hatte Angst, die Person, in der ich nun wohnte, ganz zu sehen. Es war eine Frau. Das erkannte ich an der weißen Schürze und dem weiten schwarzen Wollrock, der um die mageren Knöchel fiel, und an dem Leibchen aus dem gleichen Material.
BUND MIT DEM SATAN
her ich konnte nicht sehen, wie alt sie war und von welchem Typ. Die Frau stand am Rand eines Waldes. Überall um sie und hinter ihr ragten hohe Bäume von undurchdringlicher Schwärze auf. Schwarz gekleidet, wie sie war, mußte sie nahezu unsichtbar sein, wie sie so mit den Schatten verschmolz. Vor ihr lagen Felder im Sonnenschein da; etwas entfernt stand ein Steinbrunnen mit Stufen, die über ihn hinweg- und auf der anderen Seite hinunterführten. Ich hatte noch nie einen so scharfen Gegensatz zwischen Dunkelheit und Licht gesehen - die hellen, bebauten Felder und die dunklen, drohenden Wälder. Ich fragte mich, ob der Tod so sein konnte - von der Dunkelheit ins Licht tretend. In diesem Augenblick begann die Frau vor sich hinzumurmeln. »Er wird kommen - er wird kommen.« Ihre Stimme klang jung. Vielleicht war es gar keine Frau, vielleicht war ..tes ein junges Mädchen. Die Hände f'1- diese abstoßenden Hände - gaben •j4jkeinerlei Hinweis auf ihr Alter. Die ^yiaut war fest, faltenlos. Jetzt sehn?'|e sich meine Neugier nach einem »ppiegel. Wenn ich einen Spiegel hätl'ite, könnte ich mir einen Begriff von Bier Person machen, mit der ich nun Ijto eng verbunden war. Aber es gab •'keinen, und es war auch in der Nähe „„„.nichts, in dem man einen Wider||schein sehen konnte.
Ein fröhlicher Gesang erfüllte plötzlich die Stille. Eine Männerstimme, voll und weich, sang etwas von Liebe und Frühling und kündete damit sein Kommen an. Die Hände hörten auf, sich ineinander zu verflechten, und ich spürte eine wilde Freude durch die Adern strömen, die vorübergehend die meinen waren. Es schien merkwürdig, daß ich ihre Gedanken nicht lesen konnte, aber ich wußte von früheren Erfahrungen, daß ich es nicht konnte, außer zu den seltenen Gelegenheiten großer Gefühlsbelastung. Obwohl die Gefühle des Körpers, den ich bewohnte, die meinen waren, erkannte ich sie erst, wenn sie erlebt wurden. Ich verstand, daß die Frau - oder das Mädchen - voller Freude war. Ich nahm an, daß sie sich über die Ankunft des Sängers freute, aber ich wußte es erst, als sie rief: »Johan!« Jetzt sah ich einen Mann die Stufen des Brunnens hinaufkommen. Sein Kopf erschien zuerst, dann sein Körper, Stück für Stück, bis er schließlich auf der Brüstung stand und winkte. »Elsbeth, bist du hier?« »Ja, Johan, ja . . . hier am Waldrand.» Begierig die Stimme, begierig das Herz, das heftig in ihrem Busen schlug. Johan eilte die Stufen hinunter und über das Feld. Er war auf eine helle nordische Weise verblüffend schön
DOROTHY QUICK
Lichtblondes Haar umgab seinen Kopf wie ein Helm und fiel ihm bis zu den Schultern herab; selbst auf die Entfernung waren seine Augen strahlend blau. Im alten Griechenland wäre er zweifelsohne ein Held der Olympischen Spiele gewesen - er hatte den perfekten Wuchs und die Muskeln dafür. Sein Mund war fest und freundlich, seine Nase gerade. . Er trug einen schlichten braunen Rock mit breitem Kragen und weißen Manschetten. Seine Beine steckten in gestrickten Strümpfen, die Schuhe hatten Silberschnallen, und der Hut, den er in der Hand trug, hatte eine breite Krempe und vorne ebenfalls eine Silberschnalle. Die ganze Kleidung kam mir merkwürdig bekannt vor. Ich hatte sie schon oft gesehen - in den Zeitungen und auf Karten zum Erntedankfest. Einer der Pilgerväter stand leibhaftig vor mir. Ich war in Amerika zur Zeit seiner Anfänge. Der Mann kam näher. »Guten Tag, Elsbeth Farquar. Ich grüße Euch im Namen Unseres Herrn.« »Wie ich Euch, Johan Rider.« »Kommt aus dem Dunkel, denn ich kann Euch kaum sehen, und ich habe viel zu erzählen.« Erschauernd ging Elsbeth auf ihn zu und hielt die Hände unter die Schürze. Es war klar, daß sie um die Häßlichkeit ihrer Hände wußte.
Als sie ein Stück näher gekommen war, warf er sich ins Gras und winkte ihr, sich neben ihn zu setzen. »Elsbeth, erinnerst du dich, wovon ich das letzte Mal sprach?« Elsbeths Herz schlug schneller, so wie die Flügel einer Motte schneller flattern, wenn sie gegen das Licht fliegen. »Ich erinnere mich.« Johan wartete, bis sie neben ihm saß, und legte dann den Kopf auf den Arm. »Nun, freue dich mit mir. Die Ältesten haben beschlossen, daß ich ins heiratsfähige Alter gekommen bin, und haben ihre Einwilligung gegeben, daß ich mir ein Weib nehme.« »Oh, Johan . . . Johan!« Elsbeths Stimme zitterte vor Erregung. »Ich wußte, daß du dich für mich freuen würdest, Elsbeth, aber ich hatte keine Ahnung, daß es dich so stark berühren würde.« Johans Stimme war klar und ruhig wie ein Waldweiher. »Nun mußt du mir Gottes Segen für meine Reise nach Boston wünschen.« '•'• ' " • »Nach Boston?« rief sie. »Wesh^dÜ gehst du dorthin?« , ' »Wozu sonst, als um die Hand Von Priscilla Damen anzuhalten und sie als mein Weib nach Anesfield heimzuholen?« i; Wenn jedes Wort ein Messer in Elsbeths Herz getrieben hätte, so
BUND MIT DEM SATAN
väre die Wirkung nicht verheerender gewesen. »Dein Weib?« murmelte sie'. »Aber es kann nicht sein, daß ich recht höre. Du scherzst nur um mich zu hänseln.« Johan war überrascht. »Weshalb sollte ich das, Elsbeth? Ich wollte, daß du als erste von der Verwirklichung meiner Träume hörst, so wie du als erste die Träume selbst gehört hast.« Beinahe wie in Trance rief Elsbeth: »Aber ich dachte - ich dachte, du hast mir diese Träume erzählt, weil ich zu ihnen gehörte ... weil ich es war, die —« Sie unterbrach sich abrupt. Johan begann zu lachen. »Du dachtest, daß ich dich liebte? Daß ich dich heiraten würde? Oh, gewiß nicht. Hast du noch nie in deinen Spiegel geblickt?« Er ' lachte und i lachte. »Jetzt scherzst du, Elsbeth, und es ist ein köstlicher Scherz.« »Es ist ein Scherz, aber nicht so, wie du denkst, Johan. Der Scherz ist mit keiner als mit Elsbeth Farquar getrieben worden. Es ist ein Scherz, daß ich dachte, du liebst mich, weil du freundlich zu mir warst und nicht | .Wie die anderen meine Häßlichkeit verspottet hast.« Sie lachte - aber ihr Lachen war schrill und fast wie im Wahnsinn. »Ich war eine Närrin, und doch - und doch - du warst so freundlich zu mir . . .« Sie vergrub ;i das Gesicht in den Händen.
Johan hörte zu lachen auf. »Wirklich, Elsbeth, ich wollte d nicht wehtun. Du warst meine Freu din - und ich ahnte nicht, daß d anders denken könntest. Ich erzähl dir alle meine Gedanken, aber kam mir nicht in den Sinn, daß es persönlich nehmen würdest, we ich von Liebe sprach . . . ebensow nig ahnte ich, daß du überhaupt Liebe denken könntest. Du schien immer zu verstehen, daß du -« unterbrach sich, da er sie nicht no mehr verletzen wollte. Elsbeth nahm die Hände vom G sicht. Langsam, besonnen sprach si »Du dachtest, weil ich so häßlich b würde ich nicht von Liebe träum Nun, ich hätte es nicht getan, d an dem Tag, als der Junge von R nail mich verspottete und du i einen Klaps gabst und sagtest, Sch heit käme von innen und nicht außen, da dachte ich, daß du Hülle dieses hassenswerten Körp durchdrungen und meine Seele sehen hättest, wie sie in Liebe zu erstrahlte. Es schien zu schön, wahr zu sein, doch dann suchtest mich auf und sprachst mit mir, ich glaubte, du seist nicht so wie anderen. Ich betete dich an, und jedemmal, da wir uns trafen, li ich dich noch mehr. Wenn du Leute schaltest, die sich über m lustig machten, hätte ich dir Füße mit meinem Haar troc
DOROTHY QUICK
mögen. Und nun erzählst du mir, daß alles nur Freundschaft war Mitleid - keine Liebe . . . und daß ich gewußt haben müßte, es könne keine Liebe sein, wenn ich nur einen Blick in den Spiegel geworfen hätte!« »Ganz bestimmt, Elsbeth, es tut mir leid.« »Ganz bestimmt, es sollte dir leid tun. Und es wird dir noch sehr leid tun, dir und deiner schönen Braut aus Boston.« Sie warf den Kopf zurück, als sei sie eine Schlange, die sich zum Angriff bereit machte. »Geh jetzt, Johan Rider, und sprich nie wieder mit mir, außer du kommst, um meine Gnade zu erflehen.« »Bitte, Elsbeth, du bist überreizt.« Sowohl Johan als auch Elsbeth benutzten weiterhin das >Euch< und >Ihr< jener Zeit, aber ich ersetzte in Gedanken die Ausdrücke durch die vertrauteren Pronomen. Johan stand auf und streckte die Hand aus. »Ich möchte gern dein Freund bleiben, Elsbeth.« Sie schüttelte den Kopf. »Zwischen uns kann es keine Freundschaft geben. Ich liebte dich aus ganzem Herzen und aus ganzer Seele, aber jetzt liebe ich dich nicht mehr. Statt dessen hasse ich dich, Johan ja, ich hasse dich —, weil du mich als Prellbock zwischen deiner Einsam-keit und der Sehnsucht nach einem 12
anderen Mädchen ausgenützt hast. Du hattest Mitleid mit mir — ja —, und du warst freundlich zu mir, aber das geschah nur, weil du jemand brauchtest, mit dem du von Liebe reden konntest - ein verbotenes Thema in Salem, solange die Ältesten nicht ihre Zustimmung geben. Ich riskierte den Block, um mir deine Träume anzuhören. Ich war eine Närrin . . . eine häßliche Närrin. Aber jetzt bin ich es nicht mehr. Geh und hüte dich vor mir, Johan, denn es heißt, daß mit einer geschmähten Frau nicht zu spaßen ist. Ich werde mich an dir rächen und auch an jenen, die nur Häßlichkeit sehen. Ich werde euch allen zeigen, was wahre Häßlichkeit ist.« Johan redete eine Zeitlang auf sie ein, aber sie war unnachgiebig. Schließlich ging er zögernd, bestürzt über das, was er angerichtet hatte. Ihre Drohungen nahm er nicht allzu schwer - das stand deutlich in seinem Gesicht geschrieben -, aber es war ebenso deutlich, daß ihm das Vorgefallene ehrlich leid tat. Elsbeth beobachtete seinen Rückzug. Als er den Scheitelpunkt der Treppe erreicht hatte, drehte er sich um und winkte. Elsbeth erhob sich aus dem Gras, wo sie immer noch saß, wandte ihm den Rücken zu und ging mit ruhigen Schritten auf den Wald zu. Erst als sie den Schutz der Blätter erreicht hatte, floh sie hinter eine
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große Ulme. Endlich, als niemand mehr sie beobachten konnte, sah sie zurück. Die grünen Felder erstreckten sich in ihrer Lieblichkeit weithin über die Landschaft, aber in dem grünenden Reich war nirgends die Spur eines Menschen zu sehen. Johan Rider war fort. Elsbeth rannte tief in den Wald. Während des Laufens schüttelte ein trockenes Schluchzen ihren Körper, und ihre Nägel gruben sich tief in die Handflächen. Sie rannte, bis sie eine Lichtung erreichte, wo ein kleiner Teich das Funkeln des Sonnenlichts auffing und es in flüssiges Gold verwandelte. Sie sank auf das Moos daneben, stützte sich auf beide Ellbogen, legte das Gesicht in die Hände und sah unverwandt in das Kristallwasser. Sie hatte ihren Spiegel gefunden, und zum erstenmal sah ich ihr Gesicht. Noch nie in meinem Leben und noch nie in den Leben, die ich durch die Flickendecke nachempfunden hatte, , ^ar mir solche Häßlichkeit begegnet. Der Mund war groß wie der eines Clowns, mit einem komischen Aufwärtszucken in den Mundwinkeln. Neben ihrer Nase wäre die von Cyrano de Bergerac geradezu verschwunden. Sie war lang schmal und scharf, mit einem Höcker in der
Mitte und einem breit auslaufenden Ende, das nach oben gebogen war und vergrößerte Nasenlöcher zeigte. Ihr Kinn war spitz, ihre Wangenknochen hoch angesetzt. Die Haut selbst war fleckig und aufgedunsen. Ein dichter Schöpf drahtigen schwarzen Haars war unter eine weiße Leinenhaube geschoben, unter der es grob und dicht wieder hervorlugte. Nur ihre Augen waren schön - große, leidgeprüfte Brunnentiefen von kastanienbrauner Farbe -, aber sie verbargen sich halb unter buschigen Brauen und Wimpern von dem gleichen dichten, drahtigen Haar. Zum erstenmal verstand ich Johan. Es schien unglaublich, daß so ein Geschöpf auch nur einen Augenblick lang annehmen konnte, ein Mann würde in Liebe an sie denken. Ich hatte Johans Verhalten verurteilt, aber jetzt konnte ich das nicht mehr. Natürlich mußte er .gedacht haben, er könnte mit ihr frei über seine Träume und die Liebe sprechen, sicher in der Annahme, daß sie abseits von diesen Dingen stand, während sie - oh, es war mitleiderregend. Arme Elsbeth! Und sie war jung - jung mit einem Körper, um den sie Diana, die Mondgöttin, beneiden hätte können. Sicher hatten die Götter ihren Spott getrieben, als sie einen perfekten Leib nahmen und ihm einen Kopf und Gliedmaßen gaben, die Karikaturen 15
DOROTHY QUiCK
waren und nicht zu ihm paßten. Was für eine schreckliche Last für ein Mädchen, besonders in einer Zeit, wo es noch keine Schönheitssalons gab. Ich starrte weiterhin auf das Bild im Weiher und mußte zugeben, daß diesem Gesicht auch durch mo'derne Methoden nicht hätte geholfen werden können. Elsbeth erkannte es auch. Tränen liefen ihr über die Wangen. »Keine Hoffnung - es gibt keine Hoffnung. Weshalb wurde ich so verflucht - weshalb? Habe ich nicht gebetet . . . gebetet? Gebete nützen nichts. Der Herr hat mich verlassen, gequält, betrogen. Für mich gibt es keine Hoffnung mehr im Gebet außer . ..« Sie sah ihre Hände an, und ein deutliches Bild zeichnete sich in ihrem Innern ab - ein kleines braunes Buch mit Eselsohren. »Ich habe es nach dem Tod meines Vaters in seiner Truhe gefunden«, flüsterte sie. »Die Hexenlitanei . . . nur einmal habe ich einen Blick hineingeworfen und es dann schnell weggelegt, aus Angst, eine Sünde zu begehen, aber es behauptete, Satan könne alle Dinge gewähren. Soviel sah ich noch, bevor ich es tief vergrub. Mein Vater war Gelehrter - er kannte geheime Lehren. Vielleicht hat das Buch recht. .Ich werde es studieren . . . Ich werde eine Hexe! Ja, hier und jetzt will ich zu Satan beten.« Sie unterbrach sich, entsetzt von ih-
ren eigenen Worten. Aber dann wurde sie von fester Entschlossenheit ergriffen. Sie benetzte ihr Gesicht, diese ekelerregenden Züge, mit Wasser aus dem Weiher. Dann kniete sie nieder und hob flehend die Hände. »Oh, Satan, Herr der Unterwelt, ich bete zu Dir und bitte Dich, mich in Deine Obhut zu nehmen, mir von Deinem Überfluß und Deiner Weisheit zu geben, so daß ich meine Feinde bezwingen kann - ja, damit Johan Rider stöhnend vor mir auf den Knien liegt und ich ein Nichts, weniger als ein Nichts, aus dieser Priscilla mache, die er liebt. Laß mich Rache nehmen an ihnen und allen anderen, die mich verspottet haben. Als Gegenleistung gebe ich für immer mein früheres Leben auf und weihe mich Dir, Herr und Satan, für jetzt und in alle Ewigkeit. Amen.« Anfangs war ihre Stimme leise und zögernd gewesen, aber gegen Ende war sie stark und trotzig, ohne Scham vor der Gotteslästerung. Nichts geschah - nichts. Die Sonne ergoß sich immer noch in den Weiher, und Elsbeth blieb unverändert. Sie wartete, offensichtlich gefaßt auf einen Blitzstrahl oder zumindest das Erscheinen von Luzifer selbst, aber nichts geschah. Sie beugte den Kopf zu Boden und schrie laut: »Satan, Satan, ich rufe Dich! Nimm meine Seele und mach mich dafür zu einer Hexe. Gewähre meinen Wunsch, auf
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daß ich dir für alle Zeiten dienen kann.« Immer und immer wieder rief sie. Dann wartete sie. Es geschah immer noch nichts. Endlich stand sie müde auf. »Vielleicht hat er es gar nicht gehört - oder vielleicht habe ich es falsch angepackt. Ich will heimgehen und das Buch zu Rate ziehen, denn ich muß eine Hexe werden . . . nein, ich bin eine Hexe.« Sie warf den Kopf stolz zurück, dann verließ sie langsam den Wald. Als Elsbeth sich dem Dorf näherte, .traf sie einen der Ältesten, der sie lächelnd grüßte. Sie neigte den Kopf. Höflichkeit gegenüber den Ältesten .war Gesetz, und sie hatte nicht den Wunsch, in der glühenden Sonne im Block zu sitzen. Zu ihrer Überraschung hielt der Älteste, Cyrus Finchley, sie an. »Guten Abend, Schwester, du warst -;? ^jwieder in den Wäldern.« '»Ja, Vater Finchley.« »Die Ältesten haben im Rat von dir gesprochen. Wir sind der Meinung, daß es nicht sicher für dich ist, dich so weit hinauszuwagen. Ja, bei einer anderen als dir hätten wir es längst verboten.« »Gewiß, Vater, mein Gesicht ist mein Schutz.« Als Elsbeth diese Worte sagte, keuchte sie. Noch ein paar Stunden zuvor wäre sie lieber gestor-
ben, als daß sie ihre Häßlichkeit eingestanden hätte. Nun rühmte sie sich damit. Satan mußte ihr Gebet gehört und beantwortet haben. Cyrus Finchley war überrascht. »Das sagte ich nicht, Tochter. Die Stadt ist dir dankbar für dein Geschick mit Krautern und würde dich deshalb nicht gern von den Plätzen fernhalten, wo du sie findest. Dein Tee hat der Schwester des Gouverneurs das Leben gerettet, so sind wir dir alle zu Dank verpflichtet. Und deshalb haben wir einen Beschützer für dich ernannt. Wenn du wieder auf die Suche nach deinen Heilmitteln gehst, wird der alte Fithian Grey dafür sorgen, daß du sicher bist.« »Ich danke euch allen von ganzem Herzen, aber ich brauche keinen Bewacher. Die Indianer sind freundlich. Sonst gibt es nichts zu fürchten.« »Dennoch hätten wir es lieber, wenn Fithian und seine Flinte dich bewachen.« »Dann soll es so geschehen.« Schließlich war Fithian alt und senil. Wenn sie irgend etwas tun wollte, das er nicht sehen sollte, würde sie schon mit ihm zurechtkommen. »Noch eines, Tochter. Wir hatten es vergessen, bis Schuyier van Warden sich daran erinnerte - dein Vater, ein sehr gelehrter Mann, hatte viele Bücher. Nun sind einige davon vielleicht nicht für eine Jungfrau geeigi?
DOROTHY QUICK
net. Der Rat möchte diese Bücher nen Peinigern los und sprang mit untersuchen. Diejenigen, die wir für einem wilden Satz in Elsbeths Arme geeignet erachten, werden dir zurück- - der nächste ZuSuchtsort vor den gegeben - die anderen behalten oder Kindern, die es verfolgten. verbrennen wir.« »Gib uns das Kätzchen wieder«, rief Nun wußte Elsbeth, daß Satan ihr der älteste der Jungen. Gebet erhört hatte. Er hatte ihr die»Nein.« Elsbeth drückte das arme, se Warnung zukommen lassen, damit verängstigte Tier an sich. »Ihr sollt sie nicht das Buch verlor, das den so ein arm.es Ding nicht quälen.« Schlüssel zu ihrer Verwandlung in »Die Witwe Aylesford hat es hineine Hexe darstellte. Sie lächelte im ausgeworfen. Sie sagte, eine schwargeheimen. ze Katze sei nur gut für Hexen, und »Da ist eine Kiste, die ich nicht ge- wir könnten damit tun, was wir öffnet habe. Ich mache mir nichts aus wollten.« Büchern. Ich kann nicht besonders Ein Freudenfeuer entflammte in Elsgut lesen.« Das waren die ersten Lü- beth. Sie hatte geflüsterte Erzählungen, die sie je ausgesprochen hatte, gen von Hexen und ihren Vertrauund sie kamen ihr so leicht über die ten gehört. Der Teufel hatte ihr eine Lippen, als sei sie Ananias selbst. Vertraute geschickt; das hieß, daß sie »Gut, Tochter. Ich komme morgen praktisch eine Hexe war. Sie würde mit meinem Dienstmann, um die Ki- das Kätzchen, wenn nötig, mit ihrem ste zu öffnen, und wenn wir irgendLeben schützen, denn es bedeutete welche zweifelhaften Bücher finden, , für sie den Beginn des neuen Lebens. nehme ich sie mit zum Rat. Guten So wandte sie sich heftig an die KinTag, Elsbeth Farquar.« der. »Guten Tag, Cyrus Finchley.« Els»Alles, was atmet, hat ein Recht auf beth machte einen kleinen Knicks und Leben. Das Kätzchen hat nichts Böeilte weiter. ses getan. Ich werde es versorgen. Sicher, sicher hatte Satan ihr Gebet Geht heim zu euren Müttern und gehört und ihr diese Warnung ge- betet um Vergebung für eure Grausandt. Als sie die Hälfte der Straße samkeit. Da -« Sie hielt die Pfote zurückgelegt hatte, erhielt sie eine des Kätzchens hoch, die aufgeschunneue Bestätigung. Eine Gruppe von den war und blutete. »Seht, was ihr Kindern quälten ein armes, dürres, gemacht habt.« kleines schwarzes Kätzchen. Gerade Einer nach dem anderen stahl sich als Elsbeth auf gleiche Höhe mit ihnen fort. Als sie gingen, faßte der älteste kam, riß sich das Kätzchen von sei- Junge Mut. »Hexen katze, Hexen16
BÜND MIT DEM SATAN
katze!« rief er zurück. Der Junge, Thomas, erwartete, daß Elsbeth das Kätzchen bei diesen schlimmen Worten fallenlassen würde, und mußte erstaunt feststellen, daß sie das kleine schwarze Ding stattdessen eng an sich drückte und freudig lächelte, als habe sie unerwartet einen Schatz gefunden. '"'..Das erste, was Elsbeth tat, als sie ihr winziges, schindelgedecktes Haus erreichte, war, daß sie das Kätzchen versorgte. Sie badete die verletzte Pfote und verband sie mit einem Stückchen weißem Leinen. Dann gab sie ihm eine Schale Milch, die das kleine Ding begierig leerschleckte. Als _,es fertig war, kam es vorsichtig auf Urer verbundenen Pfote zu Elsbeth '"herüber, sprang ihr auf den Schoß und leckte ihr die Hand, als sei es |An Hund und kein Kätzchen. Dann, ebenso vorsichtig, wie es gekommen war, ging es zurück zu dem Kissen, das sie neben die Milch schale gelegt hatte. Dort rollte es ,ich zusammen und schnurrte sich bald in den Schlaf. Elsbeth saß da und sah auf die Hand, wo die Zunge des Kätzchens sie geküßt hatte, als habe sie sich plötzlich verschönt. »Es hat mich angenommen. Der Abgesandte Satans hat mir sein Siegel der Zustimmung aufgedrückt.« Natürlich war da, wo die Zunge der
Katze sie berührt hatte, ein Fleck. Ein Gefühl der Freude stieg in hoch. In diesem Augenblick ve derte sie sich. Sie war im Laufe ein paar Stunden von einem Gefü höhepunkt zum anderen geschw - vom verliebten Mädchen zur erfüllten Frau. Von einer sche zurückgezogenen Jungfer, die einfaches Leben führte, jederm helfen wollte und an das Gute gl te, hatte sie sich in einen verb ten, sarkastischen Menschen ver delt, der an das Böse glaubte Rache haben wollte - nicht nu Johan, sondern auch an allen a ren. Eine Welle der Energie durchd sie, ^epriart mit grimmiger Entsc senheil Sie konnte es kaum er ten, eine Hexe zu sein. Sie mußte Buch suchen. Sie verriegelte ihre und entzündete eine zweite K Sie nahm sie, deckte sie vorsi mit der freien Hand ab und die Treppe zum Speicher hinauf. Dort angelangt, stellte sie die K auf dem Boden ab und stellte sie ter einem alten Kissen ab, so Vorübergehende nicht erke konnten, daß sie auf dem Spe war. Dann fand sie die Truhe Vaters, zog sie heraus und w fieberhaft ihren Inhalt durch. meisten Bücher waren Gelehrten de, die sie überhaupt nicht interes
DOROTHY QUICK
ten. Schließlich fand sie ganz am Boden das Buch, das sie suchte. Es war in ein sonderbares, pergamentähnliches Material gebunden, und auf dem Titelblatt stand: >Das Hexenbuchjun Mann
HANS KNEIFEL
der Tür stehen. In einem Spanisch, das wie eine Maschinengewehrsalve klang, redete die alte Dame auf die Männer ein. Sie grinsten trotz ihrer Müdigkeit; als aus einer Kiste eine Flasche und vier angestaubte Gläser erschienen, breitete sich etwas Ähnliches wie eine gemütliche Stimmung im Zimmer aus, das fünf zu fünf Meter groß war und voller Umzugsgut stand. Tomas nahm die Flasche hoch und staunte über das Etikett. »Dios!« sagte er. »Das Zeug, das ich in Barcelona bis zur Bewußtlosigkeit getrunken habe. Jerez dulce! Schade, daß kein Eis da ist.« Die Gläser wurden geleert, und Tomas verabschiedete sich. Es war halb zwei, und er war müde. Die Alte brachte ihn bis zur Tür. »Wenn ich ganz eingerichtet bin, werde ich Sie zum Kaffee einladen, ja? Und vielen Dank für Ihre tüchtige Hilfe. Wie heißen Sie?« »Tomas Fischer, gnädige Frau. Fünfzehnter Stock.« Sie gab ihm die Hand. Sie war leblos und kalt, knöchern. Die scharfen Kanten der Ringe drückten. »Nochmals: besten Dank!« Er nickte, nahm die Jacke in den Arm und sah, wie ihn die Siamkatze prüfend anstarrte. Dann schloß sich die Tür aus Palisanderfurnier. Als Tomas auf den Lift wartete, stellte er fest, daß er eine Gänsehaut hatte.
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Am Nachmittag des nächsten Tages wurde seine leidlich gute Laune gründlich verdorben. Der Verdacht, daß sich in einer abgeschlossenen Wohnsiedlung von rund tausend Familien unbeobachtete Dramen abspielten, wurde weiter genährt. Tomas verließ das Haus, um die tägliche Ration Zigaretten zu holen. »Verzeihen, Herr!« Er drehte sich um. Hinter ihm stand ein Mann, etwa dreißig Jahre alt und mit den typischen Zügen des spanischen Zigeuners. Viel schwarzes Haar, brennende Augen in einem schmalen Gesicht. Der Mann sah aus, als leide er an Schwindsucht. Seine Finger krallten sich um Tomas' Arm. »Ja?«Tomas entfernte die Hand und sah unwillig auf die schwarzen Ränder der Fingernägel. »Hier wohnen Fräulein?« Tomas runzelte die Stirn und betrachtete den Mann genauer. Die Schuhe waren ungeputzt, und die Hose wirkte abgetragen und staubig. Der Hemdkragen war vor drei Wochen weiß gewesen. »Hier wohnen viele Fräuleins.« Tomas deutete auf die zahlreichen jungen Mütter, die ihre spielenden Kleinkinder im Sandkasten beaufsichtigten und über Waschpulver oder über ihre Männer sprachen. »Ja? Fräulein, groß, schlank. Rote Haar, so lang! Grüne Augen. Sie kennen Fräulein?«
DIE ROTHAARIGE
Eine entsprechende Bewegung beider Hände deutete die Umrisse ari. Es schien sich um eine einmalige Dame zu handeln. Der Zigeuner blickte Tomas flehentlich an; er schien auf jedes zustimmende Wort zu warten. »Tut mir leid, aber ich kenne kein Fräulein, die so aussieht. Sie lebt auch nicht in einem dieser acht Häuser, denn ich wohne seit fast zwei Jahren hier. Ich müßte sie kennen.« Der Zigeuner rührte sich nicht. Sein Gesicht wurde verschlossen, und er breitete mutlos beide Arme aus. »Entschuldigen!« sagte er und wandte sich ab. »Bitte«, sagte Tomas und ging auf den weißen Platten zwischen neugepflanzten Bäumen und spielenden Kindern bis zum Supermarkt. Er kaufte Zigaretten und eine Zweiliterflasche billigen Rotwein und ging wieder zurück. Der schwarzhaarige, hungrig aussehende Mann saß auf einem der Betonwinkel der Beleuchtung und sah Tomas entgegen. Er starrte ihm nach, bis er im Haus ver-
schwunden war. Tomas fühlte die Blicke wie Messerspitzen im Rücken. Tomas Fischer ernährte sich von dem Bedürfnis anderer, vor dem Einschlafen lesen zu wollen; er stellte Unterhaltungsliteratur her. Er verdiente so, wie er schrieb, nämlich mittelmäßig. Schriebe er besser, würde er vermutlich verhungert sein. Er
konnte sich einen Smoking, einen gebrauchten englischen Sportwagen und gelegentlich - meist in Begleitung von jungen Mädchen - ein teures Essen in einem teuren Lokal leisten. Tomas war groß, schlank und braunäugig. Durch das lange Sitzen vor der Schreibmaschine hatte er ab und zu Kreuzschmerzen. Außer der Befürchtung, dick zu werden, war er im Augenblick sorglos und glaubte, in der nächsten Zeit einigermaßen gut über die Runden zu kommen. Zwei Tage später, gegen ein Uhr, klingelte es. Er saß im roten Bademantel am Schreibtisch und las die Zeitung. Tomas ging zur Tür und öffnete. Der Hausmeister stand im Korridor. »Herr Molnar?« »Sie haben doch neulich der alten Dame geholfen, Herr Fischer, ntdit wahr?« »Ja«, erwiderte Tomas mürrisch, »ist sie wieder ausgezogen?« »Im Gegenteil. Ich habe sie eben vor dem Lift getroffen. Sie sollen heute um drei zu ihr zum Karfee kommen. hat sie gesagt. Drei Uhr nachmittags.« »Na ja«, erwiderte Tomas kurz, »Wohltun bringt Zinsen. Danke, Herr Molnar.« Der Hausmeister nickte und ging. Tomas zog die Schultern hoch. Eine wenig reizvolle Vision tauchte auf: dünner Kaffee in altmodischen Tas59
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sen mit Goldrand und Kuchen, der so trocken war, daß er vom Teller sprang. »Gar nicht lustig«, sagte er, »vielleicht kennt sie einen Verleger.« Er ersparte es sich, den obligaten Blumenstrauß zu kaufen, und hoffte, diesen Mangel durch seinen kargen Charme auszugleichen. Zehn Minuten nach drei Uhr klingelte er. Nieves Dalmar stand über dem Klingelknopf. Merkwürdiger Name, dachte Tomas, dann klingelte er. Als er hinter der Tür die trippelnden Schritte der Alten hörte, konnte er einen undeutlichen Schauder nicht UnterdrÜkken. Die Tür ging auf - und Tomas erschrak bis ins Mark. »Tomas Fischer«, sagte er und räusperte sich. »Verzeihen Sie, ich bin offensichtlich ein Stockwerk zu weit gefahren.« Das Mädchen lächelte ihn an und öffnete die Tür noch mehr. Hinter ihr saß Osiris auf der Schwelle und starrte Tomas regungslos an. »Wenn Sie der junge Mann sind, der meiner Tante beim Umzug geholfen hat, sind Sie hier richtig. Sie scheinen überrascht zu sein?« Tomas ging einen Schritt näher. Es roch stark nach Kaffee, und in der Kanne mußte ein höllisches Gebräu sein. »Einigermaßen, ja. Ich erwartete eine etwas . . . reifere Dame.« »Kommen Sie herein, ich bin die 40
reichte. Meine Tante ist verhindert. Ich hätte es schlimmer treffen können«, fügte sie hinzu. Hinter Tomas schloß sich die Tür. »Nett haben Sie es hier«, sagte er und sah sich im Wohnraum um. Die bleiche Sonne des Herbstnachmittags leuchtete durch die Glaswand und brachte die Farben zur Geltung. Den Boden bedeckte ein beiger Spannteppich, darauf lag ein riesiges weißes Ding mit langen Haaren. Es hätten zusammengenähte Ziegenfelle sein können. Die wenigen Möbel waren modern und von erlesener Schönheit. Sie harmonierten mit lederüberzogenen Schaumstoffwürfeln, die entlang einer Wand eine vier Meter lange Couch bildeten. Auf einem wertvollen Stereoplattenspieler rotierte Strawinskys Weihe des Frühlings. »Ihr Platz ist hier«-, sagte das Mädchen. Tomas setzte sich vorsichtig in den hochlehnigen Sessel. »Erstaunlich«, sagte er und sah in die grünen Augen des Mädchens. Die Farbe war die der Greisinnenaugen. »Wer oder was ist erstaunlich?« fragte sie. Sie hatte herrliches Haar, das bis knapp zu den Schultern reichte und dessen Farbe zwischen dunkelrot und kastanienfarben schwankte. Über dem rechten Auge begann eine graue Strähne. »Ich dachte an eine weißhaarige Dame und war erstaunt, als Sie öffneten«, sagte Tomas. Sie lachte.
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tit Milch und Zucker?« »Wie?« fragte er zerstreut. »Möchten Sie Ihren Kaffee mit Milch und Zucker oder ohne?« Er war verwirrt und löste seinen Blick nur zögernd von dem weißen Totenschädel, der auf einem kostbar gebundenen Buch lag. Dieses Buch wiederum befand sich in einem Fach des weißen Regals. Es war ein außergewöhnlich kleiner Schädel mit zierlichen Zähnen. »Nette Spielzeuge hat Ihre Tante«, l'antwortete er, »da ich eine Karaffe mit Cognac sehe, ziehe ich den Kaffee schwarz vor.« Das Geschirr war hochmodern - finnisches Design, es war wirklich echter Cognac, der Kaffee war teuflisch schwarz und stark, und auf Tomas Teller lag ein Stück fetter Cremetorte. ' »Alte Damen haben gewisse Eigenheiten«, erwiderte das Mädchen. E»»Man muß sie ihnen nachsehen. Meine Tante ist andererseits eine Perle „von einem Menschen.« '-.Tomas lächelte flüchtig. »Ich zweifle nicht daran, schließlich habe ich die Nichte kennengelernt. Herzlichen Dank!« Er machte eine Geste, die den Tisch 'umfaßte. Die einzigen alten Möbel jfearen das Tischchen, einige Bilder und kleine Phiolen, die einer mittelalterlichen Alchimistenküche entstamien konnten. Tomas sah sich um,
dann blickte er wieder das Mädche an. »Entschuldigen Sie«, sagte er. »Son erzähle ich immer dumme Witze un wirke auf meine Art recht unte haltsam, aber im Augenblick bin ic etwas irritiert.« Sie zog sehenswerte Beine in teure Strümpfen zu sich heran und lehn gegen das Leder der Sitzbank. »Irritiert? Meinetwegen?« »Auch«, sagte er. »Und tun Sie nic so, als ob Sie es nicht gemerkt hätte Gutaussehende Mädchen laden mic selten zum Kaffee ein. Und daz noch zu einem derart starken Kaffe Wieviel Pfund nehmen Sie pro Tass - oder hat Tantchen ihn schnell g kocht, ehe sie fortging?« Sie schüttelte den Kopf, das Haa flog zurück, und die Antwort hatt er so oder ähnlich erwartet. »Ich habe ihn gekocht. Kaffeekoche gehört zu meinen wenigen Fähig keiten.« Tomas lachte verlegen. »Sie scherzen. Welchen Job habe Sie, wenn ich fragen darf?« »Sie dürfen. Ich vertrete ein Werk das Spezialkosmetik herstellt. Ich re se ziemlich viel, und meistens wohn ich in der Zwischenzeit bei Tantchen Sie sind ein berühmter Schriftstel ler, habe ich von Tante Nieves er fahren?« Tomas winkte mit beiden Hände ab.
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»Sie hat's von Molnar, dem Hausmeister. Er denkt es, weil ich gewöhnlich erst mittags aufstehe. Aber ich mache selten vor zwei, drei Uhr nachts Schluß.« Ihre Figur war das Atemberaubendste, das er seit zehn Jahren gesehen hatte. Vorausgesetzt, die Manipulationen hielten sich in Grenzen. Er abonnierte Playboy, las deutsche Illustrierte, kannte daher manches und wunderte sich kaum mehr über die Eigentümlichkeiten weiblicher Anatomie. »Was schreiben Sie?« fragte sie. »Bücher«, antwortete er kurz. »Lassen wir das Thema . . . wenn Sie wieder in Madrid oder Kapstadt aus dem Jet steigen, kaufen Sie eines. Ich schreibe Ihnen dann eine lustige Widmung hinein. Ihre Tante ist überraschend modern eingerichtet.« Sie betrachtete ihn sehr genau. Und er begann sich wie vor einem Röntgenschirm zu fühlen. Osiris schlich an seinen Beinen vorbei, sprang mit einem virtuosen Satz auf die Couch und rollte sich zusammen. Vier grüne Augen musterten ihn, während die wilde Musik Strawinsky spielte. Wieder begann er, sich unruhig und unsicher zu fühlen. Er balancierte den Teller auf seiner Hand und spießte eine kandierte Kirsche auf. »Ich bin es zwar gewöhnt«, scherzte er, »im Rampenlicht zu stehen, aber Ihre Katze und Sie - Sie sollten sich 42
einmal im Spiegel sehen. Ich habe den Eindruck, Sie beide mustern mich ausgesprochen gnadenlos.« Sie lachte laut und herzlich. »Das hat keinen besonderen Grund«, erwiderte sie dann und trank einen Schluck aus ihrer Tasse. »Ich sehe jeden sehr genau an, und außerdem genieße ich es, mit einem charmanten jungen Mann hier zu sitzen und zu plaudern.« »Verdammt«, sagte er. Das Vokabular von Tante und Nichte war fast identisch. »Und ich habe immer geglaubt, erst bei Damen ab neununddreißig Chancen zu haben. Sollten Sie die Ausnahme in meinem vergammelten Leben sein?« Sie zupfte an einem Ohr der Katze, Osiris blinzelte verschwörerisch. »Wer weiß . . .?« sagte sie lächelnd. Jetzt glich sie Mona Lisa, Lucretia B'orgia und Cleopatra, trotz ihrer fünfundzwanzig Jahre. Ihre Haut hatte die Farbe dunklen Honigs, und die Hände waren eine kleine Sensation mit langen, golden lackierten Nägeln. Sie trug einen ähnlichen oder sogar denselben Ring wie ihre Tante, auch am Mittelfinger der Linken. Eine Viertelstunde später, nach drei Tassen Kaffee mit Cognac, hatte Tomas seine Befangenheit überwunden und begann, sich wohlzufühlen. Die andersartige, aber zwingende Atmosphäre dieses Zimmers verstärkte
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sich, als es zu dunkeln begann. Dazu kam, daß sich dieses Mädchen eindeutig für ihn interessierte; das war ein sicheres Mittel, auch aus einem Misanthropen Funken zu schlagen. Er erfuhr ihren Namen, sie hieß wie ihre Tante und das, sagte sie, bedeute soviel wie >frischgefallener Schnee«. Es wurde ein langer, einzigartiger Nachmittag. Die Karaffe war leer, als Tomas aufstand, um sich zu verabschieden. »Wir werden uns ja wieder sehen«, sagte er ruhig. »Zufällig?« »Wenn wir uns sehen, dann nicht zufällig«, erwiderte sie. »Viel Erfolg bei der Arbeit.« »Danke, Nieves - ebenfalls.« In seiner Wohnung riß er die Balkontür auf und starrte die zahllosen Lichter unter ihm an. Nieves war das schönste Mädchen, das er jemals kennengelernt hatte, und sie schien alles andere als dumm zu sein. Er beschloß, sich wieder einmal der Gefahr auszusetzen, enttäuscht zu werden. Tomas Fischer glaubte, daß jeder Mann bei fast jeder Frau alles erreichen könne, wenn die Umstände günstig waren. Hier, zwischen dem siebenten und fünfzehnten Stock, schienen sie einmalig günstig zu sein. Er kaufte einen Strauß sorgfältig ausgesuchter Blumen und schrieb eine kurze Notiz auf die Briefkarte: Ich las-
se mich wahnsinnig gern zum Karfee einladen - von Ihnen! Er bat das ältliche Mädchen im Blumengeschäft, den Strauß an die junge Dame a\js zugeben. Als er den Laden verlriS" und entlang des Kanals, vorbei am entvölkerten Kinderspielplatz, dem Hochhaus zuschlenderte, rannte der verwahrloste Zigeuner fast in ihn hinein. Er wirkte wie ein Mensch kurz vor dem Verrücktwerden. ' »Entschuldigen, Herr«, sagte der Schwarzhaarige. »Noch immer nicht gesehen Fräulein?« Blitzartig fiel Tomas ein, daß der Fremde nur Nieves meinen konnte. Keine andere! Er schüttelte den Kopf, Argwohn und Ablehnung erwachten gleichzeitig. Er sagte schroff: »Nein. Kein Fräulein. Wohnt nicht hier!« »Danke - danke!« beteuerte der Mann und ging zu den fast leeren Bänken. Er musterte die wenigen Frauen, die dort saßen. Schlagartig brachen sämtliche Unterhaltungen ab. Der Mann wirkte wie ein moderner Ahasver; unruhig, fiebernd, hungrig. Einen Tag, nachdem die Blumen abgeliefert worden waren, begann Tomas zu eskalieren. Nach Jahren machte es ihm wieder einmal Spaß, sich in das bizarre, nervenreizende Spiel zwischen Mann und Frau zu wagen. Er war so weit von sich überzeugt, daß er an seinen Erfolg glaubte. Er fuhr in den siebenten Stock, und 45
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nachdem der Nachhall der Glocke ver- nahm, betrachtete er den Ring. Es klungen war, hörte er das Fauchen war wirklich der gleiche Ring. War der Katze. Dieses Mal hatte Tomas es möglich, daß ihn beide Frauen abdamit gerechnet, die alte Dame anzu- wechselnd trugen? »Jerez mit Eis«, sagte er und trank. treffen. »Herrlich.« »Sie sind es, Herr Fischer?« sagte sie und streckte ihm die Greisinnen- »Nieves kommt morgen oder überhand entgegen. »Schade - meine morgen«, meinte die Tante. »KomNichte ist nicht da. Sie flog nach men Sie doch einfach zu uns herunBarcelona. Sie haben ihr mit den ter, wenn Sie mögen.« Blumen eine große Freude gemacht. »Das werde ich tun«, antwortete er und sah sich um. Er entdeckte in Kommen Sie herein!« »Gern«, sagte er und sah die Blu- einem Fach des Regals ein schwarzes men, die verdorrt in einer schlanken Telefon und schüttelte ungläubig den Vase standen. Nach zwei Tagen in Kopf. »Telefon haben Sie ja, sogar diesem Zimmer waren sie verdorrt! ein schwarzes; ich rufe vorher kurz »Ich wollte mit Ihrer Nichte einen an, ja?« »Hier - die Nummer!« Herbstspaziergang machen. Im offenen Wagen zum Schloß und dort zu Die Alte schrieb etwas auf eine Karte. Tomas drehte sie um: eine GeFuß durchs Herbstlaub.« Sie schob ihn herzlich in den Wohn- schäftskarte der jungen Nieves. Die raum. Zwei neue Bilder waren auf- Schrift der Alten sah nicht wie die gehängt worden. Eines zeigte einen einer fünfundsechzigj ährigen Frau Ausschnitt aus dem Garten der Lüste aus. Tomas steckte die Karte ein und von Hieronymus Bosch, das andere sagte: eine Federzeichnung von Baldung- »Schade, daß Ihre Nichte nicht da ist.« Grien, die eine junge Hexe mit einem Die zwei Frauen hatten über ihn geDrachen und zwei böse blickende sprochen - offensichtlich nicht Knaben zeigte; eine sinnliche und schlecht. Die Tante strahlte ihn an. gewagt-obszöne Darstellung. Tomas Osiris hockte auf dem Kissen und zuckte schweigend die Schultern und beobachtete mit großen Augen jede seiner Gesten. drehte sich um. Nieves musterte ihn spöttisch und hielt ihm ein Glas ent- »Ja, schade. Sie wird oft bei mir wohnen, wenn sie in der Stadt ist. gegen. »Sie trinken ihn doch so gern«, sagte Sie müssen wissen, sie ist ständig unterwegs. Wir kommen aus einer reisie. »Nur für Sie!« Während Tomas den Jerez entgegen- selustigen Familie, doch früher war 44
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das Reisen viel unangenehmer. Aber auch interessanter.« »Ich entsinne mich«, sagte Tomas und lachte. »Hat Sie dieser merkwürdige Zigeuner oder was er ist, schon belästigt?« »Zigeuner?« Die Alte schien zu erschrecken und senkte ihre Stimme zum Flüsterton. Osiris stand auf, streckte den Schwanz in die Höhe und buckelte fauchend. »Na ja«, sagte Tomas, »ein etwa dreißigjähriger Mann, ziemlich abgerissen und scheinbar am Verhungern. Er fragte nach einem Fräulein aus Spanien. Ich sagte, ich kenne sie nicht.« Nieves war an das Regal gegangen und legte die Hand auf den Totenschädel, im Nebenfach stand ein Edelholzkeil, und auf diesem saß ein ausgestopfter Rabe, pechschwarz und mit stechenden Knopfaugen. Tomas glaubte, Unsicherheit aus ihrer Stimme herauszuhören. »Mich hat er nicht belästigt. Ich habe ihn nicht gesehen«. Sie schien zu lügen. Tomas roch an dem leeren Glas und stellte es ab. »Versprechen Sie mir, die Flasche nicht allein auszutrinken? Ich liebe diesen Jerez. Ich rufe morgen oder übermorgen an. Wenn es regnen sollte, kann ich mit Ihrem Fräulein Nichte zum Essen fahren - vorausgesetzt, ich langweile sie nicht.« Die Alte sah Tomas an, schüttelte
den Kopf und nahm die Ha Totenkopf, dann erwiderte si »Ich kenne Nieves so gut w selbst, und ich verrate siche Neues, wenn ich Ihnen sage, Nieves sehr darüber freuen Schließlich sind Sie ein e cher ...« Tomas blickte verzweifelt zu ke und murmelte: ». . . gutaussehender, cha junger Mann, ich weiß. Sie ü ben reizvoll, gnädige Frau, a übertreiben. Darf ich mich schieden?« Sie ging vor ihm zur Tür. kleinen Garderobe hing ein d tellanger weißer Pelzmantel. berührte ihn mit dem Hand und glaubte, von den Haaren elektrischen Schlag zu beko Nannte man diesen Pelz nicht wolf? »Ich rufe an«, sagte er und die knochige kalte Hand mi scharfkantigen Ring. »Darf i »Sie sollen. Nieves würde sich en.« Tomas fuhr mit dem Lift hin kletterte in den Sportwagen stieß aus der Parklücke. Als Stockwerke abzählte und bei Apartment angelangt war, glau hinter dem Gewebe der Vorhän unverkennbare Silhouette des j Mädchens zu sehen. Unsinn! E statt zum Schloß zur Bank, zu
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und in die Wäscherei. Er war sehr nachdenklich, als er in den dichten Verkehr der Hauptstraße einbog. Zwischen ihnen flackerte die Kerze. Tomas hob den Leuchter und hielt ihn über den Tisch. Nieves zündete sich die Zigarette an und blies Tomas den Rauch ins Gesicht. »Danke«, sagte er. Sie lächelte; jetzt nur für ihn allein. In dem kleinen Lokal, das Tomas nur dann besuchte, wenn er mit einer jungen Dame eindeutige Absichten hegte, waren sie - oder vielmehr Nieves - eine kleine Sensation gewesen. Tomas in seinem dunkelblauen Anzug sah passabel aus. Nieves war mit einem weißen Kleid aufgetaucht, dessen Dekollete die dem Abend entsprechende Tiefe hatte. Der Kellner, der Tomas seit zwei Jahren kannte, hatte sich förmlich erschöpft. Nachdem Tomas die erstaunliche Rechnung gezahlt hatte, sagte er leise: »Ich nehme an, daß es Ihnen gemundet hat. Teuerste.« Ihr Lächeln ähnelte jetzt dem einer großen, trägen Katze. »Trefflich. Ich nehme an, in dieses Lokal gehen Sie immer mit den kleinen Mädchen, die Sie verführen wollen?« »Klugheit, dein Name ist Weib«, sagte Tomas und nickte bitter. »Wie recht Sie haben. Selbstverständlich sind Sie die Ausnahme. Mit Ihnen
ging ich deshalb hierher, weil das Essen teuer und delikat und der Service excellent sind. Waren Sie zufrieden?« »Dank Ihrer Begleitung einer der zehn unvergeßlichen Abende eines Mädchenlebens.« »Es ist erstaunlich, wie Sie sich meinem ironischen Tonfall angeglichen haben. Das erlebe ich selten, und wenn, dann mit Frauen ab neununddreißig.« »Warum gerade neununddreißig?« Tomas machte eine entschuldigende Geste. »Ich kenne kaum Damen über vierzig. Was machen wir jetzt?« »Wäre es nicht so kalt, befände sich ferner ein Park in der Nähe, würde ich Sie um einen langen Spaziergang bitten. So aber . . .« »Ich höre!« Tomas legte die Hand. ans Ohr. , »Ich beschränke mich darauf. Sie auf ein Glas Jerez in den siebenten Stock einzuladen. Ich hoffe. Sie interpretieren die Einladung richtig.« »Ich glaube, daß ich es tue«, gab er zur Antwort. Er lächelte versonnen. Zwischen ihnen war im Lauf der vergangenen hundertfünfzig Minuten ein geheimnisvolles Einverständnis entstanden. Tomas hatte Nieves gegen sieben Uhr angerufen und sie kurz vor acht abgeholt. Sie waren ins Zentrum gefahren. Während des Essens hatten
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sie sich kennengelernt: erstaunlich, wie tief der Grad gegenseitigen Verständnisses geworden war. Tomas würde sich, hätte er ernsthafte Chancen, in dieses Mädchen verlieben wollen, aber seine Erfahrung ließ ihn skeptisch bleiben. Nieves selbst schien stark an ihm interessiert zu sein - wenn nicht, spielte sie hervorragendes Theater. Er hatte nach einigen Worten festgestellt, daß ihr sowohl das Fluidum, das selbst mittelmäßige Schriftsteller umgab, als auch der grellrote Sportwagen und die Tatsache, daß er beim Essen nicht schmatzte, völlig gleichgültig waren. Er war tief beeindruckt. »Darf ich Ihren Mantel holen?« fragte er. »Bitte.« Sie drückte die Zigarette aus, und Tomas holte seinen Wildledermantel und ihren Polarwolf. Die Männer warfen ihm neidvolle Blicke zu, die Gesichter der meisten Mädchen versteinerten; er fühlte sich geschmeichelt. Sein kühler Verstand registrierte gleichzeitig, daß Nieves die Bewunderung genoß. Als sie neben ihm auf dem Schalensitz kauerte, fragte sie kurz: »Wie spät?« »Viertel vor Zwölf. Geisterstunde. Die Zeit des Nebels, der Liebenden und der Hexen.« Das Motorengeräusch weckte vielfältige Echos. Sie fuhren die vier Kilo-
meter bis zum Hochhaus, und Tomas fand sogar eine Parklücke. Er gestattete sich, Nieves am Ellenbogen zu führen, schloß die Tür auf und stellte sich im Lift neben das Mädchen. Nieves betrachtete sich in dem schmalen Spiegel. »Sie brauchen nur in meine Augen zu sehen«, sagte Tomas sarkastisch. »Zwei runde Spiegel werden Ihnen zeigen, wie gut Sie aussehen.« Sie drehte sich schnell um und nahm seine Hand. »Sie sind ja ein richtiger Literat!« sagte sie erstaunt. »Und eine so schöne Metapher!« »Und völlig kostenlos.« Er nickte. »Sie haben noch genügend Jerez?« Ihr Lächeln traf ihn wie eine glühende Nadel. »Genug, um Sie betrunken zu machen und zu verführen.« Der Lift hielt, Tomas stieß die Tür auf. Zehn Leuchtstoffröhren erhellten flackernd den H-förmigen Korridor. Das Geräusch von Ledersohlen und hohen Absätzen hallte zwischen Rauhputzwänden. Mit gespieltem Entsetzen fragte Tomas: »Sie werden mich doch nicht verführen wollen. Teuerste?« Über die Schulter warf ihm Nieves einen kurzen, eindeutigen BUck zu und schloß die Tür auf. »Nehmen Sie an, ich sei eine Nonne?« »Nein«, entgegnete er trocken. »Das ganz sicher nicht.« 47
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Während er ihr den Pelz abnahm, begrüßte Osiris das Mädchen nach Katzenart. Als sich das Fell an den Strümpfen rieb, glaubte Tomas, Funken zu sehen. Sie gingen in den Wohnraum, Tomas setzte sich in den Sessel. »Was trinken Sie? Kaffee, Jerez, Cognac, Gin oder Whisky?« »Zuerst einen Kaffee, dann Jerez mit Eis.« Er sah auf. »Macht es Ihnen nicht zuviel Mühe?« »Nein«, sagte sie, »ich rechnete mit dieser Kombination.« Sie ging in die Miniküche und stellte eine kleine, doppelt kugelförmige Karfeemaschine auf eine Kochplatte. »Wirklich erstaunlich«, murmelte Tomas, als sie zurückkam, »wie gut Sie mich zu kennen glauben. Ich ziehe um diese Stunde wirklich Kaffee und Jerez vor.« Sie stand vor dem Sessel und fuhr schnell, unverbindlich durch sein Haar. »Ich wußte es genau. Tausend Jahre Erfahrung liegen hinter mir.« »So alt, Mädchen?« fragte er. »So weise«, erwiderte sie. »Eine Sekunde - ich ziehe mich nur um. Wenn das Ding dort zu pfeifen beginnt, schalten Sie die Platte ab. Sie werden einen Schalter drehen können?« »Möglicherweise sogar in die entsprechende Richtung«, sagte er. Das Geräusch der Wohnraumtür, das
Klappen von Schranktüren, Geräusche, die er nicht deuten konnte. Drei Minuten später pfiff die kleine Kaffeemaschine. Er stand auf und drehte den Schalter herum. Aus dem Hochschrank suchte er Teller, Tassen und Löffel, fand Milch und Zukker und plazierte alles auf ein Tablett, das er vorsichtig zum Tisch trug. Dann schaltete er unter Osiris' mißtrauischen Blicken die Couchlampe mit den freizügigen Darstellungen auf dem Seidenschirm ein und die Deckenbeleuchtung ab. Er wartete einige Sekunden und hörte im Bad Wasser rauschen. Dann suchte er zwischen den hochkant stehenden Schallplatten. Er legte Berlioz auf, Sinfonie fantastique. Aus Stereolautsprechern quoll Musik wie Nebel und füllte den Raum. Tomas war nüchtern wie ein Stück Mauer, aber er fühlte sich im Banne einer Verzauberung: Musik, Totenschädel, das Zimmer, die lautlose Katze und die weichen Möbel . . . die Dinge waren wohlausgesuchte Zutaten zu einer eindeutigen Situation. Er setzte sich wieder, lehnte sich zurück und schloß die Augen. Als er sie wieder öffnete, stand Nieves vor ihm. »Wie ich Menschen liebe«, sagte Tomas ruhig und sehr leise, »die jedesmal die richtigen Dinge im richtigen Augenblick tun!« Sie legte eine Handfläche gegen seine Wange.
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»Auch das wußte ich. Außerdem bin ich dort, wo es sich nicht vermeiden lassen sollte, für Ehrlichkeit. Ich sehe, du hast den Jerez nicht gefunden.« Tomas klappte den Deckel des stählernen Kästchens auf und zündete zwei Zigaretten an. i »Hauptsächlich deswegen, weil ich nicht gesucht habe. Sicher entspricht Berlioz der Situation - du scheinst mich verzaubern zu wollen?« Sie schwieg und lächelte, dann klappte das Barfach auf, und Nieves stellte die Flasche und zwei schlanke Gläser auf den Tisch, holte Eis aus der Küche. Tomas verteilte das Geschirr und entschloß sich, ihr das Entgegenkommen zu erleichtern. Er setzte sich in eines der lederüberzogenen Couchelemente. Nieves kam mit der Schale voller Eiswürfel zurück. Sie trug einen knöchellangen Morgenmantel aus einem hauchdünnen, kostbaren Stoff. Schwarz. Die Oberfläche sah wie der Druck einer Sternphotographie aus; Sterne, Monde, Planeten und Kometen bildeten verstreute Muster auf dem schwarzen Grund. »Ich kenne manches«, sagte Tomas und drehte den Kopf. »Aber solch einen Stoff habe ich nicht einmal in der Phantasie gesehen.« Nieves goß pechschwarzen Kaffee in die Tassen, füllte die Gläser mit Jerez. Sie trug jetzt keinen Ring mehr. Vier Eisstückchen klingelten in die
Gläser.
»Ich bin auch keines deiner Mädchen, die sich von einem SechzigMark-Essen so beeindrucken lassen, daß sie deswegen mit dir schlafen.« Sie lächelte nicht, als sie das sagte. »Das ist bitter«, erwiderte er, »aber richtig formuliert. Ich habe nichts 'gegen begründetes Selbstbewußtsein. Ich glaube, bei dir ist es nicht grundlos - natürlich werde ich mich täuschen.« Er blieb skeptisch. Stets dann, wenn Dinge perfekt erschienen, erwachte verstärkt sein Mißtrauen. Berlioz' Musik schilderte die Verwandlung einer geliebten Frau in eine Hexe und die Verzweiflung, mit der es der Mann sah. In dieser Stunde um Mitternacht war alles zu perfekt und zu präzise arrangiert. Es mußte ihn mißtrauisch machen. Wie viele Menschen, denen die Grenzen ihrer Begabung bewußt waren, blieb Tomas ironisch, ohne Zyniker zu sein, und skeptisch, ohne sich den Dingen zu verschließen. Er trank Kaffee und löschte die Zigarette. »Wo ist Tantchen?« fragte er. »Sie besucht eine Freundin. Wir Dalmars sind eine große Familie, fast über die ganze Welt verbreitet. Dazu kommt, daß wir nicht besonders arm sind. Zufrieden?« »Ja und nein , . . das alles hat Zeit. Ich hoffe, dieser Abend wird nicht der letzte sein, den ich mit dir verbringe.« 49
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Sie lehnte sich leicht gegen seine Schulter, aber die Berührung wog mehr als eine Umarmung eines anderen Mädchens. Tomas bewegte vorsichtig sein Glas, Eis schlug gegen die dünne Wandung. Sie sahen sich in die Augen. »Wer verführt wen?« fragte Tomas. »Fast alle Mädchen glauben, es sei Sache des Mannes, zu handeln, nachdem man ihn an die Wand gedrängt hat, nicht vorher.« \ Sie lachte laut. »Schriftsteller haben mitunter den Vorzug, sich um originelle Formulierungen zu bemühen. Daß du so wohltuend sachlich bleibst, macht dich unwiderstehlich. Verführen wir einander!« Tomas küßte sie leicht auf die Lippen, sie schmeckten nach etwas, das er nicht kannte. Er bog seinen Kopf zurück und murmelte: »Sekunde. Ich öffne nur die Manschettenknöpfe, welch letztere Handarbeit aus Toledo sind. Mitbringsel.« »Ich weiß, ich sah es bereits im Lokal. In Toledo habe ich einmal gewohnt, vor einigen Jahrhunderten.« Sie lachte verlegen, wie es schien. Tomas störte es nicht einmal, daß Osiris mit grünen Augen alles mit ansah. Die Küsse, die Nieves und er tauschten, waren Naturereignisse. Jetzt begann er zu wissen, daß Nieves allen anderen Mädchen in einem 50
Maß überlegen war, das er nicht beschreiben konnte. Sie kontrollierte den Körper mit dem Verstand, war heiß wie Magma und kalt wie polares Eis gleichzeitig. Als er den langen Reißverschluß des sternübersäten Mantels öffnete und seine nervösen Hände die weiche Haut spürten, wußte er, daß ihr Körper hielt, was andere Körper nicht einmal versprachen. Eine halbe Stunde oder eine Woche später erwachten sie aus dem Schweigen. Tomas setzte sich auf, schob seinen Schuh zur Seite und goß Kaffee in eine Tasse. Er trank sie in einem Zug leer. »Tom?« »Ja?« Er drehte sich herum. »Lege Mussorgski auf; Nacht auf dem kahlen Berge. Willst du?« Er gehorchte schweigend. Als er die Titel durchsah, es waren über hundert Platten, bemerkte er die Ähnlichkeit. Mystik, Sagen, rituelle Bezüge, faszinierende Themen. Überbegriff Zauber und Verzauberung. Untypisch für ein Mädchen von fünfundzwanzig Jahren. Kein Barock, nicht ein Mozartstück, viele Slaven und einige Sonderausgaben mit mythologischen Ritentänzen eingeborener Naturvölker. Der Diamant senkte sich, Musik schwang durch den Raum. »Zündest du Zigaretten an?« bat Nieves. »Natürlich.«
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Ihr Körper lag ausgestreckt auf den Lederkissen. Tomas setzte sich neben sie, und ihr Arm legte sich um seine Hüften. Tomas sagte nachdenklich: »Ja . . . ich spiele gern, aber ich werde vergessen, was ich zu tun pflegte. Du bist das erste Mädchen, von dem ich weiß, daß ich es lieben könnte.« Sie küßte seine Schulter, und ihre Zähne hinterließen ein feines, kaum sichtbares Mal. »Ich kenne eine Unzahl Männer«, erwiderte sie so leise, daß er Mühe hatte, sie zu verstehen, »aber du hast einen Maßstab gesetzt. Du bist weder schön noch wild, weder klug noch ausschließlich - aber du bist die beste Kombination von allem und allen. Ich glaube, daß ich dich lieben werde.« Er war verzaubert und zwang sich, seine Skepsis nicht zu vergessen. »Ich weiß nicht, wie lange es zwischen uns dauert, aber ich werde dich nicht vergessen. Du bist fremd, unbegreiflich, aber du bist die Geliebte, von der jeder Mann träumt. Du liebst mit jedem Muskel und jeder Hirnzelle. Warum hast du gerade mich herausgesucht? Du hast mich für andere Mädchen verdorben!« »Warum? Es wird für dich kein anderes Mädchen mehr geben, Tom«, sagte sie und setzte sich auf. Zwischen ihren Brüsten hing an einem dünnen Goldkettchen ein Amulett oder etwas Ähnliches. Als fürchte er,
eine unbedachte Bewegung könne den Zauber zerstören, griff er danach. »Karneol«, flüsterte er. »Fundort bei Teil Brak. Eine Schildkröte, Symbol für Fruchtbarkeit und langes Leben. Was bedeutet das, Nieves?« Ihre schlanken, kundigen Hände lagen auf seinen Knien. Plötzlich bekam ihre Stimme den Klang unwiderruflichen Ernstes. Was sie sagte, schien tiefe Wahrheit zu sein, fernab jeder Koketterie oder wohlwollenden Spottes. »Du hast recht, auch mit der Herkunft. Der Stein stammt aus dem Lande Sumer; er ist älter als die Ringe, die Tante und ich tragen. Es ist das Zeichen unserer . . . Familie. Wenn wir es verlieren oder wenn es uns geraubt wird, stößt uns etwas Furchtbares zu. Aberglauben? Vermutlich, aber du als Schriftsteller wirst wissen, was die >prägende Kraft des Normativem bedeutet. Jemand, der sich einbildet, krank zu sein, wird daran sterben. Die Karneolschildkröte ist für die Familie das Symbol der Unsterblichkeit, das Zeichen des Lebens. Keiner, der es verloren hatte, lebte nachher noch lange.« Tomas nahm ihr die Zigarette aus den Fingern und schnippte die Asche ab. »Ich weiß, es gibt solche Abhängigkeiten. Wenn du glaubst, die Karneolschildkröte zu brauchen - ich
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werde sie dir nicht stehlen. Trotzdem finde ich deinen Busen attraktiver ohne das runde Ding.« Sie machte zwei aufregende Bewegungen, und nur die dünne Kette war noch um ihren Hals zu sehen. »Ich trage die Schildkröte dir zuliebe auf dem Rücken«, sagte Nieves. Sie lächelte, und er küßte sie. Er ließ sich zurückfallen auf das warme Leder. »Lassen wir uns die gegenseitigen Verrücktheiten. Wie lange wird es dauern mit uns beiden?« Sie preßte sich eng an ihn. »Solange du willst. Ich sehe keinen Grund, dich mit anderen Männern zu betrügen. Ich war allen meinen Geliebten treu, bis sie starben.« Er grinste ihr ins Gesicht und hielt sie an den Schultern etwas zurück. »Auf deinen Reisen bist du nur Geschäftsfrau . , . oder Geschäftsmädchen?« »Nichts anderes. Wenn ich von meinen Flügen zurückkomme - wirst du auf mich warten? Wirst du da sein, wenn ich anrufe?« Er spielte mit der Kette und strich die graue Strähne aus ihrer Stirn. »Heute, morgen . . . ja. Übermorgen? Vielleicht. Du darfst nicht zu lange wegbleiben, Nieves.« Sie richtete sich auf, ging hinüber zum weißen Regal und nahm etwas aus einer Kassette. Sie öffnete die Hand und zeigte ihm einen Schlüssel für ein Sicherheitsschloß. 52
»Ich riskiere es, dir zu vertrauen. Das ist der Schlüssel dieser Wohnung. Benütze ihn niemals, ohne vorher anzurufen. Benütze ihn, wenn ich da bin. Versprichst du es mir?« In dieser Situation hätte Tomas Nieves alles versprochen außer der Ehe. Er bemühte sich, den Verstand einzuschalten, überlegte sekundenlang und erwiderte: »Ich verspreche es, Nieves, wirklich.« »Gut. Hier ist er. Benutze ihn nur, wenn ich hier bin, niemals sonst.« Sie versenkte ihn in die Brusttasche seiner Anzugsjacke. Es war fast zwei Uhr. Die Nacht eilte mit Riesenschritten. Sie liebten sich mit ertrinkender Atemlosigkeit, 'als gäbe es kein Morgen. Beide wollten sie, daß es ein Morgen gäbe. Sie trennten sich am nächsten Tag gegen Mittag, nach einem Frühstück, das Nieves zubereitete, diesmal in einem roten Hemd aus hauchdünnem Wildleder, unter dem sie nichts trug als ihre Haut. Tomas fuhr in den Fünfzehnten, las kurz in der Zeitung und schlief bis abends. Als er in der Dunkelheit erwachte, kamen die Gedanken, die fürchterlichen Partner der Vernunft. Er liebte nicht, er war nicht verliebt .., er war verzaubert worden. Er fühlte sich leer, ausgebrannt und erkannte jedenfalls den Begriff >verfallen< ziemlich genau. Er badete,
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trank eine Kanne Kaffee leer und beendete die letzten fünfzehn Seiten des Manuskripts. Er schaffte es in der Hälfte der sonst üblichen Zeit. Die folgende Woche arbeitete er wie ein Rasender, um zwischen sich und die Nacht mit Nieves einen so großen Abstand zu bringen, der es ihm erlaubte, alles mit kalter Reife zu betrachten. Er schaffte es bis genau zu jenem Abend, an dem er irgendwo eingeladen war und nachts um ein Uhr, die Pelzjacke über dem Smoking, aus dem heißgefahrenen Wagen stieg. Er blieb stehen, starrte die Front des Hochhauses an. ». . . fünf . . . sieben. Was ist das?« Hinter den Schleiern des Vorhanges bewegten sich zwei Schatten. Zwei schlanke, schnelle Schatten mit rudernden Armen, hastig und schnell. Kein Zweifel - in der kleinen Wohnung ging etwas vor. Langsam ging Tomas näher. Rechts von ihm bildete sich Reif an den schwarzen Ästen der Büsche. Die Lichter unter den Betonwinkeln strahlten böse, die Platten des Weges hatten nasse Fugen. Irgendwo klirrte Glas, und ein Hund bellte. Dann mehrere. Schließlich stimmten die kleinen Pudel, Dackel, Terrier und Spaniels, die in den acht Häusern lebten, in das Kläffen ein. Ein Fenster wurde aufgerissen, und eine Männerstimme schrie, sich überschla-
gend: »Ruhe!« Der Erfolg war gleich Null. Ein höllischer Spektakel brach los. Tomas fühlte in seinem Magen einen harten Klumpen und begann zu laufen. Er rutschte auf den glatten Steinen aus und schloß die Tür auf. Vor dem Lift wußte er, was zu tun war. Er würde zu sich hinauffahren, Nieves anrufen und es zehnmal läuten lassen, wenn sie nicht abhob. Es war ihre Silhouette gewesen, nicht die der Alten. Keuchend sprang er aus dem Lift, sein Herz schlug wie rasend. Er warf die Jacke achtlos in den Korridor, schloß die Tür und öffnete die andere Tür zum Wohnraum. Sein Telefon stand in einem Stringregal links vor der Glaswand. Er schaltete die Korblampe an und blieb stehen, als habe man ihn in den Magen getroffen. Auf dem Balkon stand Nieves, splitternackt, und jetzt berührte sie die Glastür. Sie öffnete sich, obwohl der Sperrhebel nach oben umgelegt war. Das Mädchen kam ins Zimmer, zitternd vor Angst und Kälte. Hinter ihr blieb die Tür offen. Das Hundegebell war mörderisch laut, dauerte mit unverminderter Heftigkeit an. »Nieves . . . was . . .?« Er umarmte sie flüchtig, trat die Tür mit dem Fuß zu und raste in den Flur. Er hob die Pelzjacke auf und hängte sie um die Schultern des Mädchens. Tomas sah die Spuren von 55
HAI^S KNEIFEL
Fingern an den Oberarmen des Mädchens. »Was ist los?« fragte er, sich mühsam zur Ruhe zwingend. »Der Zigeuner. Er wollte mich vergewaltigen. Osiris hat ihm das Gesicht zerkratzt, und dann versuchte er, mir die Schildkröte abzureißen. Ich . . .« Sie öffnete die Hand und hielt ihm das Amulett entgegen. Das Goldkettchen war zerrissen. »Wie kommst du auf den Balkon, Nieves?« fragte er leise. Sie sah ihn ratlos an und schwieg. Er nahm sie vorsichtig bei den Schultern und zog sie an sich. »Frage mich bitte nicht«, flüsterte sie. »Wenn du mich liebst, frage mich niemals. Nimm alles, wie es ist. Ja?« »Mal sehen«, sagte er und hob sie auf. Er öffnete die Tür mit dem Knie und trug Nieves ins Bad, setzte sie auf den Rand der Wanne. »Du kannst jetzt duschen und meinen Bademantel anziehen«, sagte er. »Ich bin gleich wieder zurück.« Sie erschrak wieder: Ihr Gesicht wurde unnatürlich bleich. »Wohin gehst du?« »Wenn du mich liebst, frage niemals«, erwiderte er und grinste grimmig. »Ich bin in fünf Minuten wieder da.« Er ging in den Schlafraum, öffnete das oberste Fach des Schrankes, dessen Vorderseite mit der fotografi54
sehen Wiedergabe ägyptischer Wandmalerien beklebt war und wickelte die kleine Pistole aus der Decke. Er zog den Schlitten zurück, entsicherte die Waffe und zog einen Handschuh an. Dann steckte er die blauschwarze Pistole in die Innentasche der Smoking jacke. Er verließ die Wohnung, fuhr in den siebenten Stock hinunter und ging schnell und geräuschlos auf die Tür zu. Er holte die Waffe hervor, nahm sie in die behandschuhte Rechte und schloß auf. Osiris, der auf dem Ablagebrett saß, sprang auf Tomas' Schulter und schlug seine Krallen in den Schalkragen. »Ruhig, Osiris«, sagte Tomas und stieß die Tür zum Wohnraum auf. »Halt.« Der Zigeuner stand in der Mitte des Raumes, eine leere Flasche in der Hand und starrte Tomas an. Tomas richtete die Waffe auf ihn. »Schnell!« sagte er knurrend. »Die Flasche weglegen, die Taschen ausleeren. Du bist hier kein erwünschter Gast!« Wortlos, aber ohne Tomas aus den Augen zu lassen, gehorchte der Mann. Tomas konnte den stechenden Blick der brennenden Augen nicht ertragen, aber er wartete geduldig. In den Taschen war nichts, das so aussah, als könne es der Alten oder Nieves gehören. »Steck den Krempel wieder ein«, sagte Tomas hart, »und dann ver-
DIE ROTHAARIGE ;
schwinde. Wenn ich dich hier in der | Nähe des Hauses noch einmal sehen sollte, bringe ich dich um. Damit! Er hob die Pistole und zielte ins Gesicht des anderen Mannes. Der Zigeuner, der noch jämmerlicher, verzweifelter und verschmutzter war, drückte sich entlang des Regals zur Tür, glitt durch den Flur und machte schweigend die Tür hinter sich zu. Tomas wartete, bis er das Geräusch des Lifts hörte, dann legte er die Waffe auf den Tisch. Er warf die Kissen zurück auf die Couch, richtete die Lampe auf und machte flüchtig Ordnung. Dann nahm er Osiris von der Schulter, schlug das Buch unter dem Totenkopf auf und sah, daß es ein mittelalterliches, vergilbtes Exemplar war, abgegriffen und sicher ungeheuer wertvoll. Die Schrift konnte er lesen, aber nur wenige Brocken Latein verstehen. »Jetzt hast du, Tomas, was du niemals wolltest«, brummte er. »Mitten in einer Tragödie drin. Und in was für einer dazu!« Er bedeutete Osiris, ihm nicht nachzulaufen, steckte die Waffe ein und löschte die Beleuchtung. Mit seinem Schlüssel versperrte er die Tür, ging leise zum Lift und fuhr in seine Wohnung hinauf. Nieves saß auf dem Schreibtisch und hatte sich beruhigt. Das wütende Kläffen der Hunde war vorbei. Wieder lagen Ruhe und
Nebel über den Häusern, über dem bereiften Rasen und den schwarzen Ästen. In der Ferne blinkten die Lichter des Fernsehturmes. »Ich habe den Zigeuner aus der Wohnung der Tante entfernt und ihm versprochen, ihn umzubringen, wenn ich ihn noch einmal sehe.« Sie starrte ihn wortlos an, als er die Waffe aus der Tasche nahm, sie sorgfältig entlud und wieder im Schrank verstaute. »Ich bleib heute bei dir«, sagte sie. »In deiner Arbeitswohnung. In deinen Funktionsräumen.« Er nickte. »Du wirst sie nicht entweihen«, sagte er dann. Bevor er einschlief - er spürte ihren Körper an seiner Schulter und an den Knien -, dachte er nach. Morgen würde er versuchen, alle Dinge in ein logisches System zu bringen, aber er fürchtete, daß sie sich nicht einfach unterbringen ließen. Er schlief ein, matt und erschöpft, aber nicht glücklich. Seine Gedanken suchten ihn heim und verschafften ihm Träume, so daß er froh war, sich ihrer nach dem Wachwerden nicht mehr erinnern zu können. Nives Dalmar flog nach Rom, dann nach Zürich; sie war diese Woche nicht in der Stadt. Tomas Fischer arbeitete viel und, wie er hoffte, mit guten Resultaten. Er traf sich am 55
HANS KNE1FEL
Freitag mit einem Abteilungsleiter des Verlags, und sie blieben in einer Bar sitzen, bis es drei Uhr war. Tomas, nicht mehr ganz nüchtern, fuhr mit dem Sportwagen mehr als vorsichtig über die eisglatten Straßen, verhinderte mit Mühe eine Kollision und stellte den Wagen dann direkt vor dem Haus ab; durch einen Zufall gab es einen Parkplatz. Es war bitter kalt. Mit hochgestelltem Mantelkragen ging er auf das Haus zu, wieder war hinter den Vorhängen des Apartments Licht. Er hatte sich diesen Blick schon angewöhnt. Eine sternklare Nacht, ein blasser, hämisch grinsender Mond und eine Sternschnuppe, die den Himmel teilte. Tomas steckte den Schlüssel ins Schloß und drehte-ihn um. Geräusche . . . dann ein Laut, den er ein einziges Mal in seinem Leben gehört hatte. Er fuhr herum, erinnerte sich und schloß auf. Dann steckte er den Schlüssel ein, schüttelte verwirrt den Kopf und ging scharf nach rechts. Auf beiden Seiten des Treppenhauses waren weitere, aber weniger breite Eingänge. Er öffnete die Tür und blieb stehen. Dieses Bild kannte er. Er war fünfzig Meter vor der Stelle entlanggegangen, als die nervenkranke Frau aus dem zehnten Stock des Nachbarhauses gesprungen war. Er hatte sich das Geräusch des Auf56
pralls, mit dem ein menschlicher Körper auf die Steine schlug, unauslöschlich eingeprägt. Vor ihm, vier Meter entfernt, lag ein Mann auf den eiskalten Fliesen. Blut floß aus den Ohren und dem Mund, und Arme und Beine waren so ausgestreckt, daß der Körper ein Kreuz bildete. Vorsichtig ging Tomas näher, kauerte sich hin und überwand seinen Ekel. Er faßte den Kopf am Haar und drehte ihn herum. Es war der Zigeuner — so tot, wie jemand nur tot sein konnte. Sein Gesicht trug undeutlich die verheilten Spuren der Katzenkrallen und ein Muster aus Schnitten, die noch bluteten. Das Gesicht und beim näheren Hinsehen auch .die Hände waren förmlich eine blutige Masse, kreuz und quer zerfetzt. Eine Hand des Toten war offen; die Finger zuckten noch ein wenig. Die andere war zu einer Faust geballt. Tomas richtete sich auf und sah sich um. Niemand war in der Nähe, nur fünfundzwanzig Meter entfernt, nach einem Wiesenstreifen, der Böschung des Baches und einigen schwarzen Baumstämmen, fuhr ein Wagen langsam über das Eis. »Die Karneolschildkröte .. .«, murmelte Tomas. Er zog die Handschuhe wieder an, schüttelte sich vor Kälte und Entsetzen und versuchte, die Finger der Faust aufzubiegen. Er schaffte es nach Minuten. Dann hob er den runden
DIE R O T H A A R I G E
Stein hoch, und das zerrissene Goldkettchen rutschte aus dem Loch des Amuletts. Tomas floh zurück ins Licht und in die Wärme des Eingangs, riß die Lifttür auf und starrte in den Spiegel. Er sah ein leichenfahles Gesicht. Seine Finger zitterten, und am ganzen Körper hatte er Gänsehaut, fror und schwitzte gleichzeitig. Er steckte das Amulett in die Hosentasche und öffnete seine Wohnung, darauf gefaßt, Nieves auf dem Balkon vorzufinden oder im Zimmer. »Nichts«, sagte er. Er griff nach dem Telefon. 5-9-8-8-8-2 Das Freizeichen. Dreimal, viermal. Dann knackte es in der Leitung, polternde Geräusche. Ein Ton, als blase jemand gegen die Sprechmuschel. Tomas runzelte die Stirn. Dann erkannte er die Bedeutung dieses Geräusches. Es war die Katze, die den Hörer aus der Auflage geworfen hatte und fauchend vor der Muschel saß. Osiris fauchte und miaute dann klagend. Tomas warf den Hörer zurück. Er blieb einige Sekunden vor der Glasscheibe des Fensters stehen und sah hinaus, ohne etwas wahrzunehmen. Was sollte er tun? In seiner Hand lag der Schlüssel des Apartments. Der tote Zigeuner verblutete neben dem Haus . . . Tomas rannnte hinaus in den Flur, riß die Handschuhe aus der Manteltasche und
warf die Tür zu. Er rannte hinaus auf den Balkon des Treppenhauses, öffnete die Tür zur Treppe und rannte acht Treppen hinunter. Dann huschte er, die Handschuhe an den Fingern, wieder zurück in die eisige Luft des Balkons. Drei Blutstropfen waren auf dem Beton zu erkennen, die Spuren von blutenden Händen am Vierkantstahl des Geländers. Tomas öffnete die Tür zum Korridor, drückte rechts den Lichtknopf und sah die Spur, die von der angelehnten Tür der Wohnung bis zu seinen Füßen führte. Blutstropfen, mindestens fünfzig Stück, unregelmäßig wie die Fährte eines sterbenden Tieres. Er rannte auf Zehenspitzen den Korridor entlang, riß die Tür auf, schloß sie und lehnte sich keuchend mit dem Rücken dagegen. Die Tür zum Wohnraum stand offen, und auf dem Teppich waren Blutflecke. Osiris saß im Regal, neben dem Telefon, und leckte die Pfoten ab. »Osiris . . .«, flüsterte Tomas. Halb auf der Couch, halb auf dem Teppich, neben einem blutigen Kissen, lag Nieves. Tomas keuchte auf, ging Schritt für Schritt näher. Es war nicht der Körper, den er kannte, liebte, gestreichelt hatte. Es war ein Etwas, das noch im Tod zu leben schien. Oder lebendig sich verformte. Aus der runzligen Haut der Greisin wurde langsam, in einem Prozeß, der zu beobachten war, der Mädchen57
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körper. Das Haar rollte sich langsam auf, wie eine erwachende Pflanze. Tomas atmete röchelnd, sein Herz hämmerte wie eine Maschine, die Kehle war trocken. Er zwang sich dazu, näherzugehen. Die Katze, er warf einen schnellen Blick hinüber, saß ruhig da, neben dem heruntergeworfenen schwarzen Hörer, und leckte die blutigen Krallen und das blutige Fell sauber. Es schien ihr zu schmecken. »Nieves!« Tomas nahm wie in Trance das Amulett aus der Tasche, machte mit zitternden Fingern einen Knoten in die Goldkette und zog die Kette vorsichtig über den Kopf. Immer mehr Falten verschwanden, es verschwanden auch die Würgemale an der Seite des Halses, die Tomas sehen konnte. Er blieb einige Zeit stehen, starr und unfähig, etwas zu tun, dann entschloß er sich, zu handeln. Er richtete die Lampe auf und bemerkte, daß hier ein wütender Kampf stattgefunden hatte, ein Kampf um Leben und Tod. Er nahm ein feuchtes Handtuch aus der Küche, streute Reinigungsmittel darauf und spähte durch die Spionlinse der Tür. Der Korridor war dunkel. Eine Minute später hatte er, fieberhaft arbeitend, die Blutspuren beseitigt. Als er den Korridor entlangsah, bemerkte er kaum noch die Spuren seiner Tätigkeit. ?8
Zurück in die Wohnung, die Tür zu. Der Lappen verschwand in der Küche, im Spülwasser, das Tomas aufdrehte. Dann legte er den Hörer zurück, nahm die Katze aus dem Fach und blieb stehen. Was war geschehen? Er versuchte zu rekonstruieren. Der Zigeuner hatte es verstanden, sich Eintritt zu verschaffen. Er mußte sich auf die alte Dame gestürzt haben, mit nur dem Ziel, ihr das Familienamulett vom Hals zu reißen. Nieves Dalmar hatte sich gewehrt, weil es um ihr Leben ging. Zuerst hatte der Zigeuner ihr das Amulett abgerissen, dann war Osiris über ihn gekommen. Zu diesem Zeitpunkt mußte Nieves entweder tot gewesen sein oder niedergeschlagen. Dann war der Zigeuner mit der Katze, die ihm das Gesicht und als er sich wehrte auch die Hände zerfleischte, hinaus auf den Korridor gerast, durch die Tür .. . und hinaus auf den Balkon. Entweder hatte er es nicht gemerkt, oder er war am Ende seiner Kräfte oder seines Weges gewesen. Er war über die Brüstung gesprungen. »So war es«, sagte Tomas mit ausgedörrten Lippeni Bis jetzt war sein Verstand beschäftigt gewesen. Jetzt, da dieses Problem gelöst schien, sah er sich wieder mit der Person konfrontiert. Nieves Dalmar. Lebte sie, oder war sie tot? Oder
DIE ROTHAARIGE
war das, was er sah, nicht das Mädchen, nicht die alte Dame? Die plötzliche Erkenntnis dessen, was es - sie - wirklich war, ließ ihn taumeln. Er zwang sich, hinzusehen. Die Verwandlung von einer fünfundsechzigjährigen Frau zu einem Mädchen von fünfundzwanzig bot ein derart faszinierendesund abstoßendes Bild, daß Tomas noch immer nicht begriff. Was konnte er tun? Nichts mehr. Er hatte der . . . der Hexe, ja, das war es, ihr Amulett zurückgegeben, hatte die Spuren beseitigt, hatte das Telefon wieder aufgelegt. Alles, was jetzt geschah, entzog sich seiner Kontrolle. »Das war es, Osiris«, flüsterte er und mußte sich räuspern. »Sag ihr, daß ich hier war.« Er schaltete das Licht aus, legte den Schlüssel auf den Tisch, drehte auch die Beleuchtung im Flur ab und verließ die Wohnung. Vorsichtig und lautlos schloß er die Palisandertür. Langsam ging er hinaus auf den Balkon und kletterte nach oben. Er vermied es, über die Brüstung zu blikken. In seiner Wohnung fiel er in einen Sessel, goß sich ein Glas voll Whisky ein und trank es in drei Zügen aus. Nieves, die Hexe. Schlagartig fielen ihm zahllose Äußerungen ein, bildete sich ein dunkles Netz verwirrender Assoziationen. Tomas war bleich, schwitzte, obwohl
er fror, und die Hände zitterten noch immer. Er zog die nassen Handschuhe aus. Ich blieb bei den Männern bis zu ihrem Tod. Der Schädel, das Zauberbuch, sogar der Hexenmantel in moderner Version. Es war atemberaubend logisch in einer Art Logik der Verrücktheit. Das Amulett, alt wie die Sumerer. Die Verwandlung - Tante Nieves und das Mädchen. Der Rabe, die Katze namens Osiris, die eigentümliche und beziehungsvolle Musik. Der Job und die Reisen: Vertreterin von kosmetischen Produkten. Unter der Wucht des plötzlichen Erkennens schüttelte sich Tomas. Nieves, überraschend und völlig nackt auf seinem Balkon . . . »Es gibt nur eine Frau , . .«, flüsterte er wie im Fieber. Die Alte und das Mädchen waren ein und dieselbe Person. Und . . . dieses unbegreifliche Etwas - war es noch ein Mensch? - lag dort unten und verwandelte sich. Vermutlich in eine junge, begehrenswerte Frau, denn Tomas hatte ihr das Amulett zurückgegeben, die Karneolschildkröte. »Ich war«, hatte sie gesagt, »allen meinen Liebhabern treu bis zum Tod.« Tomas schluckte. Er wartete nun, gelähmt und voller Schrecken. Er glaubte, ein exotisches Gift durch seinen Kreislauf rasen zu fühlen. Worauf wartete er eigentlich? 59
HANS KNEIFEL
»Ja ... worauf warte ich?« fragte er sich. Er wußte es nicht. Aber er begann zu ahnen, daß ihn unsichtbare Ketten an dieses alterlose Zwitterwesen zwischen Greisin und Mädchen fesselten, das dort unten, weit unter ihm, durch Betonschotten und Böden getrennt, eine erstaunliche Wandlung durchlief. Was erwartete ihn? Er wußte es nicht. Es begann ihm zu grauen. Jetzt erfuhr er am eigenen Leib, was er oft beschrieben hatte: Der Klumpen in seinem Magen löste sich auf und überschwemmte seinen Körper mit Übelkeit. Er lief schnell
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ins Bad und übergab sich. Was immer ihn erwartete - es war sinnlos, den Versuch des Entkommens zu wagen. Zum erstenmal in seinem Leben fühlte Tomas Fischer nackte, brutale Furcht. Er lehnte die schweißbedeckte Stirn an die Fensterscheibe und sah die Lichter unter sich wie durch einen Nebel. Die Angst hatte ihn gepackt. Seine Zähne schlugen aufeinander, und er wartete, voll bleichen Entsetzens. Plötzlich würde sie wieder auf dem Balkon stehen, ihm lächelnd entgegengehen und ihre Krallen in seine Schultern schlagen. Sie würde ihm treu bleiben bis zu seinem Tod.
Das Elixier von Jane Rice
' Es nahm alles in Cläre Holloways Kellerbar seinen Lauf. Die Dinge nehmen gern in Cläre Holloways Kellerbar ihren Lauf. Cläre Holloways Kellerbar ist nun mal so. Und Cläre Holloway ist auch so. Sie hat einen untrüglichen Sinn für das Ausgefallene, was zweifellos in gewissem Maße ihren Erfolg als Antiquitätenhändlerin erklärt. Ich meine damit, daß die meisten Antiquitätenhändler sich normal kleiden, benehmen und einen normalen Preisaufschlag für ihre alten Rollenbetten und ihre schundigen grünen Glasflaschen nehmen. Cläre Holloway kleidet sich so, wie >Bolero< klingt, wenn Sie mich verstehen - an der Stelle, wo die Musik raffiniert in ein Tempo überwechselt, bei dem man sich auf die Hinterbeine stellen und jemand seine gesellschaftlichen Bindungen um die Ohren schlagen möchte. Ihr Benehmen hat alle Eigenschaften eines Märzsturmes an einer belebten Kreuzung beim ersten Winterschlußverkaufstag. Dementsprechend ist ihr Preisaufschlag bei alten Rollenbet-
ten und schundigen Glasflaschen mit den Grundstückspreisen während des Florida-Booms vergleichbar. Ihr Keller spiegelt ihre Persönlichkeit bis aufs i-Tüpfchen wider. Er ist einfach das Letzte. Er hat eine Bar an einer und einen Sodawasser-Ausschank an der anderen Seite. Er hat innen eine Grube mit Bratspieß und einen kleinen, gut eingedämmten Bach, an dem nichts fehlt, nicht die Strudel, nicht die bemoosten Steine und auch nicht der Biber - ebenfalls klein und reichlich träge und ungemein scharf auf gefüllte Oliven und - nun, das müßte reichen, um Ihnen das richtige Bild zu geben. Es ist die Art von Gesellschaftszimmer, in dem einfach alles vorkommen kann - und oft genug ist das auch der Fall. Es regt einen an. Mich jedenfalls. Ich kann hingehen, fest entschlossen, mich wohlerzogen und damenhaft zu benehmen, und es endet unweigerlich damit, daß ich ausprobiere, wie viele Tischtennisbälle in meinen Mund passen, oder daß ich gracie Allen imitiere, wie sie Baby 61
JANE RICE
Snooks imitiert, wenn sie Grade Allen imitiert - ist das klar!!? 7 Oder sind Sie ebenso verwirrt wie ich? Cläre führt mich in ihrer Liste einladbarer Leute, nicht meiner Schauspielkunst wegen und auch nicht, weil ich zufällig nebenan, auf der anderen Seite unserer verstädterten, weltmüden Hecke lebe, sondern aus dem einfachen Grund, weil ich letztes Jahr unabsichtlich der Mrs. Diggots-Marksbury die Windpocken andrehte, als sie aus Versehen in meine Wohnung platzte und auf allen vieren nach echten Holzwurmlöchern in meinem gebeizten Fichtenschreibtisch suchte, bevor sie entdeckte, daß der Schreibtisch blitzneu war, frisch vom Fließband - daß sie im falschen Haus war - und daß ich ganz und gar aus rosigen Pusteln bestand. Ich kenne Cläre nicht sehr gut (und vielleicht darf ich an dieser Stelle ein inbrünstiges >Gott sei Dank!< einfügen), und ich könnte ebensogut versuchen, mich mit einem Gewittersturm anzufreunden, doch ich bin von beiden fasziniert. Ich würde um nichts in der Welt eine ihrer Parties versäumen. Sie sind für mich die Angostura-Tropfen in einem Manhattan-Cocktail, und so war mein >Repondez-s'il-vous-plait< ein erfreuliches JA, als die >Ehre meiner Anwesenheit bei ihrem Hallowe'en.Fez erbeten wurde. Ich gab also meine Zusage wie der 62.
berühmte Blitz und beschloß, der Linie des geringsten Widerstandes folgend, als Hexe zu gehen. Eliza, Ebenholzjuwel, das sie ist, stemmte, als sie von dem beabsichtigten Kostüm erfuhr, die Hände in ihre mehr als breiten Hüften und sagte; »Hmmph!« Eliza ist seit vierzehn Jahren bei mir und betrachtet mich mit voreingenommenen Augen. Abwechselnd sind diese Augen streng, mißbilligend oder mahnend, hin und wieder auch nachsichtig, aber immer voreingenommen. Für Eliza ist jede Frau, die mit zweiundvierzig noch keinen Mann erwischt hat - mit Betonung auf dem >erwischtein hoffnungsloser Fall< hängt ganz verloren am Ende, nicht wahr? Jedenfalls sagte Eliza: »Hmmph!« Ich sagte: »Der Wäscheschrank muß neu mit Papier ausgelegt werden, und hast du schon bemerkt, was für einen herrlich braunen Schimmer das Silber bekommt, und als Abendessen
DAS ELIXIER ;
würde ich Apfelpastete vorschlagen.« Zwecklos. »Hmmph«, sagte Eliza. »Eine Hexe.« >Eine Hexe«, wiederholte ich. »Nun hören Sie, Miß Amy -« l »Eliza, ich streite nicht mit dir. Eine | Hexe.« l »Miß Amy, ich lasse nicht -« £ »Eine Hexe, Eliza.« l, »Hmmph. Schön, alles was ich dazu l zu sagen habe -« | »Ist schon zuviel, Eliza.« »— ist folgendes: Wenn Sie schon die Möglichkeit haben, eine -« »Hast du nicht gehört, Eliza? Die Sache steht fest.« ; »— Maske aufzusetzen und tolle KleiI der anzuziehen, sollten Sie doch veri nünftig sein.« ! »Eliza!« Eliza seufzte. »Ja, Ma'am«, sagte sie und machte sich kopfschüttelnd auf den Weg, wobei sie vor sich hinmurmelte: »Keine Vernunft. Überhaupt kei-ne Vernunft.« An der Tür drehte sie sich um. »Ich könnte Sie so toll wie diese Madame Pompidor oder Königin Victrola herrichten.« »Eine Hexe«, sagte ich fest. ' »Ja, Ma'am.« Sie watschelte hinaus und sagte kein Wort mehr, aber sie errang einen moralischen Sieg, indem sie das Schrankpapier zu kurz schnitt, das Silber" in den grünen Filzschächtelchen verstaute und statt Apfelpastete Brotpudding machte.
Doch als Hallowe'en herannahte, war ich eine herrliche Hexe. Ich muß allerdings zugeben, daß ich Elizas Standpunkt einsah, als ich mich im Spiegel betrachtete. Eliza lieh mir ihren Besen und das Röstblech, das noch die größte Ähnlichkeit mit einem Hexenkessel hatte, und sie ließ sich sogar dazu herab, mir auf die Beine zu helfen und mich abzustauben, als ich über den Besen stolperte und die Vordertreppe hinunterfiel. Unten landete ich als ein wirres Häufchen aus schwarzem Umhang, Silberschnallenschuhen und spitzem Hut — der von dem Elastikband meines Doppelkinn-Massage-Geräts festgehalten wurde und mit Aluminiumfolie-Sternen, Monden und kabalistischen Symbolen beklebt war. Sie winkte mir angeekelt zum Abschied nach, als ich um die Grenzhecke herumging, und beschränkte sich auf zwei kurze »ts ts« anstelle des »Hmmph«. Ich bin die ewige Zufrüh-Kommerin. Es ist eine alte Gewohnheit, die sich schon während meiner Entwicklungsjahre abzeichnete, als ich fünf Meilen weit durch den neuenglischen Winter zur Schule gehen mußte. Damals entdeckte ich, daß ich, wenn ich eine halbe Stunde zu früh kam, mein Hinterteil vor dem dicken Ofen auftauen und ungeniert an meiner wollenen Unterwäsche kratzen konnte. So kam ich als erste bei Cläre Hollo65
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way an - nicht um mich zu kratzen oder aufzutauen, sondern - na. Sie werden es bald genug sehen. Ich klingelte, und Parkins ließ mich hinein, und gemeinsam rutschten wir die Treppe in den Keller hinunter. Nicht mit Absicht, wohlgemerkt. Es war wieder der Besen, doch Parkins verriet nicht einmal durch ein Muskelzucken, daß das nicht seine normale Fortbewegungsweise war, wenn er auch »SQUONK!« sagte, als wir unsere Stegreif-Rutschpartie begannen, und »UFF«, als wir unten ankamen. Wonach er aufstand, seine Brille zurechtrückte, seine Manschetten schloß, die Zähne zu einem eisigen Lächeln entblößte und — unter sichtbarer Verdrängung des Impulses, mir das Röstblech um die Ohren zu schlagen - mich allein ließ. Ich bin gern mir selbst überlassen. Wenn ich allein bin, kommen neugierige kleine Teufelchen an die Oberfläche und stochern und schnüffeln und stecken ihre Nasen in die ungewöhnlichsten Dinge. Ganz selten bringen sie mich mal in schwierige Situationen, wie damals im Museum, als sie mich in diese Ritterrüstung steckten und nicht mehr herausholten, oder damals, als sie mich überredeten, beim Wettbewerb der Sportlerschau mitzumachen und - ach, lassen wir das. Es ist eine lange Liste. Auf alle Fälle, als ich, mir allein überlassen, den Kürbis, die Papier64
mascheekatze und den mit Feldfrüchten dekorierten Keller gründlich inspiziert hatte, beschloß ich, die Wartezeit auszunützen, indem ich mir in meinem Röstblech-Kessel einen Hexentrunk braute. Ich mixte uns ein tolles Ding. Einen tüchtigen Spritzer (etwa eine Gallone) Sprudelwasser, einen halben Liter Gin, ein paar Bällchen Schokoladeneis, vier Cherryphosphate; etwas Wermut, eine ordentliche Portion und eine Spur türkischen Honig; einen Schuß Rye und einen Schuß Bourbon, dazu eine Handvoll Puffmais, damit die Sache Substanz bekam. Ich rührte immer wieder mit meinem Besenstiel um und erfand ein paar Worte, die dem Augenblick entsprachen. Etwas wie »Igeisquigel hoppalopp igittsch«, wenn ich mich recht erinnere, und die Teufelchen rutschten näher heran und flüsterten: »Koste es. Los! Koste es.« »Sehe ich 50 blöd aus?« flüsterte ich zynisch zurück. »Ja«, zischten sie. »Koste es. Los!« »Hört zu«, sagte ich, »dieses Elixier ist für Mrs. Diggots-Marksbury, die mit den Holzwurmlöchern. Und jetzt laßt mich zufrieden.« »Angsthase!« »Blödsinn!« »Selber Blödsinn! Zimperliese!« »So ein Quatsch.« »Du traust dich nicht.« »Ach, verschwindet doch!«
DAS tLIXIER
Jnd ob du dich nicht traust!« ^Verschwindet!« »Traust du dich, einen Kupfercent vom Auge eines Toten zu holen?« »Ich werde nicht -« »Aber Amy Parrish! Wir schämen uns. Wir schämen uns richtig. Bei einer Herausforderung flachliegen! Also -« »Ich liege nicht flach. Ich stehe ganz . kerzengerade da.« »Du weißt, was wir meinen.« »Trotzdem, ich werde einfach A nicht -« »Wir schämen uns. Das ist es. Wir sind gedemütigt. Wie sollen wir je wieder die Köpfe oben tragen? Also, Amy Parrish, wir schämen uns zu Tode.« »N-a j-a, wenn ihr es so auslegt . . .« »Jetzt spricht die Vernunft aus dir.« »Nur einen Schluck.« »Braves Mädchen.« »Nur einen ganz kleinen Schluck.« »Zum Teufel, halte endlich den Mund und lasse Taten sprechen!« Ich klaute mir eine Mickymaus-Tasse, stellte s[e aber wieder ab und nahm statt dessen eine Art Becher - angeschlagen, mit einem Sprung, schwarz und zerbrechlich aussehend, aber tres, tres hexenhaft. Ich umkreiste den Topf mit dem Wiesollmansnennen wie ein Jagdhund, der skeptisch ein Stachelschwein umschnüffelt, holte einen Schluck des Trankes heraus und bot ihn dem Biber an.
Der Biber zog sich hastig unters Wasser zurück. Das hätte mich warnen sollen. Aber das war nicht der Fall. Ich roch prüfend an dem Getränk, überlegte noch einmal und schluckte es schließlich, indem ich mir die Nase zuhielt. Was danach geschah, ist ein schreckliches kaleidoskopähnliches Durcheinander. Jeder Nerv meines Körpers zog sich zu einem Doppelknoten zusammen, und mein brennender Magen versuchte durch meine verbrühte Speiseröhre hochzuklettern, aber das ging nicht, weil meine Speiseröhre sich angsterfüllt an meinem Rückgrat festhielt, das wie ein Hundeschweif wedelte. Schwach erinnere ich mich, daß ich den Becher fallenließ, um mir an die Kehle zu fassen, und daß ich dabei gegen den Kessel stieß, dessen Inhalt sich überall verteilte. Ich nahm den Besen auf, in der Absicht, damit in meinem Nahrungszufuhrkanai zu stochern und die Verstopfung zu lösen, und dann hüllte mich Dunkelheit ein. Es war eine turbulente, wirbelnde Dunkelheit, durchbrochen von grellen kleinen Lichtpunkten, die sich auflösten und wieder zusammenflossen und bei dem Lärm, der durch die Schwärze auf mich eindrang, in alle Richtungen stoben. Im Vergleich dazu war eine Kesselfabrik wie ein im Dämmerlicht gesungenes Wiegenlied. Explosion krachte auf Explosion, 6?
JANE RICE
während donnernde Sturzwellen reinen, unverfälschten Lärms über mich hinwegschäumten, vermischt mit gellenden, dämonischen Schreien, deren Echo sich endlos fortpflanzte - betäubende Wellen, die sich auf einem höllischen Teich direkten, ungedämpften Schalls ausbreiteten. Jemand, den ich nicht sehen konnte, begann ein Feuerwerk abzubrennen, während sein ebenfalls unsichtbarer Bruder meinen Schädel im Rhythmus zu einem Sperrfeuer aus Kanonen, Artillerie, Gewehren, Leuchtspurgeschossen und ein psar strategisch plazierten Mill-Bomben gegen die Wand der Dunkelheit schlug. Sie haben sicher gehört, daß Caruso ein Glas anzuschlagen pflegte, den Ton auffing und ihn so lange in das arme Ding hineinsang, bis es in Scherben zersprang. Dieses Glas war ich. Als der verrückte Lärm sich ausbreitete und wuchs, hatte ich das Gefühl, daß ich heftig in alle Richtungen auseinanderfliegen würde. Er wuchs und wuchs und wuchs zu einem unglaublichen Umfang und einer unglaublichen Verstärkung, und eben, als ich den kritischen Punkt erreichte, hörte er auf. Mit einemmal. Und danach fiel ich. Wie die Feder, die in jedem Sprichwort vorkommt, fiel ich durch Riesengewölbe schwarzen Raumes, und während ich mich zu erinnern versuchte, ob Fallschirmspringer mit den Armen oder mit 66
den Beinen ruderten, um aus dem Trudeln herauszukommen, landete ich. Bums. Es war kein schlimmer Aufprall, verglichen mit der Geschwindigkeit, in der ich gefallen war. Im Gegenteil, es war einer der angenehmsten Aufpralle, mit denen ich je aufgeprallt war, und ich bin im Laufe meines Lebens schon des öfteren aufgeprallt. Ich öffnete die Augen und sah in einen sternenerfüllten Himmel. Ich streckte die Hände aus und tastete um mich und hätte vor Freude weinen mögen, als meine Finger auf Gras und Zweige und guten, festen Boden trafen. Es störte mich nicht und machte mich nicht im geringsten stutzig, daß ich in freier Landschaft auf dem Rücken lag, obwohl ich eigentlich in Cläre Holloways Kellerbar hätte sein müssen. Ich dachte nicht einmal daran. Ich schloß nur wieder die Augen und konzentrierte mich darauf, Elizas Brotpudding schön zusammenzuhalten. Schließlich setzte ich mich auf und sah verschwommenen Blickes um mich. Ich schien mich am oberen Ende eines Hügels zu befinden, und unter mir war eine Stadt, die sich offensichtlich zur Nachtruhe begeben hatte. Von der Größe und dem Mangel an Neonröhren schloß ich, daß es nicht gerade eine Großstadt war und daß sie ein schönes Stück von meinem gewöhnlichen Standort entfernt sein mußte.
DAS ELIXIER
Ich wunderte mich, ein wenig seekrank und mit einem Schluckauf, wie ich hierhergeraten sein konnte. War ich kreischend aus Cläres Kellerbar bis hierher gerannt - oder hatte Parkins meine zeitweilige Unpäßlichkeit ausgenützt, um mich und meinen ärgerniserregenden Besen aus dem Wege zu schaffen, ohne es den anderen gegenüber zu erwähnen? Litt ich an Gedächtnisschwund? War ich tot? WAR ICH TOT! Meine Lethargie verschwand überaus plötzlich! Ich sprang hoch und puffte auf mich ein wie ein Gorillamännchen während der Paarungszeit. Ich fühlte mich in Ordnung. Ein wenig wackelig, aber aus einem Stück. Aber würde sich ein Geist nicht auch ganz in Ordnung fühlen? Schluck. Das Bruchstück eines Kindergartenverses fiel mir ein.
Heim ging das Weiblein im Dunkel allein. Hoch sprang das Hündchen und bellt' ihr hinterdrein. Es bellt' ihr hinterdrein, und sie begann zu schrein: Ich bin es nicht, ach, laß mich bitte
sein! Ach, du liebe Güte! Aber es war gar nicht so unvernünftig. Wenn ich ich war, mußte ich nur in diese Stadt hinuntergehen und ein Telefon ausfindig machen. Wenn wenn ich nicht ich war Aber ich weigerte mich, diesen Ge-
dankengang weiterzuverfolgen, und begann resolut den Hang hinunterzusteuern, stolperte über meinen Besenstiel und vollführte das, was man in der Fliegersprache eine Bruchlandung nennt. Danach war ich sehr erleichtert. Gewiß würde kein Gespenst flach auf seiner/ihrer Schnauze landen. Außer - außer es hatte noch keine Übung. Bah! Aber es war ein reichlich blutleeres Bah, das kann ich versichern. Ich packte mir eilig den Besenstiel, rappelte mich hoch, bis ich wieder auf meinem Fahrgestell stand, und erreichte das Ende des Hügels in Nullkomma nichts. Fast. Ich lehnte mich gegen ein Schild und pustete und schnaufte, bis mir die Idee kam, das Schild anzusehen. Auf dem Schild stand SALEM. Ich schloß die Augen, zählte bis zehn und öffnete sie wieder. Auf dem Schild stand immer noch SALEM. Aber ganz offensichtlich konnte es nicht Salem sein. Salem befindet sich in Massachusetts. Ich grinste wissend vor mich hin und mutmaßte, daß es zur Verwirrung der Autofahrer von einem jener kleinen zahnlückigen Jungen aufgestellt worden war, die an Hallowe'en überall aus dem Boden zu schießen schienen. Wenn ich geahnt hätte, was mich erwartete, hätte ich aus mir hinaus gegrinst und wäre den Hügel wieder nach oben gerannt.
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So aber ging ich lässig in das Dörfchen und die Hauptstraße entlang, wobei ich den Besen über der Schulter trug. Ich hatte schon schönere Ortschaften gesehen. Über allem lag ein Hauch von Alter, der auf düstere, unerbittliche Art bezauberte. Die Häuser waren steif und ordentlich und sonst nkhts, und die Läden sahen altmodisch und mufflig aus, und alles war fest verrammelt. Ich konnte nichts finden, was auch nur entfernte Ähnlicheit mit einem Drugstore hatte, und allmählich fühlte ich mich etwas unbehaglich. Es war so still, und ich sah keine Lichter, und die Stadt war >tot< - wie eine Geisterstadt - oder zumindest hatte sie einen Starrkrampf erlitten, von dem sie sich noch nicht erholt hatte. Als ich dann tatsächlich die Stimmen hörte, spitzte ich die Ohren wie ein Jagdhund und rannte dann glücklich in ihre Richtung. Tatsächlich drang ein Spalt Licht aus einer Tür, und ein knarrendes Schild darüber verriet mir, daß sich hier die Taverne zum Blauen Eber befand. Genau das Richtige, dachte ich. Ein Telefon und vielleicht ein paaT Spielautomaten, um sich die Zeit zu vertreiben, bis ein Taxi kam und mich heimholte. Außer natürlich, ich war nicht ich oder ich lag in Wirklichkeit vergiftet auf dem Boden von Cläre Holloways Kellerbar, während 68
meine Überreste umherschweiften . . . Ach, Unsinn. Ich drückte die Klinke hinunter, schob die Tür auf und trat ins Innere. Ich sah lange Tische und Bänke, eine Holzbalkendecke und ein Regal mit Krügen, für die Cläre ihre Großmutter verkauft hätte, dazu einen riesigen Kamin. Und es roch herrlich nach Bier, Rauch und Holz. Ich setzte mein Missionslächeln auf und ging auf eine Gruppe von Männern zu, die offensichtlich auf dem Weg zu einem Maskenball hier haltgemacht hatten oder zumindest der gleichen Loge angehörten. Sie trugen alle merkwürdige Kleider, die mehr oder weniger gleich aussahen, und hatten Perücken auf. »Könnten Sie mir bitte sagen, wo hier das Telefon ist?« fragte ich strahlend. Wenn ich gefragt hätte: »Könnten Sie mir sagen, wie ich hier zur nächsten Nudistenkolonie komme?« hätte die Wirkung nicht verblüffender sein können. Sie hörten schnurstracks zu reden auf, ihre Münder standen offen, und sie glotzten mich an. Ein Mann mit seidenem Wams schien seinen Adamsapfel verschlucken zu wollen. »Das Telefon«, sagte ich. »T-e-l-ef-o-n. Ich möchte, ein Taxi anrufen.« Der Mann, der seinen Adamsapfel zu verschlucken versuchte, stand auf,
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deutete auf mich und wollte etwas |, sagen, aber er schaffte es nicht. So schnappte er nur nach' mir. Da ich dachte, das sei vielleicht das Erkennungszeichen seiner Loge, schnappte ich ebenfalls nach ihm und steckte als Dreingabe meine Daumen in die Ohren, um mit den restlichen Fingern Winke-winke zu machen. Als nächstes hörte ich ein Stampfen wie bei einer Rinderherde, die in Panik ausgebrochen ist, und ich war allein mit den Krügen und Tischen und den schweren Eichenbalken, von denen durch die Erschütterung Staub auf mich herabrieselte. Es geschah so schnell, daß ich - Nun, waren Sie schon mal mit jemand in einer Drehtür, der es eilig hatte? Man wird sozusagen ins Freie gespuckt. Ich jedenfalls landete rittlings auf einer umgekippten Bank, den Umhang über dem Kopf und eine Hand in einem Bierkrug vergraben. Draußen konnte ich Stimmen hören, und ihr Geschrei hatte fast etwas von einer Hundemeute an sich. Während ich über die Launenhaftigkeit der Menschheit nachdachte, befreite ich mich aus den Falten des Umhangs und machte mich daran, den Krug von meiner Hand zu lösen. Der Satz »Ich hoffe, alle Ihre Kinder werden einmal Akrobaten« ist mir immer als besonders grausamer Fluch vorgekommen - nach kurzer Zeit kam ich zu der Erkenntnis, daß es einen
weit grausameren Satz gab: »Ich hoffe, alle Ihre Kinder tauchen später einmal ihre Hände in einen Bierkrug.« Ich stemmte, ich zerrte, ich ruckte. Ich versuchte es langsam und vorsichtig. Ich rüttelte mit Gewalt. Ich versuchte ihn zu drehen. Volle fünf Minuten schwitzte und schuftete ich, während ich den Schmelz meiner hinteren Backenzähne zermalmte. Ich hob die Stimme zu meinem Schöpfer, nicht im flehenden Gebet, wie ich zu meiner Schande gestehen muß, sondern in einem wutentbrannten Ultimatum. Schließlich klemmte ich das Ding zwischen die Beine, ruckte mit Macht daran, und meine malzumspülte Hand kam mit einem lauten »Plop« frei wie ein Champagnerkorken, begleitet von guten zehn Unzen schäumenden Bieres. Genau in diesem Moment flog die Tür auf, und meine Freunde, die Perücken, standen mit einem Bataillon Stadtleuten vor mir. Mir ist jetzt klar, daß ich wie ein weiblicher Boris Karloff mit Tollwut ausgesehen haben mußte, aber damals wußte ich nur, daß ich müde, wütend und schaumtropfend war, daß an einem Knöchel ein großes Stück Haut fehlte und daß ich heim wollte. Ich krümmte die Finger, um das Blut wieder zum Zirkulieren zu bringen, und die Menge verschwand vom Eingang. Es war eine bunte Narrenge69
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Seilschaft, die sich hauptsächlich mit Nachtmützen und Harzfackeln verkleidet hatte, und sie konnten mir gestohlen bleiben. Mein Sinn für Karneval war längst dahin. Ich stand auf, immer noch mit gekrümmten Fingern, und fragte: »Hören Sie, wo ist denn hier ein Telefon?« Zumindest begann ich, das zu fragen. Ich kam bis zu »Hören Sie bitte, o bitte< sagen. Das ist dämlich. Wer sind Sie? Was machen Sie hier? Was mache ich hier? Wer ist für diese Sache verantwortlich? Wie heißt diese gräßliche Stadt? Wer waren all die Leute? Haben sie den Verstand verloren? Los, reden Sie! Oder haben Sie keine Zunge?« Die blauen Augen wurden, soweit das ging, noch größer und blauer. »Ich - ich .. .« Sie begann zu weinen. Große runde Kullertränen. Sie sah hübsch dabei aus. Ein todsicherer Test für weibliche Schönheit. Ich kramte in meiner Tasche herum und holte ein Taschentuch hervor. »Hier«, sagte ich. »Putzen Sie sich die Nase.« Wenn ich ihr eine schwarze Spinne angeboten hätte, so wäre ihr Entsetzen kaum größer gewesen. Sie zog sich gerade so weit in die Ecke zurück, daß sie nicht durch die Mauer ging. »Hören Sie«, sagte ich, »was ist denn mit Ihnen los? Und was ist mit den anderen los? Was zum - Ach, ,
lassen wir das. Was ist mit Ihnen los?« »Bitte, verhext mich nicht!« »Sie verhexen?« »Ja. Bitte. 0 bitte, ver- . . .« »Wollen Sie endlich mit dem >bitte, o bitte< aufhören? Es ist Wahnsinn. Was soll der Quatsch mit dem Verhexen?« »Es würde nichts nützen«, sagte das Mädchen händeringend. »Wirklich nicht. Man wird uns ohnehin hängen. Es wäre Verschwendung. Verhext mich nicht!« »Weshalb, du grüne Neune, soll ausgerechnet ich Sie verhexen?« fragte ich erschöpft. »Ihr seid eine Hexe.« »Ich bin eine was?« »Eine Hexe. Und Hexen können -« »Uns HÄNGEN!« unterbrach ich schrill, als ich die ganze Bedeutung ihrer Worte verstand. »WOFÜR denn?« »Weil wir Hexen sind.« »Einen Moment mal«, sagte ich. »Das verstehe ich nicht. Fangen wir noch einmal von vorne an. Wer sind Sie? Wie heißen Sie?« »Prudence Symonds.« »Freut mich. Sie kennenzulernen. Ich bin Amy Parrish - hoffe ich. Ist das hier ein Gefängnis?« »Ja.« »Also gut. Und weshalb hat man Sie nun hier eingesperrt?« »Sie behaupten, daß ich Martha Talcott die Blattern angehext habe.« ?i
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In diesem Moment schwamm ich aus meinem Nebel. Die Art, wie sie Blattern sagte, wo jeder andere Pocken gesagt hätte, gab meinem Hirn einen sanften Schubs, und es lief wieder auf einem halben Zylinder. »S.e meinen Pocken?« »Ja - Blattern.« »Na ja, das war unvorsichtig von Ihnen. Aber weshalb war diese komische Martha nicht geimpft? Man sollte lieber die Leute vom Gesundheitsamt ins Gefängnis stecken und nicht Sie.« Prudence Symonds sah mich an, als spräche ich einen Dialekt, den nur Mooskäfer und die Bewohner von Oz verstanden. Sie zupfte an einer Rockfalte und schien zu zittern. »Wollten Sie zu einem Kostümfest?« fragte ich und deutete auf ihr Kleid. »Kostüm? Aber das sind meine normalen Kleider!« Normale Kleider. Blattern. Die ko-
mischen, engen Häuser. Die muffigen Läden. Die Perücken. Keine Telefone. Keine Elektrizität. Das Schild - SALEM. Der Hexentrank, den ich gemixt hatte. Hexen, aufhängen, Hexen! Ich war wie eine Hexe gekleidet. Konnte es sein, daß -? Absurd. Unmöglich. Phantastisch. »Prudence«, sagte ich, und meine Stimme klang, als hätte ich sie durch ein Seihtuch gequetscht. »Wie heißt diese Stadt?« »Salem.« 72
»Salem was?« »Nun, Salem in Massachusetts.« Ich feuchtete die trockenen Lippen mit einer ebenso trockenen Zunge an. »Ist das ... ist das ... welches Jahr haben wir?« Ein paar verwirrte Falten zeigten sich auf Prudence Symonds' Stirn. »Ihr meint - das Datum?« »Ja.« »SJSchzehnzweiundneunzig.« »Was sagten Sie?« » Sechzehnzweiundneunzig.« »Das hatte ich auch verstanden«, stammelte ich dümmlich. Und ganz unerwartet wurden meine Knie wabbelig, und ich setzte mich abrupt, wobei ich sogar das Stöhnen vergaß. Der Hut kippte mir in den Schoß, und ich saß einfach da und betrachtete die Galaxis aus silbernen Sternen, Monden und Symbolen, die ihn zierten. »Gütiger Himmel«, sagte ich. »Du großer Tag eines großen Morgens. Heiliger jubelnder Jehoshaphat!« »Bitte, o bitte«, sagte Prudence Symonds, die sich in ihre Ecke drückte und versuchte, sie um sich zu ziehen. Schön, so war das also. Bis dahin oder besser bis dorthin - hatte ich immer geglaubt, daß ich einer jener tüchtigen Menschen war, die >mit einer Krise wachsem. Ich hatte mir ein Bild zurechtgelegt, wie außerordentlich sicher ich mich in Notfäl-
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verhalten konnte. In diesem Bild gab ich gewöhnlich die Befehle, umging kühn die Bürokratie und arbei|tete in allen Richtungen gleichzeitig, »während jene mit geringeren Befähil'Kungen mein Handeln mit Ohs und |^.hs bewunderten und hin und wie|der in Beifallsstürme und Bravorufe l'ausbrachen. Hah! Und pfui! | Als jemand, der mit der Krise wuchs, l war ich eine einmalige Niete, obwohl | ich tatsächlich in allen Richtungen | zugleich arbeitete. Ich warf mich mit der Selbstaufgabe einer Salome gegen l.das Gitterwerk und die Wände und | schaffte es sogar, mit dem Kinn bis * ans Fenstergitter zu kommen. Ich gab auch einige Befehle, als der Gefängniswärter herbeilief, um den Tumult zu begutachten. Sie waren jedoch ein Mischmasch aus abgerissenen Sätzen, beginnend mit einem Zitat aus den Menschenrechten und endend mit der Forderung, daß man mich sofort freilassen müsse, da ich erst in zweihundert Jahren auf die Welt käme. Der Wärter übergoß mich mit Wasser. Jene mit geringerer Befähigung waren Prudence Symonds und eine unterernährte, schnurrbärtige Maus, deshalb blieben die Ohs und Ahs aus. Die Maus zog sich hastig in ihr Loch zurück, und Prudence saß einfach da und sah mich zitternd an. Und nach einer Weile saß auch ich da und sah mich zitternd an. Ich überlegte und überlegte und
überlegte - vom ersten Schluck des Elixiers, wenn man es so nennen kann, in Cläre Holloways Kellerbar bis zur Episode mit den Perücken und meiner folgenden Einkerkerung. Ich sagte: »Das kann nicht wahr sein.« Ich sagte: »Solche Dinge gibt es nicht.« Ich sagte: »Amy Parrish, du muß weg von hier!« Ich sagte: »!!!++? ± ± !!!+ + « Während ich das » ! ! ! + - ^ ? + + !!!++« sagte, wurde der einsame Sonnenstrahl verdunkelt, und als ich meinen Hals nach oben drehte, entdeckte ich, daß ein kleines Ding mit Häubchen, Schürze, Kragen, gestärktem Unterrock, Knöpfen, Schnallen, Biesen, Zwickeln und Falten zu uns hereinstarrte. Aus der Art der Gewänder, die es trug, schloß ich auf ein Mädchen. Es hatte sich die Backen mit Äpfeln vollgestopft und polierte einen neuen auf dem Ärmel, um ihn sofort hinterherzuschieben, sobald sich wieder Platz bot. Es kauerte da und schnitt Grimassen zu uns herein und aß seinen Apfel - wobei es die Kerne gekonnt durch die Gitterstäbe spuckte -, und als es fertig war, warf es uns das Kerngehäuse nach und kicherte. »Geh weg«, sagte ich. »Du bist ein ungezogenes Mädchen.« »Und ihr seid Hexen«, sagte sie. »Beide. Nyaaah!« »Man sollte dich versohlen, mein Fräulein.« 75
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»Man sollte euch hängen,« Sie deutete mit dem Zeigefinger auf uns und streckte die Zunge heraus. »Und man wird es auch tun«, fuhr sie fort. »Hört ihr? Hängen, hängen, hängen!« »Geh weg!« »Ich mag nicht, und ihr könnt mich nicht vertreiben. Hängen, hängen. Ihr werdet hängen, hängen, hängen, hängen. Hexen, Hexen, häßliche alte Hexen, Hexen, Hexen, Hexen.« »Ich verhexe dich«, sagte ich grimmig und krümmte die Finger wie »Oonga, das hypnotische AugeYipee!< Ausdruck verlieh. Im Gegenteil. Sie kniete nieder und betete zum Herrn, daß er >die sündige Befriedigung aus ihrem Herzen reißen und ihre Seele von den Flekken unheiliger Freude reinigen solle< und daß er >ihre frevelhafte Dankbarkeit auslöschen solleBlatternBlatternÄpfel< in mein traumvernebeltes Gehirn eindrang. Ich kam mit einem schweren Sturz zur Erde und hörte mir den Rest von Mrs. >BlatternBlatternHängegebüschGebüsch< verdeckt, nach der anderen blickte es auf unfreundliche, vermoorte Bergkuppen, die in den Himmel ragten. Schon bald nach Herrn Soulis' Amtsantritt wurde es von allen, die sich etwas auf ihre Umsicht einbildeten, in der Dämmerung gemieden; und die ehrsamen Hausväter schüttelten, wenn sie in der Dorfschenke zusammensaßen, die Köpfe bei dem Gedanken, spät abends an dieser nicht geheuren Gegend vorbeizumüssen. Ein Ort vor allem war es, um es genauer zu sagen, der ihnen besonderes Grauen einflößte. Das Pfarrhaus stand zwischen der Landstraße und
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der Dule, mit je einem Giebel nach den beiden Seiten; die Rückfront ging nach dem Kirchspiel Balweary hinaus, das fast eine halbe Meile entfernt lag, und vorne nahm ein öder, von einer Dornenhecke umgebener Garten den Raum zwischen Fluß und Straße ein. Das Haus hatte zwei Stockwerke mit je zwei großen Räumen. Es stand nicht unmittelbar am Garten, sondern an einem Gäßchen oder Durchgang, der einerseits in die Straße mündete und andererseits durch die hohen Weiden und Holunderstauden begrenzt wurde, welche den Fluß säumten. Und dieser Wegstreifen war es, der bei den Pfarrkindern von Balweary einen so schlechten Ruf genoß. Der Pastor ging ihn oft in der Dunkelheit, manchmal laut stöhnend, so inbrünstig waren seine stummen Gebete. Nur wenn er nicht daheim und die Pfarrhaustür verschlossen war, dann wagten es die mutigeren unter den Schulbuben, ihre Anschleichspiele an diesen berüchtigten Ort zu verlegen. Daß ein rechtgläubiger Mann Gottes mit tadelfreiem Charakter von einer solchen Atmosphäre des Grauens umgeben war, setzte die wenigen Fremden, welche der Zufall oder eine geschäftliche Angelegenheit in jenes unbekannte, abseits gelegene Gebiet führte, stets in Erstaunen und veranlaßte sie zu neugierigen Fragen. Aber selbst unter den Leuten der 92
Gemeinde ahnten viele nichts von den merkwüdigen Begebenheiten, die sich in Herrn Soulis' erstem Amtsjahr zugetragen hatten. Und von jenen, die genauer Bescheid wußten, waren einige von Natur aus zurückhaltend und andere scheu, wenn es um diesen besonderen Vorfall ging. Nur ab und zu erwärmte sich einer der älteren Leute über seinem dritten Becher und erzählt" mutig, warum der Pastor so sonderbar aussah und so einsam lebte. Vor fünfzig Jahren, als Herr Soulis nach Balweary kam, war er noch ein junger Mann - ein energischer Bursche, wie die Leute sagten - voller Buchwissen und ganz groß in der Auslegung der Heiligen Schrift, aber, wie das be; einem so jungen Mann nur natürlich war, ohne praktische Erfahrung in der Religion. Die jüngeren Leute waren sehr angetan von seinem klugen Mundwerk. Aber die älteren, besonnenen, ernsten Männer und Frauen fühlten sich gar zum Gebet veranlaßt; für den jungen Mann, von dem sie glaubten, er schwätze sich selbst etwas vor, und für die Gemeinde, die wahrscheinlich noch übel mit ihm fahren würde. Es war noch vor den Tagen der Gemäßigten - die Pest komme über sie; aber mit den bösen Dingen geht es wie mit den guten - beide kommen schön langsam, Schritt für Schritt. Und es gab sogar damals
DIE KRUMME JANET
schon Leute, die sagten, die Universitätsprofessoren wären ganz von Gott verlassen, und die jungen Burschen, die bei ihnen studierten, täten besser daran, sich wie ihre Vorfahren zur Zeit der Verfolgung ins Torfmoor zu setzen, die Bibel unter den Arm geklemmt und den Geist des Gebets im Herzen. Darüber jedenfalls, daß Herr Soulis zu lange auf der Universität gewesen war, bestand kein Zweifel. Er plackte und mühte sich um viele Dinge, nur nicht um das, was nottat. Einen Haufen Bücher brachte er mit - mehr als je zuvor in der ganzen Umgebung gesehen worden waren; und der Fuhrmann hatte seine liebe Not mit ihnen, denn um ein Haar wären sie alle miteinander im Teufelsmoor zwischen hier und Kilmackerlie ersoffen. Gewiß, es waren Bücher Gottes, zumindest nannte man sie so. Aber die ernsthaften Leute wollten nicht einsellen, daß man so viele brauchte, 'wenn doch die ganze Bibel in der Falte eines Plaids Platz hatte. Dann saß er auch noch den halben Tag und die halbe Nacht darüber - was doch kaum schicklich war - und schrieb einfach; und zuerst fürchteten sie, er würde seine Predigten ablesen, doch dann stellte sich heraus, daß er selbst ein Buch schrieb, und das gehörte sich nun ganz gewiß nicht für einen seines Alters und seiner geringen Erfahrung.
Nun, jedenfalls mußte man ihm ein altes, ehrbares Frauenzimmer suchen, das ihm die Pfarre in Ordnung hielt und das Essen kochte; und da empfahl man ihm eine alte Vettel - Janet M'Clour hieß sie - und unternahm tatsächlich nichts dagegen, als er sie anstellte. Zwar rieten ihm viele ab, denn für die anständigen Leute von Balweary war Janet mehr als verdächtig. Vor langer Zeit hatte ein Dragoner sie mit einem Bankert sitzenlassen. Sie war seit vielleicht dreißig Jahren nicht mehr bei der Beichte gewesen; und Kinder hatten gesehen, wie sie im Dunkel auf Key Loans vor sich hinmurmelte, und das war eine merkwürdige Zeit und ein merkwürdiger Ort für eine gottesfürchtige Frau. Immerhin hatte der Gutsherr persönlich Janet dem Pastor vorgeschlagen, und damals wäre auch einem Pastor kein Weg zu weit gewesen, um der Herrschaft zu schmeicheln. Sagten ihm die Leute, daß Janet mit dem Teufel im Bunde stünde, dann war das seiner Meinung nach nichts als Aberglaube, und hielt man ihm die Bibel vor und die Hexe von Endor, so hämmerte er ihnen ein, daß diese Tage vorbei wären und der Teufel durch Gottes Barmherzigkeit in Ketten läge. Nun, all, es sich in der Gemeinde herumsprach, daß Janet M'Clour als Dienstmagd ins Pfarrhaus kommen sollte, da waren die Leute über 95
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sie und ihn ziemlich wütend; und einige Weiber hatten nichts Besseres zu tun, als zu ihr hinzurennen und ihr alles vorzuhalten, was man von ihr wußte, von dem Soldatenbankert bis zu den beiden Kühen von John Tamson. Janet sprach für gewöhnlich nicht viel, und die Leute ließen sie ihre eigenen Wege gehen, ohne sie zu grüßen. Aber wenn sie einmal loslegte, dann konnte sie mit ihrem Mundwerk den Müller taub machen. Nun, diesmal ging sie hoch, und es gab keinen Klatsch in Balweary, den sie nicht aufwärmte und jedem unter die Nase rieb. Sagte jemand ein Wort, wußte sie gleich zwei darauf; bis zu guter Letzt die Weiber auf sie losgingen und ihr die Kleider vom Leibe rissen und sie durch das Dorf zur Dule schleppten, um zu sehen, ob sie eine Hexe wäre oder nicht, ob sie schwimmen konnte oder ertrinken würde. Das Weibsstück kreischte so laut, daß man sie bis ans >Hängegebüsch< hören konnte, und sie kämpfte für zehn. Mehr als eines der Weiber trug die Spuren ihrer Krallen noch Tage danach. Und gerade, als es am wildesten herging, wer mußte doch (um seiner Sünden willen) vorbeikommen, wenn nicht der neue Pastor! »Weiber«, sagte er (und er hatte eine laute Stimme), »ich befehle euch im Namen des Herrn, sie loszulassen.« 94
Janet rannte zu ihm hin - sie war halb verrückt vor Angst -, klammerte sich an ihn und bat ihn um Christi willen, sie vor den Klatschweibern zu schützen, und die wiederum erzählten ihm alles, was man von ihr wußte, und vielleicht noch etwas mehr. »Weib«, sagte er zu Janet, »ist das wahr?« »Kein Wort davon stimmt«, erwiderte sie, »so wahr ich vor Gott stehe und so wahr mich Gott erschaffen hat. Bis auf das Kind«, sagte sie, »war ich meiner Lebtag ein ehrsames Weib.« »Willst du«, sagte Herr Soulis, »im Namen Gottes hier vor mir. Seinem unwürdigen Diener, dem Teufel und seinen Werken abschwören?« Nun, es schien, als er das verlangte, grinste sie so, daß alle, die es sahen, erschraken, und man konnte hören, daß ihr die Zähne im Munde klapperten; aber es gab nur den einen oder den anderen Weg, und so hob Janet die Hand und schwor vor allen dem Teufel ab. »Und jetzt«, sagte Herr Soulis zu den Weibern, »macht, daß ihr heimkommt, alle miteinander, und bittet Gott um Verzeihung.« Und er reichte Janet den Arm, obschon sie wenig mehr als ein Hemd anhatte, und führte sie durch das Dorf bis zu ihrer Haustür wie eine richtige Dame, und dabei kreischte
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und lachte sie, daß es ein Skandal war. In dieser Nacht versanken viele nachdenkliche Leute lange im Gebet, doch als der Morgen kam, war ganz Balweary von einer solchen Furcht befallen, daß sich die Kinder versteckten und sogar die Mannsleute nur verstohlen hinter den Türen hervorsahen. Denn Janet kam durch das Dorf - sie oder nur ihr Abbild, das konnte keiner sagen -, und ihr Hals war verrenkt, so daß ihr Kopf nach einer Seite hing wie bei einem Gehenkten, und ein Grinsen stand auf ihrem Gesicht wie bei einer Leiche, die noch nicht fürs Grab zurechtgemacht worden war. Nach und nach gewöhnten sie sich daran und starrten sie sogar an, um zu sehen, was eigentlich mit ihr los war. Aber von dem Tag an konnte sie nicht mehr wie ein Christenmensch sprechen, sondern sabberte und klickte mit den Zähnen, als wären sie eine Schere; und von jenem Tag an kam der Name Gottes nie wieder über ihre Lippen. Hin und wieder versuchte sie es, aber es wollte nicht gelingen. Diejenigen, die am meisten wußten, sagten am wenigsten. Aber sie nannten das Ding nie Janet M'Clour, denn ihrer Meinung nach war die alte Janet inzwischen in der tiefsten Hölle. Dem Pastor jedoch war nicht zu raten, noch zu helfen. Er predigte über nichts anderes als die Grausamkeit
der Leute, die daran schuld wäre, daß Janet einen Schlag abbekommen hätte. Er schalt die Kinder, die sie ärgerten, und noch am selben Abend holte er Janet ins Pfarrhaus und lebte dort ganz allein mit ihr unter dem >HängegebüschHängegebüsch< im Schütze des Schwarzen Berges befindet sich ein Stück eingefriedetes Land mit einem Eisentor, und es scheint, daß dort in den alten Tagen der Friedhof von Balweary lag, den die Papisten geweiht hatten, ehe das Licht der Gnade über unserem Königreiche schien. Das hier war nun der Lieblingsort von Herrn Soulis, und er saß oft dort und überdachte seine Predigten, und es war in der Tat ein friedliches Plätzchen. Nun, als er eines Tages über die öde Kuppe des Schwarzen Berges kam, sah er erst zwei, dann vier, dann sieben Raben immer rund um den Friedhof fliegen. Sie flogen tief und schwerfallig und krächzten einander im Fluge zu, und es war Herrn Soulis 96
klar, daß etwas Ungewöhnliches sie aufgescheucht hatte. Angst bekam er nicht so leicht, und so ging er direkt auf die Mauer zu. Und was fand er dort? Einen Menschen oder zumindest das Abbild eines Menschen, der da drinnen auf einem Grab hockte. Er war groß und schwarz wie die Hölle, und seine Augen waren sonderbar anzusehen. Herr Soulis hatte schon oft genug von schwarzen Männern erzählen gehört, aber der hier hatte etwas so Furchtbares an sich, daß ihn das Grauen packte. So heiß ihm war, jetzt fuhr ihm ein kaltes Schaudern bis ins Mark; aber dennoch sprach er den Schwarzen an und sagte: »Mein Freund, bist du hier fremd?« Der schwarze Mann erwiderte kein Wort. Er stand auf und schlurfte hastig auf die andere Mauer zu. Doch dabei sah er sich in einem fort nach dem Pastor um, und der Pastor starrte ihm nach, bis der schwarze Mann einen Augenblick später über die Mauer wegsprang und in den Schutz der Bäume lief. Herr Soulis rannte hinter ihm her, weshalb, das wußte er kaum. Doch er war schon ganz erschöpft von dem Spaziergang und dem heißen, ungesunden Wetter; und so schnell er auch rennen mochte, er konnte den schwarzen Mann nur einen Moment lang zwischen den Birken sehen, bis er am Fuß des Berges angelangt war, und da erblickte er ihn noch einmal,
DIE KRUMME JANET
wie er hüpfend und springend über '. die Dule zum Pfarrhaus hinüberl'giHg|Herrn Soulis gefiel es ganz und gar ^'.nicht, daß dieser furchterregende Kerl so tat, als fühlte er sich im Pfarrhaus von Balweary zu Hause. Und er rannte noch schneller und mit nassen Schuhen durch den Bach und den Weg hinauf, aber, Deibel, da war kein schwarzer Mann zu sehen. Er trat auf die Straße hinaus, aber da war keiner. Er sah sich im ganzen Garten um, aber nein, nirgends ein schwarzer Mann. Schließlich drückte er die Klinke herunter, lein wenig ängstlich, was nur natürlich war, und ging ins Pfarrhaus. Und da stand Janet M'Clour mit ihrem schiefen Hals vor ihm und war nicht gerade erfreut, ihn zu sehen. Und ihm fiel später immer ein, daß er, als er sie jetzt ansah, das gleiche kalte, tödliche Grauen spürte. »Janet«, sagte er, »hast du einen schwarzen Mann gesehen?« »Einen schwarzen Mann?« fragte sie. »Gott behüte uns! Sie .sind wohl nicht gescheit, Herr Pastor. In ganz Balweary gibt es keinen schwarzen Mann.« Aber ihr müßt verstehen, das sprach sie nicht deutlich, sondern knautschte es hervor wie ein Pferd mit dem Zaumzeug im Maul. »Nun, Janet«, sagte er, »wenn hier
kein schwarzer Mann war, dann habe ich den Bösen selbst gesehen.« Und er setzte sich wie einer im Fieber, und die Zähne klapperten in seinem Mund. »Pfui!« sagte sie. »Sie sollten sich was schämen, Herr Pastor«, und gab ihm einen Schluck von dem Brandy, den sie immer bei sich hatte. Darauf ging Herr Soulis in sein Studierzimmer zu seinen vielen Büchern. Es war eine lange, niedrige, finstere Stube, zum Sterben kalt im Winter und nicht einmal im Hochsommer sonderlich trocken, denn das Pfarrhaus stand dicht am Wasser. So setzte er sich, und er dachte an alles, was sich ereignet hatte, seit er in Balweary war, und an seine Heimat und die Tage seiner Kindheit, als er barfüßig über die Hänge gelaufen war. Und der schwarze Mann ging ihm immer im Kopf umher wie der Kehrreim eines Liedes. Und je mehr er dachte, desto mehr dachte er an den schwarzen Mann. Er Versuchte zu beten, doch es kamen ihm nicht die rechten Worte; und, so erzählt man sich, er versuchte an seinem Buch zu schreiben, aber auch das wollte ihm nicht gelingen. Zuweilen dachte er, der schwarze Mann stünde an seiner Seite, und er war von Schweiß bedeckt, kalt wie Brunnenwasser. Dann kam er wieder wie ein Christenmensch zur Besinnung und machte sich aus alledem nichts. 97
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Am Ende ging er ans Fenster und starrte hinunter in das Wasser der Dule. Die Bäume stehen dort unheimlich dicht, und das Wasser unter dem Pfarrhaus ist tief und schwarz. Und da stand Janet mit hochgeschürzten Röcken und wusch die Wäsche. Sie drehte dem Pastor den Rücken zu, und er merkte kaum, was er da anschaute. Dann drehte sie sich um und zeigte ihr Gesicht. Herr Soulis wurde von dem gleichen kalten Schaudern erfaßt wie schon zweimal an diesem Tage, und ihm fiel das Gerde der Leute ein, daß Janet schon längst tot sei und ein Gespenst in ihrem kalten Leib umginge. Er zog sich ein wenig zurück und beobachtete sie mit scharfen Au' gen. Sie stampfte auf der Wäsche herum und summte vor sich hin und - Gott verzeih uns, aber es war ein schreckliches Gesicht. Manchmal sang sie lauter, aber kein Mensch, der aus einem Weibe geboren war, konnte die Worte ihres Liedes verstehen. Manchmal sah sie auch schräg nach unten hin, doch da gab es nichts für sie zu sehen. Da ging dem Pastor ein Gruseln durch den Leib bis auf die Knochen; und das war eine Warnung des Himmels. Aber Herr Soulis schalt sich selbst, wie er später sagte, weil er so schlecht von einem armen kranken alten Weib dachte, das nur ihn zum Freunde hatte. Und er sprach ein kurzes Gebet für sich und sie 98
und trank ein wenig kaltes Wasser - denn essen mochte er nicht - und ging in der Dämmerung in sein kühles Bett. Diese Nacht wird Balweary nie vergessen, die Nacht des siebzehnten August siebzehnhundertzwölf. Es war zuvor heiß gewesen, wie ich schon erzählte, aber in dieser Nacht war es heißer denn je. Die Sonne ging zwischen drohend aussehenden Wolken nieder. Es wurde kohlschwarz; kein Stern, kein Windhauch. Man konnte die Hand vor den Augen nicht sehen, und selbst die alten Leute warfen die Decken vom Bett und rangen nach Luft. Bei all den Dingen, die ihm im Kopf herumgingen, war es höchst unwahrscheinlich, daß Herr Soulis viel zum Schlafen kommen würde. Er lag da und wälzte sich herum, und das gute, kühle Bett, in das er gekrochen war, erhitzte ihn bis auf die Knochen. Mal schlief er und mal wachte er; mal hörte er die Uhr schlagen, und mal jaulte ein Köter im Moor, als ob jemand gestorben wäre. Mal dachte er, Gespenster flüsterten ihm was ins Ohr, und mal sah er Irrlichter im Zimmer. Er kam zu dem Schluß, daß er krank sein müßte, und krank war er, wenn er auch nicht wußte, was ihm fehlte. Schließlich ging ihm ein Licht auf, er setzte sich im Hemd an den Bettrand und dachte noch einmal über den schwarzen Mann und Janet nach.
DIE KRUMME JAN ET
Er wußte nicht, wie er auf die Idee 'kam - vielleicht, weil er kalte Füße hatte -, aber es dämmerte ihm mit einem Male, daß zwischen den beiden eine Beziehung bestand und daß eines von ihnen — oder auch beide — ein Gespenst war. Und just in diesem Moment hörte man aus Janets Zimmer, das neben seinem lag, ein Füßegetrampel, als ob Männer rauften, und danach einen lauten Krach. Und dann jagte ein Wind um alle vier Ecken des Hauses; und zuletzt war alles wieder still wie in einem Grab. Herr Soulis fürchtete sich weder vor Menschen noch vor dem Teufel. Er suchte seine Zünderschachtel und brannte eine Kerze an, und in drei Schritten war er an Janets Tür. Sie war nicht verschlossen, und so stieß er sie auf und sah mutig hinein. Es war ein großes Zimmer, so groß wie das des Pastors, und es war mit schweren, gediegenen alten Möbeln eingerichtet, denn er hatte keine anderen. Da war ein Himmelbett mit alten Vorhängen und ein herrlicher Eichenschrank, vollgestopft mit den Gottesbüchern des Pastors, die man hierher gebracht hatte, damit sie aus dem Wege waren. Ein paar alte Lumpen von Janet lagen hier und da auf dem Boden verstreut, aber von Janet war nichts zu sehen, ebensowenig wie von den Spuren eines Kampfes. Er ging hinein (und es gibt kaum einen, der ihm dahin gefolgt
wäre), sah sich um und horchte. Doch es gab nichts zu hören, weder im Pfarrhaus noch in der ganzen Gemeinde Balweary, und nichts war zu sehen außer den langen Schatten, die sich um die Kerze drehten. Und dann klopfte dem Pastor das Herz mit einemmal ganz wild und blieb stehen, und ein kalter Wind blies ihm durch das Haar. Was für ein schlimmer Anblick war das für den armen Mann! Denn Janet hing an einem Nagel neben dem alten Eichenschrank. Der Kopf lag wie immer auf der Schulter, die Augen waren starr, die Zunge hing ihr aus dem Mund, und ihre Fersen waren glatt zwei Fuß über dem Boden. »Gott sei uns allen gnädig!« dachte Herr Soulis. »Die arme Janet ist tot.« Er trat einen Schritt näher an die Leiche heran; und dann schlug ihm das Herz wie wild gegen die Rippen. Sie hing - durch welche Zauberei, steht einem Menschen schlecht zu urteilen an - an einem einzigen Nagel und an einem einzigen Wollfaden, wie man ihn zum Strümpfestopfen benutzt. Es ist abscheulich, wenn man nachts mit solchen Ausgeburten der Finsternis allein sein muß, aber Herr Soulis war stark im Herrn. Er drehte sich um, verließ das Zimmer und verschloß die Tür hinter sich. Stufe um Stufe ging er die Treppe hinun99
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ter, mit bleischweren Gliedern, und er stellte die Kerze auf den Tisch am Fußende der Treppe. Er konnte nicht beten und nicht denken, er triefte von kaltem Schweiß, und er hörte nichts als das Poch-poch-poch seines eigenen Herzens. Vielleicht stand er eine Stunde so da, vielleicht auch zwei, er achtete nicht darauf, als er plötzlich im oberen Stockwerk eine leise, unheimliche Bewegung hörte. Füße gingen in der Kammer, in der die Leiche hing, hin und her. Dann wurde die Tür geöffnet, obwohl er genau wußte, daß er sie verschlossen hatte. Und dann hörte man einen Schritt auf dem Treppenabsatz, und ihm schien es, als schaute die Leiche über das Geländer zu ihm hinunter. Er nahm wieder die Kerze (denn das Licht wollte er nicht entbehren), und so leise er nur konnte, ging er geradewegs aus dem Pfarrhaus bis zum Ende des Gäßchens. Es war immer noch stockdunkel. Die Kerzenflamme brannte ruhig und hell wie in einem Zimmer, als er sie auf den Boden stellte. Nichts regte sich, nur die Dule gluckste und sabbelte durch das Tal, und jene unheimlichen Schritte kamen im Pfarrhaus die Treppe hinuntergetappt. Er kannte sie nur zu gut: Es waren Janets Füße, und mit jedem Stückchen, das sie näher kam, kroch ihm die Kälte tiefer in die Eingeweide. Er empfahl seine Seele dem Herrn, der ihn er100
schaffen und erhalten hatte. »Und, o Gott«, sagte er, »gib mir in dieser Nacht die Kraft, gegen die Mächte des Bösen anzukämpfen.« Inzwischen kamen die Schritte durch den Hausgang auf die Tür zu. Er konnte eine Hand die Wand entlang tappen hören, so als müßte sich das scheußliche Wesen den Weg ertasten. Die Weiden rüttelten gegeneinander und stöhnten, ein langgezogener Seufzer kam über die Berge. Die Flamme der Kerze wurde hin und her geworfen. Und da stand der Leichnam der toten Janet, in dem grobgewebten Kleid und der schwarzen Haube, den Kopf wie immer auf der Schulter, und das Grinsen im Gesicht - lebend, hättet ihr gesagt; tot, wie Herr Soulis genau wußte - auf der Schwelle des Pfarrhauses. Es ist sonderbar, daß die Seele des Menschen an einen so vergänglichen Leib gefesselt ist; der Pastor aber sah dies, und es brach ihm nicht das Herz. Sie blieb nicht lange dort stehen. Sie bewegte sich weiter und kam langsam auf die Stelle zu, wo Herr Soulis unter den Weiden stand. Das ganze Leben in seinem Körper, die ganze Stärke seines Geistes glänzten in seinen Augen. Es schien, als wolle sie sprechen, fände aber keine Worte, und sie machte ein Zeichen mit der linken Hand. Es kam ein Windstoß
DIE KRUMME JANET
wie das Fauchen einer Katze. Die Kerze ging aus, die Weiden kreischten wie Menschen; und Herr Soulis wußte, jetzt ging es um Leben oder Tod. »Hexe, Gevatterin, Teufelin!« schrie er. »Ich befehle dir bei der Macht Gottes, hebe dich hinweg - wenn du tot bist, ins Grab - wenn du verdammt bist, in die Hölle.« Und in diesem Augenblick schlug Gottes Hand aus dem Himmel herab das Ungeheuer auf der Stelle. Der alte tote, entweihte Leichnam des Hexenweibes, der so lange nicht im Grab ruhen konnte und von den Teufeln umhergetrieben wurde, lohte auf wie Zunder und sank in Asche auf dem Boden zusammen. Schlag auf Schlag folgten der Donner und
der klatschende Regen. Und Herr Soulis sprang über die Hecke des Gartens und rannte auf das Dorf zu, wobei er einen wilden Schrei nach dem anderen ausstieß. Am gleichen Morgen sah John Christie den Schwarzen Mann am großen Heidegrab vorbeigehen, als es sechs schlug. Vor acht zog er an der Pferdestation von Knockdow vorbei, und kurze Zeit später sah ihn Sandy M'Lellan rasch den Hang von Kilmackerlie hinunterhüpfen. Es gibt kaum einen Zweifel daran, daß er es war, der so lange in Janets Körper wohnte; aber nun war er endlich fort, und seitdem hat der Teufel uns in Balweary nie mehr heimgesucht.
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Hexenhammer von Ernst Vicek
Um das befangene Schweigen zu brechen, das sich nach dem ersten Lebensschrei des Neugeborenen eingestellt hatte, sagte ich lächelnd: »Es ist ein Prachtjunge. Sieben Pfund schwer und kerngesund.« Aber weder Dr. Lauriel, der das Baby immer noch in seinen Armen hielt, noch der Vater, der mit seinen sieben Söhnen das Bett der frischgebackenen Mutter umstand, reagierten. Nur in den Altbauer, der sich bisher abwartend im Hintergrund gehalten hatte, kam Leben. »Das Hexenmal!« kreischte er und wies mit seinem gichtigen Zeigefinger auf ein großes Muttermal an den Lenden des Babys. Der Kindesvater und seine sieben Söhne bekreuzigten sich, die Mutter stöhnte qualvoll auf. Ich hatte eine scharfe Zurechtweisung für den Alten auf den Lippen, aber Dr. Lauriel gebot mir mit einer Handbewegung Schweigen. »Warten Sie im Wagen auf mich«, bat er. Ich bedachte den Ausgedinger noch mit einem letzten wütenden Blick,
dann stürmte ich grußlos ins Freie und setzte mich in Dr. Lauriels altem Lieferwagen auf den Fahrersitz. Ich mußte zehn Minuten warten, bis der betagte Landarzt herauskam, dessen Stelle ich in Kürze übernehmen sollte. Er nahm umständlich im Beifahrersitz Platz, ich startete und legte den Gang ein. »Wohin?« »Nach Hause«, sagte er. »Es ist schon spät, machen wir morgen weiter.« Während der Heimfahrt sprachen wir kein Wort. Das war mir recht, denn es erforderte einige Konzentration, den vielen Schlaglöchern des holprigen Feldweges auszuweichen. Außerdem wollte ich Ruhe haben, um Ordnung in meine Gedanken bringen zu können. Als wir eine Viertelstunde später Dr. Lauriels Haus am Fuße des Strigenberges, etwas außerhalb des Dorfes, erreichten, war mir noch immer nicht wohler. Deshalb sagte ich ihm, er solle schon alleine das Abendbrot zu sich nehmen, ich wolle noch ein wenig durch die Gegend streifen. 105
ERNST VLCEK
Er hielt mich am Jackenärmel zurück und sah mir ernst in die Augen, als er sagte: »Ich habe Ihnen von Anfang an gesagt, daß die Leute hier schrullig und aberläubisch sind, Herbert. Und trotzdem sind Sie schokkiert?« Ich zögerte, dann entschied ich mich zu einer ausweichenden Antwort. »Nicht schockiert, nur etwas durcheinander, Ihre Warnung hat mich nicht genügend vorbereitet. Ich wußte bis jetzt nicht, wie abergläubisch die Leute hier sind.« Dr. Lauriel stemmte sich auf seinen Gehstock, kräuselte die Lippen und nickte wissend. »Tja«, seufzte er dann, »es war wahrscheinlich mein Fehler, ich hätte Sie besser vorbereiten sollen. Aber wissen Sie, wenn man schon so lange hier ist und Land und Leute kennengelernt hat, dann sieht man alles mit anderen Augen. Wenn ein Bauer mich von seinem Hof jagt, weil er statt eines Arztes einen Hexenaustreiber zu konsultieren wünscht, dann nehme ich das nicht mehr tragisch. Das passiert einem hier eben mal hin und wieder.« Er spielte damit auf ein Ereignis vom Vormittag an, als wir zu einem Gehöft hinausgefahren waren, weil die Bäuerin angeblich mit Fieber zu Bett lag. Aber der Bauer hatte uns gar nicht erst bis zu ihr vorgelassen. Dr. Lauriel sprach weiter. 104
»Striga und Umgebung sind von der Zivilisation abgeschlossen. Das war schon immer so, und es wird wahrscheinlich noch eine Weile dauern, bis sich das ändert; und bis dahin werden sich alle, die hier ansässig werden wollen, an die hiesigen Gebräuche gewöhnen müssen.« »Ich werde mich nicht diesen mittelalterlichen Anschauungen unterwerfen, eher gehe ich in die Stadt zurück«, sagte ich heftig. »Das werden Sie dann wohl tun müssen, Herbert«, entgegnete er bedächtig. »Aber ehe Sie einen Entschluß fassen, sollten Sie einiges bedenken, das für die Bevölkerung spricht. Die Abgeschiedenheit Strigas und die Wirren nach den beiden Kriegen haben es diesen einfachen Leuten nicht gestattet, sich der rasch fortschreitenden Entwicklung anzupassen. Dazu kommt noch, daß dieses Land von einem Fluch befallen zu sein scheint. Tiere und Menschen werden häufiger als anderswo von Krankheiten heimgesucht, der Boden ist unfruchtbar - und wenn dann einmal die karge Ernte vor der Tür steht, kommen Gewitter und vernichten das Korn.« »Die Bauern sollten sich dann aber mehr mit ihren Feldern als mit Nachtspuk, Teufelskult und Zauberei beschäftigen«, hielt ich entgegen. •Er schüttelte den Kopf. »Das ist kein Gegenargument. Der Mentalität die-
HEXENHAMMER
ser Menschen entspricht es mehr, Krankheiten und Mißernten den Hexen und anderen bösen Mächten zuzuschreiben. Und wenn man lange genug in Striga war und selbst einige seltsame Dinge geschehen sah, die sich mit Vernunft und Logik nicht erklären lassen, dann ist man geneigt . . .« »Was ist dann?« sagte ich spöttisch. »Sprechen Sie ruhig aus, daß Sie ebenfalls von dem Hexenwahn angesteckt sind. Ich habe es schon bemerkt, als Sie bei den Jochgrabens das Neugeborene mit dem >Hexenmal< in Händen gehalten haben. Sie schickten mich hinaus, damit ich Ihre Anordnungen nicht hören konnte. War es nicht so? Was verschreiben Sie denn Ihren Patienten bei anderen Gelegenheiten? Knoblauch und Kruzifixe gegen Dämonen an Stelle von Medikamenten?« Er atmete schwer, seine wässerigen Augen blickten mich traurig und enttäuscht an. Plötzlich hatte ich Mitleid mit ihm und bereute meine heftigen Vorwürfe. Ich hatte ganz einfach nicht das Recht, so mit ihm zu sprechen. Dr. Lauriel war sehr hilfreich und zuvorkommend. Er hatte mich gestern, bei meiner Ankunft in Berghofen, mit dem Auto vom Bahnhof abgeholt, mich in seinem Haus aufgenommen und sogar angeboten, mir seine Praxis zu fairen Bedingungen zu überlassen. Heute hatte er den
ganzen Tag dafür geopfert, mich bei seinen Patienten einzuführen. Er hatte sich diese Behandlung nicht verdient. »Entschuldigen Sie, Dr. Lauriel, ich habe mich gehen lassen . ..« »Ich nehme es Ihnen nicht übel«, meinte er; aber ich mußte ihn doch sehr getroffen haben, das merkte ich ihm an. »Ihre Jugend verbietet es Ihnen, an das Übernatürliche auch nur zu denken. Streifen Sie ruhig etwas durch die Gegend, das kühlt den Kopf.« Er kam mir älter und gebeugter vor als bei unserer ersten Begegnung, wie er da auf sein Haus zuging. Schon während meines Studiums stand es für mich fest, daß ich später einmal aufs Land gehen würde. Als ich dann meinen Doktor der Medizin gemacht hatte, änderte ich meinen Entschluß nicht. Ich stellte es mir als deprimierend vor, in irgendeiner Ordination zu hocken und Patienten wie am Fließband abzufertigen oder in einem Krankenhaus Leute zu behandeln, zu denen ich nie eine innere Beziehung bekommen würde, weil sie kamen und gingen, genasen oder starben. Deshalb griff ich zu, als ich von der freiwerdenden Stelle in Striga erfuhr. Mir war von Anfang an klar, daß mein Verdienst nur den Bruchteil dessen ausmachen würde, was ich in der Stadt bekommen hätte. Auch 105
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vor den anderen Unannehmlichkeiten, mit denen ich zu rechnen haben würde, verschloß ich mich nicht. Die Leute auf dem Lande sind Neuerungen gegenüber mißtrauischer als Stadtmenschen, und wenn sie sich erst einmal an das Gesicht und die Methoden eines Arztes gewöhnt haben, war eine Umstellung nicht leicht für sie. Ein junger Arzt würde es besonders schwer haben, ihr Vertrauen zu gewinnen. Mit all dem hatte ich gerechnet, mich darauf vorbereitet und war schließlich zu der Überzeugung gelangt, daß ich damit fertig werden würde. Aber zu diesen Schwierigkeiten kam nun noch etwas anderes dazu - die Leute von Striga und Umgebung waren von einem finsteren Aberglauben besessen. Das hatte ich bereits erkannt, obwohl ich erst vierundzwanzig Stunden hier war. Vielleicht würde ich mich, wie Dr. Lauriel, im Laufe der Jahre damit abfinden. Vielleicht könnte ich dagegen sogar erfolgreich ankämpfen. Aber - wollte ich das überhaupt? Wäre es nicht besser, gleich morgen abzureisen? Jedenfalls mußte ich meine Entscheidung schnell treffen, noch bevor ich in Striga zu fest Fuß gefaßt hatte. Ich wog die Möglichkeiten gegeneinander ab, während ich in der Dämmerung den schmalen Waldpfad entlangschlenderte. In die eine Waagio6
schale legte ich die Stadt, das eintönige Krankenhauspraktikum und das Warten auf eine neue Chance, in die andere die angestrebte Unabhängigkeit, den zuvorkommenden Dr. Lauriel, aber auch den Aberglauben der zukünftigen Patienten. Ich hatte noch immer keine Entscheidung getroffen, als ich an den kleinen ruhigen Waldsee kam. Eine lange Weile stand ich da und starrte auf die spiegelglatte Wasserfläche hinab. An meine Probleme dachte ich in diesem Augenblick nicht, sondern kostete das Bild geheiligter Einsamkeit vollkommen aus und hielt mit der Welt den Atem an. Eine Bewegung an der Stelle, wo die Büsche bis fast an den See heranreichten, riß mich aus meiner Betrachtung. Ein Tier, ein Reh, das hier seine Tränke hatte? Nein, es war ein Mensch, eine Frau in einem Bauernkittel, der ihr bis zu den Knöcheln hinunterreichte. Der Zauber des Augenblicks war für mich dahin, ich wollte mich wieder abwenden und den Rückweg antreten, weil mir nichts ferner lag, als einem Mädchen beim Baden zuzusehen. Aber dann war etwas an ihrem Gebaren, das mich unschlüssig innehalten ließ. Sie setzte sich auf den mit einem Nadelteppich belegten Boden und holte etwas aus ihrer Schürze. Mich fröstelte unwillkürlich, und das rief mir ins Bewußtsein, daß es für ein
HEXENHAMMER
Bad eigentlich viel zu kalt war. Was Sie hatte das Ufer erreicht, als ich tat dieses Mädchen oder diese Frau noch zwanzig Schritte von ihr entdann also hier? Wollte sie nur ein fernt war, stieß sich mit den Füßen wenig nachdenken oder mit offenen ab und verschwand, ohne einen Laut von sich gegeben zu haben, im WasAugen träumen wie ich eben? ser. Aber dagegen sprach ihr ganzes Verhalten. Sie wirkte irgendwie ange- Kurz darauf war ich an Ort und spannt, ihr Oberkörper war steif, Stelle, und während ich meine Schuhe mit den Händen machte sie schein- abstreifte, erschien der Mädchenkör|Bar sinnlose Bewegungen, die aber per wieder an der Oberßäche. Zudoch Zweckmäßigkeit erkennen lie- erst tauchte der gekrümmte Rücken ßen. Jetzt zögerte sie ein wenig, wo- auf, dann schnellte der Kopf heraus, |fcei sie ihre linke Hand bei den Fü- und ich sah ein jugendliches Gesicht, ßen beließ, legte ihre Rechte dazu umrahmt von tropfnassem dunklen und krümmte ihren Körper durch, Haar. Der Mädchenkörper trieb leicht wie eine Feder auf dem Wasser. bis ihr Kopf ganz weit vorne war und sie mit dem Gesicht Hände und Sie geht nicht unter, dachte ich noch, dann sprang ich kopfüber in den See. Füße berühren konnte. Ich wurde aus ihrem Verhalten im- Mit einigen schnellen Zügen erreichte ich die Lebensmüde, die sich vollmer noch nicht klug. Jetzt richtete sie ihren Oberkörper kommen ruhig verhielt, faßte sie um auf, zog die Hände aber von den die Brust und schwamm mit ihr zurück zum Ufer. Füßen nicht zurück. Es hatte den Wieder an Land, löste ich zuerst ihre Anschein, als umklammere sie den Fesseln und ließ sie dann in meine rechten Fuß mit der linken Hand und Jacke schlüpfen. Während ich selbst den linken Fuß mit der rechten Hand vor Kälte am ganzen Körper zit- in dieser Stellung rutschte sie die terte, saß sie ruhig da, die Beine an Böschung hinunter zum See. den Körper gepreßt, die Knie fest Und mit einemmal fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Sie hatte umschlungen. sich selbst gefesselt und wollte sich »Das wäre beinahe schiefgegangen«, sagte ich zähneklappernd und das Leben nehmen! Ich setzte mich augenblicklich in Be- schwang mir zur Erwärmung die wegung und entledigte mich noch im Arme um den Körper. Sie blickte zu mir auf, und ein Laufen meiner Jacke. »Halt! Halt! Nicht!« schrie ich, aber leicht spöttisches Lächeln lag um ihre Lippen, als sie sagte: »Sie brauchen es war schon zu spät. 107
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sich gar nicht so als Lebensretter aur- ohne sich umzudrehen, und deutete zuspielen. Ich wäre auch ohne Sie mit ihrem Arm in Richtung Strigennicht abgesoffen. Sie haben ja ge- berg. sehen, daß ich obenauf geblieben Ich sah ihr eine Weile nach, beobbin.« achtete ihren burschikosen unbekümNach der Kälte des Wassers war ihre 'merten Gang, und wurde mir erst Stimme und Ausdrucksweise der zwei- darüber klar, daß ich diese Bekanntte Schock für mich. Sie war hübsch, schaft vertiefen wollte, als sie zwiunleugbar eines der schönsten Mäd- schen den Bäumen zu entschwinden chen, dem ich je begegnet war, aber drohte. irgend etwas war in ihren Augen, Ich rannte ihr nach. das nicht zu ihrem Aussehen passen »Haben Sie denn keine Angst, alwollte — ihr Blick war debil und leine durch den Wald zu gehen?« stumpfsinnig, aber auch noch etwas erkundigte ich mich, nachdem ich sie anderes lag darin, über das ich mir erreicht hatte. nicht klar werden konnte. Sie schien vorgehabt zu haben, mich Ein seltsames Wesen; offensichtlich zu ignorieren, denn sie tat, als sei ich ein wenig beschränkt, aber dennoch Luft, während sie den steiler werfaszinierend.' . denden Pfad hinanstieg. Aber meine Sie können hier nicht sitzen bleiben, Frage dürfte sie umgestimmt haben. sonst holen Sie sich doch noch den Amüsiert sagte sie: »Ich fürchte Tod, dem Sie so knapp entgangen nichts, man fürchtet sich vor mir. sind«, sagte ich und reichte ihr die Haben Sie denn keine Angst?« Hand, um ihr aufzuhelfen. »Kommen »Eigentlich nicht«, lachte ich. Sie, ich bringe Sie nach Hause.« »Dann sind Sie ganz schön dumm.« Meinen hilfreichen Arm ignorierend, Das war eine ernstgemeinte Feststelerhob sie sich. Als sie stand, schlüpfte lung. »Sie waren ja dabei, als ich im sie mit plumpen, ungrazilen Bewe- Wasser schwamm und nicht untergungen aus meiner Jacke und warf ging.« sie mir zu. • »Wenn ich mich vor Ihnen gefürch»Da haben Sie Ihren Fetzen, ich tet hätte, dann hätte ich Ihnen brauche-ihn nicht.« Mit diesen Wor- wahrscheinlich nicht das Leben geretten wandte sie mir den Rücken zu tet.« und wollte davongehen. »Einen Dreck haben Sie!« brauste sie »Halt«, rief ich ihr nach, »zum Dorf auf; ich zuckte unwillkürlich zusamgeht es da lang.« men. »Ich wollte mich nicht ersäufen »Ich wohne aber dort«, sagte sie, und wäre auch ganz bestimmt nicht lö8
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abgesoffen. Ich habe die Hexenprobe gemacht, weil ich herausfinden wollte, was wahr an dem ist, was die Leute tuscheln. Und ich habe die Probe bestanden. Ich bin geschwommen, deshalb bin ich eine Hexe.« „Sie sagte es in einem so ernsten Tonptall,' daß es schon wieder lächerlich klang. Aber ich hütete mich, ihr meine Skepsis oder gar meine Heiterkeit (JZU zeigen. ^i »Ich fürchte mich dennoch nicht vor Ihnen«, sagte ich. Jföie blieb stehen und betrachtete mich KStirnrunzelnd. • H»Sie sind wohl nicht von hier?« |?»Aus der Stadt.« " »Das dachte ich mir fast. Und Sie fürchten sich wirklich nicht vor He||en?«
pch lächelte. »Ganz und gar nicht.« l'Sie kam zu mir, zog meinen Kopf | mit einem kräftigen Ruck zu sich her' ab und küßte mich wild und ungeschickt auf den Mund. Ich mußte mich förmlich mit Gewalt aus ihrer Umarmung befreien. »Ich habe schon lange keinen Burschen mehr getroffen, der mir gefiel«, keuchte sie, und ihre Augen lebten. »Morgen, wenn es dunkel wird, trefifen wir uns wieder hier.« ii»Aber . . .« ^»Morgen bekommst du mich!« |Schrill lachend rannte sie davon. '?' |Dr. Lauriel saß schon beim Früh-
stück, als ich am nächsten Morgen in die Küche hinunterkam. Die Begrüßung fiel etwas kühl aus, und das Eis zwischen uns brach auch nicht, als ich ihm gegenüber am Tisch Platz genommen hatte und er über das heutige Programm sprach. Ich aß lustlos, während ich versuchte, den Worten Dr. Lauriels Aufmerksamkeit zu schenken. Er hatte vor, mich am Vormittag mit einigen weiteren Patienten der näheren Umgebung bekanntzumachen; für den Nachmittag war eine zwanglose Zusammenkunft im Rathaus von Striga geplant, an der der Pfarrer, der Bürgermeister, der Magister und zwei oder drei einflußreiche Bauern der fünfhundert Seelen zählenden Gemeinde teilnehmen würden. Dr. Lauriel versicherte mir, daß die genannten Herren keineswegs vorhatten, mich auf Herz und Nieren zu prüfen, sondern mich eben nur kennenlernen wollten. Zum Schluß sagte er: »Das hat na-
türlich nur dann einen Sinn, wenn Sie in Striga bleiben wollen.« »Ich werde bleiben«, hörte ich mich sagen. Die Visite am Vormittag verlief ohne Zwischenfälle; kein einziges Mal wurde uns die Tür gewiesen, und wir brauchten uns auch kein übertriebenes Gejammer, vonwegen krankem Vieh oder unfruchtbarem Boden, an109
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zuhören. Deshalb hatte ich Dr. Lauriel im Verdacht, daß er für diesen Tag nur solche Patienten ausgesucht hatte, die weniger abergläubisch waren als andere. Um die Mittagszeit kamen wir zurück nach Striga und kehrten in dem einzigen Gasthaus ein, das direkt auf dem Hauptplatz lag. Der Wirt, ein kleiner rundlicher Mann mit einer Glatze, begrüßte uns mit überschäumender Freundlichkeit, nahm unsere Bestellung auf und brachte bald darauf das Bier und die gewünschten Speisen. »Wohl bekomm's«, sagte er, wischte sich die schwitzenden Hände an der Schürze ab und zog sich zurück in seine Privaträume. Wir waren d»e einzigen Gäste. Dr. Lauriel versuchte, eine harmlose Konversation in Gang zu bringen, aber meine einsilbigen Antworten ließen ihn diesen Versuch bald aufgeben. Er mußte gemerkt haben, daß ich mit meinen Gedanken ganz woanders war, und obwohl er mich nicht nach meinen Sorgen auszufragen begann, spürte ich instinktiv, daß er vor Neugierde fast vergehen mußte. Als ahne er etwas von meinem nächtlichen Erlebnis . . . Der Hauptplatz war nur wenig belebt. Einige spielende Kinder tollten herum. Ein Ochsenkarren ratterte langsam über das unebene Kopfsteinpßaster. Vor der geschlossenen Apo110
theke unterhielten sich zwei uralte Weiber. An einem Fenster, von einem der einstöckigen Fachwerkhäuser, erschien eine dickliche Frau und schrie den Kindern irgend etwas zu. Vor dem Fleischerladen wurde ein Lastwagen beladen. Ein alter Mann mit einer langen Pfeife lehnte an den geschlossenen Läden des Lebensmittelgeschäfts und ließ sich von der Sonne bescheinen, während Dr. Lauriel und ich zum Haus des Bürgermeisters gingen. Ich hatte schon gestern festgestellt, daß alle Geschäfte geschlossen hatten und daß sich auf dem Hauptplatz, dem einzigen Treffpunkt des Dorfes, kaum Menschen aufhielten. Es war, als liege Striga im Sterben und keiner seiner Bewohner wolle irgend etwas dagegen unternehmen. Dieses dumpfe Gefühl wurde ich auch nicht los, als wir das Bürgermeisteramt betraten, wo uns fünf alte Männer bereits erwarteten. Dr. Lauriel machte mich mit ihnen bekannt. Der Bürgermeister war ein kleines verhutzeltes Männchen mit einem knochigen Gesicht, in dem die riesige Hakennase mit den kleinen stechenden Äuglein um die Vorherrschaft zu kämpfen schien. Der Magister hatte einen Buckel und zeigte mir die Lücken in seinen gelben Zähnen, als er mich falsch angrinste. Der eine Bauer hieß Köhler, hielt sich betont gerade und wirkte noch am
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rüstigsten; er gab mir mürrisch die Hand. Der andere würdigte mich keines Blickes - es war der alte Jochgraben, der seinem neugeborenen Enkel ein Hexenmal angedichtet hatte. Sie alle brachten mir unverhohlenes Mißtrauen und offene Abneigung entgegen. Nur der Pfarrer, ein kleiner Mann mit einem rosigen Gesicht, bildete eine erfreuliche Ausnahme. Aber trotz der Freundlichkeit, mit der er mich begrüßte und mir einen Sitz an dem großen Tisch anbot, glaubte ich nicht, daß sich etwas an der frostigen Atmosphäre ändern würde. Mit dieser Vermutung behielt ich recht, obwohl sich auch Dr. Lauriel bemühte, mich bei den anderen beliebt zu machen. Die Unterhaltung drehte sich vorerst einmal um das schlechte Wetter, die karge Ernte und die an Schwindsucht leidende Gemeindekasse. Ich fragte mich im stillen, was ich demnach bei dieser Besprechung zu suchen hatte. Aber das Gesprächsthema wechselte, und die Männer diskutierten verschiedene Maßnahmen durch, um der allgemeinen Misere beizukommen, und ich wurde ein paarmal um meine Meinung gefragt. Ich gab ausweichende Antworten, sagte, daß ich in diesen Dingen nicht bewandert sei und dachte im übrigen an das seltsame Mädchen, das ich im Wald getroffen hatte.
»Die mageren Jahre dauern j schon zu lange an«, sagte der B germeister. »Wir müssen wieder mal etwas unternehmen.« Dabei sah er Dr. Lauriel fest an. »Ja«, meinte der unsicher, »wir m sen uns überlegen, was wir tun kö ten ...« »Da gibt es nichts zu überlege unterbrach ihn Jochgraben. »Es hilft nur eines«, stimmte Magister zu. Der Pfarrer räusperte sich. »Was ist denn. Hochwürden«, kundigte sich der Magister. »Ha Hochwürden vielleicht Bedenken Der Pfarrer blickte von einem z anderen, dann sagte er: »Ich k eure gotteslästernden Reden n länger mehr dulden. Entweder hört sofort damit auf, oder ich z mich zurück.« »Aber damals«, sagte Jochgra »damals warst du nicht so zim lich.« »Gott hat uns alle dafür gestraft! »Ja, aber weil wir nicht ganze beit gemacht haben.« Mit hochrotem Kopf sprang Pfarrer auf und ging wortlos dem Raum. »Ihr seid Hitzköpfe«, tadelte Lauriel. »Jetzt habt ihr ihn ve gert. »Na, wenn schon. Wir werden a ohne den Pfaffen fertig«, recht tigte sich Jochgraben. »Jetzt brauc
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wir nur noch diesen Kindskopf da loswerden . . .« »Alfons!« Dr. Lauriel sprang aufgebracht von seinem Stuhl. Ich erhob mich ebenfalls. »Lassen Sie nur«, sagte ich, »ich wollte ohnehin an die frische Luft.« Froh darüber, daß mir eine Entscheidung abgenommen worden war, verließ ich das Rathaus. Länger hätte ich das alberne Greisengeschwätz nicht mehr ertragen. Der Hauptplatz lag wie ausgestorben da, die spielenden Kinder, der Mann mit der Pfeife und der Lastwagen waren verschwunden, die Geschäfte hatten immer noch geschlossen. Von der kleinen Kapelle kam das schüchterne Geläute einer Glocke. Sie läutete fünfmal, und ein Blick auf meine Armbanduhr zeigte mir, daß es tatsächlich erst fünf war. Demnach verblieben mir noch zweieinhalb Stunden bis zur Dämmerung. Das brachte mich auf die Idee, den Pfarrer aufzusuchen und ihn ein wenig nach seiner Meinung über die Dorfbewohner auszuhorchen. Von ihm würde ich auch etwas über das Mädchen vom Strigenberg erfahren können. Ich verließ den Hauptplatz über die staubige Seitenstraße, die nach kaum zweihundert Metern in einen schmalen Fußpfad überging. Hier stand das letzte Haus, danach kam eine von 112
Unkraut überwucherte Wiese, auf der einige magere Kühe weideten. Die Kapelle stand auf dem Gipfel einer kleinen Anhöhe, über deren Hänge sich Kreuz an Kreuz des idyllischen Gottesackers reihte. Als ich zu dem schmiedeeisernen Tor in der Friedhofsmauer kam, mußte ich zu meiner Überraschung feststellen, daß es abgeschlossen war. Ich rief nach dem Pfarrer, aber er gab kein Lebenszeichen von sich. Da ich wußte, daß jemand hier sein mußte, der den Glokkenzug betätigt hatte, wiederholte ich mein Rufen einige Male. Aber es war umsonst, niemand zeigte sich. Etwas enttäuscht kehrte ich um und strebte dem Strigenberg zu. Ich ließ mir Zeit, machte einen großen Bogen um das Dorf, wich oft vom Weg ab und rastete ein paarmal. Aber ich erreichte den Waldsee trotzdem noch sehr früh. Ich setzte mich ans Ufer und beobachtete die rötlich verfärbte Sonne, wie sie hinter den Wipfeln der Nadelbäume verschwand, noch einmal durch den Wald blinzelte, um dann endgültig hinter dem Strigenberg unterzugehen, »Morgen bekommst du mich«, hatte mir das Mädchen zum Abschied zugerufen. Es schien ihr damit ernst gewesen zu sein. Es lag nun an mir, ihr schonend beizubringen, daß an ein Verhältnis zwischen uns beiden nicht zu denken war. Aber vielleicht, beruhigte ich mich
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dann wieder, meinte sie ihre Worte gar nicht so ernst, sondern hatte sie nur gesagt, um den Anschein von Anrüchigkeit zu erwecken. Plötzlich, ohne daß ich ein Geräusch gehört hatte, schob sich etwas vor meine Augen und preßte sich mir fest gegen die Lider. »Rate, wer da ist«, wurde mir ins Ohr geflüstert. Ich erkannte ihre Stimme sofort, obwohl sie sie verstellte. »Ich habe keine Ahnung«, sagte ich. »Rate.« »Hm . . . der Waldhüter?« Sie lachte. »Bei uns gibt es keinen Waldhüter.« »Bist du etwa ein Wurzelweib?« »Beinahe erraten.« »Dann - kannst du nur die kleine Hexe von gestern sein.« »Jawohl!« Sie ließ meine Augen los, zog mich mit einem kräftigen Ruck zu Boden und beugte sich über mich. »Genau das bin ich, die Hexe von gestern.« Und sie küßte mich. Es dauerte eine Weile, bevor ich mich aus ihrer Umarmung befreien konnte. Ich richtete mich auf und schob sie auf Armeslänge von mir fort. Dann betrachtete ich sie. »Was glotzt du so?« erkundigte sie Sich mißtrauisch. »Nur so, ich will sehen, ob du dich seit gestern verändert hast.«
»Und?« »Du hast dich verändert.« Doch diese Veränderung gereichte ihr nicht gerade zum Vorteil, aber das sagte ich ihr nicht. Sie trug ein silbernes Flitterkleid, das um einige Nummern zu groß war, Pumps mit dicken hohen Absätzen und eine schwarze Stola, außerdem war sie über und über mit falschem Schmuck behangen; auf den Wangen trug sie millimeterdick Rouge, und die Lippen hatte sie grellrot bemalt. Sie sah aus wie ein Clown, aber es war nicht zum Lachen. »Wie gefalle ich dir?« Sie zupfte an dem Kleid, und ihre großen, kindlichen Augen starrten mich erwartungsvoll an. »Recht schick«, sagte ich und hoffte, daß sie meine Lüge nicht durchschaute. »Von wo hast du die Kleidung und die Schminke?« Sie warf den Kopf zurück. »Aus der Klamottenkiste meiner Tanten. Ich hab's mir-ausgeborgt, weil sie es ohnedies nicht mehr brauchen. Nur den Umhang«, sie deutete auf die Stola, »habe ich Tante Frieda abgenommen, aber sie wird schon nicht frieren.« »Sagtest du, daß du bei deinen Tanten wohnst?« »Nein.« Sie sah mich erstaunt an. »Meine drei Tanten wohnen bei mir.« »Das verstehe ich nicht.« Sie seufzte. »Stellst du dich aber 113
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dumm! Ich werde es dir erklären. Meine Tanten, Frieda, Lore und Heidi, sind gelähmt. Sie können sich überhaupt nicht rühren und hocken nur stumm und starr da. Ich muß sie füttern, waschen und niederlegen und anziehen und ihnen Geschichten erzählen. Und ganz richtig im Kopf sind sie auch nicht - ich meine, daß sie schon vorher recht einfältig gewesen sein mußten, bevor das mit ihnen passierte, denn sonst wäre es nicht so weit gekommen. Aber, nein, sie mußten .. . Jedenfalls siehst du, sind sie auf mich angewiesen und nicht ich auf sie. Deshalb wohnen sie bei mir. Verstehst du?« Ich nickte gedankenverloren. »So«, fügte sie abschließend hinzu, »jetzt ist Schluß damit. Redpn wir von was anderem.« Sie versuchte ein verführerisches Lächeln und reichte mir ihre Hand. Ich ergriff sie. Während sie mich langsam zu sich zog, versuchte ich mir das erbärmliche Leben vorzustellen, das dieses junge Mädchen inmitten der drei gelähmten Frauen führen mußte. Mir kam der Gedanke, daß sie womöglich nicht wirklich beschränkt, sondern nur ein Opfer ihrer Umgebung war. »Und du bist ganz alleine mit ihnen?« fragte ich. Wahrscheinlich klang meine Stimme um eine Spur zu mitfühlend, denn sie sagte: 114
»Ich will nicht bemitleidet werden.« »Aber du verdienst Anerkennung. Nicht jeder könnte eine solche Aufopferungsbereitschaft aufbringen wie du.« »Pah, Aufopferungsbereitschaft«, schnaufte sie. Was soll ich denn anderes tun? Alle weichen sie mir aus, weil ich eine Hexe bin. Ich habe nur meine Tanten.« »Die Dorfbewohner sagen, du seist eine Hexe?« fragte ich vorsichtig und lächelte dabei, um die Bedeutung meiner Frage herabzumindern. »Sie sagen es mir nicht, zumindest nicht ins Gesicht, weil sie Angst haben. Aber sie weichen mir aus.« »Du hast keine Freunde in Striga?« Sie lächelte maliziös. »Doch, manchmal stiehlt sich einer der Burschen von zu Hause fort und . . .« »Das meinte ich nicht. Ich dachte an jemanden, der dich wirklich gern hat. Eine Freundin, einen Freund.« »Ich verhexe sie, dann sind sie meine Freunde.« »Aber du mußt doch jemanden kennen, der aus eigenem Antrieb zu dir kommt und dich um deinetwillen mag - jemand, der dasselbe für dich tun würde, wie du für deine Tanten tust.« »Du meinst eine Freundschaft?« Langsam schüttelte sie den Kopf. »Nein, eine Freundschaft habe ich nicht.« Ich drückte ihre Hand.
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»Jetzt hast du eine.« »Dich?« »Ja.« »Oh . . .« Trotz der Schminke im Gesicht und ihrer großen hervortretenden Augen strahlte sie Schönheit aus. »Ich kann es noch gar nicht glauben Du liebst mich, ohne daß ich dich erst behexen muß?« »Ich biete dir meine Freundschaft an«, erklärte ich, um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen. »Das hat mir noch niemand gesagt.« Noch ehe ich mich versah, hatte sie mich wieder umarmt, ließ sich zurücksinken und zog mich über sich. Ich spürte, wie mich ihre Nähe erregte, und es wäre in diesem Augenblick leicht gewesen, der Versuchung nachzugeben und sich von der aufflammenden Leidenschaft mitreißen zu lassen. Aber ich behielt meine Vernunft. Ich wäre mir nachher schmutzig vorgekommen, wenn ich die Situation ausgenützt hätte. »Hör auf damit«, stieß ich hervor, nachdem ich von ihren Lippen losgekommen war. Ich versuchte sie festzuhalten, aber sie schien tausend Arme zu haben, löste sich immer wieder aus meinem Griff und wand sich wie eine Schlange. Mir blieb kein anderer Ausweg, als sie durch einen leichten Schlag zur Besinnung zu bringen. Es half. Ihr Körper sackte in sich zusammen. Ihre Augen klärten sich,
wurden groß wie immer. Wahrend sie sich mit der linken Hand über die geschlagene Wange fuhr, schob sie mich mit der anderen von sich. Langsam richtete sie sich auf. Ich wollte etwas sagen, aber meine Stimme gehorchte nicht. Außerdem erkannte ich, daß Worte hier nicht geholfen hätten. Ich hatte sie gedemütigt, hatte das, was sie unter Freundschaft verstand, abgewiesen, hatte wahrscheinlich ihre letzte Hoffnung auf ein anderes, besseres Leben mit einem einzigen Schlag zerstört. Jetzt weinte sie haltlos. »Sei verflucht«, sagte sie mit erstickter Stimme, »sei verflucht wie die anderen.« Es blitzte, gleich darauf rollte ein urgewaltiger Donner über den Strigenberg, und es begann in' Strömen zu regnen. Das Mädchen, dessen Namen ich noch nicht einmal kannte, aber von dem ich wußte, daß es dringend Hilfe brauchte, war wie vom Erdboden verschwunden. Ich war bis auf die Haut durchnäßt, als ich Dr. Lauriels Haus erreichte. In der Küche brannte noch Licht, aber ich kümmerte mich vorerst nicht darum, sondern ging in den primitiven Waschraum und befreite meinen Oberkörper von den nassen Kleidern. Dann trocknete ich mich ab und rubbelte mir den Kopf halbwegs trocken. 115
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Kaum war ich damit fertig, da ging die Tür auf, und Dr. Lauriel stand darin. Er hielt eine Tasse in der Hand, die verheißungsvoll dampfte. »Ich habe mir gedacht, daß Sie vom Regen überrascht werden würden«, sagte er. »Deshalb habe ich Tee aufgestellt.« Dankbar nahm ich die dampfende Tasse und machte einen vorsichtigen Schluck. Ich verbrühte mir zwar den Mund, aber der heiße Tee wärmte mich innerlich wenigstens ein bißchen auf. »Nehmen Sie doch meinen Schlafmantel«, schlug Dr. Lauriel vor. »Dann können wir in die Küche gehen, dort ist es gemütlicher.« Ich nickte, stellte die Tasse ab und schlüpfte in seinen Schlafmantel. Er war vorausgegangen und saß schon an dem rohgezimmerten Tisch, die Teekanne und eine halbvolle Flasche doppeltgebrannten Slibowitz vor sich, als ich in die Küche kam. Er sah mich unschlüssig an, benetzte sich die Lippen, sagte aber nichts. »Sie wollen mit mir sprechen?« erkundigte ich mich, um ihm den Anfang leichter zu machen. »Ja«, bekannte er. »Ich wollte es schon' heute vormittag tun, aber es kam immer etwas dazwischen. Wir sollten ein offenes Wort miteinander sprechen, Herbert.« Ich schlürfte den Tee und fühlte, wie schön langsam meine Lebensgeister zurückkehrten. »Warum nicht«, 116
meinte ich dann. »Was haben Sie also auf dem Herzen, Doktor?« »Es geht mich ja nichts an, was Sie mit Ihrer Freizeit anfangen, Herbert«, druckste er herum. «Es geht mich überhaupt nichts an, wo Sie sich herumtreiben. Sie können tun und lassen, was Sie wollen. Aber ich fühle mich irgendwie verantwortlich für Sie, deshalb möchte ich verhindern, daß Sie eine Dummheit begehen. Ich muß Sie warnen . . .« »Sie müssen mich warnen?« wiederholte ich erstaunt. »Fassen Sie das nicht falsch auf«, sagte er schnell. »Es hat schon genügend Mißverständnisse zwischen uns gegeben, ich möchte nicht neue heraufbeschwören. Ich warne Sie, weil ich zu wissen glaube, wo Sie gestern und heute nacht waren.« »Hm«, machte ich nur. Er würde schon von selbst die Katze aus dem Sack lassen. Er tat es auch. »Sie haben sich, wahrscheinlich vollkommen ahnungslos, im Wald herumgetrieben«, erzählte er mit solcher Überzeugung, als hätte er mich beobachtet. »Sie wollten alleine sein mit sich und Ihren Gedanken, um sich in Ruhe Ihre Lage überlegen zu können. Aber daraus wurde nichts. Plötzlich sahen Sie sich einem Mädchen gegenüber, das alles daranstetzte. Ihnen den Kopf zu verdrehen. Sie fanden das Mädchen etwas seltsam, vielleicht ein wenig beschränkt,
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deshalb wahrten Sie Distanz - oder auch nicht, aber das ist nicht so wichtig. Auf jeden Fall wollten Sie das Mädchen wiedersehen, denn Sie waren auf eine unerklärliche Art von ihr fasziniert. Sie trafen sich heute nacht wieder mit ihr!« Der letzte Satz war eine einzige Anklage. »Sie sind sehr nahe an die Wahrheit herangekommen«, gab ich verblüfft zu. »Woher wissen Sie das alles? Sind Sie mir nachgeschlichen?« Er schüttelte den Kopf und lächelte wissend. »Das habe ich nicht nötig. Denn es ist immer wieder das gleiche. Jeder, der sich des Nachts in der Nähe des Strigenberges aufhält, begegnet irgendwann dem Mädchen.« »Vielleicht sprechen wir nicht von demselben Mädchen.« »•Doch, wir meinen beide Adalethe Grön.« »Adalethe Grön ... Ich kannte bisher noch nicht ihren Namen.« Dr. Lauriel sah mich fest an. »Vergessen Sie ihn sofort wieder«, sagte er eindringlich. Ich lachte auf und fragte dann mit beißendem Spott: »Hegen Sie etwa die Befürchtung, sie könnte mich verhexen?« »Sie können es tatsächlich so aussprechen, daß man sich närrisch und albern vorkommt, überhaupt nur diese Möglichkeit in Betracht gezogen zu haben«, meinte er bedauernd.
»Ich will Sie nicht zu überzeugen versuchen, daß dieses Mädchen übernatürliche Fähigkeiten besitzt. Ich bin mir selbst nicht ganz sicher. Aber nehmen Sie meine Warnung trotzdem an. Adalethe ist es nicht wert, daß man sich ihrer annimmt.« »Sie ist krank«, sagte ich heftig, »und braucht Hilfe.« »Sie ist krank«, bestätigte er, »aber ich glaube nicht, daß sie sich heiren lassen will. Halten Sie sich von ihr fern, Herbert. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.« »Warum so geheimnisvoll, Doktor?« »Die Wahrheit würde Sie .schockieren.« »Sie glauben also, ich sei in das Mädchen verliebt?« »Sie wären nicht der erste, der ihr verfallen ist.« »Hören Sie mal, Doktor«, erklärte ich erbost. »Sie hat mir gesagt, daß sich schon oft Burschen aus Striga davongeschlichen haben, um bei ihr ein Abenteuer zu suchen. Sie hat das so freimütig erklärt, daß ich überzeugt bin, sie hat sich überhaupt nichts dabei gedacht. Verstehen Sie, Adalethe erfaßt das Unmoralische ihres Tuns gar nicht. Sie ist nicht intelligent genug, um sich Gedanken darüber machen zu können. Ich glaube, es wäre das Beste, sie von hier fortzuschaffen und in eine Anstalt zu geben.« »Sie scheinen das wirklich ernst zu 117
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meinen, aber - Adalethe ist durch und durch verderbt, sie kann nicht geheilt werden. Das hat sie ... geerbt.« »Geerbt? Von wem? Los, Doktor Lauriel, machen Sie nicht so lange Umschweife, reden Sie schon.« Er blickte verstohlen zur Uhr. »Also gut«, seufzte er und schenkte sich und mir ein Glas Slibowitz voll. »Ich werde Ihnen die ganze Geschichte erzählen«, sagte er, nachdem er sein Glas geleert hatte; er wartete, bis ich meinen Slibowitz ebenfalls getrunken hatte, dann füllte er mein Glas. wieder. »Aber ich werde mich kurz -fassen, weil ich in wenigen Minuten Besuch bekomme.« »Wer besucht Sie denn noch um diese Zeit?« erkundigte ich mich. »Der Bürgermeister - äh - und die anderen kommen noch auf einen Sprung vorbei.« »Na, dann werde ich mich rechtzeitig auf mein Zimmer zurückziehen.« Mir war, als atme er auf. Er begann zu erzählen: »Auf dem Strigenberg steht ein altes Blockhaus, das seit urdenklichen Zeiten unbewohnt war. Man munkelte, daß dort früher eine Hexe gehaust habe, deshalb getraute sich niemand, das Blockhaus zu benützen. Vor zwanzig Jahren geschah es, daß ein Bauer, der sich zufällig in der Nähe aufhielt, Rauch aus dem Schornstein steigen 118
sah. Als sich der verängstigte Mann auf den Rückweg zum Dorf machte, begegnete er drei hübschen jungen Frauen, die Wurzeln und Beeren einsammelten. Sie sagten, daß sie nun die neuen Bewohner des Blockhauses seien, und jeder aus dem Dorf, der Lust auf Abwechslung habe, könne zu ihnen heraufkommen. Und von da an war es aus mit der Ruhe und Ordnung in Striga. Die Männer aller Altersstufen kamen auf den Strigenberg, um sich Abwechslung zu erkaufen. Die drei Dirnen kümmerte es nicht, daß sie Unfrieden, Haß und Neid säten. Sie lachten mich damals nur aus, als ich sie aufsuchte und darauf aufmerksam machte, daß die Männer von Striga ihretwegen Haus, Grund und Familie vernachlässigten. Noch nie vorher oder nachher wurde ich so gedemütigt wie damals, Herbert. Das schwöre ich Ihnen. Diese drei Frauen waren durch und durch böse, aber das hinderte die männliche Einwohnerschaft trotzdem nicht daran, weiterhin an den ausschweifenden Orgien auf dem Strigenberg teilzunehmen. Das blieb schließlich für eine der drei Dirnen nicht ohne Folgen, sie erwartete ein Kind ...« »Adalethe!« warf ich ein. »Jawohl.« »Aber sie sagt, alle drei wären ihre Tanten.« »Weil sie nicht weiß, wer nun wirk-
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lieh ihre Mutter ist. Wir haben das auch nie in Erfahrung gebracht. Denn während der letzten sechs Schwangerschaftsmonate lebten sie zurückgezogen und ließen niemanden zu sich. Erst als Adalethe geboren war, holten sie sich wieder ihre willigen Opfer aus dem Dorf. Vier Jahre lang ging das noch so weiter, dann erhielten sie von Gott ihre gerechte Strafe. Niemand weiß genau, wie es geschah, aber wir vermuten, daß ein Blitz einen Baum fällte, der die drei Huren unter sich begrub. Adalethe war damals kaum älter als vier Jahre, trotzdem gelang es ihr - wie, das wird ebenfalls für immer ein Geheimnis bleiben —, die drei Verwundeten ins Blockhaus zurückzuschaffen. Adalethe pflegt ihre >Tanten< seit damals, die nun bis an ihr Lebensende gelähmt und taubstumm sind.« Mich fröstelte. Es war eine schaurige Geschichte, aber sie konnte wahr sein. »Deshalb habe ich gesagt. Adalethe habe das Nymphomanische geerbt.« »Trotzdem«, sagte ich überlegend, »glaube ich, daß sie krank ist. Stellen Sie sich nur vor, welchen Schock sie mit vier Jahren bekommen mußte, als sie ihre drei Tanten hilflos unter einem Baum begraben liegen sah. Sie als Arzt müssen doch erkennen, daß man ihre Veranlagung nicht einfach als Vererbung abtun kann.«
»Ich habe Ihnen die Geschichte erzählt«, entgegnete Dr. Lauriel kühl. »Es steht Ihnen nun frei, sich eine eigene Meinung zu bilden. Aber ich möchte es nicht verabsäumen. Ihnen noch einmal dringendst zu raten, Adalethes Veranlagung nicht medizinisch erklären zu wollen.« Ich öffnete den Mund, um noch etwas zu sagen, aber da wurde an der Türglocke gezogen. »Ich glaube«, sagte ich und erhob mich, »ich werde Ihrem Besuch lieber ausweichen. Gute Unterhaltung, Dr. Lauriel.« »Gute Nacht, Herbert.« Ich ging auf mein Zimmer hinauf. Aber nichts lag mir ferner, als zu Bett zu gehen. Ich schlüpfte in trokkene Kleider, zog mir den Regenmantel an und schlich mich dann auf Zehenspitzen aus dem Haus. Erst jetzt, nachdem Dr. Lauriel die Hintergründe ein wenig beleuchtet hatte, konnte ich mir einigermaßen vorstellen, wie kompliziert Adalethes Seelenleben sein mußte - und wie sehr ihr mein unüberlegtes Verhalten schaden konnte. Ich glaubte, schnell handeln zu müssen, wenn ich ihr helfen wollte. »Komm nur herein, Herbert.« Die Worte trafen mich wie Peitschenhiebe. Ich war mehr als zehn Meter von der Blockhütte entfernt und wollte sie von meinem Versteck hin119
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ter einem dichten Strauch beobachten. Es hatte zu regnen aufgehört, die Wolkendecke war aufgerissen und gab den Vollmond frei. Ich war lange durch den Wald geirrt, bevor mir seltsame Geräusche, die sich dann als unverständlicher Singsang herausstellten, den Weg zur Blockhütte gewiesen hatten. Aus dem Schornstein kam Qualm, und die dichten Hecken rundherum warfen dunkle Schatten, die zu leben schie»Traue dich nur, Herbert«, drang Adalethes Stimme wieder aus der Hütte. »Meine Tanten und ich haben dich bereits erwartet.« Hatte sich dort nicht gerade jemand in die Büsche geschlagen und war im Wald verschwunden? Ich kam mir übertölpelt vor, als ich mein Versteck verließ und auf die halb offenstehende Tür zuschritt. Ein schmaler flackernder Lichtstreif fiel heraus. Zögernd drückte ich gegen die Tür, die knarrend nach innen schwang. »Na, wie gefällt es dir bei uns?« fragte Adalethe vom Kamin her, wo sie in einem eisernen Topf rührte. Sie trug ein altes, zerschlissenes Neglige, durch das ihre weiße Haut hindurchschimmerte. Ihr schwarzes Haar fiel ihr unordentlich auf die Schultern, ihr Gesicht war hektisch gerötet. Ich konnte nicht sagen, was ich hier 120
zu sehen erwartet hatte, aber alle meine unklaren Vorstellungen wurden von der Wirklichkeit übertroffen. Die Blockhütte hatte nur einen einzigen Raum. In der einen Ecke, gegenüber dem Eingang, befand sich der bereits erwähnte offene Kamin; über einigen brennenden Holzscheiten stand ein eisernes Dreibein, an dem der Topf hing. Gleich daneben befand sich ein einfaches Lager aus Reisig und Stroh; dort hockten, gegen die Wand gelehnt, drei uralte, geschlechtslose Wesen. Der flackernde Schein des Kaminfeuers spielte auf ihren toten, leeren Gesichtern, in denen nur die Augen zu leben schienen - aber selbst diese waren starr und blicklos geradeaus gerichtet. Ich konnte meinen Blick nicht von den drei Alten wenden; sie zogen mich in ihren Bann, obwohl sie sich weder bewegten noch Geräusche verursachten. Ihre stille, gespenstische Anwesenheit genügte, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Das also waren die drei alten, gelähmten Tanten Adalethes. Welche von ihnen war ihre Mutter? Endlich riß ich die Augen von ihnen los. Es gab 'nichts Außergewöhnliches mehr in dem Raum zu sehen. Eine große, eisenbeschlagene Truhe stand noch da, ein Tisch, einige Sessel und eine alte, aus den Fugen geratene Anrichte. Erwähnenswert wäre viel-
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leicht auch noch die unbeschreibliche Unordnung, die herrschte. Aber das hatte auf die Atmosphäre keinen Einfluß, sie wurde vom Schein der züngelnden Flammen, vom Gestank, der aus dem Kochtopf kam, und von den drei scheinbar leblosen Wesen geprägt. Ich fühlte mich von ihnen beobachtet, obwohl ihre Blicke durch mich hindurchgingen. »Wie gefällt es dir bei uns?« erkundigte sich Adalethe wieder. , Ich versuchte, meine Befangenheit abzuschütteln, aber es gelang mir nicht. In meinem Kopf war ein dumpfes Dröhnen, und auf meine Glieder legte sich eine bleierne Müdigkeit. »Du bist mir nicht mehr böse. Adalethe?« Sie fuhr herum. »Woher weißt du meinen Namen?« »Von . . . von Dr. Lauriel«, antwortete ich irritiert. »Wir haben über dich gesprochen. Er hat mir auch sonst noch einiges erzählt, das mir dazu verholten hat, deine schwere Lage besser zu verstehen.« Sie lachte abfällig. »Ich kann mir schon vorstellen, was Dr. Lauriel über mich zu erzählen wußte. Er haßt mich nämlich, weißt du, aber ich hasse ihn noch mehr! Viel mehr. Deshalb koche ich jetzt einen Liebestrank, damit er mir hörig wird. Alle ,' > werden sie mir hörig werden und meine Liebe wollen.«
»Können wir nicht . . .« Meine Beine wurden schwer, und ich ließ mich auf einen Sessel fallen. »Können wir nicht vernünftig miteinander reden, Adalethe? Ich möchte dir doch helfen, nichts anderes, nur dir helfen.« »Nichts anderes?« fragte sie anzüglich und lachte schrill - dabei beugte sie den Kopf weit zurück. »Ha, ha, ha! Er will nichts anderes. Aber bald wirst du es wollen, Herbert. Riechst du ihn noch nicht, meinen Liebestrank?« »Beende diesen Unfug und höre mir zu!« forderte ich, aber meine Stimme klang sehr verloren. »Warum willst du dir und mir andauernd weismachen, du seist eine Hexe. Hat dir das Erlebnis . .. damals so hart zugesetzt?« Wieder lachte sie schrill. Es klang gemein und ordinär. Ich spürte daß sie knapp vor der entscheidenden Krise stand. Es würde nicht leicht sein, sie zur Vernunft zu bringen, aber wenn mir das überhaupt gelingen würde, dann in den nächsten paar Minuten. Ich war kein Psychiater, und ich wußte, daß ich unter Umständen mehr schaden als nützen konnte. Doch das Risiko mußte ich auf mich nehmen. Adalethe konnte jeden Augenblick geistig vollkommen zusammenbrechen. »Warum spielst du uns etwas vor, Adalethe«, sagte ich in leichtem Konversationston. »Du bist ein voll121
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kommen normales Mädchen, nur eben ein wenig durcheinandergeraten.« »Das habe ich auch lange geglaubt.« Für einen Moment klang ihre Stimme verträumt, aber dann fand sie in jene Gegenwart zurück, die sie wie eine Mauer um sich aufgebaut hatte. »Ich wollte denen nicht glauben, die sagten, ich sei eine Hexe. Aber jetzt weiß ich, daß sie recht haben. Ich habe die Hexenprobe gemacht - und du hast mit eigenen Augen gesehen, daß ich nicht untergegangen bin.« »Das läßt sich wissenschaftlich erklären«, sagte ich, meine Zunge war schwer und trocken. »Du hast die Luft angehalten, deshalb bist du wieder an die Oberfläche getrieben.« Ihr Lachen konnte einen verrückt machen. »Aber die anderen Dinge lassen sich nicht erklären. Die Mißernten, das kranke Vieh, die vielen Fehlgeburten, die habe ich auf dem Gewissen! Und ich werde noch mehr tun. Ich werde es ihnen heimzahlen, daß sie mich immer verachtet haben.« »Du darfst dir solche Dinge nicht einreden . . .« Sie unterbrach mich. »Und hat nicht augenblicklich ein Gewitter eingesetzt, als ich dich im Wald verfluchte? Hast du mich dann weggehen gesehen? Natürlich nicht, weil ich unbemerkt verschwinden kann. Ich kenne deinen Namen, obwohl du ihn mir nicht gesagt hast, und ich habe 122
dich sofort in die Hütte gerufen, als du dich angeschlichen hast. Das alles kann nur eine Hexe.« »Jetzt habe ich dich bei einer Lüge ertappt«, sagte ich triumphierend. »Denn ich habe gesehen, wie sich jemand von deinem Haus fortgeschlichen hat. Wahrscheinlich einer von deinen Liebhabern aus dem Dorf; der hat dir meinen Namen verraten.« Wieder stieß sie ihr aufreizendes Lachen aus. »Was bist du klug, Herbert, und scharfe Augen hast du auch. Es war tatsächlich einer bei mir, der sich ein wenig die Zeit vertrieben hat. Macht es dich nicht eifersüchtig?« Sie stand in einer vulgären Stellung vor mir, das Neglige vorne geöffnet, und lachte mich aus. Ich wich ihrem Blick nicht aus. »Adalethe«, sagte ich eindringlich, aber ich wußte nicht mehr, ob es mir meine Müdigkeit erlaubte, überzeugend zu sprechen, »ich möchte wirklich nichts anderes als dir helfen. Du bist krank, glaube es mir.« »Verrückt, meinst du, nicht wahr?« Ich schüttelte den Kopf; es machte mich ganz schwindlig. »Ich meine krank. Du leidest psychisch, weil du mit einem bestimmten Erlebnis nicht fertigwerden kannst. Wahrscheinlich hast du es vergessen. Aber wenn du dich erinnern könntest .. .« »Ich erinnere mich«, rief sie, plötz-
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ten euch die verdammten Schäde p'4 lieh vollkommen hysterisch. »Ich erinnere mich an jede Einzelheit ge- ein, damit ihr nicht mehr an Hexe rei denken könnt !< Sie waren all nau!« »Dann erzähle mir, was damals ge- vermummt, aber später erkannte ic ,.' einen von ihnen an der Stimme. E schah.« war Dr. Lauriel. Immer, wenn di Sie kam ganz dicht zu mir, daß ich anderen eine ihrer abscheulichen Ta ihren betäubenden Atem riechen ten ausgeführt hatten, schrie er: >S konnte. Ihre Hand wies auf die drei geschlechtslosen Wesen, die regungs- steht es im Hexenhammer! So steh es im Hexenhammer !< los auf dem Reisiglager hockten. »Du willst wissen, was sie mit ihnen Und als dann alles vorbei war, ka men sie zu mir . . .« gemacht haben?« Während sie erzählt hatte, hatte si »Sie?« erkundigte ich mich verwirrt; sich ganz fest an mich gepreßt, hilfs vor meinen Augen und in meinem bedürftig, nach Wärme und Gebor Kopf begann sich alles zu drehen. genheit suchend. In diesem Augen »Was sie getan haben? Hat nicht ein blick war ich immer noch davon über Blitz einen Baum gefällt . . .?« zeugt, daß sie ein psychisch außer Ich glaubte, sie würde wieder hysteordentlich leidendes Wesen war. Zum risch auflachen, aber sie spuckte nur Teil stimmte das, aber ich erkannt abfällig aus. »Das sagt der geschätzte Dr. Lau- gleich darauf, daß noch etwas ande res mitspielte. riel. Aber es war ganz anders, und Plötzlich riß sie sich von mir los un er weiß es. Ich auch, denn ich mußte stellte sich in geduckter Haltung in zuschauen, als die ganze Bande hermitten des Raumes auf. einkam und meine drei Tanten halb »Sie kamen zu mir«, erzählte s totprügelte. Ich war vier Jahre, aber weiter, »und fragten mich höhnisc ich habe alles gesehen. Nie werde ich vergessen, wie sie mit den Prügeln ob ich verbrannt werden wolle. >N du Ausgeburt des Satans, willst d über meine Tanten herfielen. Und brennen?< fragten sie. Ich schrie d ich weiß auch noch genau, was sie mals. Sie ließen mich in Ruhe. Abe sagten. >Wir zerschlagen eure Beine, einer von ihnen sagte immer wiede damit ihr nicht mehr ausschwärmen »Sie ist vom Teufel selbst gezeugt. S könnt, um Unheil anzurichten^ sagten sie. >Wir schneiden euch die Zun- muß brennen. Sie muß brennen . brennen . . . brennen . . .« ge heraus, damit ihr keine Zaubersprüche mehr sprechen könntWir tre-
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meinen Schoß bettete, schlug sie die Augen auf. Ihr Mund verzog sich zu einem höhnischen Grinsen. »Mich hat tatsächlich der Teufel gezeugt!« »Wir müssen schnell von hier fort«, sagte ich drängend. »Warum?« »Weil . . .« Ich versuchte erst gar nicht, es ihr zu erklären, denn es hätte zu lange gedauert. Jede Sekunde konnte kostbar sein. Vielleicht bildete ich mir selbst alles nur ein, aber wenn Adalethes Erzählung auf Wahrheit beruhte, dann schwebte sie in höchster Lebensgefahr. Wenn die Bewohner von Striga tatsächlich zu solch einer Greueltat fähig gewesen waren, dann würden sie sie vielleicht auch wiederholen. Ich erinnerte mich der Andeutungen, die während der heutigen Versammlung im Rathaus gemacht worden waren. Andeutungen darüber, daß der Grund für die Mißernten und Krankheiten darin zu suchen sei, weil >damals< nur halbe Arbeit geleistet worden war. Jetzt kannte ich die ganze Geschichte und wußte, wovon die Rede gewesen war. Der Wunsch nach einer raschen Abhilfe war laut geworden . . . und der Bürgermeister, der Magister, Jochgraben und Köhler mußten dann beschlossen haben, sich heute abend be; Dr. Lauriel zu treffen ... 124
Es war mit dem Verstand nicht zu fassen, aber alles deutete darauf hin, daß eine kleine verschworene Gruppe dieser abergläubischen Gemeinde vor hatte, nun >ganze Arbeit< zu leisten. »Adalethe, aufstehen«, drängte ich. »Wir müssen sofort weg von hier.« »Komm und küsse mich. Lange und heiß!« Ich spürte, wie sich ihr heißer Atem auf mein Gesicht legte. In dem Kochtopf begann es zu brodeln, und die Luft wurde immer stickiger. Ich versuchte. Adalethe auf die Arme zu nehmen, aber sie war zu schwer. Ich hatte keine Kraft mehr. »Sie können jeden Augenblick kommen, und du weißt, daß sie vor nichts zurückschrecken.« »Hole den Liebestrank.« »Adalethe!« ». . . den Liebestrank ... Er ist bereits gar . . . « Ihre Augen waren halb geschlossen das war das letzte, das ich von ihr wahrnahm. Plötzlich bekam ich einen harten Schlag gegen den Hinterkopf und fiel schwer auf Adalethe. Ich hatte nicht vollkommen die Besinnung verloren, denn ich konnte alles wie aus weiter Ferne hören, nur sehen konnte ich nichts; vor meinen Augen tanzten bunte Kreise, die nur einmal von einer blendenden Helle verdrängt wurden.
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Ich hörte Stimmen, konnte verstehen, was sie sagten; jemand schrie die ganze Zeit über markerschütternd. Adalethe? »Bindet sie am Kamin fest.« »Wie es einst Papst Innozem der Achte in seiner Bulle niederlegte . . .« »Schütte das Benzin nicht beim Feuer aus!«
» . . . so wirst du angeklagt. Und wie die beiden Inquisitoren . . .« »Wo ist die Fackel?« »... Institoris und Sperger die Hinrichtung in ihrem Hexenhammer
festgelegt haben, wird es geschehen, Adalethe Grön . . .«
»Nehmt den jungen Doktor bei den Beinen, und schaffen wir ihn hinaus.« Ich glaubte, einen vermummten Mann zu sehen, der sich mit der einen Hand auf einen Stock stützte und mit der anderen eine Packe] schwang.
».. . Brennen sollst du Hexe, brennen.« Der Chor rief: »Brenne, brenne, brenne!« Dann schien die ganze Welt in Flammen aufzugehen ... und ich lief um mein Leben . . . Niemand wollte meine Geschichte glauben. Der Krankenhausarzt behauptete, es handle sich um Wahnvorstellungen, die der Schock ausgelöst hatte. Eine Hexenverbrennung im
20. Jahrhundert wies er strikt von sich. Als ich die Schuldigen beim Namen nannte, erfuhr ich, daß sie alle beim großen Waldbrand ums Leben gekommen waren. Es gab keine Zeugen mehr, die meine Aussagen bestätigen konnten. Dr. Lauriel, der Bürgermeister, der Magister, Köhler und Jochgraben waren verbrannt - sie hatten ihre Schuld gesühnt. Ich hätte mich damit zufriedengeben können, aber andererseits wollte ich Gewißheit über die Ereignisse am Strigenberg erhalten. Gedächtnisschwund und Wahnvorstellung waren keine zufriedenstellende Erklärung für mich. Und schließlich wollte ich beweisen, daß ein unschuldiges Mädchen als Hexe verbrannt worden war. Als meine Verbrennungen geheilt waren, fuhr ich nach Striga. Bei meiner Ankunft empfing mich das schüchterne Geläute der Kirchenglocke, und augenblicklich erinnerte ich mich daran, daß der Pfarrer von den Hexenaustreibungen gewußt hatte. Aber zu diesem Zeitpunkt wollte ich die näheren Umstände von Adalethes Tod nicht mehr aufdecken. Als ich mich in Striga umblickte, kam mir der Verdacht, daß sie vielleicht doch eine Hexe gewesen war. Denn das Dorf war nach ihrem Tod aufgeblüht, die Geschäfte hatten geöffnet, der Hauptplatz war von lebensprühenden Menschen bevölkert - es 125
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herrschte ein Trubel, wie er vor einigen Wochen noch undenkbar gewesen wäre. Dr. Lauriel hatte nicht recht gehandelt, obwohl er den Menschen von Striga zu einem glücklicheren Leben
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verholten. Da er aber seine Strafe schon bekommen hatte, war es besser die Vergangenheit ruhen zu lassen. So ging ich fort und kam nie wieder nach Striga zurück
Das Amulett von Gordon R. Dickson
Er hatte den Jungen da hinten am Geräteschuppen zu fest geschlagen das war es. Er hatte etwas früher von ihm ablassen sollen, aber es hatte Spaß bereitet, den kleinen Anfänger in die Mache zu nehmen. Zuviel Spaß; der Kleine hatte sich so richtig zart und weich angefühlt - es war wie eine Katzenbalgerei gewesen, und er hatte sich so hineingesteigert, und dann war es zu spät gewesen. Es war nur ein rotznasiger Bengel von fünfzehn gewesen, der den Ausreißer gespielt hatte, aber die Eisenbahnerbullen würden das, was von ihm übrig war, noch vor Morgengrauen dort hinter dem Geräteschuppen finden. Deshalb hatte Clint den erstbesten ausfahrenden Güterzug am Rangierbahnhot geschnappt, anstatt die Bahn nach Norden abzuwarten. Nun, da sich der Güterzug im Hinterland des Ozark-Gebietes verlor, sprang er in einer langsamen Kurve aus dem Wagen. Das wirre, wilde Gras des heißen Missouri-Sommers fing den Aufprall seines Körpers ab, als er die Böschung hinunterrollte.
Er kam unten an und setzte sich auf. Der Güterzug ratterte über ihm vorbei und verschwand. Er war ein wenig durchgeschüttelt, mehr nicht. Er grinste in die Stille des Spätnachmittags, in der nur das Surren der Insekten zu hören war. Man mußte schon ein junger, kräftiger Kerl sein, um von einem fahrenden Güterzug zu springen. Hinauf kam jeder alte Stromer. Er betrachtete seine klotzigen Oberarme, braungebrannt, glatt und muskulös wie sie waren, mit denen er sich mühelos von der weichen, krümeligen Erde abstützen konnte; und er lachte laut auf, wie er so auf dem warmen Gras saß. Er fühlte sich plötzlich zum Schnurren wohl. Zum Schnurren wohl. Das war sein Spezialausdruck, wenn alles gut gelaufen war. Er, die Katze, war wieder mal auf den Pfoten gelandet und konnte sich im nächsten Hinterhof umsehen. Wie würden die Angeführten diesmal aussehen? Er stand auf, streckte sich grinsend und warf einen Blick auf das kleine Tal vor ihm.
GORDON R. OICKSON
Am Fuß des Bergrückens war es mehr eine kleine Höhlung als ein echtes Tal. Der Hang, mit Zwergkiefern bedeckt, rührte steil nach unten und lief ganz plötzlich in ein flaches Stück gepflügten Ackerbodens aus, in dem sich harte kurze Getreidehalme zeigten. Eine kleine braune Hütte stand an einem Ende des Feldes, von seinem Platz aus schäbig anzusehen, und im Hof hackte eine alte Frau mit knöchellangem, schwarzem Rock und brauner Strickweste Holz. Er konnte das Blitzen ihrer Axt in der klaren Luft erkennen, auch wenn sie weit entfernt war, und gleich danach kam das >Hackd er sträubte sich dagegen, noch einmal ins North End zu fahren. Deslalb machte er sich auf den Heimweg, ind, er war erleichtert, daß sein Haus in-
FRITZ LEIBER
zwischen nicht in Brand geraten war. kam am Paul-Revere-Haus mit seiEr setzte sich hin und beobachtete ner nägelbeschlagenen Tür vorbei, das Ei, und dabei kamen ihm eine die genauso aussah wie die Tür im ganze Anzahl verrückter und beunHause der gehenkten Salem-Hexe ruhigender Gedanken. Rebecca Nurse. Er las Joans Notiz noch ein paarNurse. mal durch. Soweit er das feststellen Karren und lärmende Menschen verkonnte, war es ihre Handschrift oder stopften die Salem Street, und man eine gute Imitation, aber jetzt fiel hörte ebensoviele englische, wie itaihm auf, daß sie drei Ausdrücke entlienische Laute. hielt, welche Joan verabscheute: >das Mary Nurse war über eine düstere letzteres >auf alle Fälle« und >Leu- Außentreppe zu erreichen, die in den teda drüben